Jugend und Widerstand in Algier: Alltagsräume im Kontext urbaner Transformationen 9783839440490

Juveniles as actors of resistance: This book shows the political significance of daily practices of claiming space and s

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German Pages 272 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Jugend Macht Stadt — theoretische Positionen
1.1 Raum, Macht und Widerstand
1.2 Die Konstruktion der rebellischen Jugend und die Aneignung städtischer Räume
1.3 Alltag und Widerstand
1.4 Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand: Navigieren als Analysekategorie
Fazit und analytisches Vorgehen
2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier
Prolog: Vorkoloniale Geschichte und das Imaginäre der Stadt als ›umkämpft‹
2.1 Koloniale Stadtplanung: Besetzung, Teilung, Ausgrenzung
2.2 Die Medina als ausgegrenzte Stadt: Verelendung, Widerstand, Gegenorte
2.3 Die Konstruktion der Kasbah als Gegenort
2.4 Das Hervortreten der algerischen Jugend als Akteurin des Widerstands
Zwischenfazit
3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend
3.1 Das Recht auf die Stadt als postkoloniales Ideal
3.2 Die Algerische Jugend in der Politik von 1962 — 1988
3.3 Protesträume der Jugend und die Oktoberrevolte 1988
3.4 Dazwischen? Die Jugend im Spannungsfeld politischer Kämpfe
Zwischenfazit
4. Algier als ›umkämpfte‹ Stadt im 21. Jahrhundert
4.1 Algier, eine Metropole im Werden
4.2 Sicherheitsdiskurse und die Januarunruhen 2011
4.3 Algier und der Arabische Frühling
4.4 Harraga als Protest? Repräsentationen der Jugend
5. Navigieren im öffentlichen Raum
5.1 Der Markt am Märtyrer-Platz: Einblick
5.2 Die Straße als ›erweitertes‹ Zuhause: soziale und ökonomische Bedeutung
5.3 Die Straße als ›umkämpfter Raum‹: Gewalt und Empörung
Zwischenfazit
6. Navigieren in halböffentlichen Räumen
6.1 Jugendeinrichtungen in Algier: Einblick
6.2 Das Jugendhaus: Frei(zeit)-Räume
6.3 Die Bibliothek: Stille Verbindungen
6.4 Der Jugendverein: Engagement von Jugendlichen für Jugendliche
Zwischenfazit
7. Die Stadt als Bühne
7.1 Bewegungskünste in Algier: Einblick
7.2 Die Kung-Fu-Schule: Disziplinierung als Ermächtigung
7.3 Capoeira, Parkour und Streetdance: Hindernisse überwinden
7.4 Die Tanzgruppe im Jugendhaus: Neue Gemeinschaften
Zwischenfazit
8. Fazit und Ausblick
Introduction
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
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Jugend und Widerstand in Algier: Alltagsräume im Kontext urbaner Transformationen
 9783839440490

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Britta Elena Hecking Jugend und Widerstand in Algier

Urban Studies

Britta Elena Hecking (Dr. phil.), geb. 1978, promovierte am Orientalischen Institut der Universität Leipzig im Lehrbereich Human- und Wirtschaftsgeografie. Sie forscht über Jugend und Stadtentwicklung und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino gGmbH.

Britta Elena Hecking

Jugend und Widerstand in Algier Alltagsräume im Kontext urbaner Transformationen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Amine Moussi Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4049-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4049-0 https://doi.org/10.14361/9783839440490 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Vorwort.................................................................................................................................7 Einleitung.............................................................................................................................9 1. Jugend Macht Stadt

— theoretische Postionen...........................................29

1.1 Raum, Macht und Widerstand.......................................................................................30 1.2 Die Konstruktion der rebellischen Jugend und die Aneignung städtischer Räume................................................................................................ 38 1.3 Alltag und Widerstand...................................................................................................45 1.4 Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand: Navigieren als Analysekategorie................................................................................. 47 Fazit und analytisches Vorgehen.........................................................................................54

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier......................................57 Prolog: Vorkoloniale Geschichte und das Imaginäre der Stadt als ›umkämpft‹............57 2.1 Koloniale Stadtplanung: Besetzung, Teilung, Ausgrenzung......................................58 2.2 Die Medina als ausgegrenzte Stadt: Verelendung, Widerstand, Gegenorte............66 2.3 Die Konstruktion der Kasbah als Gegenort.................................................................72 2.4 Das Hervortreten der algerischen Jugend als Akteurin des Widerstands..............79 Zwischenfazit.........................................................................................................................84

3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend..............................87 3.1 Das Recht auf Stadt als postkoloniales Ideal..............................................................88 3.2 Die algerische Jugend in der Politik von 1962-1988...................................................95 3.3 Protesträume der Jugend und die Oktoberrevolte 1988.......................................... 101 3.4 Dazwischen? Die Jugend im Spannungsfeld politischer Kämpfe.......................... 108 Zwischenfazit........................................................................................................................ 115

4. Algier als ›umkämpfte‹ Stadt im 21. Jahrhundert....................................... 117 4.1 Algier, eine Metropole im Werden................................................................................ 118 4.2 Sicherheitsdiskurse und die Januarunruhen 2011................................................... 126 4.3 Algier und der Arabische Frühling.............................................................................. 133

4.4 Harraga als Protest? Repräsentationen der Jugend................................................ 138 Zwischenfazit....................................................................................................................... 143

5. Navigieren im öffentlichen Raum: Die Inbesitznahme der Straße............................................................................ 145 5.1 Der Markt am Märtyrer-Platz: Einblick...................................................................... 146 5.2 Die Straße als ›erweitertes‹ Zuhause: soziale und ökonomische Bedeutung........................................................................ 153 5.3 Die Straße als ›umkämpfter‹ Raum: Gewalt und Empörung................................... 159 Zwischenfazit....................................................................................................................... 163

6. Navigieren in halböffentlichen Räumen: Die Aneignung von Jugendeinrichtungen...................................................... 167 6.1 Jugend-Einrichtungen in Algier: Einblick................................................................. 168 6.2 Das Jugendhaus: Frei(zeit)-Räume.............................................................................174 6.3 Die Bibliothek: Stille Verbindungen............................................................................ 183 6.4 Der Jugendverein: Engagement von Jugendlichen für Jugendliche..................... 189 Zwischenfazit....................................................................................................................... 195

7. Die Stadt als Bühne: Performanzen widerständiger Jugendkulturen.......................................... 197 7.1 Bewegungskünste in Algier: Einblick......................................................................... 199 7.2 Die Kung-Fu-Schule: Disziplinierung als Ermächtigung..........................................207 7.3 Capoeira, Parkour und Streetdance: Hindernisse überwinden.............................. 212 7.4 Die Tanzgruppe im Jugendhaus: Neue Gemeinschaften......................................... 218 Zwischenfazit....................................................................................................................... 221

8. Fazit und Ausblick: Von der Jugend in Bewegung zur Hirak-Bewegung 2019/2020.............. 223 Abkürzungsverzeichnis................................................................................................241 Literatur...........................................................................................................................243

Vorwort

Die vorliegende Publikation »Jugend und Widerstand in Algier – Alltagsräume im Kontext urbaner Transformationen« basiert auf der Dissertation über »Jugend und Widerstand in Algier«, die im Rahmen des Graduiertenkollegs 1261 Bruchzonen der Globalisierung verfasst und 2014 an der Fakultät für Geschichte, Kunst und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereicht und verteidigt wurde. Die Dissertation wurde 2019/2020 für die Buchpublikation aufgearbeitet und vor dem Hintergrund der Protest-Bewegung ›Hirak‹, die am 22. Februar 2019 begann und bis zum heutigen Datum anhält, aktualisiert. Die vorliegende Arbeit endet darum mit einem Ausblick auf die noch anhaltende Protestbewegung. Allen Menschen, die ich im Rahmen meiner Datenerhebungen interviewt und in ihrem Alltag begleitet habe, gilt meine besondere Anerkennung und Dank dafür, dass sie mir ihr Vertrauen und ihre Zeit geschenkt haben. Herzlich danken möchte ich auch meiner Familie, meinen Freund*innen und Kolleg*innen, die mich beim Schreiben dieser Arbeit unterstützt haben, sowie meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörg Gertel vom Institut der Geografie der Universität Leipzig und meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Rachid Ouaissa vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) der Philipps-Universität Marburg.

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Jugend und Widerstand in Algier

Anmerkungen zu den Interviews und Zitaten Arabisch- und französischsprachige Interviews und Zitate werden in der deutschen Übersetzung wiedergegeben. Englischsprachige Interviews und Zitate im Original. Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin.

Einleitung

Algier, Schauplatz des antikolonialen Befreiungskampfes 1954-1962, Zentrum der postkolonialen Bewegung in den 1960er Jahren und Hochburg der Islamischen Heilsfront in den 1990er Jahren, ist auch im 21. Jahrhundert eine ›umkämpfte Stadt‹. Die gewaltige und friedliche Erhebung des algerischen Volkes am 22. Februar 2019 in Algier gegen die fünfte Kandidatur des schwerkranken algerischen Präsidenten Abdelaziz Boutef lika, war ebenso überraschend wie überfällig ebenso unmöglich wie unausweichlich. Überraschend und unmöglich, weil Algerien als Außenseiter in den so genannten Arabischen Revolutionen galt und das autoritäre Regime der seit der Unabhängigkeit 1962 regierenden Nationalen Befreiungsfront (FLN) als zu stabil galt. Unausweichlich und überfällig, weil die Unzufriedenheit des Volkes, insbesondere der marginalisierten Jugend, als sehr groß galt und es bereits im Protestjahr 2011 viele Zeichen für eine Krise zwischen Regierung und Regierten gab. Insbesondere die immer wiederkehrenden spontanen Revolten nach Preiserhöhungen, Fußballspielen oder zur Einforderung von Wohnungen sprachen von der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Zu einer Bündelung der unterschiedlichen Proteste in eine revolutionäre Bewegung, wie dies im selben Jahr in Tunesien und Ägypten geschehen war, war es nicht gekommen, doch die Heftigkeit der Ereignisse und der Reaktion des Staates brachten allgegenwärtige Spannungen und Konf likte zwischen Regierenden und Regierten in der Hauptstadt zum Vorschein. Angesichts der gespaltenen Protestbewegungen 2011 in Algerien geriet vor allem die Jugend als möglicher Träger einer breiteren Protestbewegung ins Spannungsfeld der Politik. Die Jugend war im antikolonialen Befreiungskampf als Akteurin des Widerstands in Algier hervorgetreten und zum Hoffnungsträger der unabhängigen Nation geworden. Im Oktober 1988 erhoben sich jedoch gerade die jungen Menschen gegen den Staat unter der Regierung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und stellten das Ideal der nationalen Einheit in Frage. In den von wirtschaftlichen Transformations- und Krisenprozessen gekennzeichneten 1980er-Jahren waren die Frauen- und Berberbewegung, vor allem aber auch der politische Islam als oppositionelle Kraft erstarkt. Die Jugend wurde durch ihre

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Jugend und Widerstand in Algier

demografische Präsenz und hohe Arbeitslosigkeit ein wichtiger Teil der oppositionellen Gruppen. Ihre Empörung zeigte sie jedoch vor allem auch in der Form nicht organisierter Bewegungen auf der Straße, in leisen und in lauten Protesten, die am 5. Oktober 1988 in die Oktoberrevolte mündeten. Die Oktoberrevolte hatte die bereits zuvor eingeleiteten wirtschaftlichen und politischen Reformen beschleunigt und 1989 schließlich zu einer Verfassungsänderung geführt, die einen Demokratisierungsprozess in Gang setzte: Das Einparteiensystem der FLN wurde abgelöst, das Vereinsgründungsgesetz und die Pressefreiheit gelockert. Nach dem Wahlerfolg der Islamischen Heilsfront (FIS), deren Machtübernahme durch einen Militärputsch 1992 verhindert wurde, begann sich ein kriegerischer Konf likt zwischen dem Regime und den fortan verbotenen islamistischen Gruppen abzuzeichnen. Die ›Ausnahmepolitik‹ zur Bekämpfung der terroristischen Gefahr legitimiert seitdem die autoritäre und repressive Politik der FLN. Erst mit der Jahrtausendwende wurde der öffentliche Raum der algerischen Hauptstadt wieder sicher, doch es dauerte noch Jahre bis der Schrecken dieser Zeit verblasste und sich die Stadt allmählich wieder öffnete (Kapitel 4). Der Ausnahmezustand, der in Folge der Terrorismusbekämpfung erlassen wurde, wurde erst 2011 offiziell abgeschafft, bestand de facto jedoch weiter. Und dennoch kann seit der Jahrtausendwende von einem sukzessiven Vordringen der Jugend in den öffentlichen Raum gesprochen werden. Wie Asef Bayat mit dem Bild der nach »außengestülpten« Stadt (Bayat 2012 a, 28) treffend beschreibt, spielen die städtischen Räume im Freien auch in Algier eine wichtige Rolle als ›Arbeitsplatz‹ im Alltag vieler Stadtbewohner*innen. Mit der zurückgekehrten Normalität in der algerischen Hauptstadt drängten die junge Menschen jedoch nicht nur aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern auch mit ihrem Bedürfnis nach Spaß in den öffentlichen Raum, der somit auch zur Bühne urbaner Jugendkulturen, kultureller Events und sportlichen Feierlichkeiten wurde. Begünstigt wurde die Wiederaneignung des öffentlichen Raums auch durch staatliche Stadterneuerungsprojekte, die ehemals marginalisierte und vernachlässigte Stadtteile aufwerten sollten, z.B. den Märtyrer-Platz am Fuße der Kasbah. Im Jahre 2011 wurde der Plan ›Algier 2029‹ von den staatlichen Behörden genehmigt und der Öffentlichkeit präsentiert: Ein Stadterneuerungsprojekt, das vorsieht, die algerische Hauptstadt in eine pulsierende Mittelmeermetropole und in das »zweite Sonatrach1« (Benaissa 2012, 409) Algeriens zu transformieren. Es ist das größte Stadterneuerungsprojekt seit der Unabhängigkeit mit einer umfassenden und langfristigen Vision für die Entwicklung der Hauptstadt. Das ›neue 1 Sonatrach ist das größte staatliche Unternehmen Algeriens mit einem Monopol im Mineralölbereich.

Einleitung

Algier‹ verspricht, auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen zu antworten. Im Zuge der Krise durch die sinkenden Ölpreise seit 2010 konnten die ambitionierten Prestigeprojekte jedoch nicht wie geplant umgesetzt werden, da die Stadtverwaltungen weniger Gelder bekamen. Stattdessen setzte die Stadtverwaltung Algiers auf partizipative Stadterneuerung und antwortet damit auf – oder bef lügelt so – das Bedürfnis der Bewohner*innen, sich die öffentlichen Räume nach Jahren der Verunsicherung wieder anzueignen (Cherfaoui & Djelal 2018). Parallel setzte die Regierung auf massiven Wohnungsbau und Umsiedlungsprogramme für die Bewohner*innen informeller oder prekärer Bauten. Der Vergleich zu 1958 drängt sich auf, als die französische Kolonialmacht versuchte, durch die Berücksichtigung der einheimischen Bevölkerung in der Entwicklungspolitik und Stadtplanung deren Empörung eindämmen zu können. Die städtischen Armutsviertel der einheimischen Bevölkerung – und besonders die Kasbah – sollten jedoch eine wichtige Rolle im urbanen Befreiungskampf spielen. Als einen »schützenden Mantel« bezeichnete Frantz Fanon (1959, 33) die Kasbah, die Altstadt von Algier, die während der französischen Kolonialzeit zu einer Heimstätte der Widerstandskämpfer und – kämpferinnen im städtischen Befreiungskampf wurde. »Die Kasbah ist gegangen«, sagen ihre Bewohner*innen heute, wenn sie den Verlust der Solidarität und des Respekts in der Nachbarschaft bedauern und die Anonymität und Unsicherheit in der werdenden Metropole kritisieren. Die Kasbah ist durch die Rezeption Frantz Fanons in der antikolonialen und antiimperialistischen Bewegung und durch den von seinen Schriften beeinf lussten Film Die Schlacht um Algier (Pontecorvo) zu einem internationalen Symbol der Segregation und des Widerstands der städtischen Armen geworden: »Algiers became the symbol of global struggles for independence, justice and dignity as well as the tragic emblem of the colonial city torn asunder.« (Çelik et al. 2009,1) Die Strukturen der ›geteilten‹ Stadt sind in den Städten der MENA-Region nicht verschwunden: »Now in the current climate of globalization and the growing influence of multinational corporations, the ›West‹ has returned – yet these developments tend to be exclusive, catering to an elite segment of society – both local and foreign. The majority of locals are kept out – thus the qasbah phenomenon has returned but in a more refined and subtle manner.« (Elsheshtawy 2008, 5) Nicht nur im Hinblick auf seine Beschreibungen der ›geteilten Stadt‹, sondern auch durch seine Warnung, die Jugend als Herausforderung für die Entwicklung der postkolonialen Nationen in der Politik zu berücksichtigen (Fanon 1981 [1961], 166ff.), haben Frantz Fanons Schriften Bedeutung für die Entwicklungen in der MENA-Region erfahren.

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Jugend und Widerstand in Algier

Jugend und Stadt sind auch heute noch zwei zentrale Schlagwörter in Algerien, die im öffentlichen Diskurs mit Problemen und Konf likten assoziiert werden: 22 Millionen Algerier, etwa 63 % der Bevölkerung leben mittlerweile in Städten (Benfodil 2012). Davon leben rund fünf Millionen in der Metropolregion Algier und etwa drei Millionen in der Wilaya (Departement) von Algier. Etwa ein Drittel der Einwohner*innen Algiers sind zwischen 15 und 34 Jahre alt (ONS 2008). Laut der Statistik der Arabischen Organisation für Arbeit weist Algerien die höchste Jugendarbeitslosigkeit der Länder der Middle Eastern North African Region (MENARegion) auf (Arab Human Development Report 2009, 10). In der Hirak-Bewegung 2019 gilt die Jugend als treibende Kraft. Die seit dem 22.2.2019 wöchentlich stattfindenden Demonstrationen sind beinahe zu einem Ritual der Inbesitznahme öffentlicher Räume geworden. Dazu greifen die Teilnehmer*innen auf Symbole und Sprüche zurück, die in der langen urbanen Kultur des Widerstands in Algier verwurzelt sind ebenso wie auf global bekannte Symbole zum Ausdruck ihrer Forderungen. Die Proteste gegen das aktuelle politische System knüpfen an den algerischen Befreiungskampf an und versöhnen sich mit den Jahren der Spaltung im Schwarzen Jahrzehnt. Der Slogan aus dem antikolonialen Widerstand »ein einziger Held – das Volk« wurde wiederbelebt und die machtkritischen Lieder aus den Fußballstadien, die seit der Kolonialzeit ein Ort der Revolte sind, wurden zur Hymne der Bewegung.

Fragestellung der Arbeit In der vorliegenden Arbeit wird die Bedeutung öffentlicher und halböffentlicher Alltagsräume in der Stadt des 21. Jahrhunderts für die Widerstände Jugendlicher gegen ihre Marginalisierung durch das Konzept des Navigierens, das die Alltagspraxis in von Krisen und Ungewissheit gekennzeichneten Räumen bezeichnet, analysiert. Dazu knüpft diese Arbeit an Studien an, die retrospektiv Jugendliche als Akteur*innen von Widerstand und ihre Stellung im urbanen Raum in der algerischen Geschichte seit der Kolonialzeit in den Blick nehmen (Kapitel 2-4) und führt diese mit den empirischen Ergebnissen einer Feldforschung zusammen, die zwischen 2009 und 2012 durchgeführt wurde und im Juni 2019 durch weitere Interviews ergänzt wurde. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Bedeutung öffentlicher und halböffentlicher Räume für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand Jugendlicher in Algier im Kontext urbaner Transformationen. Urbane Transformationen können sowohl Prozesse der Marginalisierung (re)produzieren oder verstärken, als auch Möglichkeiten der Ermächtigung und Teilhabe entfalten. Der städtische Raum kann zugleich Herausforderung und Ressource im Alltag der Jugendlichen sein. Durch Umsiedlungsprogramme im Rahmen von

Einleitung

Stadterneuerungsprozessen können z.B. lokale Netzwerke zur Existenzsicherung wegbrechen oder die Alltagswege zu zentralen Straßenmärkten zu weit und zeitintensiv sein. Gleichzeitig kann der Umzug in eine größere Wohnung beispielsweise den Jugendlichen einen Raum zum Lernen oder zur ungestörten Mediennutzung ermöglichen. Um die Bedeutung der städtischen Räume im Alltag zu untersuchen, wird der Blick auf die Praktiken des Navigierens gerichtet. Als Navigieren bezeichnen Jugendliche in Algier Praktiken des Unterwegsseins im städtischen Raum auf der Suche nach Möglickeiten des Sich-Durchschlagens und des Vordringens. Die Praktiken des Navigierens tragen trotz ihrer sozial abfedernden Wirkung nicht nur dazu bei den Status quo zu stabilisieren, sondern können diesen auch herausfordern wie im Verlauf dieser Arbeit aufgezeigt wird. Folgende Annahmen leiten die Untersuchung: Stadtentwicklung und -planung werden seit der französischen Kolonialzeit als Herrschaftsinstrument zur sozialen Befriedung in Algier genutzt. Die Kontinuität sozialräumlicher Ungleichheit lässt sich ebenso feststellen, wie die Kontinuität urbaner Proteste. In der geteilten Stadt ist die Jugend eine wichtige Akteurin des Widerstands gegen das ausgrenzende urbane Regime geworden, wie an den oben genannten Beispielen bereits angedeutet wurde. Um ihre Handlungsspielräume zu vergrößern, greifen Jugendliche nicht nur auf organisierte, offene oder laute Formen des Widerstands zurück, sondern auch auf alltägliche Praktiken der Alltagsbewältigung und des Vordringens, die auf den ersten Blick keine widerständigen Eigenschaften zu haben scheinen. Diese können jedoch die Pläne der Autoritäten konterkarieren und somit aus Sicht der Mächtigen stören oder sie können durch ihre ermächtigende Funktion eine Voraussetzung für Mobilisierung und Widerstand Jugendlicher sein. Um zu analysieren, wie Jugendliche in der Geschichte und Gegenwart Algiers im Kontext urbaner Transformationen die öffentlichen und halböffentlichen Räume der Stadt nutzen und aneignen, um sich ihrer Marginalisierung zu widersetzen, werden folgende Fragen gestellt: • Welche Beziehungen bestehen zwischen den Geografien der geteilten Stadt und dem Hervortreten der Jugend als Akteurin des Widerstands in der algerischen Geschichte? • Welche Bedeutung haben die öffentlichen und halböffentlichen Räume für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand im Kontext urbaner Transformationen? Zur Beantwortung der Fragen werden eine historische und eine ethnografische Untersuchung durchgeführt.

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Jugend und Widerstand in Algier

Ziel der historischen Annäherung an Jugend und Widerstand in Algier ist es, wissenschaftliche und mediale Diskurse zu analysieren, die in das Imaginäre Algiers als ›umkämpfte‹ Stadt und der ›rebellischen Jugend‹ eingef lossen sind und die kulturelle Textur der Alltagsräume prägen, in denen die Jugendlichen heute navigieren. Dazu wurden vor allem frankofone Studien und Zeitungsberichte über Jugend und Stadt in Algerien zusammengeführt und ausgewertet. Auf diese Weise können retrospektiv Erkenntnisse über die Beziehungen zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand im Kontext urbaner Transformationen gewonnen werden. Seit der Oktoberrevolte 1988 ist die Jugend, insbesondere der städtischen Armutsviertel, ins Spannungsfeld der Politik geraten. Die Figuren der hittisten – an die Mauer gelehnte untätige junge Männer – und der harraga – Kandidat*innen für die heimliche Migration – dominieren die mediale und wissenschaftliche Darstellung der algerischen Jugend seit der Oktoberrevolte 1988. Über solche Figuren wird ein festes und essentialistisches Bild von Jugendlichen entworfen, deren Identitäts- und Alltagsaushandlungen ebenso wie die Räume, in denen sie stattfinden, im Gegensatz dazu stets ›in Bewegung‹ sind. Das Ziel der ethnografischen Untersuchung ist es, mit einem Methodenmix aus Mindmaps, Interviews und teilnehmender Beobachtung, die Bedeutung der öffentlichen und halböffentlichen städtischen Räume, in denen die Jugendlichen navigieren für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand zu analysieren.

Forschungsüberblick Im Zusammenhang mit geopolitischen Ereignissen wie dem 11. September 2001 und dem Arabischen Frühling 2011 ist das Forschungsinteresse an jungen Menschen in der MENA-Region in den letzten Jahren gestiegen. Viele dieser Jugendstudien aus den Städten der MENA-Region basieren auf einer regionalvergleichenden Perspektive (Bonnefoy & Catusse 2013, Gertel & Ouaissa 2014, Khalaf & Khalaf 2012, Gertel & Hexel 2017). Vor allem im Hinblick auf das Verhältnis der Jugendlichen zum Staat und zu religiösen Autoritäten wird die ›muslimische Jugend‹ zu einer eigenen Kategorie konstruiert (Herrera & Bayat 2010, Nilan 2017). In der vorliegenden Arbeit werden die Ursachen für die Empörung der Jugend nicht nur in den autoritären Regimen der MENA-Region gesucht, sondern vor allem mit den wachsenden Ungleichheiten und der Entmündigung der Menschen in den neoliberalen Städten im 21. Jahrhundert in Verbindung bringt, die auch das Alltagsleben Jugendlicher im Globalen Norden prägen. Widerstände gegen Ausgrenzung in der ungleichen Stadt sind kein regionales, sondern ein globales Phänomen, wie weltweite urbane Proteste zeigen.

Einleitung

Städte sind als ›Portale der Globalisierung‹ nicht nur zu den Zentren von Kapitalf lüssen und Spekulationen geworden, sondern auch von Widerstand und utopischen Projekten (Harvey 2013[2012], 21). Nicht irgendwelche politischen oder religiösen Ideologien, sondern alltägliche Probleme der jungen Bevölkerung galten auch als Auslöser der Proteste in der MENA-Region 2011. Die durch das Auf begehren der Jugend in Gang gesetzten politischen Umbrüche in der MENA-Region wurden darum auch als ›Jugendrevolutionen‹ bezeichnet (Honwana 2012). Die Bezeichnung ›Jugendrevolutionen‹ stellt im Unterschied zum Begriff des Arabischen Frühlings oder der Arabellion eine Verbindung zu Protesten in anderen Regionen der Welt her und verweist somit auf die globale Reichweite der strukturellen Ursachen dahinter. Ob in Algier 2019, Beirut 2019, Maputo oder Dakar 2010, in Kairo, Tunis, Damaskus und New York 2011, in London 2012, in Stockholm, Istanbul und Rio 2013, junge Leute gehen auf die Straße. Sie demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit, soziale und politische Ausgrenzung, gegen Rassismus, gegen Machtmissbrauch der Mächtigen und der Eliten und für Mitsprache an der Stadtentwicklung. Die weltweiten Protestbewegungen der letzten Jahre haben das Auf brechen in eine multipolare Welt und die globale Reichweite der Finanzkrisen deutlich gemacht (Honwana 2012, 168f.). Die Proteste der jungen Menschen sind trotz ihrer unterschiedlichen Formen und Anliegen ein globales Phänomen geworden, das die Krise des Neoliberalismus (Giroux 2011) in den Städten sichtbar und die Forderung nach dem ›Recht auf die Stadt‹2 lauter werden lässt. Nicht zuletzt hat auch die Fridays for Future – Bewegung gegen den Klimawandel die globale Bedeutung jugendlicher Proteste im 21. Jahrhundert verdeutlicht. Doch nicht nur in Form von lauten und öffentlichen Protesten, sondern auch im Alltag erkämpfen sich Jugendliche Handlungsspielräume und Möglichkeiten der Teilhabe und tragen somit zu sozialem Wandel bei. Um die Stellung Jugendlicher im urbanen Macht-Gefüge zu verstehen, ist es vielversprechend die Jugend- und Stadtforschung zusammenzuführen. Schnittstellen zwischen Stadt- und Jugendforschung ergeben sich aus dem demografischen Gewicht der Jugend in den Städten und daraus, dass Jugend als eigene soziale Kategorie in der Stadt der industriellen Moderne hervorgetreten ist und

2 Das ›Recht auf die Stadt‹ formulierte Henri Lefebvre 1967 zum hundertjährigen Jubiläum des Kapitals von Karl Marx als Konzept, um die wachsende Bedeutung des kommodifizierten Raums für politische Kämpfe hervorzuheben. Das ›Recht auf die Stadt‹ bezeichnet nicht nur das Recht auf Zugang zur Stadt (Wohnung, Arbeit, Mobilität), sondern auch das Recht auf Nichtausschluss und Teilhabe am städtischen Leben und auf Differenz sowie das Recht auf eine Stadtentwicklung, die den Nutzwert vor den Tauschwert setzt und Städte nicht für Profit, sondern für Menschen plant (Brenner et al. 2009, Attoh 2011, de Souza 2010, Harvey 2008, Holm 2011, Kuymulu 2013, Purcell 2002).

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Jugend und Widerstand in Algier

Jugend(sub)kulturen und Jugendproteste vor allem in den öffentlichen Räumen der Städte gesehen und gehört werden. Jugend ist ein modernes und urbanes Phänomen, und es ist vor allem die Stadt, in der junge Menschen ihre Jugendlichkeit leben. Es ist aber auch die Stadt, in der die Probleme der Jugend – Arbeitslosigkeit, soziale und politische Ausgrenzung – verdichtet auftreten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Krise der Städte mit einer Krise der Jugend einhergeht (Hansen 2008, 12). Die Mena-Region hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Studien hervorgebracht, die sich mit Jugend als Akteurin von gesellschaftlichem und politischem Wandel im städtischen Alltagsleben befassen (Bennani-Chraïbi & Fillieule 2003, Herrera & Bayat, 2010, Khalaf & Khalaf 2012, Bonnefoy & Cartuche 2013, Gertel & Ouaissa 2014, Gertel & Hexel 2017). Die Frage nach der Beziehung von Alltagsbewältigung und Widerstand spielt darin eine wichtige Rolle (Bennani-Chraïbi & Fillieule 2003, 58). Sie versuchen, eine für die Besonderheiten autoritärer Gesellschaften passende Konzeptualisierung der Protest- und Widerstandsformen vorzunehmen, die zwar die dichotome Gegenüberstellung von intendierten und nicht-intendierten oppositionellen Praktiken auf bricht und dennoch Widerstand und vor allem seine Wirkung differenziert betrachtet und gleichzeitig die Partikularitäten des Jugendlich-Seins hervorheben (Herrera & Bayat 2010, 11). In der Phase der Jugend ist die Alltagsbewältigung mit dem Erwachsenwerden verknüpft. Selbst das bescheidene Ziel, ein einfaches Leben zu führen und zu heiraten, scheint für viele Jugendliche besonders in den städtischen Armutsgebieten unerreichbar (Singerman 1995, Herrera 2010). Um sich Möglichkeiten zu schaffen, wo es unmöglich scheint, müssen die Jugendlichen f lexibel und kreativ agieren. Doch der f lexible Umgang junger Menschen mit strukturellen Zwängen ist kein Alleinstellungsmerkmal Jugendlicher in der MENA-Region: viele Autor*innen verweisen auf Parallelen zwischen den Alltagsrealitäten in den Städten des globalen Südens, den postsowjetischen Ländern (Roberts 2003, 501) und des globalen Nordens (Wyn & White 2000): »Even in advanced industrial societies, the modernist dream of infinite progress – a narrative to which each generation does better than its predecessor – is constantly mocked; mocked, by conditions that disenfranchise many people, disproportionately the young and unskilled of the inner city and the countryside, from full waged citizenship in the nation-state.« (Honwana & De Boeck 2005, 21) Alcinda Honwana hat mit ihrer vergleichenden Studie The Time of Youth (2012) über Alltagsbewältigung, Zivilgesellschaft und sozialen Wandel am Beispiel junger Menschen in Tunesien, Mosambik, Kongo und Senegal die Perspektive aus Afrika als mögliche globale Perspektive vorgeschlagen. Cindy Katz analysiert mit einer counter-topology zweier unterschiedlicher Orte – einem Dorf im Sudan und einer

Einleitung

Nachbarschaft in New York – in vergleichender Perspektive die Antworten von Kindern und Jugendlichen auf Marginalisierung und Ausgrenzung. Die ähnlichen Antworten von Jugendlichen auf neoliberale Politik an so unterschiedlichen Orten wie Howa, einem Dorf im Sudan, und Harlem, einem Stadtteil von New York, sind ein Indikator für das Auf brechen einer bipolaren in eine multipolare Welt und die Verdichtung von Interkonnektivitäten (Katz 2004). Das Potential von Jugendlichen und Kindern, Wandel zu bewirken, sieht Katz in ihrer Fähigkeit, Zeiten oder Räume in ihrer Imagination ›ohne Mauern‹ zu konstruieren: »when and where all futures seem possible, even as everyone knows that they are not.« (Katz 1998, 136) Das Potential der jungen Menschen, Wandel zu bewirken, liegt jedoch nicht nur in den alternativen ökonomischen Praktiken der Alltagsbewältigung oder in den lauten und offenen Formen des Protests, sondern auch in dem, was Asef Bayat (2012 a) als »Politik des Spaßes« und »Kunst der Präsenz« bezeichnet. Die kollektiven Praktiken Jugendlicher, die zu gesellschaftlichen Veränderungen z.B. durch Normverschiebungen führen, folgen der Logik einer Nicht-Bewegung: »Praktiken, die von einer größeren Zahl ganz normaler Menschen ausgeübt werden. Sie sind zwar nicht miteinander verbunden, ähneln sich aber und tragen in erheblichem Maße zu einem gesellschaftlichen Wandel bei.« (Bayat 2012, 31)

Umsetzung: Feldforschungsaufenthalte in Algier/Algerien Die ethnografische Untersuchung wurde während mehrerer Feldforschungsaufenthalte zwischen 2009 und 2012 durchgeführt. Zu Beginn wurde eine Mindmap-Befragung mit 17 männlichen und 37 weiblichen Teilnehmer*innen über die wichtigsten Orte im Alltag der Jugendlichen durchgeführt. Auf diese Weise wurde ein erster Einblick in die Alltagsräume gewährt. Die Interviews fanden auf Arabisch, Französisch und manchmal auf Wunsch der Jugendlichen auch auf Englisch oder Deutsch statt. Bei Interviews auf Arabisch waren Übersetzer*innen zugegen. Die Zitate aus den Interviews werden alle auf Deutsch wiedergegeben. Die persönlichen Angaben der Interviewpartner*innen wurden verändert. Insgesamt wurden 76 aufgezeichnete Einzel- und Gruppeninterviews geführt. Ergänzt und aktualisiert wurden die empirischen Ergebnisse 2019 durch 10 schriftlich beantwortete Fragebögen mit Jugendlichen und 4 telefonischen Interviews mit ehemaligen Interviewpartner*innen. Als Ausgangsort der Feldstudie wurde die Kasbah gewählt, die zugleich das historische Zentrum der Stadt und ein quartier populaire ist. Durch ihre geografisch zentrale und sozial marginalisierte Position hat sie in Algier auch die Funktion des ›Zentrums‹ der Jugendlichen aus unterschiedlichen quartiers populaires, besonders aus den peripheren Stadtvierteln, die über weniger Infrastruktur und Freizeitmöglichkeiten verfügen als die zentral gelegene Kasbah; gleichzeitig

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ist sie ein Symbol der algerischen Nation und ihrer Krisen, weshalb sie zumindest für die städtische Jugend Algeriens auch repräsentative Bedeutung hat. Abbildung 1: Wandbemalung auf einer Dachterrasse in der Kasbah

Quelle: Britta Hecking

Die meisten Interviews wurden an den folgenden Orten durchgeführt: einer Bibliothek, einem Jugendhaus, einer Kung-Fu-Schule, am Märtyrer-Platz als Beispiel für die ›Straße‹ und in einem Jugendverein. An den jeweiligen Orten wurden qualitative Interviews in unterschiedlichen Formaten durchgeführt. Vor allem aber ermöglichte die Forschung an diesen Orten eine intensive teilnehmende Beobachtung. Die eingesetzten Methoden sowie die Anzahl und Form der Interviews unterscheiden sich zwischen den Orten erheblich: Während es in der Bibliothek, im Jugendhaus und im Jugendverein kein Problem war, Interviews zu führen und aufzuzeichnen, war das in der Kung-FuSchule aus Platzgründen und auf der Straße aufgrund von Sicherheitskontrollen insbesondere 2011 schwieriger. Neben den aufgezeichneten Interviews wurden an diesen Orten zahlreiche informelle Gespräche geführt, die in Gesprächsnotizen während oder nach dem Interview festgehalten wurden.

Die vergessene Frage Städtische Armutsviertel sind als Interventionsräume (sozialer) Stadtentwicklungspolitiken häufig im Fokus sozialgeografischer Untersuchungen. »Du hast uns vergessen zu fragen, wie viele wir zu Hause sind«. Diesen Hinweis erhielt ich nach einem meiner ersten Interviews mit zwei Jugendlichen in

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der Bibliothek Ben Cheneb. Das Interview hatte in einem Raum der Bibliothek stattgefunden. Die Bedeutung der Bibliothek für die Jugendlichen stand im Mittelpunkt meines Interesses. Die Schlussbemerkung des Jugendlichen impliziert einen wichtigen Aspekt für die Wissenskonstruktion: Das Wissen und Bewusstsein der Jugendlichen über den Kontext der eigenen Lebenswelt und den Kontext der Interviewsituation. Die Jugendlichen wissen, dass sie als Bewohner*innen der quartiers populaires, die von den Bewohnern selbst auch quartiers populeuses (dichtbevölkerte Viertel) genannt werden, von hegemonialen ›Normen‹, in diesem Fall bezüglich der durchschnittlichen Personendichte eines Haushalts, abweichen. Sie wissen auch, dass die Wissenschaftler*innen über ein Vorwissen über den Ort verfügen, auf den sich ihr Forschungsinteresse bezieht. Und auch wenn sich meine Frage nicht an den ›abweichenden‹ sozialen Strukturen des Stadtviertels orientiert und ich die Frage »wie viele Personen sich ein Zimmer teilen« nicht gestellt habe, prägt sie implizit die Wissensproduktion. Der Jugendliche hat mich mit seiner Bemerkung an etwas erinnert: Dass ich als Wissenschaftlerin, auch wenn ich den Jugendlichen versuche objektiv und unvoreingenommen gegenüberzutreten, in der Auswahl meiner Methoden, im Feld und in der Auswertung meiner Daten bis hin zur Publikation von ›Konzepten‹ beeinf lusst werde, die weder neutral noch frei von Machtbeziehungen sind. »Aus Sicht postkolonialer Forschungsansätze ist Wissen – auch in der Form persönlicher Erfahrungen – weder objektiv noch neutral oder gar frei von Machtbeziehungen.« (Gertel 2005, 3) Ebenso ist das Allgemeinwissen der Jugendlichen von Konzepten geprägt: Als ›Dritte Welt‹ bezeichnete ein Jugendlicher die Straßen seines Viertels, während das Zentrum von Algier heute ein bisschen ›entwickelter‹ sei (Yusef, 17, Kasbah, Mindmap, 24.2.2011). Konzepte tragen dazu bei, soziale Phänomene zu kommunizieren, und erst so können sie bekannt gemacht und erklärt werden. Gleichzeitig entstehen soziale Phänomene durch die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und seine Konzeptualisierung, die dann wiederum in den allgemeinen Sprachgebrauch und das Alltagsleben einf ließen und wiederum zum Gegenstand von Forschung und Re-Konzeptualisierungen werden. Das Phänomen der Bevölkerungsdichte in der Kasbah führt zurück zur kolonialen Stadtplanung (Kapitel 2), als die wissenschaftliche Erfassung der Stadtbevölkerung als Herrschaftsinstrument eingeführt wurde. Die Konstruktion der Kasbah als Gegenort, ihre Marginalisierung und Ausgrenzung in den Strukturen des Kolonialismus prägen bis heute ihr Bild – und das ihrer Jugend. Ebenso wie koloniale Spuren und Kontinuitäten bis in die Gegenwart im Stadtbild Algiers präsent sind, prägen diese auch die ›Wissensproduktion‹ über Algier.

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Zielgruppe ›Jugend in Algier‹ Die Kategorie Jugend wird institutionell als Altersgruppe definiert. International dominiert die von den Vereinten Nationen (UN) 1985 festgelegte Definition von Jugend als Altersgruppe, die älter als 15 und jünger als 25 Jahre sind. Auch die Weltbank hat diese Definition übernommen. In vielen Ländern des globalen Südens wurde die Altersgrenze auf 35 Jahre angehoben, zum Beispiel auch in der Definition der Afrikanischen Union und der Arabischen Liga (Honwana 2012, 12). In der algerischen Charta der Jugend (1975) der unabhängigen Volksrepublik Algeriens werden die 17- bis 27-Jährigen als Jugendliche definiert. In den algerischen Institutionen variiert die Definition von Jugendlichen: Die zivile Volljährigkeit ist auf 18 Jahre, die juristische Volljährigkeit auf 19 Jahre festgelegt. In den Statistiken des Of fice Nationale des Statistiques (ONS) werden die 15- bis 24-Jährigen zu den Jugendlichen gezählt (Musette 1991, 29). Im Ministerium für Arbeit z.B. liegt die Altersgrenze zwischen 18 und 35 Jahren für die Vergabe von Mikrokrediten, das Ministerium für Jugend und Sport ist für die unter 30-Jährigen zuständig. Die Beispiele zeigen, dass ein 25-Jähriger in den Statistiken zwar nicht mehr als Jugendlicher auftaucht, jedoch noch das Recht auf einen Mikrokredit für arbeitslose Jugendliche hat und die Definition der Jugend immer kontextabhängig ist (Christiansen et al. 2006, 12). Der Zugang zu den hier vorgestellten Jugendräumen (Jugendhaus, Bibliothek etc.) wurde nicht durch eine Altersgrenze festgelegt. Die Kurse des Jugendhauses und in der Kung-Fu-Schule konnten auch von Erwachsenen besucht werden. Die Bibliothek richtet sich an Schüler*innen und Student*innen, jedoch gab es auch einige Erwachsene, die an den Sprachkursen teilnahmen. Die Auswahl der Interviewpartner*innen bezog all diejenigen ein, die noch nicht den Status des sozialen Erwachsenseins erreicht hatten (Honwana 2012, 13), das hieß mindestens eine oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllten: noch nicht verheiratet waren, bei den Eltern lebten, keine feste Arbeit hatten, und sich selbst als Jugendliche bezeichneten. Die jüngste interviewte Person war 14 Jahre alt, der älteste Jugendliche 35 Jahre alt. In der Bibliothek waren die 16- bis 20-Jährigen am stärksten vertreten, während an den anderen Orten das Alter der Jugendlichen stark variierte. In den algerischen Medien wird Jugend oft im Zusammenhang mit sozialen Problemen genannt, so dass es nicht unüblich ist, folgende Überschriften zu lesen: »Drei Jugendliche zünden sich selbst an« (Koubabi, El Watan, 16.1.2011). Erst weiter unten im Artikel steht geschrieben, dass einer der drei Jugendlichen 41 Jahre alt ist und Vater von sechs Kindern. Diese offene Definition von Jugend ist auch kritisch zu betrachten, da sie den jungen Menschen das Recht auf den Status des Erwachsenseins nimmt und ihren ›Wartezustand‹ damit legitimiert. Dass ein Jugendlicher noch keine eigene Wohnung hat, erscheint ›normal‹. Ein Erwachsener ohne eigene Wohnung weist hingegen auf strukturelle Probleme hin. Diese Prob-

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lematik war Thema eines Interviews mit Omar, einem Sozialarbeiter, 38 Jahre alt, der mit Jugendlichen arbeitete, aber sich selbst noch als Jugendlichen bezeichnete, weil er noch bei den Eltern lebte und aufgrund des Platzmangels nicht heiraten konnte. Von seinem Monatsgehalt konnte er keine eigene Wohnung mieten und sein Antrag auf eine Sozialwohnung war seit 15 Jahren in Bearbeitung. Trägt die Erweiterung des Jugendbegriffs nicht auch dazu bei, die Ausgrenzung einer immer breiteren Bevölkerungsgruppe hinter dem Begriff der Jugend zu legitimieren? Wäre es demnach nicht angebrachter, von jungen Erwachsenen zu sprechen (Breuer 2012)? Gleichzeitig ermöglicht die Darstellung des sozialen Moratoriums der Jugend (Christiansen et al. 2006, 14), beispielsweise durch den Begriff der global waithood (Honwana 2012), auf die strukturellen Probleme aufmerksam zu machen, die auch die Definition des Erwachsenseins und damit verbundene Gesellschaftsmuster in Frage stellen: »For many youths the traditional model of adulthood, although still valued as an ideal by their elders, has long been absent from their lives. Young people are forced to invent their own model of what it means to be a mature person in their concrete circumstances. As waithood has become an indefinite state in which young people are forced to survive by improvising new forms of livelihood and social relationships, it is becoming the only sort of adulthood that the vast majority of young Africans can attain. They have high aspirations, and each and every day they struggle to improve their lives through every means available to them.« (Honwana 2012, 29) Jugendstudien zur MENA-Region beginnen meist mit Hinweisen auf den so genannten youth bulge: »Demographic pressures: the most evident and challenging aspect of the region’s demographic profile is its ›youth bulge‹. Young people are the fastest growing segment of Arab countries’ populations. Some 60 per cent of the population is under 25 years old, making this one of the most youthful regions in the world, with a median age of 22 years compared to a global average of 28.« (Arab Development Report 2009, 3) Doch auch diejenigen Studien, die den entwicklungspolitischen Jugendstudien kritisch gegenüberstehen, beziehen sich auf den youth bulge, um die Wichtigkeit des Themas Jugend in der MENA-Region zu unterstreichen (Salehi-Isfahani & Dhillon 2008, Chaaban 2009, Herrera & Bayat 2012, Bonnefoy & Catusse 2013). Auch in Algerien ist der Anteil der jungen Bevölkerung hoch. Die Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit weisen laut den Statistiken der Arabischen Organisation für Arbeit (ALO) sogar die höchsten Zahlen für die Region auf:

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»ALO estimates for the year 2005/6 show that youth unemployment rates in the region vary from a high of about 46 per cent in Algeria to a low of 6.3 per cent in the United Arab Emirates. With the exception of the latter, high income Arab countries suffer from double digit youth unemployment rates. Relatively high youth unemployment rates are also recorded for the middle and low income Arab countries. Overall, the unemployment rate among the young in the Arab countries is nearly double that in the world at large.« (Arab Human Development Report 2009, 10) In den Statistiken des ONS (2008) wird der Anteil der unter 30-Jährigen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen in Algerien auf 75 % gerechnet (ONS 2008). Jugendarbeitslosigkeit wird in der MENA-Region im Zusammenhang mit Urbanisierung und der Ausbreitung des Informellen diskutiert, da viele junge Menschen ohne soziale Absicherung ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor verdienen oder in den informellen Siedlungen der Stadtränder leben: »Urban growth poses particular challenges. An accelerating drift to cities and towns is straining already-overstretched infrastructure and creating overcrowded, unhealthy and insecure living conditions in many Arab centres. In 1970, 38 per cent of the Arab population was urban. By 2005 this had grown to 55 per cent, and it is likely to surpass 60 per cent by 2020.« (Arab Human Development Report 2009, 3) Die offiziellen Definitionen von Jugend ebenso wie Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit sagen jedoch wenig über die Alltagsrealitäten junger Menschen im ›Wartezustand‹ aus (Honwana 2012, 46, Bayat 2010, 34). Der Anteil der 15- bis 34-Jährigen in Algier beträgt etwa 30 % der Bevölkerung (ONS 2008). Die meisten der Informant*innen, die an der Studie teilgenommen haben, leben in der Kasbah, in Bab el-Oued, Bologhine oder in den neuen Stadtvierteln an der östlichen Peripherie, darunter einige, deren Familien umgesiedelt wurden und früher in der Kasbah oder in Bab el-Oued gelebt hatten. Mit Ausnahme der Mädchen der Tanzgruppe (Kapitel 7.4) waren kaum Jugendliche aus den so genannten quartiers résidentiels, den besser situierten Vierteln, an diesen Orten präsent. Eine soziale Kategorisierung der Jugendlichen ist jedoch schwierig, da der Verwaltungsbezirk Bab el-Oued sowohl gehobene Gegenden in Strandnähe als auch Slums in der Nähe des sozialen Wohnungsbaus aufweist. Die Bibliotheksverwaltung (Kapitel 6.3) führt Listen über die Einkommensverhältnisse der Familien der Schüler*innen, doch gab die Direktorin zu bedenken, dass die ›formelle‹ Beschäftigung des Vaters beispielsweise oftmals wenig über die finanziellen Verhältnisse der Familie aussagt. Eine soziale Kategorisierung ist daher schwierig. Einige der interviewten Jugendlichen bezeichneten sich als Bewohner*innen der quartiers populaires als ›arme Leute‹ (nous, les pauvres), andere distanzierten sich

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bewusst davon, indem sie ihren Standortvorteil als Bewohner*innen der Hauptstadt im Gegensatz zur ländlichen Bevölkerung hervorhoben. Die Jugendlichen greifen zur Beschreibung ihrer Zugehörigkeiten auf dominante Repräsentationen Jugendlicher in Algerien zurück, deuten diese jedoch auch um: Riad, der in der Kasbah lebt und eine feste Arbeit hat, erklärte die unterschiedlichen Kategorien von Jugendlichen im Zusammenhang mit ihren Konsumpraktiken: »Es gibt drei Kategorien von Jugendlichen in Algier. Die Tchi-Tchi, sie wohnen in Hydra, im Golf, und sie kaufen ihre Kleider in dem Einkaufszentrum von Bab Azzouar. Dann gibt es die ouled elhouma, die Jugendlichen aus der Kasbah, Bab el-Oued und Belcourt, sie kaufen ihre Kleider hier auf dem Markt. Und es gibt la Mafia, die kriminellen Jugendlichen aus Climat de France und El-Harrach; sie verdienen ihr Geld durch Klauen. Ich bin ein Tchi-Tchi aus der Kasbah, ich wohne hier, aber ich kaufe meine Kleidung im Einkaufszentrum.« (Riad, 16.9.2011) Anstelle des Versuchs einer sozialen Kategorisierung sollen daher im folgenden Abschnitt die Stadtviertel der Jugendlichen genauer betrachtet werden.

Der Verwaltungsbezirk Bab el-Oued Die ausgewählten Alltagsorte befinden sich in der Kasbah (das Jugendhaus, die Bibliothek), in Bab el-Oued (die Kung-Fu-Schule) und in Bologhine (Jugendverein). Alle genannten Kommunen (niedrigste Verwaltungseinheit) gehören zum Verwaltungsbezirk Bab el-Oued, der im öffentlichen Diskurs als quartier populaire3 bezeichnet wird. Die Kasbah zählt laut der Statistik des ONS (2008) 36 762 Einwohner*innen, davon sind etwa ein Drittel (12 149) zwischen 15 und 34 Jahre alt. Bab el-Oued zählt 64 723 Einwohner*innen, davon sind 20 176 zwischen 15 und 34 Jahre alt. Bologhine zählt 43 835 Einwohner*innen, davon sind 14 999 zwischen 15 und 34 Jahre alt. Oued Koreiche zählt 46 182 Einwohner*innen, davon sind 15 333 Einwohner*innen zwischen 15 und 34 Jahre alt. Als quartiers populaires werden in Algier sowohl die historischen Arbeiterviertel, die Altstadt, die Wohnsiedlungen der 1950er-Jahre als auch die neuen peripheren Viertel des sozialen Wohnungsbaus bezeichnet (Djerroud 2009). Teilweise werden diese Viertel von den Jugendlichen auch als ›schwarz-weiße Viertel‹ bezeichnet, eine Anspielung auf die wahrgenommene ›Rückständigkeit‹ und mangelnde Infrastruktur. Im öffentlichen Diskurs werden diese quartiers populaires vor allem mit hoher Bevölkerungsdichte, dem durch3 Da es keine passende deutsche Übersetzung für die Bezeichnung quartier populaire gibt, wird die Bedeutung im algerischen Kontext erklärt und der französische Terminus im Folgenden beibehalten.

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schnittlichen niedrigen Einkommen ihrer Bewohner*innen, hoher Arbeitslosenrate und Jugendkriminalität in Verbindung gebracht (Kapitel 4.3). Im Unterschied zu den neuen Vororten sind die Kasbah und Bab el-Oued durch ihre Nähe zum Hafen und zum Stadtzentrum (Alger Centre) aber trotz ihres Rufes als quartiers populaires für die Jugendlichen attraktiver. Auch die historische Bedeutung der Kasbah, ihr Status als Weltkulturerbe (seit 1992 UNESCO-Weltkulturerbe) und ›Herz‹ Algiers tragen zur Aufwertung der Viertel und somit zur Identifikation der Jugendlichen mit ihrem Viertel bei. Die Jugendlichen bezeichnen sich selbst als ›Kinder der Hauptstadt‹ in Abgrenzung zu den Zugezogenen. Aufgrund ihrer historischen Bedeutung haben diese Stadtteile auch eine bessere kulturelle Infrastruktur als andere Stadtteile. Die Oper am Platz Port Said mit dem Café Tontonville gehören zu den Treffpunkten der Theater- und Kunstszene, und der Salle Atlas in Bab el-Oued ist einer der größten Veranstaltungssäle der Stadt. Auch das Konservatorium für Tanz, Musik und Theater befindet sich in der Nähe des Platzes der Märtyrer. Außerdem gibt es zahlreiche Folklorevereine, die Kunst, Musik (Cha’abi, Andalus) oder Tanz anbieten. In der Kasbah befinden sich zudem die Museen und Vereine zur Bewahrung des Kulturerbes sowie viele der legendären Cha’abi-Cafés. Das Café Malakof f oder das Café Bahdja in der Rue Bab el-Oued haben identitätsstiftende Bedeutung für die Bewohner*innen der Viertel und werden auch von der jungen männlichen Bevölkerung besucht. Nicht zuletzt hat auch der Straßenmarkt eine wichtige soziale Funktion für das Viertel, nicht nur als Einkommensquelle, sondern auch als Ort der Begegnung und Kommunikation. Auch was das Sport- und Freizeitangebot betrifft, ist der Verwaltungsbezirk Bab el-Oued gut ausgestattet. Durch die Gründung der ersten algerischen Fußballvereine während der französischen Kolonialzeit in der Kasbah und am Platz der Märtyrer (Kapitel 2) sind die Vereine heute dort noch präsent. Auch die Uferpromenade und der Strand Kettani sind infolge der Stadterneuerungsprojekte nach der Flutkatastrophe vom 10. November 2001 zu einem beliebten Ziel der jungen Leute geworden. Im Plan ›Algier 2029‹ soll Kettani zur einer maritimen Freizeitanlage mit Naturschwimmbädern und einem Freizeithafen umgestaltet werden. Der Platz der Märtyrer wurde 2018 neu gestaltet (Kapitel 4). Der Platz der Märtyrer, der die Kommunen Kasbah und Bab el-Oued verbindet, ist aber auch als offizieller Erinnerungsort des antikolonialen Befreiungskampfes (Kapitel 2) sowie als inoffizieller Erinerungsort an die Oktoberrevolte 1988 (Kapitel 3) bedeutsam.

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Abbildung 2: Karte Algier

Quelle: www.mappery.com/Algiers-Street-Map

Aufbau der vorliegenden Arbeit Für die vorliegende Studie wurden Ansätze aus der Stadt- und Jugendforschung durch den gemeinsamen Fokus auf Widerstand und Theorien des sozial produzierten Raums zusammengeführt. Um die Stellung Jugendlicher im urbanen Machtgefüge zu anlysieren, werden die Beziehungen von Macht und Widerstand im urbanen Raum am Beispiel von Stadtplanung als Herrschaftsinstrument und am Beispiel widerständiger Raum-Konzepte diskutiert (Kapitel 1.1). Weltweit tritt dabei die Jugend als Akteurin urbaner Proteste in den Vordergrund. In Kapitel 1.2 wird die Konstruktion der ›rebellischen Jugend‹ im Zusammenhang mit ihrer Position im städtischen Raum beleuchtet. So werden Jugendliche etwa als Makers

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and Breakers (Honwana & de Boeck, 2005) sozialer Normen und Ordnungen und somit als Motor für gesellschaftlichen und politischen Wandel betrachtet. In Kapitel 1.3 wird die Beziehung von Alltag und Widerstand im sozialen Raum betrachtet und darauf auf bauend in Kapitel 1.4 das Konzept des Navigierens als Analysekategorie vorgeschlagen, um die Bedeutung öffentlicher und halböffentlicher Räume für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand zu untersuchen. Die Kapitel 2 bis 4 entschlüsseln die Narration Algiers als ›umkämpfte‹ Stadt. Am Beispiel der Kasbah werden die diskursive Konstruktion städtischer Armutsviertel zu ›Gegenorten‹ und die Bedeutung der houma (Nachbarschaft) für die Beziehungen zwischen Alltagsbewältigung und Widerstand im Kontext städtischer Armut diskutiert. Der Schwerpunkt auf die Rolle von Jugendlichen in den drei Phasen des Umbruchs in der Geschichte Algiers seit 1830 – die Schlacht um Algier 1957, die Oktoberrevolte 1988 und der Arabische Frühling 2011 – analysiert das Hervortreten der algerischen Jugend als Akteurin des Widerstands und setzt sich kritisch mit der daraus resultierenden Repräsentation der Jugend von heute in Algier auseinander. Darauf auf bauend stellen die empirischen Ergebnisse das Alltagsleben von Jugendlichen in Algier heute in den Mittelpunkt (Kapitel 5-7). Alltag wird basierend auf Theorien des sozialen Raums als Feld der sozialen Reproduktion betrachtet, in dem jedoch auch Möglichkeiten des Wandels liegen. Trotz struktureller Zwänge versuchen die Jugendlichen ihre Handlungsspielräume zu vergrößern: Sie nutzen das breite und f lexible Bildungsangebot in der Stadt, suchen Beschäftigungsmöglichkeiten in der Straßen- oder in der Kulturwirtschaft. Durch die Praxis globaler Jugend- und Subkulturen bilden sie Gemeinschaften und performen ihre Subjektivitäten im öffentlichen Raum. Auf bauend auf vorherrschenden Sichtweisen auf die ›Politik des Alltags‹ wird das Konzept des ›Navigierens‹ als Analysekategorie vorgeschlagen. In der Alltagssprache der Jugendlichen bezeichnet ›navigieren‹ das In-Bewegung-Sein in der Stadt auf der Suche nach Möglichkeiten der Alltagsbewältigung: das Überwinden von Hindernissen, Einplanen von Umwegen und Vorbereitet-Sein auf Brüche. Die politische Bedeutung des ›Navigierens‹ wird an den folgenden Beispielen aus den Alltagsräumen der Jugendlichen dargestellt: die Straße als öffentlicher und von den Jugendlichen für ökonomische und soziale Aktivitäten angeeigneter und in Besitz genommener Raum (Kapitel 5), drei Jugendeinrichtungen als halböffentliche Räume, die sich die Jugendlichen als Bildungs- und Frei(zeit)räume aneignen (Kapitel 6) und die Performanz von Subjektivitäten durch die Praxis des Kung-Fu, Streetdance und Parkour, durch die die Jugendlichen im konkreten und übertragenen Sinne ›in Bewegung‹ sind und sich dazu sowohl die Straße als auch die geschützten Bildungs- und Freizeiträume aneignen (Kapitel 7). Im Fazit (Kapitel 8) werden die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassend betrachtet und allgemeine Erkenntnisse für die Analyse der Beziehung von Margi-

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nalisierung, Vordringen und Widerstand im Kontext urbaner Tranformationen formuliert – mit einem Ausblick auf die Hirak-Bewegung, die am 22. Januar 2019 begann und zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit durch die Corona-Krise zwar unterbrochen, aber noch nicht zu Ende ist. Die Jugend in Algier bleibt in Bewegung.

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1. Jugend Macht Stadt — theoretische Positionen

Im 21. Jahrhundert hat die Zahl der in den Städten lebenden Menschen diejenige der auf dem Land lebenden Menschen erstmals überschritten. Die rasante Verstädterung hat neue Extreme mit sich gebracht: Architektonische Ikonen und noch mehr Luxus, improvisierte und temporäre Notunterkünfte sowie vermehrte Obdachlosigkeit. Überwachungs- und Kontrollsysteme werden mit Hilfe technologischer Innovationen und der voranschreitenden Digitalisierung der Städte ausgebaut. Doch auch neue Beteiligungs- und Protestformen sind durch Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter hervorgetreten. Und die Straße ist trotz aller Versuche der Einhegung ein Ort der Revolte geblieben. Die Stadt im 21. Jahrhundert ist nicht einfach nur Bühne des Protests, sondern bringt diesen durch wachsende Ungleichheiten und Ausgrenzung selbst hervor. Insbesondere junge Menschen widersetzen sich weltweit ihrer Marginalisierung im städtischen Raum. Städtische Räume werden in der Regel von Erwachsenen für Erwachsene gemacht. Die hierarchische Unterordnung Jugendlicher in der Gesellschaft spiegelt sich an ihrem Platz im städtischen Raum wider, bzw. trägt der städtische Raum dazu bei, Jugend als sozial untergeordnete Kategorie zu konstruieren. Insbesondere der öffentliche Stadtraum ist ein ›umkämpfter Raum‹ der Aushandlung zwischen Autoritäten und Jugendlichen geblieben, den Jugendliche sich für ökonomische, soziale und kulturelle Zwecke aneignen und dadurch ihre Handlungsfähigkeit vergrößern, Protest äußern und Teilhabe einfordern. Der heute global zirkulierende Begriff der ›umkämpften Städte‹ wurde durch Harveys Aufsatz Contested Cities (2005 [1997]) geprägt, der in Transforming Cities (Jewson & MacGregor [Hg.] 1997) veröffentlicht wurde. Zuvor aber hatte schon John H. Mollenkopf in seiner Studie über die Restrukturierungsprozesse in den 1970er Jahren in New York den Begriff als Titel verwendet: The Contested City (1983). Seitdem wird der Begriff verwendet, »to underline the fact that this process of neoliberalism provokes struggles and increased stratification, inequalities, hierarchies, and ›difference‹« (Singerman 2009, 12). Mit dem Begriff der ›umkämpften Städte‹ wird also auf die Prozesse ungleicher Entwicklung und auf die Kämpfe gegen Ausgrenzung hingewiesen (Laws 1994b, Harvey 2005 [1997], Smith 2005[1996], Amin & Graham 1997).

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Jugend und Widerstand in Algier

Die Marginalisierung der Jugend und ihre Widerstände gegen Ausgrenzung im städtischen Raum ist ein aktuelles, aber kein neues Phänomen. Es ist mit den Städten gewachsen, in denen es im Zeitalter der Industrialisierung hervorgetreten ist. Im Folgenden wird ein Überblick über Ansätze aus der Stadt- und Jugendforschung gegeben, die sich mit den Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand Jugendlicher im Kontext urbaner Transformationen befassen.

1.1 Raum, Macht und Widerstand Das stadtgeografische Interesse an Widerstand ist auf die Theoretisierung des Raums als sozial ›produziert‹ (Lefebvre 1991[1974]) zurückzuführen, durch die der Raum eine politische Bedeutung bekommt: »The spatial organization of society, in other words, is integral to the production of the social, and not merely its result. It is fully implicated in both history and politics.« (Massey 1994, 4) Die Theorie des sozialen Raumes grenzt sich von einer Konzeptualisierung des Raums als Container ab. Anstelle der Vorstellung fester Raumgestalten treten niemals abgeschlossene Prozesse der Raumproduktion (Lefebvre 1991[1974]). ›La production de l’espace‹ ist zu einem der Grundlagentexte der Raumtheorien geworden, die den Spatial Turn in den Sozialwissenschaften eingeleitet haben (Günzel 2006). Die Stadt ist bei Lefebvre zugleich vorgestellter (conçu), wahrgenommener (perçu) und erlebter (vecu) Raum. Die Repräsentation von Räumen, die Nutzung des materiellen Raums und seine symbolischen Bedeutungen stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Der konzipierte Raum ist der Raum der Planer*innen und Architekt*innen, die den Raum darstellen, definieren und auf diese Weise dominante Raum-Repräsentationen herstellen. Die räumliche Praxis bezeichnet die Nutzung des materiellen Raums, durch die sozialräumliche Strukturen hergestellt und reproduziert werden. Der gelebte Raum ist hingegen der Raum der Imagination und der Aneignung und daher der möglichen Veränderungen: »[S]pace as directly lived through its associated images and symbols, and hence the space of ›inhabitants‹ and ›users‹, but also of some artists and perhaps of those, such as a few writers and philosophers, who describe and aspire to do no more than describe. This is the dominated – and hence passively experienced – space which the imagination seeks to change and appropriate. It overlays physical space, making symbolic use of its objects.« (Lefebvre 1991 [1974], 39) Der gelebte Raum, den Lefebvre auch als Raum der Repräsentationen bezeichnet, befindet sich auf der Ebene des Alltagslebens, das Lefebvre als Feld politischer

1. Jugend Macht Stadt — theoretische Positionen

Kämpfe bezeichnet. In der Heterogenität von Formen und Räumen des Widerstands gegenüber den dominanten sozialen Beziehungen des Kapitalismus, sieht Lefebvre das Potential für sozialen Wandel (Hetherington, 1997, 22). Lefebvres ›triadisches Raummodell‹ ist ein elementarer Baustein für die Beschäftigung mit ungleicher Entwicklung und Widerstand im urbanen Raum.

Stadtplanung als Herrschaftsinstrument Als Zentren staatlicher, ökonomischer und kultureller Macht haben Städte eine besondere Bedeutung bei der Herstellung und Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen (Belina 2006). In der Stadt gibt es Orte, die besonders mit Macht aufgeladen sind, zu denen gehören all jene, die die staatliche Macht repräsentieren: Regierungsgebäude, Polizeistationen, Militärkasernen, bestimmte öffentliche Plätze und Monumente (Lefebvre 1991, Jacobs 1996). Doch nicht nur die gebaute Umgebung, sondern auch Formen der Organisation sowie Kontrolle des Raums tragen zur Ausübung von Herrschaft bei. Benthams Panoptikum ist Foucaults bekanntestes und offensichtlichstes Beispiel dafür, wie Herrschaft über den Raum ausgeübt wird (Foucault 1994 [1977], 256-268). Doch auch alltäglichere Beispiele, wie die räumliche Anordnung eines Klassenzimmers beschreibt Foucault als Beispiele dafür, wie gesellschaftliche Ordnungen verräumlicht werden, um Herrschaftsverhältnisse herzustellen und zu reproduzieren (1994 [1977], 187-191). In ähnlicher Weise werden diese auch im städtischen Raum hergestellt, reproduziert oder verändert. In der modernen Stadtplanung wird davon ausgegangen, dass die räumliche Umgebung sozial strukturierend ist und dass die Planung des städtischen Raums, basierend auf einem wissenschaftlichen Verständnis und Erfassen von Bevölkerung, folglich ein wichtiger Bestandteil des Regierens ist (Rabinow 1989, 2004). Der städtische Raum ist ein auf der hegemonialen Logik1 basierender, geteilter Raum. Ein Mittel des Machtausübens im und durch den urbanen Raum ist die Konstruktion von Unterschieden. Die Mechanismen der Raumteilung und -kontrolle sind Werkzeuge hegemonialer Machtausübung über die bestimmte Individuen und Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt werden: »Hegemonic power, wielded by those in positions of authority, does not merely manipulate naively given differences between individuals and social groups, it ac1 Mit dem Konzept der Hegemonie beschreibt Antonio Gramsci, wie die Zirkulation von Macht zu ›Macht über‹ im Interesse der Herrschenden kanalisiert und nicht nur über Gewalt, sondern auch über soziale Institutionen ausgeübt wird »such as education and the media, by which the ruling class’s interest is presented as the common interest and thus comes to be taken for granted.« (Ashcroft et al. 2007 [2000], 107f.)

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tively produces and reproduces difference as a key strategy to create and maintain modes of social and spatial division that are advantageous to its continued empowerment and authority.« (Soja 1996, 87) Besonders deutlich wird die Bedeutung der Raumteilung für die hegemoniale Machtausübung in den kolonialen Städten (Jacobs 1996, 16). Die Besonderheit der europäischen kolonialen Expansion im Vergleich zu früheren Formen kolonialer Eroberungen liegt in seiner historischen Nähe zur Herausbildung des modernen Kapitalismus und des wirtschaftlichen Austausches, die koloniale und kapitalistische Raumproduktion sind daher miteinander verf lochten. Das Kolonialsystem errichtete ein hierarchisches System der Unterscheidung, basierend auf Rasse2, Kultur, Klasse, Alter und Geschlecht, das Ungleichheiten hervorbrachte und rechtfertigte, die bis in die Gesellschaften der Gegenwart reichen. Paul Rabinow (1989) beschreibt die Urbanisierungsprozesse im 19. Jahrhundert in Paris. Stadtplanung wird ein wichtiges Werkzeug zur Kontrolle der Gesellschaft in der französischen Moderne, sowohl in der Metropole als auch in den Kolonialstädten (Rabinow 1989, Demissie 2012, Çelik 1997). Die Kolonialstädte dienten als Experimentierfelder für die moderne Stadtplanung. Dass Stadtplanung als Instrument der Herrschaftsausübung eingesetzt wurde, zeigen etwa Haussmanns Modernisierungsprojekte für Paris, die von den militärischen, städtebaulichen Interventionen im Rahmen der französischen Eroberung Algiers direkt beeinf lusst gewesen sein sollen (Graham 2003, Göckede 2004, Kapitel 2). Während es in den Kolonialstädten darum ging, die einheimische Bevölkerung zu kontrollieren, ging es in den Metropolen vor allem darum, die unteren Klassen zu kontrollieren, um mögliche Aufstände zu verhindern und die nationale Einheit und den sozialen Frieden zu sichern. Auch in den Städten des 21. Jahrhunderts werden Praktiken des Teilens nach wie vor, z.B. im Namen der Sicherheitspolitik angewandt, wie Silverstein und Tetrault am Beispiel »postkolonialer urbaner Apartheid« in den französischen banlieus beschreiben: »In this sense, France’s neo-liberal approach to the social ›integration‹ of its impoverished urban periphery has been necessarily ambivalent. Nearly every Euro it has saved by ›tightening the belt‹ on the public sector has been redeployed into the forces of security. Every attempt at ›integrating‹ (or ›civilizing‹) underclass residents of the cités to national political, economic, and social norms is balanced by heavy-handed urbanization practices that continue to demarcate these populati-

2 Rasse wird als Produkt des Rassismus betrachtet und nicht umgekehrt (siehe www.ideaev.de/ recherchetools/glossar).

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ons as racially and spatially ›other‹, as structurally distant from the metropolis and its mechanics of class reproduction.« (Silverstein & Tetrault 2006, 14) Die sozioökonomischen und strukturellen Ursachen der ungleichen Entwicklung3 sind heute durch die Flüsse des vagabundierenden Kapitals in einem intensiveren Maße »phantasmagorisch« (Giddens 1995) als im 20. Jahrhundert. Doch trotz der Grenzüberschreitungen und »De-Kontextualisierungen« (Comoroff & Comoroff 2001) hat auch der Millennium-Kapitalismus seine spezifischen räumlichen Formen. Die Mechanismen ›kolonialer‹ Segregation, die zugleich Mechanismen ›moderner‹ Segregation waren, sind nicht verschwunden, sondern komplexer und subtiler geworden. Häufig äußern sie sich in kleinräumiger und sozialer Segregation, wenn sich z.B. Villen und Slums geografisch nah beieinander befinden, aber durch Sicherheitstechnologien (Mauern, Kameras, Security-Dienste) voneinander getrennt werden (Calderia 2000). Der öffentliche Raum der Städte wird zunehmend von der Militarisierung des Urbanen beherrscht (Graham 2003, 2013), um Kriminalität oder Terror zu bekämpfen, aber auch um politischen Aufruhr zu unterdrücken (Smith 2005, 442). Im Namen der Sicherheitspolitik werden bestimmte als gefährlich markierte oder unerwünschte Bevölkerungsgruppen kriminalisiert und ausgeschlossen (Davis 2006 [1990], Caldeira 2000): »More than maintaining a system of distinctions, narratives of crime create stereotypes and prejudices. They separate categories of people and reinforce inequalities.« (Caldeira & Holston 1999, 698) Zu den unerwünschten Bevölkerungsgruppen im städtischen Raum gehören häufig auch Jugendliche. Bevor die Stellung Jugendlicher im urbanen Machtgefüge genauer betrachtet wird, werden zunächst einige vorherrschende Konzeptualisierungen für ›widerständige Räume‹ vorgestellt.

Geografien des Widerstands Besonders in den postkolonialen Theorien, in der kritischen Stadtforschung und Geografie sowie in den Cultural Studies ging das Interesse weg von den dominanten hin zu den marginalen Räumen, die als potentielle Gegenräume konzeptualisiert werden. Die Beschäftigung mit Widerstand in der kritischen Stadtforschung geht mit der Absicht einher, Verräumlichungen ungleicher Machtverhältnisse im Raum aufzuzeigen, zu kritisieren und Möglichkeiten des Wandels im und durch den Raum zu analysieren: »Resistance seeks to occupy, deploy and create alter3 Die ›ungleiche Stadt-Entwicklung‹ bezeichnet die soziale und räumliche Polarisierung des städtischen Raums in der kapitalistischen Raumproduktion (Wissen & Naumann 2008, 88), die sich in der Polarisierung zwischen Staaten, Regionen und Orten äußert (Brenner & Theodore 2002, 8) und auch durch die Gegenüberstellung von Zentren und Peripherien beschrieben werden (Kipfer et al. 2008, 291).

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native spatialities from those defined through oppression and exploitation.« (Pile 1997, 3) In der Physik bezeichnet man eine hemmende Kraft als Widerstand, die in Reaktion auf eine andere Kraft entsteht. In diesem Sinne braucht Widerstand ein Gegenüber und kann auch als Gegenmacht bezeichnet werden. In modernistischen Definitionen bezeichnet Widerstand die Intentionalität eines widerständigen Subjekts, z.B. riskante Handlungen gegen bestimmte Herrschaftsverhältnisse, die als illegitim eingestuft werden. Diese auf Intentionalität ausgerichtete enge Definition von Widerstand schließt anderes, widerständiges Handeln, »abweichendes, oft alltägliches und banales Verhalten« (Hechler & Phillips 2008, 8) im Foucault’schen Machtverständnis aus. Der weitgefasste Widerstandsbegriff beinhaltet hingegen tendenziell: »Jede Form der Auf- oder Ablehnung innerhalb einer asymmetrischen Herrschaftsbeziehung, die als Begrenzung und Abwehr zunehmend ausgreifender Machtansprüche wirkt, gleichgültig aus welchen Einflüssen, Motiven oder Gründen sie sich speist.« (Hechler & Phillips 2008, 8) Zwischen dem engen und dem weiten Begriff des Widerstands gibt es zahlreiche Definitionen, die sich stärker an der einen oder anderen Definition orientieren (Hollander & Einwohner 2004). Die Arbeiten, die sich in der Humangeografie sowie in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung mit den »Geografien des Widerstands« (Keith & Pile 1997) oder »Verf lechtungen der Macht« (Sharp et al. 2000) im und durch den sozial produzierten Raum befassen, basieren auf einem poststrukturalistischen Verständnis von Macht und Widerstand, das von Foucaults Studien der Analytik moderner Macht beeinf lusst ist (Glasze & Mattissek 2009, Hechler & Phillips 2008): »Where there is power, there is resistance, and yet, or rather consequently, this resistance is never in a position of exteriority in relation to power.« (Foucault 1978 [1976], 95)

Margins, Gegenorte und andere Orte Mit dem Begriff der Marginalisierung wird in der Stadtforschung der Fokus auf Prozesse der Ausbeutung, Unterdrückung, Stigmatisierung und Ausgrenzung in der ungleichen Stadt(entwicklung) gerichtet (Perlman 2004). In jeder Stadt gibt es Räume, die dem Zentrum hierarchisch untergeordnet und somit an den ›Rändern‹ verortet werden. Gleichzeitig drückt die Position der Margins – als den Zentren gegenübergestellt und untergeordnet – auch die Möglichkeit der Opposition aus, die Möglichkeit, die eigene untergeordnete marginale Position als Position im Sinne einer Haltung zu begreifen, die sich der Ausgrenzung und Unterordnung widersetzt und somit zu einer Gegenposition oder Op-

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position zum Zentrum wird. Die marginalen Räume werden dann als Räume der Transgression und des Widerstands konzeptualisiert. Besonders deutlich wird dieser Gedanke bei bell hooks. Sie bezeichnet die Margins auch als Heimstätten des Widerstands: »the places of self-dignity and solidarity, in which, and from which resistance can be conceptualized and organised.« (bell hooks, zitiert in Sharp et al. 2000, 29) Die Margins werden als Räume verstanden, in denen marginalisierte Gruppen ihre Handlungsspielräume erweitern und somit ihre Machtpositionen stärken können (Soja 1996, Shields 1991, Hetherington 1997). In Badlands of Modernity kritisiert Hetherington (1997) die Gegenüberstellung von Zentren und Margins, Orten und Gegenorten (Germes & Glasze 2010), die den komplexen Machtverf lechtungen nicht gerecht werden, da sie beispielsweise übersehen, dass auch die Margins und anderen Orte eigene Ordnungsprozesse und eigene Machtbeziehungen ausbilden. Eine Möglichkeit, die politische Dimension des Raums zu erfassen, ohne dafür auf die Gegenüberstellung von Zentren und Margins zurückzugreifen und dennoch diejenigen Räume konzeptionell zu erfassen, in denen Veränderungen stattfinden und Neues entsteht, sieht Hetherington in den Heterotopien: »I am trying to find a middle way, seeing places of Otherness neither as panoptical spaces of total control nor as marginal spaces of total freedom. Modernity is defined by the spatial play between freedom and control, and this is found most clearly in spaces of alternate ordering, heterotopia.« (Hetherington 1997, 18) Der von Foucault in die soziale Theorie eingeführte Begriff hat seitdem viel Verwendung in der Beschäftigung mit ›anderen Räumen‹ gefunden (Dehaene & De Cauter 2008), aber auch viel Kritik erfahren (Harvey 2005, Saldanha 2008). Als ›spaces of alternate ordering‹ sind Heterotopien prozessual zu denken und damit nicht als kohärente, feste, andere Orte im Sinne von Gegenorten, sondern als sich dynamisch verändernde Orte: »There is no social order, only modes of ordering.« (Hetherington 1997, 28) Nach diesem Verständnis führen heterotope Räume zu Masseys’ Konzept des offenen Raums (Massey 2004). Massey kritisiert das Denken, das Raum im Gegensatz zur Zeit mit dem Festen, und daher auch mit dem Unveränderlichem gleichsetzt, während die Zeit die Offenheit der Zukunft impliziert. Wird auch der Raum als offen gedacht, wohnt auch ihm die Möglichkeit des Politischen inne: »Divesting ourselves of that inheritance, therefore, potentially releases ›the spatial‹ to be conceived as a realm of much more active engagement in the process of making history. Indeed, I think the point is in fact stronger than this: that thinking space as actively and continually practiced social relations precisely gives us one of the sources of ›the system’s‹ inability to close itself. The accidental and

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happenstance elements intrinsic to the continuous formation of the spatial (when imagined in this way) provide one aspect of that openness which leaves room for politics.« (Massey 2000, 282)

Subalterner Urbanismus In der Stadtforschung des 21. Jahrhunderts spielt die Theorieproduktion aus den Städten des so genannten globalen Südens eine bedeutende Rolle, so dass von einem Paradigmenwechsel die Rede ist (Roy 2007). Der öffentliche Raum in den Städten des Südens wird oft im Zusammenhang mit so genannten ›informellen‹ Praktiken und Räumen diskutiert, die aus Sicht der städtischen Autoritäten in der Stadtplanung stören (Bayat 2012 b, 2014, Kamete 2010, 56, Blomley 2008, 310). Diese f lüchtigen und informellen Räume, die aus der Perspektive des Zentrums in den Peripherien verortet werden, dienen jedoch gleichzeitig dazu, die Zentren zu definieren (Ha 2014). Die Konzeptionalisierung dieser Räume als ›informell‹ beruht auf der Vorstellung voneinander abgrenzbarer formeller und informeller Sektoren im städtischen Raum, über die bestimmte Räume wieder als ›Anders‹ konstruiert und basierend auf der Logik kolonialer moderner Stadtentwicklung hierarchisch untergeordnet werden als ›unterentwickelte‹ Räume. Ananya Roy schlägt vor, das Informelle nicht als Sektor, sondern als Modus der Urbanisierung der Metropolen im 21. Jahrhundert zu verstehen: »Against the standard dichotomy of two sectors, formal and informal, we suggest that informality is not a separate sector but rather a series of transactions that connect different economies and spaces to one another.« (Roy 2005, 148) Die Konzeptualisierung des Informellen als Modus der Urbanisierung ermöglicht es, feste Raumbilder aufzubrechen und die komplexen Beziehungen in der urbanen Raumproduktion zu erfassen: »Urban informality then is not restricted to the bounded space of the slum or the deproletarianized/entrepreneurial labor; instead, it is a mode of the production of space that connects the seemingly separated geographies of slum and suburb.« (Roy 2011, 233) Andere Autor*innen vermeiden den Begriff des Informellen. Sie sprechen z.B. von f lüchtigen Raumbesetzungen. Marté Peran benutzt den Begriff der Postit City, um den temporären Charakter des urbanen Raums im 21. Jahrhundert zu beschreiben (Peran 2008). Flüchtige Besetzungen versteht sie als politisches Statement gegen eine überorganisierte Gesellschaft. Durch die Produktion sol-

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cher mobiler und f lüchtiger Räume – Zelte, Baracken, die aufgebaut, abgerissen und anderswo wieder aufgebaut werden in einer »nomadischen Art, den Raum zu besetzen und zu bewohnen« (Pál Pelbart 2005, 43) – entweichen die Armen den Verdrängungsstrategien eines ausschließenden urbanen Regimes, um in den Zentren der Städte zu verbleiben. Um auf die kolonialen Verf lechtungen und komplexen Machtaushandlungen in der Raumproduktion zu verweisen, wird das Konzept des subalternen Urbanismus eingeführt. Der Begriff subaltern stammt aus der postkolonialen Theorie und bezeichnet einen space of dif ference (Spivak, 2005, 476), dessen Auslegung sich »from the subaltern marking the limits of archival recognition to the subaltern as an agent of change« (Roy 2011, 227) gewandelt hat. Unter dem Begriff des ›subalternen Urbanismus‹ fasst Ananya Roy verschiedene Ansätze zusammen, die sich mit der Handlungsfähigkeit subalterner Akteur*innen befassen. »Subaltern urbanism, with its emphasis on the subaltern as political agent, is a recuperation of modernity’s supplement, the colonized Other.« (Roy 2005, 230) Subalterne Praktiken brechen zwar staatliche Gesetze, werden aber durch die in den Verfassungen moderner Staaten verankerten Grundechte der Menschen auf ein Leben, das die Existenzsicherung einschließt, legitimiert: »claims to habitation and livelihood by ›groups of population whose very livelihood or habitation involve violation of the law.‹« (Chatterjee 2004, 40) Eigentumsrechte und damit verbundene Ausgrenzungsprozesse werden durch subalterne Praktiken infrage gestellt: »The developer’s right to exclude is countered by the claim that the poor have a right to not be excluded. The unitary claim of the developer is challenged by the argument that the poor also have a legitimate property interest in, and claim to, the site.« (Blomley 2008, 316) Ananya Roy weist darauf hin, dass nicht alle subalternen Alltagspraktiken, die den städtischen Raum in einer anderen Art und Weise als der von der Planung vorgesehenen oder ›legalen‹ Weise nutzen, mit widerständigen Absichten oder Forderungen nach Teilhabe einhergehen und somit nicht immer mit der Forderung nach dem ›Recht auf Stadt‹ in Verbindung gebracht werden können (Roy 2011, 8). Der Titel der von Asef Bayat herausgegebenen Studie über die politische Bedeutung des Alltags in den autoritären Herrschaftssystemen der MENA-Region – Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern – bringt auf den Punkt, was mit subalternem Urbanismus gemeint ist. Der subalterne Urbanismus ist als Paradigmenwechsel in der Stadtforschung zu verstehen, weg von den dystopischen Beschreibungen der ›Megastädte‹ hin zur Anerkennung der Handlungsfähigkeit gewöhnlicher Leute (Roy 2011, 227) zu denen in der Mena-Region eine große Anzahl junger Menschen gehört (Bayat 2012 a, Honwana 2012, Gertel 2014).

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1.2 Die Konstruktion der rebellischen Jugend und die Aneignung städtischer Räume Als Jugend werden die Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und der biologische Prozess der Reife bezeichnet. Der historische Kontext, soziale und kulturelle Variablen wie Klasse, Geschlecht, Religion oder Ethnizität, beeinf lussen die dynamische und kontextspezifische Konstruktion von Jugend, z.B. im Hinblick auf Abhängigkeit und Mündigkeit im Verhältnis zu den Erwachsenen. Das Konzept Jugend bleibt darum trotz aller Definitionsversuche ein ambivalentes Konstrukt im Grenzraum zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die Konzeptualisierung von Jugend als Phase der Entwicklung und Reife hat ihren Ursprung im Beginn der industriellen Revolution und im Gedankengut der Auf klärung: »Following the development of industrial capitalism the middle classes began to expand the length of their offspring’s schooling in order to provide them with a better education.« (Skelton & Valentine, 1998, 4) Die Einführung der Schulpf licht hat dazu beigetragen, die Definition von Jugend als spezifische Altersgruppe zu verbreiten. Durch ihren Status als ›in Entwicklung‹ wird Jugend als Potential der Nation – und der werdenden Nationen in den Kolonien – betrachtet (Comaroff & Comaroff 2005, 19f.). Viele Autor*innen betonen, dass Jugend eine Konstruktion der westlichen Moderne und vor allem über die Kolonialreiche nach Afrika, Asien und in die Amerikas gelangt sei (Comaroff & Comaroff 2005, Hansen 2007, Honwana 2012): »The notion of youth as a distinct stage between childhood and adulthood was not part of precolonial social organization in African societies but emerged in the wake of socioeconomic and political changes during the colonial period and independence through wage, labor, formal schooling, urbanization, and family change.« (Hansen 2007, 284) Die Jugend der Arbeiterklasse wurde im Zeitalter der Industrialisierung auch als Bedrohung der Ordnung und Disziplin wahrgenommen, eine Darstellung, die bis heute kontinuierlich wiederkehrend das Bild der »störenden Jugend« (Skelton & Valentine 1998, 4) und des »Problems der Jugend« (Cooper 2009) insbesondere in Krisen- oder Umbruchszeiten geprägt hat. Die Räume Jugendlicher aus niedrigen sozialen Schichten wurden in England z.B. als »interne Kolonien«, als »Jungle« oder als »Afrika« der industriellen Metropolen dargestellt und die Jugendlichen selbst als »Nomaden« bezeichnet (Comaroff & Comaroff 2005, 19), die zivile Unordnung (civil disorder) verkörpern,

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schreiben Comaroff und Comaroff (2005, 24). In den USA trug die Chicago School in der Stadtforschung der 1920er-Jahre dazu bei, Jugend mit Gewalt und Devianz in Verbindung zu bringen (Cooper 2009, 83, Lindner 2004, 194). Die Jugendlichen der Ghettos wurden mit »Insektenschwärmen« verglichen (Kitossa 2012, 130). In Frankreich ist das Bild der gefährlichen Jugend im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau in den Arbeitervorstädten zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiedergekehrt (Ossman & Terrio 2006, 8). In der Post 9/11-Ära werden weltweit »urbane Paniken« (Tsianos 2013) vor männlichen muslimischen Jugendliche geschürt (Nilan 2017). Die wiederkehrende Darstellung der marginalisierten Jugend als ›gefährlich‹ weist Parallelen zur Konstruktion der ›Anderen‹ in den Kolonien auf und zeigt die Kontinuität kolonialer Diskurse und Praktiken in der Raumproduktion, die sich bis in die postkoloniale Gegenwart fortschreiben (Silverstein & Tetrault 2006, Ha 2014). Dass Jugendliche im städtischen Raum als ›anders‹ konstruiert werden, hat mit ihrem hierarchisch untergeordneten Status gegenüber Erwachsenen zu tun. Das Verhältnis zwischen den Jungen und Alten einer Gesellschaft beruht auf der Anerkennung und Infragestellung von Autorität (Bourdieu 1984 b). Als soziale Kategorie ist Jugend ein Ordnungsprinzip. In allen modernen Institutionen wird Jugend durch eine Altersgruppe eingegrenzt und somit normiert: Jugendliche dürfen nicht mehr, oder noch nicht. Jugend wird vor allem durch Ausschluss definiert und juristisch sowie moralisch reguliert. Damit werden Jugendliche in einem liminalen Raum des Übergangs verortet (Honwana 2012, 12). Das bedeutet, dass Jugendliche weder als unschuldig – wie Kinder – noch als mündig – wie Erwachsene – behandelt werden. Auch die sozialen Räume einer Gesellschaft enthalten altersspezifische Ordnungsprozesse. Bestimmte Räume dürfen beispielsweise von Jugendlichen nicht mehr (z.B. Spielplätze) oder noch nicht (z.B. Bars, Nachtclubs etc.) betreten werden: »And indeed the very drawing of age lines and the definition of the spaces where particular age groups are allowed, is part of the process of defining an age group in the first place. The control of spatiality is part of the process of defining the social category of ›youth‹ itself.« (Massey 1998, 127) Die Jugend im öffentlichen städtischen Raum wird als ›Gefahr‹ oder als ›in Gefahr‹ und somit als schutzbedürftig konzeptualisiert: »There is a mounting danger, as privatization of public space increases, that young people will be excluded from places the ›public‹ now inhabits. The perception of youth as a potential threat places them in an ambiguous zone in relation to space.

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Many become undesirables and a source of anxiety; others are seen as needing protection.« (Malone 2002, 162) Der Versuch, Jugendliche im öffentlichen Stadtraum zu kontrollieren, zeigt sich an restriktiven Maßnahmen, wie der Videoüberwachung öffentlicher Räume, dem Erlassen von Ausgangssperren (Mathews et al. 1999, 1724) oder Zutrittsverboten für Jugendgruppen zu halböffentlichen Räumen wie Einkaufszentren, Diskotheken oder Schwimmbädern. In allen Städten der Welt sind die öffentlichen Straßen, Parkanlagen und Plätze Orte der Machtaushandlung zwischen städtischen Autoritäten und Jugendlichen (Wyn & White 2000, 179)

Aneignung öffentlicher Räume Städte »als Orte der Vielfalt, Kreativität und Anonymität bieten jungen Menschen die Chance, alternative Rollenmodelle auszuprobieren, mehr Wahlmöglichkeiten und Orte, an denen sie ihrer Individualität Ausdruck verleihen können« (Bayat 2012, 162f.). Städtische Räume befördern somit das Entstehen und die Praxis von Jugend(sub)kulturen4 und angesichts repressiver Stadtpolitiken auch die Verteidigung subkultureller Freiräume. Der Widerstand der Jugendlichen gegen Bevormundung, Kontrolle und Ausgrenzung beginnt z.B. am eigenen Körper: Kleidung, Style und Rituale, durch die der jugendliche Körper als anders und abweichend von den Normen inszeniert wird, sind Formen der Auf lehnung gegen Autoritäten und hegemoniale Ordnungen (Clarke et al. 1981[1979]). Die Straße wird in der Jugendforschung oft als Raum erwähnt, in dem sich Jugendliche den Autoritäten entziehen oder widersetzen: Die Zugehörigkeit zu einer Gang, Skateboarden, Graffiti und viele andere kulturelle Praktiken werden auf der Straße gelebt (Bundy 1987, Breitbart 1998, Malone 2002, Wyn & White 2000). Die Straße ist somit für viele Jugendliche ein wichtiger Erfahrungs- und Bildungsraum (Thiat & Cissocho 2011, 28). Die Jugendlichen eignen sich öffentliche Plätze, Jugendhäuser, Internetcafés oder Fußballstadien an, markieren ihre Räume durch Graffiti und Tags oder überwinden räumliche Kontrollen und Barrieren durch die unerlaubte Praxis von Bewegungskünsten wie Capoeira, Parkour oder Streetdance. Die Straße wird damit auch ein Raum zur Performanz von Jugendkulturen und subversiven Identitäten, über die die Jugendlichen »Raum gewinnen« (Malone 2002, 163). Lipsitz untersucht Jugendkulturen als Ausdruck einer Krise, von der Jugendliche in den 1990er Jahren in den USA im Zusammenspiel mit den Kategorien Rasse und Klasse besonders betroffen sind. Urbane Jugend(sub)kulturen sieht er als Wi4 Zum Verhältnis von Jugend- und Subkulturforschung siehe: Jacke 2007, Lindner 1982 [1979].

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derstand gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung Jugendlicher im städtischen Raum: »Answering the culture of surveillance with a counterculture of conspicuous display, they constitute their own bodies, ghetto walls and city streets as sites for performance and play. […] People resisting domination can only fight in the arenas open to them; they often find themselves forced to create images of themselves that interrupt, invert or at least answer the ways in which they are defined by those in power […] Graffiti writers make the monumental appear ephemeral by altering the visual landscape of the city with their tags and placas. Samplers reconfigure time by inserting music from the past into the present, and by rediscovering historical figures (like Malcolm X) and making them a part of contemporary culture.« (Lipsitz 1994, 20f.) Trica Rose sieht in der Hip-Hop-Bewegung die Antwort junger Leute auf die massive Verdrängung und Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung im New York der 1960er- und 1970er-Jahre und bezeichnet Hip-Hop als »schwarze Stadterneuerung« in der (Re-)Produktion des städtischen Raums (Rose 1995,85). Die Jugendlichen eignen sich den städtischen Raum nicht einfach nur an, die kulturelle Praxis des Hip-Hop und anderer Jugendkulturen tragen dazu bei, das Bild und die Bedeutung von Stadtvierteln und Städten zu verändern.

Halböffentliche Jugendräume Umso kontrollierter und unsicherer die öffentlichen Räume im Freien wahrgenommen werden, desto wichtiger werden für die Jugendlichen andere Begegnungsräume, z.B. Jugendhäuser, Jugendclubs, Jugendvereine, aber auch bestimmte Sport- und Kulturvereine. Solche halböffentlichen Gemeinschaftsräume spielen eine wichtige Rolle für die Ausübung kollektiver Aktivitäten. Obwohl diese Räume oftmals zu den Interventionsräumen staatlicher Stadtentwicklungs- und/oder Jugendpolitiken gehören, bieten sie den Jugendlichen auch Freiräume. Durch ihren Status als Vereine mit bestimmten Einlass- und Mitgliedsbestimmungen können solche Jugendräume auch als ›Klubräume‹ bezeichnet werden, die weder privat noch öffentlich sind: »These club-like spaces stand at the threshold of the binding/unbinding dialectics of inclusion/exclusion at work in the permanent (re)construction of the public sphere.« (De Cauter & Dehaene 2008, 99) In autoritären Gesellschaften wird auch Spaß als Bedrohung der Ordnung betrachtet (Bayat 2010, 156). In Leben als Politik gibt Asef Bayat (2012) einen Einblick in das Alltagsleben junger Menschen in der MENA-Region. Er zeigt, wie nicht nur

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das ökonomische Überleben, sondern auch das Ausleben von Jugendlichkeit zu einer Bedrohung autoritärer Institutionen wird. Als Treffpunkte bieten die Jugendeinrichtungen Raum für neue Begegnungen, Unterhaltung und Grenzüberschreitungen, die im öffentlichen Raum nicht nur wegen staatlicher, sondern manchmal auch wegen sozialer Kontrolle in der Nachbarschaft nicht möglich sind (Baamara 2013). Auf diese Weise bieten sie Raum zur Ausbildung kollektiver Identitäten abseits gesellschaftlicher Normen oder einfach als Jugendliche, über die sie sich von den Autoritäten – dem Staat, den Religiösen, den Erwachsenen – abgrenzen. Die Jugendlichen ›erkennen sich gegenseitig‹ als Jugendliche – mit ähnlichen Problemen und einem gemeinsamen Habitus (Bayat 2010, 22). Begegnungsräume sind für die Jugendlichen aber auch eine Voraussetzung, um Solidarität und ein kritisches Generationsbewusstsein zu entfalten (Honwana 2012, 111) und neue unkonventionelle Formen der politischen Partizipation und des Widerstands zu erproben. Jugend(sub)kulturen werden zwar häufig im öffentlichen Raum zu Schau gestellt, jedoch spielen auch die halböffentlichen Jugendeinrichtungen oftmals eine Rolle für die Praxis von Jugend(sub)kulturen.

Jugend-Sub-Kulturen und Widerstand Einer der frühen Versuche, Widerstand als Analysekategorie in die Jugendforschung einzuführen, wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham unternommen. Der von Stuart Hall und Tony Jefferson herausgegebene Band Rituals of Resistance (2005[1975]) ist bis heute eine wichtige Referenz sowohl in der Jugend- als auch in der Widerstandsliteratur, die sich mit jugendspezifischen Protesten und dem Potential der Jugend als politischer Kraft befasst. Er bildete den theoretischen Analyserahmen zur Erforschung von Jugendmarginalität und der politischen Rolle von Jugendkulturen. Der Widerstandsbegriff in den Cultural Studies wird durch Gramscis Hegemonieanalysen und Foucaults Analytik der modernen Macht bestimmt (Winter 2007, 22). Mit Bezug auf Gramscis Hegemoniekonzept stieg das Interesse in der Jugend- und Widerstandsforschung an nichtorganisierten, alltäglichen und anderen unkonventionellen Formen des Widerstands – in Form von Ritualen und Style. Konsum- und kulturelle Praktiken rückten ins Interesse der Jugendforschung. In der Subkulturforschung wird der Körper als »Schnittstelle zwischen (re)kreativer Selbst(er)findung bzw. -gestaltung und Gemeinschaftsbildung« betrachtet (Kimminich et al. 2007, 12). Für die Thematik der Arbeit soll die Bedeutung ›widerspenstiger Kulturen‹ (Hörning & Winter 1999) in der globalisierten Stadt genauer betrachtet werden. Durch das Entstehen elektronisch mediatisierter globaler Jugendkulturen (Comaroff & Comaroff 2005, 25) verändern sich lokale Landschaften an allen Or-

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ten der Welt. Jugendkulturen sind immer hybride Produkte; »all of them involve active importation, adoption and adaptation« (Massey 1998, 123). Die Hip-Hop-Kultur ist in den Kulturwissenschaften und in der Kulturkritik ein viel diskutiertes Beispiel sowohl bezüglich der lokalen Aneignung (Androutsopoulos 2003) als auch bezüglich ihrer Bedeutung als Protestkultur marginalisierter Jugendlicher im öffentlichen Raum (Rose 1994, 2008, siehe Abschnitt Aneignung öf fentlicher Räume weiter oben). Die Inkorporierung der Hip-Hop-Kultur in den Markt wird dabei oftmals als Ende ihrer subkulturellen widerständigen Eigenschaft gedeutet (Hall & Jefferson 2006 [1975], xxiv). Rose (2008) erinnert jedoch daran, dass die Anfänge der HipHop-Kultur in der South Bronx nicht außerhalb des Marktes stattfanden: Style spielte eine wichtige Rolle für die Entstehung der Kultur und die Aussichten, mit den Freizeitbeschäftigungen Geld zu verdienen, widersprachen nicht den Ambitionen der Jugendlichen, über die Hip-Hop-Kultur ihren Stimmen Gehör zu verschaffen und soziale Kritik zu äußern. Subversion und Kommerz seien im HipHop von Anfang an miteinander verf lochten gewesen. Eine ähnliche Tendenz stellen Comaroff und Comaroff (2005) für die Straßenökonomien Jugendlicher in den von Krisen und neoliberalen Transformationen gekennzeichneten Städten des Südens fest: »These fluid economies are usually not altogether free of gerontocratic control, of course. Nor do they supplant all formal political and economic arrangements, with which they have complex and multiple interconnections. But they do circumscribe and relativize them in significant ways, thereby challenging their exclusive souvereignity.« (Comaroff & Comaroff 2005, 27) Die Suche nach Widerstand in (sub)kulturellen Praktiken der Jugendlichen kann folglich nicht an der Frage der Repräsentation vorbeigehen: »Can the Subculture Speak?« – fragt Skott-Myhre (2008, 27) in Anlehnung an Gayatri Spivaks Frage (1988) nach den Möglichkeiten der Repräsentation subalterner Gruppen. Ob die im lokalen Kontext der britischen Arbeiterjugend entwickelten Konzepte ›widerspenstiger‹ Kulturen auch für die Alltagsrealitäten Jugendlicher im 21. Jahrhundert und in anderen Regionen Gültigkeit hätten, wurde seitdem viel diskutiert. Das aus den Politikwissenschaften entlehnte Konzept Widerstand sei in der Jugendforschung mit ungenügenden empirischen Bezügen übernommen worden (Blackman 1998, 211). Diese Kritik wurde vor allem auch vonseiten ethnografisch ausgerichteter Jugendstudien aus den Area Studies geäußert, die sich mit den Alltagsrealitäten Jugendlicher in den postkolonialen Städten des Globalen Südens befassen. Praktiken, die als Rituale des Widerstands beschrieben werden, können auch kompensatorische Wirkung haben und dazu beitragen, Spannungen abzubauen und un-

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gleiche Strukturen zu stärken anstatt diese zu schwächen (Honwana & De Boeck 2005, 6, ausführlicher Kapitel 1.5): »Thus, what is perceived to be resistance in one context may at the same time be oppression in another as people, despite their resistant intent, may not be able to recognize their complicity in the reproduction of oppression.« (Raby 2005, 161) Besonders problematisch ist die Repräsentation von Jugend und Widerstand im Zusammenhang mit Gewalt. Als ›noch nicht Erwachsene‹ werden Jugendliche wie Kinder als schutzbedürftig und unschuldig definiert. Als ›nicht mehr Kinder‹ können sie jedoch von den Privilegien der Kinder ausgegrenzt und für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (Honwana 2005, 34). Honwana beschreibt die Situation von Kinder-Soldaten als ambigue Assoziation von Schuld und Unschuld. Mit Bezug auf de Certeau (1988[1980]) beschreibt sie die Handlungsfähigkeit von Jugendlichen als taktisch. Diese basiere auf der Logik des Dazwischen-Seins: »By virtue of this borderland condition, they are able to be mobile and grab opportunities the moment they arise. Despite being deprived of a locus of power, they are able to navigate within a multiplicity of spaces and states of being: being simultaneously children and adults, victims and perpetrators, civilians and soldiers, and so forth.« (Honwana 2005, 50f.) Besonders häufig tauchen die Dazwischen-Darstellungen in der Literatur über muslimische Jugendliche (Herrera & Bayat 2010, Hegasy & Kaschl 2002, Nilan 2017) auf, in der die Jugendlichen in ›Dritten Räumen‹ (Kaya 2007 a) oder hybriden Räumen (Gross et al. 1997) verortet werden. Viele Autor*innen kritisieren, dass das Konzept des Widerstands so viele unterschiedliche Verwendungen gefunden hat, dass es bedeutungslos geworden ist (Sharp et al.2000, Raby 2005). Wird Widerstand jedoch auf seine enge Bedeutung als organisierte, kollektive und zielgerichtete Aktion einer untergeordneten Gruppe gegen eine dominante Gruppe verwendet, werden andere potentielle subversive Handlungen außer Acht gelassen. Darum sollte das Konzept des Widerstands auch wegen seiner Ambiguität in der Jugendforschung nicht vernachlässigt werden. Mit dem Konzept des Widerstands wird oppositionelles Verhalten als politisch und informiert anerkannt und Wert geschätzt: »Trotz massiver Kritik nimmt er [der Widerstandsbegriff] bis heute eine sehr wichtige Rolle in der Analyse gelebter Erfahrungen und Praktiken ein, um Ungleichheiten und Leiden, aber auch utopische und transformative Möglichkeiten aufzuzeigen.« (Winter 2007, 23)

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1.3 Alltag und Widerstand Der Begriff des Alltags steht metaphorisch für das gewöhnliche Leben gewöhnlicher Leute: Routine, vielleicht auch Langeweile, Wiederholung, nichts Außergewöhnliches oder auch der tagtägliche Alltagsstress. Über die routinierte Alltagspraxis entstehen Strukturen und Ordnungen in den sozialen Räumen einer Gesellschaft. Das Alltagsleben bietet jedoch auch Frei- und Rückzugsräume. Es ist das Feld, in dem nach Regeln gespielt wird, Regeln gebrochen werden und freies Spiel stattfindet. Um Möglichkeiten des Wandels auf der Ebene des Alltagslebens aufzuspüren, werden die abweichenden, unterwandernden oder oppositionellen Praktiken in den Blick genommen. Foucault bezeichnet solche Praktiken als points of resistance (1978 [1976]) und Deleuze & Guattari 2005 [1980] sprechen von der Mikropolitik. Die bloße Identifikation von ›widerständigen‹ Praktiken sagt jedoch noch wenig über ihr transformatives Potential im sozialen Raum aus. Um das transformative Potential von Alltagspraktiken zu verstehen, muss die Beziehung zwischen Alltagspraxis und sozialem Raum genauer betrachtet werden. Räume strukturieren und ordnen das Alltagsleben. Als sozial konstruierte Räume sind sie jedoch auch veränderbar. Doch Wandel findet nicht nur in revolutionären Momenten, den ›sichtbaren‹ Umbrüchen, sondern auch im Alltag statt. Räumliche Strukturen und daraus resultierende Ordnungen werden durch die Zuschreibungen und Einnahme von Positionen im sozialen Raum hergestellt: »Die Position, die jemand im sozialen Raum einnimmt, das heißt in der Distributionsstruktur der verschiedenen Kapitalsorten, die auch Waffen sind, bestimmt auch seine Vorstellungen von diesem Raum und die Positionen, die er in den Kämpfen um dessen Erhalt oder Veränderung bezieht.« (Bourdieu 2006 [1998], 365) Aus den Differenzen zwischen den Kapitalvolumen der einzelnen Akteur*innen entstehen relationale gesellschaftliche Ungleichheiten und ungleiche Machtbeziehungen. Durch die Einnahme und Festschreibung von Positionen bekommt der soziale Raum eine Struktur. Die über Praktiken ausgetragene Verinnerlichung und Verkörperung von Strukturen äußert sich in dem Habitus – der einem bestimmten Ort, dem ›Erbe‹ einer Gruppe, inhärenten Logik und Funktionalität von Praktiken (Bourdieu 1977, 82). Der Habitus hat eine stabilisierende Wirkung und das Individuum daher wenige Möglichkeiten, seine Position im sozialen Raum zu verändern (Bourdieu 2006 [1994]). Auch Giddens geht davon aus, dass sich Struktur und Handlung gegenseitig konstituieren (Giddens 1990 [1984]). Die Reproduktion von Machtbeziehungen im sozialen Raum durch Normen und Ordnungen erfolgt bei Giddens über Routinen. Als Routinen werden in der Allgemeinsprache all jene Praktiken

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bezeichnet, die täglich oder zumindest wiederkehrend im Einklang mit dem einer Gesellschaft strukturierenden Regelsystem verrichtet werden, so dass sie im Alltag eingerichtet und angenehm vertraut sind. Giddens spricht in diesem Zusammenhang von der ontologischen Sicherheit. In der Theorie der Strukturierung (Giddens 1990 [1984]) werden mit Routinen all jene unserer Alltagspraktiken bezeichnet, die reproduktiv sind, also gesellschaftliche Strukturen reproduzieren, Gesetze, Normen und Werte legitimieren und somit unser tägliches Leben strukturieren und ordnen. »Routinisierte Praktiken sind der wichtigste Ausdruck der Dualität der Struktur in Bezug auf die Kontinuität sozialen Lebens.« (Giddens 1990 [1984], 336) Doch wenn Strukturen das Ergebnis repetitiver und somit institutionalisierter Alltagspraxis sind, die in der sozialen Praxis reproduziert werden, können sie auch durch Praktiken im Alltag verändert werden (Leitner et al., 2008, 163f.). In The time and space of everyday life analysiert Ian Burkitt (2004) die Beziehungen zwischen Kontinuität und Wandel, indem er die formellen (normalisierten, kodifizierten) den informellen (marginalen, minoritären) Praktiken nicht gegenüberstellt, sondern ihre gegenseitige Konstitution betont. Auch wenn die Taktiken oder informellen Praktiken Räume nicht »kolonisieren«, schreibt Burkitt in Anlehnung an de Certeau, haben sie ihren »Raum«, der f lüchtig und temporär ist. Dieser Raum ist der Raum des freien Spiels (play) im Gegensatz zum Raum des geregelten Spiels (game), der Sprechakt im Gegensatz zur kodifizierten Sprache. Die formellen und informellen Praktiken schließen sich nicht aus, sondern stehen in wechselwirkender Beziehung zueinander: Spielregeln können »spielerisch« von den Spieler*innen gebrochen und verändert werden, so wie Ausdrücke aus Dialekten oder Soziolekten die Regeln der offiziellen Sprache langfristig verändern können (Burkitt 2004, 224) bzw. ein Dialekt auch als Sprache anerkannt werden kann. »Just as there are social fields in which practices and relationships are made more open to government and official codification, so too are there social fields that are constituted as spaces of hope and resistance.« (Burkitt 2004, 216) Wenn, wie auch Nigel Thrift betont, jedes noch so mächtige System letztendlich aus Alltagspraktiken besteht und aufrechterhalten wird, dann kann es auch durch Alltagspraktiken unterwandert und verändert werden. »I would argue that all powerful systems are constantly being undermined by the undertow of everyday practice, not least because they themselves consist of everyday practices.« (Thrift 2000, 270) Das Alltagsleben ist also zugleich das Feld sozialer Reproduktion und des Wandels:

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»The possibilities for ruptures are everywhere in the routine. If in the efflorescence of cultural forms and practices that make up social reproduction hegemony is secured, so, too, might it stumble.« (Katz 2004, xi) Die Verwendung des weitgefassten Widerstandbegriffs in poststrukturalistischen Ansätzen tendiert jedoch zur Überbewertung und Romantisierung von widerständigen Alltagspraktiken (Abu Lughod 1990) und »unterschätzt die Macht des Staates, vor allem seine Klassendimension« (Bayat 2012 b, 65). Die Bewertung informeller Praktiken und ihre Bezeichnung als Widerstand muss darum kritisch betrachtet werden (Hechler & Philipps 2008, 9), da diese den Status Quo sowohl herausfordern als auch stabilisieren können (Kastner 2008, 49f.) und Macht eben auch zutiefst ungleich zirkuliert (Bayat 2012 b, 65, Katz 2004, 242). Gleichzeitig werden in der Widerstandsforschung meist nur die offensichtlich oppositionellen oder die hegemoniale Macht konterkarierenden Praktiken in den Blick genommen, um Möglichkeiten des Wandels zu erschließen. Dabei können auch andere gewöhnliche und auf den ersten Blick konforme Praktiken dazu beitragen, Machtverhältnisse zu verändern.

1.4 Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand: Navigieren als Analysekategorie Cindy Katz analysiert in Growing Up Global. Economic Restructuring and Childrens’s Everyday Lives die alltäglichen Antworten von Kindern und Jugendlichen auf Prozesse ungleicher Entwicklung im Kontext revanchistischer Politik 5 in einem Dorf im Sudan und in einer Nachbarschaft in New York. Das Auf brechen von Widerstand in resilience, reworking und resistance, das Cindy Katz anhand der Analysen ihrer langjährigen Alltagsstudie von Kindern im Sudan und in New York in vergleichender Perspektive entwickelt hat, ist vielversprechend, um die Politik des Alltags und die Möglichkeit des Wandels anzuerkennen, ohne das Vorhandensein von strukturellen Zwängen zu unterschätzen. Denn die Deutung unabhängiger Praktiken als oppositionelle Praktiken sagt noch wenig über ihre transformative Wirkung aus. Es scheint daher sinnvoll, nicht nur Widerstand im Sinne von ›Gegenverhalten‹ als transformative Kraft zu betrachten, sondern all jene Praktiken, die dazu beitragen, ungleiche Machtverhältnisse zu verschieben.

5 Der von Smith (2005 [1996]) geprägte Begriff Revanchism bezeichnet die Politik der westlichen Länder zur Reproduktion ihrer globalen Vormachtstellung im Zuge der Dekolonisierung und des Aufbegehrens unterdrückter Gruppen durch Restrukturierungsprogramme und Kürzungen im sozialen Bereich.

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Dazu bricht Katz das Konzept des Widerstands in resilience (Resilienz), reworking (Umgestalten) und resistance (Widerstand) auf: mit Resilienz bezeichnet sie autonome Initiativen, die ein tägliches über die Runden kommen ermöglichen (ebd., 244) sowohl in materieller als auch in spiritueller Hinsicht und die die Stärkung der Würde ermöglichen. Diese müssen nicht widerständig oder oppositionell sein, sie können in legalen, formellen, informellen oder illegalen Räumen stattfinden. Sie sind eine Voraussetzung für Ermächtigung und Widerstand: »[e]nable people to get by, to enter reciprocal relations, and to shore up their resources, all of which are crucial underpinnings of projects to rework or resist the oppressive circumstances that call them forth.« (Ebd., 246) Die von Katz als Resilienz bezeichneten Praktiken des Sich-Durschlagens stehen bei ihr jedoch in einer sehr engen Beziehung zu den Praktiken des Umgestaltens (reworking), mit denen die Jugendlichen nicht nur überleben, sondern ihre Position im sozialen Raum verbessern. Mit den Praktiken des Umgestaltens (reworking) bezeichnet sie all diese Praktiken, die ermächtigende Wirkung durch die Anhäufung und die Umverteilung von Ressourcen haben. Die Praktiken des Umgestaltens sind bei Katz durch eine explizite Wahrnehmung problematischer Bedingungen und problembezogene pragmatische Antworten auf diese Probleme gekennzeichnet. Sie finden auf genau der Ebene statt, auf der das Problem erfahren wird, führen aber zu weitreichenden Effekten sowohl im Hinblick auf die Ausbildung von Bewusstsein als auch in praktischer Hinsicht. Praktiken des Umgestaltens sind in hegemoniale Machtbeziehungen eingebettet. Es geht ihnen jedoch weniger darum, Hegemonien in Frage zu stellen, als darum die Machtverhältnisse zu verschieben oder Ressourcen umzuverteilen. »This is not to say that those engaged in the politics of reworking accept or support the hegemony of the ruling classes and dominant social groups, but that in undertaking such politics, their interests are not so much in challenging hegemonic power as in attempting to undermine its inequities on the very grounds on which they are cast.« (Ebd., 247) Praktiken des Umgestaltens (reworking) verknüpfen materielle und soziale Aspekte: Das Umleiten und Umverteilen von vorhandenen Ressourcen auf der einen Seite und auf der anderen Seite befördern sie das politische Subjekt- und soziale Akteur*in-Werden (ebd., 247). Die Beziehung zwischen materiellen und sozialen Aspekten des Umgestaltens (reworking) rücken die Praktiken des Umgestaltens in die Nähe des Widerstands wie Katz mit Bezug auf die Arbeiten von Paulo Freire am Beispiel der politischen Bedeutung von Bildung deutlich macht:

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»acquiring the skills of literacy can be a form of consciousness raising that enables oppressed and exploited populations to harness their insights into the causes of their oppression and build a critical collective response.« (Ebd., 251) Als Widerstand (resistance) bezeichnet Katz die Praktiken, die sich den Bedingungen der Ausbeutung und Unterdrückung offensichtlich widersetzen, sie untergraben (subvert) oder stören. Widerstand beinhaltet bei Katz Intentionalität und explizit oppositionellen Charakter und eine Vision (ebd., 253). Die Perspektive auf die Dynamiken zwischen diesen Praktiken ermöglicht es, die dichotome Gegenüberstellung von Überlebenspraktiken versus intentionierten Widerstand aufzubrechen. »The way I have laid out these overlapping responses is obviously toward stronger forms of oppositional practice, but they are interwoven and mutually sustaining. Acts of resilience and instances of reworking often provide the groundwork for stronger responses, but so, too, can an organized political movement, for instance, create the political space or opportunity for various autonomous initiatives – the restorative and strengthening acts of what I am calling resilience.« (Ebd., 242) Die Aufteilung in resilience, reworking und resistance ermöglicht es, die dynamischen Beziehungen zwischen Alltagsbewältigung und Widerstand und ihre wechselseitigen Beziehungen anzuerkennen: »With this awareness can come a realization of the need for resistance, for undoing these uneven power relations and undermining the means through which they are set in motion and enforced. Coming to this sort of consciousness calls for something more than sabotage or even subversion and may provoke or release a vision of change, of utterly different social relations.« (Ebd., 256f.)

Stilles Vordringen und Straßenpolitik Den Fokus auf die dynamischen Beziehungen zwischen Marginalisierung und Widerstand setzt auch Asef Bayat mit seinem Konzept des stillen Vordringens, mit dem er Praktiken bezeichnet, die in etwa den Praktiken der Resilienz und des Umgestaltens bei Katz entsprechen. Für die Thematik der vorliegenden Arbeit ist Bayats Fokus auf die Bedeutung der städtischen Räume im Freien für das stille Vordringen normaler Leute von Bedeutung: »Hier dienen Räume im Freien (kleine Gassen, öffentliche Parks, Plätze, Hauptstraßen) weiten Teilen der städtischen Bevölkerung als unentbehrliches Kapital, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und sich sozial und kulturell repro-

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duzieren können. Diese Räume bilden daher den fruchtbaren Boden für die Praxis der Straßenpolitk.« (Bayat 2012 a, 12) Mit der ›Straßenpolitik‹ bezeichnet Bayat alle Formen der ›Besetzungen‹ der Straße, die sich den staatlichen Autoritäten widersetzen und die autonome Handlungsfähigkeit der Armen in den Städten fördern: Praktiken der Alltagsbewältigung, z.B. Aktivitäten in der informellen Straßenwirtschaft, das Bauen oder Besetzen von Häusern ohne Eigentumsrechte, das Anzapfen von Stromleitungen ohne dafür zu bezahlen, nennt er als Beispiele für das ›stille Vordringen‹ all jener, die nicht nur überleben, sondern ihre Position im sozialen Raum verbessern wollen, jedoch nicht vordergründig aus ideologischen Motiven handeln oder von oppositionellen Intentionen angetrieben werden. Auf der Straße oder allgemein in den städtischen Begegnungsräumen kann aus dem stillen Vordringen einzelner Akteur*innen eine kollektive nicht organisierte Mobilisierung entstehen (Bayat 2012 a, 43f.). In der »nach außen gestülpten Stadt« bekommen die Straße oder allgemeiner die Räume im Freien multiple Bedeutungen für die städtischen Armen. Sie werden somit auch zur Bühne sozialer und politischer Forderungen, besonders für all diejenigen, die über keine institutionelle Vertretung verfügen (Bayat 2012 a). Die Bedeutung des Politischen und folglich dessen, was als politische Partizipation betrachtet wird, wird erweitert. Besonders im Kontext autoritärer Herrschaft sind verstecktere und subtilere Formen politischer Forderungen und des Protests von Bedeutung (Scott 1990, Singerman 1995, Bayat 2012 a). Die kollektiven Praktiken Jugendlicher, die zu gesellschaftlichen Veränderungen z.B. durch Normverschiebungen führen, folgen der Logik einer Nicht-Bewegung: »Praktiken, die von einer größeren Zahl ganz normaler Menschen ausgeübt werden. Sie sind zwar nicht miteinander verbunden, ähneln sich aber und tragen in erheblichem Maße zu einem gesellschaftlichen Wandel bei.« (Bayat 2012 b, 31) Bayat zeigt die Verbindung zwischen diesen Praktiken der Alltagsbewältigung und möglichen urbanen Protesten auf. Wenn die Individuen oder Gruppen in ihren alltäglichen Freiräumen eingeschränkt werden, kann sich das stille Vordringen in lauten Protest verwandeln. Ein häufiges Phänomen ist das Ausbrechen von Straßenunruhen in direkter Konfrontation mit den städtischen Ordnungskräften, wenn diese z.B. Razzien gegen die Straßenverkäufer*innen durchführen. Zum Teil schließen sich die Akteur*innen aber auch zu organisierten Bewegungen zusammen, um ihren Anliegen und Forderungen Gehör zu verschaffen. In dem Moment der Mobilisierung spielt die Straße bzw. der öffentliche Stadtraum (Plätze, Parkanlagen, Straßen usw.) eine wichtige Rolle als Begegnungs- und Kommunikationsraum (Droz-Vincent 2013), aber auch die geschützten öffent-

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lichen Räume können bedeutsam für Solidarisierung und Mobilisierung sein (Bamaara 2013). In der Formierung solcher kollektiver Nicht-Bewegungen kann auch die nachbarschaftliche Solidarität der Bewohner*innen der städtischen Armutsgebiete eine Rolle spielen (Bayat 2010, 59). Auch andere Autor*innen betonen die Bedeutung informeller Netzwerke, die auf der Ebene der Nachbarschaft ausgebildet werden (Singerman 2009, Droz-Vincent 2013, Gertel 2014). Die spatial solidarity (Bayat 2010, 59) ist für die Bewohner*innen städtischer Armutsquartiere eine Ressource, die diese zur Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit und zur Schaffung von Sicherheiten nutzen. Doch ähnlich wie am Beispiel widerständiger Räume bereits gezeigt wurde, sind auch Nachbarschaften keine in sich geschlossenen Räume, sondern offene Orte in den Alltagsräumen ihrer Bewohner*innen. Zur Beschreibung Jugendlicher Alltagsräume kann Masseys Konzept der Aktivitätsräume herangezogen werden: »[T]he spatial network of links and activities, of spatial connections and of locations, within which a particular agent operates.« (Massey 1995, 54) In der Schnittstelle der Jugend- und Stadtforschung scheint die Beschäftigung mit den Alltagsräumen Jugendlicher vielversprechend, um die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand zu verstehen: »While they might appear to be just temporary livelihood driven associations, in some cases they may become important sites for development of solidarity and of a collective counter-hegemonic consciousness that may lead to contestation of power.« (Honwana 2012, 87f.)

Navigieren Die time-space distanciation (Giddens) und die time-space compression (Harvey) prägen zunehmend die Alltagserfahrung (Gertel/Breuer 2012, 15) und somit auch die Alltagsräume Jugendlicher in der globalen Moderne:6 »Zudem kommt es durch Globalisierungsvorgänge zu Heraushebung und Entankerung (disembedding) von sozialen Beziehungen aus lokalen Kontexten, was impliziert, dass der Moment der Kopräsenz, die Anwesenheit aller Akteure, bei der Konstruktion von Erfahrung und der Gestaltung des Alltags zunehmend an Bedeutung verliert. Entankerungsprozesse bringen weitere gesellschaftliche Transformationen hervor; sie verlaufen allerdings nicht nur in eine Richtung, sondern es kommt in ihrem Nachgang auch zu neuen ›Verankerungen‹, was wiederum auf die Gestaltung des Alltags einwirkt.« (Gertel & Breuer 2012, 15f.) 6 Zur Debatte über die Globale Moderne siehe: Comaroff & Comaroff 2012, Chakrabarty 2011.

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Der Alltag von Jugendlichen an einem bestimmten lokalen Ort wird also nicht einfach durch passiv erfahrene Globalisierungsprozesse verändert. Werlen schlägt vor, Globalisierung als neuen modus operandi des alltäglichen Geografie-Machens zu verstehen und nicht als Ursache sozialer Änderungen (Werlen 2005, 59). In ähnlicher Weise müsse die Perspektive auf den Raum verändert werden, der ein »Element des Handelns« und nicht »etwas, das jedem Handeln vorausgeht« sei (ebd., 59). Dies soll am Begriff des Navigierens verdeutlicht werden, der eine räumliche Dimension des Handelns impliziert. Navigieren (lat. navigare) bedeutet das Schiff ›führen‹, ›lenken‹. Die Kunst, ein Schiff zu lenken und zum Ziel zu steuern wird in der Schifffahrt als Navigation bezeichnet. Die Kunst des Navigierens setzt Kenntnisse des Raums voraus: Das Reagieren auf sich verändernde Räume und das Einplanen von Umwegen. Um das Ziel zu erreichen, wird ein Parcours berechnet, der aber immer wieder f lexibel angepasst werden muss. In dieser Bedeutung ähnelt das Navigieren anderen Konzepten des Sich-Durchschlagens und Vordringens, z.B. den Praktiken, die Honwana (2012) mit dem Begriff getting by zusammenfasst, der von südafrikanischen Jugendlichen verwendet wird, tunesische und senegalesische Jugendliche sprechen von débrouillage (Honwana 2012, 62): »Rather than succumbing to passivity, they are constantly on the alert for opportunities, consciously plan possible scenarios, and resourcefully take action in pursuit of a livelihood.« (Honwana 2012, 61) Die Jugendlichen in Bissau sprechen von dubriagem: »[A] dynamic quality of attentiveness and ability to act in relation to the movement of the social terrain one’s life is set in.« (Vigh 2006, 52) Das Handeln auf diesem unsicheren Terrain ist für die Jugendlichen alltägliche Routine: »When navigating we imagine and actualise a path through unstable social terrains, simultaneously moving across the next obstacle or wave and negotiating the many more to come on one’s way along an envisioned course.« (Vigh 2006, 54) Henrik Vigh schlägt das Konzept des sozialen Navigierens vor, um Alltagspraxis in sich verändernden sozialen, kulturellen oder politischen Räumen analytisch fassbar zu machen: »It is not yet another metaphor for agency but a theoretical lens that enables us to focus on the intersection between agency and structure, while acknowledging that our lives are set in changing social environments rather than stable social surfaces. Social navigation thus makes it possible to see how praxis is constantly

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shaped in relation to changes in the conditions surrounding our acts and emplotment. It distances us from the faulty image of plot and action as being different sequences along a line of movement, making it impossible to maintain the picture of agents plotting and actualising their movement on stable ground, and substituting it with a focus that emphasises a more cybernetic and processual aspects of praxis.« (Vigh 2010, 11) Die Fähigkeit zu navigieren, bedeutet in der Alltagssprache Jugendlicher in Algier jedoch nicht nur in sich verändernden Stadträumen zurechtzukommen, sondern auch die Fähigkeit, diese Räume als Ressource zu nutzen. In diesem Sinne erinnert die Bedeutung des Navigierens an den von Simone benutzten Begriff piracy zur Beschreibung der f lexiblen und von Improvisation gekennzeichneten Alltagsbewältigung, »attempting to operate more resourcefully in underresourced cities« (Simone 2006, 357): »This is done recognising that ›piracy‹ is a loaded term, resuscitated in recent years to describe new possibilities of unregulated use generated by information technologies, as well as the ›return‹ of real live pirates on the high seas most famously known for their theft of oil tankers. But the use of such strong language here is itself a tactic to draw attention to both ongoing and emerging dilemmas faced by African urban residents trying to make do – making do in cities where the chronic sense of crisis necessitates more extraordinary actions in order for households and individuals to stay afloat.« (Ebd., 361) Der Begriff der Piraterie impliziert, wie der Begriff des Navigierens, das Meer, als Sinnbild für einen sich ständig verändernden Raum. Der urbane Raum ist für die Jugendlichen ein solcher sich ständig verändernder Raum: Nicht ausschließlich Raum materieller Ressourcen und fester Infrastruktur, sondern Raum sozialer Beziehungen, Netzwerke und Praktiken: »Livelihood across many urban quarters of the global South depend on highly mobile interrelationships among actors, activities and spaces that must be incessantly renegotiated in terms of who can do what with whom and under what circumstances.« (Ebd., 364). Das Kennzeichnende an der Alltagsbewältigung von Jugendlichen in den Städten ist, dass sie nicht einfach im urbanen Raum, sondern auch durch den urbanen Raum ausgetragen wird: »Additionally, this capacity of residents involved in different kinds of work – and with different networks of access to information, resources and opportunities – to

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cooperate, to make use of each other outside of formal institutional procedures reiterated the city as a space of opportunity, movement, and of being part of a larger world.« (Simone 2010 b, 10) Im Unterschied zum Begriff der Piraterie impliziert der Begriff des Navigierens jedoch nicht vordergründig informelle oder illegale Praktiken der Alltagsbewältigung, sondern schließt alle Praktiken des Sich-Durchschlagens und Vordringens ein, die Jugendliche einsetzen, um Ungewissheiten zu managen und sich ihrer Marginalisierung zu widersetzen. Die Bedeutung öffentlicher und halböffentlicher Begegnungsräume für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand wird in der vorliegenden Arbeit durch das Konzept des Navigierens analysiert, das sowohl in der Schnittstelle der Jugend- und Stadtforschung zahlreiche Verwendung findet als auch von den Jugendlichen in Algier, die im Rahmen dieser Studie interviewt wurden, selbst genutzt wird.

Fazit und analytisches Vorgehen Zur Untersuchung der Thematik werden Ansätze aus der Stadt- und Jugendforschung herangezogen und durch ihren gemeinsamen Fokus auf Widerstand mit Theorien des sozial produzierten Raums zusammengeführt. Die Stadt bildet den Untersuchungsraum der vorliegenden Arbeit. Sie wird jedoch nicht einfach als abgrenzbares Territorium, sondern als produzierter – materieller, sozialer und imaginärer – Raum betrachtet. Raum ist also kein Container, sondern ein offener, niemals abgeschlossener Prozess, der somit auch politische Bedeutung hat. In der kritischen Stadtforschung wird Stadtentwicklung als ein Prozess verstanden, der sich geografisch im Entstehen von Zentren und Peripherien und Prozessen der Ein- und Ausschließung manifestiert. Städte sind darum immer auch umkämpfte Städte in denen verschiedene Akteur*innen Machtbeziehungen aushandeln. Jugend ist die Zielgruppe, die im Vordergrund der Untersuchung steht. Das Interesse an Jugend beruht nicht nur auf ihrem demografischen Gewicht in den Städten des globalen Südens, sondern auch auf ihrer untergeordneten Position im städtischen Raum. Städte werden in der Regel von Erwachsenen für Erwachsene gemacht. Jugendliche werden in der Stadt meist als gefährlich oder gefährdet wahrgenommen und dargestellt. Demgegenüber versuchen kritische Ansätze der Jugend(subkultur)forschung seit den 1970er-Jahren, die Tendenz der jungen Leute zu widerständigen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Praktiken im städtischen Raum als potentiellen Motor für Veränderung und Erneuerung zu betrachten. Die Arbeit untersucht also, wie Jugendliche in der Geschichte und Gegenwart Algiers sich im Alltag mit leisen und lauten Formen des Widerstands gegen ihre

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Ausgrenzung und Entmündigung als Jugendliche und als Bewohner*innen städtischer Armutsquartiere wehren. Dazu werden folgenden Fragen gestellt: Welche Beziehungen gibt es zwischen den Geografien der geteilten Stadt und des Widerstands in Algier und welche Rolle spielt die algerische Jugend als Akteurin des Widerstands in der Geschichte und Gegenwart Algiers? Welche Bedeutung haben die öffentlichen und halböffentlichen Stadträume, in denen die Jugendlichen navigieren, für die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand im Kontext urbaner Transformationen? Die zentrale Analysekategorie der Arbeit ist Widerstand. Zur Untersuchung der Thematik Stadtentwicklung und Jugend birgt das Konzept des Widerstands jedoch Schwierigkeiten, vor allem was die Interpretation alltäglichen Handelns als Widerstand betrifft: Es gibt keine allgemeingültige Definition, sondern immer nur eine in Abhängigkeit von dem Macht- und Subjektverständnis sowie der Beteiligung des Forschers abhängende Interpretation widerständigen Handelns. In der Interpretation liegt die Gefahr der Vereinnahmung oder des Bedeutungsverlusts von Widerstand, wenn z.B. von Aufständen bis Zetlarauchen (Haschischrauchen) alles in den Topf des Widerstands geworfen wird. Deshalb wird die Thematik in der vorliegenden Arbeit aus zwei Perspektiven untersucht. Im ersten Schritt wird das Thema aus einer historischen Perspektive aufgearbeitet. Am Beispiel der Kasbah, einem symbolischen Ort des Widerstands in der kolonialen und postkolonialen Stadt, werden die Beziehungen zwischen Raum und Widerstand in der geteilten Stadt analysiert (Kapitel 2-4). Über die Produktion des Raums werden Machtbeziehungen hergestellt, reproduziert oder bekämpft, die z.B. in Prozessen der Ausgrenzung, der Konstruktion von Gegenorten, oder der Verwirklichung utopischer Gesellschaftsentwürfe an bestimmten ›anderen Orten‹ sichtbar werden. Die Beziehungen zwischen Raum und Widerstand werden in der historischen Aufarbeitung der Entwicklung Algiers seit dem Beginn der Kolonialzeit bis in die Gegenwart mit Fokus auf die städtischen Armutsviertel diskutiert. Städtische Armutsviertel werden in wissenschaftlichen und medialen Diskursen durch die Zuschreibung bestimmter Bedeutungen als unkontrollierbare Räume oder Gegenorte konstruiert und die Bewohner*innen als ›anders‹ stigmatisiert. In der nordafrikanischen Stadt wird die Nachbarschaft als houma bezeichnet, wobei es vor allem die armen Stadtviertel sind, in denen das Konzept der houma Bedeutung hat. Das Konzept der houma hat zwar einen territorialen Bezug, wird aber vor allem als gelebter Raum des Alltags und der sozialen Nähe betrachtet. Die houma hat für die Bewohner*innen städtischer Armutsviertel ermächtigende Funktionen: Vor allem als informelles soziales Netzwerk und durch die spatial solidarity (Bayat 2010, 59) ihrer Mitglieder spielt die houma eine Rolle in der Alltagsbewältigung ebenso wie in der Mobilisierung der städtischen Armen. Die houma ist daher der Ort, an dem Ausgrenzung und Unterdrückung erfahren, aber auch

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bekämpft wird. Mit dem Fokus auf die algerische Jugend als Akteurin des Widerstands in der Geschichte werden durch die Zusammenführung von Stadt- und Jugendstudie die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand in der kolonialen und postkolonialen Stadt herausgearbeitet. Im zweiten Schritt werden die Beziehungen zwischen Raum und Widerstand durch das Konzept des Navigierens analysiert, um weitere Erkenntnisse über Ausgrenzungsprozesse und widerständige Alltagspraktiken in den öffentlichen und halböffentlichen Stadträumen zu gewinnen, durch die sich Jugendliche ihrer Marginalisierung widersetzen und Teilhabe einfordern (Kapitel 5-7). Die Alltagspraktiken der Jugendlichen können aus Sicht der Mächtigen stören, auch wenn sie keinen intendierten Widerstand verfolgen, indem sie die Grenzen des Planens und Kontrollierens – als Instrumente hegemonialer Machtausübung – im städtischen Raum aufzeigen. Aber auch integrative Praktiken, z.B. im Bereich der Bildung, können politische Bedeutung haben, da sie ermächtigende Funktionen haben und z.B. die Vernetzung und Solidarisierung Jugendlicher in den halböffentlichen Räumen (Jugendhäuser, Bibliotheken etc.) befördern. Der städtische Raum bietet trotz struktureller Zwänge auch viele Möglichkeiten der Ermächtigung und Teilhabe. Alltag wird als politisches Feld betrachtet, in dem über routiniertes Handeln Machtbeziehungen hergestellt, reproduziert, aber auch bekämpft werden können. Die Beziehung zwischen Alltag und Widerstand werden in der Arbeit durch das Konzept des Navigierens beleuchtet. In der Alltagssprache der Jugendlichen in Algier bezeichnet navigieren f lexible und unkonventionelle Praktiken der Alltagsbewältigung. Auch in der Jugendliteratur taucht der Begriff des Navigierens in dieser Bedeutung auf, meist im Zusammenhang mit den heterogenen, sich verändernden und ungleichen urbanen Räumen der Städte des 21. Jahrhunderts. Der aus der Seefahrt entlehnte Begriff des Navigierens konnotiert die Bedeutung des Raums in der Alltagsbewältigung: Das Reagieren auf sich verändernde und von Krisen gekennzeichnete Räume, die Fähigkeit sich in diesen Räumen zu orientieren und den städtischen Raum als Ressource zu nutzen. Praktiken des Navigierens können als Ausdruck der neoliberalen Kultur der Selbstverantwortung und des Selfmaking und somit als konformes Handeln gedeutet werden. Doch die Praktiken des Navigierens können die hegemoniale Ordnung auch unterwandern oder konterkarieren und daher aus Sicht der Mächtigen stören. Außerdem können die ermächtigenden Praktiken des Navigierens auch dazu beitragen, die Voraussetzungen für die Mobilisierung zu schaffen, z.B. Solidaritäten fördern, ein Generationsbewusstsein oder oppositionelle Identitäten entfalten, wie beispielsweise an den Beziehungen zwischen resilience, reworking und resistance (Katz 2004) gezeigt wurde. Praktiken des Navigierens, so die These dieser Arbeit können gleichzeitig dazu beitragen, den Status quo zu stabilisieren oder herauszufordern.

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier

Die Aussage des französischen Marschalls Hubert Lyautey (1854-1934), dass jede Baustelle dem Wert eines Bataillons entspricht: »A construction site is worth a battalion« (Lyautey, zitiert in Rabinow 1989, 290) spiegelt die Idee der modernen Stadtplanung wider, über die Organisation und Kontrolle des Raums zu regieren. Der militärische Vergleich deutet aber auch an, dass Frankreich in den kolonialen Städten auf Widerstand stoßen wird. Die städtebaulichen Interventionen der Franzosen in Algier gelten als Anfänge des ›Military Urbanism‹. Davon zeugt das erste Lehrbuch über urbane Kriegsführung und den Umgang mit Aufständischen, das 1847 von Bugeaud (1997)1 dem Marschall der französischen Truppen in Algier, verfasst wurde (Graham 2003, 36). In diesem Kapitel werden die Beziehungen zwischen hegemonialer Macht, am Beispiel kolonialer Stadtplanung und des Widerstands der einheimischen Bevölkerung im städtischen Raum beleuchtet. Die koloniale Stadt wird über ein System der Teilung und Ausgrenzung der ›Anderen‹ regiert (Kapitel 2.1). Die marginalisierten und als anders konstruierten Räume (Kapitel 2.2) spielen später eine wichtige Rolle in der Mobilisierung der städtischen Armen und in der Schlacht um Algier (Kapitel 2.3). Die Jugend ist dabei als eine wichtige Akteurin im antikolonialen Befreiungskampf hervorgetreten, wie am Beispiel des Vereinswesens aufgezeigt wird (Kapitel 2.4).

Prolog: Vorkoloniale Geschichte und das Imaginäre der Stadt als ›umkämpft‹ Viele Darstellungen Algiers, die in das Imaginäre der Stadt eingef lossen sind, zeigen die vorkoloniale Stadt, die vor dem Beginn der französischen Kolonisation 1830 unter ihrem arabischen Namen el-Djazaïr (arab.: Inseln) bekannt war. Der arabische Name bezieht sich auf die Inseln vor der Stelle, an der sich im 10. Jahrhundert die arabische Dynastie der Ziriden niedergelassen hatte. Diese Stelle war schon von Phöniziern und später den Römern besiedelt worden. Der Herrschaft der Ziriden, den Gründern von El-Djazaïr, Beni-Mezghenna, folgten unterschied1 Bugeaud: La guerre des rues et des maisons, Paris: Jean-Paul Rocher, 1997 [1849].

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liche arabische Dynastien (Missoum 2003, Lesbet 1985, Icheboudene 2008). Im 16. Jahrhundert wurde Algier vom Osmanischen Reich annektiert. El-Djazaïr wurde zur Hauptstadt der osmanischen Herrschaft im mittleren Maghreb, weshalb der Name auch auf das Land Algerien/el-Djazaïr übertragen wurde. Die namentliche Gleichsetzung der Hauptstadt mit dem Land unterstreicht die Bedeutung Algiers als wirtschaftliches, kulturelles und politisches Zentrum Algeriens, die sie bis heute beibehalten hat. Heute ist das vorkoloniale Stadtzentrum unter dem Namen Kasbah bekannt. Die Bezeichnung Kasbah wurde der arabisch-osmanischen Stadt von den französischen Besatzern gegeben. Diese hatten das Stadtviertel nach der Zitadelle, arab. qasba, benannt, von der aus die osmanischen und zuvor die arabischen Stadtherren regiert hatten. Unter französischer Herrschaft wurde die arabisch-osmanische Stadt zu einem einfachen Stadtviertel innerhalb der modernen europäischen Stadt degradiert und fortan als indigenes Viertel, Medina oder Kasbah bezeichnet. Der Begriff Kasbah2 wurde so in der französischen Sprache zu einem Synonym für die arabische, indigene oder muslimische Stadt (Siblot 1996, 163). Die Kasbah steht seitdem für eine idealisierte Form vorkolonialer arabischmuslimischer städtischer Gemeinschaft, die zur Basis für den kulturellen und später aktiven politischen Widerstand gegen die Kolonialmacht wurde. Die Kasbah ist jedoch nicht nur zum Symbol der Nation geworden, sondern auch ihrer Krisen, wie im Verlauf dieser Arbeit gezeigt wird.

2.1 Koloniale Stadtplanung: Besetzung, Teilung, Ausgrenzung Beginn und Ende der französischen Kolonialherrschaft sind von gewaltsamer Konfrontation zwischen Kolonialherren und Kolonisierten geprägt. Die ›Legende des Fliegenwedels‹ besagt, dass der damalige osmanische Stadtherr dem französischen Gesandten Duval im Jahre 1827 durch einen Schlag mit dem Fliegenwedel unsanft an die ausbleibende Schuldenrückzahlung Frankreichs an die osmanische Regentschaft für die Lieferung von Getreide erinnert habe (Icheboudene 2008, 93-95). Diesen hier vereinfacht dargestellten Vorfall sollen die Franzosen als Vorwand für den militärischen Angriff und die darauffolgende Besetzung genommen haben. Seit dem Friedensvertrag mit Ludwig XIV von 1689, hatte Algier friedliche Beziehungen zu Frankreich unterhalten und es auch nach der Französischen Revolution von 1789 finanziell unterstützt. Das Fehlen weiterer politischer Streitigkeiten zwischen der osmanischen Regentschaft und Frankreich deutet darauf hin, dass die Eroberung Algeriens vor allem aus wirtschaftlichen Interes2 Im französischen Lexikon Robert wird Kasbah außerdem synonym für Labyrinth, Chaos oder Bordell aufgeführt (Siblot 1996).

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier

sen erfolgte. Die ›Affäre des Fliegenwedels‹ bot Frankreich die gewünschte »Gelegenheit zum Bruch« (Icheboudene 2008, 93). Algier ist im 17. Jahrhundert eine geo-strategisch und wirtschaftlich f lorierende Hafenstadt gewesen. Doch mit dem Bedeutungsverlust der Seefahrt im frühen 18. Jahrhundert, der Pest von 1786 und den zahlreichen Eroberungsversuchen Algiers durch europäische Streitkräfte sowie internen Machtkämpfen unter den osmanischen Stadtregenten, kündigte sich der Niedergang der Stadt bereits an. ›Algier, die Unbesiegbare‹, wie sie von ihren Bewohner*innen auch genannt wurde, war angreif bar geworden. Die Bevölkerung war zum Zeitpunkt der Eroberung auf 30 000 zurückgegangen.3 Im Jahre 1830 landeten schließlich die französischen Schiffe in dem heute an der Küste Algiers gelegenen Ort Sidi Fredj. Von dort aus zogen die Soldaten nach Al-Djazaïr. Die Eroberung erfolgte nach einem lange zuvor ausgearbeiteten Plan, der auf den Beobachtungen eines Generals im Auftrag Napoleons von 1808 auf baute und mit einem enormen Aufgebot an Truppen und Waffen erfolgte. Am 5. Juli 1830 verkündete Dey Hussein die Kapitulation Algiers, um weitere Zerstörungen der Stadt und Angriffe gegen die Bevölkerung zu verhindern.

Die Besetzung Algiers Das damalige Stadtzentrum, die heutige als Kasbah bezeichnete Altstadt, wurde nach der Eroberung seiner militärischen, administrativen und ökonomischen Funktionen beraubt und zu einem marginalen Stadtviertel in der modernen europäischen Stadt degradiert (Lesbet 1985, Çelik 1997, Çelik et al. 2009, Hadjri & Osmani 2004, Icheboudene 2008). Während der militärischen Besetzung wurden ein Drittel der vorhandenen Häuser zerstört und die Besitzer*innen enteignet. Die Besetzung und Aneignung Algiers, der ersten französischen Kolonialstadt des Maghreb, war von Gewalt, Zerstörung und Plünderungen geprägt (Gallois 2013). Dieser Zustand hatte die Errichtung einer neuen Verwaltung erschwert. Die französische Armee richtete sich in der Stadt ein und besetzte öffentliche sowie private Gebäude, da die vorhandenen Kasernen nicht ausreichten (Lesbet 1985, 34). Die einheimische Bevölkerung, die nach der Kapitulation in Algier geblieben war, konnte ihrer Häuser und Besitztümer beraubt und enteignet werden. Auch religiöse Gebäude wurden zerstört und für militärische oder andere Zwecke genutzt. So wurde beispielsweise die Moschee Ketchaoua 1938 in die erste Kathedrale Algiers umgewandelt (Lesbet 1985, 36). Mit der Zerstörung der Stadt wurde ihre traditionelle Ökonomie vernichtet4. Die brutale Neuordnung der Stadt hatte 3 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Angaben zu den Einwohnerzahlen Algiers zum Zeitpunkt der französischen Eroberung siehe: Icheboudene 2008, 45-47. 4 Mit der Zerstörung des vorkolonialen Stadtzentrums zu Beginn der französischen Kolonisation ist auch das Wissen darüber verloren gegangen. Geblieben sind die weißen Flecken auf den Kar-

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die sozioökonomische Struktur der Gesellschaft radikal verändert. Einst reiche Bevölkerungsgruppen waren durch Enteignung und Ausgrenzung zu marginalen Stadtbewohner*innen geworden. Frankreichs wirtschaftliches Interesse an Algier führte bald dazu, dass Immobilien in der Stadt und später auch auf dem Land zum Objekt von Spekulationen wurden (Çelik 1997). Die leerstehenden Immobilienobjekte (Lesbet 1985, 34) wurden zum französischen Staatseigentum, das zerstört, vermietet oder verkauft wurde. Der Marschall Thomas Robert Bugeaud hatte die Kolonisation vorangetrieben. Die wachsende europäische Bevölkerung wiederum hatte den Ausbau der Kolonialstadt sowie die Immobilienwerte in die Höhe getrieben. 1842 waren bereits fast alle Immobilien im Besitz des französischen Staates und von Europäer*innen (Icheboudene 2008, 176). Die voranschreitende Zerstörung der Altstadt wurde infolge der Finanzkrise von 1846 gebremst (ebd., 177). Durch den finanziellen Engpass wurde die Entwicklung der französischen Stadt aufgehalten und Teile der Kasbah daher auch von europäischen Siedler*innen bewohnt. Mit der Erholung der Wirtschaft wurde auch die Entwicklung der europäischen Stadt wieder aufgenommen. Eines der großen Projekte dieser Zeit war der Bau der prächtigen Küstenpromenade (Çelik 1997, 33-35). Der viel beschriebene Blick vom Meer auf die Festung Al-Djazaïr wurde durch den Bau der militärischen Küstenstraße (1860-1866), die Boulevard de l’Impératrice, verdeckt. Nicht die arabisch-muslimische Stadt, sondern die moderne französische Stadt sollte den Blick auf Algier bei der Ankunft vom Meer dominieren: »While providing a spectacular edge to Algiers, this project also engraved the power relations of the colonial order onto the urban image: the Casbah was locked behind the solid rows of French structures.« (Ebd., 35) Die Inbesitznahme der vorhandenen Stadt und die Leugnung ihrer Zivilisation durch Zerstörung sowie der Bau der Kolonialstadt sollten die militärische und zivilisatorische Überlegenheit der Kolonialmacht demonstrieren. Aus diesem Grund wurde die Verlagerung aller urbaner Verwaltungsstrukturen in die neue europäische Stadt vorgesehen (Lesbet 1985, 36). Bis 1871 wurden alle urbanen Fragen vom Kriegsministerium geregelt. Erst als die Stadt militärisch vollständig unter Kontrolle gebracht und Frieden eingekehrt war, entschied sich die Kolonialmacht, außerhalb der alten Mauern zu bauen. »Wir Franzosen haben andere Bedürfnisse« hieß es in einer der Projektbeschreibungen, die die Teilung der Stadt vorsahen (zitiert in: Icheboudene 2008, 185). Der ten des Stadtzentrums Algiers von 1830 (Raymond 1981). Im Unterschied zu dem Ägyptenfeldzug Napoleons, hatte die Eroberung Algiers ohne Armee der Gelehrten (armée des savants) stattgefunden. Die frühen räumlichen Transformationen sind daher nur wenig dokumentiert worden (Grangaud 2009, 191).

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier

Platz der Regierung (Place du Gouvernement), der zwischen Kasbah, Hafen und der wachsenden europäischen Stadt (Alger Centre im Osten und Bab el-Oued im Westen) errichtet wurde, wird zu einem Ort, der zugleich Verbindung und Trennung zwischen der Stadt der Kolonisierten und der Stadt der Kolonialherren herstellt (Çelik 2009). Um den Place du Gouvernement (Platz der Regierung) am Fuße der Kasbah zu errichten, wurden ganze Straßen, zahlreiche Paläste, Moscheen und Wohnhäuser abgerissen (Hadjri & Osmani 2004, 31-33, Çelik 1997, 28, Dris 2001, 82). Diese städtebaulichen Interventionen des Militärs in Algier erinnern Nassima Dris an eine »vorzeitige Haussmannisierung« (Dris 2001, 74). Der Platz diente anfänglich militärischen Zwecken und wurde erst später mit dem Beginn der zivilen Stadtentwicklung und dem Bau der europäischen Stadt zu einem öffentlichen Platz nach französischem Vorbild. Die Präsenz und die Macht Frankreichs sollten im Herzen Algiers durch die Errichtung eines monumentalen Platzes bestätigt werden (Raymond 1981, 75). Doch neben seiner militärischen und politischen Bedeutung übernahm der Platz im Alltag bald eine andere Funktion. Als öffentlicher Platz der europäischen Stadt grenzte er an die öffentliche Sphäre der muslimischen Stadt, die große Moschee. Der Platz, der die Stadt der Eingeborenen von der Stadt der Kolonialherren trennte, wurde so zum »Kontaktpunkt« (Çelik 1997, 52) der beiden Bevölkerungsgruppen und zum »Forum der Kolonie« (Dris 2001, 76). Trotz seiner Nähe zu den verrufenen Orten der Kasbah und des Marineviertels hatte er daher eine zentrale Funktion in der Stadt, die später für die Formierung der antikolonialen Bewegung bedeutend sein wird (Kapitel 2.4). Das Marineviertel in der unteren Kasbah war ein verrufener Ort, der auch als ›Bastard‹ der Stadt bezeichnet wurde, weder arabisch noch französisch (Çelik 1997, 50). Die Bewohner*innen dieser Gegend, darunter Neapolitaner*innen, Spanier*innen, Jüdinnen und Juden und indigene Zugezogene (ebd.1997, 50) sprachen das Pataouète5, eine hybride Sprache, deren Wortschatz sich aus romanischen Sprachen und der arabischen Sprache zusammensetzte. Die Grenzen in der geteilten Stadt waren demnach durchlässig.

Die Teilung der Stadt »Separation plays an important part in defining otherness and allows for a critical distance needed for surveillance« schreibt Zeyneb Çelik (1997, 5) mit Bezug auf Homi Bhabha in ihrer Einleitung zu Urban Forms and Colonial Confrontations. Die Stadtplanung wurde ein wichtiges Herrschaftsinstrument der Kolonialmacht. 5 Literarisch festgehalten wurde das Pataouète als Zeichen einer hybriden mediterranen Kultur beispielsweise in der Geschichte von Cagayous von Musette, der sich als Algerier in Ablehnung von der elitären französischen Gesellschaft der Metropole identifizierte (Clancy-Smith 2009, 53f., Prochaska 1996, 685f.).

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Architektur und Urbanistik »galten als Schlüsseltechniken für die Assimilation der Kolonie in die westliche Zivilisation der Moderne« (Göckede 2006, 2). In der Planung berücksichtigt wurden jedoch nur die Bedürfnisse der Kolonialgesellschaft, nicht die der Einheimischen. Die indigenen Stadtviertel wuchsen daher außerhalb des Planungssystems an den Rändern und in den Zwischenräumen der Stadt. Erst ab 1954, dem Jahr, in dem die algerische Revolution ausgerufen wurde, bauten die Kolonialherren auch Wohnraum für die algerische Bevölkerung. Die Teilung der Stadt war ein wichtiges Mittel zur Ausübung der Hegemonie. In Die Verdammten dieser Erde (Fanon 1982 [1961]) beschreibt Frantz Fanon bildhaft die Gegensätze zwischen der Stadt der Kolonialherren und der Kolonisierten: »Die Stadt des Kolonialherrn ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen. Es ist eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer immer von unbekannten, nie gesehenen, nicht einmal erträumten Resten überquellen. Die Füße des Kolonialherrn sind niemals sichtbar, außer vielleicht am Meer, aber man kommt niemals nah genug an sie heran. Von soliden Schuhen geschützte Füße, während die Straßen ihrer Städte sauber, glatt, ohne Löcher, ohne Steine sind. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonialherrn ist eine Stadt von Weißen, von Ausländern.« (Fanon 1982 [1961], 32) Die Segregation, das Prinzip der räumlichen Trennung, basierte auf einer rassistischen Ideologie. Am Beispiel der französischen Stadtplanung in Rabat zeigt Abu Lughod, wie die Segregation auch ohne nationale Gesetze zur Rassentrennung mit denselben Absichten und Effekten die Urbanisierungsprozesse der Kolonialstadt dominierte. Durch die räumliche Trennung wurde die einheimische Bevölkerung auch in Algier territorial festgeschrieben und ausgegrenzt. Abu Lughod bezeichnet diese Stadtpolitik als »urbane Apartheid« (Abu-Lughod 1980, XVII)6. Da Algier die erste französische Kolonialstadt in Afrika gewesen ist, galt die Stadtplanung in Algier als Experimentierphase für die anderen Kolonialstädte (Çelic et al. 2009, 2). Die Apartheidpolitik wurde von der französischen Hygienebewegung beeinf lusst, die Zerstörungen, Umgestaltung und räumliche Ausgrenzung der einheimischen Bevölkerung mit Gesundheits- und Sicherheitsdiskursen rechtfertigte (Dris 2001, 85f., Demissie 2012, 3). Die Idee der geteilten Stadt wurde von den Stadtplaner*innen und Architekt*innen der kolonialen Projekte nicht nur als Machtinstrument betrachtet, sondern auch ästhetisch und kulturell begrün6 Apartheid (Afrikaans: Getrenntheit) wurde zur Bezeichnung des Systems der Rassentrennung in Südafrika (1948-1994) unter dem Regime der burischen Nationalen Partei eingeführt und so zu einem global zirkulierenden Terminus für eine Politik der Segregation und Diskriminierung basierend auf der Ideologie des Rassismus.

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det. Während die Architekt*innen und Stadtregenten in den Kolonien in orientalistischer Tradition besonders das Ästhetische des Anderen begrüßten, zweifelten sie das koloniale Projekt und den Glauben an die Überlegenheit Frankreichs und der westlichen Moderne nicht an. Die geteilte Stadt sollte zwar die Überlegenheit der Kolonialmacht demonstrieren, gleichzeitig aber auch Respekt und Toleranz für die lokale Kultur zeigen, um den sozialen Frieden zu sichern. Die »Ideologie der Bewahrung« (Çelik 1997, 38-43) f loss auch in Le Corbusiers Pläne für Algier ein, die weiter unten noch ausführlicher behandelt werden. Algier, als Hafenstadt und Hauptstadt der Kolonie, war die wichtigste Verbindung zur Metropole Paris. Diese Verbindung sollte urbanistisch ausgedrückt werden. Die europäische ›moderne‹ Stadt war eine Imitation der Metropole (Icheboudene 2008, 240f.). In der Rue D’Isly oder Rue de Michelet, mit ihren Geschäften und Cafés zu f lanieren, sollte das Gefühl vermitteln, in Paris zu sein. Die einheimische Bevölkerung hatte in der modernen Stadt nur den Status des Zuschauers, von der Teilhabe am modernen Leben blieb sie weitgehend ausgeschlossen (Dris 1991, 72). Was die Bevölkerungszahlen angeht, hatte die zweite Periode der Kolonisation (1880 bis 1930) zu einem Gleichgewicht zwischen europäischer und indigener Bevölkerung geführt, da Algier als politisches und wirtschaftliches Zentrum der Kolonie auch für die einheimische Bevölkerung im Vergleich zum Umland als Arbeitsplatz attraktiv war (Icheboudene 2008, 246). Die Ungleichheit zwischen europäischen und indigenen Vierteln verstärkte den Antagonismus zwischen der europäischen und der einheimischen Bevölkerung. Neben den ethnischen Grenzen spiegelte die Stadt jedoch auch die soziale Polarisierung wider: Bab el-Oued z.B. war ein Arbeiterviertel mit kosmopolitischem Charakter, in dem Italiener*innen, Spanier*innen, Französ*innen, jüdische und muslimische Algerier*innen lebten (Clancy-Smith 2009), während das neue Stadtzentrum und die auf den Höhen errichteten Villenviertel den Eliten der Kolonialgesellschaft vorbehalten waren (Dris 2001, 93, Sanson 1974). Zum hundertjährigen Jubiläum der Kolonisation demonstrierte die Kolonialmacht ihre Hegemonie durch zahlreiche neue monumentale Bauten, darunter das Musée des Beaux Arts und das Hôtel de Ville (Dris 2001, 89), während der Wohnungsbau privaten Investoren überlassen wurde. Die Stadtentwicklung spiegelte die koloniale Ideologie ungleicher Rechte und die des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das soziale Ungleichheiten in der Stadt durch Immobilienspekulationen verstärkte, wider (ebd., 92). Der Erfolg des Kolonialprojekts wurde demonstriert, gleichzeitig drängten die sozio-politische Realität sowie politische und gesellschaftliche Veränderungen in Europa die französischen Kolonialherren auch zum Umdenken in der Stadtpolitik: Ideen des Zusammenlebens und der Verschmelzung der beiden Kulturen wurden architektonisch im neomauresken Stil umgesetzt. Das bekannteste Gebäude Algiers dieser Richtung ist die Große Post. Auch die Altstädte bekamen in der Stadtplanung zur Jahrhundertwende neue Aufmerksamkeit. Die Pläne für die Kasbah waren

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von der Ideologie der Bewahrung gefärbt und zielten darauf ab, sie als attraktives Kulturerbe für Tourist*innen und Künstler*innen in die Stadt zu integrieren (Çelik 1997, 40). Zum Jubiläum wurde auch der Architekt Le Corbusier nach Algier eingeladen, der die wohl bekanntesten, wenn auch nie realisierten Pläne für Algier entwarf. Abbildung 3: Kartenzeichnung von Algier, le Corbusier

Quelle: Çelik 1997

Die Karten-Zeichnung des Architekten Le Corbusier, in der die Kasbah als verschleierte Frau abgebildet wird, steht exemplarisch für die orientalistische Konstruktion der Kasbah als weiblich, mysteriös und anders (Çelik 1997, 21-26). Die verschleierte Frau ist das sichtbarste und damit repräsentativste Symbol der arabisch-muslimischen Kultur (Fanon 1972 [1959], 19). In der narrativen Landschaft der kolonialen Stadt unterstützten die Abbildungen der algerischen Frauen die Ausgrenzung des Anderen: »[T]he fetishization of the Algerian woman served to further distance the colonized from the rest of colonial society.« (Clancy-Smith 2009, 55)

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier

Die koloniale Umgestaltung des Raums ist ebenso wie der Akt der erzwungenen Entschleierung ein Versuch des Kolonialherrn, seine Ordnung herzustellen (Fanon 1972 [1959], 25). Später werden sich jedoch die Frauen gegen die erzwungene Assimilation wehren und den Schleier als Ausdruck der Emanzipation im kolonialen Machtgefüge tragen. Auch die Kasbah wird sich von der rassifizierten ›anderen‹ Stadt der Orientalisten zu einem Ort des kulturellen und später des politischen Widerstands wandeln. Le Corbusier war als Liebhaber der orientalischen Ästhetik und als überzeugter Modernist blind für die kolonialen Realitäten. Der Name des Plans, den Le Corbusier für Algier anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der französischen Kolonisation entwarf, drückte hingegen den Gewaltakt der kolonialen Stadtplanung aus: le Plan Obus – der Granatenplan (Pouliot 2011). Beinahe zeitgleich zum hundertjährigen Jubiläum der französischen Präsenz in Algerien fand 1931 in Paris die internationale Kolonialausstellung statt, die unter der Leitung Lyauteys über eine Sonderabteilung zum Städtebau in den Kolonien verfügte, um der Rolle der Stadtplanung im Kolonialismus Nachdruck zu verleihen. Zentrale Themen waren »Tourismus und Bewahrung der Altstädte«, »Landschaftsschutz und historische Monumente« und der »sanitäre Gürtel«, der die einheimischen von den europäischen Stadtvierteln trennen sollte (Çelik 1997, 40, Demissie 2012, 3). Le Corbusier war zwar bei dieser Ausstellung nicht anwesend, jedoch sind auch seine Pläne für Algier von diesen Ideen geprägt gewesen. Die Pläne veröffentlichte er später in dem für den modernen Städtebau fundamentalen Werk La ville radieuse (1935). Einer der revolutionärsten Bestandteile dieses Plans war es, den sanitären grünen Gürtel durch ein System der vertikalen Trennung, durch den Bau einer Brücke über die Kasbah, »with the dominating above and the dominated below« (Çelik 1997, 43) zu ersetzen. Die Kasbah, deren Baukunst und Schönheit Le Corbusier wie viele andere Architekt*innen, Künstler*innen und Schriftsteller*innen poetisch beschrieben hat, dürfe niemals zerstört werden (Le Corbusier 1935). Die Überbrückung des indigenen Viertels sollte die Verbindung der europäischen Viertel zum Hafen sichern und gleichzeitig den Kontakt zwischen dem europäischen und dem indigenen Viertel aus Hygiene- und Sicherheitsgründen vermeiden. Le Corbusiers Pläne für Algier sind ein früher Entwurf der »dreidimensionalen Landschaft der Exklusion und Polarisierung«, die die Städte des 21. Jahrhunderts kennzeichnet (Graham & Marvin 2001, 284, Alsayyad & Roy 2006, 5). Revolutionär war auch Le Corbusiers Zukunftsvision für Algier: Er betonte, dass Algier keine Kolonialstadt mehr sei, sondern die Hauptstadt Nordafrikas und eine wichtige Verbindung zu Paris, Rom und Barcelona in einer sich verändernden Welt, in der neue Allianzen (Le Corbusier 1935, 228) eine wichtige Rolle spielen würden. In einem gigantischen Geschäftszentrum am Hafen, das das Marineviertel ersetzen sollte, sah er die Zukunft Algiers. Das Marineviertel

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störte in der kolonialen Stadt. Es symbolisierte die Unordnung und die Gefahren der Vermischung der europäischen mit der einheimischen Bevölkerung und sollte deshalb zerstört werden (Çelik 1997, 49-57). Le Corbusier war davon überzeugt, dass Gesellschaft durch Architektur organisiert und vor allem auch zufriedengestellt werden könnte7 (Pouliot 2011, 2). Doch seine Ambitionen als Architekt hatten ihn für die Konf likte des Kolonialprojektes blind gemacht. Le Corbusiers Pläne für Algier wurden aus finanziellen und politischen Gründen abgelehnt. Die Transformationen des Marineviertels wurden nach den konventionelleren Vorschlägen Henri Prosts umgesetzt und als die Errichtung des ›neuen Algiers‹ gefeiert. Die Zerstörung von 340 Gebäuden und die Umsiedlung von etwa 11 000 Menschen, darunter 380 Ladenbesitzer*innen, wurde damals sowohl von algerischen als auch französischen Bewohner*innen der Stadt scharf kritisiert (Çelik 2009, 213). Auch wenn die Pläne Le Corbusiers in Algier nicht umgesetzt wurden, so ist doch seine Idee der sozialen Befriedung durch Stadtplanung in die Politik des Bürgermeisters Chevallier eingef lossen, der zu Beginn des antikolonialen Widerstands noch daran glaubte, mit Wohnungsbau die beginnende Empörung der algerischen Bevölkerung beruhigen zu können.

2.2 Die Medina als ausgegrenzte Stadt: Verelendung, Widerstand, Gegenorte Das Entstehen der Bidonvilles (Slums) war in Algerien eine Folge der kolonialen Land- und Ressourcenaneignung. Besonders die zunehmende Verarmung der ländlichen Gebiete durch Enteignung und Zwangsumsiedlungen trugen zur Urbanisierung bei. Die Attraktivität der Städte durch Modernisierung und Industrialisierung zog die enteignete Landbevölkerung an, die hoffte, in den Städten Arbeit zu finden, doch: »Ohne rasche industrielle Entwicklung konnten die freigesetzten Arbeitskräfte (deren Zahl noch durch die Auflösung eines Teils der heimischen Handwerksproduktion vergrößert wurde) in den Städten keine Arbeit finden. Zwar bildete sich eine Arbeiterklasse, allerdings vor allem in Frankreich, wohin Arbeitskraft exportiert wurde.« (Elsenhans 1977, 13)

7 Le Corbusier ist vor allem für seine Projekte des funktionalen Wohnungsbaus, der den Massen den Zugang zur Stadt und einem ›modernen‹ Lebensstil ermöglichen sollte, bekannt geworden. Projekte aus seinen Plänen für Algier wurden später in Marseille (Unité d’Habitation), Berlin (Corbusierhaus), Indien (Chandigarh) und in Brasilien (Brasilia) umgesetzt.

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Die Zugezogenen kamen in die indigenen Viertel oder errichteten an den Stadträndern eigene Wohnstätten. Die Cité Bisch in der Nähe des Friedhofs Kettar in Bab el-Oued gilt als erstes Bidonville Algiers. Die Entstehung der ersten Bidonvilles wird in Algier zwischen 1926 und 1930 vermutet (Descloitres et al. 1961, 84 f). Die schnelle Urbanisierung in Algerien hatte zu einer Krise des Wohnungswesens geführt. Im Jahre 1954 zählte Algier 570 000 Einwohner*innen und war damit viertgrößte Stadt Frankreichs nach Paris, Marseille und Lyon (ebd., 78f.). Die muslimische Bevölkerung hatte den größten Anteil am Wachstum der Stadtbevölkerung, 41,5 Prozent lebte damals in den Bidonvilles (ebd. 31). Das Leben in den Slums war in den Worten der Ethnologin Germaine Tillion von Prozessen der Verelendung (clochardisation) und dem Milieu der Passage (milieu de gué) vom ländlichen zum städtischen Lebensstil gekennzeichnet (Germaine Tillion: L’Algérie en 1957, Paris 1957, zitiert in: Descloitres et al. 1961, 26). Die Bewohner*innen der Elendsviertel wurden von Bourdieu als die »Entwurzelten«8 (1964) und von Franz Fanon als »Lumpenproletariat« (Worsly 1972) bezeichnet in Abgrenzung zu den Kategorien der Bäuer*innen und der Arbeiter*innen. Worsly weist jedoch darauf hin, dass die städtischen Armen keine abgrenzbare soziale Kategorie im Sinne einer Klasse darstellen und betont den prozesshaften Status des Übergangs dieser Menschen: »They are becoming townsmen-eventually, they hope, a part of the settled, employed urban population.« (Worsly 1972, 210f.) Bourdieu hat in seinen detaillierten soziologischen Studien in Ergänzung zu den statistischen Erhebungen von Darbel/Ribet/Seibel über die Arbeit und Arbeiter in Algerien (1963) eine frühe Phase der unstetigen und informellen Beschäftigung in den Strukturen des kolonialen Wirtschaftssystems analysiert. Er schildert die Suche nach Möglichkeiten der »Entwurzelten« über die Runden zu kommen und der Beziehung dieser Bevölkerungsgruppe zum städtischen Raum: »Die Verwendung der täglichen Zeit, teilt sich in die Arbeitssuche und die Gelegenheitsjobs. Die Woche und der Monat werden unplanbar je nach Anstellung in Arbeitstage und arbeitslose Tage aufgeteilt, immer geprägt von der Prekarität. Weder regelmäßige Arbeitszeiten noch fester Arbeitsplatz. Die gleiche Diskontinuität in Zeit und Raum. […] Schlecht angepasst an die urbane Welt, in der sie sich verirren (manchmal im wortwörtlichen Sinne) ohne regelmäßiges Arbeitsleben und ohne die Sicherheit eines Angestelltenverhältnisses, fern von den vertrauten Traditionen der Dorfgemeinschaft, werden sie, ohne Vergangenheit und Zukunft, hartnäckig den Zufall 8 Algerien spielte im Leben und Werk Pierre Bourdieus eine wichtige Rolle: Die Entwurzelung, Entwurf einer Theorie der Praxis, Soziologie Algeriens und Skizzen aus Algerien gehören zu den bekanntesten seiner Werke mit Bezug zu Algerien (Goodman & Silverstein 2009). Seine ethnografischen Fotografien aus Algerien wurden posthum veröffentlicht (Schultheis & Frisinghelli 2003).

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bezwingen und versuchen die Gegenwart zu bewältigen, die ihnen hoffnungslos entwischt.« (Bourdieu 1963, 353) Die prekäre Situation und vor allem die Unsicherheit im alltäglichen Leben der Armen führen zu Hoffnungslosigkeit, die eher Fatalismus und Wirklichkeitsf lucht als die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins entfaltet (Bourdieu 1963, 354). In den Beschreibungen des Elends der städtischen Armen nähern sich Frantz Fanons und Pierre Bourdieus Texte an. Frantz Fanon sieht jedoch in der aus dem Elend herrührenden Gewaltbereitschaft des »Lumpenproletariat« die Möglichkeit, die Gewalt durch Mobilisierung in revolutionäre Gewalt umzuwandeln: »Der Slum beweist die physische Entschlossenheit des Kolonisierten, die feindliche Festung, koste es was es wolle, und wenn nötig auf unterirdischen Wegen zu erobern. Das Lumpenproletariat, das mit all seinen Kräften auf die ›Sicherheit‹ der Stadt drückt, ist die uneindämmbare Fäulnis, der Krebsschaden mitten in der Kolonialherrschaft. Die Zuhälter, die Herumlungerer, die Arbeitslosen, die Vorbestraften, werfen sich also auf den Appell hin wie robuste Arbeiter in den Befreiungskampf.« (Fanon 1981 [1961], 111) Das Gewaltpotential, das die Unterdrückten in der kolonialen Apartheid gegen sich selber entwickeln, müsse von den Eliten der Befreiungsbewegung für den Befreiungskampf kanalisiert und gegen die Besatzer*innen gerichtet werden. Auch wenn Fanon die städtischen Armen als eine leicht beeinf lussbare Kategorie beschreibt, die auch von den Kolonialherren gegen die Revolutionäre aufgehetzt werden könnten, spricht er ihnen revolutionäres Potential zu. Im Kolonialismus sei das Proletariat zu sehr von den Kolonialherren als Arbeitgeber abhängig und daher eine privilegierte Gruppe, »die ›bürgerliche‹ Fraktion des kolonisierten Volkes« (ebd., 93). Fanons Perspektive auf die städtischen Armen in den Kolonien ist eine frühe Anerkennung ihrer Handlungsfähigkeit (Worsly 1972, 211). Die Mobilisierung der städtischen Armen in Algerien war auch von der sozialrevolutionären Ausrichtung der Befreiungsbewegung charakterisiert: »Wegen der Siedlungskolonisation war anders als in den anderen unterentwickelten Ländern die nationale ›Bourgeoisie‹ und der nationale Großgrundbesitz schwach, so dass der antikolonialistische Widerstand stark sozialrevolutionär ausgerichtet war.« (Elsenhans 1977, 14) Neben dem gemäßigten Nationalismus der nicht-assimilierten Mittelschicht wurden die neuen Stadtbewohner*innen als ›expatriierte Arbeiterklasse‹ (ebd., 14) zur stärksten Kraft des algerischen Nationalismus. Der Beginn der Algerischen Revolution 1954 hatte die Urbanisierung nochmals verstärkt, da sich die

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Konfrontationen in den ersten Jahren der Revolution vor allem in den ländlichen Regionen abspielten und die Menschen in die Städte f lüchteten. In Algier fanden sie vor allem in der Kasbah oder in den informellen Siedlungen der Stadtränder Zuf lucht. Architektonisch erinnerten die Strukturen der Bidonvilles an die der Kasbah: Dicht aneinandergereihte, nach innen geöffnete Häuser mit Dachterrassen und ein Labyrinth artiges Straßensystem. Die französischen Architekt*innen begeisterten sich für ihre Ästhetik: Wie die Altstädte fügten die informellen Siedlungen sich harmonisch in die Landschaft ein, ihre Flexibilität in der Synthese von europäischen und islamischen Elementen wurde als neue Kunstform gelobt. Doch als gelebte Räume waren die Slums vor allem Ausdruck der gravierenden sozialen Unterschiede zwischen einheimischer und kolonialer Gesellschaft, die den Antagonismus zwischen Kolonialherren und Kolonisierten verstärkten (Çelik 1997, 112). Die wachsende Unzufriedenheit der algerischen Bevölkerung in den Elendsvierteln und die auf kommende Mobilisierung gegen die französischen Besatzer*innen, veranlasste die Stadtverwaltung zum Umdenken. General Charles de Gaulle verkündete in seiner Rede am 3. Oktober 1958 in Constantine: »Algeria in its entirety must have its share of what modern civilization can deliver to men of well-being and dignity« (zitiert in Çelik 1997, 46). Künftig sollte auch die algerische Bevölkerung, die mittlerweile etwa die Hälfte der Bewohner*innen Algiers ausmachte, in der Stadtplanung berücksichtigt werden. Die hohen Investitionen in den sozialen Wohnungsbau waren Teil des kolonialen Entwicklungsmodells (Elsenhans 1977, 16-21). Durch die Entwicklungsinvestitionen in Algerien sollten die ökonomischen, sozialen und politischen Unterschiede zwischen dem »l’Hexagone (metropolitan France)« und »French Algeria« (Davis 2010, 176) verringert werden. Lesbet (1985) beschreibt die städtebaulichen Maßnahmen gegen Ende der Kolonialzeit als einen letzten Versuch Frankreichs, die Hegemonie der Kolonialmacht zu demonstrieren. Die Zerstörung der Kasbah und die Umsiedlung und Zerstreuung großer Teile ihrer Bevölkerung sei ein Versuch gewesen, den Widerstand mit städtebaulichen Maßnahmen zu zerschlagen: »Als ob sie nicht wollten, dass diese Zelle des Widerstands, Zeugin der Kolonisation und Akteurin der Dekolonisierung, das System überlebt, dass sie unaufhörlich bekämpft hat, erst durch die Bejahung ihres Andersseins und schließlich durch Konfrontationen.« (Ebd., 51) Das ›letzte Projekt‹ (ebd., 51) sah auch die Zerstörung großer Teile der oberen Kasbah vor. Der offiziellen kolonialen Statistik zufolge lag die Einwohnerdichte bei 50 Personen pro Haus und 2800 Personen pro Hektar. Damit gehörte sie zu den

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am dichtesten bewohnten Räumen weltweit9. Die hohen Zahlen nutzte die Stadtverwaltung, um die Kasbah im Diskurs der französischen Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts als Elendsviertel zu bezeichnen, die die Gesundheit und soziale Sicherheit gefährden (ebd., 53). Die Kasbah hatte die extreme Bevölkerungsdichte mithilfe ihrer autonomen Verwaltung jedoch gut ertragen. Die eigentliche Gefahr, die sie in Algier darstellte, richtete sich eher gegen das Kolonialsystem. Der Plan hatte vorgesehen, bis 1964 die Hälfte der Bevölkerung umzusiedeln, ohne aber anderswo »eine neue Kasbah zu errichten« (ebd., 54). Die 40 000 Einwohner*innen der oberen Kasbah sollten auf die verschiedenen Kommunen Algiers verteilt werden. Etwa 10 000 von ihnen wurden nach Climat de France umgesiedelt. Für andere soziale Wohnungsbauprojekte wurden Bauf lächen in anderen Kommunen ausgesucht, die alle mindestens 10 km von der Kasbah entfernt lagen (ebd., 54). Das Umsiedlungsprogramm hatte auch dazu beigetragen, den durchschnittlichen sozialen Status der in der Kasbah verbleibenden Bewohner*innen zu senken, da vor allem die Bewohner*innen mit fester Arbeit, z.B. Verwaltungsangestellte umgesiedelt wurden, deren leer gewordene Häuser später durch neue Migrant*innen vom Land besetzt wurden. Mit der zunehmenden Verlagerung des Befreiungskampfes in die Stadt wurde die Umsetzung des Plans abgebrochen, da die Kasbah zu einer »Zone hohen Risikos« (Çelik 1997, 47) wurde. Wie die Altstadt wurden auch die Bidonvilles und neuen Wohnungsbauprojekte zu Brutstätten der Widerstandsbewegung und später während des Krieges zu Refugien der Widerstandskämpfer*innen. Die Stadtplanung spielte eine wichtige Rolle in den kolonialen Konfrontationen: Durch die Verbesserung der Wohnbedingungen der einheimischen Bevölkerung erhofften sich die Regierenden, die Lage befrieden zu können (ebd., 114f.). Die Idee der Grands Ensembles, der Wohnblöcke des funktionalen modernen Wohnungsbaus; wurde in Frankreich und seinen Kolonien in den 1930er-Jahren realisiert. Die Stadtplanung in den Kolonien diente als urbanistisches Experimentierfeld für den modernen Städtebau in Frankreich. In Algier gilt die am Rande der Kasbah gelegene cité indigène des Architekten François Bienvenu als erstes soziales Wohnungsbauprojekt, das für die einheimische Bevölkerung errichtet worden war. In den 1950er-Jahren wurden diese Projekte unter der Stadtverwaltung des Bürgermeisters Chevallier weiterentwickelt. In den französischen Städten zeichnete sich in den 1950er-Jahren eine ähnliche Entwicklung ab: Die so genannten ›algerischen Bidonvilles‹, die als Brutstätten des algerischen Widerstands im Exil galten, sollten beseitigt werden. Ihre Bewohner*innen wurden in die neuen sozialen Wohnungsbauprojekte, in die Banlieus, umgesiedelt (Silverstein & Tetrault 2006, 9, Barros 2012). 9 In der Medina von Rabat z.B. lag die Bevölkerungsdichte 1918/1947 bei 400/758 Personen pro Hektar und in Salé bei 240/650 Personen pro Hektar (Abu Lughod 1980, 209).

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Versuch der sozialen Befriedung durch modernen Wohnungsbau Der Bürgermeister François Chevallier, der Algier zwischen 1953 und 1958 regierte, verfolgte eine Politik zugunsten der Verbesserung der sozialen Situation der arabischen Bevölkerung, weshalb er aus eigenen Reihen auch als ›Bürgermeister der Araber‹ bezeichnet wurde. Für ihn war der nordafrikanische Konf likt vor allem ein sozialer Konf likt, in dem die Verletzung der Menschenwürde die Revolte gegen die Kolonialmacht herauf beschwor. Frankreich müsse Tag und Nacht bauen, um das Wohnproblem und damit in Verbindung stehende soziale Probleme in den Griff zu bekommen. Als Chefarchitekten Algiers ernannte der für den indigenen Wohnungsbau ambitionierte Bürgermeister den Architekten Ferdinand Pouillion, der ihm wegen seiner Erfahrung in Südfrankreich und im mediterranen Raum für das Vorhaben geeignet schien. Pouillons wichtigste Projekte in den 1950er Jahren in Algier waren der Bau der Wohnsiedlung Diar el-Mahçoul und der Cité 200 Colonnes in Climat de France. Climat de France bezeichnet die Gegend Algiers westlich der Kasbah auf den Hügeln Bab el-Oueds, die seit 1930 für den Bau von Wohnblöcken für die indigene Bevölkerung genutzt wurde. Pouillion wird auch als Vorreiter der nachhaltigen Entwicklung genannt, weil er lokale Materialien und Handwerkskunst in seine Architektur integrierte. Um den Bau harmonisch in die Landschaft einzufügen, hatte er sich von der Medina inspirieren lassen. Pouillion schuf einen Stil, der die Suche nach einer zeitgenössischen mediterranen Architektur ausdrückte, »that brought together modernism with local forms, needs and sensibilities« (Çelik 1997, 152). Um die Cité der Architektur der Medinas anzupassen, konzipierte er etwa die Gebäude mit Dachterrassen, um so den sozialen Raum der Frauen in der Kasbah nachzubilden. Diese aber wuschen ihre Wäsche lieber in den Wohnungen, als sie die steilen Treppen hinaus aufs Dach zu tragen. Später wurden die Dachterrassen vor allem für informelle Auf bauten genutzt, um den Wohnraum zu vergrößern. Climat de France ist ein exemplarisches Beispiel für die gescheiterte ›Integrationsbemühung‹ der modernen Stadtplanung. Zwar verwirklichte der modernistische Wohnungsbau einige seiner Versprechen im Hinblick auf Komfort und Hygiene, doch erfüllte er nicht die Hoffnung des Bürgermeisters, die auf kommende Revolte zu verhindern. Die im Plan von Constantine (1958) vorgesehenen und teilweise durchgeführten Interventionen seien aber vor allem vom militärischen Charakter der Quantifizierung, Reglementierung, Disziplinierung und Kontrolle geprägt gewesen (ebd., 86).

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2.3 Die Konstruktion der Kasbah als Gegenort Die Kasbah war durch ihre Vernachlässigung in der Stadtplanung ein Ort, der nicht vollständig von der hegemonialen Ordnung durchdrungen wurde und somit zu einem sicheren Ort für all diejenigen wurde, die ihr ausweichen wollten oder mussten. Die Kasbah, Kern und ehemaliges Zentrum vorkolonialer Herrschaft, wird unter den französischen Besatzer*innen zu einem Refugium für die Kultur, Identität und später des Widerstandes der algerischen Bevölkerung. Mit dem Beginn des Baus der modernen europäischen Stadt war die Kasbah in der Stadtplanung vernachlässigt worden (Fanon 1959, 33). Doch die einheimische Bevölkerung widersetzte sich der Ausgrenzung im Planungssystem. Für sie war die Kasbah in den Strukturen der Kolonialstadt der Ort, der es ihnen ermöglichte, im Zentrum der Stadt präsent zu sein (Lesbet 1985, 39). Bis heute hat sie Bedeutung als eines der letzten Refugien für die städtischen Armen, die im Zuge von Stadterneuerungsprogrammen und sozialem Wohnungsbau in den Peripherien zunehmend aus dem Zentrum verdrängt werden (Kapitel 4.1). Die Negation der Kasbah durch die französische Stadtverwaltung hatte dazu geführt, dass sich die Bewohner*innen selbst organisierten, um die weitere Verwahrlosung ihres Viertels aufzuhalten. Sie bildeten eine alternative urbane Verwaltung, die sich um die öffentlichen Räume in der Kasbah kümmerte und die Instandhaltung der Häuser durch eine organisierte Zusammenarbeit von Hausbesitzer*innen und Mieter*innen arrangierten: »The residents of the casbah thus spoke back to colonizers by turning to themselves, consolidating their unity, and establishing their own system.« (Çelik 1997, 38) Die Ausgrenzung des Viertels trug dazu bei, die soziale Identität der Bewohner*innen der Kasbah als ›Andere‹ zu festigen und in eine oppositionelle solidarische Gemeinschaft umzuwandeln. Das Beispiel der Kasbah zeigt, dass Segregationsprozesse, die als Herrschaftsinstrument der hegemonialen Klassen eingesetzt werden, auch vonseiten der ausgegrenzten Gruppen zur Ermächtigung genutzt werden, indem sie die marginalen Räume in Heimstätten des Widerstands verwandeln (bell hooks 1989, 206, Soja 1996, 100 ff). Die Kasbah wurde ein Gegenraum (espace contre, Lesbet 1985, 39), der die oppositionelle Stimme der Algerier*innen gegen die Kolonialmacht repräsentierte. Sowohl der materielle als auch der soziale Raum der Kasbah trugen zu ihrer Bedeutung als Gegenort bei: Die enge Aneinanderreihung der Häuser macht die Fortbewegung über die Dachterrassen von Haus zu Haus als Fluchtweg möglich. Die FLN-Kämpfer und – Kämpferinnen konnten den französischen Soldaten in dem ihnen vertrauten Straßenlabyrinth entkommen und sich, von der Solidarität der Bewohner*innen des Viertels geschützt, dort verstecken. Die FLN hatte die Kasbah in Sektoren eingeteilt und ein System von Verstecken organisiert (Çelik 1997, 47). Ab 1956 wurde

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sie militärisch abgeriegelt und die Bewohner*innen waren zahlreichen Ausgangssperren, Durchsuchungen, Deportationen und Rekrutierungen von Arbeitslosen ausgesetzt (Çelik1997, 48f.). Durch ihren autonomen Status war die Kasbah in der Phase des politischen Umbruchs vor der Unabhängigkeit der Ort, an dem die noch fiktionale Unabhängigkeit der algerischen Nation bereits gelebt wurde. Auch wenn die Schlacht um Algier eine militärische Niederlage im Befreiungskampf darstellte, hat sie bis heute – besonders für die Bewohner*innen der Hauptstadt – wichtige identitätsstiftende Funktion. Viele Straßen, Plätze und Häuser in der Kasbah erinnern an die Ereignisse der Schlacht um Algier und die Widerstandskämpfer*innen, die dort gefoltert oder getötet wurden (ebd., 47). Auf internationaler Ebene ist die Kasbah, als Schauplatz der Schlacht um Algier und besonders durch den gleichnamigen Film zu einem Symbol der antiimperialistischen Bewegung geworden (Breitbart 2009). Abbildung 4: »Ein einziger Held, das Volk«: Slogan auf einer Mauer in Algier, 1962

Quelle: Musée national de la Révolution algérienne/WikiCommons

Stadt und Widerstand in »Die Schlacht um Algier« Die Mobilisierung der algerischen Bevölkerung gegen die französische Kolonialmacht weitete sich seit der am 1. November 1954 von der Front de Libération Nationale (FLN) ausgerufenen Revolution aus und war auch in Algier nicht mehr aufzuhalten. Die Kasbah spielte eine wichtige Rolle im urbanen Befreiungskampf. Festgehalten wurde diese Legende im Film Die Schlacht um Algier 10. 10 Der Film des italienischen Regisseurs Gillo Pontecorvo ist eine italienisch-algerische Koproduktion. Auf algerischer Seite wurde der Film von Casbah Film, der ersten algerischen Filmproduktionsfirma, hergestellt. Casbah Film wurde von Yasef Saadi gegründet, der 1954 der FLN beigetreten war und 1956 Chef der autonomen Zone Algiers wurde. Yasef Saadi spielt in dem

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Der Film zeigt einen Ausschnitt des urbanen Befreiungskampfes mit Schwerpunkt auf das Jahr 1957. Er beginnt mit der Phase der Mobilisierung der Bewohner*innen der Kasbah durch die FLN. Der nächste Schritt der Schlacht um Algier zeigt die ersten Attentate der FLN-Kämpfer*innen auf Polizeibeamt*innen des Kolonialstaates. Darauf hin wird die Kasbah militärisch abgeriegelt. In der Szene der Eheschließung eines jungen Paares in der Kasbah, das sich von den FLN-Partisan*innen und nicht von den französischen Autoritäten trauen lässt, wird die Kasbah als verwirklichte Utopie dargestellt, in der die Idee der unabhängigen algerischen Nation bereits gelebt wird. Der entscheidende Moment, in dem sich die Kasbah gegen die Kolonialmacht erhebt, wird durch das Bombenattentat in der Rue de Thèbes in Szene gesetzt. Die zivilen Opfer unter der algerischen Bevölkerung hatte die Empörung der Bewohner*innen der Kasbah geweckt und somit die Autorität der FLN im Viertel und ihre Entschlossenheit zum Widerstand gestärkt (Lezra 2003, 55). Um einen ungeplanten Aufstand zu verhindern, übernimmt die FLN die Organisation und Durchführung der Racheaktionen. Es folgen drei Bombenattentate auf zivile Einrichtungen der Stadt. Der Höhepunkt der Schlacht um Algier ist der militärische Einsatz der französischen Armee unter dem Kommando des Generals Jacque Masssu (im Film Colonel Mathieu), der nach Algier berufen wurde, um die Organisation der FLN Partisanen in der Kasbah zu zerstören und die Kontrolle über die Kasbah zurückzuerobern. Im Januar 1957 rief die FLN zu einem Generalstreik auf, um der internationalen Gemeinschaft anlässlich der Debatte über die Algerien-Frage auf der UNO-Vollversammlung zu zeigen, dass das algerische Volk hinter der FLN stehe11. Der Streik, an dem sich die gesamte Bevölkerung der Kasbah beteiligt hatte, bot dem französischen Militär die Gelegenheit, durch zahlreiche Verhaftungen und Verhöre und unter Einsatz von Folter die aktiven Mitglieder der FLN aus den unteren Reihen der pyramidenförmigen Untergrundorganisation in der Kasbah aufzuspüren. Die Darstellung der Folter durch das französische Militär hat den Film zu einem wichtigen Medium

Film seine eigene Rolle als Si Djaffer. Yasef Saadi, der bis 1962 im Gefängnis saß, lehnte nach der Unabhängigkeit Algeriens eine politische Laufbahn in der FLN ab. Das Drehbuch zum Film von Franco Solinas basiert auf den aufgeschriebenen Erinnerungen Yasef Saadis, den Texten Frantz Fanons zur algerischen Revolution und Interviews mit algerischen und französischen Zeitzeugen. Der Film gilt als Meisterwerk des (linken) politischen Films. 1965 gewann er den Goldenen Löwen auf dem Filmfestival in Venedig. In Frankreich war er bis 1970 verboten (Breitbart 2009, 168). Ästhetisch zeichnet sich der Film vor allem durch seinen neorealistischen Stil aus, gefilmt in Schwarz-Weiss, in trübem, kontrastarmem Licht mit Teleobjektiven, die den Eindruck des dokumentarischen Blicks verstärken (Breitbart 2009, 170). Doch neben den technischen Elementen hatten vor allem auch die Laienschauspieler sowie die enge Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und Yasef Saadi zum ›Realismus‹ des Films beigetragen. 11 Zum Generalstreik und zur Schlacht um Algier siehe: Ben Khedda (2002).

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der internationalen antiimperialistischen Bewegung und der linken Opposition in Frankreich gemacht, wo der Film bis 1971 verboten war. Nur die Spitze der Organisation blieb bis zum Ende unauffindbar. Nach der Verhaftung Yasef Saadis stand der damals 27-jährige Ali la Pointe an der Spitze der autonomen Zone Algiers. Die Schlacht um Algier galt nach dem Tod Ali la Pointes als gewonnen. Die Kasbah war fortan zu einer militärisch abgeriegelten und kontrollierten Zone geworden. Erst 1960 brachen erneut Aufstände an mehreren Orten in Algier aus, darunter auch in Climat de France, die den Weg in die Unabhängigkeit bereiteten. Der Film endet mit den Bildern einer Gruppe Demonstrant*innen – Männer und Frauen, die sich den französischen Soldaten tanzend in den Weg stellen. Sie symbolisieren die Einheit und Entschlossenheit der algerischen Nation im Kampf gegen die Kolonisation. Erzählt wird der Film aus der Rückschau Ali-la Pointes, der seinen Befreiungskampf Revue passieren lässt, als er von französischen Soldaten in seinem Versteck in der Kasbah aufgespürt wird, nachdem sie ein FLN-Mitglied unter Folter zum Verrat gezwungen hatten. Das filmische Porträt Ali la Pointes beruht auf der Biografie Amar Alis, der auch Ali la Pointe genannt wurde, weil er schnell wie ein Pfeil war. Ali la Pointe repräsentiert den Typus der städtischen Armen, die Fanon als potentielle Speerspitze des Befreiungskampfes bezeichnet hatte. Durch seine Erfahrung des Überlebens in prekären Umständen, seine physischen und moralischen Stärken und seinen nicht zu brechenden Stolz zeichnet sich Amar Ali als Widerstandskämpfer aus. Besonders deutlich wird dies in der Szene, als Amar Ali beim Glücksspiel in der Straße von einer Europäerin an die Polizei verraten wird und bei seinem Fluchtversuch von einem Jungen ein Bein gestellt bekommt. Anstatt davon zu laufen, um seiner Verhaftung zu entgehen, steht Amar Ali auf und schlägt dem Jungen ins Gesicht: »Brahim Haggiag, the nonprofessional who played Ali la pointe, perfectly captures the rage of the oppressed as the camera holds on his face as he is marched off to jail.« (Breitbart 2009, 170). Während er abgeführt wird, liest der Richter seine Akte vor: Ali la Pointe. Analphabet. Mehrmals vorbestraft. Boxer, arbeitslos… Nach seinem Gefängnisaufenthalt schließt er sich dem Befreiungskampf an. Er durchläuft die Wandlung vom Kriminellen zum disziplinierten Freiheitskämpfer. Die Idee der Disziplinierung spielte eine wichtige Rolle für die Mobilisierung der städtischen Armen im Befreiungskampf: In einer Szene des Films werden die Bewohner*innen der Kasbah von der FLN aufgefordert, selbst für Ordnung zu sorgen und gegen Kriminalität, Drogen- und Alkoholkonsum vorzugehen. Ali, der früher zu den Kriminellen gehörte, wird zum Ordnungshüter – nicht der staatlichen, sondern der sich formierenden Gegen-Ordnung der FLN. Seine ehemaligen Freunde aus der Unterwelt fordert er auf, ihre Geschäfte in der Kasbah fortan zu unterlassen. Als diese ihn nicht ernstnehmen, macht er mit ihnen kurzen Prozess. Zu seinen Fähigkeiten als Widerstandskämpfer gehörten auch seine Kenntnisse des städtischen Raums und besonders der Straßen der Kasbah, die ihn zu einem

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schwierigen Gegner für die französischen Besatzer*innen machten. Ali la Pointe, der im Film und in Wirklichkeit als Märtyrer gestorben ist, hat bis heute für die Bewohner*innen des Viertels und besonders für die Jugendlichen identitätsstiftende Funktion. Als ›mutig wie Ali la Pointe‹ wurden junge Anhänger der islamistischen Bewegung in den 1990er Jahren bezeichnet (Moussaoui 2006, 197 f, Kapitel 3.4) und auch in der Hirak-Bewegung 2019 war sein Porträt auf den Plakaten der Demonstrant*innen zu sehen. Die Szene der Vorbereitung und der Durchführung der drei Bombenattentate auf Zivilist*innen in der europäischen Stadt stellt einen wichtigen Moment in der algerischen Revolution dar. Es ist der Beginn des urbanen Guerilla-Krieges (Lezra 2003, 55). Aber auch bezüglich der Rolle der Frauen im Befreiungskampf zeigt er einen Wendepunkt. Die algerischen Frauen agieren nun nicht mehr im Hintergrund, sondern im öffentlichen Raum. Das Überschreiten der Grenze von der Kasbah in die europäische Stadt ist für die algerischen Frauen zugleich eine andere Grenzüberschreitung: Das Verlassen des geschützten Elternhauses und das Ablegen des Schleiers erforderte auf psychologischer Ebene die Überwindung des eigenen inneren Widerstands, um politischen Widerstand leisten zu können (Pile 1997, 24). Die im Film in Szene gesetzte Ver- und Entschleierung der algerischen Frauen als Beispiel für die komplexen Beziehungen zwischen Macht und Widerstand in der geteilten Stadt wurde von Frantz Fanon in L’Année 5 de La Révolution Algérienne erörtert. Auch Pile (1997) und Young (2003, 85) greifen das Beispiel auf. In der Szene, in der die algerischen Frauen im Look junger Europäerinnen, die Kontrollpunkte zwischen Kasbah und europäischer Stadt mit ihren Bomben in den Körben passieren, wird der Bezug des Drehbuchs zu Fanons Schriften besonders deutlich: »Der schützende Mantel der Kasbah, der beinahe organische Sicherheits-Vorhang, den die arabische Stadt um die Autochthonen webt, zieht sich zurück und die Algerierin wird ungeschützt in die Stadt des Eroberers gestoßen. Doch schnell nimmt sie ein unglaublich offensives Verhalten an. Wenn ein Kolonisierter eine Aktion gegen den Unterdrücker einleitet, und wenn diese Unterdrückung von übersteigerter Gewalt Gebrauch gemacht hat und wie in Algerien anhält, dann muss er eine ganze Reihe von Verboten überwinden. Die europäische Stadt ist nicht einfach die Verlängerung der autochthonen Stadt. Die Kolonisatoren haben sich nicht inmitten der Einheimischen niedergelassen. Sie haben die autochthone Stadt umzingelt, sie haben die Belagerung organisiert. Jeder Ausgang aus der Kasbah führt direkt zum Feind.« (Fanon 1959, 33) Fanons Schilderung der Kasbah als schützender Mantel der Autochthonen erinnert an die Kartenzeichnung Le Corbusiers, der in seiner Zeichnung die Kasbah

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als verschleierte Frau dargestellt hatte. Doch dieses Mal ist die Ver- und Entschleierung ein Akt des Widerstands: Die Kasbah wird zum Versteck der Widerstandskämpfer*innen und die verschleierten Frauen (und als Frauen verschleierten Männer) transportieren unerkannt Waffen und Nachrichten. In der Entschleierung und im Übertreten der Grenze von der Kasbah zur europäischen Stadt beginnt ihr Widerstand: »Die Algerierin – abgesehen von ein paar wenigen Studentinnen (die übrigens nie die gleiche lässige Attitude hatten wie ihre europäischen Kolleginnen) – muss in der europäischen Stadt eine Vielzahl von inneren Tabus überwinden, subjektive Zweifel, Emotionen. Sie muss sich zugleich mit der feindlichen Welt des Besatzers konfrontieren und mit den bereiten, wachsamen und wirkmächtigen Polizeikräften. Die Algerierin muss jedes Mal wenn sie die europäische Stadt betritt, sich selbst besiegen, ihre kindlichen Ängste überwinden. Sie muss das Bild des Besatzers, das irgendwo in ihrem Geist und in ihrem Körper registriert ist, herausholen, um es umzugestalten, um mit der bedeutenden Arbeit der Erosion dieses Bildes zu beginnen, um es unwesentlich zu machen, um ihm seine Scham zu nehmen und um es zu entgöttern.« (Fanon 1959, 34) Steven Pile (1997) bezieht sich in der Einleitung zu Geographies of Resistance auf das Beispiel der Ver- und Entschleierung der algerischen Frauen, um die Möglichkeit der Subversion im hegemonialen Raum zu erklären. Die Kolonialmacht wird nicht nur durch Gewalt ausgeübt, sondern auch durch ein Wertesystem, das der Kolonisierte, auch wenn er es verachtet, anerkennen müsse. »Moreover, colonial power is partly mobilised through the imposition of a system of values, that the colonised must recognise, even while they might despise it.« (Pile 1997, 17) Doch in dieser Form der modernen Machtausübung ist Subversion eine mögliche Form des Widerstands: Das Entschleiern der algerischen Frau ist eine Form des Unsichtbar-Werdens durch das Europäisch-Werden (aus kolonialer Perspektive), welches es ihr ermöglicht, die Grenze zur modernen Stadt zu passieren. Das Ablegen des Schleiers, das aus der Sicht der Kolonialherren ein Zeichen der Assimilation12 ist, hat so die Mobilität der algerischen Frauen in der Stadt während des Befreiungskampfs erleichtert:

12 Der Schleier wurde von den Franzosen als Symbol patriarchalischer Unterdrückung betrachtet, der den Werten der französischen Zivilisation – und ihrer Mission Civilisatrice – widerspreche. Angestellte, deren Frauen den haik trugen, konnten entlassen werden. Am 13. Mai 1958 wurden algerische Frauen öffentlich, unter begeisterten Vive l’Algérie française- Rufen der Menge, entschleiert. Viele Algerierinnen, die den Schleier bereits abgelegt hatten, begannen ihn wieder zu tragen (Fanon 1958, 43). Das Tragen des haiks wurde so auch zum Ausdruck der Algerianität, der Weigerung der Assimilation und des kulturellen Widerstands gegen den Kolonialismus.

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»In this way, Algerian women could insinuate themselves into the spaces of the oppressor, under their noses, crossing across the city with a degree of ease, enabling the exchange of arms and information, establishing connections across the conquered city.« (Pile 1997, 21) Die Kolonialmacht reagierte jedoch auf die Taktiken der algerischen Frauen, verstärkte die Grenzen, und bald galten insbesondere die unverschleierten Frauen als potentielle Gefahr, was wiederum dazu führte, dass verschleierte Frauen als ›harmloser‹ galten und der Schleier somit wieder ›verschleierte‹. Mit dem Beispiel weist Pile auf die komplexen Machtverf lechtungen hin: »Fanon shows that, while the colonial authorities did attempt to designate control and purify space, their reterritorialisations of Algerian spaces were never more than partial. […] Thus, the use of the veil was guided by the spatialities of struggle: strategies for the control of space, the definitions of boundaries and exteriority; tactics for moving through spaces, (in)visibly, (un)noticed; into the veil was woven a whole universe of resistances.« (Pile 1997, 23) Die Rezeption des Films in der internationalen antiimperialistischen Bewegung, zu der sich der Regisseur Gillo Pontecorvo zählte, hat seine Absicht erfüllt, seine Solidarität mit dem algerischen antikolonialen Widerstand auszudrücken: »Resistance is the same in Algiers as it is in Paris, Turin or Milan« (zitiert in: Reid 2005, 97). Martin Luther King, Edward W. Said, die Black-Power-Bewegung und viele andere sollen den Film gesehen und gelobt haben oder hätten sich von seiner Botschaft inspirieren lassen (Whitfield 2012, Briley 2010). Gleichzeitig ist der Film in seinem neorealistischen und beinahe dokumentarischen Stil nicht nur zu einem Meisterwerk politischer Kunst geworden, sondern auch zu einem Lehrstück über den urbanen Guerilla-Krieg für Militär und Polizei weltweit (Kaufman 2003, o.S.). Die Thematisierung des algerischen Widerstands in den Schriften Frantz Fanons haben gemeinsam mit der filmischen Schilderung der Schlacht um Algier die Kasbah zu einem internationalen Symbol des antiimperialistischen Widerstands gemacht: Das ›Kasbah-Phänomen‹ (Elsheshtawy 2008, 5) steht heute für die umkämpften Geografien ungleicher Entwicklung. Die Akteur*innen der Schlacht um Algier, Yasef Saadi, Ali La Pointe und Hasiba Ben Bouali und viele andere waren damals unter 30 Jahre alt. Im folgenden Kapitel soll das Hervortreten der Jugend als politische Kraft im algerischen Befreiungskampf genauer betrachtet werden.

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2.4 Das Hervortreten der algerischen Jugend als Akteurin des Widerstands »Bleibt ruhig, die Franzosen sind zu stark; ihr werdet es nicht schaffen. Der Sohn weicht der Diskussion aus, vermeidet es zu antworten, versucht die neue Welt, die er erbaut, nicht mit den Erwartungen und der unendlichen Resignation des Vaters zu konfrontieren. Manchmal fordert der Vater, dass der Sohn ruhig bleibt, den Kampf aufgibt, zur Familie zurückkehrt und sich um die Seinen kümmert. Die Unverheirateten sollen an Heiraten denken und die Verheirateten sollen an ihre familiären Pflichten denken. Die Meinungsverschiedenheit wird aufgedeckt. Der junge Algerier sieht sich dazu gezwungen seine Position zu verteidigen, er muss seine Entscheidung vor seinem Vater rechtfertigen. Er kritisiert und verurteilt vehement die vom Vater geforderte Vorsicht. Aber es gibt keine Ablehnung und keinen Verweis des Vaters.« (Fanon 1959, 80) Fanon beschreibt in L’Année V de la Révolution Algérienne – Sociologies de La Guerre de Libération die Auswirkungen des antikolonialen Befreiungskampfes auf die Familienbeziehungen und Geschlechterrollen in der algerischen Familie (Pile 1997, 21). Der Auf lehnung gegen die Kolonialmacht war eine Auf lehnung gegen die Autorität des Familienvaters vorausgegangen, die mit der Marginalisierung der einheimischen Bevölkerung im kolonialen System zusammenhing. Auch Bourdieu beschreibt wie der algerische Vater, der seine Rolle als Ernährer der Familie nicht mehr erfüllen kann, an Autorität verliert. Die Jugendlichen, die von Arbeitslosigkeit besonders betroffen waren, leben in einer verlängerten Abhängigkeit von ihren Eltern, was zu Konf likten zwischen den Jungen und den Alten der Gesellschaft führt (Bourdieu 1963, 354). Die jungen Leute waren für die Ideen des Befreiungskampfes aufgeschlossener als die ältere Generation und wurden so zu einer wichtigen Akteurin des Widerstands wie am Beispiel des Vereinswesens gezeigt werden soll.

Die Rolle des Vereinswesens für die Mobilisierung der algerischen Jugend Die Herausbildung eines revolutionären Bewusstseins der Jugend in Algier war nicht nur das Ergebnis der Ablehnung der Kolonialmacht, ihrer Institutionen und Kultur, sondern war auch mit Prozessen der Aneignung der modernen Stadt und ihrer Institutionen (Bancel et al. 2003, Liverani 2008, Carlier 2009) einhergegangen. Algier, als Zentrum der Presse, Bildung und anderer moderner gesellschaftlicher Institutionen, insbesondere auch des Vereinswesens, spielte eine bedeutende Rolle für die Herausbildung eines Nationalbewusstseins unter der einheimischen Elite und für die Mobilisierung der Massen. In Algerien gab es schon vor

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dem Beginn der französischen Kolonialherrschaft unterschiedliche zivile Vereinigungen, die am politischen Leben teilnahmen, dazu gehörten z.B. die Zünfte, religiöse Bruderschaften (zaouïas) und die kabylischen Dorfversammlungen (Liverani 2005, 14). In Frankreich wurde die Idee zivilgesellschaftlicher Vereinigungen zur Herausbildung des modernen Bürgertums im Jahre 1901 gesetzlich geregelt. Dahinter stand die Idee, Solidarität als gesellschaftlichen Wert zu fördern. In der algerischen Kolonie galt das Vereinsgründungsrecht anfangs nur für die europäische Bevölkerung. 1904 wurden dann auch einheimische Vereine zugelassen. Eine besondere Rolle spielte die Gründung von Jugendbewegungen für die Verwirklichung kolonialer Projekte, die vor allem den pädagogischen Auftrag hatten, die neuen Generationen so zu erziehen, dass sie die Ränder des Empires verteidigen würden (Bancel et al. 2003, 7). Der integrative Gedanke des Vereinswesens in der Metropole wurde in den Kolonien von den Einheimischen übernommen und in eine oppositionelle, gegen die Kolonialmacht gerichtete Kraft umgewandelt (Bancel et al. 2003, 7). Die Bildung einheimischer Vereine war somit eine Spiegelung der imperialistischen Ideen im kolonialen Kontext. Die ersten indigenen Vereine Algeriens wurden in der Kasbah gegründet, vor allem in der unteren Kasbah, in der Nähe des Platzes der Regierung, der als erste große koloniale städtebauliche Intervention die Medina von der modernen Stadt nicht nur abgrenzte, sondern auch verband. Die Idee der modernen algerischen Zivilgesellschaft ist in der Medina, Symbol der arabisch-islamischen Traditionen, geboren. Als ein Ort, der zugleich Zentrum und Peripherie war, hatte der Platz am Fuße der Kasbah Eigenschaften, die das Entstehen ›anderer Ordnungsprozesse‹ (alternate orderings) (Hetherington 1997) begünstigten: »The Medina innovates and initiates«, schreibt Omar Carlier (2009, 64). Die in den Kolonien gegründeten Vereine spiegelten jedoch auch das System der kolonialen Teilung wider (Liverani 2008, 14). Die einheimischen Vereine bildeten im Vergleich zu den französischen Vereinen eine Minderheit und waren staatlicher Kontrolle unterworfen (Derras 2007, 17). Die europäischen Jugendvereine zählten nur sehr wenige muslimische Mitglieder. Doch mit der Gründung der ›Bewegung der jungen Algerier‹ (Mouvement des Jeunes Algériens) 1910 (Carlier 2009, 63, Liverani 2008, 14) und dem Gesetz von 1919, das der männlichen indigenen Bevölkerung mehr politische Rechte zugestand, wuchs die Zahl indigener Vereine. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 und den Feierlichkeiten zum hundertjährigen Kolonialjubiläum, die die Algerier*innen an die Demütigung des Kolonialismus erinnerten, veränderte sich das politische Klima zunehmend, wodurch die Rolle der emanzipatorischen Vereine in der algerischen Bevölkerung wuchs. »For most members, the act of joining was already perceived as the prelude to the process of becoming a citizen.« (Carlier 2009,78)

2. Koloniale Hegemonien und die Schlacht um Algier

Von Algier breiteten sich die Ideen der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen in die anderen Städte aus. Die meisten Vereine verfolgten soziale Ziele, gefolgt von Vereinen mit kulturellen und sportlichen Schwerpunkten. Die Mitglieder der indigenen Vereinigungen gehörten mehrheitlich zur einheimischen Elite (Liverani 2008, 14, Carlier 1995, 43 Icheboudene 2009a, 282f.). Diese Vereinigungen, auch wenn sie keine politischen Tätigkeiten ausübten, veränderten ihren Charakter von integrativ zu oppositionell (Derras, 2007, 14f.). Vor allem bei der Mobilisierung, Vernetzung und Organisation des Widerstands spielten die Vereine eine wichtige Rolle. Dennoch blieb der nadi (Club/Verein) ein elitärer Ort. Ihm gegenüber stand das Café, in dem sich das einfache Volk über Neuigkeiten aus den Heimatregionen und über die Politik austauschte. Das Café Malakoff in der Nähe des Platzes der Regierung ist das Herz der Sha’bi-Musik13, wo sich die Musiker*innen und Liebhaber*innen des algerischen Blues trafen: »It was a simplified linguistic and musical mode that expressed the emotions and the expectations of a generation beset by poverty and humiliation.« (Carlier 2009, 71) Am Beispiel der Bedeutung der Cafés und nadis (Clubs) als ›moderne Institutionen‹ in der Medina ist deutlich geworden, dass Orte, an denen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammenkommen, eine wichtige Rolle in politischen Transformationsprozessen spielen. Durch ihre heterogenen Bedeutungen wurden die Kasbah und insbesondere der Platz der Märtyrer ein Ort der Annäherung zwischen Eliten und dem einfachen Volk. »Both the result of urbanisation, the nadi and the café were geographically close, but socially separated: the nadi was highly exclusive and structured; the café, on the other hand, was inclusive and disorganized. Yet, in a dialectic twist, typical of much late colonial history, these two separated worlds were to be connected, by those against whom they would rise, the French.« (Liverani 2008, 15) Eine Annäherung zwischen den einheimischen Eliten und dem Volk boten z.B. die Sportvereine, vor allem die Fußballvereine, die breitere Schichten und besonders die jungen Leute anzogen. »A veritable craze for cycling, boxing and soccer developed among the Muslim male population, in particular, the lower classes.« (Ebd., 67). Die ersten Gründungen von Sportvereinen ab 1910 waren unter Wahrung der sportlichen Neutralität politisch inaktiv. Diese Ideologie verfolgte auch der 1921 gegründete Mouloudia Club d’Alger (MCA), benannt nach seinem Gründungstag am Fest der Geburt des Propheten (mulid), der bis heute zu den beliebtesten lokalen Fußballvereinen Algeriens gehört: »the club’s young members were, symbolically, the children of Muhammad and represented the future of the Muslim 13 Ein musikalisches Genre, das sich außerhalb der orthodoxen andalusischen Tradition und ohne institutionelle Rahmen (Vereine, Schulen) entwickelte.

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community.« (Ebd., 68) Das Anliegen der Sportvereine bestand darin, im Bereich der Hygieneerziehung, in der sinnvollen Freizeitbeschäftigung aktiv zu werden sowie den Gemeinschaftssinn zu fördern (Fates 2003, 153). Die von den Oulémas14 dominierten Vereine verfolgten über die disziplinierende Funktion des Sports das Ziel, die religiöse Gehorsamkeit zu festigen. Die Vereine wurden so zur ›Sittenpolizei‹ der einheimischen Bevölkerung (ebd., 153).

Die Politisierung der Vereine Erst nach dem hundertjährigen Kolonialjubiläum (1930) begannen die sportlichen Vereine, einen oppositionellen Charakter zu entwickeln: Die Jubiläumsfeiern, zu denen auch öffentliche Paraden und Vorführungen der europäischen Sportvereine gehörten, waren eine Erinnerung an die Niederlage und die permanente Demütigung der algerischen Bevölkerung. Die algerischen Sportler*innen begannen, einen oppositionell orientierten Sportgeist zu entwickeln. Durch die Aneignung des Sportes, stärkten sie die arabisch-muslimische Identität und Solidarität in Abgrenzung zu den französischen Besatzer*innen (Fates 2003, 154). Die Fußballstadien und die Unterstützung der einheimischen Mannschaften wurden so zum Training für den Befreiungskampf der unteren sozialen Schichten. Die Disziplinierung der Individuen und die strikte Durchsetzung einer moralischen Ordnung basierend auf religiösen Werten, die in den Mitgliedsordnungen und Statuten der Vereine reguliert wurden, half der Befreiungsbewegung, dass ihre Autorität im Volk anerkannt wurde (ebd., 158). Der Kampfgeist wird im sportlichen Wettkampf geweckt, das Nationalbewusstsein wird durch Arabisch- und Geschichtsunterricht und dem Singen patriotischer Lieder sowie den zahlreichen Symbolen der Vereine als Ersatz der nationalen Fahne ausgebildet. Aber auch durch die Erziehung zu Ordnung, Disziplin, Hierarchie und Gehorsam werden die Jugendlichen auf den Befreiungskampf vorbereitet. Die Vereine stärken neue Gruppensolidaritäten: An Stelle der traditionellen Verwandtschaftsbeziehung tritt die nationale, regionale, urbane oder nachbarschaftliche Gemeinschaft (ebd., 158). Die Verwandlung der selbstzerstörerischen Gewalt der Kolonisierten in die revolutionäre Gewalt, die Frantz Fanon in ›Die Unterdrückten der Erde‹ theoretisiert hat, beschreibt Fates am Beispiel der Sport-

14 Der Verein der muslimischen Oulema wurde am 5. Mai 1931 von Ibn Ben Badis gegründet. Die Oulema trug dazu bei, die algerische Identität in Abgrenzung zur Kolonialmacht durch das Leitbild ›Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache und Algerien mein Vaterland‹ im Volk zu festigen (Roberts 1988, 561).

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vereine, die über die sportliche und/oder moralische Disziplinierung dazu beitragen: »Der sportliche Wettkampf hat die Passage vom verneinten Individuum, dem Kolonisierten, zum Akteur der Geschichte ermöglicht. So wurde die sportliche Gewalt in der nationalistischen Periode schließlich in die revolutionäre Gewalt der FLN im November 1954 umgewandelt.« (Ebd., 162) Während der Fußballspiele zwischen den muslimischen und europäischen Mannschaften sowie während der inoffiziellen Eheschließungen in der Kasbah eignen sich die Algerier*innen die Stadt imaginär an, um die Idee der algerischen Nation zu verwirklichen. »What the medina lost politically in terms of initiatives and even self-esteem; it was able to recover with sports, theater, and music. As the concrete expression of a collective identity, these sociocultural initiatives constituted the civic training ground for (proto)-national sentiment.« (Carlier 2009, 73f.) Die transformative Kraft der Zivilgesellschaft ging nicht von oppositionellen, sondern vom emanzipatorischen Charakter der Vereine aus. Indem sie die muslimische algerische Gesellschaft modernisierten, veränderten sie den Status quo der Kolonialgesellschaft. Selbst die Vereine, die keinen politischen Affront gesucht hatten, z.B. die Shabiba-Schule und der Nadi Tariqi, des Gelehrten Uqbi (Carlier 2009, 72) waren den kolonialen Autoritäten ein Dorn im Auge. So war es auch von Bedeutung, dass der Nadi Tariqi seinen Sitz am Platz der Regierung hatte: »Spurred on by dynamic associations, in transition from the civic to the political, the place du Gouvernement became a space to reconquer: an ancient territory reclaimed and gradually transformed into a theater for demonstrations under the auspices of an Algerian-Muslim culture open to modernity.« (Carlier 2009, 80) Die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung lebte damals in der Kasbah. Durch ihre zentrale Lage und Nähe zum Platz der Regierung, aber auch als Ort des Austauschs und Zirkulation, durch die Nähe zum Hafen, die Märkte, Cafés und Hotels, spielte die Kasbah eine bedeutende Rolle für die Herausbildung der algerischen Zivilgesellschaft.

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Zwischenfazit Von der Zeichnung des französischen Architekten Le Corbusier, der die Kasbah als verschleierte Frau in der modernen europäischen Stadt gezeichnet hat, bis zur Subversion des hegemonialen Raums durch die Ver- und Entschleierungen der algerischen Frauen in der Schlacht um Algier, zeigt dieses Kapitel die Rolle des sozial produzierten Raums in der Herstellung und Bekämpfung hegemonialer Ordnung auf. Die Geografien hegemonialer Macht und des Widerstands sind keine einfachen, sich gegenüberstehenden Blöcke, sondern komplex miteinander verf lochtene Prozesse, durch die die Grenzen der ›geteilten‹ Stadt verf lüssigt werden. »We duly understand the geography of domination/resistance as a contingent and continuous bundle of relations; a geography that enacts a contested encounter within and between dominant and resistant practices which are themselves hybrid, rather than binary, and which are contingent upon and enmeshed within social networks, communication processes and economic relations.« (Sharp et al. 2000, 27) Und dennoch sind Überlappungen zwischen den Geografien der städtischen Armutsviertel und des Widerstands erkennbar, die auch nach der Unabhängigkeit hervortreten werden und auf die Kontinuität segregierender Strukturen in der Stadtentwicklung hinweisen (Kapitel 3 und 4). Am Beispiel der Kasbah, der Slums sowie der Grands Ensembles in der kolonialen Stadtentwicklung, wurde das Entstehen einer urbanen Unterschicht, die sich von der Arbeiterklasse des Industriezeitalters unterscheidet, und ihre Beziehung zum urbanen Raum herausgearbeitet: Ihre Alltagsgeografien sind von Prekarität und Unstetigkeit gekennzeichnet. Eigenschaften, die heute mit dem Überleben in den informellen Ökonomien neoliberaler Städte in Verbindung gebracht werden. Besonders betroffen vom strukturellen Wandel im Kolonialismus war die junge Stadtbevölkerung. Die politische Bedeutung des Informellen als Modus der Urbanisierung und Beschäftigungsfeld der städtischen Jugend wird ein wiederkehrendes Thema in den folgenden Kapiteln und zentrales Thema in Kapitel 5 sein. Die Jugend – sowohl der städtischen Armen als auch der einheimischen Elite – tritt im algerischen Befreiungskampf als wichtige Akteurin des Widerstands hervor. Ali la Pointe verkörpert die Figur des rebellischen Armen, der eine Wandlung vom Kriminellen zum militanten Widerstandskämpfer durchläuft. Am Beispiel der Sportvereine, die zugleich kompensatorische und mobilisierende Funktion hatten, wurde gezeigt, wie durch Aneignungsstrategien, die modernen Institutionen zu gegenhegemonialen Heimstätten des Widerstands insbesondere der Jugend wurden. Die Bedeutung der Aneignung von Jugendinstitutionen und zivilgesellschaftlichen Räumen nach der Unabhängigkeit wird in Kapitel 6 ausführlicher be-

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handelt. Die Disziplinierung der Körper und der Körperkult (Carlier 1995) spielten eine wichtige Rolle in der Mobilisierung der Jugend. Diese Idee wird in Kapitel 7 am Beispiel urbaner Bewegungskünste, die zu global verbreiteten Jugendkulturen geworden sind, diskutiert.

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3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend Am 5. Juli 1962 feierte Algier, ehemalige Kolonial- und zukünftige Hauptstadt des unabhängigen Algeriens, ein großes Fest: Überall in den Straßen verleihen die Menschen ihrer Begeisterung Ausdruck, schwenken die algerische Fahne, singen, tanzen bis in die Morgenstunden (Sanson 1974, 23). Das verwirklichte Ideal der freien algerischen Nation, das von antiimperialistischen, sozialistischen und islamischen Ideen geprägt war, sollte durch die ›Algerianisierung‹ der Stadt ausgedrückt werden: Straßen, Plätze und Wohnviertel werden umbenannt und arabisiert. Ehemalige Symbole der Kolonialmacht wurden durch Symbole der algerischen Revolution und der internationalen antiimperialistischen Bewegung ersetzt: Aus dem ›Platz der Regierung‹ wird der ›Platz der Märtyrer‹, aus dem ›Boulevard Front de Mer‹ wird der ›Boulevard Ernesto Che Guevara‹, aus der ›rue Randon‹, die ›rue Ali la Pointe‹ (Dris 2001, 402f.). Die Übernahme der Stadt ist eine Übernahme der Macht (Sanson 1974). Die ehemalige Kolonialhauptstadt wird zur Hauptstadt des unabhängigen Algeriens umgestaltet (Çelik 1997, 185, Hadjri & Osmani 2004), in der die Ziele der FLN-Regierung, erst unter dem Präsidenten Ben Bella und dann unter dem Präsidenten Boumedienne repräsentiert werden: Die Einheit und der Fortschritt der algerischen Nation auf der einen Seite und ihre Solidarität mit der internationalen antiimperialistischen Bewegung auf der anderen Seite sollten städtebaulich umgesetzt werden. Die algerische Regierung hatte dem Volk eine bessere Welt versprochen (Benkheira 1990, 4). Die versprochene bessere Welt war eng verknüpft mit der globalen postkolonialen Bewegung, die sich gegen die hierarchisierende Politik des Westens richtete, die Gleichheit aller Völker und Menschen verteidigte und eine neue Vorstellung von Fortschritt und Moderne entwickelte. Diese Ambitionen sollten durch ein sozialistisches System mit ›algerischer Besonderheit‹ unter der Regierung der FLN verwirklicht werden. Ein Ereignis, das die postkolonialen Ideale besonders symbolisiert, ist das Panafrikanische Festival von 1969, demselben Jahr, in dem in den USA das Woodstock-Festival stattfand. Miriam Makabo und viele Musiker*innen aus den neuen afrikanischen Staaten waren nach Algier gekommen. Neben den Konzerten fanden auch Konferenzen und Lesungen statt.

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Doch in der algerischen Hauptstadt wurde das Ideal der Gleichheit nach der Unabhängigkeit nicht eingelöst. Die kolonialen Strukturen der Segregation prägten die Stadtentwicklung auch nach der Unabhängigkeit, und bald entstanden neue sozialräumliche Grenzen: Aus dem Kampf um die Stadt wurde ein Kampf in der Stadt mit neuen Exklusionsmechanismen und neuen Forderungen nach dem ›Recht auf die Stadt‹ (Kapitel 3.1). Die Regierung versuchte zwar über Bildungsinstitutionen und nationale Jugendorganisationen, die junge Bevölkerung zu integrieren (Kapitel 3.2), doch weckten die wachsenden Ungleichheiten und Korruption in den Regierungseliten die Empörung der Jugendlichen. Nach der Oktoberrevolte von 1988 (Kapitel 3.3) geriet die Jugend durch ihre Mobilisierung in der islamistischen Bewegung ins Spannungsfeld politischer Kämpfe (Kapitel 3.4).

3.1 Das Recht auf die Stadt als postkoloniales Ideal Das Ende 132-jähriger Kolonialherrschaft bedeutete für die Hauptstadt eine radikale Wende und stellte die unabhängige Regierung vor große stadtpolitische Herausforderungen: In kurzer Zeit verließen etwa 400 000 europäische Siedler*innen, die etwa die Hälfte der Einwohner*innen ausmachten, die Stadt. Auch die Stadtverwaltung, die Banken und Geschäfte waren auf einmal ›unbesetzt‹. Algier befand sich in einer ›Vakanzsituation‹ (Chabou 2005, 93). Das Besetzen der privilegierten Positionen in staatlichen Institutionen und im Raum – der Villenviertel – ging mit dem Streben nach politischem und sozialem Einf luss einher (Sanson 1974). Die Übernahme der Stadt war daher eng an die Übernahme der Macht gebunden. Die Stadt versprach der einheimischen Bevölkerung, am ›Fortschritt‹ teilzuhaben, von dem sie im kolonialen System ausgeschlossen war. Die Bewohner*innen der Kasbah und der Bidonvilles an den Stadträndern sowie die Landbevölkerung drängten in die von den Siedler*innen verlassenen Viertel. Die ersten beiden Jahre vollzog sich die Besetzung der Stadt ohne staatliche Regulierung: »Das Fest dauerte zwei Jahre. In dieser Zeit lebten der (zukünftige) hohe Beamte und der (zukünftige) Arbeitslose auf dem gleichen Gang. Während dieser zwei Jahre vergaßen die neuen Mieter was Miete bedeutete, niemand stellte ihnen irgendetwas in Rechnung. Die nicht vorhandene Verwaltung des nationalen Erbes und vor allem die fehlende Organisation führten zur Degradierung des beinahe gesamten Wohnungsbestandes.« (Lesbet 1985, 59)

3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend

Die Investitionen in den Wohnungsbau waren in den ersten Jahren der Unabhängigkeit im Vergleich zu den Investitionen in den repräsentativen Städtebau und in die Wirtschaft gering. Algiers Rolle als neue Hauptstadt des unabhängigen Algeriens brachte besondere Herausforderungen für die Stadtplanung mit sich: Die Unterbringung der Diplomaten, Funktionäre und des Militärs, die Niederlassung der Sociétés Nationales (SONA) in der Hauptstadt (Lesbet 1985, 60f.), ebenso wie die Errichtung nationaler Monumente, insbesondere der Erinnerung an die Revolution. Nach dem Abzug der französischen Verwaltung lag die Stadtplanung in den Händen der FLN Regierung. Die erste Regulierungsmaßnahme des Immobilienwesens fand am 29. Dezember 1964 statt: Über Radio und Fernsehen rief der Staat die neuen Bewohner*innen der Immobilien dazu auf, diese zu deklarieren und je nach Größe der Wohnung, der Höhe des Familieneinkommens und der Anzahl der Familienmitglieder eine Miete festzulegen. Der algerische Staat eignete sich damals allein in Algier 102 195 Wohnungen und 11 996 Geschäfte an (Lesbet 1985, 59). Es folgten neue Gesetze und Regelungen, die vor allem dazu geführt haben, dass Ungleichheiten in Abhängigkeit von Beziehungen zu den Mächtigen verstärkt wurden (Lesbet 1985, 59). Der vorhandene Wohnraum der ehemaligen Kolonialstadt reichte bald nicht mehr aus. Die Stadt versprach Wohnung, Arbeit, Bildung, aber auch Ansehen, Fortschritt und ein modernes Leben mit Komfort und Freizeit. Aber nicht überall in der Stadt fanden die Bewohner*innen diese Versprechen erfüllt. Die Unterschiede zwischen den Vierteln strukturierten soziale Positionen, so dass aus dem Kampf um die Stadt, ein Kampf in der Stadt und um die Viertel wurde (Sanson, 25f.): Zwischen 1966 und 1970 waren über 440 000 Menschen aus den umliegenden Dörfern in die Stadt gezogen, die die leer gewordenen Immobilien besetzt hatten (Hadjri & Osmani 2004, 44). Der Einwohnerzensus von 1966 erfasste 943.551 Einwohner*innen (Lesbet 1985, 57). Trotz der anfänglichen sozialen Heterogenität, die aus der unkontrollierten Besetzung der Stadtviertel in den ersten beiden Jahren der Unabhängigkeit resultierte, wurden die ehemals ethnischen Grenzen bald durch soziale ersetzt (Semmoud 2003, 500). Die Regierung setzte das Prinzip der sozialräumlichen Trennung fort, indem es die Mietpreise in den Vierteln und somit die sozialen Strukturen der Viertel regulierte (Semmoud 2003, 504). Im Jahre 1974 wird der Grundbesitz verstaatlicht und die Grande Commune d’Alger in kommunale Volksversammlungen, die Assemblées Populaires Communales (APC), geteilt, die als Volksvertretung für die Verwaltung der Stadt zuständig sein sollten. Die APC erreichte jedoch gegenüber der zentralen Staatsmacht wenig Autonomie, und auch wegen der mangelnden Fachkenntnisse der Verwaltungsangestellten verlor sie bald an Vertrauen und Ansehen. Die Beziehungen zwischen dem Staat als Immobilienbesitzer und den Stadtbürger*innen wurde von pater-

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nalistischen Beziehungen dominiert. Um Zugang zu den guten Vierteln zu bekommen, waren Beziehungen notwendig und in einem guten Viertel zu wohnen, bedeutete, gute Beziehungen zu haben. Die Immobilienfrage und das Grundbesitzrecht wurden in Algerien zu einer politischen und umkämpften Angelegenheit (Lesbet 1985, 60). Zwar hat die Regierung immer wieder versucht, die Wohnraumproblematik durch den massiven Bau von Wohnsiedlungen, die Zones d’Habitat Urbain Nouvelle (Sidi Boumedine 2002), in verschiedenen Formen des sozialen Wohnungsbaus in den Griff zu bekommen, doch sei die Vergabe dieser Wohnungen der Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb der Verwaltung ausgesetzt. Das ›Wohnungsproblem‹ in Algerien gilt als Zeichen für die Widersprüchlichkeiten der algerischen Politik, die sich an sozialistischen Ideen orientierte und das Wohl der Menschen versprach, in der Praxis jedoch vor allem Klientelpolitik betrieb. Diese Widersprüche sollten sich mit dem Ende der sozialistischen Ära unter Boumedienne, der im Dezember 1978 starb, weiter verstärken. Trotz des Reformprogramms ›Pour une vie meilleure‹ (für ein besseres Leben) der frühen 1980er-Jahre unter der Regierung Bendjedids, verstärkten sich die Ungleichheiten und damit die Marginalisierung großer Teile der Stadtbevölkerung (Madani 2002). Auch die Kasbah wurde nach der Unabhängigkeit trotz ihrer symbolischen Bedeutung als Zentrum der Macht der FLN während des Befreiungskrieges abermals zu einem marginalisierten Stadtviertel (Popelard & Vannier 2010). Die Einwohnerzahl der Kasbah betrug in den 1980er-Jahren zwischen 80 000 und 100 000 Einwohner*innen. Sie gehörte damit auch nach der Unabhängigkeit zu den dicht bewohntesten Orten der Welt (Lesbet 1985, 7). Bereits zwei Monate vor der offiziellen Erklärung der Unabhängigkeit fanden erste Migrationen von der Kasbah in die bereits verlassenen leeren Gebäude/Wohnungen der europäischen Viertel statt. Doch die Mehrheit der meist armen Bewohner*innen der Kasbah hatte sich an die Anweisungen der FLN gehalten (Lesbet 1985, 57f.), auf die Vergabe von Wohnungen zu warten, da sie großes Vertrauen in die neue Regierung gesetzt hatten (Lesbet 1985, 58). Auch nach der Unabhängigkeit bedeutete die Ankunft in den Städten für die Landbevölkerung eine Konfrontation mit einem neuen Lebensstil (Boutefnouchet 2004, Roberts 2002). Das galt bis zu einem gewissen Grad auch für die Bewohner*innen der arabischen Altstädte und der Bidonvilles, deren räumlichen Strukturen dem traditionellen Lebensstil der Gemeinschaft angepasst waren, die in die von den Europäer*innen verlassenen modernen Stadtviertel gezogen waren und sich in den neuen Wohnungen fehl am Platz fühlten: »Jedes Mal wenn man bei sich zu Hause hereinkam, hatte man das Gefühl bei dem Anderen, dem Fremden zu sein, der selbst in seiner Abwesenheit, seine Lebensweise aufdrängte.« (Lesbet 1985, 58).

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Dennoch führte der Umzug in die moderne Stadt nicht einfach zur Auf lösung der Großfamilie, sondern zu einer Umorganisation des Zusammenlebens. Die Wohnraumknappheit in der Stadt erforderte oftmals das (unfreiwillige) Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach (Safar-Zitoun 1997, 250-256). Die Aufteilung des Hauses unter mehreren Familien oder die Vermietung einzelner Zimmer an ›Fremde‹ schränkte die Gemeinschaftsräume und besonders den sozialen Raum der Frauen ein, z.B. durch Auf bauten auf den Terrassen, die früher den Frauen zur Verfügung standen. Die zunehmende Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung bei wachsenden Ungleichheiten zwischen dem Volk und den Regierenden, die in der Hauptstadt als Zentrum der Macht und Eliten besonders deutlich wurde, leitete die Krise der 1980er-Jahre ein.

Nationale Krise und globale Transformationen Gegen Ende der 1970er-Jahre begann sich eine wirtschaftliche und politische Krise anzubahnen, die sich durch interne und externe Ereignisse in den 1980er-Jahren zuspitzte. Der Tod des zweiten Präsidenten Boumedienne im Dezember 1978 kündigte den Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems in Algerien an. Die wachsende Auslandsverschuldung bewegte die algerische Regierung unter Chadli Bendjedid dazu, ab 1982 Reformen durchzuführen und sich an den strukturellen Anpassungsprogrammen (SAP) des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu orientieren, jedoch im Unterschied zu Tunesien und Marokko noch keine Verträge eingehen zu müssen (Layachi 1996, Dillman 2001). Im Zuge der strukturellen Restrukturierung zog sich der Staat zunehmend zurück und schwächte damit seine paternalistische Rolle in den sozialen Bereichen. Die soziale Ungleichheit begann in der Transformationszeit zu wachsen, was damit zusammenhing, dass die Deregulierung eigentlich eine Form der ›Re-Regulierung‹ war, die es den herrschenden Eliten ermöglichte, ihre Macht zu behalten, indem sie bestimmten, wer von der wirtschaftlichen Liberalisierung profitierte (Dillman 2001, 202). Besonders die sinkenden Ölpreise 1985/1986 und die damit einhergehenden Verluste an Staatseinnahmen verschärften die sozialen Unterschiede. Die Mehrheit der Bevölkerung war von steigenden Lebensmittelpreisen, Arbeitslosigkeit und Warenknappheit betroffen. Der enge Kreis der Mächtigen (le pouvoir) und besonders die Familie des Präsidenten Chadli hingegen lebte in Luxus und Überf luss (Werenfels 2007, 35) und die Maßlosigkeit der Mächtigen weckte die Wut derer, die von Wohlstand und Fortschritt ausgeschlossen waren. Von Interesse für die vorliegende Arbeit ist hier vor allem die Situation der Jugend, die von der Krise besonders betroffen war und sich zunehmend von der ›Novembergeneration‹ (Werenfels 2007, 78) distanzierte.

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Die 1981 eingeleitete Liberalisierung des Immobilienmarktes sollte die Verantwortung des Staates bei der Stadtplanung einschränken. Ausschlaggebend war die verheerende Wohnungssituation: Die Wohnraumdichte war in Algier mit nur 7,5 qm pro Einwohner*innen weit unter den von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebenen Normen (16-20 qm pro Einwohner*innen) im gesundheitskritischen Bereich (Semmoud 2003, 507). Durch die Liberalisierung des Immobilienwesens wurde nun neben der staatlichen Verwaltung der Markt eine neue Regulierungs- und damit auch Exklusionsmacht (Safar-Zitoun 1997, 9). Die während der Kolonialzeit entstandenen Slums (Bidonvilles) hatten sich nach der Unabhängigkeit weiter in den Zwischen- und Randräumen der Stadt ausgebreitet. Aber der informelle Wohnungsbau betraf bei Weitem nicht nur die Slums. Im Jahre 1987 ermittelte das Ministerium für Urbanistik, dass ein Viertel aller Bauten auf nationaler Ebene ohne Baugenehmigung errichtet worden war. Im Zuge des Restrukturierungsprogramms der Weltbank waren die informellen Bauten ein wichtiges Thema: Während viele der informellen Bauten reguliert wurden, sollten die Slums aus dem Stadtbild verschwinden und ihre Bewohner*innen zurück in ihre Herkunftsdörfer zwangsumgesiedelt werden. 1983 wurde eine große Aktion zur Zerstörung der Bidonvilles eingeleitet. Besonders die zentral gelegenen Bidonvilles befanden sich auf wertvollem Boden. Außerdem symbolisierten sie das Scheitern des Fortschritts, und somit das Scheitern der Versprechen, die der Staat den Menschen nach der Unabhängigkeit gegeben hatte. Im Zeichen der erfolgreichen Entwicklungspolitik sollten sie daher aus dem Stadtbild entfernt werden. Um die Aktion zu rechtfertigen, hatte das staatliche Fernsehen im Voraus Sendungen ausgestrahlt, in denen die Bidonvilles als Brutstätten von Armut, Gewalt und Epidemien dargestellt wurden. Die diskursive Konstruktion der Slums als ›gefährliche Orte‹ wird zu einem Mechanismus der Ausgrenzung und Verdrängung. Besonders die Integration der zugezogenen Landbevölkerung in den Slums sei gescheitert. Dabei hatte eine Studie des Institut de Géographie d’Alger 1981 aufgezeigt, dass 78,6  % der Slumbewohner*innen aus den zentralen Vierteln der Hauptstadt aus Platzgründen in die informellen Siedlungen gezogen waren und dass nur 5,4  % der aktiven Bevölkerung dort arbeitslos waren (Semmoud 2003, 508). Die ›Zugezogenen‹, ob in den Slums, den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus oder in der Kasbah, sind die neuen ›Anderen‹ in der unabhängigen Stadt. Im Jahre 1988, dem Jahr der großen nationalen Krise, überstieg die Zahl der Neuankömmlinge in der Stadt die der ›echten‹ Städter, schreibt beispielsweise Boutefnouchet (2004, 80). Die Theorie der ›Rurbanisierung‹ widerspricht der Feststellung von Safar-Zitoun (1997), dass im Jahre 1987 nur 2 % der Bevölkerung Algiers von außen zugezogen sei. Die unterschiedlichen Angaben resultieren aus unterschiedlichen Definitionen der ›echten Städter‹ und der ›Zugezogenen‹. Die Definition eines echten Städters in Abgrenzung zu den Zugezogenen ist immer

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auch eine Frage der Macht, mit der das ›Recht auf die Stadt‹ ausgehandelt wird. Im Falle der Zerstörung der Bidonvilles beispielsweise sollte der Diskurs über den Exodus vom Land die Zerstörung der Slums und die Zwangsumsiedlung ihrer Bewohner*innen in ihre Heimatregionen rechtfertigen. Als ›Zugezogene‹ hatten die Bewohner*innen keinen Status als Stadtbürger*innen und somit auch kein ›Recht auf die Stadt‹. In der Kasbah hingegen ist der Status als ›echte Kasbadjis‹ ausschlaggebend für das Recht auf staatlich geförderte Umsiedlung in Neubaugebiete, die Komfort und einen modernen Lebensstil versprechen (Sebih 2007, Icheboudene 2010). Der Status, ein ›echter Städter‹ zu sein, spielt aber auch im informell geregelten Erwerb von Verkaufsplätzen im Straßenhandel eine Rolle, wo die Zugehörigkeit zum Viertel ausschlaggebend für die Vorrechte auf die Plätze ist (Kapitel 5). An einer der Stellen, an der sich einst ein Bidonville in der Nähe des Viertels Diar el-Mahçoul befand, wurde Anfang der 1980er-Jahre das größte nationale städtebauliche Projekt realisiert, das den Übergang von der sozialistischen zur freien Marktwirtschaft symbolisiert: Riadh el-Feth, der Park des Sieges, eine öffentliche Anlage, die ein Shoppingzentrum, Kunst- und Kulturangebote, Restaurants, Kinos und das Mahnmal der Märtyrer mit dem angeschlossenen Museum der Armee und der Märtyrer und einer unterirdischen Märtyrer-Gedenkkuppel im Stil des Felsendoms in Jerusalem verbindet. Durch die von einem kanadischen Architekturbüro entworfene multifunktionale Anlage sollte Algier ein neues Zentrum neben der Kasbah und der Kolonialstadt bekommen, das das Bild Algiers als moderne Metropole verkörperte und den Algerier*innen, die für die Freiheit Algeriens gekämpft hatten, mit einem gigantischen Monument huldigte. Die Anlage wurde aber aus ökonomischen und ideologischen Gründen kritisiert und somit zum Spiegel der sozialen und politischen Spannungen der Transformationszeit (Dris 2001, 260-275). Angesichts der Krise und wachsender Arbeitslosigkeit, die zwischen 1985 und 1987 von 15 % auf 22 % gestiegen war (Safar-Zitoun 1997, 222) sowie steigender Lebenshaltungskosten konnte Algier seine Versprechen des ›Fortschritts‹ für große Teile der Bevölkerung nicht einlösen. Die verarmte Mittelschicht und die zugezogene Landbevölkerung bildeten gemeinsam die neuen Armen der Städte (Abada 1999, 249). Safar-Zitoun spricht von einer neuen Geografie der Prekarität (1996, 222). Die Verteilung der Arbeitslosenrate auf die jeweiligen Stadtviertel zeigt eine fragmentierte Ungleichheit. Überraschenderweise fällt die Arbeitslosenquote in einigen Vierteln, beispielsweise in den Slums und in den historischen Arbeitervierteln (quartiers populaires), relativ niedrig aus. Viele der arbeitssuchenden Jugendlichen aus diesen zentral gelegenen Stadtteilen haben im informellen Han-

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del1 mit importierten Produkten eine Einkommensquelle gefunden (Safar-Zitoun 1997, 224f.). Die Straßenwirtschaft als Teil der informellen Ökonomie, die ihren Ursprung bereits in der Kolonialzeit hatte, breitet sich seit den 1980er-Jahren aus und prägt bis in die Gegenwart zunehmend das Stadtbild (Chabou 2004). Die Informalisierung der Wirtschaft in Algerien sei eine Folge der Liberalisierung in der Transitionszeit gewesen (Hammouda 2006, 111). Das nichtregulierte Kleinunternehmertum im Bereich des Wohnungsbaus und des Straßenhandels hatte sich in der Übergangsphase von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft als Form der sozialen Abfederung gegen Arbeitslosigkeit und Warenknappheit in der Stadt ausgebreitet (Chabou 2005, 141-149). Die ›untätigen‹ Jugendlichen, die im kolloquialen Arabisch als hittistes (von arab. hait/Mauer) bezeichnet werden, verwandelten sich in tätige trabendistes, reisende Händler*innen, die ihre Waren im Ausland (Maghreb, Europa, Türkei) einkauften und in Algier weiterverkauften (Chabou 2005, 102f.). Hammadou betrachtet das Hervortreten des Informellen als die gesellschaftliche Antwort auf die Mängel des formellen Sektors, sowohl im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommensmöglichkeiten als auch im Hinblick auf die soziale Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen (Hammouda, 2006, 112). Die Ausbreitung der Trabendo-Wirtschaft wird von Layachi als Zeichen des Versagens der algerischen Politik und der verbreiteten Korruption und der Vetternwirtschaft gedeutet (Layachi 1996, 148). Die Ausbreitung des Informellen beförderte die Autonomisierung großer Teile der Stadtbevölkerung und ermöglicht den ärmeren Schichten den Zugang zur oder das Bleiben in der Stadt. Die Ausbreitung des Informellen im öffentlichen Raum wurde auch in Hinsicht auf die Bedeutung der Straße als Protestraum in den 1980er-Jahren relevant: Die hohe Wohnraumdichte in den städtischen Armutsgebieten führte in Zusammenhang mit der traditionellen Gendersegregation im urbanen Raum dazu, dass die öffentlichen Räume nicht nur ökonomische, sondern auch soziale Bedeutung für die Männer dieser Viertel hatten, die sich in den Straßen, auf den öffentlichen Plätzen trafen, austauschten und eben auch solidarisierten. Zu den städtischen Armen Algiers gehörte auch die neue Generation der diplomierten Hochschulabgänger*innen und Teile der Mittelschicht, die mehr vom Leben erwarteten als das alltägliche über die Runden kommen. Im starken Kontrast zu den informellen und marginalisierten Räumen standen die privatisierten Räume der elitären Gesellschaft (Mitglieder der Regierung, des Militärs und ihrer Begünstigten), die sich von der Mehrheit der Bevölkerung im städtischen Raum abgrenzten und zurückzogen. Die elitäre Jugend, die in Algerien unter der Bezeichnung la Tchi-Tchi bekannt ist, führte damals einen Le1 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen und der Entwicklung des Informellen im algerischen Kontext siehe: Chabou (2004), 131-149; Hammouda (2006), 80-85.

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bensstil, der sich an Werten des Konsums und des Individualismus orientierte. Der elitäre Lebensstil zeigte sich beispielsweise im Entstehen halb-privatisierter Freizeit-Räume: Strände, Diskotheken und Kinos, deren Zugang über ›die nationale Karte (la carte nationale)‹, einem Partei- oder Militärausweis geregelt wurde. Die räumliche Sichtbarwerdung dieser Privilegien weckte die Wut der von den Privilegien Ausgeschlossenen. Repräsentationen der geteilten Stadt basieren auf dichotomen Beschreibungen: arabisch/französisch, traditionell/modern, religiös/ säkular. Die gesellschaftlichen Unterschiede werden durch solche Darstellungen wirksam: Die wachsende Kluft in der Gesellschaft führte zu Polarisierung und Politisierung von Identitäten. Zusammenfassend lässt sich für die Stadtentwicklung in Algier in den 1980er-Jahren feststellen, dass die Zahl der Stadtbewohner*innen weiter stieg, die Stadt zunehmend das Hinterland »kolonisierte« (Safar-Zitoun 1997, 231) und ihre Fläche ausdehnte: 1970 betrug die Fläche 7500 Hektar und 1990 betrug sie 25 000 Hektar (Hadjiri & Osmani 2005, 50). Durch die Verlagerung der Produktionsstätten fanden Prozesse der Rurbanisierung also nicht nur vom Land in die Stadtränder, sondern auch von der Stadt ins nahe Umland statt. Festgehalten werden muss an dieser Stelle auch, dass der städtische Raum aufgrund seiner Knappheit und der damit verbundenen Wertsteigerung zunehmend Gegenstand politischer Auseinandersetzungen wurde. Der Rückzug des Staates aus dem Sozialen bei gleichzeitiger Zuspitzung der Wirtschaftskrise sowie die Infragestellung der Legitimität der Regierung, der vor allem mangelnde Kompetenz und Korruption vorgeworfen wurde, bereitete den Bruch zwischen der Regierung und vor allem der jungen Bevölkerung vor, der als ›5. Oktober 1988‹ in die algerische Geschichte einging. Um die Ereignisse vom Oktober 1988 als ›Empörung der Jugend‹ zu verstehen, soll an dieser Stelle der Platz der Jugend in der Politik der FLN zwischen 1962 und 1988 erläutert werden.

3.2 Die Algerische Jugend in der Politik von 1962 — 1988 Die Wut auf den Staat und besonders auf seinen Verwaltungsapparat hing nicht nur mit der Wirtschaftskrise, sondern auch mit der wirtschaftlichen und politischen Transformation Algeriens seit der Unabhängigkeit zusammen, die viele Funktionäre in Ämter beförderte, für die sie nicht die erforderliche Befähigung mitbrachten, während junge Menschen mit Hochschulabschlüssen ohne Arbeit geblieben waren. Die soziale, politische, administrative und wirtschaftliche Elite wurde als »Frucht eines Systems ohne Regeln« (Boukhoubza 2009, 242) und somit als illegitim betrachtet. Die Wirtschaftskrise sowie wachsende Undurchsichtigkeiten in der Politik und Verwaltung der Stadt führten zunehmend zur Spaltung zwischen der Elite (Werenfels 2007) und dem Volk – zwischen dem hagar (Unter-

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drücker) und dem mohgar (Unterdrückten). Das Empfinden von al-hogra (von arab. haqara; verächtlich sein), ein Ausdruck, der im algerischen Arabisch die Erfahrung von Ungerechtigkeit, Willkür, Unrecht und Machtmissbrauch bezeichnet, wird in Krisenmomenten des unabhängigen Algeriens zum politischen Slogan: Non à la hogra (Nein zur hogra), La harga plutôt que la hogra, besser die Auswanderung als die Unterdrückung (Blidi, El Watan, 07.6. 2012)2. Die hogra zu denunzieren bedeutet, soziale Ungleichheiten innerhalb der algerischen Gesellschaft abzulehnen und ein auf Gerechtigkeit beruhendes Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten einzufordern. Die Forderung und Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit können als Werte der algerischen Revolution verstanden werden, durch die Erfahrung der hogra im kolonialen System. Algiers lange Geschichte der Fremdherrschaft habe dazu geführt, dass Herrschaft auch nach der Unabhängigkeit als fremd wahrgenommen wird (Sadiki 2009, 215f.). Ende der 1980er-Jahre hatte sich das Leben in den Städten für große Teile der Bevölkerung so drastisch verschlechtert, dass im Zusammenhang mit der kulturellen und politischen Krise eine Explosion unausweichlich wurde. Als in der Nacht zum 5. Oktober 1988 die ersten Unruhen der sich abzeichnenden Oktoberrevolte begannen, herrschte Einigkeit über das ›Profil der Akteure‹, dass es vor allem junge Männer waren, die in den Straßenunruhen ihrer Wut und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen hatten: »Die Revolte des einfachen Volkes, insbesondere der Jugend.« (Djilali 2002, 41). Der 5. Oktober wird in der algerischen Sozialforschung und in den Medien als (Wieder-)Geburt der ›algerischen Jugend‹ und als Bruch zwischen Regierung und Volk dargestellt, durch den die aus dem Befreiungskrieg hervorgegangene Einheitspartei FLN ihre Legitimität verlor. »Eine Regierung, die sich als national erklärt, muss die Gesamtheit der Nation auf sich nehmen, und in den unterentwickelten Ländern stellt die Jugend einen ihrer wichtigsten Sektoren dar.« (Fanon 1981[1961], 171) Schon vor der algerischen Unabhängigkeit hat Frantz Fanon in ›Die Verdammten dieser Erde‹ (Fanon 1981[1961]) auf die Herausforderung der Jugend in den postkolonialen Ländern aufmerksam gemacht und ihre Bildung und Integration als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der unabhängigen Nationen ehemaliger Kolonien hervorgehoben. Die Jugend war als wichtige Akteurin im algerischen Befreiungskampf hervorgetreten (Kapitel 2.5). Aus den meist noch jungen Kämpfer*innen der FLN wurde später die Regierungselite im unabhängigen Algerien. Um auch weiterhin die Jugend für die Unterstützung des nationalen Projektes und die Verwirklichung der Revolution zu gewinnen, verfolgte die FLN eine Politik der Einbettung und Betreuung der Jugend: 2 »hogra: Verachtung, Ungerechtigkeit und Arroganz, die von Allen, die eine selbst, wenn nur geringe Machtposition innehatten, verübt wird. Im Sinne von Machtmissbrauch.« (Dris 2001, 396); siehe auch: Le Saout 1999, 62f.

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»Eine gut organisierte Jugend wäre ein wirkliches Ferment, das, wenn es bewusst genutzt wird, für die Errichtung des Landes und von den sozialistischen Idealen getränkt ist, eine unbezahlbare Unterstützung sein könnte. Wenn sie jedoch sich selbst überlassen wird, könnte sie viele Schwierigkeiten verursachen, deren Ausmaße unvorhersehbar sind.« (Auszug aus der Charta von Algier, 1964, zitiert in: Rarrbo 1995, 66) Die ›integrierte‹ Jugend ist für die Fortführung der Revolution entscheidend. Die Jugendpolitik hat die Aufgabe, die politische und ideologische Erziehung und Bildung der Jugend zu übernehmen. Um eine sozialistische Gesellschaft zu formieren und die revolutionären Traditionen zu wahren, müsse die FLN der neuen Generation die Verantwortung für die nationalen Werte und den Esprit der Novemberrevolution vermitteln (Fates 1990, 62). In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit musste sich die Regierung mit der Übernahme und der Transformation der geerbten Strukturen des Kolonialismus befassen. Die Einschulung junger Algerier*innen gehörte zu ihren größten Herausforderungen (Rarrbo, 1995, 99). Im Gegensatz zum kolonialen Schulund Bildungssystem sollte die Bildung im unabhängigen Algerien auch über die Grundschulausbildung hinaus allen Kindern unabhängig von sozialer Klasse und geografischer Herkunft zugänglich gemacht werden (vgl. Elsenhans 1977, 82-92, Rarrbo 1995, 93-126). Ein Viertel des nationalen Budgets wurde seit der Unabhängigkeit für Bildung ausgegeben (ebd., 98) mit dem Ziel, die Entwicklung einer modernen Gesellschaft als Voraussetzung für den Fortschritt Algeriens zu befördern. Die Institutionen Schule und Medien hatten in den ersten zwanzig Jahren seit der Unabhängigkeit den Auftrag, ein Bild der algerischen Jugend zu vermitteln, das im Einklang mit der nationalen Kultur, basierend auf sozialistischen Werten und dem in der nationalen Charta verankerten Prinzip der Tawahid (Einheit) stand: »Arabisch ist meine Sprache, Algerien mein Vaterland und der Islam meine Religion.«3 (Ben Badis, zitiert in: Rarrbo 1995, 104) Eines der wichtigsten Werkzeuge für das Vorhaben der ›Algerianisierung‹ der Gesellschaft war die Arabisierungspolitik: 1965 wurde Arabisch die einzige nationale Sprache und ihr Gebrauch in der Öffentlichkeit wurde vorgeschrieben. Die Mehrsprachigkeit wurde ignoriert und unterdrückt. Für die Schüler*innen und Student*innen brachte die Arabisierungspolitik anfangs viele Schwierigkeiten mit sich, und die Zahl der Schulabbrecher*innen war alarmierend. Als Folge davon wurden die jungen Algerier*innen zu ›zweisprachigen Analphabeten‹ (Rarrbo 1990, 182). Die Diskrepanz zwischen 3 Ben Badis, der der islamischen Reformbewegung angehörte und 1931 die Bewegung der Oulema gründete, hatte sich während der Kolonialzeit für den Unterricht der arabischen Sprache und die Unabhängigkeit der algerischen Nation eingesetzt. Das von ihm formulierte Leitprinzip der algerischen Nation ging in die nationale Charta von 1964 ein.

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Sprachpolitik und Sprachpraxis trug zur Spaltung zwischen dem Volk und den Regierungseliten bei. Die Arabisierung wurde zu einem Mechanismus der Ausgrenzung, da Französisch eine der Voraussetzungen für das Erreichen wichtiger Positionen war (Werenfels 2007, 85). Die sprachliche Segregation der Bevölkerung in Arabischsprachige und Französischsprachige zeigte Überlappungen mit der räumlichen Segregation in Villenviertel (quartiers résidentiels) und Armutsviertel (quartiers populaires) auf (Hecking und Knauer 2006). Die quartiers populaires werden als arabischsprachige Viertel bezeichnet, während z.B. in Hydra, dem Villenviertel par excellence, die französische Sprache weiterhin sehr verbreitet ist (Djerroud 2009). Die Sprachenfrage wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend von der Identitätspolitik der Berberbewegung und der islamistischen Bewegung politisiert. Während es in der Berberbewegung um die Anerkennung der Berbersprachen ging, wurde die Verbreitung der französischen Sprache in der Islamistischen Bewegung als neo-koloniale Politik der ›Hizb Fransa (französischen Partei)‹ (Werenfels 2007, 52) betrachtet. Die Regierung bewertete die Bildung als nationale Aufgabe, als Fortführung oder Erfüllung der Ziele des Befreiungskampfes und seiner Ideologie. Während die gebildete Jugend als Hoffnungsträger der Nation betrachtet wurde, wurde ihr die marginalisierte Jugend gegenübergestellt: Schulabbrecher*innen oder gesellschaftlichen Versager*innen wurden Schuldgefühle gegenüber der Generation der Befreiungskämpfer*innen vermittelt. Das ›nationale Projekt‹ lastete auf den Schultern der Jugend (Rarrbo 1990, 105). Der Auftrag der Jugendpolitik besteht darin, die Werte der Generation vom November 1954 an die neue Generation weiterzugeben, die den Befreiungskrieg nur aus den Erzählungen der Älteren kennt und daher weniger Bezug zu den Werten der Revolution hat (Fates 1990, 62). In der Ära der großen sozialistischen Projekte unter der Regierung Boumediennes wurde die Jugend durch das Einparteiensystem und die dazugehörenden Massenorganisationen in die Politik integriert. Musette (1991, 38) spricht vom Hervortreten der »politischen Jugend«: »Das Abenteuer der Jugendlichen des nationalen Dienstes verdient es, erwähnt zu werden, weil in dieser Zeit die großen territorialen Bauprojekte realisiert wurden, die grüne Sperre, die transsaharische Straße und andere symbolische Bauten wurden alle mit einer jugendlichen Arbeitskraft errichtet, die einzig durch ihre patriotische Überzeugung und ihre nationale Solidarität mobilisiert wurde.« (Musette 1991, 38f.) In der Regierungszeit Boumediennes gab es keine unabhängigen Jugendbewegungen. Obwohl das Vereinsgründungsgesetz von 1901 im unabhängigen Alge-

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rien vorerst übernommen wurde, waren außerstaatliche Vereinigungen de facto bis 1989 nicht erlaubt (Derras 2007, 18f.), bzw. benötigten ab 1971 eine doppelte Genehmigung (agrément), die mit komplizierten Gründungsauf lagen verbunden war (Liverani 2008, 18). Für alle Bereiche der Gesellschaft wurden staatliche Vereine gegründet (Liverani 2008, 16), aus der Union Nationale des Etudiants Algériens (UNEA) wurde 1971 die von Boumedienne gegründete Union Nationale de la Jeunesse Algerienne (UNJA), um die linksorientierten Student*innen in die ›Nationale Union der Algerischen Jugend‹ zu kanalisieren und einer Spaltung der Gesellschaft vorzubeugen (Fates 1990, 64, Rarrbo 1995, 86f.). Im »Bericht über die Jugendpolitik« des Zentralkomitees der FLN vom 17. Juni 1982 wird der Auftrag der Jugendpolitik formuliert: »[…] Bestätigung der nationalen Identität auf sprachlicher, historischer und religiöser Ebene mit arabisch-muslimischen Bezug, Annahme eines Lebensstils in Abgrenzung zu sozialen Lastern und zum Individualismus, Begeisterung für die Werte der Solidarität, der Liebe zum Vaterland und zur Arbeit, freiwillige Zustimmung zur Disziplin und zur Selbstlosigkeit im Dienste der Gemeinschaft.« (zitiert in: Fates 1990, 61f.) Um diesen Auftrag zu erfüllen, müsse die Jugend umfassend betreut werden und von den Gefahren der Straße, der Kriminalität sowie der Manipulation durch oppositionelle Kräfte, die ebenfalls die Unterstützung der Jugend suchen, geschützt werden (Fates 1990,62). Neben dem Bildungssektor sollte die Integration der Jugend über die Sektoren Kultur, Freizeit und Sport vorangebracht werden (Fates 1990, 63). Der Sportsektor und – besonders der Fußballsport – erweist sich in der Jugendpolitik aufgrund seiner Beliebtheit als besonders effektiv. Sogar die Polizei versucht, die Jugendlichen über den Fußball mit Turnieren zu erreichen. Nach dem Vorbild selbstorganisierter Turniere zwischen Stadtvierteln startete sie eine Stadtteil-Meisterschaft (Fates 1990, 65). Auch im kulturellen Bereich sollte die Jugend mehr Berücksichtigung finden. 1985 wurde in Riadh el-Feth, dem neuen Zentrum der unabhängigen Stadt, ein großes ›Fest der Jugend‹ organisiert (La Bruyère-Deluz 2002, 126), auf dem unter anderem die Raï-Gruppe ›Raina-Raï‹ aufgetreten war. Die Raï-Musik wird als Ausdruck der Jugendrevolte gegen paternalistische Traditionen und gegen den strikten Islamismus dargestellt. Die Raï-Musik schafft Räume in denen scheinbar widersprüchliches wie die occidentale und orientalische Kultur, Französisch und Arabisch, Vergangenheit und Gegenwart Hybride bilden und keine Wahl zwischen dem einen und anderen verlangt (Virolle-Souibes, 1989, 56). Der Raï wird zum Ausdrucksmittel der Jugendlichen, die sich nicht politisieren lassen wollen, die sich nicht zwischen Moschee und Cannabis entscheiden wollen, die eine hybride Sprache aus Französisch und Arabisch

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sprechen. Der Raï bekommt somit auch politische Bedeutung als Ausdruck der pluralen algerischen Identität. Gleichzeitig hatte die algerische Regierung den Raï als Mittel des Ausgleichs entdeckt und gefördert und seine politische widerständige Bedeutung somit zu zähmen versucht (Young 2003, 77). Doch die Ambitionen der Regierung, die algerische Jugend zu integrieren, scheiterte in den 1980er-Jahren, als die Jugend das Projekt der nationalen Einheit in Frage stellt, und sich antinationalen Bewegungen, darunter vor allem der ethnisch-regional orientierten Berberbewegung und der islamistischen Bewegung zuwandte. Diese Entwicklung wurde durch interne Faktoren, die sozioökonomische Marginalisierung der Jugend und die gescheiterte Arabisierungspolitik beeinf lusst sowie durch externe Faktoren, die sinkenden Ölpreise, den Niedergang der Sowjetunion, das Auf kommen islamistischer Bewegungen im Iran, im Sudan und in Afghanistan (St. John 1996, 198). Aber auch die Lockerung des Vereinsgründungsgesetzes 1987 hatte der politischen Zivilgesellschaft neuen Auftrieb verliehen. Die Funktionen der Vereine wurden unter der Reformpolitik Chadli Bendjedids durch die schwindende Präsenz des Staates in den Sektoren Kultur, Sport und Soziales neu definiert. Sie übernahmen fortan vor allem eine Auffangrolle. Besonders die fallenden Ölpreise 1985 hatten diese Entwicklung vorangetrieben. 1987 kam es trotz der Auf lehnung des konservativen Flügels der FLN zu einer Reform des Vereinsgründungsrechts, die eine politische Öffnung angesichts der sich abzeichnenden Unzufriedenheit der Bevölkerung infolge der ökonomischen Krise anstrebte. Durch die Stärkung der Zivilgesellschaft hatte der Staat gehofft, seine Schwächen aufgrund der politischen und vor allem ökonomischen Transformationen ausgleichen zu können. Doch die Abfederung der Probleme durch Wohltätigkeitsarbeit, vor allem der zahlreichen gegründeten religiösen Vereine, konnten die strukturellen Probleme nicht lösen und den sich abzeichnenden Konf likt nicht verhindern. Die zivilen Bewegungen der 1980er-Jahre, die Frauen-, Berber- und islamistische Bewegung, sollten sich später zu systemoppositionellen Bewegungen entwickeln (Liverani 2008, 18). Das demografische Gewicht der jungen Bevölkerung verschärfte im Zusammenhang mit der Urbanisierung das Wohnungsproblem. Dieses trug dazu bei, ebenso wie die verlängerte Ausbildungsphase durch die Demokratisierung des Schulsystems, das Hochzeitsalter nach oben zu verschieben (Musette 1993, 39). Auch die Arbeitslosigkeit wurde vorrangig zum Problem der Jugend. 1987 brachte die Regierung das erste Mal ein Programm zur Jugendbeschäftigung auf den Weg (Musette 2004 c, 38). Doch die Unzufriedenheit der Jugend äußerte sich bereits in Form von Protesten (Fates 1990, 67). Während die Aufstände in Tizi Ouzou 1981, Oran 1982, Constantine 1985 und in der Kasbah von Algier 1985 (Rarrbo 1990, 40) von der Polizei hart unterdrückt wurden, versuchte der Staat weiterhin, die integrative Jugendpolitik mit dem

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Entwicklungsprogramm Opération Jeunesse 2000 (Fates 1990, 67) voranzutreiben. Im Jahre 1988 spitzte sich der Konf likt zwischen der Regierung und der jungen Stadtbevölkerung zu, so dass es im Oktober 1988 zu einer Revolte kam, die die ›Zweite Republik‹ Algeriens (Musette 1991, 34) einläuten wird: »Schließlich hat sich der Akteur-Jugend auf der Straße behauptet und seine Geburtsstunde eigens mit seinem Blut signiert und so das Einparteiensystem im Oktober 1988 gewalttätig sanktioniert.« (Musette 2004, 39) Die Empörung der Jugend von 1988 hatte sich gegen staatliche Institutionen gerichtet, die die Jugend repräsentieren: das Ministerium für Jugend und Sport und das Ministerium für Nationale Erziehung wurden von den Aufständischen angegriffen.

3.3 Protesträume der Jugend und die Oktoberrevolte 1988 Die städtischen Armen und besonders die jungen Leute waren sich der sozialen Polarisierung und ihrer Unterdrückung bewusst. In den Raï- und etwas später den Rap-Texten der Ende der 1980er-Jahre auf kommenden Hip-Hop-Bewegung (El Kahina 2008, Miliani 2002), den Slogans der Stadien (Rarrbo 1995, 81, Fates 2009, 295-323) oder der Graffiti (Ouaras 2009, Megtef 2008) wurde die Regierung im Vorfeld der Oktoberrevolte kritisiert. Dieser Protest wurde vor allem durch die starke Präsenz junger Männer in den öffentlichen Räumen auf die Straße getragen. Die Aneignung der Straße, das »stille Vordringen« (Bayat 2012 a) der Straßenhändler*innen und Straßenkünstler*innen in den öffentlichen Raum hatte die Transformation der Straße in einen politischen Raum befördert. Das Bewusstsein der Benachteiligung und Unterdrückung rechtfertigte moralisch ihr Vorgehen. Die Distanzierung der Regierungseliten vom Volk führte letztendlich auch zu einem Legitimationsverlust der offiziellen Ideologie der nationalen Einheit, basierend auf den drei Grundpfeilern der algerischen Identität – Algerisch, Arabisch, Islamisch – und des sozialistischen Systems. Die 1980er-Jahre sind die Jahre eines Auf- und später radikalen Umbruchs der Gesellschaft. Die Rebellion gegen den Staat äußert sich in Form einer radikalisierten Identitätspolitik (vgl. Djilali 2003, 35f.): Während die Arabisierungspolitik auf der einen Seite das antinationale Projekt der religiös-fundamentalistisch orientierten Bewegung befördert hatte, formierte sich die ethnisch-kulturell motivierte Berberbewegung gegen die nationale Sprach- und Kulturpolitik und die Frauenbewegung, die vor allem die Zugeständnisse der Regierung an die Islamisten kritisierte und die Abschaffung des Familiencodes forderte. Die Mehrheit der Jugend der Hauptstadt gehörte im Unterschied zur politisierten kabylischen Jugend oder den Anhänger*innen der islamistischen Bewegung zu keiner organisierten Widerstandsbewegung. Doch mit der Zuspitzung

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der sozioökonomischen Krise kulminierte die Empörung der Jugend in einen Straßen-Aufruhr mit revolutionären Folgen, die eine Änderung der Verfassung und vorgezogene Präsidentschaftswahlen einläuteten. Bezüglich der Mobilisierung der Jugend gab es jedoch im Vorfeld der Oktoberrevolte 1988, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung des Fußballstadions, das für die Jugend zugleich Kompensationsraum und politische Agora war, auch Parallelen zwischen der kabylischen Bewegung und der Jugend der Hauptstadt. Das Verbot einer Konferenz über kabylische Poesie am 10. März 1980 war der Auslöser für die erste große Demonstration im unabhängigen Algerien, die außerhalb des legalen Rahmens der Satellitenorganisationen der FLN, der Union génerale des travailleurs (UGT) und der Union Nationale de la jeunesse algérienne (UNJA) initiiert wurden. Der so genannte Berberfrühling 1980 steht somit für den Beginn der Wiederaneignung des Politischen (Ilikoud 1999), zu dessen wichtigsten Akteur*innen Jugendliche zählten. Die Wut der Demonstrant*innen richtete sich vor allem gegen den totalitären Staat, der die Berberbewegung fortan als Teil einer vom imperialistischen Ausland geförderten Separationsbewegung darstellt (El Moudjahid, 15. April 1980, in: Ilikoud 1999, 141). Die Berberbewegung agierte vor allem aus der Universität heraus und über die Mediation von Intellektuellen und Künstler*innen. Sie war über zahlreiche zivile Vereinigungen vernetzt. Als organisierte Bewegung stellte sie konkrete politische Forderungen, zu denen vor allem die Anerkennung der Berbersprachen gehörte (Ilikoud 1999, 142f.). Erst als die Demonstrationen nach Konfrontationen mit den Ordnungskräften auf die Straße getragen wurden, weiteten sie sich zu einer populären Massenbewegung mit demokratischen Forderungen und breiterer Kritik an der aktuellen Regierung aus. Dieser Tendenz versuchte die Regierung mithilfe einer Sündenbock-Politik durch die Ethnisierung der Proteste in der Kabylei entgegenzuwirken (Ouaissa 2014). Eine wichtige Rolle für die Mobilisierung der Massen und vor allem der kabylischen Jugend, hatte der Fußballclub JSK – Jeunesse Sportive de la Kabylie – in der Berberbewegung gespielt. Der 1946 gegründete Fußballclub ist der einzige algerische Sportverein, der sich ethnisch-regional definiert. Im unabhängigen Algerien der 1980er-Jahre spielte er eine ähnliche Rolle wie die muslimischen Sportvereine während der Kolonialzeit: die Fankultur hatte identitätsbildende Funktionen und die Unterstützung der Mannschaften während der Spiele war eine Art Vorbereitung auf die politischen Auseinandersetzungen (Kapitel 2.5). Aus dem Kürzel des Vereins, JSK, machten die Jugendlichen den Slogan »Je suis Kabyle« (Ich bin Kabyle). Das Stadion wurde besonders während der großen Spiele zum Ort politischer Forderungen und der direkten Kommunikation zwischen den Jugendlichen und dem Staat, wenn beispielsweise Minister oder der Präsident persönlich den Spielen beiwohnten (Fates 2009, 220). Der Besuch des Stadions ermöglichte es den Jugendlichen, den Alltag mit all seinen Problemen für einen Moment zu vergessen (Fates 1990, 68).

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Während der Spielsaison 1987/1988 und 1988/1989 hatte es bei Ausschreitungen während und vor allem nach den Spielen zahlreiche Verletzte und sogar Tote gegeben, Autos wurden zerstört und zahlreiche Jugendliche verhaftet (ebd.,69). Youcef Fates untersucht die Beziehungen zwischen Sport und Politik und fragt sich, ob Fußball in Algerien eher als Opium der Massen oder als Training für Widerstand funktioniert. Er erinnert an die Bedeutung des Fußballs während der Kolonialzeit, als die Fußballclubs eine Schule des Widerstands waren und auf den Befreiungskampf vorbereitet hatten (Kapitel 2.4). In Form von Slogans äußern sie Kritik und Forderungen, die sich auf den Sport, aber auch auf Soziales und Politisches beziehen: ›Wir wollen Wohnungen und Devisen‹. Sie beklagen die Warenknappheit und den ausschweifenden Lebensstil der Politiker*innen und ihrer Familien. In Sprechchören singen sie sich ihren Frust und ihre Hoffnungslosigkeit von der Seele: »Rana daïn [wir sind verloren]«. Die Flucht in Drogen oder die Auswanderung werden als einziger Ausweg aus einem Land betrachtet, das ihnen keine Zukunft bietet (ebd., 70). Bei den Fußballspielen werden die Energien und Aggressionen der Jugendlichen jedoch auch kanalisiert. Das Stadion ist auch ein Ort, an dem der Staat seine Macht demonstriert: »Paradoxerweise ist das Stadium zugleich der Ort, an dem sich der staatliche Autoritarismus zeigt, durch die Zurschaustellung von Stärke und Zwangsmaßnahmen: physische Repression, Verstärkung der Sicherheits- und Polizeibrigaden bis in die Umgebung des regulären Spielfeldes.« (Ebd., 70) Ein staatlicher Autoritarismus, der bei der Revolte im Oktober 1988 zu 500 Toten, zahlreichen Verletzten und Vermissten führte.

Die Oktoberrevolte 1988 Die Rede des damaligen Präsidenten Chadli Bedjedid am 19. September 1988 zur Krise und möglichen Auswegen (Reformen) galt als Auslöser der Unruhen (Benkheira 1990, 8). Am 24. September begann in Rouiba ein Arbeiterstreik. Es folgten Gerüchte über einen bevorstehenden Staatsstreich. Die Gegner des Präsidenten, die vor allem Gegner seiner wirtschaftlichen Reformen waren, hatten die Gerüchte in Umlauf gebracht, um den Präsidenten möglichst zu delegitimieren (Benkheira 1990, 8). Am 1. Oktober ging die Polizei mit Härte gegen eine Demonstration der streikenden Arbeiter*innen vor, als diese ihren Protest auf die Straße tragen wollten. Die sozialen Spannungen verschärften sich, und ab dem 3. Oktober begannen Schüler*innenproteste. Am Vorabend der Oktoberrevolte habe der Aufruf zu

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einem Generalstreik kursiert (ebd., 8f.). Der Einf luss, den die Gerüchte auf den Ausbruch der Unruhen gehabt hätten, ist umstritten. In der Nacht zum 5. Oktober 1988 begannen Jugendliche in Bab el-Oued 4 zu randalieren und bald breiteten sich die Unruhen auch in anderen Stadtvierteln und Städten aus: Die Jugendlichen brachten ihre Empörung über das schlechte Leben (la mal vie) und die Erfahrung von Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch (la hogra) zum Ausdruck (Dris 2001, 396, Le Saout, 62f., Khadda & Gadant 1990, 19). Sie protestierten gegen die schlechten Lebensbedingungen, die Korruption und die Unfähigkeit des Präsidenten und der Regierung. »Hunderte von Jugendlichen bemächtigten sich der Straße. Schreiend lassen sie ihrer Wut freien Lauf und attackieren alles, was die Macht symbolisiert.« (Abada 1999, 249) Autos wurden angezündet, Polizeiposten angegriffen und in Brand gesetzt, öffentliche Gebäude und das Ministerium für Jugend und Erziehung verwüstet, Geschäfte geplündert. Die Hauptstadt war als zentraler Sitz der Staatsmacht das Epizentrum der Unruhen. Während in den vorangehenden Jahren vor allem lokal vereinzelte Proteste, z.B. in der Kasbah, stattgefunden hatten, weiteten sich die Unruhen im Oktober 1988 auf die ganze Stadt aus: »Erhebt euch, Jugendliche der Hauptstadt« lautete einer der Slogans (zitiert in Fates 1990, 70), der vor und während der Revolte auch in den Fußballstadien gesungen wurden (Fates 2009, 298). In anderen Slogans wurde gezielt der Präsident, seine Familie sowie das Herrschaftssystem kritisiert (Khadda & Gadant 1990, 20). Die Wut der Protestierenden richtete sich vor allem gegen die Korruption des Präsidenten, die herrschende Elite sowie einige Militärs. Das Profil der Akteure – junge Männer aus der unteren Schicht und marginalisierten Mittelschicht – und die »Worte und Gesten der Revolte« (Khadda & Gadant 1990) deuten darauf hin, dass es sich bei den Protesten um ein spontanes Auf begehren der Jugend handelte: Die Analysen der Slogans in ›Mots et Gestes de la Révolte‹ sowie der Aussagen der ›Kinder der Oktoberrevolte‹, die beispielsweise in der zehn Jahre später veröffentlichten Dokumentation der Revolte »Octobre. Ils Parlent« (Semiane 1998) sowie in Zeitungsberichten veröffentlicht wurden, lassen erkennen, dass es sich um spontanen und nicht organisierten Protest handelte, der sich vor allem gegen den Staat und seine Repräsentanten und besonders gegen die Polizei richtete und keine ideologische Färbung erkennen ließ, mit Ausnahme sporadischer Versuche der Politisierung vonseiten der Kommunisten oder der Islamisten (Khadda & Gadant 1990, 19). Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei und später des Militärs (siehe weiter unten) gegen die Demonstrant*innen begann sich die Wut der Demonstrant*in4 Am 3. Oktober 1988 soll es bereits in El Harrach zu Ausschreitungen gekommen sein (Semiane 1998, 21); die Unruhen in Bab el-Oued gelten jedoch als Auslöser der Revolte, da sie zum schnellen Übergreifen der Ausschreitungen auf andere Stadtteile und Städte geführt haben sollen.

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nen gezielt gegen die Polizisten und das Justizsystem zu richten. In karnevalesker Weise stellten die Demonstrant*innen die soziale Ordnung auf den Kopf: In Belcourt wurde ein Polizist öffentlich auf einem Stuhl sitzend ausgestellt und Passanten dazu aufgefordert, ihn zu ohrfeigen (Khadda & Gadant 1990, 22). In Bab el-Oued wurden Polizisten dazu gezwungen, sich vor den Demonstrant*innen selbst zu beschimpfen (Khadda & Gadant 1990, 22). Die spektakulärste Plünderung im Verlaufe der Oktoberrevolte 1988 ist unter dem ›Adidas-Stan-Smith-Mythos‹ bekannt. In einer Fabrik in Bab el-Oued wurden die Adidas-Stan-Smith-Turnschuhe fabriziert, zu deren Herstellung Algerien eine Lizenz bekommen hatte und die so beliebt waren, dass sie in den Geschäften meist ausverkauft waren. Nach der Plünderung der Fabrik waren in Bab el-Oued viele Jugendliche in den Stan-Smith-Turnschuhen zu sehen, heißt es in der Erzählung. Aus heutiger Sicht kann die Plünderung der Adidas-Stan-Smith-Fabrik als symbolische Ankündigung der bevorstehenden wirtschaftlichen Liberalisierung gedeutet werden: Markenprodukte und Luxusgüter werden heute in Algerien angeboten, doch die wachsenden Ungleichheiten machen sie für große Teile der Bevölkerung unerschwinglich. Während der Oktober-Aufruhr sich noch hauptsächlich gegen staatliche Symbole gerichtet hatte, waren private Luxusgeschäfte die Hauptzielscheibe der Unruhen im Januar 2011 (Kapitel 4.3). Weil sich die Lage nicht beruhigte, wurde am 6. Oktober 1988 der Ausnahmezustand ausgerufen und das Militär mit der ›Wiederherstellung der Ordnung‹ beauftragt (Benkheira 1990, 10f.). Am 7. Oktober 1988 breiteten sich die Unruhen auf das ganze Land aus. Besonders betroffen von den Protesten waren in Algier die quartiers populaires5 Bab el-Oued, Bachdjarah und El-Harrach, in denen Arbeitslosigkeit und Prekarität besonders hoch waren (siehe weiter oben). Die Geografien der Unruhen deckten sich mit den städtischen Armutsvierteln (Kapitel 4.2). Hugh Roberts entwickelt hingegen die Idee der moral polity als Erklärung für die Revolten: Nicht vordergründig die ökonomische Krise, sondern die erniedrigende Behandlung der Zivilbevölkerung von den staatlichen Autoritäten, ihre politische Unterdrückung, habe die Empörung hervorgerufen (Roberts 2002). Die fehlende politische Repräsentation der städtischen Armen unter dem Regime Bendjedids erkläre laut Roberts auch das Überlaufen der Aufständischen vom Oktober 1988 zur islamistischen Bewegung: Während die spontanen und nichtorganisierten Revolten anfangs keine ideologische Färbung erkennen ließen, wurden die meist jugendlichen Demonstranten im Laufe der Ereignisse zum Teil von der in den 1980er-Jahren erstarkenden islamistischen Bewegung mobilisiert, bzw. war es dieser Bewegung gelungen, sich in der Folgezeit der Oktoberrevolte als Vertreter der städtischen Armen dar5 Arbeiterviertel, heute synonym für Armutsviertel, die sich vor allem von den gehobenen Vierteln der Eliten abgrenzen.

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zustellen. Am 10. Oktober 1988 hatte Ali Belhadj, einer der späteren Gründungsväter der Front Islamique du Salut (FIS), zu einer Demonstration aufgerufen, die auf ihrem Wege zum Hauptsitz der Polizei vom Militär niedergeschlagen wurde und Algier in einen Schockzustand versetzte (Semiane 1998). Der Platz der Märtyrer erinnert seitdem nicht nur an die Märtyrer der Novemberrevolution, benannt nach der Ausrufung der Algerischen Revolution am 1. November 1954, sondern auch an die Märtyrer der Oktoberrevolte. Abbildung 5: Erinnerung an die Oktoberrevolte 1988

Quelle: Semiane (1998)

Seitdem ist Bab el-Oued als Bab el-Oued-Shuhada (Bab el-Oued der Märtyrer) bekannt und zu einem symbolischen Ort des Widerstands des Volkes geworden (Benkheira 1990, 16). Der nationale Jugendverein Rassemblement Actione Jeunesse (RAJ) organisiert am 5.Oktober eines jeden Jahres eine Demonstration zur

3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend

Erinnerung an die Opfer vom Oktober 1988 und zur Bewahrung der demokratischen Errungenschaften der Revolte. Das harte Vorgehen der Regierung gegen die Demonstrant*innen im Oktober 1988 führte zu einem schweren und bis heute nicht überwundenen Vertrauensbruch zwischen der aus dem Befreiungskampf (1954 bis 1962) hervorgegangenen Regierungselite und dem Volk, insbesondere der Jugend. Zwar befand sich Algerien im Jahre 1988 aufgrund einer partei-internen politischen Krise und der Wirtschaftskrise in einem politisch instabilen Zustand, doch brachen die Unruhen aus damaliger Perspektive der Herrschenden überraschend und in einem bis dahin unbekannten Ausmaß an gegen den Staat gerichteter Gewalt aus. Dieser reagierte ebenfalls mit bis dahin unbekannter Härte und schaltete das Militär zur »Wiederherstellung der Ordnung« (Nezzar 1998, 74f.) ein.

1989 — der algerische Frühling? Auch wenn spontane, sporadische und vereinzelt lokalisierte Straßenunruhen meist damit enden, dass sie vom Staat unterdrückt werden und ihre Ausbreitung unterbunden wird, sind sie ›Quelle‹ sozialen Wandels (Prevost 1999). Larbi Sadiki hebt die Bedeutung der Aufstände in den arabischen Ländern als Ausdruck der Macht des einfachen Volkes und seines Kampfes um Demokratie hervor (Sadiki 2009, 216). Die Oktoberrevolte habe den Motor der Geschichte beschleunigt bzw. die Reformpläne Chadlis legitimiert und vorangetrieben (Werenfels 2007, 41f.), wie sich an den Verfassungsänderungen 1989 zeigen sollte. Neben den internen Entwicklungen spielten vor allem auch externe Ereignisse 1989 eine große Rolle für den Umbruch der algerischen Gesellschaft: »In der Welt wurden zur gleichen Zeit, vor dem Hintergrund des hochsymbolischen Berliner Mauerfalls und des Zerfalls der sowjetischen Staaten, die geopolitische Ordnung verändert und ideologische Gewissheiten aufgebrochen.« (Djilali 2002, 42) Die algerische Jugend habe sich von der globalen Stimmung des Wandels anstecken lassen. Sie haben den Mut bekommen, in die Fußstapfen der Älteren zu treten, die den Kolonialismus bekämpft hatten, um gegen die repressiven Regime ihrer Länder zu kämpfen. Mit der Verfassungsänderung von 1989 wurde in Algerien eine neue Phase der politischen und ökonomischen Transformation eingeleitet: Die politische Öffnung zum Mehrparteiensystem6 und die Lockerung des Vereinsgründungsrechts, die Privatisierung der Medien und wirtschaftliche Reformen sowie der 6 In kürzester Zeit wurden über 30 Parteien gegründet, darunter auch die FIS (Welsenfels 2007, 32).

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Übergang von der staatlichen zu einer Marktwirtschaft (Werenfels 2007, 42), versprachen den Beginn eines Demokratisierungsprozesses (Liverani 2009, 3f.). Besonders die Gründung von Vereinen wurde als Zeichen einer entstehenden politischen Zivilgesellschaft gedeutet (Kapitel 6). Mit den eingeleiteten politischen und wirtschaftlichen Reformen wurde Algerien ein Vorreiter für Demokratisierungsprozesse in der MENA-Region (Sadiki 2009). Neben den neuen oppositionellen Parteien traten vor allem auch die unabhängige Presse als ›watchdog‹ und neue Wirtschaftsvereine mit Anbindung an die Reformer in der Regierung als politische Akteurinnen hervor (Werenfels 2007, 44). Für einen Moment sah es so aus, als sei die utopische Vorstellung einer gerechten Gesellschaft, für die die Demonstrant*innen auf die Straße gegangen waren, in Erfüllung gegangen (Benkheira 1990, 18). Auch die Jugend sollte von der demokratischen Öffnung profitieren. In der Folgezeit der Oktoberrevolte reagierte die algerische Regierung auf die Herausforderung der Jugend. Das Ministerium für Jugend und Sport, das Ministerium für nationale Bildung und das Ministerium für Kultur auf nationaler Ebene sowie neue Programme der Stadtverwaltungen auf lokaler Ebene sollten der Jugendpolitik mehr Gewichtung geben und die Grundsätze der Jugendpolitik reformieren (Musette 2004, 40). Die Jugendpolitik wurde stärker intersektional ausgerichtet und beispielsweise die Verknüpfung von Jugend- und Kulturpolitik vorangetrieben. Durch die Liberalisierung des Vereinswesens sollte die Teilnahme der Jugend an der Zivilgesellschaft gefördert werden. 1989 wurden zahlreiche Jugendvereine gegründet. Die gesellschaftlich aktiven Jugendlichen blieben dennoch eher eine Minderheit. Die Mehrheit der Jugendlichen blieb dem Staat, seinen Institutionen und Symbolen gegenüber misstrauisch (Rarrbo 1995, 87). Aus heutiger Sicht werden die Reformen als Strategie des Regimes gedeutet, das nach Meinung Rachid Tlemcanis 1989 nur einen ›Kleiderwechsel‹ vom Sozialismus zum Liberalismus vollzogen hatte, und dem es so gelungen war, auch nach der politischen Öffnung an der Macht zu bleiben (Tlemcani, El Watan, 9.1.2009). Das alte Regime wurde erst durch das Erstarken der islamistischen Bewegung erschüttert und nach 1992 im Namen der Terrorismusbekämpfung wieder legitimiert.

3.4 Dazwischen? Die Jugend im Spannungsfeld politischer Kämpfe Eine der viel diskutierten Fragen bezüglich der Oktoberrevolte von 1988 ist, ob die heftigen Unruhen plötzlich und überraschend ausgebrochen waren oder ob sie aus der sozialen Entwicklung und den politischen Ereignissen von 1988 heraus entstanden oder sogar herbeigeführt worden sind. Für die einen ist der Oktober 1988 ein spontaner Aufruhr der marginalisierten Jugend, der sich vor allem gegen soziale Ungerechtigkeit und schwierige Lebensumstände (la mal vie) richtete. Die

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linken Oppositionellen sahen in der Oktoberrevolte vor allem die Forderung nach Demokratie. Andere glaubten, dass Machtkämpfe zwischen den Reformern und den Konservativen in der Regierung und innerhalb der Partei (FLN) den Aufruhr herbeigeführt hätten. Wieder andere vermuteten den Einf luss der islamistischen Bewegung. Die umstrittene Interpretation der Oktoberrevolte zeigt die Schwierigkeit, Jugendliche als Akteur*innen des Widerstands darzustellen: »Youth has often been seen as the vanguards of democratic revolutions which drive out unpopular dictators in the belief that their departure will be followed by a rapid upturn in the state of affairs.« (El-Kenz 1996, 52) Im Falle erfolgreicher Revolutionen werden die Jugendlichen als Helden oder Märtyrer dargestellt, im Falle gescheiterter Revolutionen als Kriminelle, Vandalen, Hooligans (ebd., 52f.). Die Themen Jugend und Widerstand sind seit Oktober 1988 in Algerien eng miteinander verknüpft. Algerien habe seine Jugend erst im Oktober 1988 ›entdeckt‹ (Rarrbo 1995, Musette 2004, Lawrence 2005). Zwei Entwicklungen zeichnen sich ab: 1. Die Problematisierung von Jugend im öffentlichen Diskurs. 2. Die Romantisierung und Vereinnahmung von ›Jugend und Widerstand‹. So ist zum einen festzuhalten, dass die Wissenschaft das Thema Jugend fortan vor allem aus der Perspektive der Marginalität und der Abweichung (Safir 2012, Cellier & Rouag-Djenidi 2008, Rarrbo 1995) behandelt. Mit der zunehmenden Verjüngung der Gesellschaft und der gleichzeitigen Urbanisierung wird Jugend in der algerischen Sozialforschung zu einer Problemkategorie konstruiert: Jugendarbeitslosigkeit, Jugendgewalt, Jugend ohne Perspektiven und ohne Wurzeln dominieren die wissenschaftliche und politisch-mediale Darstellung von Jugend7. Zum anderen wurden die Ereignisse in der Folgezeit des Oktober 1988 unmittelbar mit der ›Macht der Straße‹, der Repräsentation der Straße als öffentlicher Protestraum der Jugendlichen und städtischen Armen in Verbindung gebracht. Von kritischen Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen, Journalist*innen und Filmemacher*innen wird der Oktober 1988 fortan als Symbol einer gegen den Staat rebellierenden Jugend dargestellt. Das harraga-Phänomen8, die steigende Drogen- und Selbstmordrate sowie das informelle tbizniss (Geschäfte machen, vgl. Dris 2001, 285) und Jugend(sub)kulturen beispielsweise die Raï- und Rap-Musik werden als Fortführung der Revolte von Oktober 1988 interpretiert. 7 Einen ausführlichen Überblick zur Jugend in der algerischen Sozialforschung in den 1970er-, 1980er- und frühen 1990er-Jahren gibt Rarrbo (1995) in seiner Einleitung von L’Algérie et sa Jeunesse und Musette (2004) in Les Jeunes et la Santé en Algérie. 8 Als harraga wird im maghrebinischen Arabisch die ›Migration ohne Visa‹ bezeichnet, harraga führt auf das arabische Verb haraqa (verbrennen) zurück und bedeutet im übertragenem Sinne, ›die Identität‹ oder auch die ›Grenzen‹ verbrennen.

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Auf der anderen Seite wird die Distanzierung der Jugendlichen von der Politik und von sozialen Bewegungen aber auch als Zeichen einer resignierten Jugend gedeutet, die im Gegensatz zur Generation von 1988 nur noch am eigenen Wohl interessiert sei (vgl. Daoud 2012, 33). Die Diskussion der Oktoberrevolte von 1988, die Theorien des internen Komplotts, der externen Manipulation und der Kriminalisierung des Protests auf der einen Seite sowie seine Vereinnahmung durch die Demokrat*innen oder Islamist*innen auf der anderen Seite zeigen die Schwierigkeit der Repräsentation der Jugend als Akteurin des Widerstands. In Algerien wurde das Thema ›Jugend und Widerstand‹ mit dem Erstarken der islamistischen Bewegungen, zu deren Anhänger*innen auch Jugendliche gehörten (Vergès 1997, Martinez 1998, Carlier 1995), vor eine neue Herausforderung gestellt: Das Bild der ›verletzlichen‹ und ›unterdrückten‹ Jugend schien nicht vereinbar zu sein mit dem Bild der ›gefährlichen Islamist*innen‹.

Die Jugend im Schwarzen Jahrzehnt Die Front Islamique du Salut (FIS) hatte von der politischen Öffnung infolge der Verfassungsänderung von 1989 profitiert. Ein Teil ihres Erfolgs wird damit begründet, dass es ihr gelungen war, die städtischen Armen und insbesondere die marginalisierte Jugend zu repräsentieren, zu der auch Teile der gebildeten Mittelschicht gehörten. Die FIS agierte während der politischen Öffnung sowohl an den Universitäten, als auch in den Straßen der städtischen Armutsgebiete, besonders in den quartiers populaires und den informell entstandenen Siedlungen an den Rändern der Stadt, wo sie unter den kleinen Händler*innen, die unter der staatlichen Bürokratie litten, Anhänger*innen fanden (Martinez 1998, 67). In Bezug auf die Thematik der vorliegenden Arbeit wird jedoch vor allem die Jugend in den städtischen Armutsgebieten genauer betrachtet. Im Juni 1990 gewann die FIS die Kommunalwahlen und stellte damit ihre ersten Regierungen auf kommunaler Ebene. Damit hatte sie auch Einf luss auf die Stadtplanung und machte von dem Gesetz von 1983 Gebrauch, dass der kommunalen Verwaltung das Bodenverwaltungsrecht übertragen hatte. In den Monaten der FIS Herrschaft wurden zahlreiche Grundstücke aus heutiger Sicht illegal vergeben und bebaut. Die FIS legitimierte die informelle Urbanisierung, da die Bodenverwaltung und Stadtplanung bislang von einer korrupten Regierung reguliert worden sei und versprach den Wähler*innen, ihnen eine Grundbesitzurkunde auszustellen (ebd., 62). Die illegale Urbanisierung dieser Jahre prägt bis heute das Stadtbild (Seddik-Meghesli 2009). Der Einf luss der FIS auf die Urbanisierung hatte dazu geführt, dass die Regierung das Informelle mit der islamistischen Bewegung in Verbindung brachte. In den städtischen Armutsgebieten übte die FIS ihren Einf luss in allen Bereichen des Alltagslebens aus. Ähnlich wie die FLN während des Kolo-

3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend

nialismus in den indigenen Vierteln räumte sie auf: Die Mobilisierung der Massen erfolgte nicht nur über ideologische Versprechen einer ›anderen Welt‹, sondern durch das partielle Verwirklichen einer ›anderen Welt‹. In der Banlieu Eycalyptus hätten z.B. ehemalige Bewohner*innen der Kasbah, die im Zuge eines Umsiedlungsprogramms dort hingekommen waren, mit kriminellen Aktivitäten für Unsicherheit gesorgt, gegen die die offizielle Polizei nichts unternommen hätte. Der FIS Bürgermeister hatte darauf hin eine Art informelle Polizei aus Anhänger*innen der FIS und arbeitslosen Jugendlichen aufgebaut (ebd., 62f.). Wie damals der FLN in den indigenen Vierteln, gelang es der FIS durch Programme auf den Gebieten der Wohltätigkeit und der ›Disziplinierung‹ ein urbanes Regime zu errichten, in dem das utopische Projekt des islamischen Staates verwirklicht wurde. Wohltätigkeitsaktivitäten verweisen auf eine lange Tradition im Islam und verbreiteten sich mit dem Erstarken des politischen Islams in den Städten der MENA-Region und auf globaler Ebene (Bayat 2000, 14-19). Die FIS operierte mit den an die Netzwerke der Moscheen gekoppelten Wohltätigkeitsvereinen (Vergès 1996). Ihren Erfolg sieht auch Benkheira (1990) vor allem in Verbindung mit dem eschatologischen Diskurs der besseren Welt, die schon die FLN-Regierung allen Algerier*innen versprochen, aber nicht verwirklicht hatte. Sowohl der nationale als auch der islamistische Diskurs sind auf einer autoritären Konzeption der Gesellschaft und Politik aufgebaut. In dieser Hinsicht sei die Machtübernahme durch die FIS kein wirklicher Bruch, sondern eine Fortführung der bisherigen Herrschaftsform gewesen, schreibt Benkheira (Benkheira 1990, 5). Zu den von der FIS gewonnenen Kommunen bei den Wahlen von 1991 gehörte auch der Verwaltungsbezirk Bab el-Oued und die Kommune der Kasbah (Fontaine 1992). Die Eroberung der Kasbah hatte symbolische Bedeutung für die Legitimierung der antinationalen Politik der FIS im Volk. Als geschichtsträchtiger Ort des Widerstands gegen die Kolonialmacht symbolisierte die Kasbah den Beitrag des Volks zum algerischen Befreiungskampf: »Denn kein anderer Ort als die Casbah hätte besser die Verankerung der FIS im Volk illustrieren können, und so mussten sie diese anscheinende Gegenkraft erschaffen, um den Anschein zu erwecken, dass die Bevölkerung sich erhob.« (Liberté, 27.6.1996, zitiert in Dris 2001, 351) In seinen Reden in der Sunna-Moschee in Bab el-Oued eignete sich Ali Belhadj den Diskurs der Freiheitskämpfer*innen an und richtete ihn gegen die Regierung, die er des Verrats an den Werten und Zielen der Revolution beschuldigte (Vergès 1994, 40). Die Kasbah, die während der Kolonialzeit eine Hochburg der FLN-Kämpfer und -Kämpferinnen gewesen war und als verwirklichte Utopie die Unabhängigkeit Algeriens bereits ankündigt hatte (Kapitel 2.3), wurde in den ersten Jahren des Schwarzen Jahrzehnts abermals zu einem ›Gegenort‹, an dem das

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Ideal des ›Islamischen Staates‹ gelebt wurde (zwischen Juni 1990 und Dezember 1991): Die FIS-Anhänger*innen agierten in den Vierteln als Sittenpolizei, sorgten für Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum und forderten die Einhaltung der islamischen Kleiderordnung. Aber auch gegen Alkohol- und Drogenkonsum, Raï-Musik und alle ›unislamischen Praktiken‹ im öffentlichen Raum gingen sie vor (Martinez 1998, 71). Der ›Dieb‹, ob in der Straße oder an der Spitze der Regierung, der die Werte der Revolution verraten hatte, wird zum Feindbild. Die FLN-Regierung wird nach der Annullierung der Wahlen als illegitim erklärt. Als Kommunisten oder Frankofone seien sie die Verräter der Revolution. Die FIS hingegen eignet sich den Diskurs der Revolutionäre an, die für die Befreiung des algerischen Volkes kämpfen (ebd., 74). Eines der Symbole der Verräter und Diebe war das als ›Houbal‹, benannt nach dem vorislamischen Gott in Mekka, bezeichnete Shopping Zentrum am Monument der Märtyrer (ebd., 74f.). Mit der Annullierung der Parlamentswahlen nach dem Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) im Dezember 1991, dem Rücktritt des Präsidenten Chadli Bendjedids am 11. Januar 1992 und der Ausrufung des Ausnahmezustands am 29. Februar 1992 nahm die ›politische Öffnung‹ ein jähes Ende. Werenfels spricht von einem ›autoritären Rückfall‹ (2007, 44). Mit dem Verbot der FIS begann die Radikalisierung eines Teils der islamistischen Bewegung und die ›Terrorismusbekämpfung‹ der Regierung. Das Jahresdatum der Ausrufung des Ausnahmezustandes in Algier, 1992, markiert den Beginn einer Ära, die auf globaler Ebene zunehmend von urbanen Konf likten geprägt ist9. Der Konf likt zwischen der algerischen Regierung und der islamistischen Opposition verwandelte die Hauptstadt abermals in eine military zone, in der sich die radikalisierten Splittergruppen der FIS, vor allem die Groupe Islamique Armé (GIA), und der Staat bekämpften. Der Staat versuchte, die Kontrolle über die Stadt zurückzuerobern: Polizeisperren, Kameraüberwachung aus der Luft, nächtliche Ausgangssperren, Personenkontrollen, Razzien10, Verhaftungen, gezielte Tötungen von Terroristen prägten den Alltag der Hauptstadt. Die Besetzung der öffentlichen Räume der Hauptstadt spielte eine wichtige Rolle für die Machtdemonstration der FIS: 9 Mike Davis (1993) beschreibt die Prozesse der Militarisierung des urbanen Raums am Beispiel der Metropole Los Angeles. Mit Blick auf die Frühlingsunruhen (spring riots) von 1992 in Los Angeles sieht er die Zukunft der Stadt, in der soziale Polarisierung und räumliche Apartheid wachsen, in einer dystopischen Beziehung zu den Idealen der demokratischen Stadt. In Kairo besetzen im Dezember 1992 staatliche Sicherheitsagenten den informell gewachsenen Stadtteil Imbaba, um der Macht der islamistischen Oppositionsbewegung der Islamic Group (al-Gama’a al-Islamiya) ein Ende zu bereiten. Die spektakuläre Operation ging mit der diskursiven Konstruktion der ›islamistischen Armen‹ einher (Singerman 2009, 115). 10 Der Begriff Razzia hat seinen Ursprung in der militärischen Besetzung Algeriens durch die Franzosen. Das französische Militär imitierte die kriegerischen Raubzüge (Gallois 2013).

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»The Fis occupied the street and transformed that space into a privileged arena for the diffusion of its message.« (Vergès 1997, 298) Das Tragen bestimmter Kleidung (qamis und hijab), die Menschenmassen beim Freitagsgebet und die über Lautsprecher verkündigten Predigten zeugten von der Mobilisierung der Massen. Anfang Juni besetzten die FIS-Anhänger*innen den Platz der Märtyrer und den Platz des 1. Mai für mehrere Tage: »Algiers began to look like a bivouac. The protest gathered momentum and assumed the character of a movement of civil disobedience. The strike ended in a bloody clash with the security forces on the night of June 3-4.« (Vergès 1997, 299) Die Kasbah hatte ihrer Bedeutung als ›Gegenort‹ in den 1980er- und 1990er-Jahren neue Bedeutung verliehen: Am 26. April 1985 demonstrierten die Bewohner*innen gegen die prekäre Wohnungssituation und den ständig unterbrochenen Wasserzugang in ihrem Viertel. 1986 führten staatliche Umsiedlungsprogramme zu Aufständen (Vergès 1994, 39). 1991 besetzte die FIS den Platz der Märtyrer für mehrere Tage und demonstrierte so ihre Macht im öffentlichen Raum. 1992 zieht sich der harte Flügel der FIS, deren Anhänger auch als Afghanen bezeichnet werden, in die Kasbah zurück (Vergès 1994, 37). Im selben Jahr wurden Polizisten in der Kasbah attackiert. Am 13. Februar 1992 gibt es einen militärischen Angriff auf ein Haus, in dem sich FIS-Anhänger*innen versteckt haben sollen. Am 22. November 1993 war die Kasbah bei einem Militäreinsatz vollständig abgeriegelt worden – das Bild der Schlacht um Algier drängt sich auf. Die Kasbah wurde in den 1990er-Jahren zu einer No-go-Area für Polizist*innen, Ausländer*innen und alle, die den Verbündeten Frankreichs zugerechnet wurden (Dris 2001, 351). Es heißt, dass die Kasbah damals von jungen ›Emiren‹ kontrolliert wurde, die zwar Verbindungen zur GIA gehabt haben sollen, jedoch vor allem als ›soziale Banditen‹ und ›Opfer ihrer Marginalität‹ beschrieben wurden (Moussaoui 2006, 196-203): »Sie erkannten gar keine Autoritäten an, auch nicht die aufeinanderfolgenden Anführer der GIA. Die Jugendlichen der Casbah und aus anderen Stadtteilen der Hauptstadt halten sie für Angehörige der Mafia. Diejenigen, die sich ihnen anschlossen, hatten meist sehr genaue Ziele, die meistens gar nichts mit der Religion zu tun hatten.« (Guemmache, La Croix, 24.7.1997) Die Emire Flicha (Pfeil) – benannt nach seiner Schnelligkeit beim Stehlen und nach dem ebenfalls für seine Schnelligkeit bekannten Helden der Schlacht um Algier, Ali-La-Pointe11– und Napoli – benannt nach der italienischen Stadt, in der er 11 Die FIS hatte Ali-la Pointe zu ihrem Helden gemacht und Yasef Saadi des Verrats an ihm beschuldigt, um die FLN zu delegitimieren.

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eine Zeit lang gelebt hatte, – werden noch heute in den Liedern der Fußballfans von den Jugendlichen verehrt. Napoli wurde 1995 von der Polizei getötet und Flicha hatte sich mit seiner Gruppe in die Kasbah zurückgezogen. »Trotz der vielen Polizei- und Militäreinsätze in der Casbah – wo sich sein Versteck befand – haben sie es es nicht geschafft, ihn zu neutralisieren.« (Guemmache, La Croix, 24.7.1997) In Youth and Violence beschreibt Ali El-Kenz die Marginalisierung Jugendlicher im Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum, Restrukturierungsprogrammen und Urbanisierungsprozessen in Afrika. Das Zurückgreifen auf Gewalt, z.B. in Form von Straßenunruhen oder durch Anschluss an organisierte Oppositionsbewegungen, sieht er als Folge täglich erlebter Gewalt im Kontext städtischer Armut: »The city is cruel« (El-Kenz 1996, 55). Die informelle Wirtschaft habe zwar eine abfedernde Funktion angesichts der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, sie befördere jedoch auch die Organisation der Gesellschaft auf der Basis religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, und wirke somit dem Entstehen einer ›modernen Gesellschaft‹ entgegen (ebd., 49f.). Auch Vergès (1997) sieht das Erstarken der islamistischen Bewegung in der Kasbah im Zusammenhang mit der urbanen Krise, vor allem der hohen Arbeitslosigkeit und der Bevölkerungsdichte: »Surviving in a drab world without cohesion and without a future, they regard themselves as cursed (kukra). They live in slums and devastated residential blocks of the capital, where structural deterioration seems to reinforce and illustrate the deterioration of social relations. They hang around the overcrowded streets of the capital, resorting to ›small jobs‹ in periods of unemployment and filling up their days, augmenting their meager resources by petty larceny or small-scale drug dealing. They are professional hittistes.« (Vergès 1997, 300) In der Kasbah teilten sich damals im Durchschnitt sieben bis acht Personen ein Zimmer (Vergès 1997, 38). Durch die Krise befänden sich die Jugendlichen in einem verlängerten Status als Kinder (Vergès 1994, 38). Die Degradierung des städtischen Lebens in der Kasbah wird mit dem Zuzug der Landbevölkerung in Verbindung gebracht. Der Glaube an das Gute sei verschwunden und anstelle der nachbarschaftlichen Solidarität sei berechnender Individualismus getreten (ebd., 38). Der islamistischen Bewegung war es gelungen, die verlorengegangenen Werte der algerischen Revolution neu zu besetzen und als Teil ihrer Ideologie zu propagieren. Die religiöse Zugehörigkeit zur umma (Gemeinschaft der Muslime) sei für die Jugendlichen in den 1990er-Jahren wichtiger geworden als die Zugehörigkeit zur houma:

3. Die postkoloniale Stadt und die Empörung der Jugend

»The occupation of public space encouraged identification with peer groups extending beyond local space, reinforcing larger solidarities and blurring identifications with a particular quarter.« (Vergès 1997, 299) Gleichzeitig war jedoch das Viertel der Organisationsraum der islamistischen Gruppen, wodurch letztendlich und vor allem in Abgrenzung zum Staat auch die lokale Identität gestärkt wurde: ›Bab el-Oued Shuhada‹, die Märtyrer-Legende Bab el-Oueds symbolisiert die Verf lechtung lokaler und religiöser Zugehörigkeit. Omar Carlier zeigt Parallelen zwischen der politischen Kultur der FLN im Befreiungskrieg und der FIS in den 1990er-Jahren auf. Auch wenn die FIS einen radikalen Bruch mit der existierenden Ordnung anstrebte, verfolgte sie ähnliche Strategien der Mobilisierung wie die FLN im Befreiungskampf, in dem sie die auf Familie, Nachbarschaft oder regionaler Herkunft beruhenden unbeugsamen Solidaritäten für ihren Kampf kanalisierte (Carlier 1995, 377). Der FIS gelang es den Wunsch der jungen Menschen nach der verlorenen idealen Gemeinschaft wiederzubeleben (ebd., 377). Indem die FIS die Rhetorik der FLN übernahm, machte sie die FLN Regierung zur ›Kolonialmacht‹ und die Bewohner*innen der FIS-Kommunen werden wiederum durch die Sicherheitspolitik und -diskurse als die ›Anderen‹ der Republik dargestellt. Die moral panic vor der terroristischen Gefahr behaftete die Bewohner*innen dieser Viertel und besonders die männliche Jugend mit einem Stigma. Meriem Vergès sieht in den Identitätskonstruktionen von Jugendlichen in der Kasbah ein Dazwischensein: »Indeed, there is an unstable group among the mobilized youth who alternate between cannabis and the mosque.« (Vergès 1997, 299) Aufgrund ihrer Marginalisierung sei die Handlungsmacht der Jugendlichen eingeschränkt. Die Radikalisierung Jugendlicher und ihre Mobilisierung in bewaffneten Konf likten begründe sich nicht mit religiösen oder ideologischen Motiven, sondern müsse im Zusammenhang mit Wahlmöglichkeiten zur Alltagsbewältigung und Strategien der Ermächtigung gesehen werden (Vigh 2010, 3).

Zwischenfazit Die algerische Revolution, die mit der Machtübernahme 1962 nicht beendet, sondern vor die eigentliche Herausforderung – die Verwirklichung ihrer Ideale – gestellt wurde, galt in den 1980er-Jahren und spätestens nach dem Ausbrechen der Revolten im Oktober 1988 als gescheitert. Die Aneignung der Straße durch die jungen Straßenhändler*innen, Graffitikünstler*innen oder Streetdancer verwandelte die Straße jedoch auch angesichts der sich verstärkenden Krise in einen möglichen Gegenraum. Als sich am 5. Oktober 1988 die Jugend der Hauptstadt erhebt und sich die Unruhen auch in andere Städte ausweiten, wird die ›Macht der Straße‹ sichtbar. Die Oktoberrevolte galt als Auslöser der 1989 eingeleiteten Ver-

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fassungsänderungen und Reformen. Nach der Annullierung des zweiten Wahlgangs 1992 und der Ausrufung des Widerstands wurde Algier zu einer geteilten Stadt, in der sich die in den Untergrund gegangenen islamistischen Gruppierungen und das Militär bekämpften. Die Jugendlichen, ob Anhänger*innen oder Gegner*innen der islamistischen Bewegung, gerieten ins Spannungsfeld der Politik. Ihre Mobilisierung ebenso wie ihre Untätigkeit, symbolisiert durch das Bild der Mauerhüter (hittistes), wird als Zeichen der gescheiterten Integrationspolitik der algerischen Regierung gedeutet.

4. Algier als ›umkämpfte‹ Stadt im 21. Jahrhundert

Zu Beginn des neuen Millenniums ist in Algier eine neue Phase der Stadtentwicklung angebrochen, die durch das Ende des Bürgerkriegs und die wirtschaftliche Öffnung Algeriens charakterisiert wird (Kapitel 4.1). Das durch den kriegerischen Konf likt zwischen der Regierung und islamistischen Gruppierungen in den 1990er- Jahren gelähmte öffentliche Stadtleben wird allmählich wiederbelebt. Algier zeigt sich heute als weltoffene Stadt. Ein Ereignis, welches das neue Gesicht Algiers besonders hervorgebracht hat, war die Fußballweltmeisterschaft 2010 und die vorab stattfindenden Qualifikationsspiele im Herbst 2009. Die Fußballeuphorie verwandelte die algerische Hauptstadt gewissermaßen über Nacht in einen anderen Raum. Jedes Spiel wurde in den Straßen Algiers ausgiebig und ausgelassen gefeiert: Männer, Frauen, Alte und Junge feierten nach den Spielen die Nationalmannschaft. Ganz Algier defilierte in diesen Nächten, begleitet von Hupen, Feuerwerk und lautstarker Musik: One, two, three, Viva l’Algérie. Der Ausnahmezustand wurde für einen Moment außer Kraft gesetzt (und zwei Jahre später offiziell abgeschafft). Vor allem die jungen Menschen drängten in den öffentlichen Raum. Die Spiele der Nationalmannschaft wurden nicht nur in der algerischen Hauptstadt, sondern überall auf der Welt gefeiert, besonders in den Städten, mit größeren algerischen Exilgemeinschaften, z.B. in Paris, Marseille, London und Montreal. Die algerische Nation feierte sich als transnationale Gemeinschaft. Die Allgegenwärtigkeit der algerischen Fahne in allen Größen und Formen (auf T-Shirts, Mützen, Tattoos, Graffiti) wurde in der algerischen Presse als Zeichen der Aussöhnung der algerischen Nation nach den Jahren der Spaltung während des Schwarzen Jahrzehnts gedeutet. Das exzessive Feiern, vor allem der jungen männlichen Bevölkerung, erinnerte jedoch auch an die Rituale bei den immer wiederkehrenden Straßenunruhen, vor allem das Entzünden von Feuerwerkskörpern, das Vermummen der Gesichter und das Singen von Protestliedern über die hogra und harga. Erst kurz zuvor, im Oktober 2009, hatten heftige Unruhen in der Cité Diar Essehms für Aufsehen in den Medien gesorgt, als die Polizei eine dort angrenzende informelle Siedlung räumen wollte. Auch wenn Algier nicht zu den großen Metropolen des 21. Jahrhunderts zählt, sind die Bewohner*innen mit denselben Problemen konfrontiert: Der Rückzug des Staates aus dem sozialen Bereich bei steigenden Lebenshaltungskosten,

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Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit führen immer wieder zu Protesten und Revolten und machen aus Algier auch im 21. Jahrhundert eine umkämpfte Stadt. Als Hauptstadt ist Algier nicht nur das politische, wirtschaftliche, kulturelle und medizinische Zentrum des Landes, sondern auch ein gewichtiger Schauplatz für Protestbewegungen. So ging der Arabische Frühling an Algier nicht spurlos vorbei. Das angespannte Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten entlädt sich immer wieder in Protesten, die oftmals mit den Forderungen nach dem ›Recht auf die Stadt‹ und gesellschaftlicher sowie politischer Teilhabe in Verbindung stehen. Besonders die Ausgegrenzten, die Bewohner*innen marginalisierter Stadtviertel und entlegener Regionen gingen im Januar 2011 auf die Straße. Ihre Proteste wurden im Zusammenhang mit Gewalterzählungen und Sicherheitsdiskursen jedoch kriminalisiert (Kapitel 4.2). Dies trug zur Spaltung der Proteste bei. Zudem trat die junge Bevölkerung – anders noch als 2009 bei den Fußballfeiern – nicht als Einheit auf. Trotzdem sind junge Stimmen vernehmbar gewesen, die einen Wandel forderten (Kapitel 4.3). Seit der Oktoberrevolte waren Repräsentationen der algerischen Jugend eng verknüpft mit lauten und violenten Formen des Protests auf der einen Seite und stillen verdeckten Formen des Widerstands auf der anderen Seite, beispielsweise durch die Darstellung des harraga-Phänomens als Protest der Jugend (Kapitel 4.4). Dieses Kapitel wurde vor dem Ausbruch der Hirak-Bewegung geschrieben. Es betrachtet Algier als ›umkämpfte‹ Stadt aus dieser Perspektive. Ein Ausblick auf das Hervortreten der algerischen Jugend als treibende Kraft der revolutionären Hirak-Bewegung wird den empirischen Ergebnissen nachgestellt (Kapitel 8).

4.1 Algier, eine Metropole im Werden Die Vision Algiers als geopolitisch bedeutender ›Kopf‹ (hub) zwischen den Kontinenten, 1935 von Le Corbusier in La Ville Radieuse (1935) beschrieben (siehe Kapitel 2.1), wurde durch den Plan ›Algier 2029‹1 zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder neu belebt. Die Wilaya (Departement) von Algier zählt nach den Statistiken des Of fice Nationale des Statistiques (ONS) des Jahres 2008 rund 2.987.160 Einwohner*innen. Damit ist Algier mit ihrem Anteil an der nationalen Bevölkerung (8,7 %) und im Vergleich mit anderen Megastädten der Region (Kairo, Casablanca) an Größe und Bevölkerungskonzentration eher von geringer Bedeutung (Safar-Zitoun 2009, Escallier 2003). Zur Metropolregion Algier gehören rund 5 Millionen Einwohner*innen. Im Zuge der wirtschaftlichen Transformationen in den 1990er-Jahren 1 In einer Sonderausgabe der Zeitschrift Vie des Villes wird der Plan ʻAlger 2029‹ ausführlich vorgestellt: »Cinquantenaire: Les Projets qui transforment Alger.« (Vie des Villes, Juli 2012)

4. Algier als ›umkämpfte‹ Stadt im 21. Jahrhundert

sollte die Rolle und das Ansehen Algiers als werdende Metropole durch einen neuen Status gestärkt und die Stadt nicht mehr als Wilaya, sondern als Gouvernorat, einer Art territorialem Ministerium mit einem Statthalter-Minister (Gouverneur) an der Spitze verwaltet werden. Das Gouvernorat wurde im Rahmen des Grand Projet Urbaine (G.P.U.) beschlossen (Dris 2001). Der Gouverneur sollte nicht einfach die Politik der Zentralregierung auf dem städtischen Territorium ausführen wie der Bürgermeister, sondern als Minister mehr politischen Einf luss haben, etwa im Hinblick auf nationale und ausländische Investitionen und auf die Finanzierung von Stadterneuerungsprojekten (Sidi Boumedine 2002, 5f., Oussedik 2008, 53f.). Das Gouvernorat wurde aber im Jahr 2000 vom damals amtierenden Präsidenten Boutef lika wieder abgeschafft, weil der Status verfassungswidrig sei (Hadjri & Osmani 2004, 49-52, Baouni 2009, 89). Seitdem wird Algier wieder als Wilaya verwaltet und hat darüber hinaus keinen Sonderstatus mehr (Hadjri & Osmani 2004, 53). Hinzu kam die politische Instabilität der 1990er-Jahre, die sich ebenfalls negativ auf die Stadtentwicklung ausgewirkt hatte. Die Vernachlässigung marginalisierter Stadtteile beförderte Segregationsprozesse und das Bild einer geteilten Stadt in der das öffentliche Leben vor allem bei Einbruch der Dunkelheit erstarrte (Kapitel 3.4) und die Öffnung Algiers hin zu einer bedeutenden regionalen Metropole blockierte (Hadjri & Osmani 2004, 50). Dennoch ist der Staat bemüht, die Entwicklung Algiers zu einer Metropole mit mehr regionaler und globaler Bedeutung zu fördern (Hadjri & Osmani 2004, 53). Im Zuge der wirtschaftlichen Transformationen hatte sich Algerien in den 1980er- und 1990er-Jahren auch international neu ausgerichtet und Europa und den USA stärker angenähert. Dadurch sollten die ausländischen Direktinvestitionen erhöht werden, von denen auch die Hauptstadt profitieren würde. »It was hoped that the globalization of the economy, and the increased flow of ideas and information and, to a lesser degree in the case of Algeria, investment, would help improve conditions in the city. Unfortunately, there are still considerable administrative and political hurdles and complications blocking and discouraging foreign capital.« (Hadjri & Osmani 2004, 54) Da Algerien nach dem Jahr 2011 im Vergleich zu den Nachbarländern als politisch stabil galt, sind die ausländischen Direktinvestitionen in den letzten Jahren gestiegen. Auch die Tourismus-Branche konnte von der stabilen Sicherheitslage profitieren. Die zunehmende Privatisierung des Immobilienmarktes hatte die Klientelpolitik des Staates bei der Wohnraumbeschaffung nicht abgelöst, sondern sich lediglich mit ihr verf lochten. Eine Tendenz, die auch andere ökonomische Sektoren

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im Zuge der Liberalisierung prägt2. Dies nährt den Diskurs über die so genannten Barone und die Mafia, die die neue Macht der Privatwirtschaft symbolisieren (Werenfels 2007, 50). Das historische Stadtzentrum Algiers hat bis heute seine Bedeutung als politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Algeriens behalten: Die Regierung und ihre Verwaltung, das Verteidigungsministerium, das größte Rohstoffunternehmen Algeriens Sonatrach, das Théatre Nationale Algérien (TNA), die großen Museen und Veranstaltungssäle befinden sich in den Grenzen der ehemaligen Kolonialstadt (Oussedik 2008, 46). Die Stadtplanung ist bemüht, Algier in eine Metropole mit multipolaren Zentren umzugestalten (Dris 2001) und das in den 1990er-Jahren erloschene öffentliche Stadtleben wieder zu beleben. Die empfundene Unsicherheit im öffentlichen Raum hat dazu geführt, dass das Auto das beliebteste Transportmittel vieler Algerier*innen geworden ist. Der Mangel an öffentlichen Transportmitteln, gemeinsam mit den polizeilichen Straßensperren, hat eine hohe Verkehrsdichte sowohl auf den großen Zugangsstraßen, als auch innerhalb des Stadtzentrums zur Folge, die gemeinsam den negativen Diskurs über die Stadt nährt. Bis 2010 gab es nur Busse und Taxis. Erst 2010 wurde die Tram und 2011 die erste Metrostrecke eröffnet. Im Städteranking des Economist verharrt Algier seit Jahren auf einem der letzten Plätze bezüglich des Lebensstandards.3 Der öffentliche Diskurs über die schlechte Lebensqualität, Gewalt und Unsicherheit und gestiegene Preise spiegelt die negative Bewertung der Stadt wider (Safar Zitoun 2009, 33f., Oussedik 2008). Doch in den letzten Jahren sind in Algier auch optimistischere Stimmen zu hören: Die Rückkehr im Ausland ausgebildeter junger Unternehmer*innen mit innovativen und kreativen Geschäftsideen sowie internationale kulturelle Veranstaltungen tragen dazu bei, ein anderes Gesicht Algiers zu zeichnen. Neue Projekte im Bereich Wirtschaft, Freizeit und Kultur zeugen von einer optimistischen Vision für die Hauptstadt. Der strategische Plan ›Alger 2029‹ sieht vor, Algier in eine Mittelmeer-Metropole zu verwandeln und vor allem durch die Umgestaltung der Bucht aufzuwerten, die bislang nur an vereinzelten Stellen zugänglich ist. Großf lächige Bauprojekte werden in den neuen Randgebieten der Stadt realisiert: Die Shopping-Mall in Bab Azzouar, das Erlebnisfreibad Kiffan Club in Bordj El Kiffan, der Bau der ›großen Moschee‹, ein internationales Geschäftsviertel in Bab Azzouar, Universitätsgebäude, ein internationales Gymnasium, neue Fußballstadien usw. (Plan Alger 2029). Finanziert werden die Bauprojekte größtenteils durch die staatlichen Erdöleinnahmen. Im Zuge der Krise, die zum Fall der 2 Zur wirtschaftlichen Entwicklung Algeriens (1962-2012) siehe: Bouyacoub 2012. 3 https://www.economist.com/graphic-detail/2019/09/04/vienna-remains-the-worlds-most-live able-city.

4. Algier als ›umkämpfte‹ Stadt im 21. Jahrhundert

Erdölpreise führte, wurden die Budgets der Stadtverwaltungen jedoch gekürzt und nicht alle Projekte konnten umgesetzt werden. Stattdessen wurde der partizipativen Stadterneuerung mehr Gewicht verliehen, was wiederum die Aneignung des öffentlichen Raums durch die Bewohner*innen befördert hat: »Citizen participation seems to be a good solution to deal with the economic crisis. But it requires a structure that can welcome civil society and accept its requests.« (Cherfaoui 2018, 30) Während des Ramadans werden neue Vergnügungsmöglichkeiten geboten. Hotels und Unternehmen bieten Zelte mit Musik und Tanzvorstellungen, oftmals unterstützt von großen Unternehmen, wie den Telefonanbietern (Djezzy, Mobilis) oder Getränkeherstellern (Coca Cola, Hamoud Boualem, Ifri). Doch auch der Staat fördert und organisiert öffentliche Veranstaltungen: 2009 fand erstmals seit 1968 wieder das panafrikanische Festival in Algier statt. Aber nicht alle Bewohner*innen der Hauptstadt profitieren von dieser Entwicklung. Im Oktober 2009 hatten tagelange Unruhen im Zentrum der algerischen Hauptstadt auf nicht gelöste Probleme großer Teile der Bevölkerung hingedeutet. In der cité Diar Echems war es zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und den Bewohner*innen des Viertels gekommen, nachdem die Polizei die an die Wohnblöcke angrenzenden Bidonvilles räumen wollte. Unruhen sind in Algerien kein neues Phänomen, jedoch hatten die Intensität und Geschlossenheit der Bewohner*innen, sich gegen den Abriss der Bidonvilles und ihre prekären Wohnverhältnisse zu wehren, die Spannungen zwischen Volk und Regierung besonders deutlich hervorgebracht. In der lokalen Presse wurde die Siedlung als ›neue Kasbah‹ bezeichnet, wodurch das Ausmaß des Konf likts unterstrichen wurde. Neben den jungen männlichen Bewohnern wurden die Demonstrant*innen auch von den Frauen unterstützt, die die Einsatzkräfte mit Flaschen und anderen Gegenständen von den Balkonen aus bewarfen (Kerri, El Watan 20.10. 2009; Memmoud, Liberté, 21.10.2009). Das ›Recht auf Wohnungen‹ gehört zu den postkolonialen Versprechen der algerischen Regierung, das aber für große Teile der Bevölkerung nicht zufriedenstellend eingelöst wurde. Immer wieder brechen in diesem Zusammenhang Revolten aus, bei denen die Menschen ihr Stückchen von der »patrimonialen Torte« (Safar Zitoun 2012, 135) einfordern.4 Die Wohnraumdichte, eine der größten Herausforderungen für die Stadtplanung, hat sich zwar für den gesamten Großraum Algier besonders in den Randgebieten erhöht, konnte jedoch im Zentrum Algiers deutlich verringert werden (Safar Zitoun 2009). Zwei Tendenzen prägen die Migration in die Peripherie der 4 Einen Überblick über die Immobilien-Politik im Umgang mit den bien vacants (leerstehenden Gebäuden) nach der Unabhängigkeit, die als Kriegsbeute (butin de guerre) betrachtet werden und deren Verteilung seitdem zu Konflikten zwischen Regierenden und Regierten führen, gibt Safar-Zitoun (2012).

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algerischen Hauptstadt: 1. Der freiwillige Rückzug der gehobenen Mittelklasse und Eliten, die in den Randgebieten vor allem Platz, Ruhe und Sicherheit suchen. 2. Die staatlichen Umsiedlungsprogramme für Familien aus den zentralen und historischen quartiers populaires in Siedlungen staatlich geförderten Wohnungsbaus vor allem in der östlichen Peripherie Algiers (ceinture ouvrière). Dazu zählen beispielsweise auch die Umsiedlungen von Familien aus der Kasbah im Rahmen des Restaurationsprogrammes und aus Bab el-Oued infolge der Flutkatastrophe von 2001 (Safar Zitoun 2009, 38). In Algerien gibt es keine Wohnraumkrise, sondern eher eine Misswirtschaft und Verwaltungsprobleme, die laut dem Collège National des Experts Architectes (CNEA) dazu geführt haben, dass es heute eine ›Immobilienblase‹ gibt: 1,5 Millionen unbesetzte Wohnungen, die zu den schwindelerregenden Preisanstiegen auf dem Immobilienmarkt geführt hätten (Hammadi, Liberté, 19.4.2011). Die Ambitionen der Stadtplanung, das Bild Algiers aufzuwerten, werden besonders durch die Ausbreitung informeller Bauten gestört. Das Ziel der Stadtplanung ist es, bis 2014 aus Algier ›eine Stadt ohne bidonvilles‹ zu machen (Abi, Le Jour d’Algérie, 27.5.2009). Die Bürgermeister*innen der Kommunen wurden aufgefordert, gegen die informellen Konstruktionen vorzugehen. Die Ausweitung der Stadt in ihr Umland hat einen bedeutenden Verlust an nutzbaren Agrarf lächen verursacht. Kinder, die an den Rändern der Autobahnen zwischen Zentrum und Peripherie landwirtschaftliche Produkte zum Verkauf anbieten, prägen das Bild einer urbanisierten Landschaft, in der Stadt und Land verschmelzen. Die ungeplante Ausdehnung Algiers ins Hinterland hat dazu geführt, dass das Netz, das Algier mit seinem Umland bildet, schlecht ausgebaut und fragmentiert ist (Hadjri/Osmani 2004, 53). Neben den peripheren Siedlungen staatlichen Wohnungsbaus entstehen in diesen entlegenen Orten und Zwischenräumen neue informelle Siedlungen. Diese Grauzonen5, die nicht mehr Land und noch nicht Stadt sind, leiden unter mangelnder Infrastruktur und die Bewohner*innen unter sozialer Ausgrenzung. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und fehlende Freizeiteinrichtungen prägen den Alltag der Jugendlichen. Neben den historischen quartiers populaires, die heute aufgrund ihrer zentralen geografischen Lage und gleichzeitiger sozialer Marginalität als ›innere Peripherien‹ der Stadt bezeichnet werden können, waren die Januarunruhen 2011 in den entlegenen Orten des Großraums von Algier, den äußeren Rändern der Stadt, und in den entlegenen, südlichen Regionen des Landes ausgebrochen. 5 »Gray spaces are neither integrated nor eliminated, forming pseudo-permanent margins of today’s urban regions, which exist partially outside the gaze of state authorities and city plans […] The double-edged move of ›separating incorporation‹ preserves gray spaces in a state of ›permanent temporariness‹; concurrently tolerated and condemned, perpetually waiting ›to be corrected‹.« (Yiftachel 2009, 243f.)

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In der Kasbah, dem Schauplatz der Schlacht um Algier und der Oktoberrevolte 1988 war es im Januar 2011 zwar ruhig geblieben, doch steht die Altstadt auch heute noch symbolisch für das umkämpfte ›Recht auf die Stadt‹ – die hohe Wohnraumdichte und der schlechte Zustand der alten Gebäude führen auch dort immer wieder zu Protesten.

Die Kasbah im 21. Jahrhundert Ein Blick über die Dächer der Kasbah zeigt die Heterogenität des urbanen Raumes Algiers im 21. Jahrhundert: Eine mit Kameraüberwachung gesicherte Villa, Museen in restaurierten osmanischen Palästen, dazwischen modernistischer Wohnungsbau aus der Kolonialzeit, heruntergekommene, vom Einsturz bedrohte Häuser aus der osmanischen Epoche und die individuelle Architektur improvisierter Auf- und Anbauten. An den Wänden erinnern Graffiti an alte und neue Helden des Widerstands – Ali la-Pointe, Napoli und Tupac Shakur – Wut – Fuck the Police, la hogra – und Wünsche – harraga – der jungen Bevölkerung. Auf den frei gewordenen Flächen eingestürzter Gebäude entstehen und verschwinden Notunterkünfte in Form von Baracken und sogar Zelten. Diese Zelte im Zentrum der algerischen Hauptstadt im 21. Jahrhundert symbolisieren eine neue nomadische Lebensform, die von Unsicherheit und Flüchtigkeit geprägt ist (Kapitel 1.1). Von etwa 30 % der Häuser der Kasbah sind die Besitzverhältnisse ungeklärt. Diese Häuser werden teilweise schon über Generationen hinweg ›besetzt‹. Aber auch Restaurierungs- und Umsiedlungsprogramme sorgen für ständige Bewegung und neue Besetzungen der Häuser. Diese ›besetzten‹ Räume sind mit den Märkten und der Straßenwirtschaft im Viertel verbunden (Chabou 2005). Besonders in der unteren Kasbah, am Platz der Märtyrer und in den Straßen an den Rändern der Kasbah sowie in den zwei großen während der Kolonialzeit erweiterten Durchgangsstraßen haben sich zahlreiche Straßenverkäufer*innen niedergelassen. Einige nutzen die leerstehenden Gebäude als Lager und teilweise auch als Wohnrefugium. Zu den Projekten der Rehabilitation der Kasbah gehören die Reduzierung der Bevölkerungsdichte, die Instandhaltung der öffentlichen Räume, die Förderung der lokalen Wirtschaft, vor allem des traditionellen Handwerks und der traditionellen Kultur und Künste, die Förderung der Ausbildung und Beschäftigung von Jugendlichen und die Resozialisierung von Straftäter*innen. Die physische Rehabilitation der Kasbah könne nur im Einklang mit einer sozialen Rehabilitation erfolgreich sein (Hadjri & Osmani 2004, 54). Für die Rehabilitation der Kasbah wurde vom Kulturministerium und der Stadt Algier der Plan Permanent de Sauvegarde et de Mise en Valeur du Secteur Sauvegardé (PPSMVSS) entwickelt. In diesem Plan werden zum Beispiel bestimmte Gebäude als prekär bezeichnet. Das können z.B. einsturzgefährdete Gebäude sein. In der oberen Kasbah wurden jedoch auch

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einige Häuser als prekär bezeichnet, die bautechnisch und sozial keine Anzeichen der Prekarität aufwiesen. Sie wurden lediglich ohne Eigentumsansprüche errichtet und jahrelang von der Stadtverwaltung geduldet. Das Terrain auf dem sie errichtet wurden, sollte im Jahr 2014 jedoch für touristische Zwecke genutzt werden. Durch die Bezeichnung prekär wird ihre Duldung delegitimiert und die Umsiedlung der Bewohner*innen gerechtfertigt. Die ›informellen‹ Hausbesitzer*innen mussten ihre seit über 30 Jahren bewohnten Häuser quasi über Nacht verlassen. Sie wurden in die östliche Peripherie umgesiedelt. Abbildung 6: Der Märtyrer-Platz im Plan Algier 2029

Quelle: Vie des Villes, Juli 2012

Die Kasbah von Algier verfügt über ein hohes symbolisches Kapital, da sie eines der wichtigsten Differenzierungsmerkmale der algerischen Hauptstadt ist. Die Restaurierungsarbeiten und die touristische Vermarktung des Kasbah-Parcours6 ziehen bereits immer mehr Tourist*innen an. Bei den Bauarbeiten der Metrostation am Platz der Märtyrer sind 2012 bedeutende archäologische Funde der römischen Stadt gemacht worden, die in einem unterirdischen Museum in die neue Metrostation integriert werden sollen. Der Anschluss an die Metro, die Errichtung eines ›Monuments der Märytrer‹ im Rahmen des Plan Algier 2029 sowie die Attraktivitätssteigerung der Kasbah als Weltkulturerbe sollen ihre Bedeutung als 6 Der Kasbah-Parcours zieht sich entlang einer bereits erneuerten Route, die den Besucher*innen der Altstadt einen schönen Anblick bietet.

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historisches Zentrum Algiers stärken. Aufgrund der Sparmaßnahmen im Rahmen der Krise ist jedoch auch das Monument der Märtyrer bescheidener als auf der Abbildung in der Hochglanzbroschüre des französischen Architektenbüros Arte Charpentier, das für das Projekt beauftragt wurde, ausgefallen. 2018 wurde die Metrostation mit dem integrierten Museum eröffnet. Bislang hat die Kasbah noch Bedeutung als zentral gelegenes – gewünschtes und verwünschtes – Refugium der Armen7, zu dem sie in der Kolonialzeit geworden ist. Trotz der Umsiedlungsprogramme und des Rückgangs der Wohnraumdichte, ist die Wohnraumfrage ebenso wie die Regulierung des informellen Handels nach wie vor ein Thema, das auch in der Kasbah regelmäßig zu Protesten und Widerstand führt (Iddir, El Watan, 1.6.2011). Für viele der jungen Männer ist der informelle Handel eine Möglichkeit der Existenzsicherung. Deshalb ist die informelle Straßenwirtschaft in Algier zu einem Politikum zwischen Regierenden und Regierten geworden (Kapitel 5). Die Beispiele aus der Kasbah stehen für die großen urbanen Probleme Algiers im 21. Jahrhundert, die laut Icheboudene Ausdruck eines breiteren politischen Konf likts sind zwischen dem Volk und der Regierung nach vier Jahrzehnten gescheiterter Stadtpolitik (Icheboudene 2009, 101f.). Auf der Suche nach einer geeigneten gouvernance der Stadt im 21. Jahrhundert müsse die Rolle der Bürgerschaft in der Stadtpolitik neu definiert werden, plädiert Icheboudene. Nur über eine aktive und partizipative Stadtbürger- und Bürgerschaft könne die urbane Krise gelöst werden und Algier ihren Status als nationale Hauptstadt erneuern (Icheboudene 2009, 112). Gerade das Informelle erweist sich oftmals nicht als technisch lösbares Problem der Gouvernance sondern als widerspenstiger Modus der Urbanisierung, der die Grenzen des Planens aufzeigt. Nach den Januarunruhen 2011 profitierten die Straßenverkäufer*innen von der angespannten politischen Situation in der Hauptstadt. Der öffentliche Raum wurde zugleich freier für den Straßenhandel und kontrollierter für politische Aktionen. Die Tolerierung des informellen Handels, ebenso wie soziale Zugeständnisse nach Protesten und insbesondere vor Wahlen, werden in der Presse als Demobilisierungsstrategien des Staates betrachtet (Saci, El Watan, 7.3.2011). Doch die Sicherung des sozialen Friedens erfolgt nicht nur durch diese Formen des Notfall-Regierens, sondern auch durch Überwachung und Kontrolle der Räume. Die polizeiliche und militärische Überwachung des urbanen Raums, 7 Viele Bewohner*innen der Altstadt streben den Komfort der modernen Wohnungen an und hoffen daher, von den staatlichen Umsiedlungen zu profitieren. Gleichzeitig ist die Kasbah ihr Zuhause, das sie nicht nur wegen der zentralen Lage und damit verbundener Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch wegen der nachbarschaftlichen Beziehungen schätzen (Icheboudene 2010, Sebah 2007).

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die seit den 1990er-Jahren im Namen der Terrorismusbekämpfung geführt wird, prägt bis heute den öffentlichen Raum der Hauptstadt. Der im Jahr 1992 eingeführte Ausnahmezustand galt bis zum 23.2.2011, und trotz seiner Abschaffung schränken Polizeisperren und Versammlungsverbote im Namen der ›Sicherheit‹ noch immer die Mobilität und die kollektive Nutzung des öffentlichen Raums ein. Phillipe Droz-Vincent hebt in seinem Artikel ›Pouvoirs dans la ville et révoltes arabes en 2011‹ die Bedeutung der Sicherheitspolitik als Herrschaftsinstrument autoritärer Regime in den Städten der MENA-Region hervor: »Die Analyse autoritärer Regime in der arabischen Welt hat oftmals das vernachlässigt, was das Herz und erstes Instrument der autoritären Politik war, die polizeiliche Kontrolle. Die autoritäre Politik wurde am Beispiel der politischen und ökonomischen Eliten erforscht. Dieser Ansatz, so nützlich er auch ist, vergisst das Lokale und das Alltägliche und das was die Verbindung zur autoritären Politik ausmacht: die Sicherheit und die Versicherheitlichung (securitization), die als Brutalisierung vieler sozialer Beziehungen im öffentlichen Raum bezeichnet werden kann.« (Droz-Vincent 2013, 156)

4.2 Sicherheitsdiskurse und die Januarunruhen 2011 Die ›neue Unsicherheit‹ ist ein allgegenwärtiges Thema in der algerischen Gesellschaft. Zeitungsberichte und Gewalterzählungen (crime talk, Caldeira 2000) schüren die Angst vor dem urbanen Terror: • »Die alltägliche Kriminalität – der andere Terrorismus.« (Tlemcani, El Watan, 25.8.2011) • »Algier unter starkem Sicherheitsdruck.« (Benfodil, El Watan, 6.12.2009) • »Gewalt in Algerien: das Gesetz des Stärkeren. Es hat viele Gesichter.« (Aouzelleg, Liberté, 13.9.2010) • »Kriminelle Banden verbreiten nachts in Algier Terror.« (Semmar, El Watan, 8.12.2010) • »Urbane Kriminalität: mehr als 11 000 Polizeieinsätze in einem Monat.« (Kerri, El Watan, 28.9.2011) • »Zwischen großem Banditentum und Kriminalität. Algier bei Nacht macht Angst.« (Adryen, L’Expression, 27.07.2009) Der Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren hat Misstrauen hinterlassen, anstelle der Angst vor dem Terrorismus ist die Angst vor alltäglicher Gewalt getreten. Laut Ergebnissen einer Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup zum Gefühl von Sicherheit, fühlen sich 61 % der Algerier abends auf der

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Straße unsicher. Damit gehört Algerien zu den ›unsichersten‹ Ländern der MENARegion im Vergleich zu nur 19 % in Tunesien und 25 % in Marokko. Nur in Afghanistan (63  %) und im Irak (66  %) fühlen sich die Menschen noch weniger sicher (Semmar, El Watan, 9.12.2010). Berichte über Kriminalität und Verbrechen füllen Zeitungen, Fernsehsendungen und Stadtgespräche. Die Urbanisierungswellen nach der Unabhängigkeit sowie während des Bürgerkriegs der 1990er-Jahre haben das Entstehen von Wohnsiedlungen verstärkt, die im Bericht des Gouvernorat du Grand Alger (1998) als sensible und schwierige Stadtviertel (quartiers sensibles et dif ficiles d’Alger) Iamarène-Djerbal 2002, 133) bezeichnet werden: Eine hohe Wohnraumdichte, mangelnde Infrastruktur und die Häufung sozialer Probleme in Verbindung mit der hohen Arbeitslosenrate, besonders nach der Schließung staatlicher Unternehmen, in deren Nähe einige der Wohnsiedlungen gebaut wurden, prägen den Alltag dieser Viertel, die immer wieder zu Orten des Protests werden. Diese Orte geben Zeugnis von sozialer Ungleichheit und der Kriminalisierung der Armen, die mit dem Diskurs über Sicherheit einhergeht und die Spaltung der Gesellschaft verstärkt. In der Presse werden diese Orte als rechtslose Zonen, Ghettos oder favelas bezeichnet (Memmoud, Liberté, 20.10.2009). 2010 wurde die Videoüberwachung des öffentlichen Raums in den so genannten ›sensiblen quartieren‹ eingeführt8. Nur sechs Monate nach seinem Amtsantritt musste der neue Polizeichef eine große Herausforderung bewältigen: Das zeitgleiche Ausbrechen von Unruhen in mehreren Stadtvierteln der algerischen Hauptstadt (siehe weiter unten). Die neu installierten Kameras wurden zur Zielscheibe der Protestierenden. Zeitungsberichten zufolge hätten sie aber auch die Identifikation der Demonstrant*innen ermöglicht und so zu zahlreichen Verhaftungen geführt. Trotz des massiven Polizeiaufgebots und der Überwachung aus dem Luftraum verfolgte die Polizei eine Strategie der Zurückhaltung, um ein Überschwappen der Empörung auf breitere Bevölkerungsteile zu verhindern, wie dies beispielsweise in Tunesien nach dem gewaltsamen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrant*innen geschehen ist. Die Zurückhaltung hatte jedoch auch andere Folgen, die in der lokalen Presse kritisiert wurden: Das unter dem Polizeichef Tounsi eingeführte Projekt der urbanen Sicherheit der Nähe (sûretés urbaines de proximité), das eine Verstärkung der Polizeipräsenz in den so genannten ›sensiblen Vierteln‹ zum Schutze der 8 Die Videoüberwachung der zentralen öffentlichen Plätze in der Hauptstadt wurde 2004 eingeführt und 2010 auf öffentliche Räume der quartiers populaires (El-Harrach, Bab el-Oued, Annassers), Vororte, Bahnhöfe, Moscheen und Fußballstadien ausgeweitet (Ouazani, Jeune Afrique, 9.9.2010): »The routine surveillance of urban space aims to ensure the exclusion of delinquency or deviance. It reflects the fears about population regarded as different.« (Koskela 2003, 300)

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Bevölkerung vorsah und ein gutes Verhältnis zu den Jugendlichen suchte, etwa durch die Organisation von Fußballspielen zwischen den verschiedenen Stadtvierteln, wurde vom neuen Polizeichef General Hamel vernachlässigt. Dieser setzt laut einem Artikel in der Tageszeitung El Watan (Iddir, 21.4.2011) eher auf Überwachung denn auf Schutz der Bevölkerung. Der Rückzug der Polizei aus den sozialen Problemvierteln habe dort zum Anstieg der Kriminalität und der Ausbreitung des informellen Handels geführt (Kapitel 5). Der polizeiliche Rückzug sei nach den Unruhen im Januar 2011 angeordnet worden, um neue Provokationen zu vermeiden (Iddir, El Watan, 21.4.2011). Die Darstellung von Stadtvierteln als »out of control« (Katz 2004, 243) wird dazu benutzt, die Proteste der Bewohner*innen zu kriminalisieren und sich somit der Verantwortung für die eigentlichen Ursachen der Revolten zu entziehen. Die Stigmatisierung männlicher Jugendlicher aus den quartiers populaires hat in Algerien während des Schwarzen Jahrzehnts seinen Höhepunkt erreicht (Kapitel 3.4). Heute wird das negative Bild der Jugendlichen mit der Straße als Ort der Unordnung in Verbindung gebracht: Les jeunes de la rue (die Jugendlichen der Straße) sind Algeriens ›interne Andere‹9: »50,78 % der Kriminellen, die in Algier herumstreifen sind zwischen 18 und 28 Jahre alt.« (L’Expression, 27.7.2009) »Die großen Wohnblöcke sozialen und bezuschussten Wohnungsbaus beherbergen eine ganze Fauna von Kriminellen und die friedlichen Bewohner gehen nachts nicht mehr raus, aus Angst angegriffen, belästigt oder beklaut zu werden.« (Iddir, Nadir, El Watan 21.4.2011) Die Cité (Wohnsiedlung) Climat de France in Oued Koriche steht exemplarisch für die Konstruktion solcher ›Gegenorte‹, die in den Medien regelmäßig mit Berichten über Gewalt und Drogenhandel Schlagzeilen machen. So titelte El Watan im Frühjahr 2011: »Gangster mit Maschinengewehren verbreiten Angst und Schrecken.« (Arab, 16.2.2011) »Oued Koriche steht den brasilianischen Favelas in nichts nach.« (Iddir, 7.3.2011) 9 In »The Siege of Imbaba, Egypt’s Internal ›Other‹, and the Criminalization of Politics« (2009) analysiert Singerman die Kontinuität kolonialer Diskurse in Ägypten. Über die Konstruktion des chaotischen und kriminellen Anderen – die Islamisten, die aus den zugezogenen ›Bauern‹ rekrutiert werden, definiert sich das Moderne Ägypten: »rural people contaminate the urban fabric of Cairo and Alexandria.« (Singerman 2009, 125)

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Für Safar-Zitoun (2009) stellt Climat de France einen neuen Typ prekärer Wohnverhältnisse dar: unerlaubte Bauten auf freien Zwischenf lächen oder auf den Dächern der Wohnblöcke werden nicht von den ›exogenen Niederlassungen‹ der Migrant*innen vom Land, sondern von der ›endogenen Reproduktion‹ der neuen Generation der Bewohner*innen vorgenommen (Safar Zitoun 2009, 52). Nachdem die Regierung im März 2011 die an die cité angrenzenden informellen Bauten zerstörte und die Bewohner*innen umgesiedelt werden sollten, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohner*innen und der Polizei. Laut einem Artikel der Tageszeitung El Watan hatte der Bürgermeister der Kommune den Bewohner*innen vorübergehend den Bau der Baracken erlaubt, da die Familien in der cité mit bis zu 14 Personen in 2-Zimmerwohnungen lebten. Der Bürgermeister von Climat de France hingegen bestritt, jemals die ›informellen Bauten‹ gestattet zu haben und verwies auf die Anweisungen der Stadtverwaltung zur Zerstörung der Bidonvilles (Farès, El Watan, 24.3.2011). Die Medien schrieben von einem ›Bürgerkrieg‹. Ein auf youtube gepostetes Video mit dem Titel ›Climat de France Chohada‹ (Climat de France der Märtyrer) dokumentiert die Unruhen mit einer Botschaft an die Regierung: »Leider sind das Algerier in ihrem Land, die ihre einfachen Rechte verteidigen. Das Recht zu leben! Nur eine kleine Nachricht vonseiten der Bewohner von Climat de France. Niemals auf den Knien! Für uns gibt es kein Zurück! Wir verteidigen unsere Rechte bis zum Tod! Climat de France Chouhada.« (Youtube, hochgeladen am 29.3.2011) Über mehrere Tage hinweg hatten sich die Bewohner*innen und die Polizei heftige Straßenschlachten geliefert. Der Produzent des Videos stellt mit ›Climat de France Chouhada‹ eine Verbindung zur ›Bab el-Oued Shouhada‹-Identität her, die sich auf die Jugendrevolte von 1988 und die Mobilisierung der Bewohner*innen des Stadtviertels gegen die Regierung der FLN im Schwarzen Jahrzehnt bezieht (Dris 2001, 193). Gegen Ende der Kolonialzeit waren Bewohner*innen der Kasbah nach Climat de France umgesiedelt worden. Viele der ansässigen Familien lebten schon seit ihrer Umsiedlung unter der Stadtplanung der französischen Kolonialmacht in den 1960er-Jahren dort. Der Bau der Grands Ensembles in den 1950er-Jahren, durch den Wohnungen für die algerische Bevölkerung in der Kolonialstadt geschaffen wurden, sollte der Befriedung des Aufruhrs dienen. Auch die räumliche Trennung der Bewohner*innen der Kasbah durch die Umsiedlungen sollte dazu beitragen, erneute Revolten zu verhindern. (siehe Kapitel 2.3). Eine Parallele zu den Januarunruhen 2011 drängt sich auf: Im Januar 2011 war Climat de France Schauplatz der heftigsten Unruhen gewesen. Die Zerstörung der an die cité angrenzenden Bidonvilles im März 2011 und die angekündigte massive Umsiedlungsaktion

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kann daher auch als Maßnahme zur Befriedung und Zerstörung von realen oder potentiellen sozialräumlichen Basen der Opposition- »real or potential socio-spatial bases of opposition« (Kipfer 2009, 1006) und somit als neo-Haussmansche Strategie des Regierens gedeutet werden (Harvey 2013 [2012]). In diesem Sinne symbolisiert Climat de France heute nicht nur einen bestimmten Baustil – die Grands Ensembles – der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, sondern auch das Klima ›urbaner Apartheid‹ (Silverstein & Tetrault 2006) in den so genannten verbannten Orten – banlieus10 – der algerischen und französischen Städte (Silverstein & Tetrault 2006, 14). Segregation und Prekarität prägen den Alltag vieler Menschen in den Armutsvierteln der Städte in der MENA-Region, doch sind die wachsenden Ungleichheiten und die Ausgrenzung und Diskriminierung sozialschwacher Bevölkerungsgruppen in den Städten kein regionales, sondern ein globales Phänomen. Auch die Proteste, die vor allem von den jungen männlichen Bewohnern dieser Orte getragen werden, weisen globale Parallelen auf. Die Unruhen, die in mehreren Städten und Regionen Algeriens im Januar 2011 ausgebrochen sind, werden im Folgenden am Beispiel Algiers vor dem Hintergrund des so genannten Arabischen Frühlings und der neoliberalen Krise – die im selben Jahr beispielsweise in London und 2013 in Schweden zu heftigen Straßenunruhen geführt hat – genauer beleuchtet.

Die Januarunruhen 2011 Als in der Nacht zum 3. Januar 2011 in Algier in mehreren Stadtteilen Straßenunruhen ausgebrochen waren, stimmten viele der Bewohner*innen den Aufständischen zu. Gleichzeitig erschreckte sie das Ausmaß der Gewalt und Plünderungen. Die Erhöhung der Öl- und Zuckerpreise galt in den Medien als Auslöser der Januarunruhen 2011 in Algerien. Die Regierung erklärte die Unruhen aufgrund fehlender politischer und sozialer Slogans als unpolitisch und damit als direkte Antwort auf die Preiserhöhung (Jabi 2011, 6). In der Presse und im öffentlichen Diskurs hingegen wurden die allgemeine soziale Malaise der Jugend und die Unzufriedenheit mit der schlechten Regierungsführung dafür verantwortlich gemacht: »Wenn die Regierung alle Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft geschlossen hat, wird die Straßenrevolte die einzige Möglichkeit des Ausdrucks. Der wahre Grund für die Empörung der Jugendlichen ist das schlechte Leben (la mal vie). Dieses Gefühl des Wartens beim alltäglichen Überlebenskampf auf bessere Tage, die nicht kommen. Daher kommen die Verzweiflung, die Selbstmorde und die harga (illegale Migration). Und dann ist da noch das Gefühl der hogra (Machtmiß10 »[T]o be au ban meant to be excluded from a group by edict.« (Ossman & Terrio 2006, 7)

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brauch), die ständige Erniedrigung. Die Revolte entspringt einer Aufwallung von Würde, man demonstriert aus Solidarität mit den Jugendlichen, die bei der letzten Revolte verhaftet wurden. Es handelt sich eher um schlechte Governance und um Korruption als um mangelnde Ressourcen.« (Abdesselam Ali-Rachedi, El Watan, 18.1.2011) Die Bezeichnung der Unruhen als Öl- und Zuckerunruhen weisen jedoch auch auf Konf likte und Beziehungen zwischen Akteur*innen aus der Wirtschaft und dem Staat hin. Besonders die Interessen der Importeure, die durch Steuersenkungen von den Unruhen profitiert hätten, gerieten in die Kritik. Andere Stimmen vermuteten hinter dem Aufruhr erneute Machtkämpfe innerhalb der Regierung, die dem Rumoren über die Manipulation der Jugend von 1988 ähnelten (Jabi 2011, 4). Was das Profil der Akteur*innen, die Formen des Protests und die Ursachen angehen, weisen die algerischen Unruhen 2011 Parallelen zu den Ausgangsunruhen der tunesischen Revolution (Ayeb 2011, Honwana 2011) auf, die vor allem mit asymmetrischer Ressourcenverteilung, sozialräumlicher Ausgrenzung, Klientelpolitik, Korruption sowie mit der Erfahrung der hogra in Verbindung gebracht werden und vor allem von der marginalisierten Jugend getragen wurden (Honwana 2011). Urbane Unruhen und Proteste sind in Algerien und in der MENA-Region kein neues, sondern ein häufig wiederkehrendes Phänomen, das auf die Liberalisierungs- und Privatisierungsprozesse in den 1970er-/1980er-Jahren zurück zu führen ist und besonders in Krisenmomenten hervortritt (Gertel 2014, Joya 2011, Dixon 2011). In diesem Sinne sind die Revolten vom Oktober 1988 ebenso wie die Unruhen vom Januar 2011 als Höhepunkte langanhaltender Krisenprozesse zu verstehen. Während in Ägypten und Tunesien jedoch vor allem die Erklärung der moral economy, die Einforderung des ›Rechts auf Brot‹ als Erklärung der Proteste herangezogen wird, handele es sich in Algerien eher um eine moral policy, die Einforderung des ›Rechts auf Würde und Mitsprache‹ bei den Protesten. Dies schließt Roberts (2002) aus den Slogans der Proteste der Oktoberrevolte (Kapitel 3.3). Die Schauplätze der Unruhen vom Januar 2011 zeichnen sich für den Großraum Algier als Geografie entlegener Orte (Bouira, Bous Smail, Sidi Aich etc.) und innerstädtischer quartiers sensibles (Climat de France/Bab el-Oued, Belcourt, Bachdjerrah etc.) aus. Die Unruhen hatten sich schnell auch auf andere Städte und Regionen Algeriens, einschließlich der Kabylei ausgeweitet. Laut Innenministerium waren 20 der 49 Wilayas Algeriens von Protesten betroffen (Jabi 2011, 5). Die Befürchtungen der Regierung, dass sich die Unruhen am Freitag nach dem Mittagsgebet zu einer breiteren Mobilisierung in der Hauptstadt ausweiten könnten, bestätigten sich nicht. Ali Belhadj, einer der Führer der FIS in den 1990er-Jahren, damals selbst in den Dreißigern (Kapitel 3.3), betrat zwar erneut die politische Bühne in Bab el-Oued, einem für den Widerstand der islamistischen Bewegung

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der 1990er-Jahre symbolträchtigen Ort. Er wurde aber sofort von der Polizei verhaftet und erneut unter Hausarrest gestellt. Der Einf luss islamistischer Kräfte hat in Algerien nachgelassen (Ouaissa 2013). Bei den Unruhen in Algier wurde – wie bei der Oktoberrevolte von 1988 – das Ministerium für Jugend und Sport angegriffen sowie einige Gerichtsgebäude und ein Kommissariat. Doch während 1988 Übergriffe auf staatliche Einrichtungen dominierten, waren 2011 vor allem Einrichtungen aus der Privatwirtschaft Zielscheibe der Aufständischen: Mobiltelefonanbieter, der Renault Show Room in Climat-de-France sowie einige Mehldepots und Einkaufszentren (Maïche, El Watan, 12.1.2011). Während 1988 der Zugang zu Luxusgütern auch eine Frage des mangelnden Angebots und der Staatskrise war, ist die Frage des Zugangs heute vor allem eine des Geldes und somit Spiegel sozialer Differenzen. Die Jugendlichen aus den Armutsquartieren sind dadurch mehrfach diskriminiert: als Jugendliche gegenüber den Älteren, als Bewohner*innen der Armutsviertel gegenüber der Mittelschicht und der Eliten und als Volk gegenüber der Regierung: »Wir sind wie Vulkane, von Zeit zu Zeit müssen wir Feuer spucken, um atmen zu können.« (Teilnehmer der Straßenproteste, zitiert in Mouffok 2011) Während sich die Elite, sowie Teile der Mittelklasse, mithilfe von Krediteinkäufen Luxusgüter wie Autos, Flachbildfernseher, Smartphones oder Markenkleidung leisten kann, haben große Teile der Gesellschaft auf ›formellem‹ Weg keinen Zugang zu diesen Luxusgütern. Die Verwüstung und Plünderung von Luxusgütergeschäften kann als Kritik an sozialer Ungleichheit, Korruption oder Forderung nach Teilhabe an der wirtschaftlichen Liberalisierung gedeutet werden. Auch die These der Demobilisierung der Jugendlichen durch das System der Rentenverteilung blendet die komplexen Ursachen für die Spaltung der Protestbewegung in Algerien aus und übersieht die Differenzen innerhalb der Gesellschaft, die durch sozialräumliche Ausgrenzung wirksam werden. Am 9. Januar 2011 antwortete der damals amtierende Innenminister Daho Ould Kablia in einem Interview auf die Frage, wer die Aufständischen gewesen seien, folgendermaßen: »Sie lieben alles, was sie sich auf legale Weise nicht leisten können, was sie nur über Diebstahl, Schwarzmarkt oder Drogenhandel erstehen können. Sie finden keine Ablenkung in der Musik, im Sport oder im Reisen. Ihr Universum ist die Straße ihres Quartiers.« (zitiert in: El Watan, 8.1.2012) Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung der Empörung der Aufständischen vom Januar 2011 anfangs zustimmte, erschreckte sie das Gewaltpotential der Aufständischen. Hier drängt sich ein Vergleich zu den städtischen Unruhen im euro-amerikanischen Kontext auf: Die Diskriminierung insbesondere der männlichen Jugend der städtischen Armutsgebiete, die gewaltvollen Auseinanderset-

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zungen zwischen Jugendlichen und der Polizei, Kriminalisierung der Aufstände und Legitimation des Ausnahmezustandes zur Wiederherstellung der Ordnung (Amin 2003). Vor allem lassen sich aber hinsichtlich der Mobilisierung Parallelen erkennen: Nicht organisierte, ideologisch motivierte Gruppen stehen hinter der Mobilisierung, sondern die spatial solidarity (Bayat 2010, 59) nachbarschaftlicher Gemeinschaften (Skott-Myhre & Richardson 2012, 14). Die Zugehörigkeit zur houma ist in den quartiers populaires sehr viel ausgeprägter, nicht weil die Bewohner*innen in archaischen oder traditionellen Strukturen verharrt sind, sondern weil lokale Netzwerke eine ermächtigende Funktion haben. In Algerien sind breite Teile der jungen Bevölkerung sozialräumlich und politisch marginalisiert. Die Jugend sei darum auch eine mögliche Akteurin der Mobilisierung und mögliche Trägerin einer breiteren Protestbewegung. Anzeichen dafür gab bereits im Protestjahr 2011.

4.3 Algier und der Arabische Frühling Der so genannte Arabische Frühling hat das Bild der MENA-Region radikal verändert. Die autoritären Strukturen des Staates und der Gesellschaften galten als zu stabil, um sie durch Proteste und Widerstand umwälzen zu können. Auf dem Index für politische Instabilität der Economist Intelligence Unit stand 2009 als einziges Land der MENA-Region der Irak. Autoritäre Regime seien dem Risiko weniger ausgesetzt hieß es dort: »This is only surprising until one remembers that authoritarian states, which proliferate in the Middle East, are historically even less at risk of instability than fully democratic states (as noted, the intermediate regimes are most at risk.« (The Economist Intelligence Unit, März 2009) Trotz aller Anzeichen für die Notwendigkeit eines Umbruchs, schien dieser unvorstellbar. Ebenso gleichzeitig ›unmöglich und unausweichlich‹ erschien auch der Beginn der Hirak-Bewegung am 22. Februar 2019 in Algier (siehe Kapitel 8). Auch wenn Algerien als Ausnahmeland der Region im Arabischen Frühling hervorgetreten ist, ließen sich zahlreiche Auswirkungen der regionalen und später globalen Proteststimmung des Jahres 2011 (Mason 2013 [2012]) in der Hauptstadt beobachten. Die Januarunruhen von 2011 hatten eine Welle von Protesten und Forderungen ausgelöst. Die wichtigsten öffentlichen Plätze im Stadtzentrum wurden von den Demonstrant*innen besetzt, die trotz des Demonstrationsverbots ihre Forderungen vorbrachten. Die am 21. Januar 2011 gegründete parteiunabhängige demokratische Oppositionsbewegung Coordination Nationale Pour le Changement et la Démocratie (CNCD) rief am 12. Februar 2011 zu ihrer ersten Demonst-

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ration auf und brach damit das Demonstrations- und Versammlungsverbot, das seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes im Jahr 1992 in der Hauptstadt galt (Baamara 2012). Die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Medien hat dazu beigetragen, die Januarunruhen 2011 und die folgenden Protestbewegungen mit dem Auf begehren der ›Arabischen Straße‹ in Verbindung zu bringen. Besonders der Blick auf die Situation der Jugend hat die regionale Dimension der Protestbewegungen betont und eine breitere soziale Malaise hinter den Unruhen vermutet. Entgegen der offiziellen Darstellung der staatlichen Medien, sei die Preiserhöhung der Nahrungsmittel nur einer von vielen Gründen gewesen, die die Empörung der Jugend 2011 hervorgerufen hätten. Hinzu kommen teure Lebenshaltungskosten, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Unterbezahlung, ein unangemessenes Ausbildungssystem, fehlende Freizeitbeschäftigung, bürokratische Hürden, Korruption, sowie moralischer Druck und Spannungen zwischen den Generationen, schreibt der Journalist und Autor Chawki Amari: »Die Jugend befindet sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs und es braucht nicht mehr viel, bis die Situation eskaliert.« (Amari, 8.1.2011) All diese Gründe hätten zu einer Bündelung der Empörung der jungen Bevölkerung führen können, wie beispielsweise in Tunesien und anderen Ländern der MENA-Region. Doch dazu ist es in Algerien erst 2019 gekommen. Die Gründe für die Nicht-Revolution 2011 in Algerien variieren. ›Algerien hatte seine Revolution schon 1988‹ ist einer der oft genannten Argumente. Die Jugend, auch wenn sich ihre Situation nicht von der in den Nachbarländern unterscheidet, sei müde oder ernüchtert, was ideologische Versprechen beträfe. Auch das Empfinden der Unsicherheit und vor allem die Erinnerung an den Bürgerkrieg hätten dazu beigetragen, die Mehrheit der Bevölkerung vor direkten Konfrontationen abzuschrecken. Nicht zuletzt hat auch die Rückkehr von ›Normalität‹11 sowie der wirtschaftliche Aufschwung Algeriens den Bürger*innen Hoffnung auf einen langsamen Wandel gegeben. All diese Erklärungen sind jedoch nur als Teilerklärungen eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlichster Faktoren zu verstehen, die zur Erklärung eines Ausbruchs oder Ausbleibens einer Revolution herangezogen werden können. Die Polizei registrierte für das Jahr 2011 etwa 9.000 kleinere Ausschreitungen in Algerien (Daoud 2012, 33). Die permanente und verstärkte Polizeipräsenz im öffentlichen Raum Algiers, sowie die Duldung des informellen Handels machten die Spannungen zwischen Regierenden und Regierten sichtbar. Bis Juni 2011 hatte die Brigade Anti-Emeute bereits 2.777 Einsätze, zehn Mal so viel wie 2010 (El Watan, 9.6.2011). Der bis zum 23. Februar 2011 geltende Ausnahmezustand legitimierte 11 Der neueste Film des algerischen Regisseurs Merzak Allouache, der 2011 in die Kinos kam, trägt den Titel Normal. Allouache erzählt die Ereignisse in der algerischen Hauptstadt im Jahr 2011 aus der Perspektive eines jungen Regisseurs, der zwischen Alltag und Ausnahmezustand versucht, einen Film zu drehen.

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das Verbot von Versammlungen und Demonstrationen im öffentlichen Raum im Namen der Sicherheit. Doch auch nach der Auf hebung des Ausnahmezustandes blieben Demonstrationen in der Hauptstadt verboten, da eine Massenmobilisierung verhindert werden sollte. Denn trotz der Euphorie um die so genannten Facebook-Revolutionen, stellte die Vernetzung der Massen über soziale Netzwerke noch keine Bedrohung für die Regime dar. Erst ihre physische Präsenz in den Straßen lösten die revolutionären Ereignisse aus. Vor allem junge Leute wurden in Algerien in Erinnerung an die Oktoberrevolte 1988 und vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings als Bedrohung der politischen Stabilität betrachtet. Sie werden von den Massenveranstaltungen nicht nur besonders angezogen (Gertel & Ouaissa 2014), sondern bilden aufgrund ihrer demografischen Stärke in der MENA-Region eine ›Masse‹. Der hohe Bevölkerungsanteil der Jugendlichen, der so genannte youth bulge (Jugendblase) wurde in den Medien erst als Faktor der Destabilisierung und des Nährbodens des Islamismus gedeutet, und heute als Potential für einen Wandel in Richtung Demokratisierung der Region betrachtet (Courbage 90f.).12 Jugendliche gelten als wichtiger Träger der Protestbewegungen in der MENA-Region, da sie von der Krise und autoritären Herrschaftsstrukturen besonders betroffen sind (Khalaf & Khalaf 2012, Gertel & Ouaissa 2014): »Jugendliche sind von diesen Verkettungen massiv betroffen, nicht nur in den Städten der arabischen Welt, doch die dortigen Jugendlichen erleben Willkür, Gewalt, Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit länger und häufiger als etwa ihre europäischen Altersgenossen.« (Gertel 2014, 72) Im Gegensatz zu den von unterschiedlichen Interessen geleiteten sozialen Bewegungen, könnte die Jugend auch in Algerien zum Träger einer breiteren Protestbewegung werden. Da viele junge Menschen den Glauben an die politischen Parteien und ideologisch motivierten Oppositionsbewegungen verloren haben, bietet Jugend ein neues Identifikationsangebot (Commaroff & Commaroff 2001, Honwana 2012, Bayat 2012 b). In Tunesien beispielsweise hatte die Jugend mit ihren Forderungen auf Recht und Würde eine Brücke zwischen dem Protest der Marginalisierten (Regionen und Bevölkerungsschichten) sowie dem Protest der gebildeten Mittelklassen mit ihren Forderungen nach politischer Teilhabe gebaut (Ayeb 2011, Honwana 2011). Aufgrund ihres demografischen Gewichts, ihrer Entmündigung in den Strukturen des autoritären Regimes und in Verbindung mit den Möglichkeiten der Vernetzung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnolo12 Courbage weist darauf hin, dass die Geburtenraten in den Ländern der MENA-Region in den letzten 20 Jahren so sehr gesunken sind, dass sie sich dem europäischen Durchschnitt annähern, jedoch ist die gegenwärtige Anzahl heranwachsender Jugendlicher hoch.

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gien (Bayat & Herrera 2010, 10), ist die Jugend auch in Algerien zu einer Herausforderung für die etablierten Herrschaftsverhältnisse geworden. An den Tagen der Samstags-Demonstrationen 2011 wurde Jugendlichen aus den benachbarten Regionen und besonders aus der östlich angrenzenden Kabylei – die vom Staat als Gegen-Region wahrgenommen wird (Ouassia 2014) – die Einreise nach Algier verweigert. Jugendliche in Algier wiederum, waren verstärkt polizeilichen Kontrollen unterworfen. Der ›Marsch der Studenten‹ wurde schon im Voraus erheblich erschwert (Ghezlaoui, El Watan, 4.5.2011). Selbst kleine Gruppen von Jugendlichen gelten als verdächtig. Alle zentralen und symbolischen Orte des Widerstands in der algerischen Hauptstadt wurden von den staatlichen Sicherheitsbehörden konfisziert. Auch in Algerien waren junge Leute von der Euphorie der regionalen (Arabellionen) und globalen (occupy) Proteste ergriffen, die das globale Jahr des Protests 2011 zum 1989 der MENA-Region (Stora 2011, Galabov & Sayah 2013, Mason 2013) machten: »[Y]oung people are creating their own spaces and novel ways of engaging the state and society. The Tunesian revolution constitutes a powerful example of ›citizenship from below‹ that emerged outside traditional political structures.« (Honwana 2012, 140) Auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken tauchten neue Gruppierungen und Bewegungen auf (Belgacem, Liberté, 25./26.2.2011). Die Facebook-Gruppe Ness el Khir (Die guten Menschen), die im Jahr 2010 gegründet wurde und 2011 viel mediale Aufmerksamkeit erhalten hat, setzt auf stillere und integrative Formen politischer Partizipation. Sie starten Aktionen, um Strände zu säubern, starten Spendenaktionen für Menschen in Not usw. Durch ihre kollektiven Aktionen zeigen sie Präsenz als Jugendliche und als aktive Bürger*innen. Vor allem aber performen sie ein anderes Bild der algerischen Jugend und setzen somit ein Zeichen gegen das Bild der gefährlichen oder störenden Jugend, das in den Medien in Zusammenhang mit der Straße und Straßenunruhen verbreitet wird (Kapitel 4.2). Eine Gruppe anonymer Jugendlicher, die sich als parteilich unabhängig, nicht-militärische Institution und frei von ausländischen Einf lüssen bezeichnete, hatte das symbolische Datum des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Algerien von 1962 gewählt, um 49 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens erneut für das Ende der hogra und für ein ›anderes Algerien‹ einzutreten. Mit gewaltigen Sicherheitsvorkehrungen hatte die Hauptstadt auf die Ankündigung des Aufrufs zur Demonstration der algerischen Jugend am 19. März 2011 reagiert: »Diese Jugendlichen, die den Wandel wollen.« (Bouredji, El Watan, 2.3.2011). Dem ›Marsch der Jugend‹, der von der großen Post zum Präsidentenpalast in El Mouradia hätte führen sollen, schlossen sich nicht viele Teilnehmer*innen an. Dies wird mit den

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erheblichen Repressionen und dem mangelnden Vertrauen der Jugend in die Politik erklärt. Ouaissa sieht in dem Ausbleiben offener Proteste in Algerien einen Wandel der Protestformen, von offenen hin zu subtileren Formen des Protests: »Die vorherigen, klassisch organisierten Protestformen der Massenmobilisierung scheinen gescheitert zu sein. Wir erleben deswegen eine Abkehr von den organisierten, ideologiegeleiteten, hierarchisch aufgebauten Massenbewegungen und die Durchsetzung von spontanen, ideologielosen und individuell motivierten Aufständen. Diese können auch passive und subversive Formen haben.« (Ouaissa 2014, 125) Der Journalist Fella sieht in dem Versuch der Gründung einer Jugendbewegung vor allem den Beginn eines neuen Aktivismus, der sich mit der Zeit behaupten werde: »In dieser euphorischen Stimmung ist eine Sache sicher, die jungen Aktivisten werden sich behaupten und nach neuen Formen der Existenz in dieser internationalen Stimmung des Wandels suchen.« (Bouredji, El Watan, 2.3.2011) Nach den Januarunruhen 2011 und vor dem Hintergrund der Protestbewegungen und Revolutionen in der MENA-Region hat der algerische Staat die Dringlichkeit des Jugend-Problems – wieder – erkannt und seiner Jugendpolitik neue Aufmerksamkeit verliehen. Die nationale Agentur zur Unterstützung von Jugendbeschäftigung, Agence Nationale de Soutien à l’Emploi des Jeunes (ANSEJ), vergibt in Algerien Mikrokredite13 an junge Unternehmer*innen. Die Budgets der ANSEJ wurden infolge der Revolten erhöht und die Antragsbedingungen vereinfacht.14 Ouaissa (2014, 123) weist darauf hin, dass die ANSEJ als Kontrollinstrument des Staates genutzt werden, gleichzeitig aber auch die Jugendlichen die Kredite für andere Zwecke, z.B. für die heimliche Migration verwenden würden. Die Erhöhung der staatlichen Budgets für Mikrokredite wird als Beispiel für die ›Notfall-Politik‹ der Regierung dargestellt, die erst und nur in Momenten der Krise, beispielsweise direkt nach Unruhen, auf die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung reagiert. Einige der auf die Jugend abzielenden politischen Maßnahmen, nach den Unruhen 2011 haben weniger mit jugendspezifischen Anliegen zu tun, als mit den Grundbedürfnissen der städtischen Bevölkerung. Besonders deutlich wird das in 13 Die Vergabe von Mikrokrediten ist zu einer »globally circulating technology of poverty management« (Chatterjee 2008, 55) in den Strukturen neoliberaler Politik geworden. 14 Zu den Vereinfachungen 2011 gehörte beispielsweise die Senkung des Eigenkapitalanteils von 5 auf 1 % bzw. 10 auf 2 % bei Investitionen bis zu 5 bzw. 10 Millionen Dinar [etwa 40 000 bzw. 80 000 Euro] (Saci, El Watan, 3.3.2011; Omar, El Watan, 15.2.2011).

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Bezug auf die Vergabe von Sozialwohnungen. Im März 2011 hatte der Ministre pour l’Habitat bekannt gegeben, Jugendliche bei der Vergabe von Sozialwohnungen besonders zu berücksichtigen: »40  % der Sozialwohnungen werden für Bewerber unter 35 Jahren reserviert.« (Nissa, Liberté, 30.3.2011) In der städtischen Verwaltung, der Assemblée Populaire de la Wilaya (APC), wurden die Themen Jugend und Kultur auf die Agenda der Versammlung im April 2011 gesetzt (Iddir, El Watan, 5.4.2011). Während 2011 und 2012 noch eine gewisse Aufschwungsstimmung in der Hauptstadt herrschte, in der überall die riesigen Hochglanzplakate des neuen Algiers zu sehen waren, machten sich die Folgen der sinkenden Staatseinnahmen durch die niedrigen Ölpreise in den Folgejahren bemerkbar (Cherfaoui 2018: 26). Die Hoffnung auf das von der Regierung versprochene ›neue Algier‹ schien angesichts der unveränderten schwierigen Alltagssituation vieler junger Menschen zu schwinden. Die Darstellung der urbanen Proteste als Jugendproteste muss kritisch betrachtet werden. Erstens gehen solche Repräsentationen mit Vereinnahmungen einher; und zweitens werden Konf likte zwischen Regierenden und Regierten zu jugendspezifischen und somit zu ›minoritären‹ Konf likten reduziert. Bayat (2012 a) unterscheidet darum zwischen jugendlichen Akteur*innen einer Protestbewegung und einer Jugendbewegung in der es primär um die Einforderung von Jugendlichkeit geht. Gleichzeitig können auch breitere Protestbewegungen Elemente einer Jugendbewegung und jugendspezifischer Protestformen aufweisen. Im Folgenden wird die Problematik der Repräsentation der ›rebellischen Jugend‹ am Beispiel des harraga-Phänomens und seiner Darstellung als Protest der Jugend ausführlicher diskutiert.

4.4 Harraga als Protest? Repräsentationen der Jugend Der Blick auf die Ereignisse von 1957 (Kapitel 2), 1988 (Kapitel 3) und 2011 (Kapitel 4) hat die Rolle von Jugendlichen als Akteur*innen von Widerstand in der Geschichte Algeriens beleuchtet und dabei auch die Schwierigkeiten der Repräsentation, der Kämpfe um Definitionsmacht, zum Ausdruck gebracht. Besonders deutlich wird diese Schwierigkeit in der Gegenwart Algeriens am Beispiel des harraga-Phänomens. Die heimliche Migration wird in der algerischen Presse und im öffentlichen Diskurs als Ausdruck der verzweifelten Jugend (Ben Daoud 2008) oder als neue Form des Protests der Jugend dargestellt (Ouaissa 2014, 123). Das Exil wird als Alternative bzw. eigene Form der Opposition betrachtet, »ein unzufriedenes Individuum kann in Erwägung ziehen fortzugehen (exit), oder in der Gruppe zu bleiben. Wenn es bleibt, hat es die Wahl zwischen Protest (voice) und Stillschweigen«, schreiben Bennani-Chraïbi und Fillieule (2003, 68) mit

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Bezug auf Hirschman (1970). Die Bezeichnung harraga für die heimliche Migration geht auf das arabische Verb harraqa (verbrennen) zurück und bezeichnet im übertragenen Sinne diejenigen, die ihre Identitäten oder die Grenzen verbrennen. Im alltäglichen Gebrauch wird harraga auch allgemein für die Überwindung von Hindernissen benutzt, um z.B. bei einer langen Warteschlange schnell nach vorne zu kommen (Ben Daoud 2008, 87). Harraga bezeichnet die potentiellen Kandidat*innen für die heimliche Migration während el harga den Prozess der heimlichen Migration bezeichnet (ebd., 20). Der Begriff harraga ist vor allem im umgangssprachlichen Arabisch der nordafrikanischen Länder Tunesien, Algerien und Marokko verbreitet, von deren Küsten aus afrikanische und maghrebinische Migrant*innen nach Europa auf brechen. Besonders im Zusammenhang mit den Selbstverbrennungen im Maghreb 2011 wurde die heimliche Migration in Algerien zu einem Politikum: Das harraga-Phänomen wird als Ausdruck des Protests oder als ›einziger Ausweg‹ der verzweifelten Jugend dargestellt. Anstatt Gewalt gegen andere auszuüben, würde die Jugend jetzt Gewalt gegen sich selbst anwenden: »After the suicide bombers of the 1990s, we now have the ›self-immolators‹. […] To escape like the harragas, those people who, in makeshift boats, use the sea as a way out and cross the Mediterranean. They have no known grave and are never heard of again. Paradoxically, you might say that these Harragas burn their boats when they leave our shores.« (Mouffok 2011, 1f.) Die Zahlen der heimlichen Migrationsversuche enthüllten die schlechten Lebensumstände. Einem Zeitungsbericht zufolge kam es am 17.1.2011 zu einem kollektiven Selbstmordversuch durch Selbstverbrennung von etwa 20 harraga-Kandidaten, als sie bei ihrem Versuch, Algerien auf illegalem Wege über das Meer zu verlassen, von der Küstenwache entdeckt wurden und sich mit ihrem Boot in Brand steckten (Gaïdi, El Watan, 18.1.2011). Neben der Berichterstattung tragen zahlreiche wissenschaftliche Studien dazu bei, das harraga- Phänomen zu erfassen und zu erklären: Rarrbo spricht von 46,6  % der Jugendlichen, die auswandern wollen (Rarrbo 1995, 212). Laut Souaber (2004, 70) möchten 36,7 % der algerischen Jugendlichen emigrieren, von den männlichen urbanen Jugendlichen sogar 48,2 % im Vergleich zu 30,8 % der weiblichen städtischen Jugendlichen. Migration ist kein neues Phänomen in Algerien, schon während der französischen Kolonisation hätte die Arbeitermigration nach Frankreich begonnen. Und auch damals soll die heimliche Migration existiert haben (Info Soir, 16.10.2009). Jedoch gebe es heute Zusammenhänge mit dem so genannten youth bulge Phänomen. Die Generation junger Erwachsener wird durch keine familiären Bindungen und Verantwortungen von der Migration zurückgehalten:

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»For the first time, young adults are freed from family constraints. They are at the same time freed from the burden of numerous children (their own fertility is low), and not yet confronted with the burden of an aging population (their mothers’ fertility was high). The Arab world thus stands at a turning point: a former society of families is giving way to a society of individuals who are, for the first time, exceptionally mobile because they are no longer restrained by the familial responsibilities of their predecessors.« (Fargues 2011, 2) Ein besseres Leben und Arbeitssuche sind die am häufigsten genannten Gründe für die Migration. Seit der euro-mediterranen Zusammenarbeit in der Migrationsbekämpfung durch die Agentur FRONTEX 15 ist die heimliche Migration über den Seeweg von Nordafrika nach Europa schwieriger und gefährlicher geworden. Die Jugendlichen suchen daher nach anderen Möglichkeiten der Migration, etwa durch persönliche Kontakte oder über familiäre und religiöse Heiratsnetzwerke; auch über soziale Netzwerke im Internet (Braune 2012) sowie über Ausbildungswege und beruf liche Beziehungen erweitern die Jugendlichen ihre Migrationsstrategien. Die angeworbene Migration hat sich von einer Arbeiter- zur Wissens-Migration entwickelt: »Frankreich braucht keine migrantischen Arme mehr, sondern Gehirne.« (Rarrbo 1995, 212) Diese Entwicklung führt zum so genannten Brain Drain (Djilali 2002, 102), mit negativen Folgen für die Entwicklung der Herkunftsländer. Viele der gut ausgebildeten algerischen Exilant*innen geben politische und nicht ökonomische Gründe für ihr Exil an (Fargues 2011, 3) und auch die heimliche Migration wird als Protest der Jugend gedeutet. Das Schiff der harraga hebt durch die heimliche Überquerung die Grenze zwischen Afrika und Europa auf. Nicht nur in der MENA-Region, sondern weltweit ist die (heimliche) Migration als Protestform anerkannt: »Mobility and mass worker nomadism always express a refusal and a search for liberation: the resistance against the horrible conditions of exploitation and the search for freedom and new conditions of life.« (Hardt & Negri 2000, 212) Die heimliche Migration ist unter anderem von der Zapatista-Bewegung als eine Form des Gegenverhaltens und des zivilen Ungehorsams anerkannt worden: »Klandestinität wird dabei einerseits als brutales Produkt der Migrationsregime kritisiert, andererseits aber auch – um den Opfer-Status der Klandestinen nicht er-

15 Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde 2004 errichtet. Zu einer kritischen Ethnografie der Seegrenze auf dem Mittelmeer siehe: Klepp (2011).

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neut festzuschreiben – als nonkonforme, die (Migrations)Gesetze immer wieder brechende Daseinsform beschrieben.« (Kastner 2008, 46) Mit dem Album ›Clandestino‹ von Manu Chao (1998) ist die heimliche Migration zu einem Symbol der globalisierungskritischen Bewegung geworden (Kastner 2008, 46). Die Darstellung des harraga-Phänomens als Alternative zur Form des politischen Widerstands trägt dazu bei, die Jugend als mögliche Akteurin für Protestbewegungen zu konstruieren (siehe z.B. Strunz & Dorsch 2002, 59f.). Die Praxis der Migration wird dabei mit dem Phänomen harraga als Slogan oder Diskurs gleichgesetzt. Harraga als Diskurs in den nordafrikanischen Ländern ist mit der kulturellen Konstruktion der Region als Transit- oder Grenzraum verf lochten: In filmischen und literarischen Narrationen werden die nordafrikanischen Städte, vor allem Casablanca und Tanger, aber auch Algier als Durchgangsorte konstruiert, die von der Sehnsucht nach Auf bruch und Ferne gekennzeichnet sind. Das Exil und das Anderswo sind im Imaginären junger Menschen im Maghreb sehr präsent, das Anderswo ist gewissermaßen in der Heimat zu Hause (Bennani-Chraibi 1994, 56). Viele junge Menschen hätten ambivalente Gefühle zwischen Anziehung und Ablehnung des Anderswo. Durch die Beziehungen zu Familienangehörigen oder Freunden im Ausland sind die sozialen Räume der Jugendlichen in transnationale Netzwerke eingebunden (Bennani-Chraibi 1994, 58). Bennani-Chraibi interpretiert die ›imaginäre Migration‹ als stabilisierenden Faktor angesichts struktureller Probleme: »Im Angesicht der strukturellen Krise und der Werte-Krise, wird die Fluchtmöglichkeit, die ein kollektiver Traum ist, zum Faktor für Stabilisierung und Gleichgewicht, genau wie die Familie und das ökonomische Parallelsystem.« (Bennani-Chraibi 1994, 171) Auch Ines Braune weist in ihrer Studie über Internetnutzung von Jugendlichen in Fes darauf hin, dass sich das Thema der Emigration nicht nur auf realistische Emigrationspläne beschränkt, sondern zu einer Metapher für Bewegung und Veränderung geworden ist (Braune 2012, 354). In diesem Sinne drückt harraga die Suche nach einem Horizont in einem unbewohnbaren Raum aus: »[A] life without name and without legitimacy; a life of enclosure in physical, genealogical, and cultural spaces perceived as uninhabitable; and the search for a horizon in the practices of self-creation and experimentation drawing on an imaginary of the elsewhere and of exile.« (Pandolfo 2007, 333)

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Die Sehnsucht nach einem Anderswo schafft imaginäre ›andere Räume‹. In der algerischen Populärkultur ist das Schiff ein verbreitetes Motiv, das Algiers Nähe zum Meer und zu den transnationalen Räumen mit seiner Exilgemeinschaft symbolisiert. In Musik und Literatur sind die Emigration und das Exil ein präsentes Thema, z.B. in dem von Dahmane El-Harrachi komponierten und von Rachid Taha als Remake gemachten Lieds Ya rayah (Oh du der auf bricht, wohin gehst du? Früher oder später kommst du zurück. Wie viele Unbesonnene haben es schon bereut vor dir und mir?) Spätestens seit der Jugendrevolte von 1988 hat die algerische Jugend ihr eigenes Schiff, das babor harraga16. Das babor harraga, das mythische Schiff der Anwärter auf die heimliche Emigration, taucht in der algerischen Populärkultur als Graffiti in der Stadt (Megtef 2008) und als Motiv in Rai und Rap-Liedern auf: »ya babor, ihdina ila al bled an-nur. Fi bledi rani mahgur. (Oh mein Boot, bring mich in das Land des Lichts, in meinem Land bin ich unterdrückt.« (Cobra Noir) Der Mythos des babor harraga soll auf ein Gerücht aus dem Jahr 1989 zurückgehen, demzufolge ein australisches Schiff vor der algerischen Küste erwartet wurde, um Anwärter für die Auswanderung nach Australien abzuholen. Tatsächlich soll das Gerücht damals über Monate hinweg so viele Erwartungen geweckt haben, dass das australische Konsulat schließlich über eine Pressemitteilung verlauten ließ, dass es sich bei dem australischen Schiff um ein Gerücht handele (vgl. Rarrbo 1995, 210, Fates 2009, 309). Der Mythos wurde durch das Stück Un bateau pour l’Australie (1994) von dem algerischen Humoristen Mohammed Fellag festgehalten. Bemerkenswert an diesem tragikomischen Mythos ist vor allem sein Zeitpunkt – 1989, das Jahr, in dem sich der ›algerische Frühling‹ auf dem Höhepunkt befand und vor allem die jungen Menschen von der globalen Auf bruchsstimmung inspiriert voller Hoffnung in die Zukunft blickten. Doch in Algerien mündete der politische Umbruch in das so genannte ›Schwarze Jahrzehnt‹ (Kapitel 3.3). Das Schiff der Jugend gibt es noch immer, als Transportmittel für die heimliche Migration auf dem Seeweg nach Europa und als imaginäres Anderswo in der Populärkultur. Rarrbo beschreibt das australische Schiff als ein Ersatz-Ideal für die postkoloniale Hoffnung und den »gemeinschaftlichen und egalitaristischen algerischen Sozialismus« (Rarrbo 1995, 211). Fates (2009, 308) sieht eine Parallele zum Slogan der 1968er-Generation: ›Das Leben ist anderswo‹. Die Ereignisse von 1968 stehen nicht nur für politische Forderungen im engeren Sinne, sondern vor allem für eine »Explosion an Subjektivitäten, ein Ausbruch autonomer, d.h. erkämpfter Lebensweisen.« (Brieler 2008, 19) Die 1968er-Bewegung hat den Begriff des Politischen erweitert und die Politisierung der Subjektivität in den Vordergrund gestellt (Brieler 2008, 24f.). 16 Auch die Schreibweise barbor taucht in den Musikvideos auf.

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In diesem Sinne kann auch die symbolische Bedeutung des harraga- Phänomens nicht nur als Widerstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung interpretiert werden, sondern auch als Widerstand gegen die ›Unterwerfung der Subjektivität‹ stehen. Mit dem Beginn der Hirak-Bewegung 2019 sei der Wunsch der harraga verblasst. Anstelle der Sehnsucht nach einem Anderswo sei die Hoffnung auf ein anderes Algerien getreten (Kapitel 8). In zahlreichen Slogans und Bildern wurde diese neue Sehnsucht in den freitäglichen Demonstrationsmärschen zum Ausdruck gebracht: »Zum ersten Mal will ich dich nicht verlassen mein Algerien« (zitiert in Derradji & Gherbi 2019, 8).

Zwischenfazit Algier im 21. Jahrhundert wird von den Krisen der Metropolen des 21. Jahrhunderts geprägt, ohne selbst schon den Status einer Metropole zu haben. Der ›Plan Algier 2029‹ drückt die Ambitionen der Regierung aus, der Stadtplanung als Herrschaftsinstrument wieder mehr Bedeutung zu schenken. Dies zeigt zum einen den Aufschwung Algeriens, das seine Öl-Renten in Stadtentwicklungsprojekte investiert, um die algerische Hauptstadt in eine kulturell und wirtschaftlich aufstrebende Mittelmeermetropole zu verwandeln. Gleichzeitig ist Stadtplanung auch ein politisches Instrument hegemonialer Machtausübung, wie in Kapitel 2 deutlich aufgezeigt wurde. In diesem Zusammenhang wurden daher die Spaltung der Protestbewegung 2011 und die Kriminalisierung der Jugendproteste mit einem Fokus auf die Strukturen der geteilten Stadt analysiert. Die Erklärungen der Nicht-Revolution in Algerien 2011 variierten von Repression durch den Staat und seinen Institutionen, Kooptations-Strategien als spezifische Politik der Rentier-Staaten (Ouaissa 2013), dem Bedürfnis nach Stabilität und Normalität vonseiten der Bevölkerung nach den Jahren des Bürgerkriegs, einer schwachen Zivilgesellschaft und mangelndem Vertrauen in die oppositionellen Kräfte bis hin zu Politikverdrossenheit der Jugend. Wenige Jahre später wurden diese Erklärungen von der Hirak-Bewegung überrascht (Kapitel 8). Das Vordringen Jugendlicher und junger Erwachsener in die öffentlichen und halböffentlichen Räume der Stadt haben jedoch bereits schon vor dem Ausbrechen der Hirak-Bewegung gezeigt, dass die Jugend in Bewegung ist, um ihre Handlungsspielräume zu vergrößern und ihr Recht auf Teilhabe einzufordern. In den folgenden Kapiteln werden die empirischen Ergebnisse zu den Bedeutungen öffentlicher und halböffentlicher Räume für die Dynamiken zwischen Alltagsbewältigung, Vordringen und Widerstand im Alltag Jugendlicher vorgestellt.

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5. Navigieren im öffentlichen Raum Die Inbesitznahme der Straße Anfang des Jahres 2011 waren die Straßen der unteren Kasbah von Algier wie leergefegt, nachdem die Polizei wieder einmal versucht hatte, gegen den informellen Straßenhandel vorzugehen. Eine Gruppe Jugendlicher trommelte auf den nackten Schaufensterpuppen ihres leergeräumten Verkaufsstandes. Singend forderten sie den Staat auf, ihnen Arbeit und Wohnungen zu geben: ›Sie haben Recht‹, fanden die Frauen, die ihre Einkäufe dort erledigten. Sie kennen die Verkäufer*innen. Viele Familien leben von dem Einkommen aus dem Straßenhandel. ›Sie haben Recht‹ lautete auch die öffentliche Meinung, als Algerien am 4. Januar 2011 von heftigen Straßenprotesten in mehreren Städten und Regionen erschüttert wurde. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Tunesien und Ägypten und was das Ausmaß der Unruhen betraf, sprach die algerische Presse von der ›Rückkehr der Oktoberrevolte‹ von 1988 (Kapitel 3.3). In der unteren Kasbah am Platz der Märtyrer, dem symbolischen Schauplatz der Aufstände von 1988, hatte es keine Unruhen gegeben, stattdessen wurde der Straßenhandel dort jetzt im Schutze der Nacht getätigt. Doch schon bald blühte er auch am Tage wieder auf. Angesichts der unruhigen ›politischen Straße‹ (Bayat 2012, 209ff.) in Algier wurde der informelle Handel wieder geduldet. »Sie lassen uns jetzt verkaufen, weil sie Angst haben, dass wir randalieren.« (Nasser, 18 Jahre alt, Kasbah, Interview am 1.3.2011) Algerien und besonders die Hauptstadt Algier blieben fortan unter Spannung. Die Straßenverkäufer*innen nutzten die angespannte politische Situation: »Wir profitieren von der Gelegenheit. Die Demonstrationen interessieren uns nicht. Wir wollen Geld machen.« (Nidal, 18 Jahre alt, Kasbah, Interview, 1.3.2011) Die Straße wurde zugleich freier für den Straßenhandel und kontrollierter für politische Aktionen. Nachdem die Stadtverwaltung den Märtyrer-Platz trotz der anhaltenden Besetzungen durch unterschiedliche soziale Bewegungen am 14. April 2011 in eine umzäunte Baustelle verwandelte, wurde der Raum rund um den Platz für die Straßenverkäufer*innen eng und Streitigkeiten zwischen Straßenhändler*innen, Ladenbesitzer*innen und Busfahrer*innen nahmen zu. Die Polizei nahm das wieder zum Anlass, gegen den informellen Handel vorzugehen. »Ich weiß nicht, was ich jetzt mit den 40 Kartons Butter und Marmelade machen

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soll«, klagte Hamid, der zuvor optimistisch seine Ware aufgestockt hatte (Hamid, Interview, 3.5.2011). Hamid, 29 Jahre alt, ›navigiert‹ seit über 15 Jahren auf den Straßen rund um den Platz der Märtyrer. Navigieren bezeichnet in der Sprache der Jugendlichen in Algier all jene Praktiken im urbanen Raum, die mit der Suche nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen und sich eine Zukunft aufzubauen, verbunden sind. Das Tolerieren des Straßenhandels wurde in den Stadtgesprächen und Medien als Strategie der Regierung gedeutet, die Empörung der Jugend abzumildern. Gleichzeitig könnte die Reaktion der Regierung jedoch auch als Zeichen der Macht der Straßenverkäufer*innen gedeutet werden, deren Protest die Regierung zu fürchten scheint. Die Jugendlichen der Straße sind eine demografische und politische Kraft, da sie sich immer wieder ihre Freiräume zum Navigieren im öffentlichen Raum erkämpfen müssen und dazu auch keine gewaltvollen Konfrontationen scheuen. Die Ausbreitung des Straßenhandels vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings kann daher nicht einfach als Zeichen der Demobilisierung der Straßenverkäufer*innen in einer top down–Perspektive gedeutet werden. Die Beziehung zwischen Regierung und Straßenhändler*innen wird von komplexen Machtaushandlungen geprägt. In der Stadt des 21. Jahrhunderts sind die Straßenhändler*innen in den Worten Ananya Roys zugleich »strategisch und selbstausbeuterisch, zugleich politischer Akteur und Sujet des neoliberalen Großschlemms« (Roy 2009, 827). In diesem Kapitel steht die Bedeutung öffentlicher städtischer Outdoor-Räume – Straßen, Parks, Gehwege und Plätze – für die Alltagsbewältigung Jugendlicher im Vordergrund. Dazu werden im folgenden Kapitel zuerst der Straßenmarkt am Platz der Märtyrer als Beispiel für informelle Märkte in Algier vorgestellt und darauf auf bauend die Alltagspraktiken und Diskurse junger fast ausschließlich männlicher Straßenverkäufer am Märtyrer-Platz analysiert.

5.1 Der Markt am Märtyrer-Platz: Einblick In der Kasbah geboren und aufgewachsen, wurde Hamid mit seiner Familie Anfang der 1990er-Jahre in die östliche Banlieue Algiers umgesiedelt. Seitdem kommt er fast täglich zum Märtyrer-Platz zurück, um dort seine Waren zu verkaufen. Das Jahr 2011 sollte für ihn das letzte Jahr ›auf der Straße‹ sein: »Ich möchte heiraten, eine Familie gründen, nach Ouargla [die Herkunftsstadt seiner Familie in Südalgerien] ziehen und dort den Lederwarenladen meines Vaters übernehmen. In Algier wird der Druck zu groß.« (Hamid, Interview, 6.2.2011). Der Märtyrer-Platz ist wegen seiner zentralen Lage ein beliebter Arbeitsplatz für die Straßenverkäufer*innen. Doch viele der Jugendlichen dort klagen wie Hamid

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über den zunehmenden Druck. Immer wieder müssen sich die Straßenverkäufer*innen ihre Freiräume erkämpfen und auf die Veränderungen des urbanen Raums reagieren. Doch wer sind die ›Jugendlichen der Straße‹, die am Märtyrer-Platz navigieren? Momo ist 30 Jahre alt. Er arbeitet seit zwölf Jahren auf der Straße, verkauft Kleidung. Angefangen hat er mit seinem Vater, der ebenfalls auf der Straße verkaufte. In seiner Familie hat niemand eine feste Arbeit. Er lebt mit seiner Familie in einer Douira, einem Haus, das während der osmanischen Herrschaft erbaut wurde. Zwölf Personen teilen sich in diesem Haus zwei Zimmer, die anderen Zimmer werden von einer anderen Familie bewohnt: »Wir schlafen wie die Sardinen. Bevor das Licht ausgeht, muss jeder seinen Platz eingenommen haben, sonst stolpern wir übereinander.« (Interview, 7.4.2011) Früher habe er sich mit dem Gedanken an Auswanderung nach Europa beschäftigt, jetzt denke er ans Heiraten und das dafür notwendige Geldverdienen. Younes, 18 Jahre alt, arbeitet erst seit zwei Jahren auf der Straße. Er hat die Schule abgebrochen, wollte eine Konditorlehre machen, betrachtete das Lehrlingsverhältnis jedoch als Ausbeutung (Interview, 11.3.2011). Er träumt davon, später ein eigenes Geschäft zu haben oder ein großer Händler zu werden, der seine Waren im Ausland einkauft. Er lebt mit seiner Familie direkt am Märtyrer-Platz in einer Dreizimmerwohnung in einem Gebäude, das während der Kolonialzeit errichtet wurde. In seiner Familie ist er der einzige, der auf der Straße arbeitet. Sein ältester Bruder, Farid, ist Choreograf und Tänzer, ein anderer Bruder, Rafik, hat nach dem Tod des Vaters dessen Arbeitsplatz bei Air Algérie am Flughafen übernommen. Die Mutter ist unglücklich über die Entscheidung ihres Jüngsten. Sie wünscht sich, dass er sich eine ›richtige‹ Arbeit sucht. Aber alle seine Freunde würden auf der Straße arbeiten, er hätte Spaß dabei (Gespräch mit der Mutter, 1.4.2011). Die beiden Beispiele zeigen, dass es schwierig ist, die Jugendlichen, die am Platz der Märtyrer auf der Straße arbeiten, einer bestimmten sozialen Schicht zuzuordnen. Das Profil der Straßenverkäufer1, die im Rahmen dieser Feldforschung interviewt wurden, variiert bezüglich des Alters, der sozialen Herkunft, der familiären Situation, des Bildungshintergrunds und des Beschäftigungsprofils (Dauer, Hauptbeschäftigung/Nebenbeschäftigung, selbstständig/angestellt). Die ›Jugendlichen der Straße‹ (eine Bezeichnung, die im öffentlichen Diskurs in Algier gängig 1 Im Rahmen dieser Studie wurden nur männliche Verkäufer interviewt, weshalb an dieser Stelle und im Folgenden der maskuline Plural genutzt wird, wenn von den Verkäufern gesprochen wird, die interviewt wurden. Als Verkäufer*innen werden allgemein die Männer und Frauen bezeichnet, die am Märtyrer-Platz und anderswo in Algier verkaufen, auch wenn Verkäuferinnen am Märtyrer-Platz eine Ausnahme sind.

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ist) als eine eigene Kategorie zu betrachten ist darum problematisch, weil sie soziale Differenzen zwischen den Verkäufer*innen und deren multiple Zugehörigkeiten ausblendet und im öffentlichen Diskurs meist abwertend verwendet wird. Hamid z.B. ist nicht nur Straßenverkäufer, sondern auch Musiker. Andere Verkäufer*innen sind Student*innen. Wieder andere üben mehrere Tätigkeiten aus. Ebenso problematisch ist es von einem informellen Lebensstil oder einem Habitus der Enteigneten (Bayat 2007) zu sprechen, weil viele der Straßenverkäufer*innen sowohl informelle als auch formelle Beschäftigungen ausüben. Die informellen Praktiken sind eher eine Strategie, die von unterschiedlichen sozialen Klassen im Kontext urbaner Ungleichheit unterschiedlich eingesetzt wird (Roy 2011, 231). »Jeder Straßenhändler hat seine individuelle Lebensgeschichte, seine Bedürfnisse und sein Erfolgsstreben.« (Chabou 2004, 151) Abbildung 7: Straßenverkauf

Quelle: Britta Hecking

Dennoch bilden die Jugendlichen Gemeinschaften, die vor allem durch den gemeinsamen Erfahrungsraum, die Straße, geprägt wird. Bis auf einige Ausnahmen leben alle Jugendlichen, die interviewt wurden, in der Kasbah oder in Bab el-Oued oder aber haben vor ihrer Umsiedlung in die Randgebiete dort gelebt. Auf der Straße zu verkaufen behaftet die Jugendlichen mit einem Stigma. Zum Beispiel Mohamed, 23 Jahre alt, wohnhaft in der Kasbah, verkauft neben seinem

5. Navigieren im öffentlichen Raum

Studium und seiner Tätigkeit als Nachhilfelehrer gelegentlich auf der Straße. Im Interview schildert er diese Erfahrung: »Aber wenn ich an der Uni Mädchen kennenlerne und sage, dass ich am Märtyrer-Platz wohne, dann denken sie sofort an Diebe und erzählen mir, was ihnen das letzte Mal dort alles gestohlen worden ist.« (Mohamed, Kasbah, 5.2.2011) Die Ausbreitung des informellen Handels hätte jedoch auch dazu geführt, dass das Arbeiten auf der Straße eine gängige und somit gesellschaftlich akzeptierte Praxis geworden ist, insbesondere in den städtischen Armutsvierteln: »Früher hätten wir uns geschämt, auf der Straße zu verkaufen, heute ist es für die Jugendlichen normal. Alle wollen schnelles Geld machen«, kommentierte Fatih (1.3.2011), Erzieher im Jugendhaus, das Interview mit einer Gruppe Straßenverkäufer in den Räumen des Jugendhauses. Trotz ihres schlechten Rufs ist die als Märtyrer-Platz bezeichnete Gegend in der unteren Kasbah für viele Jugendliche besonders aus den peripheren Randgebieten Algiers ein Refugium, das ihnen soziale und ökonomische Sicherheit bietet. Vor allem die Jugendlichen der umgesiedelten Familien kommen zum Arbeiten oder aus anderen Gründen in die Kasbah zurück. Auch Hamid bevorzugt den Märtyrer-Platz als Arbeitsplatz: »Nur wenn die Polizei uns am Märtyrer-Platz nicht arbeiten lässt, verkaufe ich in Fort de l’Eau Sardinen.« (Hamid, 14.4.2011) Fort de l’Eau liegt in der östlichen Peripherie, die in den 1990er-Jahren durch den massiven Bau von staatlich geförderten Wohnungsbau gewachsen ist, während die westlichen und südwestlichen Peripherien eher durch freiwilligen Wegzug der höheren Schichten aus dem Zentrum gewachsen sind. Die Jugendlichen, die wie Hamid seit ihrer Umsiedlung Anfang der 1990er-Jahre in der östlichen Peripherie Algiers wohnen, bilden Fahrgemeinschaften mit den taxis clandestins (nicht registrierte Taxiunternehmen). Sie teilen sich Lagerräume für ihre Waren und manchmal auch ein ›Versteck‹ in einem der leerstehenden Häuser der Kasbah. Seit zwölf Jahren lebt Hamid in Fort de l’Eau, doch er ist ein ›Kind des Viertels‹ der Kasbah geblieben. Die Zugehörigkeit zum Viertel ist wichtig, um einen Platz auf der Straße zu bekommen, und garantiert die Solidarität und Unterstützung der anderen aus dem Viertel (Chabou 2005, 155f.). Der Märtyrer-Platz ist einer der größten im Zentrum der Stadt gelegenen informellen Straßenmärkte Algiers, der trotz seines schlechten Rufs wegen Diebstählen und Übergriffen bei Kund*innen und Verkäufer*innen sehr beliebt ist. »Stellen Sie sich vor, es wäre ein legaler Markt mit Steuern usw., Algerien wäre reicher als Amerika. Haben Sie die vielen Stände gesehen? Zusammengerechnet gibt das sehr große Summen, die dort umgesetzt werden. Wir Verkäufer vom Märtyrer-Platz sind die besten Verkäufer. Ich schwöre, wir können verkaufen! Ich habe Kundinnen, die kommen nur wegen mir, wenn ich nicht da bin, kaufen sie nichts.

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Wir bringen unsere Kunden zum Lachen, und ehe sie sich versehen, sind sie 3000 Dinar [etwa 25 Euro] losgeworden.« (Mohamed, Interview, 5.2.2011) Am Märtyrer-Platz gibt es viele kleine Geschäfte, offizielle Marktf lächen und Straßenverkäufer*innen – mit oder ohne Genehmigung. Der Märtyrer-Platz, der in der unteren Kasbah zwischen Alger Centre und Bab el-Oued liegt, hat eine lange Geschichte des Marktes. Vor dem Beginn der Kolonisation befand sich dort das eigentliche Stadtzentrum. Durch die Nähe zum Hafen und zur großen Moschee sowie zu den Regierungspalästen war das Gebiet der unteren Kasbah »ein wimmelndes Viertel, in dem die Händlerschreie und das Hämmern der kleinen Handwerker ertönte.« (Chabou 2005, 68) Auch heute noch ist es ein sehr belebtes Viertel. In den Städten des Südens sind viele Menschen auf die Straßenwirtschaft angewiesen, sie sind vor allem draußen und sie sind in Bewegung. Bayat beschreibt dieses Phänomen für die Straßen in Kairo, Teheran oder Amman und bezeichnet es als die »nach außen gestülpte Stadt« (Bayat 2012 a, 28). Im Jahr 2010 waren 57,2  % der aktiven Bevölkerung Algeriens ›unsicher‹ beschäftigt (Bouyacoub 2012, 87f.). Die informelle Ökonomie macht in Algerien 45 % des Bruttonationaleinkommens aus. 2001 waren 1,6 Millionen Menschen in der informellen Ökonomie beschäftigt, 2012 stieg die Zahl auf 3,9 Millionen. Damit sind 45,6  % der arbeitenden Bevölkerung aus dem nicht landwirtschaftlichen Sektor in der informellen Wirtschaft beschäftigt, darunter 43,2 % im Handel und Dienstleistungssektor.2 Die staatliche, private und informelle Wirtschaft sind in Algerien so miteinander verf lochten, dass eine genaue Definition des ›Informellen‹ und somit statistische Angaben dazu schwierig sind (Kapitel 3.1). Über 500 informelle Märkte und unzählige f liegende Händler*innen soll es in Algier geben. Diese würden der Stadt ein anarchisches Bild verleihen. Die städtische Verwaltung versucht darum, dagegen vorzugehen: informelle Märkte werden aufgelöst und die illegalen Händler*innen in neuen legalen Märkten untergebracht: »Von den 7347 im Jahre 2005 als illegal gezählten Händlern in Algier, seien 3654 von den Autoritäten in den neuen Verkaufsstrukturen platziert worden.« (Desloire, Jeune Afrique, 8.10.2010) Gleichzeitig hat der Staat die bürokratischen Prozesse für Gewerbetreibende erleichtert. In Algier wie in anderen Städten der MENA-Region wird die Präsenz der Männer ›draußen‹ zugleich als Erbe der Raumaufteilung der ›islamischen Stadt‹3 und als soziale Notwendigkeit, vor allem in den ärmeren Wohnvierteln betrachtet: 2 www.algerie-eco.com/2017/03/04/secteur-informel-represente-45-pnb/, 20.6.2017 3 Die vorkoloniale Stadt wird in der Geschichtsschreibung der nordafrikanischen und arabischen Städte, insbesondere aus der Perspektive der Orientwissenschaften als ›islamische Stadt‹ oder ›arabische‹ Stadt kategorisiert. Entscheidend für diese Bezeichnungen ist die Annahme, dass Religion und Kultur die räumlichen und sozialen Strukturen der Stadt und ihre Verwaltung be-

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»Es gibt zwei Räume in der Casbah. Die Innenräume werden von den Frauen verwaltet. Die Außenräume werden von den Männern kontrolliert, animiert und verwaltet. Die Straßen sind den ganzen Tag belebt. Sie sind eine Art erweiterter Wohnraum für die jungen Männer. An bestimmten Orten im Quartier finden Treffen statt. In den Cafés werden die Arbeitslosen bis zur Ankunft der Arbeiter aus den Häusern ferngehalten, damit die Frauen die Innenräume ungestört und ohne Einschränkung besetzen können.« (Lesbet 1985, 48) Die erste große koloniale Intervention im Stadtzentrum Algiers unter französischer Besatzung war die Errichtung des heutigen ›Märtyrer-Platzes‹: Dort wo einst der Regierungssitz der osmanischen Stadtherren, der Palast des Dey gestanden hatte, wurde der ›Platz der Waffen‹ (Place des Armes) errichtet. Später erhielt er den Namen ›Platz der Regierung‹ (Çelik 2009, Kapitel 2.2). In den Strukturen der Kolonialstadt wurde aus dem ehemaligen wohlhabenden Handelszentrum ein marginalisierter Raum für den indigenen Handel (Chabou 2004, 83f.). Erst nach der Unabhängigkeit wurde die Stadt der algerischen Bevölkerung zugänglich. »Das Recht auf die Stadt ist nun kein koloniales Privileg mehr.« (Chabou 2004, 93) In der sozialistischen Ära unter Boumedienne war der freie Handel auf das Kleinunternehmertum beschränkt (Kapitel 3.1). Die Organisation des informellen Sektors sei durch die Politik der Privatisierung öffentlicher Güter Anfang der 1980er-Jahre unterstützt worden (Chabou 2005, 95). Die Verantwortung dafür trug »eine spezifische politische Elite, deren Akteure oft geheimnisvoll bezeichnet als ›Barone‹, ›Paten‹ oder sogar als ›die organisierte Mafia‹ galten« (Chabou 2004, 95). Die ersten Kleinunternehmer*innen, die reisenden Trabendisten, werden auch als Vorreiter der freien Unternehmer*innen bezeichnet, die die Transformation zur freien Marktwirtschaft in den 1980er-Jahren ankündigten (Kapitel 3.2). 1988 wurde der Märtyrer-Platz zu einem der Hauptaustragungsplätze der Oktoberrevolte (Kapitel 3.3) und später der Demonstrationen der FIS, die in den 1990er-Jahren starken Einf luss auf die Kontrolle des öffentlichen Raums nahm (Kapitel 3.4). Die Urbanisierungswellen nach der Unabhängigkeit hatten zum verstärkten Empfinden von Unordnung und Chaos im öffentlichen Raum geführt. Der Ausdruck khalota (Durcheinander) bezeichnet das städtische Treiben aus Menschenmassen (el ghachi), Verkehr, Lärm und Handel. Zivile Verstöße, z.B. Diebstahl und Drogenkonsum und die Missachtung sozialer Normen, insbesondere gegenüber Frauen, seien die Folge (Chabou 2005, 98, Dris 2001, 224). Vor allem die barranieinflussen (Dris 2001, 49f.). Abu Lughod hat die orientalistische Konstruktion der ›islamischen Stadt‹ in der europäischen Geschichtsschreibung kritisiert und dennoch den Einfluss des Islams, der sich z.B. in der Gender- Teilung des Raumes niederschlägt, in dem viel zitierten Aufsatz The Islamic City. Historic Myth, Islamic Essence and Contemporary Relevance (1987) herausgearbeitet. Das Konzept der ›islamischen‹ Stadt vermittelt das Bild eines statischen Orients, der sich Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen entziehe (Elsheshtawy 2004, 3f., 2008, 19).

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ya, die Zugezogenen vom Land, werden für die urbane Krise verantwortlich gemacht. Im öffentlichen Diskurs werden sie oft mit den ›Jugendlichen der Straße‹ gleichgesetzt (Dris 2001, 183). Dabei leben viele der Straßenhändler*innen am Märtyrer-Platz schon seit Langem dort, oder sie sind erst durch Umsiedlung in die Peripherien aus dem Zentrum verdrängt worden. Im 21. Jahrhundert ist der Straßenhandel am Märtyrer-Platz in Abhängigkeit von der Duldung der Stadtverwaltung mehr oder weniger verbreitet. Zu bestimmten Anlässen, insbesondere vor den großen religiösen Festen, breitet er sich aus. Chabou (2005) weist darauf hin, dass auch die Haltung der Vertreter*innen der kommunalen Verwaltung gegenüber den Straßenverkäufer*innen variiert. Die einen tolerieren den Verkauf als Notwendigkeit armer Leute, die anderen setzen die Händler*innen mit Kriminellen gleich (Chabou 2005, 170). Lizenzen werden an bestimmte Personengruppen mit befristeter Dauer vergeben. So profitieren z.B. die Familienangehörigen von Märtyrer*innen, die im Kampf für die algerische Unabhängigkeit (1854-1962) verstorben sind, von vereinfachten Lizenzvergaben im Kleingewerbe. Seit 2012 ist der Straßenhandel jedoch verstärkt polizeilichen Kontrollen ausgesetzt, mit dem Ziel, ihn gänzlich aus dem Stadtzentrum zu entfernen (Kapitel 4.1). Erst im Sommer 2019 lebte er vor dem Hintergrund der Hirak-Bewegung (Kapitel 8) am Platz der Märtyrer wieder auf. Der umkämpfte öffentliche Raum wird in Algier auch mit dem aus der osmanischen Epoche hergeleiteten Begriff beylek – dem Bey gehörend – bezeichnet: »Es gab den Begriff beylek im türkischen, dann im kolonialen und schließlich im nationalen Kontext. Alles was beylek ist (oder makhzen) gehört nicht der Gemeinschaft, sondern der Zentralmacht.« (Dris 2001, 184) Der Staat wird als fremde autoritäre und unterdrückende Herrschaftsstruktur wahrgenommen (Chabou 2004, 98, Dris 2001, 184). Heute ist der arabische Begriff für Staat, dawla, jedoch weitverbreitet und bei den Jugendlichen mit derselben Bedeutung behaftet. »Dennoch wird der nicht eingegrenzte öffentliche Raum als frei verfügbar betrachtet, der sich zur Privatisierung anbietet. Trotz der muskulösen Interventionen der staatlichen Autoritäten gibt es noch zahlreiche Beispiele für illegale Besetzungen öffentlicher Räume.« (Dris 2001, 185) Diese illegalen Besetzungen werden in der Presse zwar als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung dargestellt, jedoch auch als Forderung nach sozialer Gleichheit betrachtet: »Jede Form sozialer Unterschiede wird als ungerecht wahrgenommen, wie sich am Begriff der hogra (Ungerechtigkeit und Verachtung), die gegenüber den Schwächeren ausgeübt wird, zeigt.« (Dris 2001, 185) Razzien gegenüber den Straßenhändler*innen gehen daher häufig mit Aufständen einher. Der Staat wird in seinem Vorgehen gegen den Straßenhandel auch von den Ladenbesitzer*innen (Chabou 2005, 166 f) oder von Nachbarschafts-

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vereinen, deren Mitglieder meist Eigentümer*innen sind und zu den sozial höheren Schichten der Viertel gehören, unterstützt, die das Bild ihrer Wohnviertel auf bessern wollen. Die Bewohner*innen der vom Straßenhandel am stärksten betroffenen Viertel fühlen sich von den staatlichen Ordnungskräften im Stich gelassen. In Bachdjerrah oder in Baraki forderten sie beispielsweise von der Verwaltung und der Polizei, Maßnahmen gegen die Ausbreitung des informellen Handels zu ergreifen. Sie wehren sich gegen die Ausbreitung des Straßenhandels, die Kriminalität und die Verschmutzung der öffentlichen Räume, die dazu beitragen, die Viertel als Orte der Unordnung, des Chaos und der Gewalt darzustellen (Arab, El Watan, 4.5.2011). Im ›neuen Algier‹ soll es den Straßenhandel am Märtyrer-Platz nicht mehr geben (siehe Abbildung 6, Kapitel 4). Prozesse der Einhegung und Säuberung des öffentlichen Raums – oftmals im Namen der Sicherheit – auf der einen Seite, multiple Nutzungen und Aneignungen durch die städtischen Armen auf der anderen Seite prägen den öffentlichen Raum in der neoliberalen Stadt (Bayat 2014). Durch Razzien gegen Straßenverkäufer*innen provozierte Unruhen sind ein global verbreitetes urbanes Phänomen geworden (Honwana 2012, 72) im Rahmen urbaner Transformationen. Das Vorgehen des algerischen Staates gegen den Straßenhandel und hohe Investitionen in die Stadterneuerungsprojekte können als Ausdruck der Bemühungen um einen neuen Status der Hauptstadt mit mehr regionaler und globaler Bedeutung gesehen werden (Kapitel 4.1). Die Umgestaltung des Platzes fiel wegen der gesenkten Ölpreise seit 2010 jedoch schlichter aus als das Bild aus dem Plan zeigte. 2018 wurde die Metro-Station mit integriertem Museum eröffnet. Der Straßenhandel ist seitdem reguliert. »Es hat sich sehr geändert. Den Straßenhandel gibt es fast nicht mehr. Es ist ein bisschen schöner geworden am Platz der Märtyrer.« (Tarik, telefonisches Interview, 28.1.2019) Die Geschichte des Märtyrer-Platzes in der Stadtentwicklung zeigt, dass die Straße in Algier heute ein von den Aushandlungsprozessen unterschiedlicher Akteur*innen ›umkämpfter Raum‹ ist. Verschiedene Interessen treffen hier aufeinander und entladen sich von Zeit zu Zeit in Konf likten.

5.2 Die Straße als ›erweitertes‹ Zuhause: soziale und ökonomische Bedeutung Mahi, 28 Jahre alt, ist in Belcourt, einem historischen quartier populaire östlich des Stadtzentrums aufgewachsen. Mahi ist Tänzer. Er unterrichtet Yoga und Streetdance (Kapitel 7). Doch sein Geld verdient er vor allem auf der Straße mit seinem Transportunternehmen. Den Transporter hat er sich von seinen Ersparnissen ge-

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kauft. Während einer Autofahrt mit seinem Transporter durch Algier spricht er über die Bedeutung der Straße für die Jugendlichen: »Für uns Jugendliche ist die Straße ein Refugium. Warum? Weil es bei uns keinen Raum gibt, verstehen Sie, bei uns, da sind unsere Brüder, Schwestern, Tanten und unsere Eltern – wir sind zu viele. Wie Sie sehen können, gibt es hier nur große Gebäude, keine Villen, nur große Gebäude mit kleinen Zimmern. Wir haben also keinen Raum, um uns zu entfalten. Also, wo entfalten wir uns? Auf der Straße. Schauen Sie, das alles ist unser Zuhause. Ich spreche für die Jugendlichen allgemein. Das hat uns also die Straße gebracht. Am Anfang vor allem Raum, Freiheit. […] Jetzt ist die Straße vor allem eine Möglichkeit geworden, Geld zu verdienen, Kleidung zu verkaufen oder Zigaretten, oder wie ich, ich habe ein kleines Transportunternehmen und damit verdiene ich mein Essen. Sehen Sie, ich fahre herum, bis mich jemand anhält und sagt, er habe einen Umzug. Und die Jugendlichen machen es genauso. […] Sie machen es mit ihren Mitteln. Sagen wir, sie haben ein kleines Auto, sie haben keine Genehmigung von der Regierung, um ein Taxi zu betreiben, aber sie machen es trotzdem. Sie betreiben ein Taxi ohne Genehmigung, weil die Straße ihr Zuhause ist.« (Mahi, 28 Jahre alt, Belcourt, 5.3.2011) Die Jugendlichen verbinden die Straße mit Platz und Freiraum, den sie in den Elternhäusern nicht vorfinden. Durch die intensive Nutzung eignen sie sich die Straße an und betrachten sie zunehmend als ihren Raum. Die sich aus dem Draußen-Sein ergebenden Begegnungen sind immer auch neue Gelegenheiten, nützliche Kontakte zu knüpfen, um irgendwie Geld zu verdienen. Die Straße ist für die Jugendlichen jedoch mehr als ein ökonomischer Raum. In Mahis Narration ist sie, besonders für die männlichen Jugendlichen, die das Haus tagsüber den Frauen der Familie überlassen, ein erweitertes Zuhause. Als erweitertes Zuhause wird sie zu einem privaten Raum: Mit der Aneignung der Straße als ›Zuhause‹ erklärt Mahi am Beispiel der taxis clandestins die Legitimation informeller ökonomischer Praktiken. Dieser Anspruch auf die Straße findet seinen Ausdruck in all jenen Aneignungen des öffentlichen Raumes, die als incivisme (fehlender Bürgersinn), Ablehnung der staatlichen Autorität und ihrer Regeln bezeichnet werden. Grund dafür sei jedoch nicht ein Werteverlust, sondern die Anpassung an die Situation des Mangels (Sidi Boumedine 2008, 74). Die Aneignungen öffentlicher Räume werden daher zum Teil von der Gesellschaft und sogar dem Staat ignoriert, toleriert oder sogar legitimiert, da sie eine kompensatorische Funktion im Hinblick auf die Schwierigkeit haben, eine formelle Arbeit zu finden: Der informelle Straßenhandel, die selbst ernannten Parkwächter*innen und Taxiunternehmer*innen (taxis clandestins). Mit der Zeit hätte die Straße nicht mehr genug Möglichkeiten für alle hergegeben und so wurde aus der Aneignung eine Inbesitznahme der Straße:

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»Aber leider hat auch dieser Raum mit der Zeit nicht mehr für alle gereicht, also mussten wir ihn aufteilen. Die Jugendlichen haben sich zusammengetan und so sind mit der Zeit verschiedene Gruppen entstanden, die eine Nachbarschaft schaffen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Das Viertel hier [er zeigt auf den Märtyrer-Platz] und das Viertel aus dem wir gerade kommen [Bologhine], sind nicht verbunden. […] Das sind verschiedene Viertel, aber sie sind zu einem Viertel geworden. Wenn du in Alger-Centre bist und sagen wir in die Straße Jean Claude willst, wirst du nicht sagen, dass du in die Straße Jean Claude gehst, sondern du wirst sagen, dass du zum Märtyrer-Platz gehst, obwohl der Märtyrer-Platz eigentlich nur ein kleiner Platz ist, aber er ist zu einer großen Nachbarschaft geworden, weißt du warum? Weil sich die Jugendlichen dort vermischt haben und zu einem großen Clan geworden sind, der Clan Sahat Shuhada.« (Mahi, 5.3.2011) Der strategisch wichtige Märtyrer-Platz wird zum Bezugspunkt und Identifikationsort der Straßenverkäufer*innen. Die Bezeichnung Märtyrer-Platz wird über den Platz hinaus für ihre Aktionsräume genutzt. Die Bildung von Gemeinschaften und die Identifikation mit dem Märtyrer-Platz hilft den Jugendlichen, die auf der Straße arbeiten, sich gegen den Druck, sowohl durch die staatlichen Behörden, als auch durch die wachsende Konkurrenz, zu behaupten. Auf die Frage, wie Nidal, 18 Jahre alt, wohnhaft in der Kasbah, der erst seit Kurzem auf der Straße arbeitet, einen Platz bekommen habe, antwortet er: »Durch die Jungs aus dem Viertel. Sonst gibt es keinen Platz. Langsam, langsam haben sie es geregelt. Der Sektor ist für die Jungs aus dem Viertel. Sie sind die Ersten. Darum gibt es hier viele Probleme. Es gibt sehr viele, die hier verkaufen wollen, also werden die Probleme mehr werden.« (Nidal, Algier, 1.3.2011) Die Bezeichnung Sektor, die von den Jugendlichen teils synonym und teils in Abgrenzung zur houma verwendet wird, hat eine militärische Konnotation. Die Jugendlichen haben sie aus dem Wortschatz der nationalen Befreiungsbewegung übernommen. In der Schlacht um Algier hatte die FLN die ›Autonome Zone Algiers‹ in unterschiedliche Sektoren eingeteilt. Die Darstellung der informellen Räume der Straße als Orte der Unordnung übersieht, dass der Straßenhandel nach eigenen Ordnungsprozessen organisiert wird (Chabou 2005, 155). Persönliche Kontakte sind eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zur Straße. Die Jugendlichen aus dem Viertel haben das Vorrecht auf die Plätze, sie vermieten sie auch an Jugendliche aus anderen Vierteln und Städten. »Manche kommen sogar aus Tizi-Ouzou. Manchmal müssen sie bis zu sechs Monate Miete im Voraus bezahlen. Einer hat sogar seinen Platz verkauft, für 380.000

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Dinar [etwa 2.500 Euro], davon hat er sich dann ein Auto gekauft.« (Islam, Algier, 5.2.2011) Ein Jugendlicher, der einen festen Platz auf der Straße hat, bezeichnet sich als stalé (von franz. Installé: aufstellen, niederlassen). Damit grenzt er sich von denen ab, die keinen festen Verkaufsplatz haben und ständig in Bewegung sind. »Die Straßenhändler ›bewohnen‹ die Straße, obwohl ihnen dort keine Stelle reserviert oder zugeschrieben ist. Sie müssen sich eine Stelle suchen und von den anderen bereits installierten Straßenhändlern ein ›Installationsrecht‹ erwerben, um eine ›Arbeitsfläche‹ definieren zu können.« (Chabou 2004, 152) Hamid z.B. reagierte sehr verärgert, als die anderen Verkäufer seiner Gruppe ihn gezwungen hätten, seinen Stand um ein paar Meter zu verrücken (Gespräch, 24.2.2011). Die Straße wird von den Jugendlichen in Besitz genommen. Ihren Anspruch auf Verkaufsf lächen müssen sie jedoch immer wieder verteidigen und aushandeln. Zu einer Gruppe aus dem Viertel zu gehören, bedeutet von der Solidarität untereinander zu profitieren. Die Organisation des Straßenhandels ist auf diese Weise in die Strukturen der houma (Nachbarschaf t) eingebettet. Die Straßenverkäufer*innen aus den umliegenden Vierteln des Märtyrer-Platzes nehmen das ›Recht auf die Straße‹ für sich in Anspruch: Ihre Nutzungen äußern sich zwar in f lüchtigen Besetzungen, sie basieren jedoch auf ihrem Rechtsanspruch auf die Straße als Erweiterung ihrer houma. Dies zeigt sich vor allem in der territorialen Organisation und Vergabe der Verkaufsplätze zwischen den Verkäufer*innen aus dem Viertel und Verkäufer*innen aus anderen Stadtteilen. Erstere vermieten und verkaufen ihre Plätze. Die Inbesitznahme der Straße ist in die Ordnung der Nachbarschaft eingebettet. Fremde müssen diese Ordnung respektieren. Die Zugehörigkeit zur houma hat für die Bewohner*innen ermächtigende Funktion. Die räumliche Solidarität und Identifikation der ouled el houma mit ihrem Viertel, ihre spatial solidarity (Bayat 2010, 50) spielt auch eine Rolle in der Formierung von Protestbewegungen, deren Austragungsort die Straße ist. Dennoch hat die Straße für die Jugendlichen eine andere Bedeutung als die houma, besonders wenn sie von der houma entfernt ist oder es sich um die großen belebten Straßen handelt. Während die houma in Algerien für familiäre und nachbarschaftliche Solidarität, aber auch für soziale Kontrolle steht, ist die Straße ein anonymer, offener Raum. Die Jugendlichen können sich dort der autoritären Kontrolle der Familie und dem Auge der Nachbarschaft entziehen. Bis spät in die Nacht bleiben die Jugendlichen vom Platz der Märtyrer besonders im Sommer auf der Straße. Sie gehen ein Sandwich essen, dann einen Tee trinken, ziehen weiter, spielen eine Runde Billard oder Tischfußball, eine Runde für 20 Dinar (etwa 15 Cent), die ein anderer verdient, der die Tische auf einem freien Stück Straße oder

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einem der kleinen Plätze zwischen den Häusern aufgestellt hat. Navigieren bezeichnet in der alltagssprachlichen Bedeutung nicht nur die ökonomischen Praktiken der Straßenwirtschaft, sondern auch das Herumziehen der jungen Männer im Viertel. Geldverdienen und Freizeitbeschäftigungen vermischen sich dabei: »Ich stehe gegen Mittag auf […]. Dann trink ich einen Kaffee, rauche. Danach treffe ich mich mit meiner Freundin, wir gehen spazieren. Später komme ich ins Viertel [die obere Kasbah] zurück, drehe eine Runde, navigiere«. (Interview, 12.3.2011) Folgende Szene ist ein Beispiel für die geläufige Verwendung des Begriffs Navigieren im Alltag Jugendlicher: In der Rue d’Isly, einer Einkaufsstraße, die zwischen der Kasbah und dem Zentrum Algiers liegt, geht ein Junge, der höchstens zwölf Jahre alt ist, auf die Passanten zu und bittet sie um etwas Geld. Schließlich kommt er auch zu den Jugendlichen, die ihn aus ihrer Nachbarschaft in der oberen Kasbah kennen. »Betteln ist Sünde. Geh navigieren!«, antwortet ihm einer von ihnen (23.2.2011), der sich selbst sein Geld mit dem Kauf und Verkauf von Mobiltelefonen verdient. Navigieren bezeichnet die Suche und das Schaffen von Möglichkeiten, das In-Bewegung-Sein der Jugendlichen, um ein Ziel zu erreichen, Geld zu verdienen oder ein Projekt zu verwirklichen. Die Straße und allgemein das Draußen ist für sie auch ein Ort für kostenlose Freizeitbeschäftigung und Spaß. Oftmals sind Herumziehen, Freunde treffen, Spaß haben, und Geld machen miteinander verknüpft. All diese miteinander verbundenen Praktiken bezeichnen die Jugendlichen als Navigieren. Die ökonomischen und sozialen Praktiken der Jugendlichen am Platz der Märtyrer, die auf der einen Seite in der urbanen Kultur Algiers verwurzelt sind, wie es z.B. durch die Zugehörigkeit zu den Fußballvereinen MCA/USMA und die Identifikation mit dem ›Bab el-Oued-Shuhada‹-Mythos ausgedrückt wird, sind zugleich auch von globalen Jugendkulturen und der neoliberalen Unternehmerkultur des 21. Jahrhunderts geprägt. Die Straßennavigateure wirken wie Unternehmer*innen, die so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich machen wollen: Markenkleidung, neue Mobiltelefone, iPods, Sonnenbrillen, Silberketten usw. gehören zu ihren Accessoires, ihre Frisuren orientieren sich an denen großer Fußballspieler. Das Navigieren auf der Straße ebenso wie das Besuchen von Fußballstadien sind Praktiken, die männliche Gemeinschaften befördern. La redjla (Männlichkeit/ Machismo) ist Teil des nachbarschaftlichen Ethos und dient gleichzeitig als Abgrenzungsmerkmal von den Eliten und den Zugezogenen. Style ist den Jugendlichen als Erkennungszeichen der echten Städter wichtig, genau wie die Sprache, die urbane Variante des algerischen Arabisch, in der die Jugendlichen auf Arabisch, Französisch und Englisch zurückgreifen. Zu den sprachlichen Erkennungscodes gehört auch die Anrede wesh cho (was gibt’s Bruder). Die Endung auf dem o statt

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auf dem u (Hocharabisch: achu) ist ein Erkennungszeichen der Bewohner*innen der Kasbah und Bab el-Oueds. Auf diese Weise distanzieren sie sich auch von den Zugezogenen, die sie abwertend als ›Schäfer‹ bezeichnen und werten so ihr eigenes Außenseiter-Image auf. Gleichzeitig stärken sie durch diese zwar losen aber solidarischen Gemeinschaften auf der Straße gegenhegemoniale Identitäten. Um ihre eigene Gruppenidentität zu stärken und aufzuwerten, werden diejenigen Jugendlichen aus dem Viertel, die sich davon absondern, ausgegrenzt. Wer beispielsweise versucht, ein feines Französisch ohne rollendes R zu sprechen, wird schnell als femmelette – Weichei – bezeichnet. Im Januar 2011 wurden die Kunden auf dem Straßenmarkt von einem plötzlich beginnenden Pfeif konzert der Verkäufer*innen erschreckt, hinter dem sie einen Aufruhr gegen die verstärkte Präsenz der Polizei vermuteten. Kurzeitig brach Panik aus. Doch das Auspfeifen galt einem jungen Mann, der in extravaganter Kleidung mit seiner Freundin Hand in Hand über den Markt schlenderte und somit gegen die Kleiderordnung und die horma (Schutz der Privatsphäre in der Nachbarschaft) verstieß. Einige junge Frauen beschweren sich in den Interviews über sexistische Kommentare auf der Straße: »Ich mag die quartier populaires und ihre Märkte nicht. Es ist dreckig. Die Leute reden vulgär. Es gibt zu viele Leute. Man kann sich nicht anziehen, wie man möchte, sonst schauen alle. Ständig wird man angemacht. Die Leute benehmen sich nicht gut.« (Farah, 27 Jahre alt, Interview, 11.10 2009) Farah lebt in Alger Centre, an der Grenze zur Kasbah. Die meisten Frauen aus dem Viertel beschweren sich vor allem über die soziale Kontrolle. Die so genannten hittisten (Mauerhüter) würden ihre freie Zeit in den öffentlichen Räumen der Viertel damit verbringen, zu beobachten, wer, wo, wann und vor allem mit wem unterwegs ist. In der Regel werden die Frauen aus dem Viertel von den männlichen Straßenverkäufern respektiert und durch ihre Präsenz auf der Straße sorgen sie auch für Sicherheit. Der Straßenmarkt bietet außerdem viele Gelegenheiten zum Kennenlernen und Spaß haben. Manche Jungs aus dem Viertel verbringen, auch wenn sie nicht dort arbeiten, ihre freie Zeit damit, ihren Kollegen Gesellschaft zu leisten. Insbesondere während dem Fastenmonat Ramadan, der 2011 und 2012 in die Sommermonate fiel, hatten die Nächte am Platz der Märtyrer festliche Atmosphäre. In diesem Moment wird die Einbettung des Straßenhandels in das Alltagsleben der Nachbarschaft besonders deutlich. Die Frauen erledigen tagsüber ihre Einkäufe und nach dem Fastenbrechen spazieren sie über den Markt auf der Suche nach Kleidung für das Fest am Ende des Ramadans.

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»Zum Ende des Monats kommen immer mehr Menschen auf den Markt, und die Vorfreude auf das Fest steigt. In der letzten Nacht bleiben wir bis zum Morgen draußen.« (Tarik, Interview, 12.8.2011) Doch neben den als positiv wahrgenommenen Seiten des Straßenhandels wird das Arbeiten auf der Straße vor allem auch mit Problemen assoziiert. Viele der Verkäufer auf dem Märtyrer-Platz klagen über den zunehmenden ›Druck‹, der sich in bestimmten Situationen auch in Konf likten zwischen unterschiedlichen Gruppen oder mit der Polizei entladen kann.

5.3 Die Straße als ›umkämpfter Raum‹: Gewalt und Empörung »Wir haben nichts. Wir in der Kasbah existieren für diese Regierung nicht, sie haben uns vergessen. Wir sind für sie nichts als Kriminelle.« (Hoho, Kasbah, 31.03.2011). Noch vor der ersten Frage des Interviews, beginnt Hoho zu kritisieren. Er habe das schon einmal gemacht, für einen Journalisten vor der Kamera, erzählt er nebenbei Hamid und Sofiane, die bei dem Interview dabei sind. Hoho und Hamid verkaufen auf der Straße, Sofiane ist Taxifahrer. Alle drei sind ouled el-houma, Jungs aus dem Viertel, aus der Kasbah. »Was denkst du über die Ereignisse in Tunesien und Ägypten?« Hoho: »Sie haben Recht.« (Ebd.) »Und was hältst du von den Samstagsdemonstrationen?« Hoho: »Nein, das brauchen wir nicht. Wir haben unsere Revolution schon gehabt. Algerien ist nicht Ägypten. Nein, uns geht es besser. Wir machen Geld. Schau meine Klamotten an, alles Lacoste, die kosten mehr als der Mindestlohn hier ist. Ich verdiene gutes Geld auf der Straße. Gott sei Dank. Gott sei Dank.« (Ebd.) Zur Bestätigung zieht er ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und küsst es: »Das ist mein Tageslohn.« Hamid und Sofiane stimmen ihm zu. Hohos Narration widerspricht der Darstellung von Jugendlichen, die keine andere Wahl hätten, als auf der Straße zu verkaufen. Wie einige andere, die im Rahmen diese Studie zwischen Januar und März 2011 interviewt wurden, betont er, sich für die ›Straße‹ entschieden zu haben. Diese Entscheidung muss jedoch in Bezug auf die Handlungsfähigkeit zwischen Zwang und freier Wahl betrachtet werden. Wegen der niedrigen Löhne im Angestelltenverhältnis bevorzugen sie die informelle Selbstständigkeit. Wenn der Verdienst dort jedoch besser ist, als z.B. der eines Beamten im Verwaltungssektor, ist das Informelle nicht immer der letzte Ausweg für die Jugendlichen in Algier.

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Dennoch klagen die Jugendlichen auch darüber, keine Sicherheiten zu haben ohne Vertrag und sozialversicherte Beschäftigung. In diesem Sinne, kann ihre informelle Beschäftigung nicht als freie Wahl (Honwana 2012, 80) bezeichnet werden. In Gesprächen mit Jugendlichen, die eine feste Arbeit hatten, diskutierten die Straßenverkäufer während eines Gruppeninterviews die Vor- und Nachteile des Straßenhandels im Vergleich zum Angestelltenverhältnis (Gruppeninterview, 31.3.2011). Die in Abhängigkeit von den Launen des Staates in den dynamischen Spannbreiten zwischen Legalität und Illegalität angesiedelten Praktiken sind nicht nur als Überlebens- oder Bewältigungsstrategien zu verstehen. Sie haben auch akkumulierende Funktion mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen Lebenssituation. Mit Bayat kann dieses Vorgehen als stilles und sukzessives Vordringen bezeichnet werden, durch das staatliche Hoheiten untergraben werden (Bayat 2012 a, 31f.). Hohos Kritik zu Beginn des Interviews hat den Diskurs über die ›rebellische‹ Jugend Bab el-Oueds zum Ausdruck gebracht. Die meisten der Jugendlichen, die in den Straßen rund um den Märtyrer-Platz verkaufen, nehmen im Interview eine ähnliche Haltung wie Hoho ein. Sie distanzierten sich von den politischen Protestbewegungen 2011. Dennoch kritisieren sie die Regierung und betrachten ihre Praktiken angesichts der hogra (Machtmissbrauch) und der als ›mafiös‹ wahrgenommenen Politik als legitim. Die Jugendlichen verkörpern auch mit materiellen Symbolen eine Gegenkultur: T-Shirts von Che Guevara, Musik von Tupac Shakur und Fotos auf dem Handy von Ali la Pointe, einem Helden der Schlacht um Algier (1957). Rani: »Ich liebe Tupac. Ein echter Boss. Weil er gegen den Staat ist, gegen die Polizei […]. »Du hast gesagt, dass du Tupac magst, weil er gegen den Staat ist. Interessierst du dich für Politik?« Rani: »Nein! Aber die Regierung und die Polizei machen uns viel Druck. Sie sind aggressiv.« (Interview, 12.3.2011) Die Jugendlichen bezeichnen sich selbst als ›unpolitisch‹ wobei davon auszugehen ist, dass sie ›politisch‹ hier im engeren Sinne als ›politisch aktiv und organisiert‹ definieren. In einem weiteren Verständnis des Politischen, sind Jugendliche wie Rani politisch und als potentiell ›mobilisierbar‹ zu bezeichnen, da sie über ein politisches Bewusstsein ihrer ›Ausgrenzung‹ oder Unterdrückung verfügen und sich darüber empören. Eine ähnliche Form der Politisierung trifft beispielsweise auch auf die jugendlichen Fußballfans zu. Die Wurzeln der Protestkultur der Jugendlichen aus Bab el-Oued und der Kasbah führen weit zurück in die Geschichte Algiers. So soll beispielsweise die Gründung der Fußballvereine Mouloudia Club d’Alger (MCA)

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im Jahre 1921 und Union Sportive des Muselmans Algeriens (USMA) 1937 gegen Ende der Kolonialzeit dazu beigetragen haben, das nationale Bewusstsein der algerischen Bevölkerung zu stärken und somit für den Befreiungskampf zu mobilisieren (Fates 2009, 2003). Nach der Oktoberrevolte 1988 wurde der Slogan »Nodo, ya ouled el assima, nodo« (Erhebt euch, Jugendliche der Hauptstadt. Erhebt euch, zitiert in: Rarrbo 1995, 81) in den Stadien gesungen, und auch heute stellen die Fußballstadien einen Ort des Protests dar. Die Fußballspiele enden oft in Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen und der Polizei. Die Fankultur der Vereine MCA und USMA, die in der Kasbah/Bab el-Oued gegründet wurden, ist bis heute eng mit der Alltagskultur dieser Viertel verbunden: Bei Aufständen, Fußballspielen oder Hochzeitsfeiern werden die Lieder der Fans in den Straßen gesungen, in denen der Staat als hagar (Unterdrücker) kritisiert oder die heimliche Migration als einziger Ausweg zelebriert wird (Kapitel 4.4). Dabei passiert es laut Fates (2009) des Öfteren, dass die Freude in Gewalt umschlägt (Fates 2009, 303). Die in die Alltagspraktiken und Diskurse integrierten Formen des Protests und der Kritik enthalten zugleich die Forderung nach Handlungsfreiräumen. Die Straße ist für die Jugendlichen am Platz der Märtyrer ein solcher Freiraum geworden, den sie sich jedoch immer wieder erkämpfen müssen. Auch wenn die Jugendlichen betonen, sich freiwillig für die Straße entschieden zu haben, schildern sie die Schwierigkeiten oder Nachteile der Arbeit auf der Straße, die ihre Solidarität und Identität als Gruppe stärkt. Die empfundenen Unsicherheiten des ›Navigierens‹ beziehen sich nicht nur auf die Abhängigkeit von der Duldung durch die Autoritäten und auf die Straßenkriminalität, sondern auch auf die Flüchtigkeit des Einkommens, den Tageslohn ohne soziale Sicherheiten und die Schwierigkeit, sich aus diesem Verdienst eine Zukunft aufzubauen, eine Wohnung zu bekommen und eine Familie zu gründen. Sie schildern die physischen Anstrengungen, bedingt durch Regen, Hitze, Staub und Menschenmengen: »Im Ramadan arbeiten wir sehr viel. Erst tagsüber, dann nochmals abends nach dem Fastenbrechen. Es ist hart, den ganzen Tag in der Hitze zu arbeiten und dann nachts kaum zu schlafen. Zum Ende des Ramadans hin ist immer mehr los und wir bleiben bis spät in die Nacht. Nach dem Ende des Ramadans machen wir daher alle eine Woche Pause. […] in einer Woche findest du hier niemanden mehr. Alle Jugendlichen vom Platz der Märtyrer machen eine Woche Urlaub.« (Hamid, Interview, 23.8.2011) Der kollektive Urlaub der Straßenverkäufer ist ein Zeichen ihrer Vernetzung und Solidarität. Als die Polizei nach dem Ramadan 2010 die Pause des Straßenverkaufs nutzen wollte, um ihn längerfristig einzudämmen, war es in der Kasbah deswegen nach der Verhaftung einiger Straßenverkäufer zu Protesten und ge-

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waltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Hunderten von Jugendlichen gekommen (Semmar, El Watan, 25.9.2010). Auch im Mai 2011 organisierten die Straßenverkäufer eine Versammlung vor dem Sitz der Polizei, um gegen die erneuten Einschränkungen des Straßenverkaufs zu protestieren. Immer wieder müssen sich die Jugendlichen ihre Handlungsfreiräume erkämpfen oder sie verteidigen. Die Straße als öffentlicher Raum ist ein permanent unter Druck stehender Raum. Das Empfinden von Druck wurde von vielen der Jugendlichen, die auf der Straße arbeiten, beschrieben, besonders bezüglich der polizeilichen Kontrolle und Willkür. Die mit der Straßenarbeit verbundenen Probleme und ihre Vulnerabilität in Bezug auf staatliche Gewalt betreffen und vereinen Jugendliche mit unterschiedlichen Bildungshintergründen und aus unterschiedlichen Schichten in den städtischen Armutsvierteln (vgl. Honwana 2012, 73). Fast alle Jugendlichen, die schon lange auf der Straße arbeiten, haben bereits Gewalt erlebt. Viele Jugendliche tragen ein Messer bei sich, um sich wenn nötig verteidigen zu können. Auch das Halten von Schäferhunden oder Kampf hunden unter den Jugendlichen der Straße ist verbreitet. Einige erzählen von Gefängnisaufenthalten und erlebter Polizeigewalt nach gescheiterten Versuchen, Algerien über das Meer zu verlassen. Die Jugendlichen erleben den urbanen Raum als zunehmend kontrolliert und umkämpft, die Schwierigkeiten mit der Polizei würden zunehmen. General Hamel, der Nachfolger des 2010 ermordeten Polizeichefs Tounsi, hatte 2010 neben Gehaltserhöhungen und der Aufrüstung der Polizeipräsenz im öffentlichen Raum auch die Installation von Kameras in den so genannten ›sensiblen‹ Stadtvierteln (vgl. Kapitel 4.2) veranlasst. Bei den Januarunruhen 2011 wurden dadurch einige der Aufständischen im Nachhinein identifiziert und verhaftet (Kapitel 4.2). Kleine Straftaten wie Diebstähle von Mobiltelefonen und der Besitz einer geringen Menge Haschisch würden heute mit hohen Strafen belegt: »Ich kann keine legale Arbeit finden, bin mehrmals vorbestraft«, erzählt Rachid, 30 Jahre alt, wohnhaft in Fort de l’Eau, der sich mit dem Navigieren durchschlägt. Durch seine Vorstrafen riskiert er bei kleineren Gesetzesübertretungen wieder im Gefängnis zu landen: »Früher habe ich am Hafen gearbeitet, konnte dort Fisch kaufen und verkaufen, aber jetzt ist alles kontrolliert. Ich habe auch mal einen kleinen Zigarettenstand gehabt. Früher war das in Ordnung. Heute kann ich das nicht mehr. Zu viel Druck.« (Rachid, Interview, 7.3.2011) Hamid und Rachid waren damals in der Kasbah Nachbarn und sind es auch heute in Fort de l’Eau. Sie sind beide um die 30 Jahre alt und haben den Oktober 1988 als Kinder miterlebt. Für sie steht der Oktober 1988 vor allem für den Beginn des Schwarzen Jahrzehnts. Der Beginn der 1990er-Jahre markiert auch den Zeitpunkt

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ihrer Umsiedlung. Rachid glaubt, dass seine Familie umgesiedelt wurde »weil sie die Kasbah für die Kultur und die Touristen wollen«, (Interview, 7.3.2011), und Hamid stimmt ihm zu: »Da, wo wir gewohnt haben, in der unteren Kasbah, gibt es viele Museen. Es gibt keinen Platz in den Häusern und viele der Häuser sind kaputt.« (Interview, 7.3.2011) Momo, 30 Jahre alt, wohnhaft in der Kasbah, glaubt, dass die Umsiedlungen auch eine Maßnahme gegen die immer wiederkehrenden Revolten in ihren Vierteln sind: »Aber auch, weil sie uns trennen wollten, weil sie Angst vor unserer Solidarität hatten. Sie wissen genau, wenn sich einer von uns erhebt, erheben wir uns alle.« (Momo, Kasbah, 7.4.2011) Das Programm zur Renovierung der Kasbah sieht vor alle Bewohner*innen, die keine Hausbesitzer*innen sind, umzusiedeln, um die Einwohnerdichte zu verringern. Diese würde maßgeblich zur baulichen Degradierung der Altstadt beitragen. Gleichzeitig gehören die besitzlosen Bewohner*innen zu den im Laufe der kolonialen und postkolonialen Urbanisierungswellen ›Zugezogenen‹ aus den ländlichen Regionen, die im öffentlichen Diskurs für die sozialen Probleme und Konf likte im öffentlichen Raum verantwortlich gemacht werden. Das Wohnungsproblem ist neben dem Mangel an geregeltem Einkommen das größte Hindernis für die Jugendlichen, eine Familie zu gründen und erwachsen zu werden. Die Zusammengehörigkeit der Jugendlichen wird vor allem durch den gemeinsamen Erfahrungsraum der ›Straße‹, aber auch durch die Identifikation als Jugendliche, die weniger an einer spezifischen Altersklasse festgemacht wird als an der sozioökonomischen Situation: »Ich bin fast 30 und immer noch nicht verheiratet«, sagt Hamid (Interview, 31.3.2011) und macht dabei eine Geste der Verzweif lung. Hamid hat seine Hochzeit noch einmal verschoben. Während des Ramadans 2011 hatte er einen guten Umsatz gemacht. Mittlerweile aber wird der Raum für den Straßenverkauf wieder strenger kontrolliert. Wie vielen anderen seiner Generation bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiter in den Straßen rund um den Platz der Märtyrer zu navigieren. »Inshallah [so Gott will] werde ich 2013 heiraten.« (Hamid, Interview, 14.4.2011)

Zwischenfazit Der Märtyrer-Platz ist ein umkämpfter Platz in der Geschichte und Gegenwart Algiers von seiner Errichtung im Kontext kolonialer Gewalt bis hin zu seiner aktuellen Umgestaltung im Kontext des Stadterneuerungsprojekts Algier 2029. Die jungen Männer, die sich dort tagtäglich mit dem Verkauf ihrer Waren durchschlagen, versuchen die ›Warteschleife‹ des verlängerten Jugendstatuts durch sozio-ökonomische Zwänge zu durchbrechen. Einige der Straßenverkäufer haben ihre Entscheidung für die Straße und den Vorteil eines besseren Verdienstes gegenüber formeller Arbeit betont. Andere arbeiten für ein Zusatzeinkommen neben ihrer festen Arbeit auf der Straße.

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Sie alle bezeichnen ihre Tätigkeiten als Navigieren. Wissend, dass sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben, suchen sie selbst nach Lösungen, ihre Handlungsfähigkeit zu vergrößern. In diesem Sinne nimmt das Navigieren die ursprüngliche Bedeutung des ›Lenkens‹ und ›Selbst-Regierens‹ an (siehe Kapitel 1.4). Die Jugendlichen sind in Bewegung, navigieren in den Straßen, müssen f lexibel auf Hindernisse reagieren, und wenn Veränderungen eintreten, neue Möglichkeiten und neue Wege suchen, ihr Ziel zu erreichen: die Uhrzeit abwarten, bis die Polizei den Platz verlässt oder in einen entlegenen Stadtteil ausweichen, der weniger kontrolliert ist. Sich einen anderen Gelegenheitsjob suchen, z.B. für einen Fischhändler am Hafen arbeiten und seine Ware anderswo weiterverkaufen. Oder ihre Freiräume gegenüber den städtischen Autoritäten verteidigen. Der Wunsch nach einer Verbesserung der individuellen Lebenssituation steht im Vordergrund der Praktiken des Navigierens auf der Straße. Gleichzeitig brauchen und kreieren diese Praktiken auch Gemeinschaften. Dabei spielt auch die Nachbarschaft eine identitätsstiftende Rolle. Auch Jahre nach ihrer Umsiedlung bezeichnen sich die Jugendlichen als Jugendliche aus der Kasbah, insbesondere in Abgrenzung zu anderen Händler*innen. Aber auch gegenüber den Autoritäten nutzen die Jugendlichen die Stärke durch Gemeinschaft im Fall von Sitzstreiks oder Revolten. Die Straße als öffentlicher Raum spielt als Begegnungsort spontaner Mobilisierung eine wichtige Rolle, z.B. wenn die Polizei gegen den informellen Handel vorgeht. Doch in Algier ist der öffentliche Raum seit Oktober 1988 und danach im Namen der Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung ein stark kontrollierter Raum, in dem der normale Fluss des städtischen Lebens (Bayat 2012 b, 28) durch polizeiliche Straßensperren, Überwachungskameras usw. eingeschränkt wird. Erst wenn die städtischen Autoritäten versuchen, die Straßenverkäufer*innen an der Ausübung dieser Beschäftigungen zu hindern, bekommen die informellen Praktiken einen defensiven Charakter. In diesem Moment der Aushandlung der Autonomie liegt das Konf liktpotential (Bayat 2012 B, 43). In der Kasbah und anderen quartiers populaires der algerischen Hauptstadt kommt es immer wieder zu Ausschreitungen, wenn die Polizei versucht, gegen den Straßenhandel vorzugehen. In diesen Momenten kann aus dem ›stillen Vordringen‹ einzelner Akteur*innen eine kollektive Protestbewegung werden, da die Straßennavigateure eine Art passives Netzwerk bilden (Bayat 2012 b, 43). Doch auch das Nichteingreifen des Staates ist eine Form Kontrolle auszuüben: »State power is reproduced through the capacity to construct and reconstruct categories of legitimacy and illegitimacy.« (Roy 2005, 149) Wenn es den Straßenverkäufer*innen jedoch gelingt, insbesondere als Jugendliche, Sympathien und Verständnis für ihre Aktivitäten hervorzurufen, können sie die Diskurse über den Straßenhandel und somit auch die

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Haltung der staatlichen Behörden beeinf lussen und ihre Freiräume zum Navigieren vergrößern. Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings waren sich die Straßenverkäufer*innen ihrer Macht bewusst: Der informelle Handel hatte sich im öffentlichen Raum Algiers nach den Januarunruhen 2011 so sehr verbreitet, dass er in der Presse als Zeichen der Schwäche der Regierung bezeichnet wurde. Dies wiederum hat auf längere Sicht das Vorgehen des Staates gegen den informellen Handel verstärkt, um sich gegen diese öffentliche Bloßstellung zu wehren und Stärke zu zeigen. Die Straßennavigateure am Platz der Märtyrer im Jahre 2011 verkörpern das politische Bewusstsein der städtischen Subalternen in den Städten des 21. Jahrhunderts, die sich gegen eine Stadtentwicklung wehren, die sie zu disziplinieren und aus dem Zentrum zu verdrängen versucht. In diesem Sinne ist ihre ›Besetzung der Straße‹, auch wenn sie vom Staat als Abfederungsmechanismus in Krisenzeiten genutzt wird, auch eine Form der Mobilisierung gegen Ausgrenzung im städtischen Raum. Auch wenn die Empörung der Straße, die immer wiederkehrenden Straßenunruhen, sowie die Praktiken rund um das Navigieren keine organisierte Form des Widerstands sind, so enthalten sie doch eine politische Forderung: Die Denunziation der hogra (Machtmissbrauch) in den Praktiken und Diskursen der Jugendlichen, ob bei den Straßenprotesten, in den Liedern der Fußballfans oder in den täglichen Konversationen der Straßenverkäufer*innen ist eine Forderung für mehr Gleichheit und gegen die Verdrängungspolitik eines ausschließenden urbanen Regimes. In Algier ist der Staat im Jahr 2013 erneut mit Schärfe gegen den Straßenhandel vorgegangen. Im Rahmen des Stadterneuerungsprojektes und des Plans ›Algier 2029‹ sollen alle informellen Märkte aus dem Stadtzentrum entfernt werden: »Die informellen Märkte in den Kommunen Kasbah und Algier-Zentrum wurden Ende letzter Woche entfernt. Früh am Morgen kamen Einheiten der Sicherheitskräfte und sperrten die Rue de la Lyre und forderten die fliegenden Händler dazu auf, den Ort zu verlassen. Diese haben überhaupt keinen Widerstand geleistet.« (El Watan, 17.2.2013) Auch wenn es im Februar 2013 keine Proteste gegen das Vorgehen der Polizei gab, ist es gut möglich, dass die Jugendlichen sich dem Planungsregime zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort widersetzen werden oder andere Form von Widerstand leisten. Der Fokus auf die Praktiken des Navigierens ermöglicht es, die dichotome Gegenüberstellung von Jugendlichen als Akteur*innen aktiven politischen Widerstands auf der einen sowie einer passiven Jugend auf der anderen Seite aufzubrechen und die Verknüpfung von Alltagsbewältigung. Vordringen und Widerstand aufzuzeigen, ähnlich wie Cindy Katz das mit der Konzeptualisierung von Resilience, Reworking und Resistance vorschlägt (Kapitel 1.4).

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Das Beispiel der Inbesitznahme der Straße durch die Straßenverkäufer hat jedoch auch gezeigt, dass die Straße als öffentlicher und autonomer Raum nicht frei von Ordnungs- und Exklusionsprozessen ist. Von vielen Frauen des Viertels wird die Straße als öffentlicher Raum für Begegnungen und kollektive Aktivitäten gemieden, um sich der sozialen Kontrolle zu entziehen. Andere Jugendliche grenzen sich bewusst von dem schlechten Ruf der Jugendlichen der Straße ab. Für sie spielen die halböffentlichen Räume der Jugendeinrichtungen eine wichtige Rolle im Alltagsleben. Um die Bedeutung der halböffentlichen Räume in den alltäglichen Nutzungen und Aneignungen der Jugendlichen geht es im folgenden Kapitel.

6. Navigieren in halböffentlichen Räumen Die Aneignung von Jugendeinrichtungen »Ist das Alter der Jugendlichen in Algerien etwa angehoben worden? Die Repräsentanten der Jugendvereine, die letzten Sonntag Abdelkader Bensalah getroffen haben, sahen nämlich eher nicht nach Jugendlichen aus. Für den Anlass hatten sie ihre Anzüge und Krawatten rausgeholt und sich die Schnurrbärte zurechtgemacht. Mit ihren Aktentaschen in der Hand, kamen sie um für die unter 20-Jährigen – im Jogginganzug und umgedrehter Baseballcap – zu sprechen. Vereine, die selbst Google nicht kennt, werden von Bensalah empfangen und als ehrwürdige Repräsentanten der algerischen Jugend behandelt, damit war wohl eher die Jugend aus der Ära Boumediene gemeint. Wie man sich vorstellen kann, haben sie über alles gesprochen, nur nicht über die Probleme der heutigen Jugend und über die Gerontokratie, aber was schlagen sie vor?« (Aït Mouhoub, El Watan, 10.6.2011) Die Anspielung auf die Schnauzbärte der Vertreter von Jugendvereinen auf dem Treffen mit dem Präsidenten des Conseil de la Nation, Abdelkader Bensalah, am 5. Juni 2011 spiegelt die Kluft zwischen den Generationen wider: Selbst in so genannten Jugendvereinen haben Jugendliche nur wenig Partizipationsmöglichkeiten und die Anliegen der Jugend werden von den Schnauzbärten – Symbol für die Gerontokratie in den algerischen Institutionen – verhandelt. Im Hinblick auf die angespannte Beziehung zwischen Jugend und Staat seit der Oktoberrevolte 1988 und dem Aufruhr 2011, wird die Jugendpolitik des Staates im öffentlichen Diskurs kritisch betrachtet und insbesondere als Strategie der Demobilisierung gedeutet. Die algerische Jugend hat sich weitgehend von der Politik bzw. den etablierten Formen politischer Partizipation und politischem Aktivismus distanziert, ähnlich wie Jugendliche in anderen autoritär regierten Ländern (Honwana 2012, 111). Das Desinteresse der Jugend an der offiziellen Politik ist auf die Strukturen autoritärer Regime zurückzuführen, in denen politisches Engagement unterdrückt oder durch Kooptationsstrategien wirkungslos gemacht wird. Obwohl die Integration der Jugend durch Bildungs-, Sport- und Kultureinrichtungen seit der algerischen Unabhängigkeit 1962 gefördert wird (siehe Kapitel 3.2) und durch die nationalen Krisen 1988 und 2011 Nachdruck verliehen bekom-

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men hat, mangelt es an Jugendeinrichtungen und besonders an solchen, die für Jugendliche attraktiv sind (Rarrbo 1995, 82, Baamara 2013). Gleichzeitig gibt es in Algier eine Vielzahl von Jugendeinrichtungen, die von Jugendlichen aus der Nachbarschaft und manchmal auch von Jugendlichen aus weit entfernten Stadtteilen genutzt werden. Als Treffpunkte bieten sie Raum für neue Begegnungen, Unterhaltung und Grenzüberschreitungen, die im öffentlichen Raum nicht möglich sind (vgl. Baamara 2013). In Kapitel 6.1 wird ein Überblick über Jugendeinrichtungen in Algier gegeben sowie die Bedeutung der Zivilgesellschaft in Algerien diskutiert. Darauf auf bauend werden anhand der empirischen Ergebnisse die Nutzung und Aneignungen eines staatlichen Jugendhauses (6.2), einer Bibliothek (6.3) und eines Jugendvereins (6.4) im Alltag Jugendlicher als halböffentliche Bildungs-, Begegnungs- und Beteiligungsräume diskutiert und analysiert.

6.1 Jugendeinrichtungen in Algier: Einblick Der arabische Begriff für Freizeit (waqt faragh) bedeutet wortwörtlich ›leere Zeit‹, die noch unbesetzt ist und die nicht nur irgendwie, sondern auch irgendwo ausgefüllt werden muss. Freizeit ist ein Konzept industrieller urbaner Gesellschaften, das all die Aktivitäten einschließt, die außerhalb der Arbeits- oder Ausbildungszeit stattfinden. Aber was bedeutet Freizeit für Jugendliche, die arbeitslos und nicht in der Schule, im Studium oder in Ausbildung sind? Diese Jugendlichen werden im öffentlichen Diskurs in Algerien vor allem mit dem Raum der Straße assoziiert (Kapitel 5). Die Figur des hittisten (Khaled 1991, 68, Kateb 1998, Le Pape 2013) – der untätig an der Mauer lehnt – prägt das Bild einer Jugend, die keine Arbeit und zu viel freie Zeit hat. Le Pape beschreibt den Zustand der hittisten außerdem als ›Schleuse‹ – einen Prozess »zwischen der Welt der Kindheit und der Erwachsenen, zwischen Schule und Berufsleben, zwischen Untätigkeit und Tätigkeit« (Le Pape 2013, 44). Das mangelnde Freizeitangebot würde die Präsenz der Jugendlichen auf der Straße fördern: »Im Stadtteil, dort wo die Jugendlichen ihre Freizeit hauptsächlich verbringen, mangelt bzw. fehlt es teilweise an Freizeit-Infrastrukturen. Und so wird die Straße dort in einen Spielplatz verwandelt.« (Khaled 1991, 67) Abdelkader Lakjaa erklärt basierend auf den Ergebnissen einer Jugend-Studie, die 2006 in Oran durchgeführt wurde, dass der Begriff der Freizeit bei den Jugendlichen zwei extreme Reaktionen hervorbringt: Zu viel freie/leere Zeit bei arbeitslosen männlichen Jugendlichen, keine freie Zeit bei jungen Frauen, die sich in der Ausbildung befinden oder berufstätig sind und deren freie Zeit von Hausarbeiten vereinnahmt wird (Lakjaa 2008, 58). Die Freizeit findet mit einigen Ausnahmen an geschlechtsgetrennten Orten statt: Die jungen Frauen verbringen ihre freie Zeit mehr zu

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Hause, während die Männer ihre freie Zeit draußen (Khaled 1991, 70) verbringen, auf der Straße oder in Sportclubs (Lakjaa 2008, 58). Die Freizeitbeschäftigung von arbeitslosen Jugendlichen sei eingeschränkt, weil die Arbeits- oder Ausbildungssuche oberste Priorität habe. Künstlerische und kulturelle Aktivitäten würden von den Jugendlichen aber auch deswegen weniger ausgeübt werden, weil sie im Gegensatz zur Bildung, zum Sport und mit Ausnahme folkloristischer Künste einen schlechten Ruf haben (Khaled 1991, 69f.). Viele Jugendliche wüssten nicht, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollten (Lakjaa 2008, 59). Hier scheint sich jedoch, sowohl was die Geschlechtertrennung als auch die Ablehnung künstlerischer und kultureller Aktivitäten betrifft, ein Wandel zu vollziehen, wie basierend auf den empirischen Ergebnissen dieser Studie im Folgenden aufgezeigt wird. Eine besondere Rolle spielen dabei halböffentliche Freizeit- und Bildungsräume deren Träger oftmals zivile oder staatliche Vereine sind.

Bildungs-Räume Bildung ist für die Beziehung zwischen Staat und Jugend ein bedeutsamer Sektor. Die Schule ist die effektivste Institution des Staates, um durch moralische Autorität auf Identitätsbildung und Weltanschauungen der Jugend Einf luss zu nehmen, sie zu kontrollieren und somit zur Konstruktion der ›algerischen Jugend‹ beizutragen (Rarrbo 1995, 93): »Die Schule verfolgt eine klare Mission, die darin besteht, ein patriotisches Gefühl in den Kindern zu verankern, die Bindung und die Treue zur Nation zu stärken, um so die nationale Einheit und die territoriale Integrität zu garantieren.« (Ferfera et al. 2010, 71) Gleichzeitig ist Bildung der Sektor, an dem Ungleichheiten und strukturelle Missstände eines Staates besonders deutlich hervortreten und Ungleichheiten reproduziert werden (Rarrbo 1995, 93). Die Zahlen von Schulabgänger*innen, diplomierten Arbeitslosen oder Analphabet*innen sind ein Indikator für ungleiche soziale Strukturen, die beispielsweise das Stadt-Land-Gefälle, innerstädtische Ungleichheiten oder die Ausgrenzung von Frauen in der Gesellschaft zum Vorschein bringen (Ferfera et al. 2010, 68f.) und somit auch ein Indikator für die Entwicklung einer Gesellschaft sind. Vor dem Hintergrund des in den 1980er-Jahren eingeleiteten wirtschaftlichen und politischen Wandels beschloss die algerische Regierung zu Beginn des neuen Millenniums, das Bildungssystem zu überarbeiten: »Die Kommission sollte die großen Veränderungen in der algerischen Gesellschaft berücksichtigen, vor allem das Einläuten des politischen Pluralismus, das Ende der

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Planwirtschaft und der zentralistischen Verwaltung, die Globalisierung des Handels, die Dringlichkeit wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung sowie die Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.« (Ferfera et al. 2010, 70) Auch der Bürgerkrieg der 1990er-Jahre hat dazu beigetragen, die Dringlichkeit der Reformen des Bildungssektors zu erkennen. Kouachi beispielsweise verweist auf die hohe Zahl Jugendlicher, die in den 1990er-Jahren vom Schulsystem ausgeschlossen waren: 1991, dem Beginn des so genannten ›Schwarzen Jahrzehnts‹ seien etwa 400.000 schulpf lichtige Jugendliche vom Bildungssystem ausgeschlossen und somit der »Gewalt der Straße« ausgesetzt (Kouaouchi 2004, 40f.) oder von den Anhänger*innen der FIS rekrutiert worden, die den Jugendlichen Orientierung und Beschäftigung boten (siehe Kapitel 3.4). Für Algier lässt sich sagen, dass der städtische Raum in seiner Gesamtheit viele Vorteile bezüglich des Bildungszugangs bietet und dieser in Algerien stärker von der geografischen Herkunft (Stadt/Land) als von der sozialen Klasse/Schicht beeinf lusst wird. Die Städte bieten mehr Bildungsinfrastruktur und Transportmöglichkeiten, was besonders auch den Zugang von Frauen zu Bildungsinstitutionen fördert (Rarrbo 1995, 108). Dennoch gibt es Unterschiede zwischen den Vierteln und ihrer Infrastruktur. Besonders im Bereich des Zugangs zur Hochschulbildung werden auch Klassenunterschiede sichtbar (Rarrbo 1995, 112). Geldmangel ist für viele Jugendliche in den städtischen Armutsvierteln ein Grund, die Arbeit auf der Straße einer langjährigen Ausbildung vorzuziehen. Die fehlende Anpassung des Bildungssektors an die Produktion und den Arbeitsmarkt im Zuge postkolonialer Reformen in Algerien (Elsenhans 1977, 82-92) sowie die globale Transformation des Arbeitsmarktes seit den 1980er-Jahren durch strukturelle Anpassungsprogramme (Layachi 1996, Harrold 1996, Dilmann 2001) machen die offizielle Schul- und Ausbildung für die Jugendlichen in Algier wenig attraktiv (Khebbeb 2008, 149, Musette 2004 c, 41f.). Der Glaube, dass das Erreichen attraktiver Positionen auf dem Arbeitsmarkt nicht durch gute Bildung, sondern durch gute Beziehungen ermöglicht wird, trägt dazu bei. Trotz der bis heute bestehenden Diskrepanzen zwischen Aus-, Fortbildung und den Chancen auf dem Arbeitsmarkt setzen die Jugendlichen große Hoffnungen auf Bildung und Bildungsabschlüsse, insbesondere die Aussicht diese im Ausland zu erwerben, treibt viele Jugendliche an. Viele verbringen einen großen Teil ihrer freien Zeit damit, sich weiterzubilden. Private und unkonventionelle Bildungswege nehmen daher auch in Algerien eine wichtige Funktion ein (Behrend & Meier 2005). Wie in anderen arabischen Ländern führt die Nachfrage nach privatem Nachhilfeunterricht dazu, dass schlecht bezahlte Lehrkräfte und arbeitslose Studienabgänger*innen ein Zusatzeinkommen oder erste Berufserfahrungen erwerben können (Bayat 2012 a, Salehi-Isfahani & Dhillon 2008, 17).

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Bildung findet somit nicht nur in der freien Zeit statt, sie wird zu einer ›Freizeitbeschäftigung‹, was sich daran zeigt, dass Bildung verstärkt an Orten angeboten wird, deren eigentliche Funktion die Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen ist. Gleichzeitig bekommen Freizeitbeschäftigungen und kulturelle Tätigkeiten immer mehr Bedeutung im beruf lichen Werdegang der Jugendlichen (Kapitel 7). Auch in Algier nimmt Bildung heute einen wichtigen Stellenwert in der Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen ein. Die Wichtigkeit der Bildung in der Wissensgesellschaft wird zum Antrieb für die Jugendlichen, Bildungsangebote aufzusuchen in Algier, wie auch in anderen Städten der MENA-Region (Droz-Vincent 2013, 160). Gleichzeitig aber sind die Bildungsinstitutionen auch Treffpunkte, die Raum für Begegnungen, Spaß oder ›Zeit für sich‹ bieten, da es für die Jugend aus den unteren Schichten wenig Orte und Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung gibt (Bonnefoy & Catusse 2013, 21f.)

Vereins-Räume Eine wichtige Rolle an der Schnittstelle von Jugend und Bildung spielen die zivilen Vereine in der algerischen Gesellschaft als Anbieter von Alphabetisierungskursen, Nachhilfeunterricht, Fremdsprachenkursen, Bibliotheken, IT-Seminaren oder einfach als Anbieter von Räumen zum Lernen. Da sich viele der Jugendlichen private Schulen nicht leisten können, sind sie auf zivilgesellschaftliche Vereine und staatliche Bildungseinrichtungen angewiesen. Die staatliche Sozialarbeit ebenso wie die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Akteur*innen wird in Algerien seit dem Oktober 1988 (Kapitel 3) von einigen Autor*innen vor allem als Kontrollinstrument betrachtet: »Die soziale Prävention entwickelt sich also aufgrund der Sorge um das Soziale und Politische angesichts der fortschreitenden Marginalisierung der Unterschicht und ihrer Kinder. Die unkontrollierte Marginalisierung wird folglich als Gefahr für die Oberschicht betrachtet.« (Rarrbo 1995, 92) Die politische Bedeutung von Jugendeinrichtungen in Algerien muss im Kontext der algerischen Zivilgesellschaft betrachtet werden. Zivilgesellschaften sind in Abhängigkeit des Staatssystems und der Gesellschaftsstrukturen einer Nation mehr oder weniger autonom. In Algerien würde der Staat durch das Rentensystem seinen Einf luss in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausüben, weshalb in wissenschaftlichen und medialen Diskursen oft von keiner oder einer nicht funktionierenden Zivilgesellschaft die Rede ist (Ouaissa 2009, 80), insbesondere in Bezug auf das Vereinswesen (Liverani 2008, Derras 2007). Das Vereinswesen wird von den jungen Leuten mit den politischen Institutionen gleichgesetzt und daher negativ betrachtet (Baamara 2013, 237f.). Das Desinteresse der

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algerischen Jugend an konventioneller Politik und zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten hat mit dem Misstrauen der Jugend in die Politiker*innen und die ältere Generation zu tun, von denen sie sich politisch und sozial ausgegrenzt fühlen, ähnlich wie Jugendliche in anderen afrikanischen Ländern, wie Honwana (2012, 118) feststellt: »Young people’s perception is that politics offers them no space for real participation. The state and party politics do not allow for dissenting voices or alternative interventions.« (Honwana 2012, 118) Doch die jungen Leute suchen sich neue Räume und Formen der politischen Partizipation: »There is no doubt that we are witnessing a new brand of political action outside party politics, even though some youths themselves do not want to call it political, understandable so, as their experiences of political activity have been negative, corrupt, and abusive.« (Ebd., 118) In Kapitel 2.4 wurde die Rolle des Vereinswesens – von integrativ bis oppositionell – im Befreiungskampf am Beispiel der in der Kasbah gegründeten Sport- und Kulturvereine während der Kolonialzeit dargestellt. Im unabhängigen Algerien waren sie in den ersten Jahren in der Form von Massenorganisationen in das Einparteiensystem integriert. Erst in den 1980er-Jahren, als sie im Zuge der wirtschaftlichen Krise und der eingeleiteten Reformen die Schwächen des Staates ausgleichen sollten, wurden sie wieder zu einem politischen Feld. Der Oktober 1988 gilt als Wendepunkt für die Bedeutung der Zivilgesellschaft im unabhängigen Algerien (Kapitel 3.3). Zwischen 1989 – dem Jahr der Verfassungsänderung – und 1992 – dem Jahr der Ausrufung des Ausnahmezustandes – erlebte Algerien eine Periode der zivilgesellschaftlichen Blüte (Kapitel 3.3). Am 4. Dezember 1990 wurde ein neues Vereinsgründungsgesetz verabschiedet, das die Vereinsgründung erleichtern und den Einf luss des Staates beschränken sollte (Derras 2007, 26). Dennoch lässt das Gesetz graue Bereiche zu, z.B. was das Genehmigungsverfahren sowie die Fördermittelverteilung betrifft. Einen Überblick über das Vereinswesen und die Vereinslandschaft in Algerien heute geben Derras (2007) und Liverani (2008). Vereine sind besonders in der urbanen, jungen Mittelschicht verbreitet, die über das Vereinswesen versucht, ihren Einf luss zu vergrößern, den sie in anderen Bereichen einbüßen musste (Liverani 2008, 167). Die von den Vereinen in Algerien am meisten berührten Sektoren sind Kultur, Soziales und Sport. Die Vereinslandschaft in Algerien spiegelt laut Derras (2007) und Liverani (2008) die Absicht des Staates wider, die Vereine als Abfederungsmechanismus für Sektoren zu nutzen, in denen die Präsenz oder Effektivität des Staates gering ist: Soziale Vereine machen 43 %, kulturelle Vereine 28 % und Sport- und Jugendvereine etwa 14 % der registrierten Vereine Algeriens aus (Derras 2007, 34).

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Vereine, die Protest äußern oder Rechte fordern, bilden eher die Ausnahme. Derras klassifiziert die Vereine Algeriens demnach in: • Protestvereine (Des associations de contestations): islamistische, feministische, menschenrechts-verteidigende und Berbervereine. • Sozial unterstützende Vereine (Associations assistées): soziokulturelle, Gesundheits-, Rentner-, Sport- und teilweise auch Nachbarschaftsvereine. • Regierungsnahe Vereine (Associations de collaboration d’allégeance au pouvoir): z.B. die Union de la Jeunesse Algérienne, die Vereine der Kinder der Märtyrer*innen, aber auch humanitäre und soziale Vereine, die vom Ministerium für Solidarität gefördert und von den städtischen Behörden verwaltet werden. Auch die Jugendvereine, die vom Ministerium für Jugend und Sport gefördert werden und die Vereine, die extra zur Verwaltung der staatlichen Jugendhäuser gegründet werden, zählt Derras (2007) hierzu. Als Gründe für die Schwächen des Vereinswesens nennt Darras (2007) das Vorherrschen von familiären Solidaritäten, das geringe Vertrauen in die Effektivität der Vereinsaktivität und in die Ehrlichkeit der Vereinsvorsteher*innen sowie die Kontrolle der Vereine durch den Staat. Vereine werden von großen Teilen der Bevölkerung, die von der Vorteilsgewährung ausgeschlossen werden, mit der offiziellen Politik gleichgesetzt. Derras setzt das Vereinsleben mit allgemeiner Politikverdrossenheit gleich (ebd., 130). Im Hinblick auf die Tätigkeiten ziviler Vereine und Organisationen im Bereich Gesundheit und Bildung kommt Andrea Liverani (2008) in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass das Vereinswesen in Algerien die Schwächen des Regimes ausgleicht und es dadurch stärkt und das System der Vorteilsgewährung weiterführen würde (Liverani 2008, 165): »Far from changing the institutional structure of the state, the associative sphere has erected an institutional scaffolding that helps maintain previous arrangements and adapt them to new conditions, but always in a precarious equilibrium.« (Ebd., 166) Die Jugendinstitutionen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, haben alle den Status von Vereinen und tragen demnach auch dazu bei, das Gleichgewicht zwischen Regierenden und Regierten herzustellen. Dennoch können sich in den Räumen der Institutionen, als halböffentliche Räume, auch Freiräume für die Jugendlichen oder Frauen entfalten. Die veränderten Beziehungen zwischen Freizeit, Bildung und Arbeit haben beispielsweise auch zu Veränderungen der geschlechtsspezifischen Raumaufteilung geführt und das Vordringen der Frauen in halböffentliche und öffentliche Räume gefördert (Musette 2004, 43). Der Besuch halböffentlicher Bildungsinstitutionen von jungen Frauen in der Freizeit führt

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nicht nur zur mixité (Geschlechtermischung) an den Orten selbst. Der Besuch der Orte ermöglicht Transgressionen, die in den öffentlichen oder privaten Räumen der quartiers populaires nicht möglich sind: gemeinschaftliche Aktivitäten von jungen Frauen und Männern, die Praxis von Jugend- und Subkulturen (Baamara 2013). In einer Stadt, deren öffentliche Räume sowohl vom Auge des Staates als auch vom Auge des Nachbarn oder großen Bruders kontrolliert werden, spielen gerade solche Räume für die Jugendlichen eine wichtige Rolle, um »statt sich zurückzuziehen, Beschränkungen zu umgehen und neue Freiräume zu entdecken, in denen sie wahrgenommen werden und sich bemerkbar machen können.« (Bayat 2012 b, 128) Da der öffentliche Raum in seiner politischen Dimension ein stark kontrollierter Raum ist, sind die geschützten öffentlichen Räume nicht nur im Zusammenhang mit Jugend, sondern allgemein für das Entstehen einer öffentlichen Sphäre wichtig. So sind z.B. auch Hotel-Lobbys und Taxis in Algier halböffentliche Räume, die zugleich Schutz und Intimität und trotzdem Begegnung und Austausch ermöglichen. Das alltägliche Nutzen und die Aneignungen der Räume in den Jugendeinrichtungen, durch die Jugendliche und besonders die Mädchen und jungen Frauen ihre Handlungsfähigkeit vergrößern, stehen in diesem Kapitel im Vordergrund.

6.2 Das Jugendhaus: Frei(zeit)-Räume Das Jugendhaus öffnete im Jahre 1993, als sich Vereinsgründungen im Zuge der 1989 eingeleiteten politischen Reformen bereits auf ihrem Höhepunkt (1989-1992) befunden hatten (Liverani 2008). Als staatliche Institution untersteht es dem Ministerium für Sport und Jugend, wird aber über einen Verein, der von den Angestellten des Jugendhauses gegründet wurde, verwaltet (Derras 2007, 36f.). Nach Derras’ Klassifizierung der Vereine in Algerien gehören die Jugendhäuser zu den regierungsnahen Vereinen (ebd., 36). In der Jugendpolitik werden die Jugendhäuser dem Bereich der kulturellen Freizeitgestaltung (Rarrbo 1995, 84) zugeordnet, jedoch werden sie in der Praxis aufgrund der hohen Nachfrage nach Bildungsangeboten zu alternativen Bildungseinrichtungen gezählt. In der Presse werden der Mangel an Jugendeinrichtungen und der schlechte Zustand der vorhandenen Jugendhäuser regelmäßig kritisiert (ebd., 84). Für viele Jugendliche marginalisierter Stadtteile sind solche öffentlichen Einrichtungen die einzige Alternative zur Straße und zu den zu teuren privaten Freizeitmöglichkeiten (ebd., 83f.).

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Abbildung 8: Kursangebote in einem Jugendhaus

Quelle: Britta Hecking

Jugendhäuser haben für viele Jugendliche dennoch eine große Bedeutung in Algier. Die Bedeutungen hängen davon ab, wer das Jugendhaus aus welchen Gründen besucht: Für Hamid, der auf dem Platz der Märtyrer verkauft (Kapitel 5), ist das Jugendhaus ein Ort der Erinnerung an seine Kindheit in der Kasbah, an das Theateratelier und seine damalige Rolle als Zauberer. Heute ist es für ihn ein Pausenraum während seiner Arbeit auf der Straße. Für Farah, die Tanzlehrerin, ist das Jugendhaus ein Ort der Arbeit und der Selbstverwirklichung; wenn sie den Tanzraum für sich alleine hat, probt und von einer Zukunft als Choreografin träumt. Für Nadia, die die Schule abgebrochen hat und auf der Suche nach einer Arbeit ist, ist das Jugendhaus die einzige Anlaufstelle neben ihrem Zuhause, ein Ort des Zeitvertreibs, an dem sie Kurse besucht oder einfach nur Freunde trifft. Für Sami und Zafir, die beide in Climat de France leben, ist das Jugendhaus ein Refugium, weil sie die Straßen ihrer Nachbarschaft lieber meiden und weil es dort keine Jugendeinrichtungen gebe. Das Jugendhaus in der Kasbah versteht sich als Anlaufstelle für die Jugendlichen aus dem Viertel, in dem Geld- und Platzmangel für viele Familien ein Thema ist. Neben der Schüler*innenhilfe (Nachhilfekurse für Grund- und Mittelstufe) bietet das Jugendhaus ein Kursprogramm, das Bildungs- und Freizeitangebote einschließt. Die meistbesuchten Kurse sind Alphabetisierungs-, Fremdsprachen-

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und Informatikkurse. Der Anteil der Frauen ist insgesamt höher und überwiegt besonders in den Alphabetisierungskursen. Das Alter der Teilnehmer*innen ist nach oben hin offen, und viele der Kursbesucher*innen im Jugendhaus haben das Alter der Jugend selbst nach der Definition der Arabischen Liga (18 bis 35 Jahre) längst überschritten. Abgesehen von den Schüler*innen gehören viele der Besucher*innen zu der Jugend in ›waithood‹ (Honwana 2012), die auf der Suche nach Arbeit sind. Das Kursangebot verteilt sich über die ganze Woche, die jeweiligen Ateliers finden vormittags, nachmittags oder am frühen Abend sowie am Wochenende statt. Neben den ganzjährigen Kursen gibt es auch punktuelle Ferienund Freizeitangebote: Exkursionen an den Strand oder zu Wettbewerben, Veranstaltungen und Festen. Neben den Atelierräumen gibt es eine Bibliothek, ein Arbeitszimmer mit Tischen und Stühlen, das die Jugendlichen auch außerhalb der Kurszeiten benutzen können. Um das Jugendhaus zu besuchen, müssen die Jugendlichen gegen eine Jahresgebühr von 100 Dinar (etwa 80 Cent) Mitglied werden. Für die jeweiligen Kurse müssen sie sich gegen eine Kursgebühr (zwischen 300 und 600 Dinar für einen dreimonatigen Kurs) anmelden, die im Vergleich zu privaten Bildungs- und Freizeitangeboten sehr niedrig ist. Der Zutritt wird nicht nur durch den Mitgliedsausweis, sondern auch durch das Sicherheitspersonal im Eingangsbereich und die Frauen am Empfang kontrolliert.

Perspektiven des Personals »Vor drei Jahren, als ich hier angefangen habe, war das Jugendhaus in einem miserablen Zustand. Jetzt läuft es, ich habe meine Leute mitgebracht«, erzählt die Direktorin des Jugendzentrums (Fayrouz, Interview, 22.10.2009). Sie lässt gerade die Wände bunt streichen und hängt ein paar ihrer eigenen Fotografien auf. Neben den Kindern aus armen Familien sind es vor allem auch Frauen, die sie mit ihren Angeboten erreichen möchte: »Manche der Frauen, die unsere Kurse besuchen, werden wie kleine Kinder von ihren Männern gebracht und wieder abgeholt. Wenn wir keine Frauenkurse wie ›Orientalisches Backen‹ und ›Blumendekoration‹ anbieten würden, könnten sie gar nicht kommen. Was sollen wir machen? So kommen sie wenigstens ab und zu aus ihrem Haus.« (Fayrouz, Interview, 22.10.2009) Fayrouz hat nach ihrem Kunststudium eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert und im Jahr 2008 die Direktion des Jugendhauses übernommen. Sie ist engagiert, das Jugendzentrum attraktiv zu gestalten. Neben den Schüler*innen- und Frauenkursen bietet das Jugendhaus Fotografie-, Tanz-, Theater- und Musikkurse an. Im Jahr 2010 wurde zudem ein Internetcafé im Jugendzentrum eröffnet, das vor allem ein Anziehungspunkt für Jugendliche aus der Nachbarschaft sein sollte. Die

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Internetnutzung im Jugendhaus ist etwa um die Hälfte billiger als in den privaten Internetcafés des Viertels. Die Anordnung der Computer in dem kleinen Raum lässt hingegen keine Privatsphäre bei der Nutzung zu, die viele der Jugendlichen im Internet suchen. Einige der Kursleiterinnen sind selbst noch Jugendliche in der Warteschleife – im Sinne von nicht verheiratet und bei den Eltern lebend. Khadidja (33 Jahre alt, Bab el-Oued), die einen Informatikkurs leitet, betont, dass sie als Informatikerin eigentlich eine andere Arbeit gesucht hätte. Aber als Frau, die ein Kopftuch trägt, sei das sehr schwierig in der Arbeitswelt: »Die Leute haben Vorurteile gegenüber Frauen mit Kopftuch. Dabei ist es doch nur ein Kleidungsstück.« (Interview, 18.10.2009) Die Kursleiterinnen betonen, dass das Jugendhaus vor allem auch ein Ort der Geselligkeit sei. Die Jugendlichen kämen, um bestimmte Fähigkeiten und Zusatzkenntnisse für die Arbeitssuche zu erwerben, aber vor allem auch, um ihre freie Zeit hier zu verbringen. »Wir erzählen uns alles hier. Nicht wie in den Familien. Die Jugendlichen bekommen Ratschläge von uns, z.B. in Bezug auf Beziehungen.« (Rachida, 51 Jahre alt, Arabischlehrerin, 12.10.2009) Laut Aussage der Direktorin und der Atelierleiter*innen ist es ein wichtiges Ziel des Jugendhauses, den jungen Leuten, Arbeitslosen und Frauen ›Raum zu bieten‹, um ihre Handlungsfähigkeiten zu vergrößern. Jedoch ist der Freiraum, den sie bieten können, begrenzt: »Wir haben jetzt auch eine Musikgruppe, ein paar Jugendliche, die Raï machen, aber sie können hier nur mit den Instrumenten proben, ohne Verstärker. Die laute Musik könnte uns Ärger bringen, noch dazu Raï-Musik, die einen schlechten Ruf hat. Hier im Viertel gibt es einige Leute, die etwas gegen solche Aktivitäten haben.« (Farouz, Interview, 6.2.2011) Im Jugendhaus sind die Jugendlichen zwar der Kontrolle des Personals ausgesetzt, jedoch ist es gerade der halböffentliche Charakter des Jugendhauses, der den Jugendlichen auch Freiräume bietet, z.B. bezüglich der Aktivitäten in geschlechtergemischten Gruppen. Hier entziehen sie sich dem ›Auge der Straße‹ – sowohl der staatlichen Kontrolle durch Polizeipräsenz und Videoüberwachung des öffentlichen Raums als auch der sozialen Kontrolle der Familie und Nachbar*innen. »Eigentlich sind die Jugendhäuser dafür gedacht, die Freizeit dort zu verbringen. Aber das scheint nicht mehr so zu sein, oder alle Jugendlichen sind arbeitslos. […] Die Aktivitäten werden alle schon vor 17 Uhr angeboten. Das heißt, Freizeit findet jetzt den ganzen Tag statt.« (Faycal, Interview, 11.11.2009) Faycal sieht dies als Zeichen für die hohe Arbeitslosigkeit im Umfeld des Jugendhauses. Er hat Arbeitslosigkeit selbst erfahren:

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»Ich war ein Arbeitsloser de luxe. Weil ich, bevor ich arbeitslos wurde, Geld angespart hatte, konnte ich es mir damals leisten, meine freie Zeit in Cafés zu verbringen, Kaffee zu trinken, Zeitung zu lesen, die Cafés zu wechseln und mir so die Zeit zu vertreiben. Aber nicht alle haben diese Möglichkeit. Darum ist es wichtig, dass wir den Jugendlichen Beschäftigung bieten.« (Faycal, Interview, 11.11.2009) Faycal, der als Erzieher und Informatiklehrer am Jugendhaus in ständigem Kontakt mit den Jugendlichen ist, betrachtet das Jugendhaus als ein Refugium und Auffangort für marginalisierte Jugendliche: »Viele der Jugendlichen, die die Jugendhäuser besuchen, sind Jugendliche, die sich nicht finden. Hier finden sie sich. […] Manche der Jugendlichen sind ständig hier. Sie kommen aus schlechten Vierteln und wissen nicht wohin. Sie kommen hierher, um ihre Zeit zu verbringen. Aber sie spüren, dass sie nicht willkommen sind. Die Frauen an der Rezeption sind sehr misstrauisch. Sie wollen nicht alle Kategorien von Jugendlichen hier haben. Dabei sind es genau die Jugendlichen von der Straße, die das Jugendhaus brauchen.« (Faycal, Interview, 13.1.2011) Die staatlich anerkannten Kursteilnahmebescheinigungen haben nicht den Wert von Diplomen, die z.B. in den staatlichen Ausbildungszentren erworben werden, da sich das Jugendhaus als Freizeiteinrichtung versteht und die Bildungsangebote aus der Nachfrage heraus in das Programm aufgenommen wurden. Die Jugendlichen nehmen an den Kursen teil, um Diplome (Teilnahmebescheinigungen) zu bekommen, von denen sie sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhoffen. »Manche finden vielleicht eine Arbeit mit den Diplomen, aber eigentlich rate ich ihnen, den Schulabschluss nachzuholen.« (Faycal, Interview, 11.11.2009) Unter den Besucher*innen seien viele, die bezüglich ihres Schulabschlusses ›Abschlussklasse‹ angeben, weil sie sich schämen würden, das Abitur nicht bestanden zu haben, erzählt Faycal. Die Zahl der Schüler*innen, die die Abiturprüfung nicht bestehen, war bzw. ist in Algerien sehr hoch. Laut einer Studie der UNESCO (2000) verlassen 50 % der algerischen Schüler*innen die Schule ohne Abschluss, nur 27 von 100 Schüler*innen schaffen es bis zum Abitur (Belhandouz 2008, 138). Mit der Schulreform von 2008 und dem wachsenden Bewusstsein, dass Bildung eine Voraussetzung ist, um auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein, hat sich die Rate der erfolgreichen Schulabgänger*innen in den letzten Jahren jedoch erhöht. In den Gesprächen mit den Teilnehmer*innen der Ateliers, in denen sich die Schüler*innen beruf liche Qualifikationen erwerben wollen, wurde deutlich, dass sie Eigeninitiative und Eigenverantwortung als selbstverständlich betrachten in ihren Bemühungen, eine Arbeit zu finden.

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Das Jugendhaus öffnet sich durch seine unterschiedlichen Angebote auch für Jugendliche, die aus dem offiziellen Bildungsweg ausgeschieden sind und nach Alternativen zum Erwerb von Qualifikationen für den Arbeitsmarkt suchen.

Perspektiven der Besucher*innen Die Fremdsprachen- und Informatikkurse werden besonders von jungen Leuten besucht, die auf Arbeitssuche sind und die Kursteilnahmebescheinigungen für ihre Bewerbungsunterlagen brauchen: »Ich komme hierher, um noch ein Diplom zu erwerben, um meinen Lebenslauf zu füllen und eine Arbeit zu finden. Momentan belege ich den Internetkurs. Das Internet ist heute ein Muss. Durch das Internet kann man sich bilden, es ermöglicht eine andere Sicht auf die Welt. Ich möchte lernen, es zu benutzen, um Informationen zu finden. So kann man dann die Informationen weitergeben an die, die kein Internet zu Hause haben. Mit der Schule habe ich im Jahre 2004 aufgehört. Seitdem belege ich verschiedene Kurse. Ich habe auch ein Diplom in Informatik nach einer sechsmonatigen staatlichen Ausbildung erworben. Ich möchte im Bereich der Informatik arbeiten, aber wenn ich nichts finde, muss ich etwas anderes machen. Ich komme hierher, weil das Jugendhaus nicht weit von mir ist und der Preis ist symbolisch, 500 Dinar [circa 4 Euro] im Monat. Und die Kurszeiten ermöglichen es mir, tagsüber zu arbeiten und abends den Kurs zu belegen. Ich habe jetzt als Schneiderin in einem Konfektionsatelier angefangen.« (Sarah, 24 Jahre alt, Kasbah, 6.4.2011) Nadia ist 20 Jahre alt. Sie kommt fast täglich ins Jugendhaus. Im Herbst 2009 besuchte sie die Tanzgruppe von Fayza (Kapitel 7.4). Zuvor hatte sie einen Kamerakurs und Infografie belegt. Auch an einem Englischkurs hat sie schon teilgenommen. Sie möchte im Bereich Fotografie oder Grafik arbeiten und sucht eine Arbeit. Die Schule hatte sie 2008 abgebrochen. Nadia lebt mit ihren zwei Brüdern, ihrer jüngeren Schwester und ihren Eltern in einer Einzimmerwohnung in der oberen Kasbah. Seit sie mit der Schule aufgehört hat, hat sie neben den Hausarbeiten keine Beschäftigung oder Verpf lichtungen. Das Jugendhaus ist ihre einzige Anlaufstelle. Dort hat sie auch ihren Freud Lamine kennengelernt. Lamine, 23 Jahre alt, ist selber auf der Suche nach einer Arbeit, auch er kommt ins Jugendzentrum, um seine freie Zeit dort zu verbringen. Manchmal treffen sie sich im Jugendhaus, um von dort aus zusammen etwas zu unternehmen. Für viele Mädchen sind Bildungsinstitutionen wie das Jugendhaus die einzigen Orte, die sie neben dem Zuhause, der Schule oder der Arbeit besuchen dürfen. Das Jugendhaus wird auch von Jugendlichen besucht, die keine bestimmten Ateliers belegen, sondern einfach ihre freie Zeit dort verbringen wollen. Dazu

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zählen besonders die arbeitslosen Jugendlichen aus den so genannten quartiers sensibles (Kapitel 4.2). Gelegentlich versucht der Erzieher Faycal, die arbeitslosen Jugendlichen in die Organisation der Freizeitaktivitäten des Jugendhauses einzubeziehen. Aziz, 25 Jahre alt, wohnhaft in Climat de France, kommt fast täglich in das Jugendhaus der Kasbah und würde gerne selbst als Animateur oder Touristenführer in der Kasbah arbeiten »Ich komme hierher, um den Problemen in meinem Viertel auszuweichen. Hier am Märtyrer-Platz fühle ich mich wohl.« (Aziz, Interview, 19.1.2011) Geld verdient er sich gelegentlich durch den Verkauf von Autoersatzteilen, aber in Zukunft möchte er mit Kindern arbeiten. »Ich habe keinen Schulabschluss, um eine Ausbildung als Erzieher oder Animateur zu machen, aber manchmal nimmt mich Faycal als Betreuer mit auf die Ausf lüge.« (Aziz, 19.1.2011) Auf diese Weise sammelt er im Jugendhaus Arbeitserfahrungen. Wenn er nicht im Jugendhaus ist, verbringt er seine Zeit mit seinem Freund und Nachbarn Sami, 21 Jahre alt, wohnhaft in Climat de France, im Café Tontonville, dem Treffpunkt der Künstlerszene in Algier, neben dem algerischen Nationaltheater (TNA). Durch Sami ist er zum Theaterspielen gekommen und versucht wie dieser, sich aus seiner Leidenschaft für Kultur etwas aufzubauen. Für Sami bedeutet das Theater alles, er habe schon als Kind bei den muslimischen Pfadfindern damit begonnen und dann am Konservatorium für Musik und Kunst studiert. Die meiste Zeit verbringt er im Jugendhaus. Auf die Frage, was er in Zukunft machen möchte, antwortet Sami: »Theater bis zum Tod. Theater und die Kunst des Clowns. Ich bin ein alter Clown und arbeite auf Veranstaltungen. Manchmal ehrenamtlich für die Veranstaltungen von sozialen Vereinen und manchmal bezahlt für Betriebsfeiern oder Geburtstage. Die Kontakte bekomme ich über das Jugendhaus und andere Kulturzentren.« (Interview, 9.3.2011) Zusammen mit Zafir, 22 Jahre alt, wohnhaft in Bab Azzouar, hat er aus eigener Initiative die Leitung und das Management der Theatergruppe des Jugendhauses übernommen, da diese seit dem Jahr 2010 keinen Lehrer mehr hat. Die Jugendlichen, die wie Aziz, Sami oder Zafir viel Zeit im Jugendhaus verbringen, eignen sich diesen Raum nicht nur an, um die ›leere Zeit‹ zu füllen, sondern sie nutzen ihre freie Zeit dort, um sich Fähigkeiten anzueignen, mit denen sie sich neue beruf liche Wege erschließen wollen.

Konflikte Montag, 7. Dezember 2009. Die Jugendlichen des Theaterateliers beginnen zu proben, ihr Lehrer ist noch nicht erschienen. Die Szene stellt eine Alltagssituation dar: Ein junger Mann kommt nach Hause und wird gefragt, ob er Arbeit gefunden

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habe: walou (nichts), antwortet er. Die Szene wird abgebrochen, weil anstelle des Leiters der Theatergruppe ein paar ältere Männer mit Musikinstrumenten den Raum betreten; es ist die Cha’abi-Gruppe des Jugendhauses. Die Jugendlichen stehen noch ein wenig zusammen und unterhalten sich. »Voilà«, sagt einer der Theaterteilnehmer in ironischem Ton, »das ist ein Jugendhaus«. Er spielt auf das Alter der Musiker an, von denen höchstens zwei noch unter 30 Jahre alt sind. Die Gruppe löst sich auf. Die Szene über die erfolgslose Arbeitssuche spiegelt die Situation der Theaterschüler*innen wider. Hamza, 19 Jahre alt, wohnhaft in der Kasbah, hat einen mittleren Schulabschluss und ist derzeit arbeitslos. Er besucht das Theateratelier und träumt davon, Schauspieler zu werden (Interview, 14.12.2009). Der Theaterkurs am Jugendhaus hat jedoch Schwierigkeiten, Mitglieder zu finden: »Hier im Jugendhaus mangelt es an Interesse an kulturellen Aktivitäten. Die Mehrheit nimmt an den Bildungsateliers teil, Sprachen, Informatik. Es kommt selten vor, dass sich Jugendliche aus dem Viertel für die kulturellen Ateliers einschreiben. Das Theater ermöglicht den Jugendlichen, sich auszudrücken. Aber leider ist das nicht immer möglich. Einmal habe ich in Kooperation mit einer Schule ein Theateratelier zum Thema Aids geleitet. Die Schüler waren sehr interessiert und offen, gemeinsam hatten wir uns ein Thema ausgedacht. Ich wollte Theater machen, dass dem Ausdruck Freiheit gewährt. Aber dann hatte es Probleme mit der Direktorin gegeben, sie wollte unser Stück an den Ministerbesuch anpassen und wir haben schließlich ein Stück aus einem Buch über Aids übernommen und die Schüler haben die Texte nur auswendig lernen müssen.« (Nassir, Interview, 14. 12.2009) Ein Jahr später, im Dezember 2010, war Nassir nicht mehr als Leiter der Theatergruppe am Jugendzentrum tätig. Die Theatergruppe von damals hatte sich aufgelöst. Sami und Zafir versuchen seitdem, aus eigener Initiative eine Theatergruppe zu bilden, aber im Jugendhaus selbst hatte es nicht genug Interessenten gegeben. Die Jugendlichen der Theatergruppe sind mit den Bedingungen im Jugendhaus nicht zufrieden. Sara, Studentin der Politikwissenschaften, empört sich: »Zafir und Sami, die die Organisation und Leitung der Gruppe übernommen haben, werden für ihr Engagement nicht bezahlt! Der Proberaum ist seit über einer Stunde frei, aber wir dürfen ihn nicht benutzen. Die Frauen an der Rezeption sagen, sie müssen sich an die Regeln halten, dabei profitieren sie vom großen Flachbildfernseher, der sich im Proberaum befindet. Wir bekommen den Raum nur abends, und für uns Mädchen ist es schwierig, so spät nach Hause zu kommen.« (Sara, 21 Jahre, Skala, 1.3.2011)

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Sara ist empört über die Behandlung der Jugendlichen im Jugendhaus. Sie und zwei andere Jungs aus der Gruppe gehören zu den Schüler*innen des Konservatoriums für Musik und Theater. Die anderen sind Laien. Das Theater bedeutet für alle, einen Raum zu haben, sich auszudrücken, über Probleme zu sprechen und ihre Freizeit sinnvoll zu verbringen: »Ich persönlich unternehme nicht viel in meiner Freizeit. Ich habe viel freie Zeit, aber es gibt keine Orte, um sich zu amüsieren. Keine Diskos, nirgends wo wir hingehen können. Wir fühlen uns eingesperrt, denn um etwas zu unternehmen, brauchen wir Geld. Also was machen wir? Am Wochenende spielen wir Domino, und die Mannschaft, die gewinnt, bekommt eine Flasche Gazuz (Limonade). [Er lacht] Nein, nein, ich mache Spaß, wir spielen in unserer Freizeit Theater, um eine Perspektive in unserem Leben zu haben. Ich habe zwei Diplome, als Elektrotechniker und als Koch. Momentan suche ich eine Arbeit. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich gerne professionell Theater spielen, aber da das Theater hier nicht sehr gefördert wird und keine sichere Zukunft bietet, werde ich, wenn ich eine Arbeit finde, so traurig es ist, damit aufhören.« (Hamza, 20 Jahre alt, Bab el-Oued, 1.3.2011) Sara glaubt, dass das Theater aus politischen Gründen so wenig gefördert werde: »Theater wird in Algerien vernachlässigt. Die Regierung unterstützt Fußball und Tanzen. Das ist eine Politik, um das Volk zum Schweigen zu bringen und es weiter zu beklauen. Jedes Mal, wenn das Volk in Aufruhr ist, organisieren sie ein Fußballspiel, dann gehen alle ins Stadion und beruhigen sich. Oder sie holen einen libanesischen Sänger, dem sie Gott weiß wie viel Geld für seinen Auftritt bezahlen, während wir nicht mal das Nötigste haben. Aber mit dem Theater kann man über die Situation eines Volkes sprechen und das ist gefährlich für die Politiker. Das Theater stört die Regierung.« (Sara, 1.3.2011) Obwohl das Jugendhaus ein staatlich kontrollierter und regulierter Raum ist, wird es von vielen der Jugendlichen als Freiraum wahrgenommen, der es ihnen ermöglicht zu ›atmen‹, Spaß zu haben, ›Dampf ablassen‹ usw. Dennoch treten auch Konf likte zwischen Personal und Jugendlichen auf. Die Austragung der Konf likte mit dem Personal stärkt das Generationsbewusstsein der Jugendlichen, die sich trotz der Unterschiede als eine Gruppe mit gemeinsamen Problemen und Anliegen erkennen. In der Theatergruppe z.B. kommen Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlicher Bildung zusammen und Sara, die Politikwissenschaften studiert, ist beispielsweise das Sprachrohr der Gruppe geworden. Der schlechte Ruf staatlicher Jugendeinrichtungen schreckt viele Jugendliche davon ab, Kurse an Jugendhäusern zu belegen. Eine Alternative zu den staatlichen

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und zu teuren privaten Einrichtungen bieten z.B. religiöse Vereine und Organisationen. Die Tätigkeiten islamischer Wohlfahrtsorganisationen nehmen eine wichtige Abfederungsrolle in den von Armut gekennzeichneten Stadtvierteln ein. Auch christliche Organisationen sind in Algier in diesen Bereichen aktiv. So wird beispielsweise die Bibliothek in der Casbah, die für viele Schüler*innen im Stadtteil ein wichtiger Lernort ist, von einer christlichen Organisation verwaltet. Noch stärker als das staatliche Jugendhaus oder die zunehmend überwachte Straße, bietet die Bibliothek den Jugendlichen auch Freiräume.

6.3 Die Bibliothek: Stille Verbindungen Die Bibliothek befindet sich in der oberen Kasbah. Das Gebäude muss seiner Aufzeichnung in Stadtkarten zufolge zwischen 1857 und 1864 gebaut worden sein, etwa dreißig Jahre nach dem Beginn der französischen Kolonisation. Der Palast wurde damals von einer jüdischen Familie im neomauresken Stil errichtet und, abgesehen von einigen Besonderheiten, ähnelt er den osmanischen Palästen. Im orientalischen Palast wurden damals ›orientalische Produkte‹ z.B. an britische Händler verkauft. Bevor er 1923 in den Besitz der ›Weißen Schwestern‹, einem christlichen Orden, ging, hatte eine französische Familie dort eine ›Stickerei‹-Schule für die einheimischen Mädchen aus dem Viertel eingerichtet. Unter den ›Weißen Schwestern‹ wurde das Gebäude für soziale Dienste genutzt, besonders im Bereich Gesundheit für Kinder. Später wurde dort von den ›Weißen Vätern‹ eine Bibliothek eingerichtet (1943). Nach der Unabhängigkeit blieb das Gebäude im Besitz der Kirche. 1994 wurden zwei Ordensmitglieder in den Räumen der Bibliothek während der Öffnungszeit erschossen. Die Bibliothek wurde darauf hin geschlossen. Der Mord ereignete sich zu Beginn des Schwarzen Jahrzehnts (Kapitel 3.4). Im Jahre 1997 wurde die Bibliothek wiedereröffnet, allerdings vorerst nur für Mädchen. Die Bibliothek steht Gymnasiast*innen und Student*innen offen. »Unser Ziel ist es, durch unsere Arbeit eine Plattform des Dialogs zu schaffen, wir suchen den Dialog mit der Bevölkerung. Algerien ist ein wunderbares Land. Aber das Problem ist, dass viele Sektoren der Gesellschaft vernachlässigt werden, z.B. Kinder, Frauen und Jugendliche.« (Viola, Interview, 9.4.2011) Die Bibliothek besteht aus einem Büro, einem Zimmer mit dem Bücherstand und mehreren Arbeitszimmern. Außerdem wurde 2012 ein Computerraum mit Internetanschluss eingerichtet. Die Schüler*innen schreiben sich gegen eine Jahresgebühr von 1000 Dinar [etwa 8 Euro] ein und haben das Recht, die Arbeitsräume während der Öffnungszeiten zu nutzen, Bücher auszuleihen oder an den ange-

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botenen Kursen (Französisch, Spanisch, Mathematik) teilzunehmen. Der Buchbestand umfasst Schul- und Sprachlehrbücher, arabophone und frankofone Literatur sowie Bücher zur Geschichte und Kultur Algeriens. »Die Jugendlichen haben aus diesem Ort selbst einen Begegnungsort gemacht. Ich würde ihnen gerne etwas zum Lernen anbieten. Etwas, dass sie gerne machen. Mit einem Jugendverein bieten wir jetzt einen Workshop zu Konfliktmanagement an, ich bin gespannt, ob das ankommen wird. Die Jugendlichen lieben Musik. Ich würde ihnen gerne so etwas bieten, Musik, Theater. Etwas, um ihr Bewusstsein zu wecken, kritisch zu sein mit ihrer Realität. Darum bieten wir ihnen diesen Freiraum. Ich versuche, so wenig wie möglich einzugreifen. Und das funktioniert. Sie nehmen sich die Freiheiten, arbeiten, Jungen und Mädchen zusammen, und die Anwesenheit von uns Erwachsenen sorgt für den nötigen Respekt, so dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden.« (Viola, Algier, 9.4.2011) Seit September 2012 ist die Bibliothek auch als Gruppe auf Facebook präsent. Die meisten der Bibliotheksmitglieder sind Gymnasiasten der Oberstufe. Daneben gibt es einige Student*innen verschiedener Fachrichtungen und Sprachschüler*innen unterschiedlichen Alters.

Perspektiven der Schüler und Schülerinnen Wissam ist 17 Jahre alt. Sie wohnt mit ihrer Familie in der Kasbah. Wissam besucht die Oberstufe des Gymnasiums Emir Abdelkader in der oberen Kasbah: »Die meiste Zeit verbringe ich zu Hause, im Gymnasium und in der Bibliothek, wo ich meine Freunde treffe und wo ich mich auf das Abitur vorbereite. Inshallah (so Gott will), werde ich das Abitur schaffen.« (Interview, 12.12.2009) Die meisten Schüler*innen der Bibliothek wohnen wie Wissam in der Kasbah oder in den angrenzenden Stadtvierteln. Die Bibliothek bietet den Schüler*innen vor allem einen Raum, der für das Lernen geeignet ist: Ruhe und ein angenehmes Ambiente, das notwendige Material, Bücher und Papier, Kopiermöglichkeiten sowie Nachhilfeunterricht in einigen Fächern. Die Schüler*innen unterstützen sich aber auch gegenseitig, sitzen zu zweit oder in kleinen Gruppen an den Tischen, erledigen ihre Hausaufgaben und bereiten sich für Tests und Prüfungen, vor allem auf das Abitur, vor. Nach dem Abitur wollen sie studieren: Wirtschaft und Finanzwesen, Informatik, Sprachen, Kommunikation oder Rechtswissenschaft. Einige würden gerne im Ausland studieren, um später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Linda und ihre Freundin Mouna, beide 16 Jahre alt, wohnen in Bab el-Oued und kommen seit einem Monat in die Bibliothek:

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»Es hat sich in der Schule herumgesprochen, dass die Bibliothek ein guter Ort zum Lernen ist. Wir fühlen uns wohl hier. Es ist besser, als nur zu Hause zu sein. Es ist ein ruhiger und schöner Ort. Nächstes Jahr werden wir uns hier aufs Abitur vorbereiten.« (Linda, 19.2.2011) Neben den Vorbereitungen auf das Abitur bleibt ihnen nur wenig Zeit für andere Beschäftigungen (Interviews mit Linda und Mouna, 19.2.2011). Die meisten der Mädchen betonen, dass die Bibliothek der einzige öffentliche Ort in der Nachbarschaft ist, den sie besuchen: »Ich komme hierher, um zu lernen, aber auch, um Freund*innen zu treffen. Sonst treffe ich keine Leute in meinem Viertel. Ich bin verlobt, wenn ich Zeit habe, gehe ich mit meinem Verlobten aus.« (Anisa, fast 18 Jahre alt, wohnhaft in der Kasbah, 5.2.2011) Der offizielle Lehrplan verursache Stress und macht Nachhilfeunterricht zu einem Muss, erzählen die Schüler*innen. Weil den Schüler*innen neben dem Unterricht und Lernen keine oder nur wenig Freizeit bleibt, bekommen Orte wie die Bibliothek eine zentrale Bedeutung in ihrem Alltag. »Das Programm ist zu voll. Früher habe ich noch Musik gemacht, das ist jetzt unmöglich. Wir kommen um 17 Uhr aus der Schule, haben Hausaufgaben zu machen. Es bleibt keine Zeit für andere Aktivitäten […]. Wir mögen unser Schulsystem nicht, von 8 bis 17 Uhr!« (Yousra, 17, Bab el-Oued, 5.2.2011) Es hatte sich schnell in den Schulen herumgesprochen, dass die Bibliothek nicht nur ein Ort war, um in Ruhe lernen zu können, sondern auch ein Ort, um andere Jugendliche zu treffen. Die Bibliothek ist so zu einem Treffpunkt für die Jungen und Mädchen geworden. Manche von ihnen, die aus der Kasbah weggezogen sind, nutzen die Bibliothek auch, um die alten Freunde aus der Nachbarschaft zu treffen: »Ich komme hierher, um zu lernen, um mich aufs Abitur vorzubereiten und um Freunde zu treffen. Für mich ist die Bibliothek vor allem ein Freizeitort. Ansonsten besuche ich neben meinem Zuhause keine anderen Orte. Ich hinterlasse draußen keine Spuren […]. Ich bin in der Kasbah aufgewachsen, im Haus meiner Großeltern […]. Ich habe Nachbarn, Freunde hier. Seit fünf Jahren lebe ich nicht mehr hier, aber ich fühle mich mit der Kasbah verbunden.« (Karim, 18, Bab el-Oued, Interview 19.2.2011)

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Seit es sich im Viertel herumgesprochen hat und immer mehr Jungen die Bibliothek besuchen, sieht sich das Bibliothekspersonal jedoch zunehmend auch mit Problemen konfrontiert; es käme zu ›Überschreitungen‹. Die Sekretärin beobachtete kritisch, dass sich immer mehr Pärchen bilden. Die Jugendlichen würden von den Freiräumen profitieren, die ihnen die Bibliothek als Bildungs- und Begegnungsraum bot. Die Besucher*innen der Bibliothek, die aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen, bilden eine Gruppe, die sich vor allem durch ihr gemeinsames Ziel, das Abitur und ein anschließendes Studium, auszeichnet. Sie distanzieren sich bewusst von den Jugendlichen der Straße. Die Straße bringen sie mit Rückständigkeit, Unterentwicklung und unzivilisiertem Benehmen in Verbindung. Einige jedoch sind zur Existenzsicherung auch auf den Straßenverkauf angewiesen. Safir, 18 Jahre alt, wohnt in der cité Carrière. Er möchte das Abitur machen. Nebenbei handelt er mit Goldschmuck, den er zwischen seinem Viertel und dem Straßenmarkt für Gold in der Kasbah kauft und verkauft. »Wenn jemand aus meiner Nachbarschaft einen Ring für seine Hochzeit kauft, besorge ich ihn. Wenn jemand Geld braucht, verkaufe ich seinen Schmuck für ihn.« (Safir, Interview, 12.2.2011) Rayan, 19 Jahre alt, wohnt in Bab el-Djadid in der oberen Kasbah. Auch er bereitet sich auf das Abitur vor. Neben der Schule trainiert er Kickboxing. Er hat schon mehrere Meisterschaften gewonnen, verdient mit dem Sport jedoch kein Geld. Rayan möchte nach dem Abitur Jura studieren, aber eigentlich möchte er auswandern. Nach England oder nach Los Angeles. Er möchte das Interview auf Englisch führen. Er glaubt, dass er es im Ausland ›schaffen‹ würde: »Ich bin jemand, der gerne arbeitet. Aber hier in Algerien ist es schwierig. Ohne maarifa [Beziehungen] ist es unmöglich, eine gute Arbeit zu finden. Und es gibt viele bürokratische Hindernisse. Darum möchte ich weg, nach England oder nach Los Angeles. Der Lifestyle dort gefällt mir und ich mag die englische Sprache. Im Unterricht muss meine Lehrerin mich oft aus den Träumen reißen. Ich arbeite schon jetzt neben der Schule, verkaufe Essen vor den Fußballstadien und arbeite als Parkwächter in Bab el-Djadid. Ich brauche das Geld, um mir Kleidung zu kaufen und um für England zu sparen. Aber ich muss sehr vorsichtig sein, wenn die Polizei kommt, renne ich schnell weg. Bis jetzt haben sie mich noch nie erwischt.« (Rayan, 26.2.2011) Rayan hat das Abitur 2011 bestanden und sich für ein Jurastudium eingeschrieben, nebenher arbeitet er weiter auf der Straße. Einige der ehemaligen Schüler*innen der Bibliothek arbeiten neben oder nach ihrem Studium dort als Nachhilfelehrer*innen. Angesichts der Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden, bietet die Beschäftigung in der Bibliothek den diplomierten Hochschulabsolventen eine Tätigkeit, mit der sie ihren Lebenslauf aufwerten können.

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»Ich bezahle ihnen fast nichts. 2.000 Dinar [circa 15 Euro] im Monat. Dafür überlasse ich ihnen auch selber, wie oft sie kommen. Sie sollen sich untereinander absprechen. Mindestens einen Nachmittag in der Woche erwarte ich, dass sie präsent sind. Munieb z.B. unterrichtet Mathematik. Das ist neben den Sprachen sehr gefragt bei den Schülern.« (Direktorin, Interview, 9.4.2011) Zu den Nachhilfelehrern gehören Mohamed, 21 Jahre alt, Student der Verwaltungswissenschaften, Ilham, 20, Abiturientin, die später Journalismus studieren möchte und Munieb, 23 Jahre alt, der Finanzwesen studiert. Munieb und Mohamed arbeiten zusätzlich auf der Straße, um sich das Studium finanzieren zu können. Auf die Frage, was er in seiner Freizeit gerne unternimmt, antwortet Munieb: »Freizeit? Ich habe schon Schlafmangel weil ich so viel arbeite. Neben meinem Studium arbeite ich hier und in einer Moschee in Bab el-Oued als Nachhilfelehrer und gelegentlich auf der Straße.« (Munieb, 23 Jahre alt, Kasbah, 5.2.2011) Munieb denkt an seine Zukunft, er möchte Steuerbeamter werden. Er distanziert sich von den Jugendlichen aus seinem Viertel, die glauben, auf der Straße schnelles Geld zu verdienen: »Die meisten Jugendlichen aus meinem Viertel wollen nicht studieren, sie wollen Kommerz betreiben. Das ist das Laster des Geldes. Sie lieben Geld, selbst wenn sie kein Geld brauchen, werden sie dasselbe machen wie ihre Freunde, die im Studium nicht weit gekommen sind.« (Munieb, 5.2.2011)

Partizipation Anfang des Jahres 2011, nach dem Ausbruch der Januarunruhen, wurde die Bibliothek weniger als sonst besucht. Die Menschen hatten Angst, bei erneutem Ausbruch der Unruhen nicht sicher nach Hause zu kommen. Die wenigen Schüler*innen, die kamen, machten sich früher als sonst auf den Heimweg. In den zwischen Januar und April 2011 geführten Interviews waren die politischen Ereignisse zwar Gesprächsthema, die wenigsten zeigten Interesse für die politischen Ereignisse, die meisten distanzierten sich von den Demonstrant*innen »Wenn wir wenigstens wüssten, wofür sie auf die Straße gehen, vielleicht würden wir sie unterstützen, aber so nicht.« (Mouna, Interview, 19.2.2011) Einige erlebten die Unruhen jedoch direkt vor der Haustüre: »Als ich gesehen habe, dass es unten auf der Straße Unruhen gab, bin ich rausgegangen und habe mitgemacht.« (Safir, 18 Jahre alt, 12.2.2011) Er und seine Freunde leben in Climat de France, einem der Schauplätze der Unruhen (Kapitel 4.3). »Da, wo wir wohnen, ist Kolumbien« (Mustafa, 18 Jahre

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alt, 12.2.2011), sagt Mustafa und spielt dabei auf die alltägliche Gewalt in seinem Viertel an. Von der Politik distanzieren sie sich jedoch: »Die Politik interessiert uns nicht. Die Mehrheit der Jugendlichen will weg. Wenn sie uns die Möglichkeit geben, gehen wir alle nach Europa und wir überlassen Algerien Sonatrach1.« (Nordin, 18 Jahre alt, 12.2.2011) Andere distanzierten sich gerade von der Gewalt, dem Vandalismus und den Plünderungen, die die Unruhen im Januar 2011 gekennzeichnet hatten: »Warum sollte ich z.B. einen Bus zerstören? Wer fährt denn mit dem Bus? Auf jeden Fall nicht der Präsident.« (Munieb, Interview, 5.2.2011) Mohamed, der zwar die Regierung für bestimmte Probleme, z.B. die hohe Arbeitslosigkeit kritisiert, distanziert sich von den seit Februar 2011 organisierten Samstagsdemonstrationen des CNCD: »Ich bin total dagegen. Die Jugendlichen im Viertel sind gespalten. Manche sind dafür, manche dagegen. Wir Algerier, das ist eine allgemeine Wahrheit über die Algerier, wir sind gespalten. Aber ich finde, Bouteflika hat das Land besser gemacht.« (Mohamed, Interview, 26.2.2011) Viele Jugendliche geben die Schuld an ihren Problemen nicht allein den Politiker*innen. Samira, 25 Jahre alt, arbeitet als Sekretärin in der Bibliothek. Als Latifa, eine langjährige Mitarbeiterin der Bibliothek, einmal beim Lesen der Zeitung eine kritische Bemerkung über Mubarak machte, dass dieser seinen Stuhl nicht räumen wollte, f lüsterte sie mir zu: »Sie ist doch selber wie Mubarak. Normalerweise könnte sie schon in Rente gehen und ihre Position mir überlassen. Sie ist die einzige, die hier sozialversichert arbeitet, und ich mache die ganze Arbeit.« (Samira, 29.1.2011) Später liest sie selber die Zeitung und zeigt mir eine Karikatur, die Ben Ali an der Rezeption eines Luxushotels in Saudi-Arabien zeigt. Der Hotelier sagt zu ihm: »Wenn du Kaddafi und Boutef lika mitbringst, kann ich mit den Preisen runtergehen«, Samira lacht und freut sich darüber. Zu den Ereignissen in Ägypten sagt sie: »Das sind echte Männer, nicht wie hier.« (Gespräch, 29.1.2011) Auch wenn sich die meisten Schüler*innen und Student*innen von der Oppositionsbewegung distanzierten, wurden sie vom Klima der Mobilisierung angesteckt. Anfang Februar traten die Schüler*innen des Oqba-Gymnasiums in Bab el-Oued in einen Streik, um gegen den schlechten Zustand der Schule zu demonstrieren. Über eine Woche legten sie den Unterricht lahm. Einige Schüler*innen kamen daher schon morgens in die Bibliothek. Eine Gruppe Mädchen und Jungen 1 Das staatliche Energie-Unternehmen Sonatrach, das größte Unternehmen Algeriens, machte 2011 wieder Schlagzeilen mit großen Korruptionsaffären. Sonatrach ist ein Symbol für die als Mafia bezeichneten Verbindungen zwischen dem Staat und besonders den Generälen und der Wirtschaft, die die wirklich Macht – le pouvoir – in Algerien seien.

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fertigte Kopien von einem Liedtext an, den ein Mädchen der Gruppe geschrieben hatte. In dem Text forderten sie die Regierung auf, mehr für sie zu tun, die öffentlichen Schulen zu verbessern, und sich nicht nur um die Kinder der Generäle in Hydra zu kümmern (Gespräch am 8.2.2011). Yaid, ein Germanistik-Student, der sich in der Bibliothek auf seine Prüfungen vorbereitete, berichtete (Interview, 12.3.2011) von den Protesten der Student*innen. Er wollte an der Demonstration gegen das neue Hochschulsystem teilnehmen, habe es aber dann doch gelassen, weil sich die Interessen und Anliegen der Student*innen mit Protesten gegen die Regierung und ›Boutef lika hau ab‹-Slogans vermischt hätten, denen er nicht zustimmen wollte. Zwar kritisieren die Jugendlichen strukturelle Probleme wie Arbeitslosigkeit oder mangelnde Infrastruktur für Jugendliche, doch zeigen sie sich auch optimistisch und glauben, durch eigene Anstrengungen erfolgreich sein zu können. Die hohen Anforderungen und der dichte Lehrplan erfordern Disziplin und lassen wenig Zeit für kollektive Aktivitäten. Auch wenn die Ziele, beispielsweise die Vorbereitung auf das Abitur, individuelle sind, assoziieren sich die Schüler*innen: Sie kommen und gehen gemeinsam, sie bilden Lerngruppen, unterrichten sich gegenseitig und vernetzen sich auf Facebook. Aus diesem Zusammenkommen entwickeln sich auch andere Dynamiken, die mit der ursprünglichen Bedeutung der Bibliothek als Bildungseinrichtung wenig zu tun haben: Veränderung der Geschlechterbeziehungen, Organisation von Schülerprotesten, wie das Beispiel der streikenden Schüler*innen gezeigt hat. Zwar ist die Bibliothek kein autonomer Jugendraum, bietet aber besonders Freiräume, die ihnen der öffentliche Raum in Algier nicht bietet. Aus dieser Perspektive kann die Bibliothek auch als Ort gelesen werden, der die Teilhabe Jugendlicher befördert. Um Teilhabe von Jugendlichen geht es verstärkt im folgenden Abschnitt.

6.4 Der Jugendverein: Engagement von Jugendlichen für Jugendliche »Wir haben die Schnauze voll von den Schnauzbärten«, sagt Anis bei meinem ersten Besuch im Jugendverein am 2. März 2011. Der Verein feierte an diesem Tag sein dreijähriges Jubiläum. »Wir wollen einen totalen Wandel, von Jugend für Jugend.« Anis und Islam, die beide zu den Gründern des Vereins gehören, hatten im Februar 2011 in der Bibliothek die Kurse ›gewaltfreie Konf liktbewältigung‹ und ›Maschinenschreiben‹ angeboten. Diese beiden Kurse sind ein Beispiel für die zwei Achsen, die die Arbeit des Jugendvereins kennzeichnen: Die Mitglieder sollen sich mit ihren eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten in den Verein einbringen, gleichzeitig können sie durch die Kooperation mit internationalen NGOs neue Fähigkeiten vermittelt bekommen und diese dann weitergeben. Islam ist Buchhalter und zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung arbeitslos. In der Vereinsor-

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ganisation hat er die Finanzen übernommen und bietet Kurse an, in denen er zum Beispiel IT-Kenntnisse vermittelt, aber auch das im Rahmen der Vereinsarbeit angeeignete Wissen zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen weitergibt. Einige Monate später hatte Islam eine Arbeit bei einer bekannten internationalen Hilfsorganisation bekommen. »Die Erfahrungen in der Buchhaltung im Verein haben mir dabei geholfen«, sagt er (Interview, 21.8.2011). Die Vereinsarbeit gibt den jungen Leuten die Möglichkeit, Arbeitserfahrungen zu sammeln, eine wichtige Einstellungsvoraussetzung.2 Die Nutzung der Jugendinstitution zum Zwecke der f lexiblen Zukunftsgestaltung hat natürlich auch die abfedernde Wirkung, die Derras (2007) und Liverani (2008) bezüglich der politischen Rolle des Vereinswesens kritisieren. Die Gründer des Jugendvereins sind sich der Beziehung zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Vereinen bewusst. Sie sehen die ›politische‹ Bedeutung ihrer eigenen Tätigkeit jedoch aus einer anderen Perspektive. Der Verein, der sich selbst als Jugendverein zur Förderung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und des ehrenamtlichen Engagements definiert, untersteht dem Ministerium für Jugend und Sport, von dem es finanziell gefördert wird. Dennoch versuchen sie eine größtmögliche Autonomie zu bewahren. Anis erzählt die Geschichte des Vereins: »Im Jahre 2008 haben wir den Verein gegründet. Der Verein war damals eine Gruppe. Eine Gruppe, die sich in einem Kulturzentrum kennengelernt hat. Hier in Bologhine gab es ein Kulturzentrum. Wir waren ein audiovisueller Klub, haben Kameraworkshops und all das gemacht. Der Direktor des Kulturzentrums hat uns ermutigt, einen Verein zu gründen und Reportagen zu machen. Das Kulturzentrum ist weit von mir, ich wohne in Climat de France, aber in meinem Viertel gibt es solche Freizeiteinrichtungen nicht. Als wir 18 Jahre alt waren haben wir angefangen, den Verein zu gründen, wir waren noch jung. Laut Gesetz bekommt man die Genehmigung innerhalb von zwei Monaten. Aber oft blockieren sie [die Verwaltung] die Anträge, manche warten sogar bis zu zehn Jahren. Wir haben sie relativ schnell bekommen, mit der Unterstützung von Bekannten aus der Stadtverwaltung. Und da unser Staat ein Polizeistaat ist, hatten wir viele Befragungen. Wir mussten Leute finden, die, wie soll ich sagen, die für uns bürgen. Ansonsten hätten wir als Jugendliche keine Möglichkeit gehabt, die Genehmigung so schnell zu bekommen. Ihr seid Jugendliche, wir vertrauen euch nicht. Das sagen sie zwar nicht. Wir haben Leute von der Wilaya (Stadtbezirksverwaltung) gefragt und sie haben uns empfohlen. Nach zwei Jahren haben wir dann die Genehmigung bekommen. Das war am 3. März 2009. Du kannst dir nicht vorstellen, der Tag als wir die Ge2 »A critical concern regarding unemployment among educated youths is the issue of professional experience. Employers tend to regard young graduates as inexperienced and unskilled job- seekers who are a risky investment.« (Honwana 2012, 53)

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nehmigung bekommen haben, wir haben beinahe ein Fest gemacht. Eigentlich eine simple Angelegenheit, aber bei uns ist das sehr kompliziert. Den Saal habe wir Anfang des Jahres bekommen, Dank des Bürgermeisters von Bab el-Oued. Das Theater war seit zehn Jahren geschlossen. Sieben Monate lang haben wir darum gekämpft, den Raum zu bekommen. Der Bürgermeister von Bologhine (APC/ Kommune) wollte ihn uns nicht geben. Wir haben mit 4.000 Euro Förderung pro Jahr angefangen, aber die anderen Vereine bekommen natürlich mehr Geld. Im Durchschnitt vielleicht 16.000 Euro pro Jahr. Die Direktion für Sport und Jugend hat uns das Geld gegeben. Wenn wir die Tchippa bezahlt hätten, würden wir auch mehr Geld bekommen. Das ist normal bei uns. Unser Programm ist im Vergleich zu den anderen Vereinen sehr viel voller. Viele der Vereine arbeiten wirklich nicht gut. Wenn wir unsere Angebote mit den Angeboten anderer Vereine vergleichen, sollte man nicht meinen, dass das Vereine sind. Wir nennen sie die Beni Oui Oui, die zu allem Ja sagen. So haben sie ihr Geld bekommen. Uns haben sie hingegen diese symbolische Unterstützung gegeben, aus eher politischen Gründen. Und wenn sie unseren Tätigkeitsbericht sehen, sagen sie wow, schaut, was sie alles gemacht haben. Selbst die anderen Vereine sagen, oh schaut, sie zeigen uns als gutes Beispiel, und wir sagen, ja okay, danke, aber unsere Taschen sind am Ende immer leer. Wir können nicht weiterkommen. Wenn ihr uns mehr gebt, können wir noch mehr machen. Wir sind alle Freiwillige. Wir rühren die Kasse nicht an. Im Gegenteil, manchmal geben wir selber etwas in die Kasse hinzu, die von uns, die arbeiten. 4000 Euro das ist wirklich wenig, um etwas zu machen, mit unserem Programm und unseren Ausflügen in den Süden.« (Anis, 11.8.2011) Anis Schilderung der Geschichte des Jugendvereins enthält viele der Schwierigkeiten, denen Vereine in Algerien ausgesetzt sind: Um das agrément (die Genehmigung) zu bekommen, müssen die Vereine auf Strukturen (soziale Beziehungen) zurückgreifen, die sie, wie im Falle des Jugendvereins, kritisieren. Dasselbe gilt für die Vergabe von Fördergeldern. Letztendlich geht es den Vereinen darum, sich autonome Räume zu schaffen, was ihnen aber nur gelingt, wenn sie sich anpassen. Viele Vereine, vor allem die eng an den Staat gebundenen Jugendeinrichtungen, würden nicht die Aufgaben der Zivilgesellschaft übernehmen, bzw. diese als erweiterten Bereich des Staates betrachten. »Die Jugendhäuser werden von den associations compétentes verwaltet, d.h. die Beamten der Jugendhäuser gründen einen Verein. Association compétente ist nicht das ideale Wort um diese Vereine zu beschreiben. Sie sind nicht kompetent. Sie bekommen sehr viel mehr Gelder als andere Vereine. Ein Jugendhaus hat sich bei uns nie weiterentwickelt. Sie stellen ein paar Tische rein und Computer, die aus einer Zeit kommen, die wir nicht kennen. Das nennen sie dann Jugend-Freizeitvereine. Sie bieten dir Freizeitaktivitäten ohne jegliches Ziel, z.B. Ausflüge ans Meer,

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nach denen du als Jugendlicher innerlich leer nach Hause gehst. Das ist ausschlaggebend für sie. Die Jugendlichen sollen vor allem dumm bleiben. Das muss so sein. Das ist ihre Devise. Für sie sind die Jugendlichen vor allem dazu da, Sponsoren, Finanzmittel zu bekommen. Und während des Ausflugs geben sie dir ein Sandwich, fotografieren dich damit und hinterher werden sie sagen, dass Fleisch in dem Sandwich war, aber in Wirklichkeit war nur Karenteta (Kichererbsenbrei) drin. In seinem Bericht wird er dann schreiben, dass das Sandwich 200 Dinar gekostet hat, dabei hat es nur 20 Dinar gekostet. Und sie werden nicht sagen, dass das Diebstahl ist. Nein, das sind ja respektable Leute.« (Anis, 11.8.2011) Ein wichtiges Anliegen des Jugendvereins ist es, die Jugendlichen für ein freiwilliges soziales Engagement zu gewinnen und sie zu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen. Nur so könne es einen wirklichen ›Wandel‹ in Algerien geben. Jeder kann Mitglied werden. Die 300 Dinar [circa 2,50 Euro] Jahresbeitrag verstehen sie als symbolischen, weil obligatorischen Beitrag. Der Jugendverein zählt im Sommer 2011 fast 200 Mitglieder. Jedes Mitglied kann die Räumlichkeiten des Vereins für seine persönlichen Aktivitäten nutzen, muss sich aber auch in die Arbeit des Vereins einbringen: Kurse anbieten, an öffentlichen Veranstaltungen als Künstler*in auftreten oder in der Organisation mitwirken und die Vernetzungsarbeit voranbringen. Einige der Jugendlichen arbeiten nebenher, für andere ist die Vereinsarbeit die Hauptbeschäftigung. Das Ziel der Gründer*innen ist es, das Netzwerk über ganz Algerien auszubreiten, um ein nationaler Verein zu werden. Sie wollen ihr Netzwerk ausbauen und im sozialen und kulturellen Bereich der Jugendarbeit aktiv sein. Die Idee der Mitgliedschaft im Verein ist auch, andere Jugendliche durch die Erfahrung der Vereinsarbeit bei der Realisierung eigener Projekte zu unterstützen. Die Parkour-Gruppe beispielsweise nutzt nicht nur die Räumlichkeiten des Vereins zum Training, die Mitglieder wollen auch lernen, selber einen Verein zu gründen: »Wir wollen eine nationale Parkour-Föderation gründen. Wir wollen hier lernen, wie ein Verein funktioniert, um später selbst einen Verein zu gründen. Inshallah, auch wenn wir noch weit davon entfernt sind. Für mich ist der Verein wie eine große Familie, jeder sagt seine Meinung, jeder bringt sich ein. In Algerien sind Vereine oft eine kommerzielle Angelegenheit. Sie denken nur ans Budget. Aber bei dem Jugendverein ist es das Gegenteil. Wir arbeiten mit kleinen Mitteln und machen großartige Sachen daraus.« (Imad, 11.3.2011) Ehrenamtliches Engagement sei jedoch nicht selbstverständlich für die jungen Leute, die Mitglieder werden wollten:

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»Oft ist die erste Frage, gibt es eine Bezahlung? Leider wird die Idee des ehrenamtlichen Engagements nicht von allen geteilt.« (Anis, 11.3.2011) Der Jugendverein ist nicht nur in Algier aktiv. Durch die Präsenz in sozialen Netzwerken erhoffen sie sich, Mitglieder aus allen Regionen Algeriens gewinnen zu können: »Wir zählen jetzt circa 191 Mitglieder […]. In fünf anderen Wilayas haben wir schon Mitglieder. Wenn wir auf Facebook gehen, werden wir in allen Wilayas Mitglieder bekommen. Wir wollen ein nationaler Verein werden. Ich werde auch eine Webseite erstellen. Ich mache das ohne Bezahlung, als Grafiker. Jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten ein.« (Anis, 2.3.2011) In einem Gruppengespräch am 1. März 2011 mit dem aktiven Kern des Vereins, Anis, Islam, Nabil, Sara und Sherin sprachen wir auch über die politischen Ereignisse. In die offizielle Politik setzen sie keine Hoffnung, weder in die der Regierung noch in die der Opposition. Die Ereignisse in Ägypten und Tunesien vergleichen sie mit der Oktoberrevolte von 1988: »1988 war die Revolution der Jugend, so wie jetzt in Tunesien oder in Ägypten.« (Sara, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Der Esprit der Veränderung war [1988] da, aber keine Orientierung. Nach einem Jahr Freiheit sind die Islamisten an die Macht gekommen.« (Nabil, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Wir gehören zu der Generation, die in den 1990er-Jahren groß geworden ist. Gestresste Eltern, die, wenn sie auf den Markt gingen, Bombenanschläge miterlebten und zurückkamen, das Gesicht voller Blut.« (Anis, Gruppendiskussion, 2.3.2011) Von der Protestbewegung des CNCD distanzieren sie sich: »Wir mögen die Opposition nicht, die Leute, die vorgeben, das Volk zu repräsentieren, wie Said Sadi, wir mögen sie nicht. Das sind keine Leute, die uns vertreten, schon gar nicht als Jugendliche.« (Anis, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Ihr habt gesagt, dass ihr einen Wandel wollt?« (Britta, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Wir wollen uns im Bereich Jugend einmischen, im Rahmen unseres Könnens.« (Sara, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Was bedeutet Jugend für euch?« (Britta, Gruppendiskussion, 2.3.2011)

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»25.000.000 Algerier.« (Anis, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Die Jugend ist das Leben. Die Mehrheit der Bevölkerung. Aber leider, leider nur wenige, die eine Beschäftigung haben.« (Islam, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Das ist das Problem der Jugend. Aber die wenigsten sagen etwas darüber. Leider sind wir noch eine Minderheit. Selbst wenn ein 40-Jähriger seit zehn Jahren versucht zu heiraten, sagen wir nichts. Wir halten unseren Mund. Es ist normal geworden. Alles wird normalisiert, um die Gemüter zu beruhigen, damit sie nicht aufspringen werden. Bleiben sie ruhig Monsieur, das ist normal, es gibt doch kein Problem. Die Normalisierung des Algeriers. Wir lieben unser Land und haben Stolz. Aber ich habe in mir auch Scham. Das zu sehen und zu wissen, dass wir nicht viel verändern können. Wir machen, was wir können. Und es wird sich ändern. Auch wenn sie nicht wollen. Aber es wird viel Arbeit kosten.« (Sara, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Wie haben sich die politischen Ereignisse auf eure Arbeit ausgewirkt?« (Britta, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Ein Feuerwehreffekt. Aber die Bauarbeiten wird nicht die Feuerwehr übernehmen. Unsere Regierung verhält sich wie die Feuerwehr. Mehr nicht. Sie wollen, dass sich die Situation beruhigt. Aber da wir nicht zu ihrem Clan gehören, werden wir niemals profitieren. Wir wollen nicht dazu beitragen. Sie lassen viel über die Vereine machen, und die Vereine machen mit. Um das Volk noch ignoranter zu machen.« (Islam, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Wenn du Tanz anbietest, bekommst du die Genehmigung am nächsten Tag. Sie benutzen die Jugendlichen als Waffe. Eine Waffe, die sie benutzen, für einige Vereine ist es ein Schutzschild geworden. Das sind neue Definitionen von Vereinen. Sie entsprechen nicht den internationalen Bestimmungen. Eigentlich sollten Vereine dort tätig sein, wo der Staat nicht tätig ist. Sie sollten auf der Seite des Volkes und nicht auf der Seite des Staates sein. Aber hier ist es das Gegenteil. Sie sind korrupt. Wenn jemand kommt, sagen sie, alles ist gut. Das ist die Mentalität der Schnauzbärte. Und dann sagen sie dir, dass du nichts von Politik verstehst. Wir wollen nichts von dieser Politik, wir wollen einfach nur leben.« (Anis, Gruppendiskussion, 2.3.2011) »Ein Verein bekommt z.B. jedes Jahr 200.000 Dinar, um Makrot (Gebäck) zu machen. Nicht, dass ich dagegen bin. Aber die Frauen sind doch keine Dummen, die nichts anderes können als Backen. […] Wenn ihr anfangt Makrot zu machen, ruft uns an, und wir geben euch noch was dazu. Sie wollen nicht, dass diese Jugend

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die Augen offen hat. Sie haben Angst, dass sie ihre Privilegien verlieren werden. Und die Jugend wiederum hat Angst vor der Revolte. Was sie erlebt haben, unsere Jugend, ich möchte das nicht noch einmal erleben. Lieber möchte ich mir den Mund zunähen lassen, als diese Jugend, diese Kindheit noch einmal zu erleben. Eine grausame Kindheit. Das ist ein Paradox, das ist Algerien.« (Sherin, Gruppendiskussion, 2.3.2011)

Zwischenfazit Das Jugendhaus, die Bibliothek und der Jugendverein sind durch ihren Status als Vereine im Bereich der Zivilgesellschaft angesiedelt, die laut Liverani (2008) in Algerien zur Aufrechterhaltung des Status quo beitragen würde. Der Blick auf die Nutzung und Aneignung der Jugendinstitutionen im Alltag beleuchtet, wie sich die Jugendlichen in der Grauzone der Klubräume – zwischen privat und öffentlich – eigene Freiräume schaffen. Heute spielen solche Räume eine wichtige Rolle im Alltag der Jugendlichen, die dort Bildungs- und Freizeitaktivitäten verknüpfen. Die Jugendlichen nutzten die Angebote und Räume der Jugendinstitutionen, um sich weiterzubilden, Fähigkeiten zu erwerben oder Arbeitserfahrungen zu sammeln. Während das staatlich geführte Jugendhaus sich eigentlich als Freizeiteinrichtung versteht, wird es von den Jugendlichen vor allem als Bildungseinrichtung genutzt und geschätzt. Während die Bibliothek sich als Bildungseinrichtung versteht, ist sie für die Jugendlichen als Begegnungsort für kollektive und vor allem geschlechtsgemischte Begegnungen wichtig geworden. Die Beispiele der Aneignungen von Jugendinstitutionen zeigen, wie die ›geplanten‹ Funktionen eines Raums durch Praktiken verändert werden. Obwohl es sich um institutionelle Räume handelt, empfinden die Jugendlichen sie im Vergleich zu den privaten und öffentlichen Räumen als ›Freiräume‹. Durch ihren halböffentlichen Status haben die Klubräume für die Jugendlichen eine schützende Funktion, die es vor allem auch den jungen Frauen ermöglicht, ihre Autonomie und ihre Handlungsfähigkeit zu vergrößern. Die Jugendlichen entziehen sich in den Klubräumen der sozialen Kontrolle der Nachbarschaft. Sie bilden neue Gemeinschaften und vernetzen sich. So ist z.B. der Jugendverein aus dem Zusammentreffen einer Gruppe Jugendlicher in dem Filmklub einer staatlichen Jugendeinrichtung hervorgegangen. Jugendliche aus der Theatergruppe im Jugendhaus, die sich über die Bevormundung durch das Personal dort beschwerten, sind Mitglieder im Jugendverein geworden. Die Jugendinstitutionen ermöglichen als geschützte öffentliche Räume auch Transgressionen, z.B. im Hinblick auf Geschlechternormen und subkulturelle Praktiken. Als Orte der Begegnung zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen befördern sie das Entstehen von solidarischen Jugend-Gemeinschaften. Die Schüler*innen der Bibliothek, von denen die meisten

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zwischen 16 und 20 Jahre alt sind, gehören zu der Post-Oktober-Generation, die in den 1990er-Jahren geboren wurde. Zeitungsartikel, die mit »20 Jahre alt sein in Algerien« beginnen, geben das Bild einer frustrierten und hoffnungslosen Jugend wieder. Doch die Besucher*innen der Bibliothek vermitteln ein neues Selbstbewusstsein. Die Präsenz der Mädchen in der Bibliothek und im Verein Vision Jeune steht für das Vordringen der Frauen in den öffentlichen Raum. Auch wenn sich die Jugendlichen in den Bildungseinrichtungen von den Jugendlichen der Straße abgrenzen, verfolgen sie ähnliche Ziele und Strategien: auch sie versuchen durch eigenen Anstrengungen und mit viel Flexibilität einen Weg zur Erreichung ihrer Ziele zu navigieren. Der Fokus auf das Navigieren in den öffentlichen (Kapitel 5) und halböffentlichen Räumen (Kapitel 6) zeigt die Verbindungen zwischen scheinbar gegensätzlichen Orten wie der Straße und der Bibliothek auf: Es gibt Jugendliche, die neben dem Studium sowohl auf der Straße als auch in der Bibliothek arbeiten, um sich Geld zu verdienen und Arbeitserfahrungen zu sammeln. Die Bedeutung der Jugendinstitutionen durch das Konzept des Navigierens zu betrachten, ermöglicht es, die Sicht auf die Bedeutung (zivilgesellschaftlicher) Vereine zu erweitern. Sie sind wichtige Orte in den alltäglichen Navigationen der Jugendlichen und dadurch bekommen sie nicht nur individuelle ermächtigende Funktion, sondern haben als Gemeinschaftsräume auch eine politische Bedeutung z.B. für die Bildung eines Generationsbewusstseins oder für konkrete Aktivitäten, wie die Organisation eines Schülerstreiks in der Bibliothek. Es sind vielleicht weniger die offiziellen Tätigkeiten und Ziele der Vereine, die den Status quo herausfordern, sondern die Aneignungen der Räume für die Kämpfe um einen Platz in der Gesellschaft.

7. Die Stadt als Bühne Performanzen widerständiger Jugendkulturen »Dieser Drang, den Platz des Kolonialherren einzunehmen, bewirkt eine ständige Anspannung der Muskulatur. Bekanntlich verstärkt unter gegebenen emotionalen Bedingungen, die Anwesenheit eines Hindernisses, die Tendenz zur Bewegung.« (Fanon 1982 [1961], 45) Übertragen auf den heutigen Kontext der Jugendlichen kann die ›Tendenz zur Bewegung‹ der jungen Leute, die kämpfen, tanzen oder sich über Mauern und Dächer hinweg in Algier fortbewegen, als Ausdruck ihres Widerstands gegen ihre Ausgrenzung in der ›umkämpften Stadt‹ des 21. Jahrhunderts gedeutet werden. Der Körper tritt hier als »Waffe der Schwachen« (Scott 1985) auf. Diese Repräsentation ist in der Hip-Hop-Kultur weit verbreitet. Doch nicht nur im Hip-Hop, sondern auch im Kung-Fu, einer chinesischen Kampf kunst, im Capoeira, einer brasilianischen Kampf kunst, im Streetdance, einer Tanzform die mit der Hip-Hop Bewegung in den 1970er-Jahren in der Bronx von New York entstand und Parkour, eine Kunst der Fortbewegung, die in den 1990er-Jahren in den französischen Banlieus entwickelt wurde, wird die körperliche Kraft als Quelle der Macht genutzt. Die hier genannten Sport- Tanz- und Kampf kunstformen werden im Folgenden mit dem Begriff ›Bewegungskünste‹ zusammengefasst. Der gegenwärtige Boom urbaner Bewegungskünste in Algier kann aber auch als Trend global verbreiteter und kommerziell vermarkteter Jugendkulturen interpretiert werden, deren Bedeutung für die Jugendlichen vor allem mit Spaß und Ausgelassenheit zu tun haben: »wir wollen Dampf ablassen«, sagen die jungen Leute in Algier. Eine Parallele zu den Beschreibungen der algerischen Jugend um die Jahrhundertwende im urbanen Milieu der Kolonialstadt drängt sich auf: »Es werden nicht einfach nur die beliebten Sportarten (Fußball und Boxen) praktiziert, der gekleidete und entkleidete Körper wird zur Schau gestellt. Im Hafen und am Strand wird geschwommen. Angesichts der ernsten Lage, zeigt die Jugend sozial und kulturell ihren Willen, sich zu emanzipieren, gegen den Unmut und den

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Pessimismus der Älteren, einschließlich der Front Populaire, die politisch im kolonialen Status quo blockiert und ökonomisch von der Krise betroffen sind.« (Carlier 1995, 51) In autoritären Gesellschaften wird auch Spaß als Bedrohung der Ordnung betrachtet. Die Marginalisierung der Jugend auf der einen Seite, ökonomische Öffnung und Stadterneuerung auf der anderen Seite, bilden den Kontext der Praxis urbaner Bewegungskünste in Algier. Die Aneignung1 der global verbreiteten urbanen Kulturen ist mit dem Imaginären Algiers als ›umkämpfte‹ Stadt verf lochten: Als Zentrum des antikolonialen Befreiungskampfes, ›Hauptstadt der Revolutionäre im Exil‹ (Deffarge & Troeller 2012 [1972]) in den 1960er- und 1970er-Jahren und als Schauplatz des politischen Auf begehrens der Jugend 1988 wird Algier zur Heimstätte für die ›widerspenstigen‹ Bewegungskünste, die vor allem junge Leute praktizieren. Algier hat eine lange Geschichte der Protestkultur und bestimmte Referenzen und Symbole dieser Protestkultur werden von den Jugendlichen noch heute herangezogen, nicht nur bei den Revolten und Demonstrationen, sondern auch bei den alltäglichen Performanzen. Die Beliebtheit der urbanen Bewegungskünste hat auch der algerische Staat erkannt. Die urbanen Kulturen haben in der Jugend- und Kulturpolitik Berücksichtigung gefunden. Zu den Feierlichkeiten der 50-jährigen Unabhängigkeit Algeriens am 5. Juli 2012 hatte das Ministerium für Kultur eine riesige Musikkomödie mit dem Titel ›Die Helden des Schicksals‹ produziert, die den algerischen Befreiungskampf mit Folklore und Hip-Hop inszenierte. Um die Bedeutung der Bewegungsküste – Kung-Fu, Capoeira, Streetdance und Parkour – im Alltag der Jugendlichen geht es in diesem Kapitel. Am Beispiel des Portraits des Tänzers Sid wird in Kapitel 7.1 die Bedeutung der Bewegungskünste im Alltag Jugendlicher und ihre Einbettung in die städtischen Alltagsräume erläutert. Darauf auf bauend werden die empirischen Ergebnisse vorgestellt: Die disziplinierende Funktion der Bewegungskünste, durch die die Jugendlichen physische und mentale Stärken auf bauen, wird am Beispiel einer Kung-Fu-Schule in Kapitel 7.2 diskutiert. Am Beispiel des Streetdance und des Parkours wird gezeigt, wie Jugendliche durch die Praxis der Bewegungskünste sich öffentliche und halböffentliche Räume nicht nur aneignen, sondern durch ihre Performanzen und deren Repräsentationen in den sozialen Medien auch dazu beitragen, ein anderes Bild der städtischen Jugend in Algerien zu produzieren und ihre Beziehung zum öffentlichen Raum zu verändern (Kapitel 1 Der hier verwendete Begriff der Aneignung geht von aktiven und produktiven Aneignungsprozessen aus, demnach globale Kultur nicht passiv konsumiert, sondern in den jeweiligen lokalen Kontexten mit Bedeutung aufgeladen wird.

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7.3). Abschließend wird am Beispiel von Casbah Dance (Kapitel 4.4) gezeigt, wie Jugendliche trotz Zwängen und Hindernissen sich Freiräume schaffen, neue Gemeinschaften ausbilden und dabei räumliche und soziale Grenzen in der geteilten Stadt überwinden.

7.1 Bewegungskünste in Algier: Einblick Wie in Kapitel 6 gezeigt wurde, haben die Jugendlichen nicht viele Möglichkeiten, ihre Jugendlichkeit in der Stadt auszuleben und Spaß zu haben, weshalb sich viele in die geschützten Räume der Jugendeinrichtungen zurückziehen. Die Praxis urbaner Bewegungskünste findet jedoch vor allem im öffentlichen Raum, vor Publikum oder vor der Kamera statt. Eine umfassende Darstellung der Partikularitäten der jeweiligen Bewegungskünste ist im Umfang dieses Kapitels nicht möglich, dafür stehen hier die Gemeinsamkeiten im Vordergrund, vor allem im Hinblick auf die Aneignung der Bewegungskünste als Mittel der Selbstinszenierung und Gemeinschaftsbildung in den Alltagsräumen der Jugendlichen. Die Praktiken des Kung-Fu, Capoeira, Streetdance und Parkour weisen folgende Gemeinsamkeiten auf: Die Medien spielen eine wichtige Rolle in der globalen Verbreitung und für die Selbstinszenierung der Jugendlichen. Zur Ausübung der Bewegungskünste brauchen die Jugendlichen nur ihren Körper und kein kostenaufwendiges Material. Über die Praktiken werden neue Zugehörigkeiten ausgebildet. Die Basis für die Praxis der Bewegungskünste ist die Ausbildung körperlicher Fähigkeiten. Der Körper wird durch das Training abgehärtet und widerstandsfähig. Er wird zugleich diszipliniert und befreit, denn die Körperbeherrschung ermöglicht es, physische Hindernisse zu überwinden und mentale Stärken auszubilden. Die zunehmende Beliebtheit der Bewegungskünste unter Jugendlichen in den Städten der MENA Region hat mittlerweile auch einige Studien hervorgebracht, die sich mit der Praxis der Bewegungskünste auseinandersetzen2. Die Bewegungskünste können im Feld der Jugendkulturen3, globalen Kulturen, Subkulturen, Straßenkultur oder zeitgenössischen Kultur verortet werden. Die Geschichten der jeweiligen Bewegungskünste sind mit den Befreiungskämpfen unterdrückter Minderheiten oder dem Widerstand und Empowerment ausgegrenzter Gruppen verknüpft: Capoeira und der Widerstand der Sklaven in Brasilien, Kung-Fu und die Dekolonisierungsbewegung der chinesischen Bevölkerung in Hongkong (Kato 2007), Hip-Hop und die Bewegung der Afroamerika2 Kampfsport und Selbstverteidigung (Lachenal 2013, Aishima 2013), Parkour (Braune 2013, Thorpe & Ahmad 2013), Streetdance (El Sakka 2010), Folkloretanz (Guignard 2013). 3 Zum Verhältnis von Jugend- und Subkulturforschung siehe: Jacke 2007, Lindner 1982 [1979].

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ner in den USA in den 1970er-Jahren (Rose 1994) sowie Parkour und die Jugendlichen in den von Segregation gekennzeichneten französischen Banlieus in den 1990er-Jahren (Ortuzar 2009). Das Training des Körpers in den Bewegungskünsten, insbesondere in den Kampf künsten, macht die Jugendlichen stark mental und physisch für den Alltag in der ›umkämpften‹ Stadt, in der aktive oder passive Gewalterfahrung für viele Jugendliche Routine ist. Die Bezeichnung der Tanzwettbewerbe als Battles ebenso wie die Namen der Tanzgruppen, z.B. der Urban Killers aus Algier, spiegeln die Präsenz der Gewalt im städtischen Raum wider. Die Disziplinierung des Körpers und der Moral soll im Kung-Fu, aber auch in der Praxis der anderen Bewegungskünste, beispielsweise im Parkour, die Jugendlichen dabei unterstützen, sich vor den Gefahren der Straße zu schützen und sich von ihren Lastern fernzuhalten. Gleichzeitig können die trainierten Körper auch eingesetzt werden, sich der Kontrolle durch die autoritären urbanen Regime zu entziehen oder sie zu bekämpfen (Ortazar 2009, 56). Die Performanz von Körpern, die kämpfen, tanzen und sich losgelöst von Zwängen in einer Stadt fortbewegen, die von Diskursen über die youth-as-risk (Kelly 2000), den Einsatz von Überwachungstechnologien rechtfertigt, sind in diesem Sinne auch als Antwort auf ein repressives urbanes Regime zu deuten. Die Straße ist nicht nur in Algier, sondern überall auf der Welt, ein Ort, den Jugendliche sich aneignen, um sich der Kontrolle durch die Autoritäten zu entziehen (vgl. Kapitel 1.2). »Der öffentliche Raum wird mehr als angeeignet, er wird befruchtet. Es gibt eine starke Wechselwirkung zwischen dem Ort und den Anhängern des Hip Hop weil sie in ihr (der Stadt) und für sie das Wort ergreifen. Sie sprechen über ihre Ängste, ihre Emotionen. Es gibt also einen Austausch. Die Jugendlichen geben ihr Leiden, ihre Freuden oder eine Überzeugung zu lesen, zu betrachten oder zu hören, vor allem aber performen sie ihre Existenz.« (Oussedik 2010, 7) Die Praxis der Hiphop-Kultur wird als Antwort der Jugendlichen auf Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung insbesondere in städtischen Armutsgebieten gedeutet (Androutsopoulos 2003, 18, Rose 1994). Am Beispiel der Alltagsbiografie des Tänzers Sid, der in der Kasbah aufwachsen ist, soll die Einbettung der Bewegungskünste in die Alltagsräume Jugendlicher in den städtischen Armutsquartieren aufgezeigt werden. Sid, 31 Jahre alt, ist in der Kasbah geboren und aufgewachsen (Interview am 10.1.2011). Er besucht das Oqba-Gymnasium. Aber mit 16 Jahren bricht er die Schule ab. »Mein Ding war immer schon der Sport. Angefangen habe ich mit Kung-Fu.« In einer Kung-Fu-Schule in Bab el-Oued begann er mit dem Training, nahm an lokalen Wettkämpfen teil und träumte von einer Karriere als Profikämp-

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fer. »Aber ohne Beziehungen hast du in Algier keine Chance, es zu schaffen. Dabei war ich richtig gut«, erzählt er. Als er etwa 18 Jahre alt ist, sieht er den Film Only the Strong4 mit dem Kampfsportprofi Mark Dacascos in der Hauptrolle und entdeckt so Capoeira. Der Film erzählt die Geschichte eines Lehrers, der mit Capoeira versucht, die Gewaltprobleme seiner Schüler*innen in einem Ghetto von Los Angeles zu lösen. Nach dem Film habe Sid im Internet sich alles angeschaut, was er über Capoeira finden konnte und mit dem Training begonnen. »Am Strand von Kettani haben wir trainiert. Ich habe ein paar Jungs aus dem Viertel aufgefordert mitzumachen. Es kostet nichts und ist gut für die Moral. Es ist besser als den ganzen Tag nichts zu tun. Aus Langeweile fangen sie an zu trinken oder Drogen zu nehmen.« Über das Capoeira ist Sid zum Streetdance gekommen und hatte schnell gemerkt, dass er etwas aus seinem Talent machen konnte. Er schrieb sich am Konservatorium für Musik und Tanz ein und ein Jahr später wurde er das erste Mal für eine Show am Nationalballett engagiert. »Sid hat überall getanzt. Alle kennen ihn hier in Algier. Er war richtig gut«, sagt Farah (Interview, 12.1.2011), selbst Tänzerin und Tanzlehrerin (7.4). »Ich habe für das Nationalballett gearbeitet, an vielen Tanzfestivals teilgenommen, auch in Frankreich.« erzählt Sid (Interview, 10.1.2011) Während des Algerischen Jahrs in Frankreich 2006 hatte er für Accrorap im Rahmen eines algerisch-französischen Tanzprojekts gearbeitet. »Sie haben viel Geld verdient damals mit den Shows. [.] Wegen einer Daumenverletzung wollten sie mich nicht behalten. Ich bin dann nach England gegangen, ohne Papiere. Habe dort in einem portugiesischen Restaurant gearbeitet. Ich hatte viele Freunde, von überall aus der Welt, aus Kolumbien und auch aus Brasilien. Die Brasilianer waren erstaunt, als sie gesehen haben, wie ich Capoeira mache.« (Ebd.) Im Jahr 2008 wurde er zurück nach Algerien abgeschoben. Seitdem schlägt er sich wieder auf der Straße durch, mit gelegentlichen Jobs als Sicherheitsagent in den Kabaretts. »Aber das ist keine gute Arbeit. Ständig gibt es Ärger. Die Kabaretts sind kein gutes Umfeld.« (Ebd.) Sid ist pessimistisch was seine Arbeitsmöglichkeiten und seine Zukunft in Algerien betrifft. »Sie beuten dich aus. In diesem Land geht es nur denen gut, die für die Regierung arbeiten. Den Polizisten hat der neue Polizeipräsident die Gehälter erhöht«, erzählt er, und deutet auf das Hauptkommissariat, das sich in der Nähe des Cafés befindet, in dem das Interview stattfindet. »Ich bleibe bis zu 18 Stunden draußen, gehe nur zum Essen nach Hause. Irgendwie muss ich ja überleben. Ich hätte gerne eine Arbeit, als Tanz- oder Sportlehrer. Aber nicht zu diesen Bedingungen.« (Ebd.) 4 Regie: Sheldon Lettich, 1993.

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Während dem Interview spricht er immer wieder ein paar Wörter Englisch und betont, wie sehr er die Zeit in London und seine Freunde dort vermisst. Seine Eltern wohnen nicht mehr in der Kasbah, sie wurden nach Dar el-Beida, in die östliche Peripherie Algiers, umgesiedelt. Er ist mit zwei Schwestern und seinem Pitbull in dem Haus am Rande der Kasbah geblieben. Aber wie lange sie dort noch bleiben können, weiß er nicht, weil sie ja offiziell umgesiedelt wurden und er nicht weiß, was mit dem Haus geschehen soll. »Ich liebe meine Nachbarschaft und die Lage ist einfach besser zum Arbeiten. Was soll ich in Dar el-Beida machen? Hier habe ich meine Kontakte und finde immer eine Möglichkeit, etwas zu verdienen. Meine große Schwester arbeitet außerdem hier im Zentrum und mit den langen Wegen könnte sie diese Arbeit nicht mehr machen. Meine jüngere Schwester macht den Haushalt für uns.« (Ebd.) Einer seiner drei Brüder lebt mit seiner Familie in einem anderen Haus in der Kasbah, die anderen sind mit ihren Frauen in der Wohnung der Eltern. Sid hat noch eine Schwester, die mit ihrem Mann in Italien lebt. Über sie hofft er, irgendwann ein Visum zu bekommen. »Und dann gibt es kein Zurück mehr.« (Ebd.) In Sids Erzählung ist das Training urbaner Kulturen ein Ausweg, von der Straße wegzukommen, die für die Jugendlichen in seinem Viertel eine wichtige Rolle in der Alltagsbewältigung spielt (Kapitel 6). Die Berufung auf die Erfahrung der Straße in den verrufenen Stadtvierteln ist aber zugleich ein Mittel der Authentizitätszuschreibung für die Künstler und Künstlerinnen urbaner Kulturen geworden (vgl. dazu Thiat & Cissocho 2011, 28). Sid ist über Kung-Fu zu Capoeira und Streetdance gekommen. Dieser Weg ist für viele männliche Tänzer in Algier typisch, da der Beruf des Tänzers aufgrund seiner femininen Konnotation kritisch betrachtet wird (Abassi 2006), wie auch die Soziologin Fatma Oussedik feststellt: »Die meisten Tänzer beginnen mit Kampfsport. Der Tanz hat hier ein feminines Image und das bereitet der sexuellen Identität Probleme. Die männlichen Jugendlichen trauen sich anfangs nicht zu sagen, dass sie tanzen. Also machen sie zuerst Capoeira.« (Oussedik, Interview, 21.2.2011) Über den Kampfsport erlernen die Jugendlichen auch die notwendigen physischen Voraussetzungen für die körperlich anspruchsvollen Praktiken des Streetdance oder des Parkours. Fatma Oussedik sieht das Auf kommen der Hip-Hop-Bewegung in Algerien und besonders des Streetdance im Zusammenhang mit der Marginalisierung der Jugend und der Oktoberrevolte von 1988:

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»Die jungen Algerier drücken auf diese Weise ihre Meinung und ihre Gefühle aus. Sie stellen sie auf der Straße, in der Stadt, auf Plätzen in der Stadt dar. Sie definieren sich als Breakdancer und bringen das in akrobatischen Figuren zum Ausdruck, über die sie die erlebte Gewalt der Straße, mit der sie konfrontiert sind, transformieren. In Algier wird dieser Teil der Hip Hop Kultur, der Tanz, vor allem von Jugendlichen aus benachteiligten Milieus, die viel Zeit in der Straße verbringen, ausgeübt. Die Zurschaustellungen dieser urbanen Kultur gibt es seit der Oktoberrevolte von 1988. Das Ereignis, das in Algerien für den Beginn der Jugendrevolte steht.« (Oussedik 2010, 7f.) Auf der Darstellung der urbanen Bewegungskünste als Ausdrucksmittel der ausgegrenzten Jugend bauen auch die Filme auf, über die die Bewegungskünste weltweit Verbreitung finden. Die Rolle der Medien, im Falle Sids der Film Only the Strong, für die Initiierung in die Praxis urbaner Kulturen sind bezeichnend für die Biografien der Künstler und Künstlerinnen in Algier. Die medialen Repräsentationen tragen dazu bei, die urbanen Bewegungskünste als Waffe gegen Ausgrenzung und Marginalisierung darzustellen. Der von Sid erwähnte Film Only The Strong (1993), über den er zu Capoeira gekommen ist, enthält aber auch eine pädagogische Botschaft: Capoeira wird hier zum Vermittler zwischen den Jugendlichen im Ghetto und dem amerikanischen Schulsystem, das für das weiße Amerika steht. Durch die Praxis des Capoeira (unterrichtet von einem Elitesoldaten, selbst ehemaliger Schüler, der in Brasilien Capoeria erlernte) werden die Problemschüler*innen ›diszipliniert‹ und somit in das Schulsystem reintegriert. Konfrontationen werden vermieden, indem Kämpfe in Wettkämpfen ausgetragen werden. Auch in Algerien hat die Sozialarbeit die Bewegungskünste als Integrationswerkzeug entdeckt. Mittlerweile wird Streetdance an einigen Jugendhäusern und von verschiedenen Vereinen als Aktivität angeboten. Wie der Kampfsport, hat auch der Hip-Hop einen pädagogischen Auftrag5. Die Battles (Wettkämpfe) sollen die Gewalt auf der Straße kompensieren: »Viele der B-Boys [Tänzer] hatten früher Probleme mit Gewalt. Ich auch. Erst durch das Tanzen habe ich mich beruhigt. Wir arbeiten nicht in Diskos, wo Alkohol verkauft wird. Die meisten Tänzer sind praktizierende Muslime. Wir trinken keinen Alkohol, aber wir tanzen.« Mahi (28 Jahre alt, Belcourt, Interview, 5.3.2011) Wettbewerb und Wettkampf sind ein wichtiger Aspekt der Bewegungskünste. Die dabei erworbenen Fähigkeiten helfen den Jugendlichen auch, sich im Alltag 5 Ayhan Kaya spricht von der Rap-Pädagogik, die auf der Anerkennung von Differenzen basiert und als ›Dritter Raum‹ eine Brücke zwischen Minderheit und Mehrheit darstellt (Kaya 2007).

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zurechtzufinden: Barrieren überwinden, dem Gegner ausweichen, austricksen. Besser sein als die anderen und immer wieder aufstehen. Der globale Trend urbaner Bewegungskünste hat die Präsenz von Personen aus marginalisierten Gruppen in Machtpositionen, z.B. als Lehrer*innen, Meister*innen oder Stars in den Medien (Film, Werbung) gefördert. Die Erfolgsgeschichten junger Leute ›von der Straße zum Superstar‹ haben für die Jugendlichen Vorbildfunktion. Wie Rebah entdecken viele von ihnen die Praktiken der urbanen Kulturen, Capoeira, Streetdance, Parkour, über Filme und das Internet: »Ich habe die Videos von B-Boy Lino auf Youtube gesehen. B-Boy-Lino ist zweifacher Breakdance-Weltmeister bei den Red Bull-Meisterschaften. Er ist unser Idol«, erzählt Tarik (Bologhine, 16 Jahre alt, Interview, 5.3.2011), der vor einem Jahr auf der Straße mit dem Tanzen begonnen hat und jetzt bei Vision Jeune am Breakdance-Kurs teilnimmt. Nebenbei erwähnte er auch die Karriere von Sofia Boutella. Sofia Boutella, Tochter des algerischen Jazz-Musikers Safy Boutella, die bis zu ihrem zehnten Lebensjahr in Bab el-Oued lebte und 1992 mit ihrer Familie nach Frankreich zog, ist neben ihrem Engagement für die Nike-Werbung und ihrer Rolle in Street Dance II vor allem auch als Tänzerin bei Madonnas Tournee Confessions bekannt geworden. Begonnen hat sie ihre Karriere mit der Vagabond Crew, die sich in einer Pariser Metrostation zum Tanzen traf und 2006 die Streetdance-Weltmeisterschaften gewann. Heute gehört sie zu den besten Tänzerinnen der Streetdance-Szene. Im Hintergrund zu ihrem Tanzauftritt auf Madonnas Confessions-Tour erzählt sie über eine Videoinstallation ihre Lebensgeschichte, die mit den Worten endet, »I suffered so much to become who I am today«. (Sofia Boutella in: Madonna, A Life to tell, Confessions Tour). Der Körper und die eigene Lebensgeschichte wird zum human capital (Pál Pelbart 2005, 41). Die öffentliche Präsenz der jungen Künstler*innen wird durch die Auftritte auf Bühnen und in Medien gefördert. Der Boom der Bewegungskünste entspringt aus neuen Repräsentationen von Arbeits-, Freizeit- und Lebenskonzepten. Herkömmliche Freizeitaktvitäten werden professionalisiert und nehmen im Curriculum der Jugendlichen einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Kultur ist zu einem Feld der Entwicklungspolitik geworden, das dem Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit in der postindustriellen Ära durch den Ausbau der Beschäftigung in kulturellen und künstlerischen Domänen entgegenwirken soll und f lexible Formen der Beschäftigung bietet (Yúdice 2003, 12). Die Förderung des zeitgenössischen Tanzes als ›kulturelle Ressource‹ ist Teil des UNESCO Programms und anderer internationaler Entwicklungsinstitutionen (Sieveking 2013, 256). Durch die entwicklungspolitische Förderung und Kommerzialisierung der Bewegungskünste ergeben sich für die Jugendlichen Möglichkeiten, ihre Freizeitbeschäftigungen zu professionalisieren und als Form der Existenzsicherung und Zukunftsgestaltung zu nutzen. Doch nicht alle Geschichten sind Erfolgsgeschich-

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ten. Für eine gewisse Zeit hatte Rebah vom Tanzen gelebt und seiner Schilderung nach gutes Geld verdient. Seine Aufenthalte in Frankreich im Rahmen einer algerisch-französischen Tanzproduktion und später in London, wo er in einem Restaurant gearbeitet hatte und Englisch lernte, betrachtet er als persönlichen Erfolg. Von seinen Ersparnissen hatte er seine Familie beim Umzug unterstützen können. Doch Rebahs Erfolgsgeschichte ist gescheitert. Nach seiner Abschiebung landete er in Algier wieder auf der Straße, weil er die niedrigen Löhne für Tänzer*innen, Tanzlehrer*innen oder in der Gastronomie als Ausbeutung betrachtet. Zum 50-jährigen Unabhängigkeitstag Algeriens am 5. Juli 2012 hat das Kulturministerium die Organisation einer gigantischen Comédie Musicale unter der Leitung des libanesischen Choreografen Abdelhalim Caracalla in Auftrag gegeben. Unter den 800 engagierten Künstler*innen waren auch viele Breakdancer, Capoeiristen und Traceure. »Der Tanz ist wie die Straße für die Jugendlichen eine Möglichkeit geworden, sich Geld zu verdienen. Es gibt viele Festivals in Algerien« erzählt Mahi (Interview, 5.3.2011). Auch Farah, die eine klassische Ballettausbildung absolviert hat, berichtet davon: »Bei den Castings stehen die Tänzer aus ganz Algerien Schlange. Die Tänzer kommen von überallher, sogar aus dem Süden Algeriens. Sie fahren bis nach Algier zu einem Casting, in der Hoffnung, einen Auftrag zu bekommen.« (Interview, 9.1.2011) Sadik, 26 Jahre alt aus Djelfa, wurde als Tänzer für ein Spektakel anlässlich des Programms ›Tlemcen, capitale de la culture islamique 2011 (Tlemcen, Hauptstadt der islamischen Kultur‹6 engagiert. Sadik bezeichnet sich selbst als autodidaktischen Künstler: Er dreht Kurzfilme, produziert Musik, unter anderem für eine in Deutschland lebende libanesische Sängerin, die er im Internet kennengelernt hat, und versucht sich seinen Lebensunterhalt als Tänzer zu verdienen (Interview, 5.2.2011). Der Boom des zeitgenössischen Tanzes in und aus Afrika macht sich auch in der Kulturlandschaft Algeriens bemerkbar. Seit 2009 findet in Algier ein Internationales Festival für zeitgenössischen Tanz statt. Doch von den jungen Leuten, die mit dem Tanzen beginnen, schaffen es nur wenige bis an die Spitze. Für das Ballett Niya hat der französische Choreograf Abou Lagraa aus 400 Jugendlichen zehn Tänzer ausgewählt: »Das Gefühl des Auserwähltseins, das einen Wert schafft, wird von allen (in den Interviews) angesprochen. Diese Jugendlichen kommen aus einfachen Familien, von denen einige in Bidonvilles (Slums) leben. Einige von ihnen sind niemals zuvor 6 Der Titel Islamische Kulturhauptstadt wird seit 2006 von der Islamic Educational, Scientific and Cultural Organization (ISESCO) vergeben.

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nach Algier gekommen. Das Bildungsniveau variiert zwischen College und Universität. Alle sprechen über die Notwendigkeit Geld zu verdienen und sie wissen, dass die Beschäftigungsmöglichkeiten prekär sind.« (Oussedik 2011, 110) Bezüglich der Aussicht des Geldverdienens ist auch die Praxis urbaner Bewegungskünste für die jungen Leute eine Form des Navigierens, des Sich-Durchschlagens und Entwerfens eines möglichen Parcours, der eine Zukunft verspricht. Doch um die Ziele zu erreichen, müssen die Jugendlichen enorme Anstrengungen auf sich nehmen und in den Worten der algerischen Kulturministerin Khalida Toumi das »sacrifice« akzeptieren: »Diese Jugendlichen haben die universellen Regeln der Arbeit und der Disziplin akzeptiert. Ich bewundere sie, weil sie zuvor noch nie Ballett gemacht haben. Sie haben bei Null gestartet und haben die Aufopferung akzeptiert.« (Khalida Toumi über die ausgewählten Jugendlichen nach ihrer ersten Aufführung am 18. September 2010 in Algier, zitiert in: Oussedik 2011, 115) Die in Kanada untergetauchten Tänzer*innen des algerischen Nationalballetts 2010 haben die andere Seite der Kulturförderung ans Licht gebracht. Mit der Begründung, von ihrem Monatsgehalt von 12 000 Dinar (circa 100 Euro) am staatlichen Ballett nicht leben zu können, haben sie die Gelegenheit des Auftritts genutzt, um sich in Kanada abzusetzen und dort politisches Asyl beantragt, da sie als Tänzer*innen von den Islamist*innen im Land bedroht werden würden. Ihre harga (heimliche Migration) hatte in den Medien für viel Aufsehen gesorgt: »Diese Geschichte spiegelt in der algerischen Führungselite die ganze Verzweif lung eines armen Volkes wider, das in einem reichen Land lebt.« (Ben Samir, El Watan, 14.11.2010) Die Jugendlichen, die davon träumen, sich als Künstler*innen (Rapper*innen, Tänzer*innen, Schauspieler*innen) oder Profisportler*innen eine Zukunft aufzubauen, kombinieren Studium, Training und Arbeit, um sich mehrere Möglichkeiten zu erschließen und nebenbei über die Runden zu kommen. Yasin, 18, der sich 2011 in der Bibliothek Ben Cheneb auf das Abitur vorbereitet und später studieren möchte, ist algerischer Kickboxchampion im Mittelgewicht. Nebenbei arbeitet auch er auf der Straße: »Es ist schwierig, den Kampfsport professionell auszuüben. Der Staat unterstützt mich nicht.« (Yasine, 18 Jahre alt, Bab el-Oued, Interview, 29.3.2011) Sein Freund Mohamed fügt hinzu: »Eine Woche vor den Meisterschaften, da unterstützen sie ihn. Dann nehmen sie seine Maße, um ihm ein Trikot mit der Aufschrift Algerien zu nähen. Das ist alles. Ist das normal? Er repräsentiert Algerien bei internationalen Wettbewerben und

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bekommt keinerlei Unterstützung! Ich würde da nicht mitmachen!« (Mohamed, 21 Jahre alt, Kasbah, Interview, 29.3.2011) In der Alltagsbiografie von Sid wurde die ambivalente Beziehung zwischen den urbanen Kulturen und der Straße bereits angedeutet. Kampfsport zu beherrschen ist notwendig, um sich auf der Straße zu behaupten, gleichzeitig betont Sid, dass ihn der Kampfsport und das Tanzen von der Straße weggebracht haben und ihm beruf lichen Erfolg ermöglicht hatten. Nach dieser Auffassung haben die hier unter dem Begriff der urbanen Bewegungskünste zusammengefassten Praktiken in ihrer alltäglichen Bedeutung integrative Funktion. Ähnlich wie die sozialen Vereine oder die Straßenökonomie übernehmen auch sie kompensatorische Funktionen im Bereich der Freizeitgestaltung und Arbeit von Jugendlichen. Anhand der empirischen Ergebnisse soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Bewegungskünste dennoch auch ermächtigende und widerständige Bedeutung im Alltag der Jugendlichen haben.

7.2 Die Kung-Fu-Schule: Disziplinierung als Ermächtigung Sport ist schon seit der Unabhängigkeit ein wichtiges Integrationswerkzeug in Algerien. Yousef Fates analysiert in Sport et Politique (2009) die Beziehungen zwischen Staat und Jugend am Beispiel des Sportes. Sport wird zu einer ambivalenten Handlungsarena, die dem Staat zur Kontrolle, Disziplinierung und Integration der Jugend dient und auf der anderen Seite zu einem Ort politischer Konfrontationen wird. Das Stadion wird zu einem Raum, in dem Identitäten ausgehandelt, Tabus gebrochen und Protest geäußert werden (Fates 2009, 330). In den 1990er-Jahren hatten auch die Islamist*innen den Sport als Strategie der Mobilisierung von Jugendlichen genutzt, da die Disziplinierung des Körpers den Jugendlichen helfe, den ›rechten Weg‹ zu gehen. Die Kampfsportschulen galten als Ort der Rekrutierung und Mobilisierung von Jugendlichen, besonders in den quartiers populaires (Fates 2009, 231-251). Kampfsport hat in Bab el-Oued also schon eine lange Tradition. Auch heute ist er bei den jungen Leuten beliebt. Die Halle, in der sich heute die Kung-Fu-Schule befindet, wurde während der französischen Kolonialzeit als Boxschule errichtet, erzählt Sid (Interview, 10.1.2011). Heute werden hier chinesische Kampf künste unterrichtet, Kung-Fu in der Tradition der Shaolin-Mönche. Gleich neben dem Eingang befindet sich ein kleiner Buddha-Tempel, links die Tür zum Aerobic-Raum der Frauen, rechts das Büro. An den Wänden Pokale, Speere, Fotos und Bilder von Bruce Lee, daneben ein Foto von Mekka. Auch ein Porträt des damals amtierenden Präsidenten Boutef lika und die algerische Fahne schmücken die Wände. Der Anteil der Frauen beim Training in der Schule ist gering, selten mehr als fünf, meistens weniger. Bis

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auf wenige Ausnahmen sind die Frauen unverheiratet, im Alter zwischen 14 und 33 Jahren. Nina, 26 Jahre alt, wohnhaft in Bab el-Oued, hat nach ihrer Verlobung mit dem Training aufgehört. Auch Amira, ehemalige Kung-Fu-Profi-Kämpferin, trainiert heute nur noch die Frauen im Aerobic, aber im Interview spricht sie gerne über die Bedeutung des Kung-Fus in Algier: »Ich sage es dir ehrlich, ich bin so direkt, hier in dieser Nachbarschaft haben wir viele Laster und es gibt viele Überschreitungen. Hier in der Schule kannst du lernen, dich zu behaupten. Du wirst auch eine andere Seite der algerischen Frauen kennenlernen, wir wissen uns zu verteidigen! Aber es gibt nicht viele Mädchen, die hier trainieren. Sie haben Angst, ihre Brüder oder die Freunde ihrer Brüder bekommen es mit. Kung-Fu wird eher als männlicher Sport betrachtet und viele haben Vorbehalte gegenüber den Frauen, die trainieren.« (Amira, Interview, 10.1.2011) Die Kung-Fu-Schule in Algier ist für die Jugendlichen ähnlich wie das von L. Wacquant beschriebene Box-Studio in Chicago eine »Insel der Ordnung und Tugend« (Wacquant 2004, 17). Die zehn Regeln, die auf dem Mitgliedsausweis der Kung-Fu-Schule abgedruckt sind, veranschaulichen den pädagogischen und vor allem disziplinierenden Auftrag des Kampfsports: 1. Die Techniken und Regeln des Clubs respektieren. 2. Dem Trainer und älteren Personen gegenüber immer höf lich und respektvoll auftreten. 3. Immer nett, ehrlich und hilfsbereit zu Kollegen und auswärtigen Schülern sein. 4. Nicht an Wettbewerben außerhalb der Schule teilnehmen. 5. Als Gewinner nicht überheblich werden und als Verlierer nicht die Hoffnung verlieren. 6. Ein Schüler darf niemals aggressiv sein und muss sich im Falle von Angriffen kontrollieren können. 7. Außerhalb der Schule darf die Kampf kunst nicht weitervermittelt werden, um Gefahren zu vermeiden. 8. Ein guter Schüler trainiert regelmäßig. 9. Ein Schüler muss sich vor Aggressivität, Gier und Eitelkeit hüten 10. Pazifistisch, nicht kriegerisch sein. Bei der ersten Prüfung müssen die Schüler die zehn Regeln vor dem Meister stehend auswendig vortragen. »Der Kampfsport hilft den Jugendlichen, den geraden Weg zu finden, besonders hier in diesem Viertel, wo es viele Probleme gibt«, erzählt Abdalli, Trainer, in einem Gespräch nach dem Unterricht (27.2.2011). Die

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Kung-Fu-Schule in Bab el-Oued ist ein Ort, der von den Schüler*innen als Ort des ›Guten‹ (niya) bezeichnet wird. »Unser Prophet Mohamed hat den Kampfsport empfohlen«, erwähnt ein Trainer in einem Gespräch am 17.2. 2011. In der KungFu-Schule werden zu jeder Gebetszeit Pausen gemacht. Die Männer verrichten dann gemeinsam das Gebet, während die Frauen eine kleine Pause haben oder weitertrainieren sollen. »Ali das reicht. Es ist Zeit zum Beten. Ruf endlich zum Gebet auf. Das Gebet ist wichtiger als das Spiel!«, bittet Rania den Trainer scherzend, damit er sie von den Sit-Ups befreit, doch er lässt sich nicht von ihr erweichen (Training am 28.3.2011). Statt einer Pause bekommen die Frauen an diesem Tag eine extra Übung, während die Männer das Gebet verrichten. Die Frauen, die am Kung-Fu-Training teilnehmen, befinden sich in der Aufstellung beim Aufwärmtraining immer hinter den Männern. Die Schüler*innen bezeichnen sich aus gegenseitigem Respekt alle als Brüder und Schwestern. Durch die Rituale und Regeln ähnelt die Kung-Fu-Schule einem sakralen Ort, der ähnlich wie die Moschee ausgleichende Funktionen hat. Die Parallelen zwischen der Kung-Fu-Schule und der Moschee werden auch in den Bedeutungen der beiden Orte sichtbar, die ihnen die Jugendlichen in ihrem Alltag zusprechen, wie die folgenden zwei Zitate aus den Mindmaps zeigen: »Die Moschee ist ein Ort des Guten. Wenn ich in der Moschee bin, finde ich meine innere Ruhe. Das Gebet ist gut für den Körper und für den Geist. Es hilft mir, Schwierigkeiten zu überwinden und Selbstvertrauen zu bekommen.« (Hamid, Kasbah, 15.10.2009) »Seit 1992 mache ich Kung-Fu. Wann immer ich Zeit finde, mache ich Kung-Fu, um meinen Körper abzuhärten. Kung-Fu ist eine Lebenskunst. Ich kann nicht aufhören, Kung-Fu zu machen, um die Balance zwischen meinem Geist und meinem Körper zu finden und Ruhe in meiner Seele. Das Kung-Fu bringt Licht in meine Welt. Ich kämpfe gegen mich selbst, um meine Probleme zu überwinden. Kung-Fu ist eine Kunst, die dich auf den rechten Weg führt. Du lernst gegenüber anderen respektvoll zu sein. Die Lehrer und Schüler hier, wir sind eine große Familie.« (Mustafa, Bab el-Oued, 24.2.2011) Es sei vor allem diese disziplinierende und ermächtigende Funktion des Kampfsports, die zu seiner Verbreitung unter marginalisierten Bevölkerungsgruppen beiträgt, erzählt auch Osama, Sozialarbeiter und Aikido-Lehrer in El-Harrach: »Bab el-Oued hat viele Kampfsportchampions in Algerien hervorgebracht. Judo z.B. hat dort eine lange Tradition. In Europa kommen die meisten Champions im

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Kampfsport aus den Migrantenvierteln. Und hier sind es die Jugendlichen aus den Quartiers Populaires.« (Interview, 17.2.2011) Die Kampf künste vermitteln physische und mentale Fähigkeiten, die notwendig sind, um sich auf der Straße zu behaupten. Dazu gehören z.B. die Schnelligkeit zu reagieren und eine permanente Alarmbereitschaft. Doch durch die strikten Regeln und die disziplinierende Funktion des Sports steht das Gym auch in Opposition zur Straße7. Auf diese Weise verschafft der Kampfsport den Jugendlichen Respekt auf der Straße und hält sie zugleich von der Straße fern: »Meine Straße ist der Ring«, hat Yassine zu einem Foto auf seiner Facebook-Seite geschrieben, das ihn beim Kickboxen im Ring zeigt (Interview, 14.3.2011). Abbildung 9: Kung-Fu-Schule

Quelle: Britta Hecking

Durch die physische und moralische Stärkung lernen die Jugendlichen auch im Leben Hindernisse zu überwinden und an sich zu glauben, ob im Ring, beim Wettkampf oder an der Universität. Die Stärkung der Moral und der physischen Fähigkeiten, die über das Training des Körpers erzielt werden, ist daher auch eine Form der Ermächtigung: Die jungen Männer beispielsweise lernen der Gewalt auszuweichen und befreien sich auf diese Weise von dem Stigma der ›gefährli7 In seinem einführenden Kapitel The Street and the Ring in Body and Soul. Notebook of an apprentice boxer (2004, 13-149) beschreibt L. Wacquant ausführlich die ambivalenten Beziehungen zwischen der Straße und dem Ring.

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chen Jugend‹ aus den Armutsvierteln. Das Beherrschen der Kampf kunst bringt ihnen trotzdem den nötigen Respekt auf der Straße. Die Fähigkeit, sich verteidigen zu können, hilft den Frauen, Ängste zu überwinden: »Kung-Fu ist gut für das Selbstbewusstsein. Es hat mir geholfen während meines Studiums in der Universität«, erzählt Imane, 23 Jahre alt, wohnhaft in Bab el-Oued (Gespräch am 8.4.2011), die gerade ihr Studium abgeschlossen hat und auf der Suche nach Arbeit ist. Neben den Aspekten der Verteidigung, der Stärkung des Selbstvertrauens, der Gesundheit, der Disziplin, des Respekts und des inneren Gleichgewichts nannten die jungen Leute vor allem aber auch Spaß als Grund, warum sie KungFu praktizieren würden. Dounia, 16 Jahre alt, die in Baraki, in einer der größten informellen Siedlungen an der Peripherie Algiers lebt, wird von den anderen Mädchen auch Bruce Lee genannt. Um in der Kung-Fu-Schule in Bab el-Oued zu trainieren, nimmt sie jedes Mal zwei Stunden Hinfahrt und nochmal so lange für den Nachhauseweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf sich. »Seit drei Jahren mache ich Kung-Fu. Früher habe ich hier im Viertel gewohnt. Jetzt ist der Weg ein bisschen weit. Ich komme so oft ich kann, für zwei Mal die Woche bin ich angemeldet. Aber ich komme auch an den Tagen, an denen der Chef nicht da ist und trainiere trotzdem. Der Trainer Abdalla verrät mich nicht.« (Interview, 13.3.2011) Selbst als sie ihren Arm nach einem Unfall im Gips trägt, erscheint sie zum Training. Auf den Gips hat sie Kung-Fu geschrieben und ein Herz darum gemalt. In der Kung-Fu-Schule trifft sie ihre alten Freunde. Meistens wird sie von ihrer Mutter begleitet, die ihr beim Training zuschaut oder selbst ihre alten Nachbarinnen besuchen geht, während ihre Tochter trainiert. Auch Lynda (14 Jahre alt, wohnhaft in Bab el-Oued) betont, wie viel ihr die Kung-Fu-Schule bedeutet. »Ali, der Trainer, ist für mich wie ein zweiter Vater, ich komme seit meiner Kindheit hierher.« (Gespräch am 12.1.2013) Kung-Fu heißt wörtlich ›harte Arbeit‹, und das nehmen die Trainer ernst: »Weiter, weiter, auch wenn es wehtut. Kung-Fu heißt Leiden«, erinnert der Trainer Ali, wenn die Schüler*innen beim Training ans Ende ihrer Kräfte gelangen »weiter, weiter, rot werden müsst ihr!« (Training am 6.3.2011). Die Schüler*innen, die zu spät zum Unterricht erschienen oder die Anweisungen der Trainer nicht ernst nehmen, werden laut zurechtgewiesen. Dennoch bietet die Kung-Fu-Schule auch Raum für Spaß. Die Mitglieder bezeichnen sich als eine große Familie: »Meine Mutter hatte mich in der Kung-Fu-Schule angemeldet als ich sechs Jahre alt war und jetzt ist es meine einzige Beschäftigung neben der Schule geworden. Ich habe das Kung-Fu schon im Blut. Ich komme drei Mal pro Woche hier her und lerne

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immer etwas dazu. Ich treffe hier auch meine Freunde und habe Spaß mit ihnen. Die Schule ist ein Ort der Freundschaft und der harten Arbeit.« (Lyna, 14 Jahre alt, Bab el-Oued, Mindmap, 12.4.2011) In diesem Sinne bietet die Kung-Fu-Schule, neben ihren disziplinierenden Funktionen, den Jugendlichen auch Raum für Spaß und Jugendlichkeit. Während der Kampfsport in Algerien bereits eine lange Tradition hat und heute von allen Schichten und Altersgruppen praktiziert wird, sind Capoeira, Streetdance und Parkour vor allem unter Jugendlichen verbreitet.

7.3 Capoeira, Parkour und Streetdance: Hindernisse überwinden Im Unterschied zum Kung-Fu oder anderen institutionalisierten Sportarten in Algerien, die in der Regel von ausgebildeten Lehrer*innen unterrichtet werden, übernehmen die Jugendlichen im Streetdance, Capoeira oder Parkour die Disziplinierung der Körper in Eigenregie. In der Praxis der Bewegungskünste spielt der Style und die Zurschaustellung des Körpers eine wichtige Rolle. Im Vergleich zu anderen kulturellen Praktiken benötigen die Jugendlichen zum Tanzen, ebenso wie für Kampfsport, Capoeira oder Parkour nur ihren Körper: »Diese Jugendlichen, und sie werden immer mehr, tanzen in T-Shirt und Jogginghose, am Strand, in der Straße oder auf einem Platz. Der zeitgenössische Tanz kann für die Jugendlichen aus den sozial schwächsten Schichten der Gesellschaft ein Ausdrucksmittel sein, er ist eine Form der Aneignung städtischer Räume.« (Oussedik 2010, 5) Während die Rap-Szene in Algier stark von Jugendlichen aus der gebildeten Mittelklasse repräsentiert würde, deren Marginalisierung vor allem eine politische Marginalisierung sei (Oussedik 2009, 283), würden sich die Bewegungskünste Capoeira und Streetdance auch unter den Ärmsten der Stadt, z.B. den Jugendlichen aus den Slums, verbreiten. Im Unterschied zum Rappen, für dessen Professionalisierung man neben den sprachlichen und poetischen Fähigkeiten auch technisches Equipment benötigt, braucht man für das Tanzen ebenso wie für das Capoeira oder den Parkour nur den eigenen Körper.

7. Die Stadt als Bühne

Abbildung 10: Parkour in der Kasbah

Quelle: Amine Moussi

In Abgrenzung zu Oran, der Hochburg der Raï-Musik, ist Algier dabei, zum Zentrum der Bewegungskünste zu werden, wodurch ihr Image als ›umkämpfte Stadt‹ unterstrichen wird. Urbane Probleme tauchen in den Texten der Rapper und HipHop-Gruppen explizit auf. Aber auch die Praktiken der Tänzer und Traceure im städtischen Raum sind als Antworten auf Prozesse der Marginalisierung und Ausgrenzung zu verstehen. Mahi, 28 Jahre alt, ist in Belcourt, einem des historischen quartiers populaires aufgewachsen. Er trägt einen Pullover, den er selbst entworfen hat, mit der Aufschrift Algérien de Luxe. Neben seinem Transportunternehmen arbeitet er als Tanz- und Yogalehrer unter anderem auch ehrenamtlich in einem Jugendverein (Kapitel 6.4), seine Ausbildung dazu hat er in Frankreich gemacht. Der Streetdance habe in Algerien in den 1980er-Jahren begonnen, sich zu verbreiten: »In Arika, bei dem Pavillon in der Nähe des Makam Shahid, hat alles angefangen. Jeden Freitag treffen sich dort die B-Boys aus ganz Algier«, erzählt Mahi (Interview, 5.3.2011). Das Makam Shahid gehört zu Riadh el- Feth. Der Freizeitkomplex, der Einkaufszentrum, Kultur und Museen mit dem Märtyrerdenkmal verbindet, wurde zwanzig Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit errichtet. Er symbolisiert den Übergang von der sozialistischen zur freien Marktwirtschaft in den 1980er-Jahren (Kapitel 3.1). Die Aneignung des in der Nähe gelegenen Pavillons als Tanzf läche im ›Park des Sieges‹ ist eine Einforderung des Rechts auf die zentralen Orte der Stadt: Die Jugendlichen, die sich die offiziellen Vergnügungs-

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möglichkeiten, das Einkaufen oder die teuren Restaurants nicht leisten können, lassen sich dennoch nicht an den Rand drängen. Oussedik sieht in der Identifikation mit der Straße in der Hip-Hop-Kultur eine Gegenidentifikation zur houma und interpretiert dies als Loslösung der jungen Generation von traditionellen lokal verankerten Gesellschaftsordnungen und eine Verortung in der sich zunehmend globalisierenden und entterritorialisierten Stadt: »Das Viertel hat keinen eigenen Wert mehr. Alle Mauern, die ganze Stadt gehört ihnen. Aber nicht nur die Mauern. Sie eignen sich auch die Strände an und die Plätze. Sie reisen ans andere Ende des Landes, um eine kleine Arbeit zu finden. Sie lehnen die wenigen Kommunikationskanäle ab, die ihnen gewährt werden und wenden sich an die ganze Gesellschaft. Diese Jugendlichen kommen aus allen Quartieren, aus den alten und neuen: von Bab el-Oued bis Kouba, von El Biar bis Audin, aber auch aus der neuen Banlieu Algiers: aus Fort de l’Eau, Cherage. Sie kommen aus verschiedenen Stadtteilen, definieren sich aber alle über die gleichen Kriterien. Das Anderswo ersetzt für alle das Lokale, für das der Begriff houma (Nachbarschaft) steht.« (Oussedik 2010, 10) Die Identifikation mit der globalen Straßen- und HipHop-Kultur muss jedoch die Zugehörigkeit zur houma nicht ausschließen. Im Gegenteil, gerade in der HipHop-Kultur ist der Bezug zur Straße des Viertels eine Authentizitätszuschreibung. Die Abgrenzung zur houma, von der Oussedik spricht, bezieht sich demnach eher auf eine bestimmte Definition der houma in den nostalgischen Erzählungen der älteren Generation. Die houma im Alltag der Jugendlichen hingegen ist zugleich in der lokalen städtischen Kultur verankert und in globale youthscapes eingebettet. Das Viertel – la houma, el barrio oder the hood – hat als Ort der Herkunft in der Straßen- und HipHop-Kultur identitätsstiftende Bedeutung, wie beispielsweise das Lied Ouled el-Houmti (Kinder meines Viertels) der Rap-Gruppe MBS verdeutlicht. Die Berufung auf die Herkunft stigmatisierter Orte ist in der Hip-Hop-Kultur ein Authentizitätsmerkmal, über das die Viertel gleichzeitig aufgewertet werden. Die Identifizierung mit der globalen HipHop-Kultur erfolgt nicht gegen, sondern über das Viertel. Das Viertel wird über Style, Namen und Kleidung in den Performanzen der Tänzer*innen über die territorialen Grenzen des Viertels hinaus repräsentiert. Der Tänzer und Choreograf Farès hat seine Tanzgruppe Wesh genannt, nach der Begrüßungsformel der Jugendlichen aus der Kasbah und Bab el-Oued. In ähnlicher Weise wie die Streetdancer machen sich auch die Traceure die Stadt zueigen. Die Körper in Bewegung symbolisieren Freiheit, besonders im Parkour (Ortuzar 2009, 59), da Mobilität in der globalen Ära beinahe zu einem Synonym für Freiheit geworden ist (Cresswell 2000). Die Jugendlichen haben in den

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Interviews betont, dass sie durch die Praxis der Bewegungskünste lernen würden, Probleme im Alltag zu überwinden: »Am Anfang wollte ich mich im Viertel interessant machen. Aber mit der Zeit habe ich die Philosophie des Parkours entdeckt. Der Parkour ist wie das Leben. Es gibt viele Hürden. Aber wenn du die Moral des Parkours in dir hast, kannst du alle Probleme überwinden.« (Aziz, Interview, 11.3.2011) Und »vor allem fühlst du dich frei«, fügt Abderrahmane hinzu (Interview, 11.3.2011). In Städten, in denen Ausnahmezustände gelten und in denen der öffentliche Raum im Namen der Sicherheit ein stark kontrollierter Raum ist, hat Bewegung daher eine besondere Bedeutung für das Gefühl von Freiheit. »Sie wollen in der Kasbah von Dach zu Dach springen? Niemals! Die Leute werden denken, dass sie Diebe sind«, meint Sofiane, ein Jugendlicher aus der Kasbah (Interview, 16.3.2011), als er von dem Filmprojekt der Traceure von Vision Jeune erfährt, die eine Kasbah-Überquerung entlang des touristischen Parcours geplant haben und einen Film dazu machen wollen. Die Performanz der jungen Tänzer*innen oder Traceure im öffentlichen Raum kann auf Misstrauen und Ablehnung stoßen, vonseiten der städtischen Autoritäten aus Gründen der Sicherheitskontrolle oder von der Bevölkerung, die die Privatsphäre ihrer Nachbarschaft schützen wollen. »Wir wollen diesen Film auch machen, um das Bild des Parkours hier in Algerien zu verbessern. Um den Leuten zu zeigen, dass Parkour ein Sport ist und dass wir keine Ganoven sind.« (Aziz, Interview, 11.3.2011) Vor ihrem ersten Probe-Parkour in der Kasbah kam es zu einem Konf likt mit einem Anwohner, der sich beschwerte, dass einer der Traceure in der Straße seine Kleidung wechselte. Er forderte die Traceure auf, zu verschwinden und empörte sich darüber, dass sie den Respekt der Privatsphäre der Nachbarschaft missachtet hätten. Nachdem es gelungen war, den aufgebrachten Mann zu beruhigen, begann die Gruppe mit ihren Proben: Im Parkour springen oder schwingen sich die so genannten Traceure von Mauern, Kanten, Gittern oder Zäunen im städtischen Raum, die Bewegung einschränken sollen oder unabsichtlich Durchgänge behindern wie z.B. Laternenpfosten, Straßenschilder und Bänke (vgl. Geyh 2006, 2). Die Kasbah ist von einer sehr dichten Architektur geprägt, doch durch den zunehmenden Verfall der Häuser gibt es dort viele kleine Freif lächen, die teilweise noch mit Mauerresten versehen sind. Anis filmte und fotografierte die Performanzen der Jugendlichen. Die filmischen Repräsentationen sind wichtiger Bestandteil der urbanen Kulturen (Braune

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2014, Tödt 2011). Die Künstler*innen zeigen sich in den öffentlichen Räumen der Stadt und repräsentieren sich und ihre Städte in selbstgedrehten Videos, die sie über die neuen Medien verbreiten. Die Performanz der Bewegungskünste trägt zu einer neuen Erfahrung der Stadt bei (vgl. Fuggle 2008, 205). Die globale Zirkulation von Filmen, Musikvideos und Marken, soziale Internet-Netzwerke, aber auch die Organisation von internationalen Veranstaltungen, transnationalen kulturellen Produktionen oder internationalen Jugendaustauschprojekten haben dazu beigetragen, die Bewegungskünste in Algier bekannt zu machen und aufzuwerten. Virtuelle und reale Vernetzung wird als Form der Ermächtigung betrachtet, durch die neue Gemeinschaften und Identitäten geschaffen werden: »Das wichtigste Ereignis für die Streetdancer hier ist das Battle Mezghenna.8 Das größte Battle Algiers. Die B-Boyz kommen teilweise von 1.000 Kilometer weit hier her, sie schlafen dann bei den Tänzer*innen aus Algier. Wir Breaker sind wie eine große Gemeinschaft. Du triffst jemanden und sofort addest du ihn zu deinen Freunden – wie bei Facebook, so läuft das. Wir helfen uns gegenseitig. Einmal sind wir spontan nach Oran gefahren. Unterwegs hatten wir eine Panne und kein Geld mehr. Zufällig haben wir dann ein paar Breaker aus Oran getroffen, sie haben uns sofort bei sich aufgenommen und uns das Geld für die Heimfahrt gegeben, und wenn sie jetzt nach Algier kommen, bleiben sie bei uns.« (Mahi, 5.3.2011) Durch Kleidung, Nicknamen, Style, Rituale, Netzwerke und virtuelle Räume bildet sich ein Gruppenethos zwischen den Tänzer*innen, Traceuren oder Caporeisten, die sich wie die Schüler*innen der Kung- Fu-Schule als Familie betrachten. Die Parkour-Gruppe hat ihr eigenes Logo entworfen, das sie auf T-Shirts und Pullover druckt. Durch die Idee der Vernetzung und Vereinigung, ob informell oder in Form von Vereinen oder Föderationen, werden neue Formen der Partizipation ausprobiert, die das Vordringen der Jugendlichen in den öffentlichen Raum stärken. Die Parkour-Gruppe z.B. ist Mitglied im Jugendverein geworden (siehe Kapitel 6.4): »[…] um zu lernen, wie die Organisation eines Vereins funktioniert. Wir möchten in Zukunft eine Algerische Föderation des Parkours gründen.« (Aziz, Interview am 11.3.2011) Im Rahmen von internationalen Tanzproduktionen und sozialen Austauschprojekten zwischen Tanzgruppen wird die Mobilität der Jugendlichen gefördert. »In Frankreich haben sie mich oft gefragt, in welcher Schule ich das Tanzen gelernt hätte. Meine Schule war die Straße. Wir haben hier in Algerien keine Schulen, aber wir haben viele Talente«, erzählt der Tänzer und Choreograf Farid, der gemeinsam mit seiner Frau Shahinez eine Tanzgruppe gegründet hat. »Viele der 8 Die Gründung Algiers durch den Stamm der Beni Mezghanna hat Algier den Beinamen Al-Djazaïr Beni Mezghenna verliehen.

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französischen Choreografen holen sich ihr ›Material‹ hier in Algerien, das sie dann formen«, fügt seine Frau Shahinez hinzu (Interview, 19.8.2011). Die urbanen Bewegungskünste – Streetdance, Capoeira und Parour – sind in den letzten Jahren ein fester Bestandteil der algerischen Tanz- und Kulturszene geworden. Aziz und Amin, Traceure und Mitglieder im Jugendverein (Kapitel 6.4) haben in einer Szene des Films Essaha (Der Platz, Dahmane Ouzid 2011) mitgewirkt, der ersten algerischen Musikkomödie, in der das Alltagsleben einer Gruppe Jugendlicher mit Hip-Hop, Streetdance- und Parkour-Einlagen erzählt wird. Entgegen dem Bild der verlorenen und immobilen Jugend schildert der Regisseur die Kämpfe der Jugend um ihren Platz in der Gesellschaft am Beispiel der Aushandlungen über die Nutzung des öffentlichen Platzes vor einer neugebauten Hochhaussiedlung. Die Aushandlungen finden zwischen der Stadtverwaltung und den Bewohner*innen, zwischen Männern und Frauen, vor allem aber zwischen den Jungen und Alten statt: »Die Jugendlichen haben ihren Platz auf dem öffentlichen Platz verloren, sie müssen ihn sich wiederaneignen. In unserem Land sind 75 % der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Dennoch wird das Land immer von einem ehrwürdigen Patriarchen regiert, selbst wenn es sich dabei um einen Esel handelt. Die Autorität begründet sich immer mit dem Begriff des Vaters. Unsere Jugend verzichtet auf ihren Platz und geht fort. Es muss eine andere Art des Respekts gegenüber dem Vater geben, ohne sich dabei unterdrücken zu lassen. In den alternden Ländern regieren die Jungen, während unsere jungen Länder von den Alten regiert werden!« (Dahmane Ouzid, Interview, in: Denis & Ouzid, Touki Montréal, 3.3.2011)9 Der Film entwirft ein heterogenes Bild der Jugend und zeigt die komplexen Machtverf lechtungen im Hinblick auf Klasse, Generation und Geschlecht in der algerischen Gesellschaft auf. In einer Szene fordern die Frauen ihr Recht auf Zugang zum öffentlichen Raum, das ihnen weniger vom Staat, als von den gesellschaftlichen und familiären Traditionen verwehrt wird. Auch wenn die Jugendlichen für die Praxis der Bewegungskünste nur ihren Körper und weder Material noch Schulen brauchen, stellt sich dennoch die Frage der Zugangsmöglichkeit. Frauen sind in der Szene, insbesondere was die Praxis im öffentlichen Raum betrifft, weniger präsent. Doch auch die Gender-Beziehungen sind in Bewegung.

9 Auf dem 22. Filmfestival von Ouagadougou, dem Festival Panafricain du Cinéma et de la Télévision de Ouagadougou (FESPACO), hat die Komödie den Preis der Vereinten Nationen für den Kampf gegen die Armut gewonnen.

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7.4 Die Tanzgruppe im Jugendhaus: Neue Gemeinschaften Farah, 27 Jahre alt, lebt im Stadtzentrum von Algier. Am Konservatorium für Bildende Künste hat sie klassischen Tanz gelernt. Mit vier Jahren hat sie mit dem Tanzen begonnen. Doch weil es nicht selbstverständlich sei, das Tanzen zu professionalisieren, hatte sie sich entschlossen, Organisationspsychologie zu studieren. Das Tanzen hat sie jedoch nie aufgegeben und heute arbeitet sie als freie Künstlerin (Tanz/Schauspiel) und als Tanz- und Aerobiclehrerin. Eine Zeitlang war sie am Nationalballett engagiert, die Selbstständigkeit bietet ihr jedoch mehr Flexibilität und daher auch mehr Einkommensmöglichkeiten. Farah ist durch ihre zahlreichen Fernsehauftritte und Interviews als Tänzerin, aber auch als Tanzlehrerin in Algier bekannt geworden. In einem Interview mit einem algerischen Frauenmagazin10 wird Farahs Engagement als Leiterin einer gemischten Tanzgruppe in einem quartier populaire von der Journalistin als ungewöhnlich dargestellt. Tatsächlich sei es mit Herausforderungen verbunden gewesen, erzählt sie im Interview. 2009 begann Farah im Jugendhaus in der unteren Kasbah, einen Tanzkurs zu leiten. Ihr Ziel war es, eine eigene Tanzgruppe zu gründen, doch sie hatte Schwierigkeiten, weibliche Tänzerinnen zu finden: »Am Anfang wollte ich nicht zusagen, als die Direktorin mich fragte, eine Tanzgruppe in der Kasbah zu leiten. Die meisten Mädchen aus der Nachbarschaft werden hier nicht an einem Tanzkurs teilnehmen. Wenn sie tanzen wollen, bevorzugen sie es, es weit weg von ihrem Viertel zu versuchen. Es ist nicht selbstverständlich, in einem quartier populaire einen Tanzkurs für Mädchen und Jungen anzubieten.« (Farah, Interview am 19.2.2011) Die ersten Mitglieder der Gruppe setzten sich aus Kursteilnehmer*innen des Jugendhauses und Bekannten ihres Cousins, der als Ton- und Videotechniker in der Gruppe mitwirkte, zusammen. Den ersten Auftritt hatte die Gruppe auf dem nationalen Folklore Tanzwettbewerb in Saida am 1. November 2009, dem Jahrestag der Ausrufung der algerischen Revolution. Die Gruppe fuhr unter Aufsicht des Erziehers Fati für ein paar Tage dorthin. Einige der Teilnehmer*innen verließen Algier zum ersten Mal. Die Veranstaltung brachte Jugendliche aus allen Regionen Algeriens zusammen, jedoch stand jede Gruppe unter Aufsicht ihrer Betreuer*innen, und abgesehen von dem öffentlichen Wettbewerb und der Siegerehrung gab es keine gemeinschaftlichen Aktivitäten. Für die Jugendlichen bedeutete der Ausf lug vor allem Spaß. In einem Interview nach der Reise stellte Fati fest: »Es gab zu viele Überschreitungen. Einige Mädchen haben sich zu leicht bekleidet, und einige der Jungen aus 10 Auf die Quellenangabe wird zum Schutz der Anonymität der Interviewpartnerin verzichtet.

7. Die Stadt als Bühne

der Gruppe haben sich zu feminin verhalten.« (Fati, Interview, 9.10.2009) Seine Beurteilung zeigt die Vorurteile auf, denen die Jugendlichen ausgesetzt sind, die in gemischten Gruppen Bewegungskünste praktizieren: Frauen wird Freizügigkeit und Männern eine Verweiblichung nachgesagt. Ein Jahr später hatte sich das Profil der Gruppe verändert: Luna, 18 Jahre alt, hatte mittlerweile geheiratet, ihre ältere Schwester Aliaa kam zwar noch regelmäßig ins Jugendhaus, hatte sich aber von der Tanzgruppe distanziert, vor allem weil diese nun auch öffentliche Auftritte in Algier plante. Manel, die in der Kasbah geboren wurde und bis 2011 in La Carrière, Bab el-Oued lebte, kam nach der Umsiedlung ihrer Familie in ein neues Wohngebiet in der östlichen Peripherie Algiers nur noch selten zum Training, weil der Weg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sehr lange dauert. Nur Dino und Rafik, die jedes Mal den langen Weg in Bussen von Cheraga ins Stadtzentrum auf sich nehmen, kommen noch regelmäßig zum Training. Sie arbeiten auf dem Markt ihres Viertels, versuchen jedoch auch, sich als Statisten in Tanz-, Theater- und Werbeproduktionen zu engagieren und können daher nicht regelmäßig zum Training erscheinen. Yanis ist Fahras Co-Trainer geworden und für den Streetdance-Unterricht zuständig. Er versucht sich als Lehrer und mit gelegentlichen Engagements als HipHop-Tänzer zu professionalisieren. Auch für ihn ist der Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der östlichen Peripherie ins Zentrum weit und zeitaufwendig. Die neuen Mädchen der Gruppe kommen fast alle nicht aus der Nachbarschaft. Farah hatte sie über die private Tanzschule des Sonatrach-Unternehmens kennengelernt und ihnen vorgeschlagen, Mitglieder von Casbah Dance, wie sich die Gruppe mittlerweile nennt, zu werden. Lamia (20 Jahre alt, Oued Romaine), Fayza (20 Jahre alt, Place du 1er Mai), Safia (19 Jahre alt, Mouradia) und Sakina (19 Jahre alt, Mouradia) sind Cousinen, sie wohnen in dem so genannten quartier résidentiel und kommen aus einer gut etablierten Familie der gehobenen Mittelschicht. Alle drei studieren, das Tanzen ist für sie ein Hobby. Zum Training in der Kasbah kommen sie mit ihrem Kleinwagen. Für sie bedeutet das Tanzen vor allem die Möglichkeit zu haben, sich auszudrücken: »Ich habe mit dem Tanzen schon angefangen als ich noch klein war. Aber dann wegen der Schule aufgehört. Letztes Jahr habe ich zufällig meine alte Lehrerin Farah wieder getroffen und so habe ich wieder angefangen. Das Tanzen ist eine gute Möglichkeit, sich auszudrücken und Spaß zu haben. Ich habe Spaß wie eine Verrückte jede Woche und die Stimmung in der Gruppe ist super. Ich kann ich selbst sein. […] Der wichtigste Grund, warum ich tanze ist, weil es mir ermöglicht, meine Gefühle auszudrücken.« (Lamia, Interview, 25.2.2011)

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»Im TNA [Théâtre National Algérien] hatten wir unseren ersten Auftritt mit der ganzen Truppe. Unsere erste offizielle Vorführung vor Hunderten von Zuschauern! Diesen Moment werde ich nie vergessen. 30 Minuten waren wir auf der Bühne, nach monatelanger Vorbereitung! Es war mein Traum und der Traum der ganzen Gruppe. Wir haben es geschafft. Zusammen, gegen alle. Dank Farah, die sich mit Leib und Seele für uns einsetzt!« (Fayza, Interview, 25.2.2011) Nur Linda wohnt in der Umgebung der Kasbah, sie hatte früher mit Farah am Konservatorium klassischen Tanz gelernt. Als sie Farah 2010 auf der Straße zufällig begegnet war, hatte diese sie zum Tanzatelier eingeladen. Seitdem ist auch sie Mitglied von Casbah Dance, allerdings mit Vorbehalten bei öffentlichen Auftritten in Algier, weil ihre Familie nichts davon weiß. »Der Tanzsaal ist mein Paradies. Scherz! Ich liebe das Tanzen, weil es für mich die einzige Möglichkeit ist, mich auszudrücken und mich wohl zu fühlen. Ich bin stolz eine Tänzerin zu sein.« (Linda, 23 Jahre alt, Alger Centre, 25.2.2011) In einem anderen Interview berichtete Farah auch von den Schwierigkeiten und Vorbehalten seitens des Personals im Jugendhaus: »Im Jugendhaus ist eigentlich nur Karim dagegen. Er ist aus der Nachbarschaft. Einmal hat er uns den Strom abgestellt. Bei ihm kann ich mir alles vorstellen. Vor allem, als er mich im Ramadan gesehen hat, ich habe jeden Tag im Ramadan geprobt, weil der Saal frei war, da meinte er vorwurfsvoll ›Tanzen im Ramadan‹. Voilà, aber ich sage mir, das ist doch ein Sport, wir machen ja kein Striptease, wir machen doch nichts Schlechtes. […] Meine Stereoanlage funktioniert jetzt nicht mehr. Ich habe an Karim gedacht, weil ich sie unten im Saal gelassen habe, und sie vorher noch in Ordnung war.« (Farah, 7.8.2011) Dennoch ist es der halböffentliche Raum des Jugendhauses, der es den Jugendlichen ermöglicht, sich ihren eigenen Freiraum zu schaffen. Das Tanz-Atelier hat Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammengebracht. Die Kasbah stellt für sie eine symbolische Verbindung her: »Wer Kasbah sagt, sagt Algier.« (Dino, Cherage, 25.2.2011) »Die Kasbah ist das Herz Algiers. Wir alle haben irgendwelche Verwandten, die in der Kasbah leben oder früher dort gelebt haben.« (Linda, Alger Centre, 25.2.2011).

7. Die Stadt als Bühne

Als historisches und symbolisches Zentrum der Stadt ist die Kasbah für die Jugendlichen, insbesondere für die Zugezogenen und die Umgesiedelten, eine kulturelle Ressource. Während in Algier der Verlust der Kasbah – als idealer Ort der Gemeinschaft – beklagt wird, beleben die Jugendlichen diese Bedeutung neu: Bei Auftritten in Algier, Algerien und in Zukunft vielleicht auch im Ausland performen sie als Tanzgruppe der Kasbah. Die Tanzgruppe steht für eine neue Form der Gemeinschaft, basierend auf der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den Mitgliedern der Gruppe. Auch wenn Farah und Yanis als Trainer*innen in einer autoritären Position sind und Vorbildfunktion haben, betrachten sie sich alle als Jugendliche. Die sozialen Unterschiede, auch wenn sie den Alltag und besonders die Alltagswege der Mitglieder prägen, spielen beim Training keine große Rolle und auch die Gender-Beziehungen hätten sich aus Sicht der Trainerin mit der Zeit verändert: »Am Anfang war es für die Jungen eine ungewohnte Situation mit den Mädchen zu tanzen. Sie waren sehr aufgeregt. Aber jetzt hat sich ihre Einstellung dazu verändert. Das war mein Ziel. Man darf den Tanz nicht in einem schlechten Licht sehen. Wir kommen zusammen, um Ideen auszutauschen, voneinander zu lernen, Mädchen und Jungen. Einer von den Jungs hat z.B. früher shimma (Kautabak) genommen. Die Mädchen fanden das ekelhaft und sie haben es ihm abgewöhnt…« (Farah, 7.8.2011) Die Tanzgruppe ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die algerische Jugend in Bewegung ist. Aller Zwänge zum Trotz schaffen sich die Mitglieder der Tanzgruppe einen Raum, in dem Gender- und soziale Normen verändert werden. Durch ihre öffentlichen Auftritte tragen sie so auch dazu bei, ein anderes Bild der geteilten Stadt zu prägen, in der sowohl die sozial-räumliche Segregation und die Gender-Teilung der Stadt (die Frauen drinnen, die Männer draußen) verändert wird.

Zwischenfazit Die symbolische widerständige Bedeutung der Bewegungskünste, geht aus ihren Entstehungsgeschichten hervor, die mit den Befreiungsbewegungen unterdrückter sozialer Gruppen in bestimmten historischen Momenten und Orten verwoben sind und die über die Ästhetik der Bewegungskünste transportiert werden. Die Beziehungen zwischen Kultur und Subkultur in der Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts sind jedoch so komplex, dass es schwierig ist, die Bewegungskünste als Ausdruck einer ›widerspenstigen‹ Jugendkultur zu deuten. Festgestellt werden kann jedoch, dass Kommerzialisierung und globale Verbreitung der urbanen Bewegungskünste zur Ermächtigung der Jugendlichen beitragen, die sich teilweise

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schon ihren Lebensunterhalt als Künstler*innen verdienen und eine professionelle Künstlerlauf bahn anstreben. In diesem Sinne ist auch die Praxis der Bewegungskünste eine Form des Navigierens. Zugleich können die Bewegungskünste auch als ästhetischer Ausdruck des Navigierens betrachtet werden, vor allem im Hinblick auf das Überwinden von Brüchen und Hindernissen (Konstreva 2011). Die Selbst-Disziplinierung, die das Erlernen der Bewegungskünste erfordert, kann neben ihrer resilienten und ermächtigenden Wirkung auch als Antwort auf negative Repräsentationen der Jugend und somit als Widerstand gegen die Unterwerfung der Subjektivität neben den Kämpfen gegen Unterdrückung und Ausbeutung verstanden werden. Dies zeigt sich besonders deutlich auch in den Performanzen der Jugendlichen im öffentlichen Raum. Die Jugendlichen weigern sich, so zu sein, wie die Gesellschaft sie sieht – als Kriminelle oder untätige Arbeitslose: »Neben den traditionellen Kämpfen gegen die Herrschaft (z.B. eines Volkes über ein anderes) und gegen die Ausbeutung (einer Klasse durch die andere) dominiert heute der Kampf gegen die Formen der Unterwerfung, gegen die Fügsamkeit der Subjektvität. Vielleicht erklärt sich der explosive Charakter des aktuellen Moments durch die Überlagerung dieser drei Dimensionen.« (Pàl Pelbart, 2002, 33f.) Wenn die Praxis urbaner Bewegungskünste als Antwort der Jugendlichen auf Marginalisierung und Ausgrenzung in den Städten des 21. Jahrhunderts betrachtet werden, liegt ihr widerspenstiges Potential vielleicht weniger in den subkulturellen Aspekten dieser Kulturen als darin, dass sich die Jugendlichen über diese Praktiken den dominanten Repräsentationen der verlorenen oder kriminellen Jugend der städtischen Armutsviertel entziehen und ein anderes Bild der algerischen Jugend performen. Die Praxis urbaner Bewegungskünste verändert die Beziehung der Jugendlichen zum öffentlichen Raum und somit auch zum Politischen: »Wir sind hier«, lautete auch einer der Slogans der jungen Demonstrant*innen der Hirak-Bewegung 2019 (Kapitel 8).

8. Fazit und Ausblick Von der Jugend in Bewegung zur Hirak-Bewegung 2019/2020

Am Beispiel der Kasbah, der Altstadt von Algier, wurde die Stadtentwicklung vom Beginn der Kolonialzeit 1830 bis in die Gegenwart aufgearbeitet, um die kulturelle Textur Algiers als ›umkämpfte‹ Stadt zu entschlüsseln, in der die Jugend als Akteurin des Widerstands hervorgetreten ist. Als Symbol des Widerstands und der algerischen Revolution ist die Kasbah ein Erinnerungsort mit identitätsstiftender Bedeutung. Sie ist aber auch das Symbol der nationalen Krisen: Schauplatz der Oktoberrevolte von 1988 (Märtyrer-Platz) und Ort der Mobilisierung ihrer Jugend im Schwarzen Jahrzehnt. Heute symbolisiert sie die Heterogenität des urbanen Raums im 21. Jahrhundert: Von osmanischen Palästen über die während der Kolonialzeit gebauten Grands Ensembles bis hin zu Bidonvilles und Zelten als Notunterkünfte findet man in der Kasbah alle Wohnformen der algerischen Hauptstadt. Im Laufe der Hirak-Bewegung wurden ihre Mauern zur Projektionsf läche politischer Forderungen und Wünsche. Ihre Helden von gestern traten als Sprachrohr der Generation von morgen auf: die 84-Jährige Djamila Bouhired marschierte zum Frauentag am 8. März 2019 mit in den Straßen der Hauptstadt um gegen das aktuelle Regime und für die Fortführung des Befreiungskampfes zu demonstrieren.

Geografien des Widerstands Die Stadtgeschichte Algiers ist ein Lehrstück für Stadtplanung als Herrschaftsinstrument. Das von dem französischen Marschall Bugeaud geschriebene Buch La guerre des rues et des maisons (1997 [1849]) gilt als erstes Werk der militärischen Stadtplanung (Graham 2003). Der ›Plan de Constantine‹ (1958) hat später die politische Bedeutung der Stadtplanung aufgezeigt, die gegen Ende der Kolonialzeit als Strategie der sozialen Befriedung genutzt werden sollte (Davis 2010). In den 1980er-Jahren hat dann auch der algerische Staat erkannt, dass er der Stadtplanung mehr Bedeutung zukommen lassen müsse.

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Jugend und Widerstand in Algier

Der Entwicklungsplan ›Für ein besseres Leben‹ (Pour une vie meilleure), der die wirtschaftlichen Transformationen in den 1980er-Jahren einleitete, sollte die postkolonialen und revolutionären Versprechen einer gleichen und gerechten Gesellschaft in der Stadt einlösen. Doch Algiers Geschichte der Stadtplanung zeigt auch die Grenzen der Planung auf. Denn Algier ist nicht nur eine signifikante Fallstudie für die Bedeutung der Stadtplanung als Herrschaftsinstrument, sondern auch für urbanen Widerstand. Auch wenn Algier heute nicht zu den großen Metropolen des 21. Jahrhunderts gehört, ist sie zu einer global zirkulierenden Referenz in Studien geworden, die sich mit den Beziehungen zwischen Hegemonie und Widerstand und sozialem Wandel im urbanen Raum befassen: Unter anderen Frantz Fanon, Germaine Tillion, Paul Rabinow, Graham und Steven Pile beziehen sich in ihren Arbeiten auf Algier. Besonders die Kasbah ist dabei zu einem internationalen Symbol des Widerstands der städtischen Armen im Kontext kolonialer, postkolonialer und neoliberaler Segregation geworden. In diesem Sinne ist die Kasbah für die Städte der MENA-Region das, was die Favelas für die Städte Brasiliens/Südamerikas sind: »Rio de Janeiro’s favelas have figured not just as an object of study and field site, but almost as an idiom for thinking through development, urbanization, inequality and social change.« (Cavalcanti, in Boucher et al. 2009, 996) Elsheshtawy bezeichnet die subtilen Formen der Segregation in den restrukturierten Städten der MENA-Region als »Rückkehr des Kasbah-Phänomens« (Elsheshtawy 2008) und Robin Wright (2011) benennt seine Studie über die »Wut und Empörung der muslimischen Welt im 21. Jahrhundert« mit Rock the Casbah (in Anspielung auf den Song-Titel des algerischen Kult-Musikers Rachid Taha). Heutige Formen sozialer Polarisierung und räumlicher Segregation in Algier finden ihren Ursprung bereits in den Strukturen des Kolonialismus. Seit der Unabhängigkeit 1962 waren es besonders die Momente globaler Krisen und Umbrüche in den 1980er-Jahren und 2011, die in Algier die Überschneidung von Geografien marginalisierter Orte und Geografien der Revolten (Dikeç, 2006) deutlich gemacht haben. Diese Geografien verweisen auf die strukturellen Ursachen, die den Revolten zugrunde liegen. Sie verdeutlichen, dass die Unruhen kein Ausdruck irrationaler Gewalt sind, wie es von den Regierenden dargestellt wird, um sich durch den Verweis auf angebliche Differenzen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den ›kriminellen Anderen‹ der eigenen Verantwortung zu entziehen (Dikeç 2006). Die Empörung über die hogra, die den Revolten in Algerien zugrunde liegt, ist zwar in der politischen Kultur Algeriens verwurzelt (Roberts 2002), sie zeigt aber auch Verbindungen zu den Revolten junger Menschen in anderen Städten der Welt, in denen die Demokratien ihr Versprechen der Gleichheit der Bürger*innen in den Strukturen neoliberaler Politik nicht einlösen und be-

8. Fazit und Ausblick

stimmte marginalisierte Bevölkerungsgruppen für ihre Rechte kämpfen. So ist es nicht verwunderlich, dass Londoner Jugendliche bei den Unruhen im Sommer 2011 von ihrem ›Arabischen Frühling‹ gesprochen haben, während der Journalist Hari Kunzru mit etwas Zynismus ›den inneren Mubarak‹ in den Reaktionen der britischen Politiker entdeckte, die die Empörung der Jugendlichen kriminalisierten und mit Härte gegen die Aufständischen vorgingen: »It was galling to watch people who had recently praised the street fighters of the Arab spring finding their inner Mubarak, people who had been shocked (shocked!) that Middle Eastern dictators would switch off the internet, now calling for Black Berry Messenger (which they’d just found out about) to be shut down.« (Kunzru, The Guardian, 12.8.2011) Im Falle Algeriens sind es die männlichen Jugendlichen der städtischen Armutsviertel, die in den 1990er-Jahren über den Diskurs der islamistischen Gefahr und heute über Gewalterzählungen zu den ›Anderen‹ der Republik konstruiert werden. Auf diese Weise wird auch ihr Protest in Form von Straßenunruhen kriminalisiert und somit seiner politischen Dimension beraubt. Als imaginäre ideale houma (Nachbarschaft) symbolisiert die Kasbah die radikal utopische Bedeutung des ›Rechts auf die Stadt‹ im Sinne der Verwirklichung einer gerechten und freien Stadt, die im Falle Algiers eng verknüpft ist mit den Idealen der algerischen Revolution. Während der Kolonialzeit war die algerische Bevölkerung in allen Bereichen vom ›Recht auf die Stadt‹ ausgeschlossen. So fanden bis 1957 die Viertel der algerischen Bevölkerung in der kolonialen Stadtplanung keine Berücksichtigung. Die Vernachlässigung der Kasbah hatte zur Folge, dass die Bewohner*innen sich selber organisierten und eine autonome Stadtverwaltung errichteten. Die Utopie der unabhängigen Nation wurde in der Kasbah gelebt, wie beispielsweise in dem Film Die Schlacht um Algier am Beispiel der Eheschließung eines jungen Paares gezeigt wird, das sich nicht von den kolonialen Behörden, sondern von FLN-Mitgliedern einen Trauschein ausstellen ließ. In diesem Moment der Geschichte haben sich die Bewohner*innen das ›Recht auf die Stadt‹ genommen. Die Selbstverwaltung wurde als Strategie gegen den Kolonialismus eingesetzt, indem sie die in der osmanischen Stadt typische Organisation des städtischen Raums durch die houma (Nachbarschaft) reaktivierte. Die Übernahme der Macht nach der Unabhängigkeit vollzog sich durch die Übernahme der Stadt. Nach der schmerzvollen und gewaltvollen Vertreibung, Enteignung und Ausgrenzung der algerischen Bevölkerung während der Kolonisation erhob diese nach der Unabhängigkeit den Anspruch auf das ›Recht auf die Stadt‹ im Sinne des Rechts auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Teilhabe. Die Einforderung dieser Rechte sollte die revolutionären Ideale in der postkolonialen

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Stadt erfüllen. Doch die Ziele wurden von der Regierung nicht erreicht und die Unzufriedenheit und Empörung der jungen Bewohner*innen, die sich in den von Krisen- und Transformationsprozessen gekennzeichneten 1980er-Jahren gegen die Regierungselite auf lehnte, mündeten im Oktober 1988 in eine Revolte. Roberts (2002) zieht das Konzept der moral policy zur Erklärung der Revolten heran. Anders als bei den Brotunruhen in Tunesien und Ägypten wären nicht ökonomische Gründe die Auslöser der Empörung gewesen. Die Slogans der Revolte hätten darauf hingewiesen, dass sich die Jugendlichen vor allem gegen politische Marginalisierung zur Wehr setzten. Dennoch war die Empörung über die Politiker*innen auch durch Prozesse der ökonomischen Deprivation und der sozialräumlichen Ausgrenzung ausgelöst worden (Boukhobza 2009). Die Geografien der Revolten zeigten das Vordringen der Ausgegrenzten in die zentralen Orte: Die Aufständischen besetzten das Stadtzentrum, griffen Ministerien und Polizeistationen an und drangen sogar in das Ministerium für Jugend und Sport ein. Die Jugendlichen protestierten gegen ihre sozialräumliche Marginalisierung, die ihre politische Ausgrenzung durch das Einparteiensystem und die daran gekoppelten Beziehungsnetzwerke (maarifa) verstärkte. Die Islamische Heilsfront (FIS), die 1990 die Kommunalwahlen und im Dezember 1991 die Parlamentswahlen mit 47 % der Stimmen gewonnen hatte, machte in den von ihr regierten Kommunen von dem Bodenverwaltungsrecht Gebrauch. Sie hatte erkannt, dass sie durch die Vergabe von Wohnungen und Baurechten an Legitimität und Anhänger*innen in diesen Kommunen gewinnen konnte (Martinez 1998). Das ›Informelle‹ existierte in den von der FIS regierten Stadtteilen nicht mehr, da sie den Bewohner*innen Eigentumsrechte ausstellte. Die FLN konnte so als ›Fremdherrschaft‹ kritisiert werden, da sie wie einst die Kolonialmacht dem Volk das ›Recht auf die Stadt‹ verweigert und die Bewohner*innen der Bidonvilles kriminalisiert hatte. Die FIS und ihre Anhänger*innen übernahmen auch die Kontrolle der öffentlichen Räume und setzten ihre Kleider- und Verhaltensordnungen durch. Durch Disziplinarmaßnahmen auf der einen und Wohlfahrtsaktionen auf der anderen Seite verwirklichte sie ihr eschatologisches Projekt einer besseren Welt nach den Vorstellungen des Islams. Zu diesem Zweck errichtete sie autonome Verwaltungen auf der Ebene der Nachbarschaft. Die aus der Opposition heraus entstandene Bewegung bildete ihre eigenen unterdrückenden Hegemonien aus und ersetzte die autoritären Strukturen der FLN durch ihre eigenen: Frauen, die in den FIS-Kommunen lebten und sich nicht an die Kleiderordnungen hielten, und Jugendliche, die Raï-Musik hörten oder zetla (Haschisch) rauchten, mussten sich der neuen Ordnung entziehen oder widersetzen. In dieser Zeit haben halböffentliche Räume wie Kultur- und Jugendvereine im Alltag der Jugendlichen an Bedeutung gewonnen (Bamaara 2013).

8. Fazit und Ausblick

Besonders in den von Dichte und Heterogenität geprägten Städten des 21. Jahrhunderts finden die urbanen Kämpfe zwischen unterschiedlichen Akteur*innen statt, wie beispielsweise auch die postrevolutionäre Situation in Kairo und Tunis zeigt, in der die Nutzung und Bedeutung öffentlicher Räume ausgehandelt wird. Im 21. Jahrhundert ist in Algier eine neue Phase der Stadtentwicklung angebrochen, die zunehmend von neoliberalen Diskursen, Ideologien und Techniken des Regierens geprägt wird. Die Bodenverwaltung liegt nach wie vor in den Händen der FLN-Regierung, die mit unterschiedlichen Programmen des sozialen Wohnungsbaus versucht, den Bewohner*innen das ›Recht auf die Stadt‹ zu gewähren (Safar-Zitoun 2012). Gleichzeitig nutzt sie die Stadtplanung als wichtiges Herrschaftsinstrument: Die Vergabe der Sozialwohnungen ist an das System der maarifa (Bekanntschaften) gebunden und führt regelmäßig zu Protesten. Die Umsiedlungsprogramme werden als Hausmannsche Strategie der Zerschlagung von Widerstandsenklaven (Kasbah, Climat de France, Diar es-Shams, Bachdjerrah) genutzt, was jedoch auch dazu geführt hat, dass gewaltsame Straßenunruhen zu einem effizienten Mittel der Einforderung des ›Rechts auf Wohnungen‹ geworden sind. Doch auch die neuen Wohnsiedlungen, die vor allem nach quantitativen und nicht nach qualitativen Maßstäben errichtet wurden, machen negative Schlagzeilen in der Presse: mangelnde Infrastruktur und die Entwurzelung der Bewohner*innen aus ihrer houma (Nachbarschaft) führen zu neuen sozialen Problemen: »Die Umquartierung: eine Zeitbombe« (Saïd, El Watan, 9.11. 2013). Eine andere Einforderung des ›Rechts auf Teilhabe‹ ist für viele Bewohner*innen das Zurückgreifen auf informelle Praktiken und Räume. Als Modus der Urbanisierung ist das Informelle eine bestimmte Art, den Raum zu produzieren und anzueignen, die außerhalb der Gesetze der hegemonialen Ordnung stattfindet oder sie konterkariert. Informelle und formelle Stadtentwicklung sind jedoch auf so komplexe Weise miteinander verbunden, dass es problematisch ist, eine dualistische Trennung zwischen formeller und informeller Urbanisierung vorzunehmen. In der gegenwärtigen Stadt- und Jugendforschung der Städte des Globalen Südens wird das Informelle – als Sektor, Lifestyle, Selbsthilfe oder subalterne Politik – viel diskutiert. Die rasante Urbanisierung in den Städten des Südens hat zu einem Paradigmenwechsel in der Stadtforschung geführt (Comaroff & Comaroff 2012). Dies hat jedoch auch dazu geführt, dass die Städte im Globalen Süden vordergründig durch die informelle Brille betrachtet werden und andere Entwicklungen nur wenig Berücksichtigung finden. Auch wenn immer mehr Autor*innen die Annäherung der Alltagsrealitäten von Jugendlichen im Norden und Süden betonen (Honwana 2012, Skott-Myhre & Richardson 2012, Katz 2004), ist das Informelle beispielsweise in der Stadtforschung des Globalen Nordens unterrepräsentiert, obwohl sich auch hier eine Menge Praktiken beobachten ließen, die in das weite Feld des Informellen eingeordnet werden könnten wie z.B. die ›in-

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Jugend und Widerstand in Algier

formelle Beschäftigung‹ auf Baustellen oder informelle Zeltstädte in Paris oder Berlin. In dem ›neuen Algier‹, das im Plan ›Algier 2029‹ entworfen wird, soll es keine informellen Räume mehr geben. Um die Idee der Mittelmeermetropole zu verwirklichen, wurden 2012 erneut Aktionen zur Entfernung des informellen Straßenhandels und der Bidonvilles gestartet. Dennoch hat die Stadtverwaltung die Stadtentwicklung zu einer Priorität ihres Regierens gemacht: Der Plan ›Algier 2029‹ verspricht nicht nur den Bau von neuen Wohnungen, sondern vor allem auch eine integrative Umstrukturierung der Stadt, durch die die neuen Peripherien besser angebunden werden sollen. Und auch die Aufwertung der Lebensqualität in der Stadt durch die Umgestaltung der Bucht von Algier zu einem Freizeitund Erholungsgebiet verspreche mehr als eine Habitat-Politik des funktionalen Wohnungsbaus. Der Plan beinhaltet auch den Bau von Schulen, Universitätsgebäuden, Fußballstadien und neuen Kulturzentren und soll auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen antworten. Die Arbeiten haben bereits begonnen und überall in der Stadt zeigen riesige Plakate das ›neue Algier‹. Dort, wo 2009 die Bewohner*innen der Cité Diar Esshems gegen den Abriss der Bidonvilles demonstrierten, steht heute ein neues Parkhaus. Den in die Peripherien umgesiedelten Bewohner*innen soll der Zugang zum Zentrum durch die Verbesserung des Verkehrssystems erleichtert werden, das einen wichtigen Stellenwert in dem Stadterneuerungsprogramm einnimmt. Das neue Algier präsentiert sich als nachhaltige Mittelmeermetropole. Der Plan wurde Ende 2011, dem internationalen Jahr des Protests und des Arabischen Frühlings, von den staatlichen Behörden verabschiedet. Der Vergleich zu 1958 drängt sich auf, als die französische Kolonialmacht versucht hatte, mit einem strategischen Stadtentwicklungsplan den sozialen Frieden zu sichern. Es scheint, als sei die Betonung der mediterranen Identität der Stadt – die noch immer eine zentrale Bedeutung für das Land hat – eine Abgrenzung zur arabischen Identität und den damit verbundenen Protestbewegungen. Das Ziel des Stadterneuerungsplans à la Hausmann ist es, laut den Worten des Architekten Amine Benaissas, aus Algier das zweite Sonatrach Algeriens zu machen und über die Stadtentwicklung neue Reichtümer zu schöpfen. Wenn Algier wie Sonatrach jedoch auch zum Symbol der hogra, des Machtmissbrauchs der Mächtigen und der Kluft zwischen Eliten und dem Volk wird, wird Algier auch in Zukunft eine umkämpfte Stadt sein – wie sich 2019 mit dem Ausbruch der Hirak-Bewegung gezeigt hat. Algeriens Außenseiterrolle in den so genannten Arabellionen wurde vor allem mit Blick auf den autoritären Staat erklärt. Die Perspektive auf ›mögliche‹ Akteur*innen des Widerstands zeigte ein anderes Bild. Die Jugend galt in den Protestbewegungen in der MENA-Region 2011 als wichtige Akteurin. Doch in Algerien fand nach den Januarunruhen 2011 keine breitere Mobilisierung der Jugend statt – zumindest nicht an der Oberf läche.

8. Fazit und Ausblick

Navigieren Entgegen der dominanten Darstellung einer frustrierten und immobilen Jugend, die beispielsweise über das Bild der hittisten in wissenschaftlichen und medialen Diskursen vermittelt wird, reagieren die jungen Leute in Algier mit viel Eigeninitiative auf strukturelle Zwänge und eignen sich dazu auch die öffentlichen und halböffentlichen Räume der Stadt an. Die Jugendlichen lassen sich nicht an den Rand drängen – im geografischen wie im sozialen Sinne: Sie fordern ihr ›Recht auf die Stadt‹ ein, nicht nur in Form von offenen Revolten und lauten Protesten, sondern auch in den alltäglichen Praktiken der Alltagsbewältigung und des Vordringens, die in dieser Arbeit mit dem Begriff des Navigierens bezeichnet werden. Dazu sind die Jugendlichen auf unterschiedliche Weise in Bewegung. In den Konversationen der Jugendlichen in Algier ist Navigieren ein geläufiger Begriff für alternative Formen der Alltagsbewältigung, vor allem in den städtischen Armutsvierteln. Navigieren bezeichnet die Strategien von Jugendlichen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund, sich ihre Handlungsspielräume zu vergrößern, die sie als Antwort auf Marginalisierung und Ausgrenzung in von Krisen geprägten und sich verändernden Stadträumen entwickeln. Der Begriff des Navigierens, den die Jugendlichen in Algier anfangs vor allem für das Sich-Durchschlagen in den informellen Ökonomien verwendeten, bezeichnet heute alle Formen der Alltagsbewältigung: das In-Bewegung-Sein und das Reagieren auf Veränderungen und Brüche in der Stadt des 21. Jahrhunderts. Es bezeichnet das alltägliche Sich-Durchschlagen der städtischen Armen ebenso wie das Überwinden von Hindernissen auf dem Weg, die waithood zu durchbrechen und das Vordringen der jungen Leute, die mehr fordern als das bloße Überleben. Die Praktiken des Navigierens schaffen keine Räume der Hoffnung, sondern Räume der unmittelbaren Möglichkeiten. Das Konzept des Navigierens impliziert einen unbekannten, sich verändernden, instabilen und manchmal auch gefährlichen Raum und setzt die Kenntnisse dieses Raums voraus: Das Reagieren auf sich verändernde Determinanten, das Überwinden von Hindernissen und das Einplanen von Umwegen. Um das Ziel zu erreichen, wird ein Weg vorgezeichnet (tracer un chemin), der in der Praxis aber immer wieder f lexibel angepasst werden muss. Henrik Vigh benutzt das Konzept des sozialen Navigierens, um die Mobilisierung von Jugendlichen im guineischen Bürgerkrieg zu erklären, die sich der binären Logik von Gut und Böse, Sinn und Sinnlosigkeit entziehen würde. In diesem Sinne kann durch das Konzept des Navigierens auch die Konzeption der Jugend als ›Dazwischen‹ aufgebrochen werden. Dazwischen-Diskurse basieren auf der Vorstellung von stabilen, abgrenzbaren sozialen Räumen, in denen über routiniertes Handeln der Status quo hergestellt oder reproduziert wird, und in denen Wandel zu Brüchen und Fragmentierungen in homogenen Räumen führt, die zumindest zeitweise ein ›Dazwischen‹ verur-

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Jugend und Widerstand in Algier

sachen. Das Navigieren bezeichnet hingegen den Prozess der Routinisierung des Handelns in unsicheren, sich verändernden Räumen und die Fähigkeit mit Ungewissheiten umzugehen. Das Navigieren weist z.B. Ähnlichkeiten zu den Konzepten der Hip-Hop-Ästhetik im Rap, Tanz und Graffiti auf: f low, layering und ruptures in line (Kapitel 7): Übertragen auf den alltäglichen Kontext sieht Rose darin folgende Bedeutungen: »[C]reate sustaining narratives, accumulate them, layer, embellish, and transform them. But also be prepared for rupture, find pleasure in it, in fact plan on social rupture. When these ruptures occur, use them in creative ways which will prepare you for a future in which survival will demand a sudden shift in ground tactics.« (Rose 1994, 82) Dies entspricht auch der Philosophie des Parkours, durch die die Jugendlichen lernen, Hindernisse und Ängste zu überwinden und sich den städtischen Raum zur Fortbewegung anzueignen und diese Fähigkeiten auf das Alltagsleben zu übertragen: Like everyday haben Intik Parkour ihren Videoclip genannt und so die Verbindung zwischen Bewegungskunst und Alltagsbewältigung angedeutet. Parkour, Hip-Hop und auch der Kampfsport sind in diesem Sinne zugleich ästhetischer Ausdruck und Praxis des Navigierens. Wenn die Praxis des Navigierens sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die Jugendlichen Möglichkeiten ergreifen und sich welche schaffen, wo keine zu sein scheinen, sind sie dann nicht einfach nur als Antworten der Jugendlichen auf die neoliberale Ideologie der Selbstverantwortung und des Selfmaking – wie es der Slogan Just do it des Lifestyle-Unternehmens Nike vorschlägt – zu verstehen? Der Wunsch nach einer Verbesserung der individuellen Lebenssituation steht im Vordergrund der Praktiken des Navigierens. Gleichzeitig brauchen und kreieren diese Praktiken auch Gemeinschaften: Die Gemeinschaft der Straßenverkäufer, die sich als ouled el houma (Jungs aus der Nachbarschaft) identifizieren, die Jugendlichen, die die geschützten halböffentlichen Räume der Jugendinstitutionen als Begegnungsorte für gemeinschaftliche Aktivitäten nutzen und sich dadurch von den Jugendlichen der Straße abgrenzen, und die Tänzer*innen und Traceure, die über die Praxis global verbreiteter Bewegungskünste neue translokale Gemeinschaften schaffen und ihre Subjektivitäten in den öffentlichen Stadträumen performen. Mit einer kurzen Rückschau auf die in den vorigen Kapiteln dargestellten Beispiele des Navigierens soll die politische Bedeutung des Navigierens genauer betrachtet werden. Die Jugendlichen, die auf der Straße navigieren, reaktivieren die Bedeutung der houma, um ihr Recht auf die Straße sowohl gegenüber dem Planungssystem als auch gegenüber den barrania (Zugezogenen, Fremden) durchzusetzen. Der Respekt der Ehre (horma) und der Solidarität als traditionelle Werte der houma

8. Fazit und Ausblick

(Nachbarschaft) finden sich heute in übertriebener und erweiterter Bedeutung im Männlichkeitsethos (la redjla) der Jugendlichen wieder. Durch die Ausbildung von Gruppen, die sich als Kinder des Viertels bezeichnen, nehmen sich so das Recht, die öffentlichen Räume ihrer Viertel in Besitz zu nehmen. Die Identifikation mit der Nachbarschaft (houma) trägt dazu bei, Solidaritäten zu stärken und hat für die Jugendlichen somit ermächtigende Funktion. Die Jugendlichen greifen dazu auch auf die lokale Widerstandskultur, die ihren Ursprung in der Dekolonisierung hat, zurück. Mit zahlreichen Symbolen und Ritualen erhalten sie die widerständige urbane Kultur Algiers lebendig. Durch die Bezeichnung der informellen Praktiken als Navigieren sowie das Ersetzen der Begriffe Trabendo durch Business, der houma durch Sektor usw. eignen sich die Jugendlichen Diskurse der neoliberalen und militarisierten Stadtplanung an und legitimieren die informellen Praktiken als Selbsthilfe in der ›umkämpften Stadt‹. Sie stellen sich als Selbstunternehmer*innen dar, die sich weder auf staatliche oder zivilgesellschaftliche Wohlfahrt noch auf Patron-Klient-Beziehungen verlassen. In diesem Sinne hat das Navigieren der Straßenverkäufer*innen, auch wenn es gegen Gesetze und die geplante Funktion der öffentlichen Räume verstößt, eine den Status quo stabilisierende Wirkung. Aus Sicht der Planung wiederum stören die informellen Praktiken, insbesondere im Hinblick auf die Umgestaltung und Aufwertung zentral gelegener Räume, die vom Straßenhandel befreit werden sollen. Wenn die Jugendlichen in ihren Freiräumen eingeengt werden, kann es zu Kritik, aber auch zu Konfrontationen kommen. Seit der Oktoberrevolte sind die Jugendlichen ins Spannungsfeld der Politik geraten. Die Jugendlichen nutzen die Diskurse über die ›verlorene Jugend‹, um die Praktiken des Navigierens zu legitimieren und sich Freiräume zu schaffen. ›Sie haben Recht‹, hieß es im öffentlichen Diskurs nach den Januarunruhen 2011. Das Informelle hat sich in Algier seit den 1980er-Jahren zu einem breiten Beschäftigungsfeld der Jugend ausgeweitet, das nicht mehr nur in Schattenräumen, sondern sichtbar im öffentlichen Raum stattfindet. Dennoch ist es kein neues Phänomen. Wie z.B. die Studien von Bourdieu gezeigt haben, war der Alltag der vom Land zugezogenen Indigenen in der kolonialen Stadt von der Suche nach Möglichkeiten, Ungewissheiten und prekären informellen Beschäftigungen geprägt. Seit dem Schwarzen Jahrzehnt ist das Bild der ›Jugendlichen der Straße‹ besonders im Zusammenhang mit der diskursiven Konstruktion von Gegenorten durch Gewalterzählungen jedoch auch mit negativen Konnotationen besetzt, die das Navigieren in informellen Räumen im öffentlichen Diskurs delegitimieren. Das Arbeiten auf der Straße ist daher auch mit einem Stigma behaftet. Die Regierung wiederum schwankt zwischen Toleranz und Repression gegenüber dem Straßenhandel. So wurde z.B. die Ausbreitung des informellen Handels vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings in der kritischen Presse als Zeichen der Schwäche des Regimes interpretiert, das die Empörung der marginalisierten

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Jugend und Widerstand in Algier

Jugend so abzumindern versucht haben soll. Im Rahmen der Umgestaltung des Märtyrer-Platzes wurde der Straßenhandel seit 2012 jedoch langfristig unterbunden. Die Aufwertung durch den Bau der Metrostation mit integriertem Museum des Platzes wurde von einigen Interviewpartner*innen, die dort im Straßenhandel aktiv waren, jedoch auch positiv bewertet. Der bis 2012 empfundene Aufschwung Algeriens und das Bild des ›neuen Algiers‹ haben dazu beigetragen, dass viele Jugendliche der Zukunft optimistisch entgegensehen. Besonders deutlich wurde der Optimismus bei den Jugendlichen, die die Bildungsangebote in den Jugendinstitutionen nutzen. Sie sehen (Hoch-) Schulabschlüsse und zusätzliche Qualifikationen wie Fremdsprachen- und IT-Kenntnisse als Voraussetzung dafür, etwas erreichen zu können. Die Jugendlichen, die die halböffentlichen Räume der Jugendvereine besuchen, grenzen sich somit von den negativen Zuschreibungen der Jugendlichen der quartiers populaires als Jugendliche der Straße ab. Der Besuch und die Aneignung der Bildungsinstitutionen werden hier als Waffe gegen dominante Repräsentationen der hittistes und der jeunes de la rue (Jugendlichen der Straße) eingesetzt. Die Besucher*innen der Bibliothek und der anderen Jugendvereine legen Wert auf Bildung und kulturelle Aktivitäten. Für die Jugendlichen aus den städtischen Randgebieten sind die Jugendinstitutionen in den zentral gelegenen quartiers populaires außerdem ein Refugium, das es ihnen ermöglicht, im Zentrum der Stadt präsent zu sein, ohne sich fehl am Platz zu fühlen. Außerdem bieten ihnen die halböffentlichen Räume Sicherheiten und Freiräume. Den Mädchen und jungen Frauen aus der Nachbarschaft ermöglichen die Jugendeinrichtungen Teilhabe am städtischen Leben und bieten ihnen einen geschützten öffentlichen Begegnungsraum. Davon profitieren auch die Jugendlichen, die subkulturelle oder gemischte Aktivitäten ausüben, die in der Nachbarschaft schlecht angesehen sind. Die Jugendeinrichtungen sind also auch Räume, die Überschreitungen ermöglichen, die hegemoniale Ordnung der Nachbarschaft unterwandern und auf diese Weise auch geschützte Freiräume bieten. Fast alle Jugendlichen in den Vereinen haben die familiäre Atmosphäre dort betont. Die geschützten öffentlichen Räume werden so auch zu Räumen, in denen die gemeinschaftlichen Werte der houma – Solidarität und Gemeinschaftssinn – wiederbelebt werden. Gleichzeitig schützen diese vor der sozialen Kontrolle der Nachbarschaft. Einige junge Frauen bevorzugen es dennoch, Jugendeinrichtungen in anderen Stadtteilen aufzusuchen. Als Begegnungs- und Freiräume können die Jugendeinrichtungen, selbst wenn sie vom Staat kontrolliert werden, daher auch eine Voraussetzung für die Mobilisierung Jugendlicher sein, da hier junge Menschen zusammenkommen, die sowohl soziale als auch politische Ausgrenzung erfahren und so vielleicht ein Generationsbewusstsein entwickeln. In der Theatergruppe des Jugendhauses oder im Jugendverein betreiben Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Stadtvierteln gemeinsame Aktivitäten wie Theater oder Streetdance.

8. Fazit und Ausblick

Die Gegenüberstellung der Jugendlichen von der Straße und den Jugendlichen der Bildungsräume ist jedoch eine reduzierende Darstellung. Die alltäglichen Navigationen der jungen Leute zeigen, dass es auch Jugendliche gibt, die sich in der Bibliothek aufs Abitur vorbereiten und nebenher z.B. als Parkingeur (Parkwächter) auf der Straße zur Existenzsicherung der Familie beitragen. Die Streetdancer und Traceure navigieren in den öffentlichen Räumen der Stadt ebenso wie in den Jugendinstitutionen, die sie als Proberäume oder für die Gründung eigener Vereine nutzen. Sie definieren sich zugleich über als auch gegen die Straße und besetzen die Bedeutung der houma neu, indem sie in die entterritorialisierten Landschaften globaler Jugendkulturen eingebettet wird. Die Jugendlichen, die über ihre Viertel hinaus die öffentlichen Räume der Stadt navigieren und sich aneignen, performen ihre Identitäten als Jugendliche, Bewohner*innen der quartiers populaires und Zugehörige transnationaler Gemeinschaften. Die Aneignung des Makam Shahid (Märtyrerdenkmal) als Treffpunkt für die Tänzer*innen aus unterschiedlichen Stadtvierteln symbolisiert das Vordringen der Ausgegrenzten in die zentralen Orte der Stadt. Gleichzeitig tragen die Jugendlichen sowohl durch ihre Performanz im öffentlichen Raum als auch durch die medialen Repräsentationen ihrer Praktiken dazu bei, ein anderes Bild der Stadt zu prägen. Das Bild der algerischen Jugend hat sich seit der Jahrtausendwende verändert. Auch wenn es in Algerien 2011 keine breitere oppositionelle Jugendbewegung gegeben hat, konnte bereits vor dem Ausbruch der Hirak-Bewegung im Februar 2019 von einer Jugend-in-Bewegung die Rede sein, die ihrem ›Recht auf die Stadt‹ in Form von lauten und leisen Protesten Gehör verschafft. Navigieren kann als konformes Handeln der marginalisierten Jugend interpretiert werden, die versucht, mit den Mitteln und Möglichkeiten, die ihr die Stadt bietet, etwas aus ihrem Leben zu machen. Navigieren kann jedoch auch ermächtigende und widerständige Wirkung entfalten, wenn der Blick auf die Dynamiken zwischen Marginalisierung, Vordringen und Widerstand gerichtet wird. Außerdem können die Praktiken des Navigierens die Teilhabe und somit auch politische Teilhabe Jugendlicher stärken, indem sie dazu beitragen Gemeinschaften zu stärken, Solidaritäten auszubilden und die Aneignung des öffentlichen Raums befördern.

Ausblick: Die Hirak-Bewegung 2019/2020 »Der Zündstoff war immer da. Es fehlte nur die Zündung. Kritik gab es auch 2011 schon. Aber sie wurde nicht gehört. Die Situation hat sich seitdem verschlechtert. Der Staat verpulvert Millionen. Aber keine Politik für die Jugend oder für das Volk. Nur für die Regierung. Wir wurden verachtet. Wir hatten einen Präsidenten im Rollstuhl, der sich zum 5. Mal wählen lassen wollte, obwohl ihn seit der 4. Wahl niemand mehr gesehen hatte. Sie sind so weit von der Realität entfernt oder es ist

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ihnen einfach so egal, dass sie es nicht kommen sehen haben. Aber das 5. Mandat war der Auslöser. Er wollte, dass sein Bruder dann die Präsidentschaft übernimmt. Wie in einem Königreich. Wir waren es leid. Aber niemand hat es kommen sehen. Am 22.2. dann auf einmal tausende auf der Straße. Der Staat hatte keine Ahnung gehabt. Die Generation der 2000er, die haben das alles nicht erlebt, sie kennen keinen Terrorismus, sie haben keine Angst, für sie braucht es eine Revolution. Und die Netzwerke haben alles zeitgleich verbreitet, in allen Städten waren die Menschen auf der Straße. Der Staat war nicht vorbereitet. Er wurde richtig überrascht. Die Welt machte sich über uns lustig mit so einem Präsidenten. Und dann das 5. Mandat. Das war zu viel. Das Volk hat sich die Bühne zurückerobert. Sie haben sich sehr zivilisiert verhalten. Vorher waren Demonstrationen verboten, weil sie oft in Rebellionen ausgeartet sind wegen der Randalierer. Am 22.2. ist nichts passiert. Es war sehr friedlich. Tausende sind auf die Straße gegangen. In Frankreich hingegen, die Proteste der Gelbwesten! Wow, scheinbar sind wir doch nicht so barbarisch! Auch am nächsten Freitag gingen wieder alle auf die Straße, aber der beste Tag war der 8. März (2019), der Frauentag. Da waren wirklich alle draußen und sehr friedlich, das hat alles verändert, von da an ging es ungefähr sechs Wochen so, dass der Staat es geduldet hat. Jetzt beginnt der Staat sich wiederaufzurichten. Er geht strategisch vor, kauft Netzwerke auf, die sich dann gegen die Demonstrationen äußern. Die Demonstranten werden weniger. Das Volk will die Wahlen boykottieren. Wir wollen, dass sich das ganze System ändert. Ich dachte, dass es wie 2011 sein würde. Ein paar Demos und dann vorbei. Aber dann war es nicht so. Meine Generation ist sehr misstrauisch. Nach allem was wir erlebt haben und unsere Erfahrungen als zivilgesellschaftliche Akteure. Wir wissen, dass sie ihren Platz nicht einfach freimachen werden. Sie warten hinter der Kurve auf uns! Sie werden alles versuchen, um an der Macht zu bleiben. Aber die Jungen sind optimistisch und das ist gut so. Sie versuchen es und wenn sie es schaffen, umso besser! Wir arbeiten weiter in unserer Rolle als zivilgesellschaftliche Akteure. Aber etwas Positives ist bereits geschehen. Die Menschen haben Hoffnung. Viele, die früher an die Emigration gedacht haben, wollen jetzt bleiben. Sie glauben, dass sie etwas Positives erreichen können. Aber wie lange werden sie das noch glauben?« (Interview mit Anis, Mitgründer des Jugendvereins (Kap. 7.4, telefonisches Interview, 24.6.2019) Die Ankündigung der 5. Kandidatur des seit 2001 amtierenden Präsidenten Boutef likas war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am 22. Februar 2019 gehen tausende Menschen in der algerischen Hauptstadt auf die Straße: »Für mich war es ein Schock und auch ein Stress-Faktor. Stressig, weil die Zukunft des Landes ungewiss bleibt und leider hält diese Unsicherheit weiter an. Aber auf jeden Fall war ich auch stolz, dass die Bürger eine gewisse Angstmauer zerbrochen

8. Fazit und Ausblick

haben und rausgegangen sind, um ihre Rechte zu fordern.« (Nadia, 20 Jahre alt, telefonisches Interview, 26.6.2019) Die Demonstration startet in Bab el-Oued nach dem Freitagsgebet und weitet sich rasch im Stadtzentrum aus. Der Protest gegen die Wiederwahl erweitert sich zu einem Protest gegen das System und für radikalen Wandel. Erstmals seit der Unabhängigkeit protestiert das algerische Volk geeint, friedlich und kontinuierlich. Entgegen dem Bild einer gespaltenen Nation vor 8 Jahren traten die Jungen und Alten, Frauen und Männer, konservative politische Kräfte und Feminist*innen in ihrem Protest gegen die Wiederwahl des algerischen Präsidenten Boutef lika und später gegen die gesamte Herrschaftselite geschlossen auf. »Die Hirak-Bewegung hat die Geschichte Algeriens geprägt. Die hat der Welt gezeigt, dass das algerische Volk immer geeint und für sein Land einsteht, ich glaube, dass diese Hirak-Bewegung sogar die algerische Mentalität verändert hat und gezeigt hat, wie verantwortungsbewusst dieses Volk ist, wie kultiviert und reif die Jugendlichen sind und all das betrachte ich als wirklichen Wandel.« (Lina, 24 Jahre alt, 28.6.2019) Die friedlichen und geordneten Performanzen der algerischen Bürger*innen im öffentlichen Raum tragen schnell dazu bei, den offiziellen Diskurs, der die Demonstrationen in das ›syrische Chaos‹ münden sieht, zu widerlegen. Bis heute haben sich keine ideologische Ausrichtung und keine Führungsfiguren hervorgehoben. Unterschiedliche Gründe werden für das Ausbrechen der Hirak-Bewegung genannt: »Einige Lesarten der Bewegung nannten das Timing der Bewegung als politische Gelegenheit aufgrund des günstigen Moments der Wahlen in einem autoritären Kontext, andere betonten die Rolle der neuen Technologien in der Strukturierung der Netzwerke, die die Bewegung tragen. Andere erklären das Ausbrechen der Bewegung mit dem Rückgang öffentlicher Gelder und der Korruption, die die Unzufriedenheit des Volkes genährt hätten. Und wieder andere bestehen auf den Beitrag der Jugend und beschreiben das Hervortreten einer politischen Generation, die sich von alten Traumata befreit hätte und Träger einer demokratischen Erneuerung sei.« (Derradji & Gherbi 2019, 1) Die Jugend würde die Bewegung mit ihrer ungebrochenen Hoffnung auf einen tiefgreifenden Wandel in Bewegung halten und den Befreiungskampf des algerischen Volkes fortführen. Mit ihren friedlichen Protestformen brechen die jungen Leute auch mit dem Bild der Generation von 1988. Seit der Oktoberrevolte waren Repräsentationen der algerischen Jugend eng verknüpft mit lauten und violenten

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Formen des Protests auf der einen Seite und stillen verdeckten Formen des Widerstands auf der anderen Seite, beispielsweise durch die Darstellung des harraga-Phänomens als Protest der Jugend (Kapitel 4.4). Mit dem Ausbrechen der Hirak-Bewegung sei hingegen die Hoffnung auf ein ›anderes‹ Algerien an die Stelle des Migrations-Wunsches getreten. In der Hirak Bewegung ist auf den Plakaten zu lesen »Zum ersten Mal möchte ich mein Algerien nicht mehr verlassen« oder »Wir sind hier« (zitiert in Derradji & Gherbi 2019, 8). Was das Profil der jungen Menschen betrifft, sind Jugendliche aus allen sozialen Schichten bei den Demonstrationen vertreten. »The Hirak is not solely a young peoples’s movement, but the young are at the head of the marches. They are more of them and they are more vociferous.« (Intissar Bendjabellah, feministische Aktivistine, zitiert in: Metref (2019) Hierbei wird insbesondere auf die Rolle der sozialen Netzwerke verwiesen, über die vor allem die jungen Menschen vernetzt sind aber auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit wird als Grund für die starke Präsenz junger Menschen in der Bewegung genannt (Aziz 2019). Und dennoch kann auch in der Hirak-Bewegung nicht allgemein von der mobilisierten Jugend gesprochen werden. Nicht alle Jugendlichen sind in der Bewegung aktiv: »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich habe mich immer verloren gefühlt zwischen verschiedenen Ideologien und Meinungen. Ich habe keine wirkliche Meinung über die Hirak-Bewegung.« (Rafik, 20 Jahre alt, Interview, 23.6.2019) Auch wenn es sich bei der Hirak-Bewegung nicht um eine Jugendbewegung handelt, ist die Jugend dennoch auch mit jugendspezifischen Forderungen und Protestformen vertreten. Dienstags demonstrieren z.B. die Student*innen, diese fordern z.B. auch die Abschaffung der Universitätsgebühren (Aziz 2019). Das Profil der Demonstrant*innen ist divers, jedoch nicht frei von Machtkämpfen. So erlebte beispielsweise das feministische Carré, dass Frauenrechtler*innen gebildet hatte, um demonstrierenden Frauen und ihren feministischen Forderungen einen eigenen geschützten Raum innerhalb der Bewegung zu geben, Anfeindungen und Spaltungsvorwürfe (Djelloul & Mezoued 2019). Auch soziale Ungleichheiten und daraus resultierende Spaltungen werden durch die Bewegung nicht aufgehoben. Ouamar, 27, steht dem Bild der geeinten Bewegung kritisch gegenüber: »Ihr wollt Hand in Hand für Veränderung demonstrieren, das ist eine gute Sache. Aber warum fangt ihr nicht damit an, die Situation der armen kranken und benachteiligten Menschen zu verändern, der Männer, Frauen, Kinder und Babys…? Ich weiß nicht wie die anderen es sehen, aber für mich ist das das Wichtigste. Ich bin bereit für die Hirak, aber ich bin für einen grundlegenden Wandel.« (Ouamar, 27 Jahre alt, 27.6.2019)

8. Fazit und Ausblick

Dennoch ist die Bewegung in ihrem Protest und ihrer Verweigerung seit nunmehr einem Jahr geeint geblieben. Der Historiker Benjamin Stora (2020) bezeichnet die algerische Gesellschaft als Verweigerungs-Gesellschaft (société de refus), deren kollektives Verweigerungs-Bewusstsein aus der kolonialen Herrschaftszeit herrührt, die von Anfang bis Ende von Widerständen geprägt war (Kapitel 2). Die Erinnerung an den Befreiungskampf, der großen nationalen Erzählung, wird auf gewisse Weise wiederbelebt, jedoch nicht um die aus dem Befreiungskampf hervorgetretene Regierung der nationalen Befreiungsfront (FLN) zu unterstützen, sondern um sich von ihr zu befreien. Sprüche wie »Kein Dialog und keine Wahlen mit der Mafia« und die Forderung nach »Unabhängigkeit« (Djelloul & Mezoued 2019) zeigen wie sehr die Autoritäten delegitimiert werden. Indem sich die Demonstrant*innen selbst in die Reihe der glorreichen Figuren des nationalen Befreiungskampfes einfügen, legen sie sich selbst die Pf licht auf zu handeln und fühlen sich gleichzeitig dazu bef lügelt handeln zu können. Auf diese Weise beleben sie die Hoffnung wieder, dass die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft wiederaufgerichtet werden kann. Eine Beziehung, deren schlechter Zustand sich in den letzten Jahren in den immer wiederkehrenden Unruhen (Kapitel 4.2) und anderen Protestformen gezeigt hat (Derradji & Gherbi 2019, 7). Die Demonstrant*innen greifen auf die kollektive Erfahrung mit den Kämpfen für die Würde zurück. Die nationale Meistererzählung unterstützt somit den Subjektivierungsprozess der Demonstrant*innen im öffentlichen Raum (Derradji & Gherbi 2019, 1). Sowohl was die Artikulation der Forderungen betrifft, als auch was das Repertoire an Aktionen betrifft, beziehen sich die Demonstrant*innen auf den kollektiven Erfahrungsschatz, sowohl um auf ihn zurückgreifen, als auch um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Besonders deutlich wird das an der Wiederbelebung alter Symbole der nationalen Meistererzählung: patriotische Lieder, Heldenfiguren des Unabhängigkeitskampfes und das Schwingen und Tragen der nationalen Fahne als Zeichen der unerschütterlichen Verbindung mit dem Land. (Derradji & Gherbi 2019, 2) »Ein einziger Held, das Volk!«, einer der bekanntesten Slogans der Befreiungsbewegung erscheint wieder auf den Plakaten. Die Portraits von Larbi Ben’Mhidi oder Ali la Pointe, mythische Figuren der Revolution, werden als Zeichen eines wiedererlangten Ruhms geschwungen. Ihre Bilder stehen im Kontrast zum Präsidentenportrait, das zum Synonym des Personenkults geworden ist.« (Derradji & Gherbi 2019, 2) Ein weiterer Slogan der Hirak-Bewegung lautet: »Sich bewegen ist gut für die Gesundheit, demonstrieren ist gut für die Würde.« (zitiert in: Derradji & Gherbi 2019, 4) Das aus den Fußballstadien bekannte Lied »La Liberté« der Gruppe La Casa de Mouradia wurde im Remix mit dem in Frankreich lebenden Rapper Soolking zur Hymne der Bewegung in den Straßen Algiers. Die Performanzen im öffentlichen Raum bieten die Gelegenheit, ein positives und aufgewertetes Selbst zu erschaffen, dass die Zuschreibung abwertender Ka-

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tegorien verwirft und insbesondere mit den Bildern aus den Jahren des Terrorismus bricht und den blutigen Machtkämpfen in anderen Ländern der MENA-Region. Moncef, ein junger Algerier, zitiert von Derradji & Gherbi (2019), drückt es so aus: »Die Regierung versucht den Eindruck zu erwecken, dass wir Wilde sind, dass wir uns nicht ausdrücken können und nicht friedlich demonstrieren können, aber wir sind dabei, das Gegenteil zu beweisen.« Sein Freund Abir fügt hinzu: »Wir wollen das Bild eines zivilisierten Volkes zeigen, das weiß, was gut für sein Land ist.« (zitiert in Derradji & Gherbi 2019, 5) Bei der kollektiven Besetzung des öffentlichen Raumes geht es also auch darum, dass sich das Selbst so zur Schau stellt, wie es gesehen werden möchte (Derradji & Gherbi 2019, 7), ähnlich wie bei der Performanz urbaner Bewegungskünste im öffentlichen Raum (Kapitel 7). Der Zugang zum Demonstrieren im öffentlichen Raum ist jedoch auch mit der Überwindung von Barrieren verbunden. Wie in Kapitel 3 und 4 ausführlich beschrieben wurde, hat die Unsicherheit und Destabilisierung in Folge des Schwarzen Jahrzehnts zu einer Hyper-Versicherheitlichung des urbanen Raums geführt (Djelloul & Mezoued 2019). Das Stadtzentrum mit seinen symbolischen Orten des Widerstands ist seitdem im Namen der Sicherheitspolitik fast vollständig vom Staat konfisziert. Für die Demonstrant*innen der Hirak-Bewegung birgt das eine Reihe von Herausforderungen. So fahren z.B. freitags seit dem Beginn der Hirak-Bewegung keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr ins Stadtzentrum. Die Zugangsstraßen der Vororte sind gesperrt. Zentrale Orte wie die große Post werden hermetisch abgeriegelt. Den Demonstrant*innen ist es dennoch gelungen im Zentrum präsent zu bleiben, ohne dass es zu größeren Zwischenfällen zwischen Polizei und Demonstrant*innen gekommen ist. Sie reagieren f lexibel auf die Mobilitätseinschränkungen, übernachten bei Freunden im Zentrum, laufen weite Strecken, nutzen die informellen Taxis und neuen Fahrdienste à la Uber. Die Demonstrationen zeichnen sich durch gute Organisation und Vernetzung der Demonstrant*innen aus und ihre permanente Erinnerung an die Wichtigkeit der friedlichen Ausrichtung der Bewegung: »silmya (friedlich)« wird auf Plakaten ebenso wie in zahlreichen Posts in den sozialen Netzwerken gefordert. Die Orangenen Westen stellen sich wortwörtlich zwischen Polizeikräfte und das demonstrierende Volk. Andere Gruppen haben die Säuberung der Straßen nach den Demonstrationen übernommen. Immer wieder zeigen die Demonstrant*innen den Sicherheitskräften, dass sie nicht gegen sie, sondern mit ihnen auf der Straße sein wollen: die einen überreichen den Polizisten Blumen, die anderen fotografieren ihre Kinder mit ihnen. Durch den friedlichen und festlichen Charakter der Bewegung werden bald schon Stimmen laut, die die Ernsthaftigkeit der Bewegung und ihrer Ziele in Frage stellen.

8. Fazit und Ausblick

Doch die Demonstrationen halten an, nach dem Rücktritt und schließlich nach der Verurteilung Boutef likas, auch nachdem immer weitere Politiker*innen und Unternehmer*innen verurteilt werden, auch nachdem die Wahlen verschoben werden, auch vor den Wahlen, auch nach den Wahlen. Auch nachdem zahlreiche Demonstrant*innen und Aktivist*innen darunter bekannte Menschenrechtler*innen verhaftet wurden und auch nachdem ein Teil der politischen Gefangene wieder freigelassen und wieder andere verhaftet wurden. Am 14. Februar 2020 findet bereits die 52. Freitagsdemonstration statt. Die algerische Bewegung gleicht in ihrer Forderung nach radikalem Wandel einer revolutionären Bewegung, richtet sich aber in der friedlichen Protestform an sozialen Bewegungen aus und ist durch ihre friedlichen aber radikalen Forderungen nach Wandel weltweit ein einzigartiges Phänomen. Die Jugend bleibt weiterhin die treibende Kraft der Bewegung: »Ich bin optimistischer geworden, ich weiß, dass wir trotz aller Schwierigkeiten die uns erwarten einen Wandel schaffen können.« (Nadia, 20 Jahre alt, 26.6.2019)

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Abkürzungsverzeichnis

AHDR: ANSEJ: APC: CCCS: CNCD: CNEA: CREAD: FFS: FLN: FIS: GIA: G.P.U.: ISESCO: JSK: MCA: MENA Region: MJIC: OECD: ONS: PPSMVSS: PPA: RAJ: SONA: TNA: UGT: UN: UNEA: UNJA: USMA:

Arab Human Development Report Agence Nationale de Soutien à l’Emploi des Jeunes Assemblées Populaires Communales Centre for Contemporary Cultural Studies (Birmingham) Coordination Nationale Pour le Changement et la Démocratie Collège National des Experts Architectes Centre de Recherche en Economie Appliquée Front des Forces Socialistes Front de Libération Nationale Front Islamique du Salut Groupe Islamique Armé Grand Projet Urbain slamic Educational, Scientific and Cultural Organization Jeunesse Sportive de la Kabylie Mouloudia Club d’Alger Middle Eastern North African Region Mouvement de la jeunesse indépendante pour le changement Organization for Economic Cooperation and Development Office National des Statistiques lan Permanent de Sauvegarde et de Mise en Valeur du Secteur Sauvegardé Parti du Peuple Algérien Rassemblement Actione Jeunesse Socétés Nationales Théâtre National Algérien Union génerale des travailleurs United Nations Union Nationale des Etudiants Algériens Union Nationale de la Jeunesse Algérienne Union Sportive des Muselmanes Algériens

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