Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre: Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens 3787311785, 9783787311781

Herders Geschichtsdenken zählt zu den herausragenden Leistungen des späten 18. Jahrhunderts. Der Band zeichnet anhand ei

121 35 15MB

German Pages 382 [378] Year 1995

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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Analytisches Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Einleitung
1. Der denkgeschichtliche Horizont
2. Probleme der quellengeschichtlichen Methode
Erster Teil - Das Methodenproblem der Anthropologie
1. Newtons Affe
2. Die Anthropologie in Herders Versuch über das Seyn
3. Enzyklopädische Ordnungen bei Diderot und d'Alembert
4. Naturgeschichtliche Folgerungen: Systema naturae oder »ordre momentané«
5. Kants und Herders »negative Wissenschaft«
Zweiter Teil - Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele
1. Nosce teipsum: Die Psychologie der Persönlichkeit
2. Herders Auseinandersetzung mit der Erkenntnislehre Poirets
3. Kulturelle Differenzierungen des seelengeschichtlichen Anfangs
4. »Geisterphysick«
5. Der Grundstoff der Seele
Dritter Teil - Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders
1. Historische Kunst oder scientia historica
2. Die »Physik der Geschichte«
3. Eine »Olympische Offenbarung«
4. Gewohnheit und Erziehung
5. Die Lehre vom »Denkbild«
6. Chronologische Ordnungen der Geschichte
7. Typus und »Hieroglyphe«
8. »Zeichendeuterey«: Von der Aeltesten Urkunde zu den Ideen
Anhang
1. Zwei Stücke aus Herders Nachlaß
2. Verzeichnis der Abbildungen
3. Abkürzungen
4. Bibliographie
A. Quellen
B. Forschungsliteratur
5. Indices
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Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre: Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens
 3787311785, 9783787311781

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RALPH HÄFNER

J ohann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 19

FELIX MEINER VERLAG· HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1178-1 ISBN E-Book: 978-3-7873-3042-3 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1995. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

ANA LYTIS CHES IN HA LTS VER ZEI CHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

VoR BE MER KUNG ............................................................

XVII

EIN LEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 . Der denkgeschichtliche Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Probleme der quellengeschichtlichen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 14

ERSTER TEI L Das Methodenproblem der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . 1. Newtons Affe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anthropologie in Herders Versuch über das Seyn . . . . . . . . . . . 3 . Enzyklopädische Ordnungen bei Diderot und d'Alembert . . . . . 4. Naturgeschichtliche Folgerungen: Systema naturae oder »ordre momentane« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kants und Herders »negative Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 25 29 39

Z wEITER TEI L Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele . . . . . . . . . . 1 . Nosce teipsum: Die Psychologie der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Herders Auseinandersetzung mit der Erkenntnislehre Poirets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 . Kulturelle Differenzierungen des seelengeschichtlichen Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . >> Geisterphysick>Physik der Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 . Eine >>Olympische Offenbarung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewohnheit und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Lehre vom »Denkbild« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 . Chronologische Ordnungen der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Typus und >>Hieroglyphe>Zeichendeuterey> etymologische Geschichte der Sprachen« und ihr Verhältnis zu Arnauld und Gassendi - >>former le jugement>subj ektive Philosophie>ordre momentane« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ordnung des dinglichen Seins - Charles Bonnets Logik des Lebendigen - Art und Individuum - Rousseaus botanisches Lexi­ kon - Die dihairetische Methode bei Linne - >>dispositio systema­ tica« - >>dispositio>denominatio>symetrie vegetale>symetrie passagere>or­ dre relatif a notre propre nature>Einfaches>Aggregat> Ganzen>Erziehung durch die Dinge>Physik der Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 89 Geschichte als Bewegungslehre bei Thomas Abbt - Herders Auf­ nahme der Letters B olingbrokes - Ganzes und Teil in der Geschichte - evenire, incidere - Herders Auslegung der Handlungen als Facten des menschlichen Verstandes - Ethik als Handlungs­ theorie - Das Problem der Zivilisation: >>Verworrenheit der Triebfedern und Umstände« - Guthrys und Grays Allgemeine Welt­ geschichte ( 1 765 ff.) - Rousseaus >>homme naturel« und Samuel Johnsons Auffassung des >>Standes der Wilden« - Geschichte als >>continuite d'attention« bei Helvetius - Pascals >>homme universel«.

Analytisches Inhaltsverzeichnis

XI

3. Ein e »Olympisch e Off enbarung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 99 Lokalisi erung d es Paradi es es: Pi err e Dani el Hu et und H erd er - Das Probl em ein er historisch en H erm en eutik - H erd ers sinn espsycho ­ logisch e Ausl egung d er biblisch en Genesis - Di e Duplizität d es punctum visus - Gatt er ers Abhandlung Vom Standpunkt - Verhältnis zwisch en » G ed enkkraft« und »Handlungsw eis e« - Winck el­ manns Deutung d er Skulptur en B erninis - G eschicht e als S eefahrt. 4. G ewohnh eit und Erzi ehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1 0 »Symbolisch e Handlung en« - Ursach en d er B eharrlichk eit d er Kultur Chinas - H erd ers Exz erpt aus Voltair es Essai - Erzi ehung als »zw eit e G eburt« in Bonn ets Essai de psychologie H erd ers Th es e ein es »Sprungs« zwisch en >Natur< und >Kultur< - H et eronomi e d er Kunst - Kulturg eschicht e als S eel eng eschicht e - G espräch mit d em Graf en Wilh elm üb er di e kultur ell e Progr ession - Di e Funktion d er »Nothdurft« in Diodors Kultur entst ehungsl ehr e >>Vernunft in Handlung«. -

5 . Di e L ehr e vom >>Denkbild« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1 6 >>Z eitforschung« - Poir ets L ehr e d er >>Imagination d e Di eu« H erd ers Exz erpt e aus Poir ets Oeconomie divine - Verhältnis zwi­ sch en >>Kosmogoni e« und >>Anthropog en esi e«.

6. Chronologisch e Ordnung en d er G eschicht e. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1 H eyn es Aufnahm e d er Aeltesten Urkunde - S ein Vorwurf d er >>Künst el ei« - Di e Pol emik g eg en Schl öz ers Vorstellung seiner Uni­ versal-Historie ( 1 772) - Di e Komp endi en zur Chronologi e Gatt er ers »chronologisch e Üb ersicht d er ganz en Histori e« - Di e Form historisch er Üb erli ef erung - Der ordo successivorum: >> Nation en« und »E poqu en« b ei Gatt er er - Gatt er ers Aufsatz Vom historischen Plan - Bossu ets Epoch enb egriff - Di e Kontinuitätshy­ poth es e Boscovichs - Hom er als Historik er in H erd ers Fragmenten - Gatt er er üb er d en Stil H erodots - H erd ers Studi en zu Winck el­ mann - >>Erfahrung und Urt eil« - H eyn es Winck elmann-Kritik ­ Lukian und Dionysios in d er Allgemeinen Historischen Bibliothek. 7. Typus und >>Hi eroglyph e« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Pyrrhonismus und antik e Sk epsis - Das Konz ept ein er logica pro­ babilium - »Wiss enschaftsg eschicht e« - Di epatristisch e L ehr evom

XII

Analytisches Inhaltsverzeichnis

Archetyp - Polyklets » Kanon« - Theophrasts Naturerkenntnis Robinets Lehre vom >>prototype« - Die künstliche Natur: Robinets Winckelmann-Rezeption - Schleys Titelvignette zu Robinets Werk - John Dees >>Anthropographie« und Giordano Bruno - Johann Sigismund Elsholtz' Anthropometria (1 663) - Der menschliche K örper als >>metron absolutissimum« - Zur Zahl der Sieben bei Elsholtz - Athanasius Kirchers >>Universae cognitionis Typus «.

8. >>Zeichendeuterey« : Von der Aeltesten Urkunde zu den Ideen . . . . . . 252 Herders Briefwechsel mit Heyne - Seine Methode in der Ge­ schichtsphilosophie von 1 774 - Kulturelle Verschiebungen - Das Emblem der >>Carita« in Cesare Ripas Iconologia und seine Funktion bei Herder - Die Zahl der Sieben bei Cicero - Kulturtypische Analogien in Carlo Deninas Staatsveränderungen von Italien und Boulangers Antiquite devoilee - Claudius' Rezension der ge­ schichtsphilosophischen Schrift - Die Bedeutung der Kritik Heynes an Winckelmanns >>Zeichendeuterey« - Immanenz des Wahr­ heitskriteriums - Die Naturgeschichte des menschlichen Verstandes - Polemik gegen Winckelmanns » Gründe a priori« - Campers anatomischer Bauplan der Lebewesen in kulturgeschichtlicher Per­ spektive. AN HANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

1. Zwei Stücke aus Herders Nachlaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Aufzeichnungen zum Problem einer >>negativen Wissenschaft« B. Auszüge aus den Nachschriften nach Pierre Poirets Oeconomie divine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a . Schriften Herders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. ungedruckte Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ß . gedruckte Manuskripte ( außer SWS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y . Werkausgaben, Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ausgaben einzelner Schriften und Rezensionen . . . . . . . . . . . . b. Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a . Manuskripte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ß. gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265 267 269 274 280 281 281 281 281 281 282 282 283 283 283

Analytisches Inhaltsverzeichnis

XIII

B. Forschungslit eratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a . Schrift en zum Werk H erd ers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . a. Bibliographi en, Forschungsb ericht e, z u H erd ers Biblioth ek, zum Nachlaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ß. Samm elbänd e, Tagungsakt en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y. Unt ersuchung en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b . Sonstig e Schrift en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Samm elbänd e, Tagungsakt en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ß. Unt ersuchung en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 302 302 313 313 314

5 . Indic es . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340

A. Nam en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340

B . Sach en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

352

C. Werk e H erd ers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

301 301

PARENTIBUS OPTIMIS

VoRBEMERKUNG

Die vorliegende Studie basiert auf meiner im Wintersemester 1991 /92 von der Philosophischen Fakultät der Universität München angenommenen Disser­ tation. Sie erscheint hier in leicht veränderter, vor allem um die neueste Forschungsliteratur ergänzter Fassung. Ihre Ergebnisse verdanken sich nicht zum geringsten Teil der anregenden Teilnahme von Herrn Professor Wolf­ gang Proß, der die Arbeit betreut hat. Zu danken habe ich ferner Herrn Professor Gerhard Neumann, der als Korreferent die Entstehung meiner Dissertation von Anfang an begleitet hat. Herrn Professor Ernst Fischer sei für die Anfertigung des Drittgutachtens herzlich gedankt. Bei Gelegenheit dieser Vorbemerkung m öchte ich insbesondere den Pro­ fessoren Hugh Barr Nisbet und Wilhelm Schmidt-Biggemann für ihre freundlichen Anregungen danken, die ich mir bei der Überarbeitung zu­ nutze machen konnte. Mein herzlicher Dank gilt endlich Herrn Professor Werner Beierwaltes, dessen stete Teilnahme und Ermutigung ganz entschie­ den den Fortgang der Arbeit gef ördert hat. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner der Handschriftenabteilung der Staats­ bibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, für die freundliche Druckge­ nehmigung der im Anhang edierten Texte aus Herders Nachlaß, der Bayerischen Staatsbibliothek in München für die Anfertigung eines Teils der Abbildungen, der Verwertungsgesellschaft Wort für die Bewilligung eines großzügigen Druckkostenzuschusses sowie der »Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts« für ihre Freundlichkeit, die Untersuchung in die Reihe ihrer >>Studien« aufzunehmen. München, im März 1 994

Ralph Häfner

EINLEITUNG

1 . Der denkgeschichtliche Horizont Die methodischen Voraussetzungen der Anthropologie Herders berühren sowohl grundsätzliche Probleme der historischen Methode im achtzehnten Jahrhundert als auch die Eigenart der von ihm entfalteten Kulturgeschichte; ihre Beziehung auf die seinerzeit bekannten historischen Quellen ist von dem Bemühen geprägt, vermittels >>antiquarischer Nachspürungen« 1 die >>Urquellen der Gewißheit«2 zu entdecken und von dort aus die Entwick­ lung des menschlichen Verstandes in seinen geschichtlichen Formen zu rekonstruieren. Begriffen durch die Tradition eines cultus animi, meint Kultur, in unterschiedlicher Akzentuierung zum Beispiel schon bei Cicero und dann wieder bei Giovanni Pico della Mirandola, bei Francis Bacon, Pufendorf, Diderot und Hemsterhuis,3 die Bildung des Verstandes, wie sie sich in den mannigfaltigen Konkretionen menschlichen Handeins erweist. Geschichtliche Erkenntnis umfaßt hierbei auch die Erkenntnis der dieses Handeln leitenden Kultur des Geistes, inwiefern sie sich aus den überliefer­ ten Zeugnissen einer beständigen Wirksamkeit des menschlichen Verstandes selbst erschließt und durch sie immerfort modifiziert. Jacob Burckhardt schrieb im Jahr 1 8 82: »Das Verhältnis der Kulturgeschichte zum Quellenstu­ dium ist ein sehr günstiges; die Quelle ist ihr schon als Denkmal und Bild einer bestimmten Zeit und Nation interessant, nicht bloß als Fundort einzel­ ner Ereignisse; das kulturgeschichtliche Auge liest anders als das geschi ehtt Br. 1,322. 2 Br. 11, 196. 3 Cf. Cicero, Tusc. 11,1 3 : »Ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sie sine doctrina animus; ita est utraque res sine altera debilis. cultura autem animi philosophia est«; De [in. V,54: »animi cultus ille erat ei quasi quidem humanitatis cibus.« Cf. Brutus, ed. Kytzler, 4,16. Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, ed. A. Buck, Harnburg 1 990, 34; Francis Bacon, The A dvancement of Learning, ed. G. W. Kitchin, London, Melbourne 1986, 168: »In the culture and eure of the mind, two things are without our command; points of nature, and points of fortune.« Daran anschließend Denis Diderot im Prospectus de l'Encyclopedie (CEuvres completes, Paris 1 975 ff., V,129): »science de Ia culture de l'ame. « Fram;:ois Hemsterhuis, Lettre sur l'homme et ses rapports ( 1 772), in: CEuvres philosophiques, ed. L. S. P. Meyboom, Leeuwarden 1 846 ff., 1, 149. - Der Gedanke eines ljiUXfi� t7tlj.!EAEicr9at ist bereits platonisch: cf. Alcibiades primus 127 e 1 - 1 35 e 8 passim, bes. 132 c 1 - 2. Zur Begriffsgeschichte vor allem im Hinblick auf Pufendorf vgl. J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1 9 4 1 , 1 32 - 1 70, zu Herder: 2 1 3 - 2 1 8.

2

Einleitung

li ehe. Die Kulturgeschichte ist jedoch überhaupt nur aus Quellen mit Nutzen zu lernen, nicht aus Handbüchern.«4 In dieser Perspektive gibt sie Zeugnis von der >> Kontinuation des Geistes «, von der >>Entbindung des Geistigen vom Materiellendrey Perioden oder drey Zeitalter« der Sprachen durch ihre Folge: ( 1 ) >>Nennw örter«/>>anschauende Kenntnisse«, (2) >>einfa­ che Sätze«, (3) >> Zusammengesetzte Sätze« 1 7 die Gliederung der diesbezügsws XIV,476. Johann Georg Sulzer, Vermischte philosophische Schriften, Leipzig 1 773/1 7 8 1 , 1,178. 13 Vgl. den Untertitel zur Logik von Port-Royal; Descartes hebt im Discours de la Methode ( 1 637) den lebenspraktischen Sinn dieses Gedankens hervor: »former le jugement« (S. 8) meint bei ihm soviel wie »apprendre a distinguer le vrai d'avec le faux, pour voir clair en mes actions, et mareher avec assurance en cette vie.« (Discours de la Methode, ed. L. Gäbe, Harnburg 1 960, 16). 14 Cf. Johann Georg Sulzer, Vermischte philosophische Schriften, 1,189 f. 1s lbid. 1 89. 16 lbid. 1 80. ll lbid. 197. II

12

4

Einleitung

li ehen Werke Gassendis und Arnaulds genau wiedergeben. Auf analoge Weise lassen sich, so Sulzer, »drey Zeitalter der Mahlerkunst« durch die Sequenz: ( 1 ) >>einzelne, ganz freistehende Figuren«, (2) >>mehrere Figuren neben einander«, Hieroglyphen, (3) >>geh örig« angeordnete >> Gemälde CulturC'est une injuste tyrannie et folie enragee de vouloir assubj ettir les esprits a croire et suivre tout ce que les anciens ont dit [ . . . ]. 11 faut ouyr, considerer et faire compte des anciens, non s'y captiver qu'avec la raison.raison>wäre eine Logik Gottes notwendig>Dei ipsius logica fuerit opus«.23 Aber Prometheus, so Ibid. Ibid. 1 88. 2o Vgl. hierzu unten S. 6 ff. 21 Pierre Charron, De La Sagesse [ 1 6 0 1 /1 604], Paris 1 986, 42. 22 Vgl. hierzu die umfassende Untersuchung von P. K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der 18

19

gelehrten Welt. Zur Geschichte der >Querelle des anciens et des modernes< in Deutschland, München 1 9 8 1 . 2 3 Petrus Ramus, Commentariorum d e Religione Christiana libri quatuor ( 1 576); zitiert nach W. Neuser, »Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode

Der denkgeschichtliche Horizont

5

führte er in seiner Dialectique (1 555) mit einer signifikanten Verschränkung eines biblischen und eines heidnisch-antiken Mythologems aus,24 habe den Menschen vor der Sintflut das Feuer der Dialektik vom Himmel geraubt,25 um ihren Geist >>zu erhellen und aufzuklären>Wissenschaft« vom Menschen; denn >>Ia vraye science et Ia vray estude de l'homme, c'est l'homme.«27 >>Tout le reste au pris d'elle, n'est que vanite, au moins non necessaire, ny beaucoup utile.«2 s Aber das anthropologische Grundproblem, die Frage nach der Notwen­ digkeit einer der Anthropologie eigenen Methode, war bei Charron nur erst gestellt. Hatte Jean Barbeyrac in seinen Übersetzungen der Werke Pufen­ dorfs die M öglichkeit einer >>science des mreurs« bekräftigt,29 so war sich auch Rousseau, der im Vorwort zu den Confessions ( 1 782) auf die Nütz­ lichkeit der >>etude des hommes « hinwies, >>qui certainement est encore a commencer«,30 der Eminenz dieser Problematik durchaus bewußt. Den systematischen Aspekt seines Emile hatte er einst durch den zunächst vage scheinenden Hinweis zu beschreiben versucht, er folge dem >> Gang der Natur« (marche de Ia nature).31 Was damit gemeint war, ist besser durch den Begriff der logica naturalis zu charakterisieren; in dem 1 800 in der ]äsche­ s ehen Redaktion publizierten Logik-Handbuch Kants führt dieser über den Begriff, der ihm zu diesem Zeitpunkt als >>unstatthaft« erscheint, aus: >>Die natürliche Logik oder die Logik der gemeinen Vernunft (sensus communis) ist eigentlich keine Logik, sondern eine anthropologische Wissenschaft, die von Westminster« in: Handbuch der Dogmen-und T heologiegeschichte II,329. Zur Rezeption des Verhältnisses von logica divina zu logica humana vgl. G. Mori, Tra Descartes e Bayle. Poiret e la teodicea, Bologna 1 990, 36 mit zugehöriger Anmerkung 57. Zur weiteren Wirkung siehe auch den Marquis d'Argens, Le Bon-sens ou Jdees naturelles opposees aux idees surnaturelles, London [recte: Amsterdam] 1 772, 40 f. (=§ 54): Verhältnis »logique du bon-sens - logique de Ia theolo­ gte«. 24 Hierauf weist M. Dassonville in seinen Noten zu Ramus' Dialectique (Genf 1 964), 56, hin. 25 tnoacrKaA.o� -ri:xv11� 1lUO'T]� nennt Aischylos (Prom. 1 1 0 - 1 1 1 ; cf. 506) das himmlische Feuer; daher kann Ramus die Dialektik als mittelbare Wirkung desselben interpretieren. 26 Petrus Ramus, Dialectique, ed. Dassonville, 50. 27 Pierre Charron, De la Sagesse, 44. 28 Ibid. 37. 29 Cf. Samuel Pufendorf, Le droit de la nature et des gens, ou systeme generat des principes les plus importans de la morale, de la jurisprudence, et de la politique, Amsterdam 1 706, Tome I, p. XIV; ders., Les devoirs de l'homme, et du citoien, Tels qu 'ils lui sont prescrits par la loi naturelle, Amsterdam 1 707, p. IV. 30 Jean-Jacques Rousseau, CE.uvres completes, edd . B . Gagnebin, M. Raymond, Paris 1 959 ff., I,3. 31 Ibid. IV,242.

Einleitung

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nur empirische Prinzipien hat, indem sie von den Regeln des natürlichen Verstandes- und Vernunftgebrauchs handelt, die nur in concreto, also ohne Bewußtsein derselben in abstracto, erkannt werden. «32 Kant trägt also Be­ denken gegenüber einem aus dem Zeugnis der Sinne abstrahierten Denkver­ fahren, da doch die aus Prinzipien a priori erwiesene >>wissenschaftliche Logik« allererst zum >>Verstandes- und Vernunftgebrauche in concreto« anleiten soll. Gleichwohl schränkt er ein, daß die >>allgemeinen Regeln des Denkens« >>zuerst nur durch Beobachtung jenes natürlichen Gebrauchs gefunden werden k önnen. Reflexionsphilosophiegeheiligten< Endlichen und einem geglaubten >>Unend­ lichen>sch önen Subjektivität> ÜbersinnlichenBeschränktheit> empirischen Menschheit>das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht, Gott zu erken­ nen, sondern, was man heißt, den Menschen; dieser Mensch und die Menschheit sind ihr absoluter Standpunkt; nämlich als eine fixe unüber­ windliche Endlichkeit der VernunftCultur des gemeinen Menschenverstandesnegativen LogikHeidentum< konvertierten Ju­ lian, des sogenannten >>Abtrünnigenelegantia>humanitasheidnischer< Literatoren, so etwa auf Homer, Hesiod, Galenos, Sophokles, Euripi­ des, Ovid, Martial, etc. etc. Noch die heutige dogmengeschichtliche Forschung stellt mit einem gewissen Unmut fest: • Indem [Grotius] die einzelnen Verse und Wendungen mit Hilfe zahlrei­ cher Belege aus der außerbiblischen Literatur erläuterte, nahm er ihnen den Charakter der Einmaligkeit.« (G. A. Benrath, •Die Lehre des Humanismus und des Antitrinitarismus«, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, 111,47). 47 Fran�ois Bernier, Abrege de Ia philosophie de Gassendi en VIII. tomes, Tome I, Lyon 1 678, •Au lecteur« (nicht paginiert).

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sophie verloren. Mehr noch: Gassendi leiste eine Rationalisierung des antiken Wissens, indem er die Meinungen der Alten verständlicher (plus intelligibles) vortrage, als man sie bei ihnen selbst nachschlagen könne. Seine Darlegungen beschränkten sich zudem auf die Auswahl des >>Wahrschein­ licheren«, ohne die Meinungen anderer damit beherrschen zu wollen, denn dieses Verfahren sei der >>Schwäche des menschlichen Verstandes« am ange­ messensten. Als Kant in der »Vorrede« zur Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels ( 1 755) den Vorwurf eines fiktiven »Sachwalters des GlaubensEpikur lebt mitten im Christenturne wieder aufdaß die Theorie des Lukrez oder dessen Vorgängers des Epikurs, Leukipps, und Democritus mit der meinigen viel Ähnlichkeit habe. >Er­ neuerung« (renouvellement) und in diesem Sinne auch >>Neubewertung« (valorisation) älterer Denkformen. Diese Modernisierung setze also immer die Einheit von philosophischer Reflexion und gelehrtem Wissen voraus, denn auf ihr beruhe etwa bei Leibniz j ene Eklektik, die Gouhier als einen >>oecumenisme philosophique«, als eine Transfiguration der Wahrnehmun­ gen früherer Epochen zu einem Wissen aus Vernunftgründen charakteri­ sierte.53 Vielleicht gerade deshalb war Descartes' Erkenntnislehre für die Ausbildung der historischen Methode im achtzehnten Jahrhundert von nicht geringer Bedeutung, wie Carlo Borghero anhand der Wirkungsgeschichte des Problems einer cognitio sensitiva von Gassendi über J ean Ledere und John Locke bis hin zu Lenglet du Fresnoy, Crousaz und Bolingbroke zeigen konnte. 54 Mit etwas anderer Intention verfolgte auch Peter Gay dieses Phänomen der Modernisierung in Beziehung auf den Umgang aufklärerischer Denker mit dem christlichen Anteil an dieser Eklektik. In seiner weit verzweigten Studie über die >>Aufklärung« ( 1 967) nannte er das siebzehnte Jahrhundert 5 2 H. Gouhier, » Les philosophes du XVII• siede devant l'histoire de Ia philosophie«, in: XVII• siede, No 5 4 - 5 5 ( 1 962), 5 - 1 6, hier: 7 (Hervorhebung von H. Gouhier). 53 Ibid. 15; cf. H. Gouhier, » Les deux •XVII• siede>era of pagan Christianity> Kampf zwischen christlichen und klassischen Denkformen>christ­ lichen Humanisten oder Stoiker>christlichen Platoniker oder gar Skeptiker>daß es kaum mög­ lich sei, nicht einmal in einem unbestimmten Sinne, von einer Aufklärung zu sprechen«, empfahl dem Historiker, >>der Verlockung außer-geschichtlicher Wesenheiten« wie der der Aufklärung zu widerstehen.62 Auch dem Begriff der Modernisierung kann hierbei allenfalls eine heuristische Funktion zuge­ sprochen werden. Er kommt nur insoweit in Anschlag, als er die Richtung der hier vorgelegten quellengeschichtlichen Untersuchungen bestimmt und einen Leitfaden für die Interpretation an die Hand gibt. Aufgrund des bekanntlich umfangreichen, weitgehend aber noch unpublizierten Materials des heute in Berlin verwahrten Nachlasses Herders muß sich die Frage nach den Quellen seines Geschichtsdenkens an den Zeugnissen orientieren, die

von W. Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 171 5 - 1 794, Berlin 1 988; vgl. neuerdings J. W. Merrick, The Desacrali­ zation of the French Monarchy in the Eighteenth Century, Louisiana 1990. 61 Cf. A. C . Kars, »>A First Being, of Whom We Have No ProofWeakness< of Reason in the Age of Enlightenment«, in: Diderot Studies 14 ( 1 971 ), 220: »The >Enlightenment>sie zu verkaufen, wenn sich Liebhaber dazu fänden«/6 »und so ward ich Philosoph auf dem Schiffe ­ Philosoph aber, der es noch schlecht gelernt hatte, ohne Bücher und Instru­ mente aus der Natur zu philosophiren. « 77 In Bückeburg scheint er daher seine Büchersammlung 1 772 schmerzlich zu vermissen.78 Kaum geringere Unsicherheit besteht im Hinblick auf den Umfang der in Nantes und Göt­ tingen benutzten Werke; daß die Möglichkeit, die vorzügliche Sammlung der Göttinger Bibliothek zu gebrauchen, einen wesentlichen Einfluß auf die Gestalt von Herders historischen Schriften der 1 770er Jahre ausübte, ist durch ihn selbst außer Zweifel gesetzt;79 zudem dürfte sie die Art der Erweiterung seinen eigenen Bibliothek in nicht geringem Maß motiviert haben. Einige der 287 Titel, die Herder bei der Versteigerung dreier bedeu­ tender Privatbibliotheken in Lemgo am 25. Oktober 1 773 erwarb, so sind 73 Cf. Meine Bücher 4°: 1 5 - 28, sowie z. B. Herders Aufzeichnungen über Homer nach der fabricianischen Bibliotheca graeca: HN XXIX 1: fol. 27' . 74 Cf. Meine Bücher ZO: 2 1 und BH 2906. An der berühmten Einleitung zu dem Aufsatz über Shakespeare konnte W. Proß, »Herders Shakespeare-Interpretation. Von der Dramaturgie zur Geschichtsphilosophie«, in: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Roman­ tik, ed. R. Bauer, Bern u. a. 1 988, 162 - 1 8 1 , die sprachbildende Wirkung dieses Werkes bei Herder nachweisen (vgl. auch HWP I,834-836). 75 Vgl. z. B. unten Erster Teil, Kapitel S . 76 V. u. a. Herder 11,34; cf. 11,30: Brief Hartknochs vom 14. Juni 1 772 a n Herder: »Das, was Sie von alten Büchern verlangen, oder von Ihren eigenen Büchern noch nicht verkauft ist, soll nächstens, wenn ich nach Hause komme, an Sie abgehn. « 77 Johann Gottfried Herder, Journa/ meiner Reise im fahr 1 769, ed. K. Mommsen, Stuttgart 1 976, 1 3 . 7 8 Cf. Br. 11,1 45, I. 63 - 69 (Brief von Ende Februar 1 772 a n Hartknoch). 79 Cf. ibid.: »Ich komme eben j etzt aus Göttingen vom Gebrauch der Bibliothek, die ich auf den Sommer noch länger zu brauchen gedenke, und mit Einem Buch, einer wahren Entdeckung, denke ich gewiß vor dem Jahrhundert zu erscheinen. « 8 0 Vgl. hierzu die sorgfältige Studie von F . Flaskamp, »Herders Bücherkauf z u Lemgo. Ein Beitrag zur Geschichte der Bibliotheca Herderiana«, in: Jahrbuch der Gesellschaft für nieder­ sächsische Kirchengeschichte 65 ( 1 967), 2 1 8 - 235, die auf den Seiten 228 - 235 ein Verzeichnis der von Herder erworbenen Bücher enthält.

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Einleitung

auch für die vorliegende Untersuchung von lnteresse;81 daß eine große Zahl der damals ersteigerten Bücher in Bibliotheca Herderiana nicht mehr er­ scheint,82 gibt allerdings Anlaß zu der Vermutung, daß Herders Bibliothek auch in den folgenden Jahrzehnten bei kontinuierlicher Komplettierung der einzelnen Sachgebiete auch zahlreiche Abgänge hatte verzeichnen müssen. Da Herder die Bücher, die er selbst besaß, freilich nicht exzerpierte, so ist bisher seine Rezeption der naturwissenschaftlichen Arbeiten Charles Bon­ nets stets gering geachtet oder auf den Herders späte Schriften in der Tat prägenden Gedanken der Palingenesie, wie er ihn in der Auseinandersetzung mit Lavater erarbeitet hatte, eingeschränkt worden; noch Beate Monika Dreike hält in ihrer gewissenhaften Studie über Herders Leibniz-Rezep­ tion83 den Einfluß Bonnets für gering, und zwar aufgrund des kritischen Urteils, das Herder in den Ideen über dessen Praeformationstheorie fällt.84 Mag diese Einschätzung für die 1 780er Jahre allenfalls gelten, so zeigen doch Herders Briefe an Lavater von 1 772 und 1 773,85 daß er zumindest damals Bonnets Schriften mit großem Eifer aufnahm. Sein Bibliothekskatalog weist zudem die wichtigsten Arbeiten Bonnets auf. In gleicher Weise wurde Her­ ders Aufnahme Condillacs wegen seiner abfälligen Äußerungen in der Sprachschrift ( 1 772) wenig beachtet, bis Jörn Stückrath 1 978 die Nachschrif­ ten Herders zu Condillacs Essai sur l'origine des connoissances humaines ( 1 746) veröffentlichte und damit einen weitaus produktiveren Einfluß als bisher vermutet nachweisen konnte.86 Die durch Wolfgang Proß 1987 publi-

8 t Die diesbezüglichen Werke werden folgendermaßen zitiert: Flaskamp, mit Angabe des Buchformats und der zugehörigen Buchnummer nach dem Flaskampschen Verzeichnis (z. B . Flaskamp 8 ° : 1 7). Herders Büchererwerb auf Auktionen wäre einer eigenen Untersuchung wert, auch wenn sich der genaue Umfang seiner Käufe wohl nur noch in wenigen Fällen rekonstruieren ließe; vgl. z. B. Br. IV,77. 82 Cf. F. Flaskamp, »Herders Bücherkauf zu Lemgo«, 225. Flaskamps Verzeichnis ist in diesem Punkt allerdings lückenhaft; weit mehr als die dort aufgeführten 23 Titel lassen sich nachweisen. 8 3 B. M . Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leibniz ' Philosophie, Wiesbaden 1 973. 8 4 Cf. SWS XIII,165; vgl. hierzu auch ]. Marx, Charles Bannet contre les lumieres 1738- 1850, Oxford 1 976, 437-438. Vgl. Goethes Rezension von Lavaters Aussichten in die Ewigkeit, in: M. Morris, Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, Stuttgart, Berlin 1909, 1 4 . 8 5 Cf. Br. 11,255.299; vgl. hierzu schon R . Savioz, L a philosophie d e Charles Bannet de Geneve, Paris 1 948, 153, der insbesondere auch auf die Bonnet-Rezeption durch F. H. Jacobi eingeht (cf. ibid. 345 - 347). 86 ]. Stückrath, »Der junge Herder als Sprach- und Literaturtheoretiker - ein Erbe des französischen Aufklärers Condillac ?«, in: Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, ed. W. Hinck, Kronberg/Ts. 1 978, 8 1 - 96. Vgl. W. Proß, » Kommentar« zu: J. G. Herder, Über den Ursprung der Sprache, ed. W. Proß, München, Wien 1 978, passim. -

Probleme der quellengeschichtlichen Methode

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zierten Nachschriften nach Jean Baptiste Robinets De Ia Nature machen deutlich, daß Herder zumindest diese Schrift genauer studiert hatte, als es Hugh Barr Nisbet in seinem sachkundigen Aufsatz über die Lehre vom Typus bei Herder und Goethe für möglich halten konnte.B7 Diese drei Beispiele mögen genügen, um einen Einblick in die das Urteil über Herders Schriften unmittelbar tangierende Bedeutung des Nachlasses zu geben. Aufgrund der Komplexität der in Herders Werk zusammentreffen­ den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge schien es ratsam, die Untersuchung zur Methode seiner historischen Anthropologie auf den Zeit­ raum von etwa 1 762 bis 1 780 einzugrenzen. Sie umgreift also den Lebensab­ schnitt von seinem Studium bei Kant bis zu j ener Epoche, in der Herder gegenüber Freunden wiederholt den Vorsatz äußerte, seine schriftstellerische Tätigkeit zu beenden.88 In der Tat aber begann er damals bereits mit den Vorbereitungen zu den Ideen, und die Materialbeschaffung, die insbesondere umfangreiche Bücherkäufe einschloß, war unter anderem durch die auf hohen Absatz berechneten Briefe, das Studium der Theologie betreffend zu finanzieren. 89 Aber auch in sachlicher Hinsicht ist ein Einschnitt um 1 780 gegeben, denn er markiert den Zeitpunkt vor der polemischen Auseinander­ setzung mit Kant. Demgegenüber ist die Problematisierung der wissen­ schaftlichen Methode innerhalb des skeptischen Horizonts der 1 760er Jahre, von der die Erkenntniskritik Kants und Herders geprägt war, bisher völlig unzureichend bearbeitet worden. Unter den besten Studien hierzu sind immer noch Bernhard Suphans Untersuchung von 1 873 und Wolfgang Harichs Arbeit von 1 954 zu nennen;9° Freilich erschien 1 897 Karl Lam-

8 7 HWP II,1226- 1229; H. B. Nisbet, »Herder, Goethe and the Natural >Typeund Abschied< und vielleicht gar mein Schwanengesang. Ich bin des Schreibens müde. « (Brief an Hartknoch vom 6. Mai 1 779); Br. IV, 1 03 (an denselben, 10. Oktober 1 779); Br. IV, 1 5 7 (Caroline Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief vom 8. Januar 1 7 8 1 ) . 8 9 Cf. Br. IV, 1 8 1 : » [ . . . ] d i e Briefe [s c . »das Studium d e r Theologie betreffend«] haben auch die letzten Bücherschulden getilgt [ . . . ]« (Brief an Hamann, 1 1 . Mai 1 78 1 ); cf. Br. IV,129 (Brief an Hamann vom 9. September 1 780); Br. IV, 1 74 (Brief an Johann Gottfried Eichhorn vom 26. April 1 7 8 1 ). 90 B. Suphan, » Herder als Schüler Kants«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 ( 1 873), 223 - 237; W. Harich, »Ein Kam-Motiv im philosophischen Denken Herders«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 ( 1 954), 43 - 68; die Arbeiten von A. Tumarkin, Herder und Kant, Bern 1 896, sowie H. Meyer-Benfey, Herder und Kant, Halle/S. 1 904, können heute gänzlich vernachlässigt werden. Hinzuweisen ist noch auf: Th. Litt, Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt, Leipzig 1930; F. M. Barnard »>Aufklärung< and >Mündigkeit> Herder und Kant als Theoretiker der GeschichtswissenschaftKollektaneen­ und Arbeitsbücher gewissermaßen zu Anzuchtbeeten seines weiten und vielgetheilten Gartens geworden sind.>molecules vivantes« und zu Robinets Kritik derselben in De Ia Nature, so wird deutlich, daß die Fragen der Seelenlehre im achtzehnten Jahrhundert erst durch die Aufdeckung ihrer Entstehungsbedingungen adäquat begriffen werden können. Erst so vermag die Kontinuität und die Divergenz des mannigfach vermittelten, Herders kulturgeschichtliche Methode prägenden Problems der Geschichtlichkeit der menschlichen Seele zum Vorschein zu kommen. Dieser Aufweis wurde an einzelnen Begriffen wie dem des »Seelengrundes« oder des »Stamen«, des >>Denkbildes« oder des die kulturelle Progression bestimmenden Verhältnis­ ses von »Gewohnheit« und >>Erziehung« etc. in der Folge exemplarisch versucht. Daß damit immer nur ein Teil der von Herder aller Wahrschein­ lichkeit nach rezipierten Geschichte des Denkens zum Vorschein kommen kann, versteht sich von selbst. Aber nur die Bearbeitung des denkgeschicht­ lichen Details vermag gängige Deutungsmuster wie dasj enige von Herders Historismus oder die vielfach beliebte Säkularisierungshypothese zu korri­ gieren. 1 06 K. Lamprecht, »Herder und Kant als Theoretiker der Geschichtswissenschaft«, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, 14 ( 1 897), 1 6 1 - 203, hier: 167. 107 Vgl. den Nachweis der Literatur in den entsprechenden Abschnitten der folgenden Untersuchung, besonders im Zweiten Teil.

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Der philologisch möglichst exakte Nachweis der Quellen, die Herder zur Ausarbeitung seines anthropologischen Verfahrens anregten, schafft die Vor­ aussetzung für eine denkgeschichtlich verantwortbare Interpretation seines Werkes, kann diese aber nicht ersetzen. Paolo Rossi faßte dieses prekäre Verhältnis im Hinblick auf Vico folgendermaßen zusammen: »Ein anderes ist das Vorhandensein von Gedanken und Problemstellungen, die eine be­ stimmte Epoche auf breitem Felde bewegen, ein anderes die unmittelbare und nachweisbare Kenntnis bestimmter Texte [durch Vico] Typus>Nie ist seit Plato die Akademie desselben reizender verjüngt worden als in Ciceros schönen Gesprächen.>Palingenesie der Kenntnisse>Wissenschaftsgeschichte> Geist der ewigen Revisionnatürlichen Menschen«, nicht aber von dem >>geistigen« handelte.3 Rousse­ aus >>natürlicher Mensch>identite de nature>On n'a j amais employe tant d'esprit a vouloir nous rendre betes; il prend envie de mareher a quatre pattes, quand on lit votre ouvrage.Donc votre methode est mauvaise, dit la logique. >Donc l'homme est un animal a quatre piedsDaß Sie im 2ten Theil von Lavaters Physiognomik zu einer Klasse gerechnet sind, die mit den Affen Ähnlichkeit haben soll, hat mich herzlich gefreuet. Sie haben Popens Einfall auf Newton so oft retor­ quirt, daß ihnen diese Wiedervergeltung recht gut thut.Mr. de Linne convient que, dans ses principes & suivant sa methode, il n'a ja­ mais su distinguer l'homme du singe. Les observateurs modernes ont tellement rapproehe !es animaux & !es vegetaux, qu'ils ne font plus qu'un seul regne sous le nom de regne organique: ils ont vu !es differences qui sembloient en faire des ordres d'Etres absolument dissemblables, s' effacer !es unes apres !es autres. Celles que I' on a cru separer !es vegetaux des mineraux commencent a s'affoiblir considerablement. Puisse-je avoir Ia gloire de !es faire disparoitre tout-a-fait ! « 7 Buffons Stellung i m 1 8 . Jahrhundert wurde kürzlich von J. Roger i n einer umfassenden Biographie gebührend gewürdigt: Buffon, un philosophe au ]ardin du Roi, Paris 1 989. Zum Problem vgl. G. Bernardini, »Buffon, Ia storia della natura e Ia storia degli uomini«, in: Studi settecenteschi 7 - 8 ( 1 985 - 1 986), 167- 1 89, hier: 1 80. 8 Br. III,284; cf. Br. 1,1 39, I. 51 f.; 1 , 1 4 1 , I. 1 42; SWS IX,462; vgl. Herders Charakterisierung des Hamannschen Bildnisses in Lavaters Physiognomischen Fragmenten, Lepizig, Winterthur 1 775 - 1 778, 11,285 f. (wieder abgedruckt in SWS IX,47 1 f.). 9 Vgl. Herders Nachschrift der Metaphysik-Vorlesung Kants in: lmmanuel Kant, A. A. XXVIII,894. 10 Alexander Pope, The Poems, ed. John Butt, London 1985, 5 1 7 (Essay on Man, 11,3 1 -36).

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

Superior beings, when of late they saw A mortal Man unfold all Nature's law, Admir' d such wisdom in an earthly shape, And shew'd a NEWTON as we shew an ape. Could he, whose rules the rapid Comet bind, Describe or fix one mouvement of his Mind ? Pope paraphrasiert mit dieser Verhältnisbestimmung zwei glänzende Über­ legungen Heraklits, die Platon in seinem Dialog Hippias maior referiert hatte.11 Der schönste Affe sei häßlich im Vergleich mit dem Menschenge­ schlecht, und der weiseste Mensch, so resümierte Sokrates den heraklitei­ schen Gedanken, gleiche gegenüber Gott einem Affen an Weisheit und Schönheit; Plotin12 übernahm diese Schlußfolge in ganz eigener Akzentu­ ierung, und von dort hat sie auf den Neuplatonismus in Cambridge in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gewirkt. Herder fand in Popes Skepsis zumal eine Bestätigung seiner Vorbehalte gegenüber dem Unterneh­ men Lavaters, dessen Klassifikation sich auf die unbefragt vorausgesetzte und stets als invariabel geglaubte Entsprechung von (innerlicher) Seelenver­ fassung und äußerer Gestalt, auf die >>Harmonie moralischer und körper­ licher Schönheit> mit den Affen Ähnlichkeit haben soll«, beruht die Pointe Herders, denn die von Lavater intendierte differenzierte Einheit setzte implizit die etwa von Buffon und Diderot14 geleugnete Einheit der natürlichen Gattungen in der Differenzierung von Arten und Individuen voraus, die Ähnlichkeit des Unähnlichen also, wie sie Montaigne im Rückgriff auf Augustinus und die ihm zeitgenössische physiognomische Literatur im Blick hatte. In dem 11 12 13 14

Platon, Hippias maior 289 a 3 -4, b 4 - 5, resp. Heraklit, frg. B 82, B 83. Plotin, Enn. VI 3, 1 1, 92. SWS IX,4 14. Cf. Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 24 1 .

Die Anthropologie in Herders Versuch über das Seyn

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berühmen abschließenden Essai »De l'experience« legte er dar: >>Comme nul evenement et nulle forme ressemble entierement a une autre, aussi ne differe nulle de l'autre entierement. lngenieux meslange de nature. Si nos faces n'estoient semblables, on ne sIl y a peu de relation de nos actions, qui sont en perpetuelle mutation, avec les loix fixes et immobiles. « 1 7 Herder förderte stetig das physiognomische Werk des Freundes Lavater und rezensierte es wohlwollend, 18 aber der Streitpunkt, daß Lavater die Physiognomik verschiedener Menschen ein für allemal fixierte und ihnen damit alle Möglichkeit des >> Fortstrebens« nahm, lag Herder im April 1 769 klar vor Augen. l 9 Damals erläuterte er gegenüber Moses Mendelssohn in etwas anderer Perspektive seine Theorie einer >>Art von Kreislauf des Genußes«; »in seiner Eßenz« möge ein j edes Wesen immerhin vollkommen sein, >>aber für die Zukunft« sei >>Nichts in der Welt vollkommen«. Bei >>so vielartigen Menschen« sei »der Lappe und der Hot­ tentotte, Newton und der Ourangoutang« >>nach ihrer Art vollkommen«, allein bei der Ausbildung der Seelenkräfte auf eine zukünftige Welt müsse ein jeder seinen eigenen >>Roman der Ewigkeit>dichten«.

2. Die Anthropologie in Herders Versuch über das Seyn Dem hier anhand von Überlegungen Goldsmiths, Diderots und Lavaters skizzierten Problem einer Begründung der Wissenschaft von der »Natur« durch logische Ordnungskriterien, deren Übertragung auf den Bereich des ordo naturae fraglich geworden war, liegt eine tiefere Schwierigkeit zu15 Michel de Montaigne, CEuvres completes, edd. A. Thibaudet, M. Rat, Paris 1 962, 1 047; zu Augustin vgl. die Anmerkung ibid. 1 669; ebenso ist aber eine, auch terminologisch abgesicherte Beziehung auf Minucius Felix, Octavius 1 8, 1 , möglich: » [ . . . ] et, quod magis mirum est, eadem figura omnibus, sed quaedam unicuique lineamenta defluxa; sie et similes universi videmur et inter se singuli dissimiles invenimur. « 16 Cf. ibid. 1 04 1 : »La consequence que nous voulons tirer de Ia ressemblance des evenemens est mal seure, d'autant qu'ils sont tousjours dissemblables: il n'est aucune qualite si universelle en cette image des choses que Ia diversite et variete.« 17 Ibid. 1 042. 18 Cf. SWS IX,453-455; Br. Ill, 1 85: »Und Deine Physiognomik - kriege ich sie zu sehen ? ich, der nicht subscribirt hat ! « (Brief an Lavater vom Mai 1 775). 19 Br. 1, 1 3 7- 1 43, hier: 1 40 - 1 4 1 .

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

grunde. Wenn nämlich die Ordnung oder Einteilung der Wissenschaften diejenige des Naturreichs adäquat widerspiegeln oder abbilden soll, so muß die Methode des Denkens und das System unserer Begriffe dem Verfahren, welches die Produktivität der Natur zu leiten und zu determinieren scheint, entsprechen. Leibniz versuchte sich in seinen frühesten Schriften an einer >>Statica Universi«, mit deren Hilfe er die menschlichen Verstandesoperatio­ nen auf reine Zahlen- oder Größenverhältnisse >>reduzieren« wollte.20 Die geometrische Methode sollte hierbei innerhalb der Logik den ordo naturalis, d. h. die Folge der logischen Schlußketten in ihrer natürlichen Ordnung gewährleisten. 1 666 überarbeitete er diesen Entwurf einer Logik more geo­ metrico zur Grundlegung einer Wissenschaft überhaupt, der in vielen Stücken der Logica nova des katalanischen Denkers Raymundus Lullus2 1 verpflichteten und diese im Hinblick auf die Mnemotechnik verfeinernden >ars combinatoria>eine Art Alphabet der menschlichen Gedanken ersinnen und durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analysis der Worte, die sich aus ihnen zusammen­ setzen, alles andere entdecken und beurteilen lassen.Logique Medicinale«, die Leibniz als >>l'art de trouver les remedes« bestimmt, also etwa das Krankheitssymptom und das Heilmittel dagegen, können sich niemals mit derselben Exaktheit entsprechen wie die beiden Seiten einer analytischen Gleichung. Vielmehr komme dieser Logik, so Leibniz, bei der Auffindung der Heilmittel die als Erfahrungsschatz verfügbare Geschichte der Medizin zu Hilfe, weil sie die faktischen und empirisch gesammelten Kenntnisse über den Heilungsvorgang tradiere.26 Empirie und Charlatanerie, so schloß er diesen Gedanken ab, liegen hierbei aber nur allzu nahe bei einander. Kaum eine andere als die organologische Metapher des >philosophischen Baumesarbor philosophica seu porphyriana>Seins« (ens). Lull definiert den Menschen zunächst in der üblichen Weise als animal rationale und grenzt ihn so, wie es die dialektische Antithetik des Baum-Schemas nahelegt, gegenüber den vernunftlosen Lebe­ wesen, den animalia irrationalia, ab. Zudem kommt in der Hierarchie der Seelenvermögen durch die Folge der anima vegetativa - sensitiva - imagina­ tiva - rationalis ein Ausschnitt der Hierarchie des substantiellen Seins im Ganzen zum Ausdruck, der sich in den vier letzten der acht Glieder: deus ­ angelus - caelum - elementum - homo - imaginatio - arbor - Lapis konkreti­ siert.31 Allein Lulls Definition des Menschen als >>animal homificans«32 variiert diese gegliederte Antithetik, denn die scheinbare Tautologie bringt die produktive Selbstkonstitution des Menschen in der Gesamtheit seiner Seelenvermögen, die neben der ratio auch die sogenannten >>potentiae infe­ riores « umfaßt, definierend zur Darstellung. Diese Anthropologie avant La lettre bereitet einer psychologischen Durchdringung der Erkenntnisfunkphica< (Bd 2, coll. 1 1 68 f.). Siehe auch G. B. Ladner, Pflanzensymbolik und der Renaissancebe­ griff 3 86 f. 29 Boethius, Dialogi in Porphyrium (PL 64, coll. 4 1 f.); Commentaria in Porphyrium (PL 64, col. 1 03). 30 Raymundus Lullus, Logica nova, ed. C. Lohr, Harnburg 1 985, 4. 31 Ibid. 8. 32 Ibid. 22. »

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tionen den Weg, durch die eine »Wissenschaft« vom Menschen möglich wird, wie wir sie dann durch die Vermittlung der ramistischen Dialektik in der französischen Moralistik, bei Montaigne, Charron und Rousseau, und über Francis Bacon und John Locke auch bei Christian Thomasius, Andreas Rüdiger, Jean-Pierre de Crousaz und in dem bereits erwähnten Discours preliminaire de l'Encyclopedie d'Alemberts finden werden. Rüdigers Be­ gründung der cognitio logica aus dem »sensus veri et falsi«33 zum Beispiel leitet ihn zu der von den »Peripatetikern« vertretenen, freilich auch der epikureisch-lukrezischen Tradition geläufigen These, die »cognitio veritatis« sei anfänglich in der sinnlichen Konstitution des Menschen begründet und seine Sinne daher »principium veritatis«. In seinem Aufsatz Wie die Philoso­ phie zum Besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann formulierte Herder ganz im Sinne dieses frühen Sensualismus, man solle »durch eine große Analyse des Begriffs gleichsam den Ursprung aller Wahr­ heit in meiner Seele aufsuchen: so wird dieser Theil der Psychologie eine Erfindungskunst, eine Beurtheilungs- und Vortragskunst, wenn sie diese Fähigkeiten in mir zeigt, wenn sie mir gleichsam eine Philosophische Ge­ schichte des guten und übeln Gebrauchs eindrückt, wenn sie mir meine Seele gleichsam als den Geist zeigt, aus dem eine Wissenschaft mit all ihren Fehlern, Reichthümern etc. geflossen ist: so kann es nicht fehlen, daß, wenn eine Feder in mir liegt, sie hierdurch aufgeweckt werde, daß ich mich gleichsam an meiner eigenen Seele zu Gott und Philosophen schaffe, wie Peter«.34 Der Gedanke einer produktiven Selbstkonstitution des Menschen, einer Schöp­ fung des >>animal homificans«, scheint, wie die Terminologie nahelegt, durchaus der Dialektik des Pierre de La Ramee oder ihr �erwandter Tradi­ tionen verpflichtet. Die Zusammenfassung der durch sie ermöglichten psychologischen Beobachtungen führt Herder bereits in dieser frühen Studie auf die Konzeption einer >>Philosophischen Geschichte«, also auf den Inhalt seiner Anthropologie. Der zweite innovative Aspekt der Lullschen Logik, soweit sie für das Problem einer Begründung des Wissens bei Herder in Betracht kommt, berührt die Erweiterung des logischen Baumes durch den Grad des >>Seins «. Dieses sei >>verworren« (confusum), so Lullus, weil es alles unter sich enthält: >>quia omnia sub se continet«; es sei auch >>namenlos« (innominatum ) , weil es durch keinen Begriff bestimmbar sei.35 Gott ist >>einfaches Sein« (ens sim33 Auf Herders Beziehung auf Rüdiger weist bereits W. Praß in HWP 11,849 hin; im Versteigerungskatalog von 1 804 erscheint allerdings nur die Philosophia pragmatica ( 1 723): cf. BH 3359. 34 SWS XXXII,39 (gemeint ist Peter der Große). 35 Raymundus Lullus, Logica nova, 6.

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

plex). In des Venezianers Valerio de Valeriis Opus aureum ( 1 589), einem detaillierten Kommentar zu Lulls Arbor scientiae ( 1 295), führt ein Schaubild der »Divisio entis, per quam ostenditur, entia omnia sub quatuordecim arboribus contineri« die Ableitung alles Seins, des geschaffenen und des ungeschaffenen, aus dem Genus >>omne ens « vor Augen.36 Der von Charles Perrault >>degre metaphysique« genannte Grad,37 der die Allegorie des Baumes um eine Stufe über das Genus der >Substanz< hinaus erweitert, fand Herders Interesse in dem vermutlich 1 764 entstandenen Versuch über das Seyn, diesem >>metaphysischen Exercitium«,38 wie er selbst ihn benannte. Obwohl zwischen 1 72 1 und 1 740 eine große achtbändige Edition der Schrif­ ten Lulls erschienen war und Herder ihn neben Arnoldus de Villa Nova39 und Roger Bacon zu den >> größesten Erfindern damaliger Zeit«40 rechnet, gingen seine in der kleinen Schrift vorgetragenen Reflexionen damals ver­ mutlich nicht unmittelbar auf ihn zurück, sondern dürften, gerade auch was die Intention des Herdersehen Gedankens betrifft, durch Gassendi und die Phänomenologie des Tübinger Philosophen Gottfried Ploucquet vermit­ telt worden sein. Gleichwohl ist eine frühe Kenntnis der einschlägigen Untersuchungen Lulls sowie des Kommentars Valerios, soweit sie nach Ausweis des Bücherverzeichnisses von 1 776 vermutet werden kann, wahr­ scheinlich.41 Gassendi42 hatte in seiner Institutio logica ( 1 658) alle logischen Operatio3 6 Vgl. unsere Abb. 1 . - Zu Valerio vgl. A. Pompei, s. v. >Lullismo>einfache Einbildung« (imaginatio simplex) als Intuition, die als solche den Sinneseindruck noch nicht affirmativ bestimmt oder begreift; durch sie erlangt der Mensch einzelne Vorstellungs­ bilder (imagines, ideae singulares) der Dinge der Außenwelt, die, gerade weil sie einzeln und insofern individuell und von einander grundsätzlich und der Zahl nach unterschieden sind, noch vor allem Begriff liegen. Die Tätigkeit der imaginatio ist daher praeconcipere, und ihr Resultat ein notwendiger Vorbegriff (praenotio ),45 denn jegliches Begreifen und Wissen beruht auf den der Einbildung nachgeordneten logischen Operationen des Generalisierens und Specialisierens. Gassendi weicht mit dieser Theorie des Vorstellens und Wahrnehmens nur unwesentlich von der in De anima entfalteten aristoteli­ schen Seelenlehre ab; selbst der Begriff des cruA.A.oytcrJ.loc; oder der collectio als einer der generalisierenden Tätigkeiten des Geistes (vouc;, mens) findet sich schon dort.46 Seine Erläuterung des philosophischen Baumes folgt mit der generalisierenden und specialisierenden Ableitung der Kategorien dem zum Beispiel von Boethius47 und Lull tradierten Verfahren. Dennoch unterschei­ det er sich von Lull durch die entsprechend der psychologischen Fundierung der Logik differenzierte Auslegung des summum genus: Blieb bei Lull das Genus >>Sein>idea generalissima Entis, sive Reiens seu resens realissimum>in se videt omnitu­ dinem realitatumfühlt [. . . ] und tastet gleichsam in der ganzen Welt: [er] hört [ . . . ] in der ganzen Welt: [er] denkt [ . . . ] die ganze Welt, die ein

55 Ibid. 955. 5 6 Cf. HN XXVI 18: fol. 25'. Die Datierung folgt H. D. lrmscher und E. Adler, in: Der

handschriftliche Nachlaß johann Gottfried Herders, 234. 57 Gottfried Ploucquet, Principia de substantiis et phaenomenis, Frankfurt, Leipzig 1 753, 20 f. (Kapitälchen von Ploucquet). 5 8 Ibid. 1 99 (cap. XV, § 354). 59 Ibid. 1 1 6. 6o Ibid. 232 ( cap. XV, § 364 ) 6 1 lbid. 19 f.

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Erster Teil D a s Methodenproblem d e r Anthropologie ·

Gedanke von ihm ist, der würklich existiert. «62 Auf diese Überlegung wird Herder in der Lehre vom Denkbild noch einmal zurückkommen.63 Herders >>metaphysisches Exercitium« erweist sich darin von höchster Brisanz, als es gerade jegliche Begründung des Seins, die von dem Horizont menschlicher Erkenntnisfähigkeit absieht, durch den Begriff des in sich selbst begründeten und deshalb >>unerweislichen>Mittelpunkt aller Gewißheitangeboren>subj ektiven PhilosophieOrdnung>Einheit>Beziehungs Punkt in unsnegativen Wissenschaft>nothwendig ein Theil der AnthropologieErst muß man zerstören, dann aufbauen, man zerstöre alle Systeme durch eine negative Wissenschaft und führe alsdenn aus dem subj ektiven Principium eines auf, was ganz wenig behauptet, die Grade der Gewißheit bei jedem Satz bestimmt.subj ektive Principium>Beziehungspunkt in uns« identisch. Die Anthropologie, die hier als Grundwissenschaft für alles spezialisierte Wissen und Erkennen er­ scheint, beurteilt alle einzelnen Disziplinen >>nach ihrer Entstehungsartich bin ein Gott in meiner Welt>Je renformerais le caractere general du style d'une encyclopedie, en deux mots, communia, proprie; propria, communiter. En se conformant a cette regle, les choses communes seraient toujours elegantes; & les choses propres & particulieres, touj ours claires. La description est la chose meme«, ruhtJB Herders Auseinandersetzung mit der Frage des

angemessenen Stils innerhalb der Geschichtsschreibung berührt sich, wie noch zu sehen sein wird, in mancherlei Hinsicht mit den stilkritischen Erörterungen Diderots. Wie der Wert eines Gegenstandes nur im Verhältnis zu allen anderen, je verschieden beleuchteten Gegenständen dieses perspek­ tivischen Plans gemessen werden könne, so können die Artikel der Encyclo­ pedie erst aus ihrem wechselseitigen Zusammenhang mit dem gesamten System des Wissen geschätzt werden. Diderot akzentuiert dieses Abbil­ dungsverhältnis79 derart, daß die Lektüre des freilich unerreichbaren voll­ ständigen enzyklopädischen Systems (systeme general) mit dem Studium des della filosofia e ·histoire de l'esprit humain< in Francia tra Enciclopedia e Rivoluzione«, in: Storia delle storie della filosofia, ed. G. Santinello, Bd 3, Teil 1 (S. 1 - 268). 76 Zum Problem: J. Henningsen, »>Enzyklopädie>L'on prevoit un moment ou il serait presque aussi difficile de s'instruire dans une bibliotheque, que dans l'univers«.81 Allein die unendliche Zahl der Gesichtspunkte, aus denen die dingliche Welt betrachtet werden könne, erlaube unendlich viele mögliche Systeme, und dasjenige System, das von Gott aus in die zeitlich entfaltete Schöpfung hinabsteige, gleiche dem Unternehmen eines Astronomen, der sich in Gedanken an die Stelle der Sonne versetze, um von dort aus das Weltall zu berechnen; doch auch er vermöge nichts gegen die Singularität seines Blickpunkts. 82 Diderot und d'Alembert versuchen auf zwei Wegen dieser Aporie zu entgehen: ( 1 ) Da in der sinnlichen Welt alles durch unmerkliche Übergänge (par des nuances insensibles )83 miteinander zusammenhänge und aufeinander folge, so habe jede Wissenschaft den Zusammenhang und die Verbindung mit allen anderen Wissenschaften aufzusuchen; denn auch diese entfalten sich durch unmerkliche Grade (par des degres insensibles),84 da sie den Umwäl­ zungen (revolutions) des menschlichen Geistes und der verschiedenen Nationalcharaktere unterliegen.85 (2) Deshalb haben die in den >>ordre en­ cyclopedique« integrierten Kenntnisse ihren Beziehungspunkt nicht mehr in der scheinbar obj ektiv vorliegenden, vom Menschen unabhängigen Ding­ welt, sondern, um nochmals Herders Ausdruck zu gebrauchen, in dem »subj ektiven Principium« des Menschen selbst.86 Da der Mensch das allem möglichen Wissen >>gemeinsame Zentrum« (centre commun) ist, von dem jegliches Erkennen seinen Anfang nimmt, »pourquoi n'introduirons-nous pas l'homme dans notre ouvrage, comme il est place dans l'univers ?«87 Die Einteilung der Wissenschaften beruht daher auf den menschlichen Erkennt­ nisfunktionell der memoria, der imaginatio und der ratio. Der in dieser Gliederung zutage tretende Konflikt zwischen Juan Huartes und Francis Bacons Begründung des Wissens,88 von der sie genau abgeleitet zu sein 80 Denis Diderot, CEuvres completes, VII,2 1 1 . 8 1 Ibid. 234. 82 Cf. ibid. 2 1 1 . 2 1 8; J ean Lerond d'Alembert, Discours Preliminaire de l'Encyclopedie, ed. E.

Köhler, Harnburg 1 955, 86. 8 3 Denis Diderot, CEuvres completes, VII,2 1 0. 8 4 Ibid. 234. 8s Ibid. 1 84; cf. 1 86. 86 Cf. ibid. 2 1 0 . 2 1 2 f.; V,90. 8 7 lbid. 2 1 2 . 88 Cf. H.J. d e Vleeschauwer, Autour de Ia classification psychologique des sciences. juan Huarte de San juan - Francis Bacon - Pierre Charron - d'Alembert, Pretoria 1958.

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

scheint, und den Logik-Kompendien Arnaulds und Gassendis89 wird auch in Diderots und d'Alemberts unterschiedlicher Begriffsbildung sichtbar. Er bestimmt zudem Herders Darlegungen über die Entstehung unseres Wis­ sens. Noch Bacon hatte bei seiner Interpretation der Allegorie des philoso­ phischen Baumes in De dignitate et augmentis scientiarum ( 1 605/1 623), hier ganz dem platonisch-christlichen Gedanken folgend, auf einem zwiefachen Ursprung unseres Wissens bestanden: »Una [sc. scientia] inspiratur divini­ tus, altera oritur a sensu«;90 dieser doppelte Ursprung ist auch ikonogra­ phisch durch den im Himmel verwurzelten und von dort her sich nährenden Baum belegt.91 Die anthropologische Auslegung dieses Bildes lieferte bereits im dreizehnten Jahrhundert Alexander Neckham: »Anthropos interpretatur arbor inversa«.92 Herder93 machte sich mit diesem Bild über Johann Sigis­ mund Elsholtz vertraut, der 1 663 den kosmologischen Grund aller mensch­ lichen Erkenntnis ausmaß und replizierte: >>aut planta potius homo inversus>individuellen und besonderen Phänomenen« auf dem Wege der Specifizierung und Generalisierung (connaissances specifi­ ques - genera/es) zur Wissenschaft der Axiome96 und Propositionen als dem allem Wissen >>gemeinsamen Stamm>ersten und allgemeinen Gründemetaphysische< Fundierung des Seins als eine >>metaphysique des choses>logische Künstler>Dollmetscher der Seeleeine ganze Wissenschaft>in eine deutliche complete Idee>ist ein Gesichtspunkt aufs Ganze der Scienz und der Punkt, aus dem sich alle Kettenreihen von Axiomen, Sätzen, Beweisen und Schlüßen anfan­ gen: ist dieser Punkt veste, ist der Gesichtspunkt allgemein und unum­ schränkt - so ist die Erklärung vollkommen.>ordre encyclopedique de nos connaissances>ordre genealogique des operations de l' espritEncyclopedie< größten Wert darauf gelegt, daß die einzelnen, isoliert scheinenden Wissenschaften und deren Terminologien vermittels Verweisungen (renvois) so miteinander verbunden werden, daß sie eine kontinuierliche, zusammenhängende, die Verzweigungen (ramifica­ tions) des Wissens stets erkennen lassende Einheit (unite) bilden, und auf diese Weise die faktischen Verbindungen (Iiaisons) der Dinge selbst wieder­ spiegeln;104 d'Alembert unterschied demgegenüber den >>ordre metaphysi­ queordre historique de ses progres depuis la renaissance des lettres.>le temps de l'enfanceest celui de la memoireWieder­ erzeugung des Denkens> etres particuliers >ordre historique>etres generaux>metaphysische wz

Vgl. hierzu unten S. 1 32 ff. 10 3 D'Alembert, Discours preliminaire de l'Encyclopedie, 84. 1 00. 1 04 Denis Diderot, CEuvres completes, VII,22 1 . 227. 229: » [ . . ] jusqu'a ce que tout l'intervalle .

vide soit rempli, Ia chalne complete, & I' ordre encyclopedique continu. « 1 0 5 D'Alembert, Discours preliminaire d e l'Encyclopedie, 140; cf. 1 1 0. 106 Cf. ibid. 1 1 4 . 1 07 Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 1 3 3 .

Enzyklopädische Ordnungen

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Ordnung« des Wissens besitzen die Allgemeinbegriffe höhere Dignität und sind insofern den Begriffen einzelner Dinge vor- und übergeordnet. Die Enzyklopädie, die sich an der >>metaphysischen Darstellung des Ursprungs und des Zusammenhangs der Wissenschaften« versuche,108 habe sich folglich an dieser Ordnung auszurichten. Es fragt sich, ob diese Auffassung mit Diderots These, der Mensch sei das »centre commun« nicht nur des Universums, sondern auch der dieses abbil­ denden Enzyklopädie, in Einklang zu bringen ist,109 denn in der Überlegung Diderots fällt ja die enzyklopädische mit der geschichtlichen Ordnung des menschlichen Verstandes zusammen: >> L'homme est le terme unique d'ou il faut partir, et auquel il faut tout ramener«. 1 10 Die Verstandesoperationen des >>isolierten Geistes«, der den Anlaß bot für die Entfaltung der später tran­ szendental genannten Geschichte des menschlichen Geistes, führen aber bei d'Alembert, trotz der Leugnung der Wirklichkeit allgemeiner Begriffe (re­ spective der >>etres generaux«), zu einer Konstruktion des Verhältnisses der Wissenschaften und Künste untereinander, die von den geographischen, klimatischen, kulturellen und verfassungspolitischen Bedingungen absehen zu können schien. D'Alembert wird auch 1 759 in seinem Essai sur les elemens de philosophie, ou sur les principes des connoissances humaines an dieser von den genannten Faktoren unabhängigen deduktiven Konstruktion des Baumes der mensch­ lichen Kenntnisse und Wissenschaften festhalten. Mit einer gewissen Über­ treibung zu reden, wäre also sein Entwurf einer Enzyklopädie bloß ein >>Schrein von Worten« . Nur aus diesem Grund ist es zu erklären, daß Herder noch zwanzig Jahre später von dem Desiderat eines »Baumes des Ganzen>wie Wissenschaft in ihren Zweigen und Früchten, allmälich, hie und da, und durch welche Veranlassungen sichtbar geworden.>Die Zeit selbst verändert eine j ede mit ihren Momenten, und der philosophischen Geschichte bleibt nichts übrig, als diese Einzelnheiten scharf zu bemerken und anzuwenden.>ordre encyclopedique>ordre historique des progres de l'esprit> ge­ meinsame Zentrumordre momentane>Metaphysische Hauptformel>J'ai souhaite que mon Livre fut une espece de Logique. Je n'ai donc pas mis des conj ectures a Ia place des faits; mais j 'ai fait en SOrte qu'elles resultassent des faits comme de leurs principes.>kon­ stante Gesetze>Erhaltung des Natursystems>Tatsachen« selbst als >>Prinzipien>Entdeckungen« in den Naturreichen fortschreitet, so schloß Bannet weiter, fehle uns noch: >>Il nous manque une Logique qui seroit infiniment utile, non-seulement dans les Seiences physiques, mais encore dans les Seiences morales. « 123 Indem sie sich weniger auf unsichere Analogieschlüsse stütze, sondern vielmehr mit der >>Kunst der Beobachtung« (Art d'observer) sich verbinden müsse, weiß sich Bannet mit seinem Konzept einer Begründung des Wissens den Vorar­ beiten Carl von Linnes verpflichtet, der in seiner Philosophia Botanica ( 1 75 1 ) formulierte: >>In Scientia Naturali Principia veritatis Observationibus confir­ mari debent. « 124 Nur so könne der Naturforscher der >>Methodus naturalis« auf die Spur kommen.125 Herder, der diese dem >Gang der Natur< selbst folgende, auf >>Beobachtungen« und Vergleichungen von Phänomenen sich stützende Wissenschaft auf alle Bereiche des menschlichen Erkennens über­ tragen wird, nennt sie eine >>aufklärende entwickelnde Philosophie«.126 Bei Leibniz findet sie ihren Wahrheitsgrund in der Auffassung, die >>apparence 121 Cf. R. Savioz, op.cit., 2 - 8; G. Rocci, Charles Bannet. Fifasofia e scienza, Florenz 1 975, 49; zu Calandrini vgl. auch V. P. Dawson, »Trembley, Bonnet, and Reaumur and the Issue of Biological Continuity«, in: Studies in Eighteenth Century Culture 13 ( 1 984), 45; V. A. C. de Caraman, Charles Bannet. Philosophe et naturaliste. Sa vie et ses a?uvres, Paris 1 859, 353: »Calandrini a travaille a Ia premiere edition des principes mathematiques de Newton, publiee a Geneve, en 1 739; il l'enrichit d'un traite elementaire des sections coniques et de plusieurs notes.« Zur gesellschaftlichen Situierung der Wissenschaften in Genf vgl. C. Montandon, »Sciences et societe a Geneve aux XVIIIe et XIXe siecles«, in: Gesnerus 32 ( 1 975), 1 6 - 34. 122 Vgl. hierzu die Ausführungen von V. P. Dawson, op. cit., 58. 60. 12 3 Charles Bonnet, Considerations sur les corps organises, 1 85. 12 4 Carl von Linne, Philosophia Botanica, 287. 12 5 Ibid. 27. 126 SWS IV, 1 9.

Naturgeschichtliche Folgerungen

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externe>C'est de la nature que je vais ecrire«), sondern vielmehr die Frage nach der Möglichkeit und Durchführbarkeit einer sol­ chen Interpretation überhaupt zu stellen. Die Erkennbarkeif der >Natur im ganzen< ist also wiederum zur Auslegung eines Textes in Beziehung gesetzt, wie der mit Bedacht gewählte Begriff der interpretatio zeigt.162 Diderot erläutert hier seine grundsätzliche Fragestellung nach der Auslegbarkeit oder Abbildbarkeit des ordo naturae in einer Weise, deren Signifikanz wenige Jahre später in dem Unternehmen der Encyclopedie zur Anschauung kom­ men wird. Linne und die ihm verpflichtete Tradition hatten vermittels eines überlie­ ferten, teils rhetorischen Begriffsinstrumentariums und einer Verfeinerung I 59 Cf. Moses Mendelssohn, Ä sthetische Schriften, 53 f. 160 Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 123; cf. 122. Zum Problem der Symmetrie vgl.

auch D'Alembert, Discours preliminaire de l'Encyclopedie, 68. 161 Denis Diderot, CEuvres philosophiques,192. 162 Cf. H. Dieckmann, »The Influence of Francis Bacon on Diderot's Interpretation de la Nature«, 304. 325.

Naturgeschichtliche Folgerungen

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der für die Arten spezifischen Unterscheidungskriterien zu einer scheinbar plausiblen Einteilung der Naturreiche gefunden. Bei Diderot rücken nun die Frage nach dem Standpunkt des Betrachters, nach dessen Verhältnis zu den Dingen und das Problem der »succession«, des zeitlichen Verlaufs der Er­ scheinungen, in den Blick. Diderot entwickelt einen Teil dieser Aspekte in zwei Stufen: ( 1 ) Wenn die Erscheinungen nicht miteinander verknüpft sind, so ist j egliche Wissenschaft unmöglich, da all unser Wissen auf Relationen beruht; diese Schwierigkeit wird die Auseinandersetzung mit Maupertuis sowohl in der Frage nach dem Begriff des >> Ganzen« (tout) als auch im Hinblick auf das Kontinuitätsgesetz kennzeichnen. (2) >>Wenn die Natur noch immer tätig ist« (>>si la nature est encore a l'ouvrage«), so folgert Diderot weiter, wenn also die Dauer der Arten nicht garantiert ist und die Schöpfung neuer Naturprodukte nicht ausgeschlossen werden kann, auch dann könne es, trotz der kontinuierlichen Verkettung der Phänomene, keine Wissenschaft geben, d. h. keine auf konstante Gesetze zurückführbare Er­ kenntnis. >>Toute notre science naturelle devient aussi transitoire que les mots . « 1 63 Wenn überhaupt sich dieser >>ordre momentane«, diese beständig sich wandelnde, sukzessiv gleichsam in immer neuen Konfigurationen er­ scheinende Ordnung der Dinge auf eine Wissenschaft in dem angezeigten Sinne reduzieren lasse, so könne sie stets nur die allerdings >>sehr unvollstän­ dige Geschichte eines Augenblicks« zur Darstellung bringen.164 Die Verschärfung des Methodenproblems bezieht sich hier neben der Einführung des zeitlichen Aspekts aufs Verhältnis des selbst der Verände­ rung unterliegenden Beobachters zu den Dingen; geradezu gegen die Intention der Enzyklopädie und die d'Alembertsche Prämisse einer von der >realen< Geschichte des Verstandes unabhängigen enzyklopädischen oder metaphysischen Ordnung des Wissens folgt Diderot in De l'interpretation dem von d'Alembert >>ordre historique>Bewegungen des Verstandes«: >>Je laisserai les pensees se succeder S O U S ma plume, dans l'ordre meme selon lequel les obj ets se sont offerts a ma reflexion; parce qu'elles n'en representeront que mieux les mouvements et la marche de mon esprit. >former l'esprit«.167 Da es keine allgemein gül­ tige und vollkommene Methode gebe,168 so schloß Buffon, müsse sich der Naturforscher mit einem >>ordre relatif a notre propre nature>vollständigen Beschreibung und exakten Geschichte« eines jeden Naturprodukts im be­ sonderen.171 Noch de Candolles Forderung nach einzelnen Pflanzen­ >>Monographien> L' etonnement vient souvent de ce qu' on suppose plusieurs prodiges ou il n'y en a qu'un; de ce qu'on imagine, dans la nature, autant d'actes particuliers qu'on nombre de phenomenes, tandis qu 'elle n 'a peut-etre jamais produit qu 'un seul acte. Il semble meme que, si eile avait ete dans la necessite d'en produire plusieurs, les differents resultats de ces actes seraient isoles; qu'il y aurait des collections de phenomenes independentes les unes des autres, et q ue cette chaine generale, dont la

philosophie suppose la continuite, se romprait en plusieurs endroits. L'inde­ pendence absolue d'un seul fait est incompatible avec l'idee de tout; et sans l'idee de tout, plus de philosophie.« 183 Diderot erläutert hier den Begriff des Ganzen durch den Hinweis, die Natur sei »eine einzige Handlung« (un seul acte); alle einzelnen, isoliert erscheinenden Handlungen sind durch das Gesetz der Kontinuität zu einer » Kette« verknüpft und nur deshalb gleich181 Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Essai de cosmologie, 50. 1 82 lbid. 3 1 . 1 8 3 Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 1 86.

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

sam die der Erkenntnis fähige »Eine Handlung« selbst. Er umgeht somit die Schwierigkeit, die sich aus seiner These ergeben hatte, daß j egliche Wissen­ schaft unmöglich sei, »wenn die Natur noch immer tätig« sei; denn die »Eine Handlung« hebt alle auch etwa noch unbeendete Handlungen zur Einheit hin auf. Der »ordre momentane« erweist sich so als die die Vielzahl der Erscheinungen einende »Eine Handlung« der Natur. Diese doppelte Ein­ sicht, daß die gleichsam personifizierte Natur immerzu tätig sei, d. h. auch neue Formen noch hervorbringe, und daß dennoch die Einheit der Hand­ lung als Ganzes bewahrt bleibe, wird Herders historische Methode über den Umweg Robinets maßgeblich bestimmen. Robinet schrieb in De Ia Nature: >>Il n'y a qu'un seul acte dans la Nature, dans lequel rentrent tous les evenemens: un seul phenomene clont tous les phenomenes sont des parties liees [ . . . ]. L'unite de modele, ou de plan, maintenue dans la prodigieuse diversite de ses formes, fait la base de la continuite ou de la liaison graduee des Etres. >wirklich unter­ brochen>Raison Eternelle Ganzen« bei Diderot und Herders Terminus des >>allersinnlichsten« >>Realseins«, welches die >>Einheit« allem einzelnen garantiert,201 waren ebenso wie Spinozas originärer Begriff des >Einen unteilbaren Ganzen>Les preuves qui etablissent la division de la matiere a l'indefini, servent donc de base a la theorie des enveloppemens. «209 Mendelssohn griff innerhalb seines Beweisverfahrens auf Boscovichs Abhandlung De continu­ itatis lege (1 754) zurück, weil er dort seine These durch einen großen Kenner der Geometrie implizit bestätigt fand. Boscovich versuchte eine Vermittlung zwischen den beiden, seit Aristoteles offenkundig sich widerstreitenden Theoremen, indem er einerseits die Materie aus wirklichen, unteilbaren und für sich, d. h. diskret existierenden Punkten zusammengesetzt sein ließ.210

Anatomie und Kunst«, in: Zu Begriff und Problem der Renaissance, ed. A. Buck, Darmstadt 1 969, 326 - 335, hier: 334; vgl. unten S. 1 6 3 - 165. 2 0 7 Moses Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drey Gesprächen [1 767], Berlin, Stettin 4 1 776, 206. 20 8 Ibid. 66. 20 9 Cf. Charles Bonnet, Considerations sur les corps organises, 22. 2 1 0 Roger Joseph Boscovich, De continuitatis lege et ejus consectariis pertinentibus ad prima materiae elementa eorumque vires dissertatio, Rom 1 754, S. VII f. : »puncta realia indivisibilia per se existentia«. Mit Beziehung auf Boscovichs Theoria philosophiae naturalis ( 1 758, 2 1 763) führt L. L. Whyte, »Boscovich's Atomism«, in: Roger foseph Boscovich [ . . ). Studies of his Life and Work on the 250th Anniversary of his Birth, ed. L. L. W., London 1 96 1 , 102- 1 26, hier: 1 09, aus: »Boscovich's method removes or transforms two problems which had occupied philosophical and scientific minds: the awkward contrast between the continuity of space and the supposed discontinuity of matter, and the difficulty of treating collisions between hard particles. >unausgedehnt« (inextensa),2 1 1 da in der Natur nichts der Wirklichkeit nach (actu) unendlich (teilbar) sein könne. Auf der anderen Seite dürfe der geometrische Punkt nicht als Teil einer Geraden, sondern bloß als Grenze kleinerer Abschnitte derselben verstanden werden. Er über­ trägt diese hier ganz dem aristotelischen Gedanken folgende Theorie auf den Begriff der Zeit und leitet daraus die Gesetze stetiger Bewegung (motus continuus) und der Beschleunigung (celeritas) ab.212 Mit einem stoischen Gleichnis kommt er zu dem Ergebnis, daß alles Werden und Vergehen innerhalb des durch den Schöpfer errichteten ordo immutabilis ac perpetuus durch das Gesetz der Kontinuität beherrscht werde. Jeder >>transitus« führe innerhalb dieses geschlossenen Systems >>per omnes intermedios status sive intermedias magnitudines«.213 Boscovich, der mit dem Begriffspaar trans­ itus/status den terminologisch nicht immer stringenten Bemerkungen Men­ delssohns über den kulturgeschichtlichen Begriff der >>Epoche>Wink, Spur, Ähnlichkeit von einer solchen Verwandlung eines WesensAbsichten Gottes >Wer in der Welt zeigt mir die Absicht Gottes darinn, daß dies Leben (Menschlich, als vom Phänomenon geredt) zusammenhange ?Kreislauf des Genußes>philosophischen Geschichte« angewandt hatte, faßte er diese Maxime seines Denkens in dem Satz zusammen: >>Menschheit ist das edle Maas, nach dem wir erkennen und handeln. «219 Beide Aspekte, Erkennen und Handeln, beziehen sich so aufeinander, daß die durch den Akt des Erkennens ermög­ lichte Verinnerlichung der dem Menschen äußerlichen, durch die Sinne zugänglichen dinglichen Welt in der durchs Handeln vollzogenen Entäuße­ rung als Kultur im weitesten Sinne, als Familie, Gesellschaft, Staat sich wieder darstellt. In dieser charakteristischen Doppelung, deren Vorbild man bereits bei Chrysipp sehen mag,220 wird der homo-mensura-Satz auch für d'Alem­ berts Begriff einer >> Geschichte des Menschen« wirksam, die er je nach dem Erkenntnisobjekt in die Geschichte des menschlichen >>Wissens« (connais­ sances) und in diejenige der » Handlungen« (actions) gliedert.221 Auch für Rousseaus Emile ( 1 762) bezeichnete die >>Menschheit« (humaniBr. 1,142. Denis Diderot, CEuvres completes, VII,2 12. 218 Vgl. hierzu zuletzt C.J. Classen, » L'ö:II:I]9Eta di Protagora«, in: Rivista di filosofia 80 ( 1 989), 1 63 - 1 8 8 . 219 SWS VIII, 199; cf. 235. 2 2° Cf. Cicero, De natura deorum 11,37: »Homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum«; cf. Topica 8 1 - 82. 221 D'Alembert, Discours preliminaire de l'Encyclopedie, 94. 216 217

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Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

te) das »edle Maß« des Menschen, aber die Disparität zwischen der Beschränktheit der »wirklichen Welt« (monde reel) und den unendlich vielen möglichen Welten, die die Einbildungskraft dem Menschen eröffnet (monde imaginaire), läßt die Schwierigkeit, dieses Maß anzuwenden, umso deut­ licher hervortreten: >>L'homme est tres fort quand il se contente d'etre ce qu'il est, il est tres foible quand il veut s'elever au-dessus de l'humanite. «222 Rousseaus Regel, die er bei dem Fortschritt der Erziehung seines Helden beobachtet, richtet sich demnach darauf, die Vorstellungskraft stets durch die sinnliche Erfahrung zu korrigieren: >>Maintenez l'enfant dans Ia seule depen­ dence des choses; vous aurez suivi l' ordre de Ia nature dans le progres de son education [sc. d'Emile] «.223 Allein Rousseaus >>Erziehung durch die Dinge« (education des choses)224 bezog sich nur erst auf den isolierten >>natürlichen Menschen«, und sein Erziehungsproj ekt ließ daher die sozio-kulturellen Bedingungen menschlichen Lebens weitgehend unbeachtet. Helvetius wird in seiner 1 773 postum erschienenen Abhandlung De l'homme auf diese entscheidende Problematik zurückkommen.225 Gerade an diesem Punkt setzt Herders Kulturtheorie ein; die Frage nach dem >>Abgrund und Ursprung dessen, was wir Cultur nennen«,226 fand 1 768 eine nähere Bestimmung in dem Versuch einer Auslegung des als geschicht­ liche >>Urkunde>Wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes, das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen ?Die größten Thaten des Krieges, die feinsten Anlagen des Staats, lauter Früchte der Logik, die uns unsre Wärterinnen einpflanzten, nicht der, die uns die Schullehrer einprägen wollteneine Logik, die noch unerfunden, theils allerdings schwerer seyn muß, als unsre Vernunftregeln, da sie die Einbil­ dungskraft und die Empfindung ordnen sollen: eine Logik, die nie in Regeln besteht, aber viel Philosophischen Geist zur Anwendung haben will: kurz, es ist die Methode: >dem menschlichen Geiste seine natürliche Stärke in voller Lebhaftigkeit zu erhalten und auf jeden Fall anwenden zu können.cognoscendi modus eruditus per abstracta«. Das geschichtliche Wissen (historia) geht als sinn2 34 Etienne Bonnot de Condillac, CEuvres philosophiques, ed. G. LeRoy, Paris 1 947, 1,2 15A (Traite des systemes); vgl. hierzu auch W. Proß, »Herder und die Anthropologie der Aufklä­

rung«, in HWP 11, 1 144 f. 2 35 SWS XXXII,4 1 . 2 3 6 SWS IX,432. 2 37 Cf. T. Woj towicz, Die Logik von ]ohann Jakob Breitinger (1701 - 1 776), Paris 1947. 2 3 s Cf. SWS XXXII,58 f. 2 39 SWS XXXII,20. 2 40 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von A. Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1 976, 1 63 f.

Naturgeschichtliche Folgerungen

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liehe Erkenntnis (cognitio sensualis) der Philosophie (cognitio abstracta) vorauf.241 Indem sich beide Weisen des Erkennens verbinden, korrigieren sie sich wechselseitig: die >>abstractio>reductio ad sensionem>modus vulgaris« mit dem >>modus eruditussubj ektiven Art des Denkens>auf Anthropologie zurückgezogen>das Volk auf die Quelle des gesunden Verstandes zurückzuweisendas Volk vernünftig>die Philosophen sinnlich zu machenMythologie>Poesie> Geschichte der Religionen>Philosophischen Ge­ schichte Kultur der Vernunft>Sammlungen von Beobachtungen und Aussichten>Metamor­ phoseKritik der Urteilskraft> Logik der Stoiker« schließt mit der These, daß die »innere Empfindung« (sentiment interieur)291 einziges » Kriterium der Wahrheit« sei; alle Erkenntnis erwachse aus dieser (aus sich selbst gewissen) Empfindung und aus den eines Beweises (demonstration) fähigen >>raisonnemens«.292 Die dieser Auslegung zugrunde liegende anthro­ pologische, die stoische Logik nach ihrer subjektiven Fundierung befra­ gende Deutung Formeys beschreibt also implizit bereits eine der Schwierig­ keiten, die sich Kant und Herder bei der Begründung einer >>negativen Logik« eröffnen werden. Auch in der zeitgenössischen Diskussion über die

289 Cf. Nachlaß Lambert: L. l. a. 738: 1 76: S. 525 - 528, und M. Steck, Der handschriftliche Nachlass von johann Heinrich Lambert (1728- 1777), Basel 1 977, 50. 290 Nach L. Braun, Histoire de l'histoire de la philosophie, Paris 1973, 201, folgt Formey im

wesentlichen den Ausführungen Bruckers. 291 Johann Heinrich Samuel Formey, Histoire abregee de la philosophie, Amsterdam 1 760, 149. 292 Diese Lehre geht letztlich auf Sextus Empiricus zurück; Gassendi macht sie sich im Syntagma philosophicum (ed. 1 658) zu eigen. Cf. C. Borghero, La certezza e la storia. Cartesi­ anesimo, pirronismo e conoscenza storica, Mailand 1983, 53.

78

Erster Teil Das Methodenproblem der Anthropologie ·

Quellen der menschlichen Erkenntnis wurden die für die Entstehung der Begriffe funktionalen Instanzen der inneren und äußeren Empfindung, so bei Reimarus etwa, eigens thematisiert.293 In ihr spiegelt sich die äußerst komplexe Rezeption des antiken Sensualismus durch Gassendi und Locke und ihre eklektische Instrumentalisierung in den philosophischen Schulen des 1 8 . Jahrhunderts. Die These aber, es handele sich bei Kants und Herders Aufnahme des zeitgenössischen Sensualismus um eine verdeckte, wenngleich rekonstruierbare Erörterung der Epikurs logischem Ansatz eigentümlichen Fragestellung, bedarf einer näheren Erläuterung. Zunächst sei, soweit mög­ lich, die Chronologie der Ereignisse gesichert. Bedauerlicherweise findet sich in Herders Nachschrift des Kamsehen Logik-Kollegs, der einzigen, die mit Sicherheit in den frühen 1 760er Jahren entstand, kein Hinweis auf die >>negative Wissenschaft>May 1 772nur ein Organon der Physik«325 oder, wie er an anderer Stelle notiert, eine >>Logik der Naturforschungphaenomenolo­ gia generalissinnlichen LogikPhaenomena motuum« auf deren >>principia mechanica« zurückzuführen, um derart die den Erschei­ nungen zugrunde liegenden >>vires Naturae« erschließen zu können.333 Der Brief an Lambert benennt diese ursächliche Bestimmung der Sinnenwelt als einer Welt der Erscheinungen terminologisch in der Sprache Ploucquets: >>ein ding oder eine substantz überhaupt«. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant die >> Lehre von der Sinnlichkeit« bekanntlich im Hinblick auf die >>Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich [ . . . ] als Dinge an sich selbst denken muß«;334 denn die Sinnlichkeit, so führte er aus, gehe »nicht auf Dinge an sich selbst, sondern nur auf die Art, 3 28 Cf. ibid. L. l. a. 740: 1: S. 1 ff. (Auszug aus Bernoullis Verzeichnis). 3 2 9 Zu Ploucquets Lehre von der subjektiven Genesis der Zeit und des Raums, auf die oben

S. 39 bereits hingewiesen wurde (»Repraesentatio facit spatium et tempus«: Principia 1 7 1 ), vgl. noch Principia, 1 62 - 1 7 1 . 33° Cf. Th. Abbt, »Auszug aus Herrn Pr. Ploucquets Methodo calculandi i n logicis«, in: Briefe die neueste Litteratur betreffend 17 ( 1 764), 6 1 - 1 04; zu Ploucquet vgl. E. Cassirer, Das Erkennt­ nisproblem, 11,493-498. 33 1 Johann Martin Chaldenius, Nova Philosophia Definitiva, Leipzig 1 750, 1 4 1 . K. Rosen­ kranz, Geschichte der Kant'schen Philosophie, ed. S. Dietzsch, Berlin 1987, 49, weist auf die Bedeutung des Scheins als des »Negativen« bei Lambert für die Entwicklung des Kamsehen Gedankens hin. Schon Gassendi kennt den Begriff einer scientia experientiae vel apparentiae bzw. einer scientia experimentalis/apparentialis: cf. C. Borghero, La certezza e la storia, 6 und 49. 33 2 Cf. Thomas Hobbes, Elements of Philosophy, part first: Computation or Logic, Ch. I, § 2: »Philosophy is such knowledge of effects or appearances, as we acquire by true ratiocination from the knowledge we have first of their causes or generation: And again, of such causes or generations as may be from knowing first their effects. « (Cf. Ch. VI [On Methotlj, § 1 ). 333 Isaac Newton, Opera quae exstant omnia, ed. S. Horsley, London 1 779 - 1 785, II, s. x. 33< KdrV B 307.

Kants und Herders »negative Wissenschaft«

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wie uns, vermöge unserer subj ektiven Beschaffenheit, Dinge erscheinen. «335 Diese vom Standpunkt des Kritizismus aus gegebene Bestimmung des psy­ chologischen Aspekts der Phänomenologie stützt die oben aufgestellte These, es handele sich bei Kants »negativer Wissenschaft« der 1 760er Jahre und in einer gewissen Umformung des Problems auch noch bei der »Nega­ tivlehreLogica positivamVOflEVov) sei ihm deshalb das Wahre (to dÄ.T]9€c;).337 Jedoch sei alles Erscheinende Erscheinung . für j emanden (to yap q>mVOflEVOV nvi €crn q>mVÜflEVov)338 und stets durch Umstände bestimmt.339 Alle Erscheinung besitzt ihre Gültigkeit stets nur in Beziehung auf das >>subjektive Principium>Menschliche Philosophie« sei gegenwärtig seine >>liebste Beschäftigung«,343 allein: >>Zweifel wider manche Ihrer Philosophi­ schen Hypothesen und Beweise, insonderheit da wo sie mit der Wißenschaft des Menschlichen gränzen sind mehr als Spekulationen. «344 Die Art der Argumentation, die Herder in seinem Manuskript anwendet, zeigt, bei aller Abhängigkeit von seinem Lehrer, schon die anthropologische Zentrierung seines Denkens; sie ist bestimmt von dem ethisch-ästhetischen Aspekt, den Kant innerhalb der >>Logic des Epicurs« und mit Blick auf Baumgartens Philosophie in den Vorlesungen besonders akzentuiert hatte. Herders Aus­ führungen setzen ein mit einem Hinweis auf die Funktion der >>negativen Wissenschaft«, die in dem Gegensatz und in der Kritik an den dogmatischen >>Systemen>dogmati­ schen« (veritates dogmaticae) von den >>historischen«, aus den Sinnesdaten durch Erfahrung gewonnenen Wahrheiten (veritates historicae)345 und führte aus: >>Ein Lehrgebäude (systema) ist eine Menge« zu einem >>Ganzen« ver­ bundener >>dogmatischer Wahrheiten«;346 er sprach zugleich die (ihrerseits auf Bacons Idolenlehre zurückgehende) Warnung vor dem >>Vorurteil des

der Historie in enzyklopädischen Ordnungen des Wissens«, in: Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, edd. H. W. Blanke, J. Rüsen, Fader­ born u. a. 1 984, 1 1 6 - 1 20, einer Verzeichnung des anthropologischen Problems im 1 8 . Jahrhun­ dert; zu Marquards Stellungnahme vgl. W. Proß, » Herder und die Anthropologie der Aufklärung«, in: HWP 11, 1 1 32 f. 34 1 Cf. lmmanuel Kant, Träume eines Geistersehers, in: Werke, 1,963. 34 2 Cf. H. W. Arndt, »Die Logik von Reimarus«, 60; siehe auch die Jäsche-Logik bzgl. »spekulative« - »gemeine Erkenntnis«: lmmanuel Kant, Werke, 111,450. 343 Br. 1,120; zur Datierung vgl. ibid. 347. 344 lbid. 345 Georg Friedrich Meier, Auszug § 1 04; cf. §§ 1 9 - 20. 34 6 lbid. § 1 04.

Kants und Herders »negative Wissenschaft«

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angenommenen Lehrgebäudes (praejudicium systematis)« aus .347 Meier und Kant bestritten nicht die Möglichkeit eines solchen »Lehrgebäudes«; Kants >>Disziplin« als >>Negativlehre« schafft ja offenbar, wie gezeigt werden konnte, die Voraussetzung, aufgrund welcher jede wahre348 >>Doktrin« vor dem praejudicium systematis bewahrt werden soll. Herder fand in Meiers Überlegung den Ansatz zur Ablehnung eines j eden dogmatischen Systems, zwar noch vor seiner 1 766 beginnenden Lektüre Condillacs,349 und sein bei aller persönlichen Hochschätzung beharrlicher Widerstand gegen Winckel­ mann, der einen Aspekt der »Wißenschaft des Menschlichen«, die Geschichte der Kunst, überhaupt in der Form eines >>Lehrgebäudes« darzustellen unter­ nahm, ist in seiner Skizze zur >>negativen Wissenschaft« im Detail vorberei­ tet. Dennoch erwägt Herder im Manuskript die Möglichkeit eines Systems, insofern man es >>aus dem subjektiven Principium« aufführe;350 dieses Prin­ cipium, das Kant in seiner Vorlesung über Baumgartens Moralphilosophie durch »3 Hauptbegriffe in der Seele« erläuterte, findet sich sowohl in Her­ ders Nachschrift als auch in seinem Manuskript wieder durch folgende Dreiteilung:

» Grund der Psychologie: 3 Hauptbegriffe in der Seele 1) Erkenntnis. Phaenomena vor wahr oder falsch halten: so die theoretische Philosophie 2) Gefühl: sezt Erkenntnis voraus Phaenomena Iust und Unlust: ist meistens neu. von Erkenntnis unterschieden: es druckt die beziehung eines Gegen­ standes auf unsere Gesamte Kräfte aus. daher Erkenntnis ohne Gefühl Spekulation. 1) bei einer Art des Erkenntnisses verschiedene Gefühle. 2) der Größe des Erkenntnisses nicht proportional: daher kann man zwar Erkenntnis aber nicht Gefühl hervorbringen. 3) Begierde sezt beides voraus a) Vorstellung b) beziehung auf Iust und Unlust: das besondere: 1) die Praevision einer Möglichkeit durch meine Kraft.«351 347 Ibid. § 1 70. 34 8 Vgl. die Jäschesche Logik: »Und doch ist Metaphysik die eigentliche, wahre Philosophie ! «

(1. Kant, Werke, III,457).

349 Cf. J. Stückrath, »Der junge Herder als Sprach- und Literaturtheoretiker«, 84. 35o HN XXVIII 2: fol. 69' I. 2 und Anhang 1 . A. 35 1 Nachschrift in: Immanuel Kant, A. A. XXVII,12 (Hervorhebungen von Herder); 0.

Schlapps durchweg scharfsinnige und quellenkundige Ü berlegungen scheinen diesbezüglich einigermaßen rätselhaft, wenn er schreibt, daß Kant » bereits 1 775 die Dreigliederung in Erkenntnis-, Lust- und Unlust-, und Begehrungsvermögen« angenommen habe (Kants Lehre

88

Erster Teil D a s Methodenproblem d e r Anthropologie ·

Daß dieser Einteilung eine bestimmte Auslegung der drei Kpnf] pta 'ti'j� > Geschichte der Cultur« (Herder)381 steht dem Bemühen Kants, die allgemein gültigen, von den zufälligen Bedingungen und Umständen des Sinnlichen und Histo­ rischen gereinigten >> Grundsätze« zu einer >>Metaphysik ·d er Sitten« vorzule­ gen, unvermittelt gegenüber.382 Die bloß als Propädeutik gedachte >>negative Wissenschaft« Kants gerät bei seinem Schüler zu der dem Menschen einzig möglichen Methode, welche die Einsicht in die Geschichte des menschlichen Wissens leitet. In den folgenden Jahren rückt Herder die in den Fragmenten angelegte und teilweise schon entfaltete Sprachproblematik in den Mittel­ punkt seines anthropologischen Interesses. Die Methode, die er in Kants Vorlesungen als » Logic des Epicurs« kennengelernt hatte, bestimmt dann in Verbindung mit dem semiotischen Aspekt der sinnlichen Erfahrung seine kulturgeschichtlichen Untersuchungen zur Aeltesten Urkunde des Men­ schengeschlechts, zum Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele und in der Geschichtsphilosophie von 1 774.

3 8 ° Cf. Immanuel Kant, Werke, 1,9 1 4 f. ( Von der Einrichtung seiner Vorlesungen). 3 81 Zitiert nach H. D. lrmscher, »Johann Gottfried Herder. Entwurf zur Philosophie der

Geschichte«, in: Textkritik und Interpretation, ed. H. Reinitzer, Bern u. a., 1987, 339 - 3 5 1 , hier: 339, I. 10. 3 82 Zum systematischen Aspekt von Kants Begriff der »Geschichte« vgl. G. Lehmann, »System und Geschichte in Kants Philosophie« ( 1 958), jetzt in: ders., Beiträge zur Geschichte

und Interpretation der Philosophie Kants, 152 - 1 70.

ZwEITER TEIL Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele

1. Nosce teipsum: Die Psychologie der Persönlichkeit Die Eigenart der psychologischen Studien, die Herder zu Beginn der 1 770er Jahre intensiviert, beruht auf der gleichzeitigen Rezeption von systematisch völlig unterschiedenen Quellen. Der soziale Sensualismus von Helvetius und die philosophische Mystik Pierre Poirets, die Physiologie Bonnets und Morellys »Physik des Schönen« beschreiben einige der Konzepte, von denen er sich Aufschluß über das Leben der menschlichen Seele, über den >>Ur­ sprung dessen, was wir Cultur nennen> Ge­ schichte der Religionen« und die Dichtungen früherer Zeiten Daten zu einer Geschichte der menschlichen Seele, weil ihre Metaphern und ihre bilderrei­ che Sprache, gleich derj enigen von >> Kindern und Narren«, dem Ursprung unseres Verstandes und der >> Geburt unsrer Vernunft«5 sich näherhin ver­ bunden zeigten als die begrifflichen Ableitungen Wolffs, Baumgartens oder Crusius'. >>Eine Geschichte der mystischen Theologiehaben Poiret und Arnold geschrieben; beide aber waren selbst Mystiker, und behielten also nicht freien Kopf und Stand­ punkt.PoiretPoiret>metamorphose de M. Poiret«,14 seine Wendung vom Cartesianis­ mus zur mystischen Theologie. Im April 1 685 charakterisierte ihn Bayle in den Nouvelles de Ia Republique des lettres auf folgende Weise: >>C'est un homme d'une probite reconnue, & qui de grand Cartesien est devenu si devot, que pour songer mieux aux choses du Ciel, il a presque rompu tout commerce avec Ia terre.«15 Der Krieg Frankreichs gegen das protestantische Holland ( 1 672 - 1 678) zwingt ihn zur Flucht nach Hamburg, wo er eine lebenslange Freundschaft mit der weithin berühmten Antoinette Bourignon schließt.16 1 680 endlich reist er nach Holland und führt dort bis zu seinem Tode ein zurückgezogenes, von allen konfessionspolitischen Auseinander­ setzungen unbehelligtes Leben. So ist denn seine ablehnende Haltung gegenüber dem dogmatischen Lehrgebäude der lutherischen Orthodoxie schon durch den >>Hamburgischen Streit« 1 7 belegt, der durch das Verbot seiner pädagogischen Schrift De christiana liberorum educatione Aufsehen erregt hatte. Arnold, der ihm in seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ket­ zer-Historie eine längere Betrachtung seines Lebens und Werkes widmete, schrieb über ihn, er habe >>niemals von hertzen den gemeinen meynungen und sätzen [sc. der Schultheologie] beypflichten können.«18 Bei unabhängi­ gen Denkern wie Christian Thomasius19 und Leibniz,20 der ihn in seiner Monadologie noch als Cartesianer erwähnt, stand er deshalb in einigem Ansehen. Mochte seine glaubenspolitisch nicht korrumpierte, auf Toleranz bedachte Stellung auf Herder gewirkt haben, so hatte dieser doch in mehrfa­ cher Hinsicht Grund, ihn selten zu erwähnen: Poiret war ein eifriger Gegner Lockes und Spinozas und trat beiden in mehreren Schriften, u. a. in Fides et Ratio collatae ( 1 707), in scharfer Form entgegen; die Annahme eines gött­ lichen >>influxus>desir« die bei Baumgarten auf die »perceptiones obscurae« eingeschränkte Bestimmung des fundus zu überwinden versucht.34 Denn dieser Ursprung der mensch­ lichen Seele bezeichnet ihm zugleich den >>Sinn der Menschheit (Sensus humanitatis)«, der sich dem Seelenforscher durch eine >>Zergliederung der Leidenschaften« erschließe.35 Herders Beziehung auf den sensus humanita­ tis, den er aus der common-sense- Theorie George Berkeleys36 übernimmt, liefert nebenbei ein weiteres Indiz für seine in dieser Hinsicht auch um 1 780 noch ganz der Kantischen Erkenntniskritik der 1 760er Jahre verbundene Einschätzung des anthropologischen Grundproblems. Diese eigenartige Ambivalenz des >>fundus animae«, der bei Herder neben den Affekten, Empfindungen und der als >>göttliche, prophetische Gabe« verstandenen Einbildungskraft auch die vernünftigen und erkennenden Fä­ higkeiten des Menschen umfaßt,37 ist denkgeschichtlich vielfach dokumen­ tiert. Für Herders Auslegung des Begriffs kommt gleichwohl die in der mystischen Tradition über Meister Eckhart,38 Johannes Tauler und bis zu Poiret wirksame Interpretation desselben als Ortes der Erkenntnis und Vereinigung des Menschen mit Gott erst sehr spät, nämlich über die Vermitt­ lung Poirets, und dann in der oben angezeigten Umdeutung des Terminus im Sinne seiner anthropologischen Prämisse, in Anschlag. Nahezu die gesamte, auch die hochmittelalterliche Mystik bestimmende Terminologie liegt bereits in Ciceros Tusculanae disputationes (45 v. Chr.) 34 Cf. W. Proß in: HWP 1,8 10. 35 SWS IX,304 f. ( Über den Einfluß der schönen in die höhern Wissenschaften : 1 779). 3 6 George Berkeley, Alciphron, Vl, 1 2 : »By common sense, I suppose, should be meant, either

the generat sense of mankind, or the improved reason of thinking men.« (Zitiert nach: W. Risse, Die Logik der Neuzeit, 11,487, Anm. 259). 37 Insofern wäre die Auffassung von H. Adler, »Fundus animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung«, in: DVjs 62 ( 1 988), 197 -220, der in Baumgartens Gebrauch des Terminus die schon mehrfach vermittelte Ü berlieferung des Gedankens und des Begriffs ausspart, zu korrigieren, ebenso seine These, daß zuerst Baumgarten »den Begriff des fundus animae einführte« (vgl. ders., Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie - Ä sthetik Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Harnburg 1 990, 39. 1 53 ), wie ein Blick in die im folgenden genannte Literatur lehrt. 3 8 G. Kaisers Annahme, daß Herders Begriffsbildung auf einem »unmittelbaren Rückgriff auf die Mystik« Eckharts beruhe (dieser Auffassung folgen u. a. U. Gaier, Herders Sprachphilo­ sophie und Erkenntniskritik, 25, und E. Ruprecht, »Herders Gedanken über die Seele und ihre Unsterblichkeit«, in: Bückeburger Gespräche 1 979, 3 1 - 49, hier: 38), kann durch die folgenden Ausführungen bzgl. der Lehre Poirets widerlegt oder aber erheblich eingeschränkt werden (cf. G. Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt/M. 2 1 973, 1 44; cf. 25 - 3 1 . 143 - 152. 1 74 - 1 76). Kaiser weist aller­ dings zu Recht auf die große und im einzelnen wohl nicht recht fixierbare Anzahl der Literatoren, die Herders Gedanken angeregt haben, hin (cf. ibid. 26).

Nosce teipsum: Die Psychologie der Persönlichkeit

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vor;39 da Cicero sich als scharfer Kritiker der Begriffe capacitas, vas, fundus animi40 erweist, so stellt sich die Frage nach deren möglicherweise verloren gegangenen, vermutlich stoischen Quellen.41 Die Gestalt der Seele (figura, forma,facies ) , so Cicero, brauche nicht bestimmt zu werden, da sie nichts zur Erkenntnis ihrer Vermögen beitragen würde. Das, was empfindet (sentit), erkennt (sapit), lebt (vivit) und gedeiht (viget), sei himmlisch (caeleste), gött­ lich (divinum) und ewig (aeternum). Indem die Seele dieses Vermögen der Erinnerung, des Geistes und des Denkens besitze, sei sie imstande, das Vergangene in ihrem Besitz zu erhalten, das Zukünftige vorauszusehen und das Gegenwärtige zu begreifen.42 Ihre Tätigkeit bestimmt Cicero als topi­ sches »Erfinden« oder >>Auffinden« (inventio, excogitatio).43 Auf analoge Weise spricht Herder in der ersten Betrachtung Ueber Christian Wol[fjfs Schriften mit einem Hinweis auf Campanella von den >> Erfindungsschätzen unsrer SeeleEssay< and Bodmer and Breitinger«, in: Modern Language Quarterly 10 ( 1 949), 1 6 -32. In Frankreich fand Locke übrigens die früheste Aufnahme durch Johannes Clericus, »der schon vor dem Erscheinen des Lockeschen Essay einen Auszug daraus ins Französische übersetzt hatte.« (Cf. W. Risse, Die Logik II,479 - 480, Anm. 228). 1 0°

101

Herders Auseinandersetzung mit Poiret

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manchen Aspekten mit dem späteren Sensualismus durchaus berührt. Zu­ dem dürfte der oben entwickelte Gedanke eines gleichsam experimentellen Verfahrens der Selbsterkenntnis, das Herder in der mystischen Literatur zu finden glaubte, nicht unterschätzt werden.

2. Herders Auseinandersetzung mit der Erkenntnislehre Poirets Herder erarbeitete die Grundlagen zu seinem Erkenntnisideal einer aus den »Formeln« des Weltalls auf den unbestimmten Reiz der menschlichen Seele zurückgeführten >>Psychologischen Physiologie« vor allem anhand der fran­ zösischsprachigen wissenschaftlichen Literatur. Charles Bonnet scheint hierbei den nachhaltigsten und, wie an dem Begriff der >> Personalite> Naturlauf im Kleinen> GanzenPhilosophie der Seele, des Weltalls, der GottheitAuszug und Verwalter der SchöpfungOrdnung> Kräften, Reizen und GefühlenSensorium seines Gottes in allem Lebenden der Schöpfung, nach dem Maasse es ihm verwandt ist, werde.Üeconome de 1 06

SWS VIII,200.

112

Zweiter Teil Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

toute la Nature«107 und bezeichnete ihn als »abrege du grand monde«; er sah in ihm einen >>Auszug>l'extrait & le centre, ou aboutissent les rayons, pour ainsi dire, & les ressorts de toute la Nature«.108 Herders oben skizzierte Einschätzung der mystischen Literatur als einer Datensammlung zur Geschichte der menschlichen Seele kann also durch sachliche Kongruen­ zen, wie sie Poirets Psychologie nahelegt, ergänzt werden. Wie es den Gelehrten seiner Zeit zu einer gewissen Mode geworden sei, sich dem Studium des Altertums zu widmen und die Inschriften antiker Münzen zu entziffern, so habe er selbst sich zur Aufgabe gemacht, die menschliche Seele, diese >>medaille vivante de la Divinite« 109 zu untersuchen, deren von Gott eingeschriebene Wahrheit >>je suis« von dem Dasein eines >>Ich« zeuge und als >>Maß der Gewißheit« (modele de certitude)110 die Erkenntnis alles anderen, Gottes und der Welt, erst ermögliche. Poiret, darin möglicherweise durch Balzacs Socrate chrestien veranlaßt,1 1 1 modifiziert das cartesianische cogito derart, daß er die Gewißheit dieses Selbst als eine auf >>Erfahrung« (experience) beruhende Empfindung beschreibt: >>j e sens & [ . ] j'apen;ois tres-particulierement, que je suis . « 1 1 2 Aber dieses >>Ich bin« ist in vieler Hinsicht durch >>Negation« 1 1 3 gekennzeichnet und leitet daher not­ wendig auf die Erkenntnis eines (personalen) >>pur ]E SUIS« über,114 dessen >>Sein« zugleich das >>unendliche und unaussprechliche Meer des absoluten Seins, des großen und einigen Ganzen« meint.' 1 5 Diese Dialektik zwischen dem transzendent gedachten personalen Sein und der durch den Makrokos­ mos-Gedanken ermöglichten lnnerweltlichkeit Gottes bestimmt durchaus die Verfahrensweise der Poiretschen Theologie, und sie ist hierin, wie im .

.

107 Pierre Poiret, Oeconomie divine, ou systeme universei et demontre des ceuvres & des desseins de Dieu envers !es hommes, Amsterdam 1 687, 11,725.

Ibid. 11,692. Pierre Poiret, Oeconomie divine, Tome I; »Au Lecteurvisible par tout« 1 1 7 und die Welt daher >>Dieu qui me paroit en guise de corps « . 1 1 8 >>Il n ' y a rien qui ne l e publie, qui n e l e montre, & qui ne le prouve avec evidence & conviction. Jovis omnia plena, disoient les Payens memes . « 1 19 Diese Wahrnehmungslehre, die Poiret anband der höchst diffe­ renzierten Theoriebildung Malebranches in dem Verhältnis der >>äußerlichen Sinne« zu den Körpern als »Substanz Gottes>ersten, welcher die Gottesleugnung in ein Lehrgebäude gebracht>ASpinoza< mitgeteilte >>Yerzeichniß etlicher Personen, welche des Spinoza Meynung gehabt haben>L'opinion d'Alexandre, d'Amaury, de David de Dinant et de Spinoza, et peut estre aussi de Parmenide et Melisse, qu'il n'y a qu'une seule substance qui est Dieu, approche de celle de quelques mystiques. Weigelius et un certain Angelus Silesius m'y paroissent aller. >sensus divinus>sensatio dei Oberfläche>Abgrundabyme de sentimens & pensees tenebreuses & confuses, de vivacites inquie­ tes & affligeantes.>Empfindung>Streben>dunkles Verlangen>unend­ lichen Obj ektes>unendlichRuys­ broeck< in Bayles Dictionnaire fand der hiermit intendierte Erkenntnisfort­ schritt eine Erläuterung durch das Verhältnis der potentiae inferiores zu den oberen Seelenkräften; >>neue Zustände des göttlichen Lebens>in den untern Kräften der Seele, nach diesem in den obern (dem Gedächtnisse, dem Verstande und Willen) darauf in dem Grunde ihrer Pierre Poiret, Oeconomie divine, 1,259. Pierre Poiret, Fides et Ratio collatae, 4 1 : »nulla interveniente imagine«; diese Sprachfigur ist in der - in einem weiteren Sinne gefaßten - mystischen Literatur häufig, so etwa noch bei Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate, ed. A. Buck, 22: »nullo imaginis interce­ dente velo«. Sie geht wohl zurück auf Paulus, 1. Cor. 13,12: »videmus nunc per speculum in enigmate I tune autem facie in faciem I nunc cognosco ex parte I tune autem cognoscam sicut et cognitus sum«. 127 Pierre Poiret, Oeconomie divine, 11,653; cf. HN XXVII 3 1 : fol. 8', I. 7 - 1 0. 12s Ibid. 11,370. 129 Ibid. 11,656. I JO Ibid. 1,39.40; 11,400. lll Ibid. 11,665. 6 1 7; cf. 423 und 1,45. 132 Ibid. 11,3 83: Kann die Seele nicht, fragt Poiret, »comme elle a une propre substance quant a sa nature, faire naitre dans soy [ . . . ] une lumineuse Idee de soy-meme [ . . . ] ? « Herder spricht von einer » Geburt der Vernunft« (SWS VIII,198); wenn auch der Hinweis auf Meister Eckharts Gedanken der Gottesgeburt naheliegt, so ist doch eine Beziehung auf Poiret viel wahrschein­ licher. 125

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Herders Auseinandersetzung mit Poiret

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Essenz, und endlich über ihr Wesen, und die Wirkungen ihrer Kräfte« hinaus.133 Dieser Erkenntnisprozeß vollzieht sich bei Poiret durch drei Stufen: er beginnt bei der »pensee directe, qui est la pensee d'instinct, de recherche & de desir«, setzt sich fort über die »pensee de reflexion« und erfüllt sich schließ­ lich in der » [pensee] d'acquiescement, de j oulssance, d'amour ou de joye.>Übereinstimmung>Bildersprache« der Völker fand er die Physiognomie des im Grunde unaussprechlichen Anfangs menschlichen Wissens thematisiert, der als solcher nie in die Erscheinung tritt. Wenn Alexander Pope sein Gedicht über den Menschen eine >>general Map of Man«146 nannte, so ist Herders >>Psychologische Physiologie« gleichfalls der Versuch einer aus >>Fragmen­ ten« zusammengesetzten >>Farbenreichen Charte des Menschlichen Herzens und Geistes«,147 welche die historisch-klimatische Differenzierung der Ge­ schichte des Menschen zur Darstellung bringt. Die bekannte Lehre des Empedokles, daß sich alle natürlichen Vorgänge auf den Gegensatz von >Liebe< und >Haß< (oder vielmehr >Streit>jener griechische Weise>im Traum ahndete«.148 Aber der empedokleische Gedanke bestehe nichtsdestoweniger aus eigenem Recht, ohne daß er durch die Annahmen Newtons >erklärt< werden müßte.149 Inwiefern diese bloß Ausdruck einer bestimmten » Kultur der Vernunft>DichterWie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichniß, das die grösten und kühnsten Theorien gebohren.>Bildersprache>allmäliche Steige­ rung und Vermehrung der SymboleMerkmalen« (Marks) als einer >>Art von Kurzschrift« (a Kind of Brachygraphie) spricht; durch sie bewahre sich die Seele die Erinne­ rung an die Dinge.160 In der ersten Fassung Vom Erkennen und Empfinden schrieb Herder: >>Das Gesetz Gottes ist schon mit Flammenschrift in [der Menschen] Herz geschrieben: in ihr glühen Kräfte, lebendige Funken, alles in ihr Wesen zu verwandeln, was sie kann, das Bild der Gottheit in Allem anzuerkennen und als ein Theil ihres Selbst zu geniessen.«161 Einige der hier kontaminierten Metaphern gehen zweifellos unmittelbar auf die Lektüre der Bibel sowie auf Spinozas Tractatus theologico-politicus162 zurück, und Lu­ ther übersetzte Sapientia Salomonis 2,2: >>vnser Rede ist ein füncklin I das sich aus vnserm hertzen regt. « 1 63 Aber das Problem der ideae innatae, wie Herder es hier formuliert,164 stellte sich ihm in verwandter Terminologie bereits zu der Zeit seiner Abschrift von Leibnizens Nouveaux Essais. Aus deren >>Pn!face« hielt er damals fest: >>Ist die Seele eine leere Tafel, nach Aristoteles und Locke; oder hält sie die Gründe von vielen Begriffen und Lehrsätzen ursprünglich in sich, die die äußern Gegenstände nur bei Gele­ genheit aufwecken ? [>>comme je le crois avec Platon et meme avec l'Ecole et avec tous ceux qui prennent dans cette signification le passage de S. Paul (Rom. 2,15) ou il marque que la loy de Dieu est ecrite dans les coeurs.«]t6 s Diese Urbegriffe nennen die Stoiker notiones communes, prolepses, Kotva� evvoia�; Julius Scaliger semina aeternitatis, Zopyra, lebendiges Feuer, leuch­ tende Züge, in uns verborgen, die der Gebrauch der Sinne aufweckt, wie Funken, die der Schlag aus dem Gewehr treibt. « 166 Den hier eingeschobenen 1 59 Cf. Dante, Par. 20,29-30 von den Worten des himmlischen Adlers: »parole, I quali aspettava il cuore, ov'io le scrissi.« 160 Henry More, The lmmortality of the Soul [1 659], ed. A. Jacob, Dordrecht u. a. 1987, 1 4 1 ; vgl. die i n BH 592,2 erwähnte Untersuchung Mores D e Anima Ejusque Facultatibus ( 1 675). 161 SWS VIII,248. 162 Cf. Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 1 44 (Paginierung der Erstausgabe): »Nam tarn ipsa ratio, quam Prophetarum et Apostolorum sententiae aperte clamant Dei aeternum verbum et pactum veramque religionem hominum cordibus, hoc est, humanae menti divinitus inscriptam esse eamque verum esse Dei syngraphum, quod ipse suo sigillo, nempe sui idea, tanquam imagine suae divinitatis consignavit.« 16 3 Vgl. die Version der Vulgata: »Sermo scintillae ad commovendum cor nostrum«. 164 Morelly (zu diesem s. unten S. 133 ff.) spricht mit Beziehung auf Platon von den >>loix parfaites [et] inviolables, ecrites en nötre creur. « (Physique de la beaute, Amsterdam, Brüssel 1 748, 6 1 ). Ähnliche Platonismen waren allerdings weit verbreitet. 16 5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Werke, 11111 , S. VIII. 166 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais, nach Herders Nachschrift in: SWS XXXII,2 12.

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Zweiter Teil Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

Passus aus dem französischen Originaltext hatte Herder nicht exzerpiert; dennoch bezieht er sich in der Folge seines Manuskripts auf eben diese Stelle: »Freilich kann man dieses innerliche Gesetz Gottes nicht a Iivre ouvert lesen; aber gnug, es durch Aufmerksamkeit zu entdecken, wenn die Sinne dazu Gelegenheit geben«.'67 Die Bibel kennt mehrere verwandte, auch dem Alten Testament zugehörige Formulierungen für dieses den Seelen eingeschriebene Gesetz Gottes; die von Leibniz zitierte und auch für Poiret mehrmals belegte Stelle aus dem paulinischen Römerbrief ist wohl die prägnanteste. Doch bietet sie nur einen Aspekt der von Herder intendierten, die >nationalge­ schichtliche< Eigenart signalisierenden >>Bildersprache«. Es handelt sich nämlich bei dem Begriff der >>Flammenschrift«, der weder der Bibel noch einem der von Herder aller Wahrscheinlichkeit nach benutzten Mystiker entstammt, um ein bei Helvetius mitgeteiltes >Datum< aus der Geschichte der islamischen Religion, also um ein Dokument, das in Herders Archäologie des Morgenlandes Verwendung finden sollte. In einer Note zu seiner Schrift De !'Esprit bemerkt Helvetius: >>Les Musulmans croient que tout ce qui doit arriver, jusqu'a la fin du monde, est ecrit sur une table de lumiere appellee Louh, avec une plume de feu appellee Calam-azer; et l'ecriture qui est dessus se nomme Caza ou Cadar, c'est-a-dire, la predestination inevitable. « 1 68 Die mohammedanische Metapher für die Vorherbestimmung alles Geschehens, die sich in Herders Formulierung mit der biblischen Rede von dem den Herzen eingeschriebenen >> Gesetz Gottes« verbindet, ist Ausdruck eines bestimmten, die >orientalische< Denkart kennzeichnenden >> Geschmacks«, wie er der Frühzeit der Kultur der Seele und ihrer geographischen Lage entspricht. Dieses unausweichliche Geschick war aber auch in dem Begriff der 7tpOAT}'Ifl� auf dem Wege zunehmender >>Steigerung« und Abstraktion der »Symbole« bei den Griechen zur Sprache gekommen; nach der Aussage Ciceros stammt er ursprünglich nicht von den Stoikern, wie Leibniz vermu­ tete, sondern von Epikur.169 In seiner lateinischen Fassung als praenotio war er Herder auch von Gassendi her geläufig, der ihn innerhalb der Wahrneh­ mungslehre im Zusammenhang mit der oben erläuterten Problematisierung der imaginatio gebraucht hatte.170 Nach der bei Cicero überlieferten Termi­ nologie meint er den dem Menschen eingeborenen Vorbegriff von den 167 SWS XXXII,2 1 3 ; Leibniz nennt dieses Gesetz »ces loix eternelles de Ia raison«: Werke, III/1, S. XII. 168 Claude-Adrien Helvetius, De /'Esprit [1758], Paris 1988, 520, Anm.; vgl. Herders Formu­ lierung: »mit Feuerkarakteren mahlen« (SWS VIII,244). 1 69 Cf. Cicero, De nat. deor. 1,44; cf. 43. Epikurs Gedanke braucht hier nicht entwickelt zu werden; vgl. hierzu E. Asmis, Epicurus ' Scientific Method, 2 1 - 24. 1 70 S. oben S. 35 .

Kulturelle Differenzierungen

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Göttern, den er auch >>legis perpetuae et aeternae vis« und >>Iupiter>fatalis necessitas« nennt.171 Die kulturell vielfach variierten Umschreibungen dieses >Innersten der Seele>Stamen«: >>Reiz«, so heißt es in der zweiten Fassung von 1 775,1 72 >>der noch nicht Empfindung ist, aber stamen ein dunkles Fünklein zur Empfindung«;1 73 dieser sei zugleich >>Beginn der Organisa­ tion«.174 In der dann veröffentlichten Fassung von 1 778 behält Herder bei etwas veränderter Formulierung den Sinn der Stelle bei; in dem vom >>Reiz« oder >>Stamen« anfangenden >>Fibernbau« werde »das Eine Gesetz sichtbar, das die kleine Fiber mit ihrem glimmenden Fünklein von Reize regte.«175 Daß er den Begriff >>Stamen« auch in der Aeltesten Urkunde verwendet, zeichnet die im Hinblick auf ihre Entstehung enge Verwandtschaft beider Schriften aus. Dort schrieb er (mit einem etwas schiefen Gebrauch der Metapher), man könne zu >>Einiger kritischen Gewißheit« über den Ur­ sprung der chaldäischen Religion kommen, wenn man sie in ihren »simpel­ sten Stamina« untersuche.176 Indirekt verwies Herder hier also auf die Quelle des in seiner Seelenschrift mit der Lehre vom Reiz so eng verknüpften Begriffs. Die von ihm frühzeitig und ausgiebig benutzte Historia philosophiae orientalis ( 1 690) von Thomas Stanley1 77 bietet eine vollständige griechisch1 7 1 Cicero, De nat. deor. 1,40; cf. 55. 1 72 H. D. lrmscher konnte aufgrund seiner Untersuchungen am Nachlaß innerhalb dieser

zweiten, von dem Herausgeber von SWS VIII, R. Steig, so genannten Fassung B eine 1. und eine 2. Niederschrift unterscheiden; zu den Ausführungen bzgl. »Stamen« in der ersten (ungedruckten) Niederschrift vgl. H. D. lrmscher, »Probleme der Herder-Forschung«, in: DVjs 37 ( 1 963), 266 - 3 1 7, hier: 274 - 275. In unspezifischer Weise gebraucht Herder den Begriff noch in den Ideen: SWS XIII,22 - 23; aber auch dort dient er zur Bezeichnung einer bestimmten Art von Kausalität. 1 73 SWS VIII,272. 1 74 Ibid. 1 75 SWS VIII, 1 7 1 - 1 73. 1 76 SWS Vl,454. 1 77 Dieses von Herder in der Aeltesten Urkunde extensiv gebrauchte Werk erscheint 1 776 im Verzeichnis Meine Bücher (8•: 409); es dürfte mit dem in BH 3309 erwähnten identisch sein.

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Zweiter Teil Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

lateinische Edition der sogenannten chaldäischen Oracula Zoroastris;1 78 die hiermit vorliegende Textfassung ist identisch mit der zuerst von Francesco Patrizi in seiner berühmten Nova de universis Philosophia ( 1 593) erarbeite­ ten Ausgabe.179 Herder nennt ihn in der Aeltesten Urkunde, nicht ohne Bewunderung, den » gelehrten Schwärmer für die Lichtreligion Orients«,180 und in seinen Notizen hielt er sich den vollen Titel und die fünf Inhaltsüber­ schriften von Patrizis Hauptwerk, einem Werk >>voll gründlicher Gelehrsam­ keit«, fest.181 Die Ausgabe von Stanleys Historia philosophiae orientalis entspricht dem vierten Teil des 1 655 zuerst erschienenen Werkes The History of Philosophy, 1 82 das J ean Ledere übersetzte und durch einen Kommentar zu den Oracula erweiterte.183 Herder entnahm den Begriff >>Stamen« dem zehn­ ten, Anima, Corpus, Homo überschriebenen Abschnitt; dort lauten die Verse 233 - 239:184 Certe illae beatissimae prae omnibus Animabus, ad terram e coelo effunduntur. Illae & beatae ineffabilia stamina habentes, Quaecunque a lucente, ö Rex, a te, vel etiam ipso Iove sunt progenitae, Mithi185 valida a necessitate. Profunditas animae immortalis ducatur, oculos vero penitus Omnes extende sursum. 1 78 Cf. Thomas Stanley, Historia philosophiae orientalis, Amsterdam 1 690, 1 3 4 - 1 5 5 . Diese wichtige Quelle scheint U. Faust in seiner im übrigen mustergültigen Studie über Mythologien und Religionen des Ostens beijohann Gottfried Herder, Münster 1 977, entgangen zu sein; vgl. dort das Kapitel »Die zoroastrische Religion«, 1 03 ff. 1 79 Francesco Patrizi, Nova de universis Philosophia libris quinquaginta comprehensa. Zoro­

astris oracula CCCXX. Ex Platonica collecta. Hermetis Trismegisti libelli, et fragmenta, quodcumque reperiuntur, ordine scientifico disposita. Asclepii discipuli tres libelli. Mystica Aegyp­ tiorum, Platonicorum dialogorum novus penitus a Francisco Patricio inventus ordo scientificus. Plato Concors Aristoteles vero Catholice fidei adversarius. Cf. SWS Vl,463; cf. 472. Cf. HN XXXI 22: fol. 3'. Die Herausgeber des Nachlaßkatalogs (cf. Der Handschriftliche Nachlaß ]ohann Gottfried Herders, 282) datieren Herders Notizen auf »ca 1 771 - 79«. Wegen der Erwähnung Patrizis im ersten Teil der Aeltesten Urkunde, die offensichtlich auf diese Notiz zurückgeht, muß die Entstehung dieser Aufzeichnungen auf den Zeitraum vor 1 774 einge­ schränkt werden. 182 Zur Editionsgeschichte dieses Werkes vgl. L. Braun, Histoire de l'histoire de La philoso­ phie, 3 7 1 /373 (»Index chronologique«) und 68 - 72. 1 83 Cf. Thomas Stanley, Historia philosophiae orientalis, 1 56 - 1 82. 1 84 Thomas Stanley, Historia philosophiae orientalis, 1 49; gegenüber der Ledereschen Aus­ gabe, nach der hier zitiert wird, ist der Text in der von Adam Olearius übersetzten großen Historia philosophiae, Leipzig 1 7 1 1 (cf. BH 2974), teilweise fehlerhaft: vgl. dort S. 1 1 87; die Ausführungen »De Chaldaeorum philosophia«: S. 1 1 1 0 - 1204. 185 Vgl. hierzu die Erläuterung Johannes Clericus': » mortem significat.« (in: Thomas Stanley, Historia philosophiae, 1201). 1 8o 181

»Geisterphysick«

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»Stamen« meint hier offensichtlich den Schicksalsfaden, wie auch der ent­ sprechende griechische Terminus nahelegt: ['l'uxai] oö cpata vfu.!at ' exou­ cr a t .186 Stanleys englische Übersetzung (die Herder vermutlich nicht kannte)187 lautet: »souls which have unexpressible fates«. l88 Ganz in diesem Sinne der zoroastrischen Theologie spricht übrigens auch Lavater von einem >>ätherischen Stamenaus dem Himmel der HimmelGrund der Seele< kontaminiert; in dieser Auslegung gewinnt er auch bei Herder seine prägnante Bedeutung, die ihn weit von der bloß technischen Verwendung bei Baumgarten entfernt. >Grund der Seele< meint bei Herder zwar auch die dunklen Vorstellungen Baumgar­ tens, setzt aber doch zugleich eine Interpretation desselben als des >Gött­ lichen im Menschen< voraus, wie sie das chaldäische Orakel schon in Patrizis platonisierender Auslegung zum Ausdruck brachte. Die Schwierigkeit einer denkgeschichtlich eindeutigen Zuordnung derartiger Metaphern liegt vor allem darin, daß Herders Anthropologie sich erst im Durchgang durch die Geschichte einer Kultur des menschlichen Verstandes erschließt. Ihrer Re­ konstruktion dient offenbar auch in seinen psychologischen Schriften der extensive Gebrauch von Metaphern und Sprachbildern, deren Herkunft er selten benennt. Aber der Sinn ihres Gebrauchs beruht auf dem Gedanken, daß die >>äußere Methode>zugleich innerer Geist> Geisterphysick« Herder sammelt in den Bildwörtern der >>Flammenschrift Gesetzes Gottes>SymbolenMeinung« eines bestimmten geschichtlichen Augenblicks. Aber die Sinn­ lichkeit ihres Begriffs hat sich in ihr schon näherhin zur lntelligibilität des verborgenen Gesetzes >geläutert>Bildwörtern« der Fall war. Neben diese Rezeption der mit den Phänomenen der Elektrizität und des Magnetismus befaßten Neurophysiologie tritt in der oben angeführten Überlegung Herders ein weiterer Problemkomplex, der in dem Begriff des >Verwandelns< angesprochen war, und er leistet einen ersten Schritt zum Verständnis der für Herder evidenten sinnespsychologischen Begründung der Entstehung von Metaphern. Die Seele, so führte er aus, besitze eine Kraft, die sinnlich erfahrbare Welt >>in ihr Wesen zu wandeln«. 193 Es verbindet sich hierin die von Tommaso Campanella entwickelte, gegen die aristotelische >>Informationsimmutatio« und die für den Wahrnehmungsvorgang modifizierte physikalische Korpuskulartheorie des Atomismus, wie sie bei Boyle, Euler, Sulzer und Bonnet wieder auftritt. Sie ist für Herders Ansatz von eminenter Bedeutung, auch wenn er im vierten Kritischen Wäldchen gewisse, durch den Gedanken einer kontinuierlichen «Geschichte der Cultur« motivierte Einwände gegen sie erhoben hatte. Herder hatte sich offensichtlich schon zu Beginn der 1 770er Jahre mit dem Werk Campauelias eingehend beschäftigt, denn in einem Brief vom 20. Januar 1 776 nennt er ihn mit einer Geläufigkeit gegenüber Lavater, die bereits einige Vertrautheit mit seinen Schriften bemerken läßt. Dieser Umstand ist insofern erstaunlich, als es sich um >>Flicke zur Physiognomik «, um >>Auszüge aus 1 9 1 SWS VIII,287. 1 92 Den in den Ideen verwendeten Begriff »elektrische Materie« (SWS XIII,29; vgl. hierzu

H. B. Nisbet, Herder and the Philosophy and History of Science, Cambridge 1 970, 146; cf. 1 3 7 - 138; 145 - 147) gebraucht Charles Bonnet, Essai de psychologie, 268, als Modell seiner neurophysiologischen Hypothese: » Les Esprits Animaux destines a transmettre a ce Corps Etere les ebranlemens des Objets, y produiroient-ils des impressions durables, source de Ia Personalite? Les Esprits Animaux eux memes seroient-ils d'une nature analogue a celle de Ia Lumiere ou de Ia Matiere Electrique ?« Cf. SWS Vl,497: »elektrische Funken«. - Herder war aber auch mit Joseph Priestleys The History and Present State of Electricity with Original Experi­ ments, London 1 767, vertraut; die von ihm benutzte deutsche Ü bersetzung (BH Appendix 44) erschien 1772 in Berlin unter dem Titel: Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Electricität, mit Versuchen und Anmerkungen von]. G. Krünitz. Zu Priestleys bedeutenden Ergebnissen vgl. die Studie von J. G. McEvoy, ''Electricity, Knowledge, and the Nature of Progress in Priestley' s Thought«, in: The British Journal for the History of Science 12 (1 979), 1 - 30. 1 93 SWS VIII,248.

»Geisterphysick«

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Campanella, Baco, Maximus Tyrius, Homer, Pindar«194 handelte, die Herder damals nach Zürich sandte; er kam also offenbar nicht sowohl mit Campa­ nellas Dichtungen, als vielmehr mit seinem philosophischen Werk zuerst in Berührung.t95 Campanellat96 versuchte sowohl in seiner Philosophia univer­ salis (1 637) als auch in der Abhandlung De sensu rerum et magia ( 1 620) zu zeigen, daß alle sinnliche Wahrnehmung (sensatio) in der Weise einer durch unmittelbare »Berührung« (tactus, tactio, contactus) ermöglichten Anver­ wandlung der erscheinenden Welt sich vollziehe, nicht aber vermittels der Aufnahme von Vorstellungsbildern: »per immutationem fieri sensum, & non per informationem. « 197 Campanellas Psychologie ist Teil einer umgreifenden Weltdeutung, die auf der Annahme einer allgemeinen Beseelung beruht. Wie das Empfindungsvermögen allen Dingen eingeboren ist,198 so erscheint die Welt in Analogie zum Menschen als eine »lebendige Bildsäule Gottes«.199 Auch hier dürfte Herder wieder an dem Mikrokosmos-Gedanken und an dem kosmologischen Aspekt einer Psychologie interessiert gewesen sein, die Campanella auf das physiologische Wissen seiner Zeit bezieht. Die Wahr­ nehmung ist bei ihm als aktiver Vorgang (instinctus, impulsus) konzipiert; indem etwa das Gehör durch die bewegten, d. h. tönenden Körper affiziert wird, sammelt es Schwingungen der Luft (motiones aeris), die ihm einen Ausschnitt der Gesamtheit der »voces mundanae« vermitteln. Der Ton ist >>wahrgenommene Bewegung« (motus perceptus). Diese Berührung ist nach Campanella durch die physiologische Beschaffenheit des Ohres mit seinem Mechanismus von Hammer und Amboß evident.200 Gemischte Töne (soni 1 94 Br. 111,25 1 ; vgl. etwa Tommaso Campanella, De sensu rerum et magia, Frankfurt/M. 1 620,

1 90.

1 95 Die bisherige Vermutung, Herder habe Campanellas Schriften erst 1 780, und hierbei wiederum zuerst dessen Dichtungen kennengelernt, muß also aufgrund des Briefes an Lavater um mindestens vier Jahre, vermutlich aber noch weiter zurück korrigiert werden. Vgl. J. U. Marbach, »Johann Gottfried Herder e Tommaso Campanella«, in: Tommaso Campanella (1568-1639). Miscellanea di studi nel 4° centenario della sua nascita, Neapel 1 969, 427-445. 1 96 Zu Herders Deutung Campanellas (und Giordano Brunos) in der Tradition des Atomis­ mus und des lukrezischen Denkens vgl. die Bemerkung in der Adrastea ( 1 803 ) : SWS XXIV,224. ­ Der Auktionskatalog verzeichnet drei Werke Campanellas: De sensu rerum et magia, libri quatuor (BH 3 1 05); Philosophia universalis (BH 2917); Monarchia hispanica (BH 471 8). 1 97 Tommaso Campanella, De sensu rerum et magia, libri quatuor, 89, cf. 90; gegen Aristote­ les, De anima 4 1 9 a 26, 424 b 2; cf. 429 a 1 5 - 16. Zum Problem: J.-L. Labarriere, »Imagination humaine et imagination animale chez Aristote«, in: Phronesis 29 ( 1 984), 1 7 - 49; H.-J. Horn, »Aristote, Traite de l'ame, 111,3 et le concept aristotelicien de Ia q>avtacria«, in: Les E tudes philosophiques 1 988, 22 1 -234. 1 9 8 Tommaso Campanella, De sensu rerum et magia, 1 5 : »necesse est hanc sentiendi vim innatam esse rebus cunctis«. 1 99 Ibid., Untertitel: » mundum esse Dei vivam statuam«; cf. 87. 94 et al. Zur Terminologie bei Cicero und Epiktet vgl. J. Pepin, Idees grecques sur l'homme et sur Dieu, 8. 2oo Cf. Tommaso Campanella, De sensu rerum et magia, 90 - 9 1 .

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Zweiter Teil Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

compositi), von den Saiten einer Laute erzeugt, sind demnach von angeneh­ meren Empfindungen begleitet, als einzelne sehr hohe oder tiefe Töne. Da der Geist (spiritus) des Menschen jeweils so handelt, wie er bewegt und affiziert wird, üben die Wahrnehmungen eine Wirkung auf die Sitten der Völker aus. Die lydische Musik verweichlichte die Menschen, die lakedaimo­ nische stärkte sie.201 Dieser Wahrnehmungsvorgang, den Campanella als >>discursus« oder >>Consilium« beschreibt, sei eine Empfindung, durch wel­ che die Seele von den Dingen verwandelt und außer sich gesetzt werde: >>Sentit [sc. anima] seipsam ab illis [sc. rebus] immutari, illasquefieri. « Durch die reflexive Spiegelung an der Erscheinungswelt (per reflexionem) kehre sie schließlich wieder zu dem Begriff ihrer selbst zurück (redire ad sui notitiam ). Die sinnliche Wahrnehmung ist also stets auf den vorreflexiven >>verborge­ nen Sinn« (sensus abditus)202 des Menschen, auf den >>Funken der göttlichen Weisheit« (scintilla divinae sapientiae) bezogen.203 Man erblickt darin den Dreischritt des Erkenntnisfortgangs, wie wir ihn oben bei Bonnet und Poiret, bei dem er zugleich die trinitarische Bewegtheit der Seele abbildete, beobachteten. Auch Bonnet kam im Hinblick auf das Ovidsche Pygmalion-Motiv einer nach und nach sich belebenden, zunächst bei dem Geruchsempfinden einer Rose ansetzenden Statue bei Condillac zu dem Schluß: die Seele der Statue sei >>modifiee pour la premiere fois: eile est modifiee en odeur de Rose; eile devient une odeur de Rose. «204 Abgesehen von dem sachlichen Gehalt ist diese Terminologie innerhalb der sensualisti­ schen Psychologie ziemlich verbreitet, wie ein Vergleich mit der etwas anders motivierten Lehre Campanellas zeigt: etre modifie resp. immutari und deve­ nir resp. fieri. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kam auch Haller bei seinen Beobachtungen am lebenden Gehirn: >>Sentit adeo nervus, nempe si a cor­ pore quocunque contingatur, nascitur in anima mutatio, per quam ejus contactus conscia redditur. «205 Bonnet verwendet diese Begriffe im Hinblick auf die Boylesche Korpuskulartheorie, die bereits Locke auf die psychologi­ sche Erkenntnislehre applizierte;206 durch sie versucht er, übrigens schon im

201 202 2o3 204 205

Ibid. 92. Ibid. 1 78. 1 84. Ibid. 1 80. Charles Bonnet, Essai analytique sur les facultes de l'ame, 25. Albrecht von Haller, Elementa physiologiae corporis humani, Lausanne 1 757 - 1 780,

IV,269 (Sectio VII: Phaenomena vivi cerebri). 206 Cf. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, 536: »[ . . . ] But this, I think, I may say, that I cannot (and I would be glad any one would make intelligible that he did) conceive how Bodies without us, can any ways affect our Senses, but by the immediate contact of the sensible Bodies themselves, as in Tasting and Feeling, or the impulse of some insensible

»Geisterphysick «

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Essai de psychologie, das Problem der Wahrnehmung durch eine teils mecha­ nisch-physikalische, teils neurophysiologische Hypothese zu lösen. Indem die Rose in seinem Beispiel eine »Atmosphäre« von bis ins Unendliche teilbaren »corpuscules odoriferans« bilde, übe sie eine gewisse stoßartige Bewegung (impulsion) auf die mit dem Gehirn in Verbindung stehenden Nervenfasern aus, die zur Tätigkeit der »Grundelemente« (parties elementai­ res) der Nerven und des »Nervensaftes« (fluide nerveux) proportioniert sei und ihr korrespondiere.207 Auf diese Weise, so führte er im Essai de psycho­ logie aus, vermögen die Sinnesorgane >>incorporer a l'Ame le Monde entier. « Herder schrieb dieser Fähigkeit eine kulturproduktive Funktion zu: »Dem Menschen ist keine Kunst angebohren, außer der, sich alle [sc. Künste] eigen zu machen, die ganze Schöpfung sich einzuverleiben.«2 os Johann Georg Sulzer wollte in seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen ( 1 75 1 /52) zu einer >>geometrisch« exakten Berechnung der >> Lebhaftigkeit der Empfindung« gelangen, indem er den freilich auf ein bloßes Quantitätsverhältnis reduzier­ ten Grad derselben aus der Geschwindigkeit der jedem Sinne >>schicklichen« Materieteilchen herzuleiten suchte; wie sich die sinnliche Empfindung des Sehens je nach der >> Quantität« der auf die Gesichtsnerven wirkenden >> Lichtmaterie> Lichtteilchen>unterbro­ chene Folge von StößenSchallcieco di Molyneux> entsprechen« wie dem Sinn des Gesichts die Materie des Lichts, müsse, so vermutete er, wenn nur der >>elektrischen« oder >>magnetischen Materie« ein menschlicher Sinn entspräche, >>auf einmal für uns eine ganz neue Welt voll der herrlichsten Phänomene entstehen. «220 Diese bleibe uns aber naturge­ mäß ebenso unbekannt wie dem blinden Saunderson die sichtbare Welt. Auch Herder übernimmt die bei Campanella, Locke und Sulzer vorgetra­ gene These einer unmittelbaren »Berührung«;221 wie der körperliche Schall die äußerlichen Organe des Gehörs aber bloß mechanisch berühre, wirke der empfindsame Ton auf den hierdurch angenehm oder unangenehm affizierten Nerv.222 Entgegen den Sulzersehen Ausführungen gründet er seine >>Musika­ lische Monadologie«223 nicht auf eine >>Sukzession« von »Schlägen« oder >>Luftschwingungen«, die er als >>Schall« bezeichnet, sondern auf den dieser Folge voraufgehenden einzelnen Ton, der als >>einfaches inners Moment der Succeßion«224 das >>wesentliche Element« des Hörens sei.225 Im Hinblick auf seine phänomenologische Prämisse bestimmt Herder den Ton als >>hörbaren Punkt«, >>den ich in meinem lnnern empfinde«.226 Baumgartens Lehre von dem »punctum sensationis« oder >>Empfindungs-Punctconfuser Schall>erstes Moment der Empfindung«228 eigentlich Produkte der empfindenden Seele selbst, und ihre Untersuchung fällt folglich in eine Wissenschaft, die Herder unter stillschweigender Beziehung auf Robinets Werk De la Nature mit dem Namen einer >>inneren Physik des Geistes« belegt.229 Nicht also das Verhält­ nis der als Schall vernehmbaren Töne untereinander, wie es als >>Harmonie«, >>Akkord« und >>Composition«23° sich berechnen läßt, bildet die Grundlage dieser Wissenschaft, sondern das Verhältnis der >> einzelnen Tonaccente«231 zur menschlichen >>Empfindbarkeit«232 und zu den >>Erregungen des Ge­ hirns«233 im Sinne der >>Psychologischen Physiologie«. Wenn es die Aufgabe derselben ist, >>die mancherlei Anmuth in den Tönen zu erklären«,234 so erweitert sie sich zugleich zur >> Pragmatischen Geschichte der Tonkunst«,235 weil ihr Verhältnis eine Beziehung auf die je unterschiedliche Empfindungs­ art verschiedener Völker und Zeitalter einschließt. In seinem Auszug aus Rousseaus Dictionnaire de Musique236 hatte sich Herder unter der Rubrik 22 s SWS IV,94. 22 9 SWS IV,97; cf. Jean Baptiste Robinet, De Ia Nature, Bd I, Amsterdam 1 763, S. XI: » Physique des Esprits«. Bereits Aristoteles weist die Seelenlehre (7tEpi IJIUJ(fjTypeEmpfindungen< vor dem Hintergrund der Affektenlehre der Rhetorik kann hier nur verwiesen werden; neben den musik­ theoretischen Schriften Rousseaus wäre etwa auf Fran�ois Couperins L'Art de toucher le clavecin ( 1 7 1 6), Jean-Philippe Rameaus Traite de l'harmonie { 1 722), des Abbe Bourdelot Histoire de Ia musique et de ses effets ( 1 726) oder auf Giuseppe Tartini, Carl Philipp Emanuel Bach und Christoph Willibald Gluck hinzuweisen; vgl. A. Robertson, D. Stevens, Geschichte der Musik, München 2 1 977, 11,3 8 0 - 382. 397. Vgl. auch Jakob Burckhardts anregendes Apen;u über »Rousse­ aus Musikauffassung und die Kirchenverwüstung«, in: ders., Historische Fragmente, 333. - Im Zusammenhang mit Herders Kalligone { 1 800) ist diese Problematik auch noch für den Briefwech-

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» Geschmack « den Terminus pluralis »Agremens« notiert, womit die >>man­ cherlei Anmut« seiner späteren Ausführungen gemeint war; unter der Rubrik »Philosophie« führt er zunächst die Begriffe >>Nation, accente« ein, um sodann einige Aspekte der kulturellen Differenzierung vor allem aus der Frühzeit des durch eine >>singende Sprache« ausgezeichneten Menschen237 herauszuheben: es erscheinen hier neben der grundlegenden Unterscheidung zwischen >>Schall und Laut« die die geschichtliche Dimension vergegenwär­ tigenden Formulierungen >>Stimme des alten Sängers«, »BardenGesang und Stimme«, als auch die den geographisch-klimatischen Horizont umrei­ ßenden Stilarten >>Allemande« und >>Barcarolle«. n s Diese Überlegungen finden eine Klärung in Herders Ausführungen zur Entstehung sprachlicher Metaphern, deren kulturgeschichtliche Funktion sich in der landschaftlich je verschiedenen Schöpfung von Bildwörtern ausdrückt; sie setzen den innigen Zusammenhang seiner Psychologie mit der Darstellung der geschichtlichen Welt und der Entfaltung ihrer kulturellen Erscheinungen in ein gehöriges Licht. Kaum zwar kann bei ihm von einem >System< oder einer >Theorie< der Metapher die Rede sein,239 aber seiner sei mit Johann Friedrich Hugo von Dalberg kennzeichnend; vgl. z. B . Dalbergs Brief vom 1 7. Juli 1 800: »Rameau und seine Schüler gehen im Lob der Harmonie zu weit; auch kömmt es auf das bloße Rechnen gewiß am wenigsten an. « etc.; Brief vom 16. Oktober 1 800: » [ . . . ] die Harmonie und ihr Ursprung ist der Stein des Anstoßes, der uns trennen, oder vielleicht nur mißverstehen macht; denn auch Sie, Liebster, scheinen der Harmonie nicht hold, und wünschten den einfachen Gesang der Griechen zurück.« (v. u. a. Herder 111,274 - 275.277). Für Herders psychologische Auffassung der Musik in den 1 760er und 1 770er Jahren gibt F. Solms, Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder ( 1 990), bes. 2 1 5 -241, einige interessante Einblicke; (vgl. hierzu meine Rezension in: Arbitrium 1 0 ( 1 992), 8 8 - 9 1 ); cf. A. Cernuschi, »Les avatars de quelques articles de musique de Rousseau entre Encyclopedies et Dictionnaires thematiques ou de Ia polyphonie encyclopedique«, in: Recherehes sur Diderot et sur l'Encyclopedie 12 ( 1 992), 1 1 3 - 134. Herders Verhältnis zu Dalberg beschreibt kenntnisreich M. Embach, »J ohann Friedrich Hugo von Dalberg und seine Beziehungen zu J ohann Gottfried Herder«, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 43 ( 1 99 1 ), 1 65 - 209. m SWS IV, 1 1 7. ns HN XXV 176: fol. 1 v -2'. 2 39 Die Arbeiten zu Herders Gebrauch von Metaphern sind ungezählt; unter den neueren Arbeiten stellen besonders H. Meyers » Ü berlegungen zu Herder's Metaphern für die Ge­ schichte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 25 { 1 98 1 ), 88 - 1 14, die Unbrauchbarkeit einer schematisch-klassifizierenden, den denkgeschichtlichen Kontext weitgehend aussparenden Deutung vor Augen. Auch W. Mosers Untersuchungen zu » Herder's System of Metaphors in the Ideen«, in:]. G. Herder. Innovator Through the Ages, ed. W. Koepke, Bonn 1 982, 1 02 - 124, sind in dieser Beziehung wenig ergebnisreich. Vgl. außerdem E. B. Schick, »Art and Science: Herder's lmagery and Eighteenth-Century Biology«, in: The German Quarterly 41 ( 1 968), 356- 368; H. D. Irmscher, »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders«, in: DVjs 55 ( 1 9 8 1 ), 64 - 97; I. Strohschneider-Kohrs, »Metaphorische Approximationen. Ein Sprachbild und sein Kontext in Herders frühen Schriften«, in: Philosophie und Poesie, ed. A. Gethmann-Siefert, Stuttgart-Bad Cannstatt 1 988, 2 1 5 - 240. In ideengeschichtlicher Perspektive zeichnet sich die

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Ablehnung der »Metaphorischen Benennungen«240 als der Rede schmücken­ den Beiwerks, wie sie die klassischen Handbücher zur Rhetorik seit Aristoteles, Cicero und Quintilian überlieferten, entspricht eine ebenso interessierte wie kritische Aneignung der Beiträge zu einem Problem, dessen seelengeschichtliche Bedeutung vor Morelly, Diderot und Helvetius vor allem Francis Bacon erläutert hatte. Eines der wesentlichen Anliegen des vierten Kritischen Wäldchens war die Untersuchung des Verhältnisses der Sinne des Menschen zueinander; j eder Sinn, so führte Herder aus, besitze »seine eigne Welt>Gewohnheit«, das Schöne zu empfinden, sich herleite:277 »oft sind die Augen«, so notierte er sich aus Morellys Schrift, »(auch eines ganzen Landes) nicht gewöhnt, Schönheiten zu sehen: vielleicht auch oft von Natur nicht dispose. «278 Dennoch gebe es eine Schönheit, deren Maß für alle Menschen schlechthin verbindlich sei, insofern es sich aus der dem Auge homogenen Beschaffenheit der Dinge selbst begründe. Hinter diesen kunsttheoretischen Ausführungen verbirgt sich die er­ kenntniskritische Frage nach der Art der Bildung abstrakter Begriffe, von denen derj enige der Schönheit bloß einen besonderen, wenngleich für Her­ ders Ausgangspunkt grundlegenden Bereich des Wissens betraf. Metaphern seien anfangs bloße »Übertragungen aus Gefühl in Gefühl«, so schrieb er in der Sprachschrift. Wie hierin schon der Anfang zu den >wissenschaftlichen< Begriffen der Völker liegt, erkannte Diderot mit seiner Bemerkung, daß die ersten termini technici malende »Ausdrückeklassische< Quelle unmittelbar bei Epikur (Diog. Laert. X,75) und bei Lukrez, De rer. nat. V,925 - 1 457. 2 79 Denis Diderot, CEuvres completes, VII, 1 85 - 1 86. 280 Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 92.

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auch der Graf Friedrich Ernst Wilhelm zu Schaumburg-Lippe, der sich in den 1 770er Jahren wiederholt mit dem Werk von Helvetius und des Abbe Raynal beschäftigt hatte.28 t Herder argumentiert wiederum mit dem Terminus der »ÜbertragungBildersprache«, so daß eine glückliche Metapher Leibnizens oder Sulzers der Wissenschaft tiefere Entdeckungen ermöglicht habe, als die scheinbar exakten, ihre sinnliche Herkunft aber nicht mehr reflektierenden Begriffe Wolffs oder Crusius', zeigt sich von dem Gedanken Diderots beeindruckt; >>erst nur spät und zuletzt«, so Herder, »tragen sich aus allen Sinnen com­ plexe Begriffe in die Seele über, wie sich verschiedene Ströme in ein grosses Meer ergießen.«283 Helvetius wies auf die zentrale Funktion der Einbil­ dungskraft (imagination) bei der Bildung dieser »abstrakten Begriffe« (idees abstraites) und bei der Entdeckung der »Prinzipien der Wissenschaften« hin; einst habe sie fast ausschließlich die Erkenntnis der sichtbaren Natur beför­ dert.284 Da all unsere Gedanken bloß eine Folge von Empfindungen seien, so müsse man >>parler aux yeux pour se faire entendre a l'esprit.«z s s Dieses psychologische Verständnis der Metapher, der >>Übertragung«, leitete einer­ seits sowohl bei Helvetius als auch bei Diderot zur Einsicht in die klimatischen Bedingungen für die Entstehung von Metaphern über, setzte aber außerdem eine bestimmte Interpretation der als >Emblem< oder >Hiero­ glyphe< kodifizierten Bildlichkeit voraus, wie sie schon die von dem rhetorischen Lehrstück der inventio und einem gewissen typologischen Verständnis der Auslegung der sichtbaren Welt geleiteten Traktate der Kunst281 Cf. Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe, Schriften und Briefe, ed. C. Ochwadt, Frank­ furt/M. 1977, 1,1 74: In seinen »Reflexions sur le passage dans Helvetius, ou il dit que Ia conformation de nos membres est cause de Ia propagation et communication de nos idees«, paraphrasierte er: »[ . . . ] comme Ia sensibilite de nos sens depend de notre organisation, qui est evidemment differente parmi !es hommes, il est evident aussi que differents objets affectent differemment differens hommes; et comme ses affections de bien ou de mal phisique determinent nos propensites a telles ou telles actions, et que ces propensites forment nos caracteres, il est demontre que !es caracteres differeront et different entr'eux en consequence de Ia difference d'organisation. « 282 SWS IV,60 f. 283 SWS IV,54; cf. Johann Georg Sulzer, Vermischte philosophische Schriften, 1,1 89: »Es geschieht wohl gar zuweilen, daß diese Metaphern auf wichtige Entdeckungen führen. Wir sehen ein sehr merkwürdiges Beyspiel davon in Leibnitzens Theorie von den Begriffen:« etc. 284 Cf. Claude-Adrien Helvetius, De ['Esprit, 433. 429. 285 Ibid. 455.

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theoretiker der italienischen Renaissance, im Hinblick auf Herder aber insbesondere Francis Bacon, Bossuet und Warburton erarbeitet hatten. In dem von Herder benutzten Tractat von der Mahlerey286 forderte Le­ onardo da Vinci, indem er an Überlegungen Leon Battista Albertis anknüpfte,287 der Maler müsse die in einer Handlung begriffenen Figuren auf dem Gemälde so darstellen, >>daß man aus ihrer Betrachtung gleich erkennen möge, was ihre Gedanken seyn, und was sie sagen wollen« .288 Wie in den >>Minen der Stummen«, so habe in ihrer Physiognomie und in der >>Bewe­ gung des gantzen Cörpers« der intelligible Grund ihres Handeins zum Vorschein zu kommen.289 Die äußerlichen >>Bewegungen des Leibes« sind daher Spuren der dem Menschen innerlichen >> Gemüths-Bewegungen«.290 Diesen das Wesen der Malerei reflektierenden Überlegungen steht eine andere, etwa von Paolo Giovio wirkungsreich vertretene Auffassung der in den Bildern verborgenen Bedeutung zur Seite, deren Sinn der Künstler durch die absichtliche, nur einem gelehrten Publikum zugängliche Verschlüsselung des wahren Grundes verberge.291 Als solch gelehrtes Spiel wurden auch Alciatis Emblemata verstanden;292 Erasmus und noch Athanasius Kireher interpretierten mit derselben Intention die ägyptischen Hieroglyphen.293 Insbesondere die Entdeckung der Hieroglyphica des Ägypters Horapolion (5. Jh. n. Chr.) im Jahr 1 4 1 9 bereitete der von Warburton heftig attackierten Interpretation dieser Schriftzeichen als einer Art absichtlich erfundener Geheimsprache der ägyptischen Priester den Weg. Obgleich Warburton darzulegen versuchte, »daß es die Natur und die Nothwendigkeit, keines­ wegs aber eine freye Wahl oder Kunst gewesen, welche den verschiedenen Arten der Hieroglyphischen Schriften das Leben gegeben«,294 so war doch auch er von der Autorität der von Horapolion geübten, fälschliehen Inter­ pretation der Hieroglyphen überzeugt. Cf. BH 7142. Cf. L. B. Alberti, Delta pittura, ed. L. Malle, Florenz 1 950, 94: Aufgabe des Malers sei, »sempre seguire eose molto prompte et quali lassino da pensare, a ehi le guarda, molto piu ehe elli 286 287

non vede.« 288 Leonardo da Vinei, Tractat von der Mahlerey, Nürnberg 1 724, 140; cf. Leonardo, Treatise on Painting, ed. A. P. MeMahon, Prineeton 1 965, § 1 1 1 .

Ibid. lbid. 3 5 - 3 7. 291 Cf. S. Settis, Giorgiones Gewitter, Berlin 1 982, 1 3 8 - 1 42 . 1 60 - 1 93 . 292 Cf. E. lversen, The Myth of Egypt a n d its Hieroglyphs in European Tradition, Kopenha­ gen 1 96 1 , 74. 293 Cf. ibid.; zu Kireher zuletzt G. F. Strasser, » La eontribution d'Athanase Kireher a Ia tradition humaniste hieroglyphique«, in: Dix-septieme siede 40 ( 1 988), 79- 92, hier 83. 294 William Warburton, Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter, ed. P. Krumme, Frank­ furt/M. u. a. 1 980, 24; cf. 16. 22. 289

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Herder besaß eine Reihe vorzüglicher Quellenschriften, die sich mit dem in dieser Diskussion implizierten Verhältnis der Bildlichkeit zur Sprache und mit der Frage des Ursprungs derselben aus einer Art von Bilderschrift beschäftigten; neben einer lateinischen Ausgabe der erwähnten Hierogly­ phica des Horapollon295 zählen hierzu vor allem die einschlägigen Schriften Athanasius Kirchers,296 das bedeutende emblematische Werk des Andrea Alciati,297 Cesare Ripas berühmte lconologia ( 1 593)298 sowie die Erathsche lateinische Übersetzung von Filippo Picinellis Mondo simbolico ( 1 653).299 Jablonskis quellengeschichtlich und exegetisch wichtiges Werk Pantheon Aegyptiorum ( 1 750 - 52) wird häufig zitiert.300 In der Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts ( 1 774/76) finden sich Spuren all dieser Werke. Die Hieroglyphen erscheinen in ihr als eine frühe Form der als »Mnemonik«301 bekannten Wissenschaft. Bacon definierte das Emblem innerhalb seiner Ausführungen über die mnemonischen Fähigkeiten des menschlichen Geistes in De augmentis auf die folgende Weise: >>Emblema [ . ] deducit intellectuale ad sensibile: sensi­ bile autem semper fortius percutit memoriam, atque in ea facilius imprimitur quam intellectuale; adeo ut etiam brutorum memoria per sensibile excitetur; per intellectuale minime.«302 Nach Kireher ist das Symbol eine auf ein . .

2 95 Cf. BH 1 650. 2 96 Athanasius Kircher, Prodromus coptus sive aegyptiacus ( 1 636 ), Meine Bücher 4 o: 1 07 und BH 2676; Lingua aegyptiaca restituta ( 1 643), BH 2620; Oedipus aegyptiacus ( 1 652 - 1 654), 4 Bde, BH 2927 - 2930; Obeliscus Pamphilius ( 1 650), BH 293 1 ; Cf. Meine Bücher 2°: 12 1 - 129: » Kircheri opp.« 2 97 Herder erwarb dieses Buch 1 773: cf. Flaskamp 1 2°: 75 und BH 2025 (in beiden Verzeich­ nissen handelt es sich allerdings nicht um dieselbe Ausgabe). 2 9 8 Dieses in zahlreichen unterschiedlich ausgestatteten Ausgaben erschienene Werk (vgl. hierzu G. B. Ladner, » Pflanzensymbolik und der Renaissance-Begriff«, 337 ff.) erscheint 1 776 im Verzeichnis Meine Bücher 4°: 23 1 ; welche Edition Herder verwendete, kann nur vermutet werden. Vgl. hierzu unten S. 2 5 5 - 259. 2 99 Die Übersetzung des bayerischen Geistlichen Augustin Erath ( 1 648 - 1 719) erschien in zwei Auflagen 1687 und 1694; Herder benutzte die zweite Auflage: cf. Meine Bücher 2°: 108: »Picinelli mund. symb.« und BH 2924. 3 0° Cf. Meine Bücher so: 779 und BH 2 8 1 2; Horapolions und Jablonskis Schriften wurden zuerst in der quellenkundigen Studie von U. Faust, Mythologien und Religionen des Ostens bei ]ohann Gottfried Herder im Zusammenhang mit der Aeltesten Urkunde eingehend gewürdigt ( cf. ibid. 74 - 80, 8 1 - 98 et passim); vgl. hierzu auch unten S. 220 f. 3 ol SWS Vl,394. 3 02 Francis Bacon, The Works, 1,649; in seiner weit ausgreifenden Interpretation des Pro­ blems der memoria führt P. Rossi, Clavis universalis, 1 50, bzgl. Bacon aus: »Dei tutto simile alla funzione esercitata dagli emblemi e quella dei gesti e dei geroglifici: gli emblemi non hanno dunque una funzione limitata allo specifico settore della memoria, ma funzionano come veri e propri mezzi di communicazione. Ne! caso dei gesti ci troviamo in presenza di »emblemi transitori«, nel caso dei geroglifici di »emblemi fissati mediante Ia scrittura«. II rapporto gesti -

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verborgenes Wissen deutende Bemerkung, und die Funktion desselben er­ blickt er in der durch ein sinnliches Bild vermittelten Hinführung des menschlichen Geistes zur Einsicht in den verhüllten Grund dieses Wissens: >>Symbolum est nota alicuius arcanioris mysterij significatiua, id est, natura symboli est, conducere animum nostrum, mediante certa aliqua similitudine ad intelligentiam alicuius rei, multum a rebus, quae sensibus offeruntur exterioribus, differentibus; cuius proprietas est, esse celatum, et abscondi­ tum, sub velo obscuri dicti«.303 Wenn die Hieroglyphen mit Warburton nicht durch die willkürliche und geheime Verabredung und Übereinkunft einzel­ ner Menschen gebildet wurden, sondern dem Menschen ebenso notwendig und natürlich sein mußten, wie ihr >>allgemeiner Gebrauch«304 in Ägypten nahelegte, so konnte Bacons Definition den Schlüssel auch zu den ägyp­ tischen >Emblemen< liefern, indem er die dem Denken zugänglichen Begriffe (>>conceits intellectual«) auf sinnliche, erinnerbare Bilder (>>images sensible«) zurückführte.305 Insofern das Gedächtnis der Ort der die sinnliche Überlie­ ferung bewahrenden Daten ist, müssen die Hieroglyphen die Art der sinn­ lichen Erfahrung der Ägypter, wie sie sich als >>Meinung« und >> Geschmack«, in >>Naturlehre«, >>Religion« und >>Moral« konkretisierte, am reinsten zur Anschauung bringen.306 Der von Morelly innerhalb der Kunsttheorie auf die >>verschiedne Beschaffenheit der Sinne« zurückgeführte »verschiedne Ge­ schmack« einzelner Völker fand in ihnen ein späteren Zeiten entschlüsselba­ res sinnliches Denkmal, dessen Erkennbarkeit durch die Gewißheit seines sinnlichen Ursprungs verbürgt war. Die ägyptische Hieroglyphe ist folglich nichts anderes als >>symbolische Empfindung«307 eines Volkes, eine als >>Fer­ tigkeit« verwahrte sinnliche >>Anschauung«.308 Herders Unterscheidung zwischen der in >>Bildern« und >>Zeichen« sich darstellenden >>Sprache des sinnlichen Menschen« und den >>willkürlichen Zeichen« der späteren Schrift deckt sich mit Charles Bonnets Verwendung des Begriffspaars >>signe na­ turel« und »signe arbitraire«; während das letztere ein >>spätes Kunstgeroglifici e identico, da questo punto di vista, a quello ehe intercorre fra linguaggio parlato e linguaggio scritto.« Vgl. außerdem F. A. Yates, The Art of Memory (s. Registerangaben). 3 03 Athanasius Kircher, Obeliscus Pamphilius, Rom 1 650, 1 1 4 f. 3 0< William Warburton, Versuch über die Hieroglyphen der Ä gypter, 1 6 . 3 0 5 Cf. Francis Bacon, The Advancement of Learning, 136. 3 06 Cf. SWS Vl,298: »Da hatte der Mensch an seinem Ersten etwelchen Symbol seine ganze Naturlehre, Moral, Religion, Zeitrechnung - vielleicht noch mehr und hats, wie mit Gottes Finger geschrieben, auf die simpelste Weise.« (Aelteste Urkunde). Vgl. Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 93: »Tant nos vertus dependent de notre maniere de sentir et du degre auquel les choses exterieures nous affectent! « (Lettre sur les aveugles ). 3 0 7 Zu Lamberts Begriff der »cognitio symbolica« vgl. W. Proß in: HWP 1,728. 738. 74 1 . 3 08 SWS VIII,262.

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stück«309 einer willkürlich geregelten Sprache sei, so sei der »Gedanke« (idee) unmittelbares und daher natürliches Zeichen des erkannten Dings (»signe nature! de l'Obj et«).310 Allein auch die Hieroglyphen, so hebt Bon­ net hervor, müssen als derartige >>Bilder« (images) oder >>natürliche Zeichen« verstanden werden, denn sie stellen die Dinge symbolisch dar (representation symbolique des Objets).31 1 Sie offenbaren dem Seelenforscher den mensch­ lichen Verstand auf einer gewissen Stufe seiner >>Aufmerksamkeitl'histoire de l'attentionl'histoire de la marche de !'Esprit dans la Decouverte des veritesallmähliche Steigerung und Vermehrung der SymboleAnnähe­ rung an den Menschen>langen Kette von Gedanken und Ueberlieferungenzum Verfall oder zur Erhe­ bung der Menschlichen Seele>sinnlichen Menschen« (hommes charnels) die Schöpfung der Erde und des Menschen vermittels »sinnlicher Bilder>propose aux hommes charnels par des images sensibles, des verites 3 1 8 Christian Gottlob Heyne, »Temporum mythicorum memoria a corruptelis nonnullis vindicata«, 1 00 f. (Zitiert nach der Edition von V. Verra, Mito, rivelazione e filosofia in J G. Herder e nel suo tempo, Mailand 1966, 1 6 1 - 1 7 1 , hier: 1 65). 3 1 9 Denis Diderot, CEuvres completes, VII,2 16. 3 20 Vgl. hierzu die Hinweise unten im Dritten Teil, Kapitel 3 . 3 21 Cf. Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 1 8 . 2 0 . 23. 30 f. : »Mosen [ . . . ] ad Hebraeorum captum locutum fuisse«. (Seitenverweise beziehen sich auf die Paginierung der Erstausgabe).

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pures et intellectuelles.«322 Wenn er gleichnishaft von Gottes »souffle de vie>Deum revelationes captui et opinionibus prophetarum accommodavisse«, 324 und Herder erläuterte diesen Umstand in seinem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst durch den Hinweis auf den Grad der Aufmerksamkeit des jüdischen Volkes: >>Sie sahen Gott mit sinnlichen Augen«.325 In der zweiten Fassung Vom Erkennen und Empfinden beschreibt er diese Entdek­ kung eines >>neuen Weltalls«, welches geistiger Natur sei,326 als eine Zunahme der Seele an Geistigkeit. Die phänomenale Welt zu >>Überwinden«, um aus ihrer produktiven Aneignung das Maß des Menschen, den >>humanisierten Gott der Erde« rein wieder darzustellen, wäre das gleichwohl unerreichbare, durch äußere Umstände stets korrumpierte Ziel der Geschichte: >>Die Seele was thut sie anders, als Körper, ein ganzes äußeres Weltall unaufhörlich zu zerstören, Zeit und Raum unwiderstehlich zu überwinden, aus ihnen eine Welt zu schaffen, die ganz unsichtbar, ihres Wesens und ihrer Art ist.«327 Die Möglichkeit dieser Anverwandlung der Welt, wie sie oben anhand der Wahrnehmungslehren Campanellas und Bonnets entwickelt wurde, wurde in der Tradition gewöhnlich durch die das Sinnliche und Intelligible vermit­ telnde Stellung des Menschen begründet;328 >>est [sc. homo] vtique deus in terris«, schrieb Marsilio Ficino in der Theologia platonica,329 und Giovanni Pico della Mirandola formulierte in einer berühmten Passage seiner Oratio de hominis dignitate, der Mensch sei >>weder himmlisch noch irdisch«, 322 Jacques-Benigne Bossuet, CEuvres, edd. Abbe Velat, Y. Champailler, Paris 1961, 770; zu verwandten Stellen bei Herder vgl. SWS Vl,23 1 . 366. 4 1 6 . 323 Ibid.; z u m Problem b e i Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, e d . K. Mommsen, Stuttgart 1976, 5 1 , vgl. Johann Georg Sulzers etymologische Ableitung von animus in: Sulzer, Philosophische Schriften, 1 77. Auch Spinoza hatte bekanntlich ausführlich hiervon gehandelt (Tractatus theologico-politicus, 7 f.) und setzte den »Deus« des Alten Testaments zu dem heidni­ schen »JEolus« in Beziehung (cf. ibid. 9). Derartige Etymologien waren zumindest seit der frühchristlichen Apologetik sehr verbreitet. 324 Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, 28. m SWS XXXII, 1 3 1 . 326 Auf· den i m Neuplatonismus entfalteten, Herder durch Ralph Cudworths The True Intellectual System of the Universe ( 1 687) und Marsilio Ficinos Theologia platonica sicherlich vertrauten Gedanken des KOO"J.lOUcrtV, crapKtKOU�, ot Ot 7tVEUj!U'tt­ KOi E!crt v, ot Kai 'tTJV q>Ucrt v Ei� 'tÖ 7tVEÜj!U j!E9upj!O�Oj!EVOt«. Herder besaß Bengels Gnomon vor

1 776: cf. Meine Bücher 4°: 2 1 9. Zu Bengels Theologie vgl. G. Hornig, »Lehre und Bekenntnis im Protestantismus«, in: Hb. d. Dogmen- und Theologiegeschichte, 111, 1 1 0 f. Cf. BH 336. 345 Br. 111, 1 60 (Hervorhebung von Herder); vgl. die Invektive in der Aeltesten Urkunde gegen ein »Aufstreben nach plötzlichen, schwärmerischen, verborgnen Gottesgefühlen«: »Wir nennen die Zustände Geistlich, Spirituell: ob aber Etwas Ungeistiger, Geistverwüstender seyn könnte ?« (SWS Vl,305 - 306). Deutlich klingt hier noch Kants Kritik an dem >Schwärmer< Swedenborg ( Träume eines Geistersehers) nach. 34 6 Vgl. etwa Lavaters Auffassung der Auferstehung in seinen Aussichten in die Ewigkeit, ed. cit., 60. 347 Cf. M. Rouche, La philosophie de l'histoire de Herder, Paris 1 940, 254. 34 8 Voltaire, La Philosophie de l'histoire, ed. J. H. Brumfitt, in: Les reuvres completes, Bd. 59, Genf 1 969, 99.

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phi Graecorum. «349 Ziemlich genau in die Zeit des zitierten Briefes fällt auch Herders Lektüre von Christoph Friedrich Oetingers Theologia ex idea vitae deducta ( 1 765),350 der dort mit der Unterscheidung des gnadenhaften >>Spiri­ tus in Deo subsistens« von der >>psyche in natura subsistens« in Übereinstim­ mung mit dem paulinischen Gedanken die heilsgeschichtlich begründete Prävalenz des liv9pro7toc; 7tVI:m�anK6c; behauptete; allein sein Gebrauch des aus einer lateinischen und einer griechischen Vokabel zusammengesetzten Ausdrucks >> homo psychicus« scheint Herder zumindest terminologisch, wenngleich nicht der Sache nach zu dem Begriff des >>psychischen Men­ schen« angeregt zu haben. Von einer Wendung zu einer dogmatischen, neologischen oder auch nur >empfindsamen< Einschätzung des Christentums, wie sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in je unterschiedlichen Spielarten etwa von Spalding, Jerusalem, Teller, Lavater oder Oetinger vertreten wurde, ist Herder aufgrund dieser Zeugnisse weit entfernt; insofern tat sein Aufenthalt im pietistischen Bückeburg keinerlei Wirkung. Wie er die Tätigkeit der Seele aus ihrer eigenen >Natur< zu erklären suchte und sie gegenüber dem >>Divin Decret>Seelenmenschen> Keim zum Geist (pneuma)Vernunft>wie unsre Seele ein Reich aller geistigen Kräfte«,353 so stellt sich die Frage nach der Vermittlung des Stofflichen und des Geistigen. Denn man dürfe nicht glauben, >>daß die Natur zwischen beiden [sc. dem Materialen und dem lmmaterialen] eiserne Bretter befestigt habe«, wo sie >>so innig vereinte«.354 Man sieht, daß auch die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele hiervon wieder berührt wird. Aber ohne die Annahme einer vollkommenen Analogie oder >>Ähnlichkeit zwi­ schen der intellektuellen und der sichtbaren Welt«, wie sie Sulzer in Vorschlag brachte,355 war der Einklang zwischen den beiden Bereichen nicht zu erklä­ ren; es sei denn, man argumentierte mit einem allerdings schwerlich demonstrierbaren stetigen Übergang vom Sinnlichen zum Intelligiblen. Leibniz hatte beide Möglichkeiten erwogen, und Herder wird sich niemals klar zwischen ihnen entscheiden. Aber die denkgeschichtlich originelle Per­ spektive, in der er sich mit dieser zentralen Fragestellung aller Anthropologie befaßte, gibt Aufschluß über die Brisanz eines durch die Wirkung der naturwissenschaftlichen Disziplinen und insbesondere der Physiologie neu­ erdings modifizierten Problems. Noch Moses Mendelssohn hatte in seiner eigenwilligen Interpretation des platonischen Phaidon mit den logischen Graden des Seins im Sinne der arbor porphyriana argumentiert356 und nahm den cartesianischen Dualismus eines dem >>ausgedehnten Wesen« vorausgehenden >>denkenden Wesens« wieder auf.357 Diese These ist ihm >> Beweis, daß die Materie nicht denken könne«.358

352 Vgl. B. Suphan, »Schlußwort zu Band 13.14.« in: SWS XIV,666, zum Problem der »Thierähnlichkeit, vielmehr Thiergleichheit des Menschen« : »Immer bleibt Herder sich hierin gleich: nur ein urmenschlieber Ausgangspunkt ist ihm annehmbar für unser Geschlecht, nicht ein uräffischer. Der Mensch ist in seinem Ursprunge, als >Menschenthierseinen Brüdern, den Erdthieren.>comme un excellent Anatomiste expli­ que !es ressorts du corps humain«, erforscht habe.360 Insbesondere die Frage: >>comment un corps a des idees «, habe er derart beantwortet, daß auch die Tiere, denen Gedächtnis und Wahrnehmung nicht abgesprochen werden können, bis zu einem gewissen Grad an der Welt des Intelligiblen teilha­ ben.361 Die Einwände und Bedenken von Vertretern des Klerus, >>devots a leur manierefor, or against the lmmateriality of the Soulwenn es ihm so gefieleder Materie das Denkvermögen verleihen« könne (superadd to Matter a Faculty of Thinking);364 gleichwohl sei es absurd, zu glauben, die Materie vermöge aus sich selbst >>Sinnesempfindung, Denken und Wissen>Bewegung>Matter, as is evident, having not Power to produce Motion in itselfdas Denken oder ein verständiges Wesen>Vergeistigung oder Um­ wandlung der Materie in ein denkendes Wesen> Vergeistigung>accord preetabli>conformement a ce qui se passe dans la matiere. «368 Eine Vergeistigung (spiritualiser)369 der Materie könne schon deshalb nicht statthaben, weil das Denken keine notwendige >>Eigenschaft« derselben (propriete inseparable) sei;370 das Stoffliche, so führt er im Einklang mit Lockes Argument aus, könne niemals aus sich selbst >>produire de la perception«.371 Lockes Unentschlossenheit (die Raspesehe Ausgabe der Nouveaux Essais war noch nicht erschienen) forderte Buffons entschiedene Kritik heraus; mit impliziter Beziehung auf Abraham Trembleys Entdeckung des Süßwasser­ polypen, eines Zoophyten oder >>plantanimal«,372 konstatierte er im zweiten Band der Histoire Naturelle, der Übergang von der sogenannten unbelebten Natur des Steinreichs zum Pflanzenreich als auch der Übergang zum Tier­ reich sei durch keine feste Grenze bezeichnet, sondern vollziehe sich durch unmerkliche Grade. Seine Folgerung war ebenso scharfsinnig wie eindeutig: >>le vivant, et l'anime«, so formulierte er, >>au lieu d'etre un degre metaphysi­ que des etres, est une propriete physique de Ia matiere. «373 Seine Theorie der die Materie organisierenden dynamischen Atome, der >>molecules organi­ ques«,374 bedient sich der auch von Locke im seihen Zusammenhang 3 6 7 Gottfried Wilhelm Leibniz, Werke, III/2, S. 288. 3 68 Ibid. 290; cf. B. M. Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leib­

niz ' Philosophie, 60: »Diese Erklärung der parallel zueinander laufenden Reiche, diese •Simultaneität< (SWS XXXII,227), findet Herder >unglaublichDeus ex machina> Ganzen«, wie sie sich oben in anderem Zusammenhang bereits stellte.384 Denn die Möglichkeit der Erkenntnis dieser belebten, gleichsam deifizierten >Natur< gründet sich bei ihm ganz eigentlich auf die Frage: >>si l'univers, ou la collection gem!rale de toutes les molecules sensibles et pensantes, forme un tout, ou non.«385 Beantworte man die Frage positiv, so müsse man zugestehen, daß die Welt einem >> großen Lebewesen« gleiche und daß Gott die Seele dieses Aggregats von Molekülen, dieses >>unendlichen Systems von Wahrnehmungen« sei; leugne man aber mit Maupertuis die in dem Begriff des >> Ganzen« implizierte Kontinuität des Seins, so könne das >>Dasein Gottes« (l'existence de Dieu) nicht bewiesen werden. Diderot deutet hiermit offensichtlich auf die Schwierigkeit, die sich für Newtons keineswegs bloß mechanische, vielmehr durch den Platonismus von Cambridge mannigfach beeinflußte Lehre vom >>absoluten Raum« er-

3 8 3 Cf. G. Panizza, » Lockismo e aristotelismo nell' Histoire naturelle de l'ame di La Mettrie«, in: Rivista di filosofia 76 ( 1 985), 399 - 424, hier: 4 1 0. 3 8 4 Vgl. oben S. 54 ff. 3 8 5 Denis Diderot, CEuvres philosophiques, 229 (De l'interpretation de la nature).

Der Grundstoff der Seele

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gab.386 Bereits die Interpretation des platonischen Timaios durch Wilhelm von Conches im zwölften Jahrhundert identifizierte im Denkhorizont der Schule von Chanres anima mundi und spiritus sanctus wohl aufgrund der Etymologie des griechischen >Ö.VEJ.!Ot;»Leibnitz persisted in affirming that Newton called space sensorium numinis, notwithstanding he was corrected, and desired to observe that Newton's words were quasi 3 86 Cf. J. E. Power, » Henry More and lsaac Newton on Absolute Space«, in: Journal of the History of Ideas 31 ( 1 970), 289 -296. 3 8 7 Zum Problem: R. Allers, »Microcosmos. From Anaximandros to Paracelsus>Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder«, 1 77, Anm. 96: »Der Gedanke, daß der Mensch ein Mikrokosmos, »eine kleine Welt« sei, war Herder seit etwa Mitte der siebziger Jahre vertraut.« Irmscher verweist auf SWS VIII,42 . 1 93 .637. 4 0 5 Theodoretos, Opera omnia ex recensione lacobi Sirmondi et ex recognitione loh. Ludov. Schulze, 3 Teile, Halle 1 769 - 1 774 (BH 8 8 5 - 890). 4 06 Cf. H.-J. Horn, » Ka•'otKOVOJliav 'tOÜ Kupiou. Stoische Voraussetzungen der Vorstellung vom Heilsplan Gottes«, in: Vivarium, Münster 1984, 1 8 8 - 193. Ähnliche Formulierungen finden sich freilich in jeweils anderer Akzentuierung bei einer großen Zahl anderer Stoiker; vgl. von den

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Zweiter Teil D i e Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

Evangeliums aus der heidnisch-antiken Tradition heraus einsichtig zu ma­ chen, Chrysipps Lehre ziemlich ausführlich dar. OiKOVO!lia meint bei diesem diej enige Geordnetheit, durch welche alles Einzelne auf die dem Ganzen förderliche Zweckmäßigkeit hin eingerichtet ist: [7tp6vota] 7t pÜ� 'tO XPTJO'l!lOV otKOVO!lEi EKUO''ta. Die ewige, kontinuierliche und geordnete Bewegtheit dieses Ganzen ist als geschickliehe Notwendigkeit (EillU P TJ EVTJ ) zugleich der intelligible Grund (A.6yo�) des zum Weltall (KO O' !lO�) versam­ melten und verbundenen Einzelnen.407 Möglicherweise machte sich Herder auch über die humanistisch-reformatorische Literatur mit diesem Gedanken vertraut, so etwa wiederum über Melanchthon oder eine der ungezählten Schriften »De providentia«. Herders Quellen sind in diesem Fall vermutlich nicht genau fixierbar. Die schon in der Antike durch Xenophons Dialog ÜiKOVO!ltK6� eingeleitete, in Heliodors Ai9to7ttKa belegte Verwendung des Ökonomie-Begriffs im Bereich des öffentlichen und politischen Wirkens des Menschen fand in den einschlägigen Traktaten der italienischen Renaissance, die den auf die Lebenspraxis gerichteten, häuslich-verwaltendes und wirt­ schaftliches Handeln berührenden Aspekt stärker akzentuierten, eine Fort­ setzung.408 Diese Tendenz tritt zum Beispiel bei Alberti, der in der Vorrede zu dem, Liber oeconomicus betitelten dritten Buch von Della famiglia ( 1 434/ 4 1 ) explizit auf Xenophon sich bezieht, bei Tasso oder in Paolo Caggios Oeconomica (1 652) deutlich hervor; in seinem Dialog I! padre di famiglia ( 1 5 8 3) 40 9 setzt Tasso die Gestalt des Weltalls (Ia forma dell'universo) zur Gestalt oder Verfassung eines wohl verwalteten Hauswesens (Ia forma d'una casa) in ein genaues Verhältnis. Beide zeichnen sich durch Geordnetheit (ordine) und Schönheit (bellezza) aus und bilden solcherart ein geschlosse­ nes, in sich gegliedertes, seine Teile wohl organisierendes Ganzes. 410 Der das Weltall durchherrschenden und belebenden providentia entspricht die zenglänzenden Vertretern der mittleren Stoa etwa noch des Poseidonios von Apameia Lehre (überliefert bei Diog. Laert. VII, 1 3 8): •ov .Si) KOO'f.!OV .SwtK&icr9at Ka'ta voüv Kai np6votav. 4 0 7 Theodoretos, Graec. affect. cur. VI (PG Bd 83, col. 960B): &tvat ÖE •ftv & !f.!apf.!EVT]V KlVT]OW äiÖlOV, OUV&Xfi Kai 't&'taYf.!EVT]V. 4 08 0. Brunner, »Die alteuropäische > Ö konomik>Natur« (sc. des Weltalls) nach. Ohne Zweifel hat dieser letzte, dem Gedanken der Ökonomie wesentliche Aspekt der Autarkie Herders Ablehnung der in den physikotheologischen Schriften seiner Zeit geübten externen, die dingliche Natur >von außen< begründenden Teleologie begünstigt; den Anlaß für seine später durch die Lektüre Diderots und Spinozas bestätigte Haltung41 1 mag man freilich schon in den Einwänden erblicken, die Kant gegen diese etwa bei Derham, Ray, Nieuwentijt, Pluche, Bonnet oder Robinet durchgeführte Art der Letztbe­ gründung häufig erhoben hatte. Robinet, dessen Hauptwerk De Ia Nature gerade im Erscheinen begriffen war und das Hamann in den Kreuzzügen eines Philologen ( 1 762) nach seiner Art »ein Ballet hinkender Hypothesen« nannte,412 lernte Herder übrigens wohl durch Kants Vortrag über Moralphi­ losophie genauer kennen; über ihn notierte er sich damals lapidar: >>Solches Erkenntnis von einer einzigen Ursache ist völlig unbrauchbar, nicht blos unpraktisch, sondern auch unnütz, weil wir sie stets entbehren können«.413 Die Ambivalenz zwischen einer sich selbst genügenden oder aber in Gott als deren Schöpfer begründeten, von den Fossilien bis zu den geistigen Wesen (Dämonen, Genien) reichenden >Natur< ist charakteristisch für eine große Anzahl von Schriften, die sich der Vermittlung des antiken Wissens mit einem wie auch immer akzentuierten Christentum widmeten; La Mothe Le Vayers De Ia vertu des paiens ( 1 642) oder Rapines Le christianisme naissant dans Ia gentilite ( 1 655)414 sind treffliche Beispiele für die von Theodoret unter gänz4 1 1 Cf. Denis Diderot, De l'interpretation de Ia nature, in: fEuvres philosophiques, 242. 235 - 238. Baruch de Spinoza, Ethica, Appendix zum ersten Teil; zur denkgeschichtlichen Situierung der Teleologie-Kritik bei Giordano Bruno, Telesio und Francis Bacon vgl. die Hinweise von G. Boas, »Philosophies of Science in Floremine Platonism«, in: Art, Science, and History in the Renaissance, ed. C. S. Singleton, Baltimore 1 967, 239-254, hier: 25 1 . 4 12 Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, 11,1 89. 4 1 3 Herders Nachschrift (sog. Praktische Philosophie Herder) in: lmmanuel Kant, A. A. XXVII,20; Kant bezog sich auf die deutsche Ü bersetzung ( 1 764) der ersten Auflage von De Ia Nature ( 1 7 6 1 ) (vgl. die Erläuterung ibid. 1 073 f.). 4 1 4 J. Eymard d'Angers, »Stolcisme et •Iibertinage< dans l'ceuvre de Frantyois La Mothe le Vayer«, in: ders., Recherehes sur le stoii:isme aux XVI• et XVII• siecles, Hildesheim, New York 1 976, 488, bemerkt zusammenfassend über die Rezeption der Antike durch diese »stolciens chretiens«: »attenuant toutes les oppositions reelles entre l'une [sc. la discipline du Portique] et l'autre doctrine [sc. la sagesse chretienne], ils s'efforcent d'operer une harmonieuse synthese ou le stolcisme sera christianise, a moins que le christianisme ne soit malheureusement stolcise.« Einen guten bibliographischen Ü berblick über die Aufnahme des antiken Stoizismus bietet

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Zweiter Teil Die Kulturgeschichte der menschlichen Seele ·

lieh anderen Voraussetzungen einst eröffnete Perspektive. Denn der apologe­ tische Antrieb der frühchristlichen patristischen Literatur scheint nun im Zeichen einer umfassenden Revision des antiken Wissens zur Apologie der >heidnischen< virtus verkehrt. Im Vorwort zur ersten Auflage seines umfang­ reichen Unternehmens De theologia gentili, et physiologia christiana (2 1 668), das auch in der zweiten, von Herder benutzten Auflage415 wieder abgedruckt ist, umreißt der niederländische Philologe Gerhard Johann Vossius, übrigens ganz im Sinne von Jean Bodins Universae Naturae Theatrum,416 die dop­ pelte Intention seines Werkes, nämlich: »quare gentiles tantopere admirati sint rerum naturam, ut eam pro vero Numine haberent; & cur ex natura nobis sit adsurgendum ad Dei veri notitiam, amorem, ac cultum. «417 Die Inhalts­ übersicht dieser Schrift, »ÜIKONOMIA sive conspectus universi operis «, bildet ein genaues, hierarchisch gegliedertes Abbild der Ökonomie der Natur in dem oben bezeichneten Umfang; bei Derharn gelangt dieses Verfah­ ren zu extremer Differenzierung, 418 bei Poiret spiegelt es den christologisch bestimmten, den Teilen eines Dramas vergleichbaren Verlauf der Ge­ schichte. In der Sprachschrift spricht Herder sowohl von der » Haushaltung der Natur« im ganzen419 als auch von derj enigen des einzelnen Menschen; diese gliedert er auf die von seinen Vorlesungsnachschriften her vertraute Weise, indem er sie eine »Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur« nennt;420 alle drei Aspekte seien aber im Grunde nur »die Einzige positive Kraft des Denkens«, »die gänzliche Be­ stimmung seiner denkenden Kraft im Verhältnis seiner Sinnlichkeit und Triebe. «421 Die Beziehung des Ökonomie-Gedankens auf das Verhältnis des Menschen zum Tier hat aufgrund dieser Überlegungen zur Folge, daß sie sich nicht »in Stuffen, oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschie-

Eymards Studie »Le renouveau du stolcisme en France au XVI• siede et au debut du XVII•«, ibid. 507- 532. 4 1 5 Cf. Meine Bücher 4°: 282 und BH 2019. 4 16 Cf. Jean Bodin, Universae Naturae Theatrum, »Epistola dedicatoria« (nicht paginiert); Bodin gibt dort seiner Hoffnung Ausdruck, der Leser möge durch sein Werk »ad veri numinis cultum perduci«. 4 1 7 Gerardus Joannes Vossius, De Theologia gentili et physiologia christiana, Editio nova, Amsterdam 1 668, Vorwort [unpaginiert]; vgl. den Untertitel zur ersten Auflage: » De idololatriae origine, & progressu, deque hominis ex naturae mirandis adscensu ad Deum«. 4 1 8 William Derham, Physico-Theology [ 1 7 1 3], London 6 1 723, S. I- XVI (»An Analysis of the Following BookVernunft< zu den specifischen Merkmalen des >Lebens< und der >Empfindung< auszeich­ nete. Kant hatte diese »3 Dimensionen« bekanntlich423 in seinem Metaphy­ sik-Kolleg ausführlich, auch mit Beziehung auf Leibnizens Monadenlehre, erläutert.424 Bis zu einem gewissen Grad bleibt Herder diesem Konzept auch in der Sprachschrift noch treu: notierte er sich in der Vorlesung, nur der Mensch besitze »Bewustseyn des ganzen Zustandes der Vorstellungen und Begierden«,425 so hieß es 1 772, der Mensch sei im Unterschied zum Tier ein Geschöpf, welches »nicht bloß erkennet, will und würkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und würke.«426 Allein j etzt behauptet er schlechthin die Inkommensurabilität der tierischen Sinnlichkeit und der Sinnlichkeit des Menschen; »mit den Tieren verglichen« unterscheide sich deren »Ökono­ mie« von der Haushaltung der »Natur des Menschen« nicht dem Grade, sondern der Art nach. In dem Brief an Mendelssohn vom 1. Dezember 1 769 bezeichnete Herder diese Differenz als den j e verschiedenen, die Identität der Lebewesen sichernden »Grundstoff« der Seele;427 im Reisej ournal nimmt er diesen Begriff wieder auf.428 Der Verstand der Tiere429 erscheint hierbei als eine der menschlichen »Vernunft« entsprechende, wiewohl nicht zu freien Handlungen anleitende » Kunstfertigkeit«, der ein bloß instinktmäßiger Trieb zugrunde liege. Reimarus' Abhandlung über die » Kunsttriebe« der Tiere von 1 762, auf die er hier offenkundig bezug nimmt,430 war ein spätes Zeugnis dieser Diskussion, die durch Descartes' Behauptung, die Tiere seien empfindungslose Maschinen oder Automaten, erheblich verschärft wurde. Schon Montaigne führte im Rückgriff auf die Stoa die Handlungen der Tiere nicht sowohl auf die »Lebhaftigkeit« (vivacite} ihrer Sinnlichkeit, als 4 22 42 3 424 4 2s 4 26

SWS V,29. Vgl. oben S. 80 und 87. Cf. lmmanuel Kant, A. A. XXVIII, 901 - 902. lbid. 902. SWS V,3 1 ; cf. Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunft/ehre, § 13: •Wir sind unserer Vorstellungen und unserer Erkenntnisse bewusst (conscium esse, adpercipere) in so ferne wir sie und ihren Gegenstand von andern Vorstellungen und Sachen unterscheiden. Das Bewusstsein ist eine doppelte Vorstellung: eine Vorstellung des Gegenstandes, und eine Vorstel­ lung seines Unterschiedes von andern.« 4 2 7 Br. 1,1 79; cf. lmmanuel Kant, Werke, 1,934: »Grundstoff der körperlichen Naturen« im Unterschied zur Seele ( Träume eines Geistersehers). 4 28 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im fahr 1769, ed. K. Mommsen, 10. 4 2 9 Cf. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1 972, 1,84. 43 0 Cf. Meine Bücher 8°: 387.

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vielmehr auf ein vernünftiges, diskursives und folgerichtiges Schlußverfah­ ren zurück, welches zuletzt in ihrem »natürlichen Sinn« gründe;431 in genauer Analogie zum Menschen besitze auch das Tierreich eine durch Zeichen vermittelte >>Sprache« (Iangage, communication ),432 ja sogar eine Art von moralischem Verhalten (quelque participation de religion),433 wie an den Elephanten untrüglich zu beobachten sei.434 Marin Cureau de la Cham­ bre,435 mit dem sich Reimarus ausgiebig auseinanderzusetzen hatte, ging in seinem bedeutenden Traite de Ia connoissance des animaux ( 1 645) so weit, zu behaupten, daß der stets von einem vernünftigen Schließen (Raison) beglei­ tete Instinkt der Tiere sich mit den Termini der aristotelischen Logik als Syllogismus und Sorites beschreiben lasse. Folgenreicher war seine Funktio­ nalisierung der Seelenvermögen, die über die Vermittlung Robinets auch der Intention Herders förderlich sein mußte. Die anfangs nur schwach ausgebil­ dete Vernunft ifoible en ses commencemens), so formulierte er, vermöge sich zu vervollkommnen (se perfectionner); Empfindung und Einbildungskraft sind daher nie ohne einen gewissen Grad von Vernunft, denn >>la Nature s'essaye en quelque sorte a raisonner dans l'lmagination«.436 »Wenn also die Einbildungskraft«, so paraphrasierte Reimarus, >>von einzelnen Fällen auf andere einzelne Fälle geführet wird, so ist es schon bey ihm eine Art oder

43 1 Michel de Montaigne, (F.uvres completes, 438 (»Apologie de Raimond Sebond«).

Ibid. 430 - 43 1 . Ibid. 446; vgl. hiergegen Bonnet, Essai de psychologie, 24: die Tiere seien nicht »susceptible de Moralite«. Cf. ibid. Kap. XIX. 434 Mit dieser Bemerkung ging die noch von William Petty vertretene Auffassung einher, daß der Elephant in der Hierarchie der Lebewesen dem Menschen näher stehe als der Affe: cf. R. Wokler, »The Ape Debates in Enlightenment Anthropology«, 1 1 68. - Zur Herkunft vgl. Plinius Secundus, Nat. Hist. VIII 1, 1 (ed. D. Detlefsen): »Maximum est elephans proximumque humanis sensibus« etc. 435 D. Kuhn nennt ihn in einer köstlichen Simplifizierung den »Verfasser zahlreicher unwich­ tiger Schriften« (Kommentar zu: Goethe, HA XIV, 3 1 4 ). Neben seiner Wirkung auf H. S. Reima­ rus ist die Bedeutung seines Werkes für seine Zeitgenossen nicht zu unterschätzen; Guez de Balzac z. B., der seine Schriften als Originalwerke würdigt (»vos Escrits qui sont originaux«), hebt in einem Brief an Cureau vom 15. September 1 645 die Qualitäten des Traite hervor und charakterisiert ihn folgendermaßen: » Sans venir au particulier de tant & de tant de rares choses, le seul Discours de la connoissance des Animaux, est vne nouveaute qui eust fait Secte a Athenes, & vous eust donne rang parmi !es Fondateurs des Ordres Philosophiques. « (Guez de Balzac, Les (F.uvres, I,539). - Einen Überblick über Cureaus Werk bietet jetzt C. Pogliano, » Un esperto laico d'anime: Marin Cureau de Ia Chambre ( 1 596 - 1 669)«, in: Nuncius 3 ( 1 988), 3 9 - 54, bes. 44-48. 43 6 Marin Cureau de I a Chambre, Traite de la Connoissance des animaux, Paris 1 9 8 9 , 330; cf. 33 1 . 344; vgl. auch G. Panizza, »Lockismo e aristotelismo nell'Histoire naturelle de l'ame di La Mettrie«, 407. Der Untertitel von Robinets Vue philosophique, Amsterdam 1 768, lautet: » Les essais de Ia Nature qui apprend a faire l'homme.« Vgl. ibid. S. 4, Anmerkung mit Hinweis auf Plinius. m m

Der Grundstoff der Seele

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Stufe von Vernunft.«437 Zwar spricht auch Robinet in De Ia Nature noch von dem Leib und der Seele als von zwei >>vereinigten SubstanzenKraft>Operationlebendigen Ökonomie>Ausbil­ dung zur Vollkommenheit>Übergang>Bemerkungen zu machen und sozusagen uns [selbst] zu entwickeln.VergnügensSchon ehe ich diese Untersu­ chung noch angestellt hatte, hielt ich mich überzeugt, daß alles auch noch so verschiedene Vergnügen aus einer und derselbigen wesentlichen Grundkraft 437 Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, [1 760], ed. J. v. Kempski, Göttingen 1 982, 1,354 - 355; Reimarus benutzte die deutsche Ü bersetzung von Cureau, Betrachtungen über der Thiere Erkenntniß, Naturtrieb und Abscheu, Leipzig 1 7 5 1 (vgl. den Kommentar zu Kempskis Ausgabe). 43 8 Bzgl. Cureaus und mit Blick auf La Mettrie hat G. Panizza, »Lockismo e aristotelismo«, 407. 4 1 2, hierauf eigens hingewiesen. m Jean Baptiste Robinet, Vue philosophique de Ia gradation naturelle des formes de l'etre, Amsterdam 1 768, 8. 44° Cf. Ibid. 17 - 1 8; Näheres zu Robinets Naturauffassung bei J. Roger, Les sciences de Ia vie dans Ia pensee franfaise du XVIIJe siede, Paris 1 963, 643 - 65 1 . 441 Cf. ibid. 5: » [La Nature] perfectionnant sans cesse son ouvrage«. 442 Gottfried Wilhelm Leibniz, Werke, III/1, S. 344 Cassirers und Engelhardts/Holz' Über­ setzungen (»Ausfluß der Vollkommenheit« resp. »Ausübung einer Vollkommenheit«) scheinen mir nicht überzeugend; deutlich ist in dem leibnizischen Gebrauch des Begriffs »exercice« noch das lateinische exercere herauszuhören. 443 Ibid. 348: »[ . . . ] il y a en cela un passage a un estat plus parfait. Cependant je croirois qu'il y a aussi de l'action dans !es sensations, en tant qu'elles nous donnent des perceptions plus distinguees et l'occasion par consequent de faire des remarques et pour ainsi dire de nous developper. «

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der Seele entstünde, so wie in der körperlichen Natur aus einer einfachen sehr einfachen Kraft eine Menge sehr verschiedener Erscheinungen entsteht. «444 Allein im Verfolg bestimmt er diese Kraft der Seele als >>thätigen Grund triebder die Quelle aller unsrer Handlungen, der erste Ursprung aller unsrer Neigungen ist«; sie ist als >>wirksames Principium>ohnab­ lässiges Bestrebendas gleichsam alles zur Hervorbringung von Ideen in Bewegung setzt.continuata motio« scheint evident. Aristoteles, so referiert Cicero diesen Gedanken, >>ipsum animum >> tvÖEAE:J(Etav appellat novo nomine quasi quandam continuatam motionem et perennem.Endelechia in subj ecto, quod ad aliquam formam tendit, id est, agitatio qua acquiritur forma.innere VollkommenheitEntelechie< nahelegen würde. Die Frage dürfte schwerlich entschieden werden können, aus welcher Quelle Sulzer den Begriff eines >>ohnablässigen Bestrebens Grundstoffs der Kräfte> Grundstoffs « oder der >>specifischen Masse«454 der Seele verbinden, doch hatte auch Melanchthon 45 0 Daß Herder den Organismus-Begriff und den Terminus »Maschine« bzgl. organischer Körper mit derselben - keineswegs peiorativen - Intention gebraucht, mag aus der Perspektive der romantischen Naturphilosophie (Ritter, Schubert, Schelling) verwundern; im Hinblick auf Melanchthon und die Tradition des >fabrica>corpusculum in corpore animantis«.455 Vier Jahre später, in der ersten Fassung Vom Erkennen und Empfinden führte Herder, mit der Dialektik von Erkennen und Handeln zugleich die Problematik der continuata agitatio wieder aufnehmend, über das >>Principium der Thätig­ keit« im Menschen aus, >>daß die Seele, das Steuerruder in der Hand, immer fortstrebe«.456 Wiewohl dieser Vergleich aus dem stoischen Bildervorrat eine breite Rezeption gefunden hatte und zum Beispiel bei Campanella eine gewisse heuristische Funktion erfüllt,457 muß er in diesem Zusammenhang als weiteres Indiz für Herders intime Kenntnis der Schrift Melanchthons betrachtet werden, der in Verbindung mit der dargelegten Problematik die Lage der Seele im Körper mit dem Steuermann in einem Schiff (>>sicut gubernator in navi«) verglich.458 Die Wirkung Melanchthons als eines Ver­ mittlers der antiken und insbesondere stoischen Seelenlehre und deren sprachbildlicher Tradition war also weit mächtiger, als die Zeugnisse bei Herder, der sich vorzüglich auf vage Hinweise vor allem zu Platon und Leibniz beschränkt, vermuten ließen. Das >>vierte Naturgesetz« der Abhandlung über den Ursprung der Sprache lautete: »So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das Menschliche Geschlecht ein Progreßives Ganze von Einem Ursprunge in Einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bil­ dung. «459 Drei aufeinander zugeordnete Aspekte faßt Herder jetzt unter dem Begriff der >>Haushaltung« zusammen: ( 1 ) die Naturgeschichte des mensch­ lichen Geschlechts zeigt sich (2) in Abhängigkeit und im Lichte der allgemeinen Naturgeschichte, (3) indem sie sich produktiv und progressiv zur Kulturgeschichte entfaltet. Das Verhältnis dieser in sich gegliederten >>Ökonomie« zu ihrer Erkenntnis in einer auf die genannten Aspekte sich beziehenden >>Philosophie der Seele, des Weltalls, der Gottheit«460 bedarf, 455 Philipp Melanchthon, Liber de anima, Bogen B 8•; cf. Pierre Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch, IV,263, s. v. >Spinoza>Weltgeists« oder >>Weltsinnes « :463 beide sind ewige, kontinuierliche, >>fortstrebende« Bewegungen, deren Ziel Herder als Bil­ dung oder >>Entwickelung« einer >>Welt voll Wohlordnung«464 für den einzelnen Menschen in Analogie und gemäß den >> Gesetzen der grossen Welt«465 beschrieben hatte. Der Begriff einer continuata agitatio involviert damit zugleich die geschichtliche und im Horizont des Ganzen der Ökono­ mie geordnete, sinnvolle Entfaltung der >>allgemeinen Menschennatur«; wenn auch das einzelne geschichtliche Ereignis und der von einzelnen sinn­ lichen Bemerkungen abgezogene und an dem >> Kriterium der Empfin­ dung«466 gemessene »Gedanke« in ihrer Bedeutung nicht immer klar eingesehen werden können, so haben sie doch in Absicht auf die >>Wohlord­ nung« alles Factischen insgesamt ihren spezifischen Ort. Indem der Mensch nach und nach alles seiner >>Fertigkeit« Mögliche hervorbringt, kommt zusehends die >>Summe aller Erkenntniß und Empfindungen«467 zur Er­ scheinung: >>ewiges Leben« seiner Menschheit, denn >>der erste Gedanke in der ersten Menschlichen Seele hängt mit dem letzten in der letzten Mensch­ lichen Seele zusammen. «468 Diese Geschlossenheit der Ökonomie verbürgt die ordnende Kontinuität des faktisch oder geschichtlich Erscheinenden. Vermutlich am selben Tag, an dem Herder dem Grafen Friedrich Ernst Wilhelm zu Schaumburg-Lippe >>die gestern erwähnte vortref[f]liche Schrift des Spinoza«469 zukoQ1men ließ, am 26. Dezember 1 774, schrieb er der Gräfin in einem der Adressatin bekömmlichen, pietistisch gefärbten Ton: >>Dadurch wird unsterblich unsere Seele, das ist, es wird ihr nicht bewiesen, 4 61 463 4 64 465 4 66 467 4 68 4 69

4 62 Cf. SWS V,349. Cf. Aristoteles, De anima 406 b 26 - 407 a 2. SWS V, l l O. SWS VIII,242. SWS VIII,272. SWS VIII,242. SWS VIII,235. sws V,135. Br. 111,140. Ob es sich hierbei um Tractatus oder Ethica handelt, dürfte sich nicht entscheiden lassen. In Meine Bücher führt Herder Spinozas Ethik als »Sittenl[ehre] Spinoza« (8°: 4 1 0) sowie den Tractatus (4°: 1 32; BH 2983) auf.

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sondern sie fühlts mit j eder zu Gottes Ebenbilde zugebildeten, von der Erde abgezogenen Gesinnung«.470 Die Unsterblichkeit der Seele ist demnach die in dem »progressiven Ganzen« der Geschichte sich darstellende Dauer des >>sensus humanitatis«, so, wie er in den Handlungen des einzelnen Menschen zum Ausdruck kommt, und das Bild Gottes ist nichts anderes als das Bild der Menschheit selbst, denn, so schreibt Herder im selben Brief einige Zeilen weiter, >>jeder Mensch hat ein Bild in sich, was er seyn und werden soll.«471 Der Schluß der dritten Fassung Vom Erkennen und Empfinden nimmt auf diese Problematik ausdrücklich noch einmal bezug: die >>metaphysische Unsterblichkeit« der Seele472 lasse sich ebenso wenig >>demonstriren« wie deren Erwartung des >> Gerichts« oder die >>Auferstehung unsres Leibes«.473 Man mag in dieser Polemik eine mit Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes ( 1 763) gleichge­ stimmte Kritik an der dogmatischen Theologie erblicken; Kant veröffent­ lichte 1 770 eine zweite, überarbeitete Ausgabe. Doch scheint die mit dem Hinweis auf Spinoza nun nahezu offenkundige Revision der im einzelnen dargelegten Aspekte heidnisch-antiken Denkens Herders Gedanken zumin­ dest begünstigt zu haben. Bonnet verwahrte sich im Vorwort zu seinem Essai de psychologie davor, man solle nicht einwenden, daß sich seine Sprache allzu sehr derj enigen der Stoiker nähere. Wenn er von dem die Weltdinge regeln­ den >>unausweichlichen Geschick« rede, so habe man stets folgende Ein­ schränkung zu beobachten: >>Les Destinees des Hommes ont ete reglees de toute eternite; mais c' est par l'ETRE qui d'Eternite en Eternite est le SAGE & le Puissant. «474 In der Tat führt aber die Vertauschung spezifisch christlicher Denkformen mit den stoischen Elementen zumindest im Bereich der für Herder wirksamen Bannetsehen Anthropologie zu einer Paralyse des Dog­ mas; >>DIEu n'est point l'obj et direct de la Religion; c'est l'Homme.«475 Auch Herders Rede vom >>Bild Gottes« scheint aus diesem Grund nicht in dem eigentümlich christlichen Sinne mit Hinweis auf Genesis 1 ,27 interpretierbar. Im Lichte des auch die Bückeburger Jahre ohne Zweifel beherrschenden Humanitätsbegriffs und im Hinblick auf den Gedanken, der Mensch trage ein >>Bild in sich, was er seyn und werden soll«, tritt die stoische Fundierung dieser Formulierung erneut deutlich zu Tage. Hugo Grotius verwies in seinem Genesis-Kommentar auf den platonisierenden Gebrauch dieses Be470 47 1 472 473 474 475

Br. 111, 1 4 1 (Hervorhebung von Herder). lbid. Vgl. hierzu SWS Vl,443 f. SWS VIII,234. Charles Bonnet, Essai de psychologie, S. XIII f. (Kapitälchen von Bonnet). Ibid. S. XV (Kapitälchen von Bonnet).

Der Grundstoff der Seele

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griffs bei Ovid: >> ad effigiem dixit OvidiusHomines quidem pereunt, ipsa autem humanitas, ad quam homo effingitur, permanet, et hominibus Iaborantibus intereuntibus illa nihil patitur. >Grund­ stoff>eine Unendlichkeit müs[s]te es werden, wenn man diese Verschiedenheit des Beitrages verschiedener Sinne über Länder, Zeiten und Völker verfolgen könnteWelt­ sinn>Sensorium der Schöpfung>allgemeinen Weg der Haushaltung Gottes« >>von dem Einfachen zu dem Zusammengesetzten, von dem Sinnlichen zu dem immer Geisti­ gernZU dem immer Geistigern > Gibts nicht wie Zeitalter des Menschlichen Lebens, so auch des Menschlichen Geschlechts, die mehr zum Glauben sind ? Mich dünkt ja. Wies offenbar die Kindheit ist, die Alles blos durch dies Mittel, 476 Hugo Grotius, »Annotationes ad Vetus Testamentum«, in: Opera omnia theologica, 1, 1 ; Grotius bezieht sich wohl auf Ovid, Metamorph. 1,83: »in effigiem moderanturn cuncta deorum«. 477 Seneca, Ep. mor. 65,7; » Humanitas« ist im Kontext Senecas im Sinne der platonischen Ideenlehre verstanden; cf. ibid. 47 8 SWS VIII, 1 89. 479 SWS XXXII,129.

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gleichsam durch Autorität der Offenbarung andrer Menschen, lernt, faßt, absieht und gewinnet: so Kindheit des Menschlichen Geschlechts«.480 Neben der in dem Ökonomie-Begriff implizierten Lebensalteranalogie481 gewinnt hier der das Verhältnis des Stofflichen und Sinnlichen zum Intelligiblen regelnde Begriff der >VergeistigungGlauben< ist in Herders Äußerung keine Frage des Dogmas mehr, er umreißt vielmehr das Lockesche Erkenntnispro­ blem der der menschlichen Seele geschichtlich je verschieden zugemessenen Grade der Gewißheit. Herder fordert daher eine »Philosophische Abhand­ lung vom Glauben als Religion der Menschlichen Seele, (wie man Phantasie, Vernunft etc. sagt) [ . . . ]: es würden sich in ihr die grösten Grundvesten, Tiefen und Kräfte der Menschheit finden; aber sie soll noch geschrieben werden.«482 Diese Intention ist dann offensichtlich in die Studie Vom Erkennen und Empfinden eingegangen. Den Gedanken der scala rerum aufnehmend, hatte Herder in der ersten Fassung formuliert: »So gehts tief hinab bis zum Zoophyt und zur Pflanze: ihre Organisation ist schon ein künstlichgebilde­ ter Zustand, das Universum unter einem gewißen Sinne zu einem lebendigen Eins zu sammlen, andre Dinge in sich zu assimiliren, das Fremde fortzusto­ ßen, und damit fortdaurend und fortstrebend sein Wesen zu erhalten. So muß es mit den Gesetzen der Bewegung in der todten Materie seyn: denn Bewe­ gung ist das dunkelste Analogon des Lebens. «483 D'Holbach kam 1 770 in seinem Systeme de Ia Nature aufgrund der mikroskopischen Beobachtungen Needhams ZU dem Schluß: »C'est ainsi que la matiere inanimee peut passer a la vie qui n'est eile meme qu'un assemblage de mouvemens. «484 Glaubt man einer brieflichen Bemerkung Herders gegenüber Johann Heinrich Merck,485 an deren Zuverlässigkeit allerdings kein Zweifel bestehen dürfte, so schätzte Br. 11,3 15; cf. 3 1 4 (Brief vom 27. Februar 1 773). Die gleichartige Bewegtheit der Ö konomie des Weltalls und der menschlichen Seele impliziert nicht nur die Lebensalteranalogie, sie integriert auch die oft fälschlicherweise als sich widersprechende, in Herders Schriften keinen Ausgleich findende »Modelle« interpretierte lineare Entwicklung und die Kreisbewegung zur Deutung der Geschichte. P. Kondylis kommt implizit aufgrund einer Bemerkung in den Ideen hierauf zu sprechen, indem er bemerkt, Herder vereinige »programmatisch« »die Idee des Ganzen mit der Entwicklungsidee«. (P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 633). 482 Br. 11,3 1 4; vgl. die verwandte Formulierung in Vom Erkennen und Empfinden ( 1 778): »Urgrund und Summe unsrer Gedanken, Empfindungen und Kräfte« (SWS Vlll,234). 483 SWS VIII,247. 484 Paul Thiry, Baron d'Holbach, Systeme de la Nature. Ou Des Loix du Monde Physique & du Monde Moral, London 1 770, 1,23 - 24. 485 Cf. Br. 1,2 1 7. 480

481

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er die >>einförmige« und auf niedrigem Reflexionsniveau argumentierende Schrift d'Holbachs durchaus nicht; trotz der Ähnlichkeit der Aussage bleibt seine Explikation des Verhältnisses von Materie, Bewegung und Leben ohne Berücksichtigung seines intensiven Studiums der Schriften Bonnets denn auch unverstanden. In einer wohl zu Beginn der 1 770er Jahre entstandenen, das Zitat von 1 774 erläuternden und vorwegnehmenden Notiz schrieb er: >>Wenn alle klare Ideen aus dunkeln werden: so auch Gedanken aus Bewe­ gung der Materie. [ . . . ] Die Bewegung ist der Materie ebenso kräftig, innig, unauslöschlich, wirkt auch selbst in Ruhe so sehr, daß Gedanke aus ihr wohl entstehen kann, wie Funke aus Reiben, Licht aus Wärme etc. Alle diese Phänomene, wenn auch so zerstreut etc. und wenn endliche Materien doch nur nichts als Vorstellungen einfacher Wesen sind, die nicht Materie sind, so auch Bewegung, Kraft, Licht, Vorstellung einer Menge sehr dunkel denken­ der Kräfte, und im Grunde Alles Eines ! Wenn müssen Lebenskräfte, Elektrische und Bewegungskraft, Schwerkraft sich noch auf Eines einmal bringen lassen. «486 Im Hinblick auf die Vermittlung des Stofflichen und Geistigen argumen­ tierte Bonnet in seinem Essai analytique zunächst mit dem in der Naturfor­ schung selbst von Linne angenommenen (von Maupertuis freilich bezweifel­ ten) Satz natura non facit saltus und stellte darauf die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander: >> La Nature qui ne va point par Sauts, mais qui passe par degres d'une Production a une autre Production, iroit-elle encore par degres des Substances materielles aux Substances Spirituelles ?«487 Wie Herder, so zog auch Bonnet zumindest implizit eine Analogie zwischen diesem Übergang und dem Verhältnis der klaren und dunklen Ideen, und zwar unter ganz bewußter Verwendung des von Locke einst vorgeschlagenen Begriffs >>Spiritualizing«; denn an anderer Stelle fährt er fort: »Nos idees les plus abstraites, les plus spiritualisees, si je puis employer ce mot, derivent donc des Idees sensibles, comme de leur source naturelle.«488 Während Herder in der Notiz die übliche philosophische und naturwissenschaftliche Termino­ logie benutzt, indem er die Analogie zwischen der physiologischen Erkennt­ nis und der Psychologie zu dem Verhältnis zwischen der als »Elektrische«, >>Bewegungs-« oder »Schwerkraft>Reste eines verschabten Kupferstichs von einem verlohrnen Gemählde«494 ans Licht. Diese Tiefenstruktur der menschlichen Seele gleicht ihren Handlungen und eröffnet die Erkenntnis der Geschichte ihrer Kultur.

494 SWS V,433.

D RITTE R TE I L Methodische Aspekte d e r Geschichtstheorie Herders

1. » Historische Kunst« oder scientia historica Die in dem Problembereich der ars historica liegende Frage nach dem »historischen Stil«, die Frage also, wie Geschichte zu schreiben sei, erscheint bei Herder zuerst in der »zweiten völlig umgearbeiteten Ausgabe« der Literatur Fragmente (1 768); sie ist dort ebenso wie in dem ein Jahr später datierten Journal meiner Reise im Jahr 1 769 angeregt worden durch die kritische Lektüre der Allgemeinen Historischen Bibliothek ( 1 767 - 1 771)1 , deren Herausgeber Johann Christoph Gatterer die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Geschichtsschreibung in Deutschland wesentlich för­ derte. Daß Herder erst durch sie auf das eigentümliche Problem der literarischen Form der Darstellung historischen Wissens aufmerksam ge­ macht worden war, zeigt die Abwesenheit desselben in seinen historischen Schriften vor dieser Zeit, so etwa in dem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst ( 1 764/66) und in dem vor allem die Geschichte Ägyp­ tens darstellenden Fragment Kurzer Begriff einer allgemeinen Weltgeschichte (1 766).2 Er selbst bekannte 1 767 in einem Bruchstück zu einem Kritischen Wäldchen, daß ihn erst >>unsere jetzige historische Conjunkturen in Deutsch­ land>auf diesen Gedankenpfad geleitet>historischen Stil>negativen Wissenschaft« erörterte Verhält­ nis von Ästhetik und Logik, hin. Seiner Forderung nach einem Stil, der >>Reichthum und Genauigkeit im Vortrage der Wahrheit: Lebhaftigkeit und Evidenz, in Bildern, Geschichten und Gemälden: Stärke und unaufgedun­ stete Empfindung in Situationen der Menschheit« vereinige6 , gab er im Reisejournal auf folgende Weise Ausdruck: >>Der Logiker und der Naturer­ klärer wird Eins: was er ursprünglich auch ist, und in den Tsirnhausens, Pascals, Wolfen, Kästners und Lamberts war. Der Geschieht- und Schön­ schreiber wird Eins, was er ursprünglich auch war da die Herodote, Xenophons, Livius, Nepos, Boccaze, Macchiavells, Thuane und Boßvets, Hume, und Winkelmanns galten. Der Redner ins Herz und der Redner über Situationen der Menschheit wird Eins, was er auch war, da die Platane und Demosthene: die Catonen und Ciceronen, die Boßvets und Bourdaloue und Roußeaus, u. s. w. noch sprachen. Da war im ersten Fache noch keine Bau­ meistersehe Logik, im zweiten keine Gatter[er]ische Historienkunst, im dritten keine Aristotelische oder Lindnersche Rhetorik vorhanden. Da lernte man beschreiben, erzählen, rühren, dadurch daß man sahe, hörte,

5 Herder verwendet diesen Begriff in ähnlichem Sinne, wie ihn zuvor J ohann August Ernesti in seiner Archaeologia literaria, Leipzig 1 768, die sich auch dem Problem des Sprachursprungs widmete, gebrauchte; cf. BH 2 1 12. Im übrigen war der Titel ziemlich beliebt; man denke etwa an Johann Heinrich Hottingers Archaeologia orientalis (1 662) (BH 2837) oder an Thomas Burnets Archaeologiae philosophicae ( 1 692). 6 Johann Gottfried Herder, journal meiner Reise im fahr 1769, ed. K. Mommsen, 62.

Historische Kunst

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fühlte ! -«7 Herders Aufzählung der antiken Historiker ist höchst aufschluß­ reich, denn sie gibt unausgesprochen den subj ektiven oder psychologischen Kern seines Geschichtsdenkens preis: Herodot schöpfte bekanntlich die in seinen Schriften dargelegten Daten und Fakten aus seiner eigenen, auf ausge­ dehnten Reisen erworbenen Anschauung, Xenophon nahm als Staatsmann und Feldherr an den von ihm berichteten Ereignissen selbst teil, Livius galt als Vorbild eines durch eine bestimmte, >national< umgrenzte Lebens- und Denkart geprägten originalen Schriftstellers;S Cornelius Nepos schließlich versuchte sich an einer Verbesserung der von Apollodar überkommenen Chronologie. In ihnen allen erkennt Herder die dem »Styl der Mutterspra­ che«9 eigene Originalität, die er der »Gattererischen Historienkunst« entschieden entgegensetzt und ihr abspricht. Die Motive für die Reinterpretation der innerhalb der ars historica10 aufgeworfenen Fragen im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts sind sowohl erkenntniskritischer als auch stilistischer Art. In seiner bibliographi7 Ibid. 63. 8 Cf. P. Burke, »A Survey of the Popularity of Ancient Historians, 1450 - 1 700«, in: History

& Theory 5 ( 1 966), 1 35 - 1 52, hier: 146- 148.

9 Johann Gottfried Herder, Journ a l meiner Reise im Jahr 1769, ed.cit. 64. 10 Vgl. zunächst: A. Witschi-Bernz, »Bibliography of Works in the Philosophy of History. 1500 - 1 800«, in: History & Theory. Beiheft 12, Wesleyan University Press 1 972; A. Momigliano, Essays in Ancient and Modern Historiography, Oxford 1 977; W.J. Bouwsma, »Three Types of Historiography in Post-Renaissance Italy«, in: History & Theory 4 ( 1 965), 303 - 3 14; F. Gilbert, »The Renaissance Interest in History«, in: Art, Science, and History in the Renaissance, ed. C. S. Singleton, Baltimore 1 967, 373 - 387; R. Landfester, Historia Magistra Vitae. Untersu­ chungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. - 16. Jahrhunderts, Genf 1 972; W. Goez, »Die Anfänge der historischen Methoden-Reflexion in der italienischen Renaissance und ihre Aufnahme in der Geschichtsschreibung des deutschen Humanismus«, in: Archiv f. Kulturge­ schichte 56 ( 1 974), 2 5 - 48; E. Garin, »Der Begriff der Geschichte in der Philosophie der Renaissance«, in: Zu Begriff und Problem der Renaissance, ed. A. Buck, Darmstadt 1 969, 245 - 262; A. Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin derfrühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1 976; C. Borghero, La certezza e Ia storia. Cartesianesimo, pirronismo e conoscenza storica, Mailand 1 983; G. Gusdorf, L'avimement des sciences humaines au siecle des lumieres, Paris 1 973 (darin S. 373 - 495: »La connaissance historique«); G. H. Nadel, »Philoso­ phy of History before Historicism«, in: History & Theory 3 ( 1 964), 291 - 3 1 5 . Zur Göttinger historischen Schule: P. H. Reill, The Rise of Historical Consciousness During the Enlightenment at the University of Göttingen: 1735 - 1 780, Diss. Northwestern University 1 969; ders., The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley u. a. 1 975; G. Gusdorf, op. cit., 468 - 479; M. Longo, »Scuola di Gottinga e •Popularphilosophiesichere Regeln vorschreiben«, die zum kunstgerechten Verfassen von Geschichtsbü­ chern anleiten: »prescriver certe regale con l'indirizzo delle quali altri 1 7 Pierre Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch, 111,366. 1 8 Nach G. Spini, »I trattatisti dell'arte storica«, 1 34, liefert sie nichts anderes als »un centone

di luoghi comuni della piu sfruttata tradizione retorica del ciceronianesimo« etc. 19 Diese Prävalenz weist P. Burke, »A Survey«, 1 36, mit Hilfe statistischer Analysen nach: »that the Renaissance was predominandy the rebirth of Roman antiquity, not of Greek.>Handlung« eine Verän28 Cf. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, IV. Buch, Kap. XV und

XVI.

2 9 Francesco Patrizi, Delta historia diece dialoghi, Venedig 1 560, fol. 44' . 3 0 lbid. fol. 5 1 '; Diese Differenz scheint bisher übersehen worden zu sein: cf. G. Spini, »I

trattatisti dell'arte storica«, 1 1 5 - 1 1 8 (»La polemica di Francesco Patrizi e Ia >cognition del verocognition del vero>principio interno dell' attione humana« gründet;36 sie ist, metaphorisch gesprochen, >>fonte & padre dell'attioni«,37 d. h. der Geist der Handlung selbst. Patrizi folgt hierin verschiedenen Elementen der antiken Seelenlehre38 und ihrer Rezeption durch den Florentiner Neuplatonismus (Ficino, Pico), indem er sie im Sinne einer concordia Platonis cum Aristotele39 kontaminiert oder gesprächsweise als verschiedene Auffassungen von der Seele gelten läßt. Das Lesen im >>Buch der Seele« befördert zugleich die Erkenntnis der geschichtlichen Welt, da doch jede Handlung (operatione) durch den Antrieb (impeto) dieses innerlichen Prinzips in ihr Ziel geführt wird; die das Handeln konditionierende menschliche Bedingtheit (Körper­ kräfte, Leidenschaften, Gewohnheit)40 ist auf die große Zahl äußerlicher Umstände derart bezogen, daß die Aufgabe wahrer Geschichtsschreibung oder die historische Erkenntnis selbst in der Forderung an den Historiker erfüllt ist, menschliches Handeln aus der Beziehung des Geflechts der Um­ stände auf das seelische Prinzip hin einsichtig zu machen. Wie die Kenntnis des menschlichen Körpers auf dem Wissen der anatomischen Verknüpfung seiner Teile beruhe, so liege das Erkenntnisideal der Geschichte in der Einsicht in die Verknüpfung der Umstände, welche die Ereignisse bedingen (legatura delle circostantie), sowie in der rechten Verbindung der Zeitenfolge (legatura del tempo ) : >>Chi adunque bene leghera il tempo di queste attioni,

35 Ibid. fol. 4 1 v : »La cagione, in sua uera natura, anchor ehe cagione d'altro fatto sia, ella e pero in se stessa, fatto. Et come tale, ella cade in narramento dell'historico. « 3 6 lbid. fol. 39v. 37 Ibid. fol. 48'. 3 8 So etwa seine Aufteilung der Seele (animo, wie Patrizi, dem Ciceronianisehen Sprachge­ brauch folgend, gewöhnlich schreibt) in eine parte ragionevole und animosa (diese letztere umfaßt wiederum die affetti, appetiti, paßioni: foi. 39v) oder die Unterscheidung von affetto, deliberatione und consiglio (foi. 4 1 ' ). 39 Patrizis akademischer Lehrer Robortello war Aristoteliker: cf. E. W. Cochrane, Historians and Historiography in the !talian Renaissance, 482. In seiner Nova de universis philosophia ( 1 593) zeichnet er sich schließlich schon im Untertitel als Schüler Platons aus: »Plato concors Aristoteles vero Catholice fidei adversarius«. 4° Francesco Patrizi, Delta historia diece dialoghi, foi. 41 ' .

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piu chiara fara la lor cognitione.«41 Der Wahrnehmungslehre kommt daher insofern eine hervorragende Bedeutung innerhalb der Geschichtsschreibung zu, als die Sinne (und hier vor allem der Gesichtssinn gemäß der etymologi­ schen Ableitung des Begriffs historia von ö paro) vermöge ihrer Funktion als »Werkzeuge des Wissens« (stromenti del sapere )42 Erkenntnis aus Erfahrung allererst ermöglichen. Erfahrung ist in dieser Beziehung (so z. B . bei Le­ onardo) die »Mutter aller Gewißheit«.43 Für den Umfang der Geschichtsschreibung hat diese Überlegung zur Folge, daß sie grundsätzlich j edes menschliche Wissen umgreift; ihr Gegen­ stand ist nicht auf die politisch-civile und militärische Geschichte reduzier­ bar, sie ist vielmehr Wissenschaft von den Handlungen schlechthin, allgemeine Bewegungslehre. Mascardi hatte aufgrund seines rhetorischen Stilideals alles von der eigentlichen Geschichtsschreibung ausgeschlossen, was die öffentliche Wirkung des Redners oder Staatsmannes nicht tangiert; Ciceros rhetorische Schriften dienen ihm hierbei zum Leitfaden der Argu­ mentation. Aristoteles habe nur sehr uneigentlich seine Seelenlehre eine >>historia dell'anima«44 nennen können, und der Gegenstand seiner >>historia degli animali« sowie Theophrasts >>historia delle piante« und Plinius' » his­ toria del mondo>civiles actiones, aut bellicae Ibid. fol. 9'. 47 48 49 50 51

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1 S5

auch die zielgerichteten und insofern •rationalen< Handlungen des Menschen und einzelner Nationen mit all den sie determinierenden Umständen (co­ stumi, leggi, maniere della vita, vestimenti, maniere del governo etc.).53 Patrizis Definition der Geschichte erscheint hier gemäß seiner Erkenntnis­ lehre in wünschenswerter Vollständigkeit, und auch der instrumentale Gebrauch von Beobachtungen naturgeschichtlicher Art zur Erläuterung der civilen Geschichte, wie Klima, geographische Lage von Städten oder die geologische Beschaffenheit einer Landschaft, der zumal bei Bodin und später zumeist im Gefolge von Montesquieu und zum Beispiel bei d'Espiard,54 Pichon,ss Boulanger56 oder Castilhon57 die Grundlage ( civil-)geschichtlicher Erkenntnis bildet, ist in ihr schon enthalten. 58 Anders als die naturgeschicht­ lich bloß beschreibende Historiographie, wie sie exemplarisch etwa zu Beginn von Tacitus' Germania59 und noch in Leibnizens Annalen von Braun­ schweig erscheint,60 ist jener von einer kausalen Erklärung der Begebenheiten durch die natürlichen Lebensbedingungen bestimmt. Heynes 1 766 geäußerte These, »wenn man die Geschichte in dem ihr mit Recht gegebnen Umfang« annehme, so habe man darunter auch »Erdbeschreibung, Naturgeschichte, politische Verfassung, Gesetzgebung, Sitten und Religion« zu begreifen,61 ist

53 lbid. fol. 1 0v - 1 1 r . 54 Frano;ois Ignace d' Espiards Werk L'esprit des nations, Den Haag 1 752, wurde von Lessing

für die Berlinische Privilegierte Staats- und Gelehrte Zeitung Og. 1 753) rezensiert: cf. Werke, 111, 1 5 0 f.; Herder benutzte es nachweislich vor 1 776: cf. Meine Bücher so: 732 2 ; 1 S04 erscheint es in BH 3766. - D'Espiards Werk beruht übrigens auf den bereits vor Montesquieus Esprit des lois ( 1 74S) erschienenen Essais sur le genie et le caractere des nations, Brüssel 1 743; vgl. hierzu J. Ehrard, L'idee de nature en France dans Ia premiere moitie du XVIII• siede, 7 1 5 - 7 1 7. 55 T.-J. Pichon, La Physique de l'Histoire, ou Considerations genera/es sur les principes elementaires du temperament & du caractere nature/ des peuples ( 1 765). 5 6 Nicolas Antoine Boulanger, L'antiquite devoilee par ses usages, Amsterdam 1 766; cf. Meine Bücher so: 79 1 - 793, BH 6020 - 6022. 57 Herder benutzte die deutsche Ausgabe Physikalische und moralische Ursachen der Ver­ schiedenheit des Genie, der Sitten und Regierungsformen der Nationen, Leipzig 1 770; Castilhons Werk ist weitgehend von d'Espiard abhängig, auf den er sich in der Vorrede (ibid. 4) bezieht. Cf. BH 3776a. 5 8 Das diesem gerade entgegengesetzte Verfahren, aus der Civilgeschichte auf naturge­ schichtliche Ereignisse zu schließen, machte sich übrigens Goethe in seinem Aufsatz Tempel zu Puzzuol ( 1 S23) zu eigen. Für Herders Ideen wird es zum Beispiel durch des Abbe Giraud Soulavie Histoire Naturelle de Ia France meridionale, S Bde, Nimes, Paris, 1 7S0 - 1 7S4, bedeut­ sam. 59 De origine et situ Germanorum 1,1 - 3 . 60 Cf. A. Kraus, »Grundzüge barocker Geschichtsschreibung«, in: Historisches Jahrbuch SS ( 1 96S), 54- 77, hier: 70; L. Krieger, The Politics of Discretion: Pufendorf and the Acceptance of Natural Law, Chicago, London 1 965, 1 74. 61 Christian Gottlob Heyne; »Vorbericht« zu seiner Ü bersetzung der Allgemeinen Weltge­ schichte von William Guthry und John Gray, Leipzig 1 765 - 1 772, Bd II, S. XV.

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

also nur ein später Nachklang dieser seit der Renaissance und recht eigentlich seit Patrizis Dialogen über die Geschichte geführten Diskussion. Patrizis Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer wissenschaftlichen (scientifischen) Erkenntnis der Geschichte zeigt sich von der aristotelischen Prämisse62 abhängig, gemäß welcher sich ein wissenschaftlicher Begriff von Dingen (Substanzen) und deren Akzidentien nur im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu Arten und Gattungen, nicht aber aufgrund ihrer je inkom­ mensurablen Individualität, gewinnen lasse. Die Individuen sind nur inso­ fern Gegenstand des Wissens, als sie auf ein Allgemeineres (species, genus) bezogen werden können; sie selbst bleiben unbegriffen, weil ihre unendlich große Verschiedenheit niemals auf einen derartigen, sie definierend bestim­ menden Allgemeinbegriff eingeschränkt werden kann. So führte etwa Boethius in seiner für spätere Zeiten maßgeblichen Aristoteles-lnterpreta­ tion aus, »quae enim infinita sunt nullo scientiae termino concludentur.«63 Alle Individuen unterscheiden sich nur der Zahl, nicht aber der Art nach. Bereits Sextus Empiricus übertrug den aristotelischen Gedanken ausdrück­ lich auf den Bereich des historischen Wissens und leitete aus ihm die U nmög­ lichkeit der Geschichte als einer auf Regeln beruhenden Wissenschaft ('tEXVtKTj yvrocrtactiones liberae>historischen Kunst>Ars historica, sensu latissimo, est scientia dirigendi intelleeturn in cognoscendis rebus singularibus: sensu latiori, vel strictiori est scientia dirigendi intellec­ tum in cognoscendis rebus absentibus: strictissimo sensu est scientia dirigendi intelleeturn in cognoscendis rebus antiquis.cognitio rerum anti­ quarum (das Andenken)>scientia historica seu experimentalis Erfahrung>scientiae>philosophiaRegeln, mit der historischen Erkenntnis gebührend umzugehenkeine Demonstrationen« erwarten, da ihr Gegen­ stand >>lauter einzelne Dinge«, nicht aber die der Metaphysik zugehörigen >>abgesonderten allgemeinen Begriffe« betrifft. Allein >>es kommt auch dabey am meisten auf das Gedächtniß an, doch wird deswegen der Witz und das Nachdenken nicht ausgeschlossen, oder die Erfindungs- und Urtheilskraft, denn j ene ist nöthig zu finden, was und wie etwas wahrscheinlich geschehen sey, und diese die wahren Begebenheiten, ihre Absichten und die richtigen Erzehlungen davon, von den erdichteten zu unterscheiden«.79

2. Die >>Physik der Geschichte« Der Gegenstand der Geschichtsschreibung, auf den die Regeln des Histori­ kers anzuwenden sind, unterliegt auch noch bei Herder einer terminologisch höchst aufschlußreichen Unentschiedenheit; sie betrifft die Begriffe Bege­ benheit und Handlung. In einer möglicherweise durch Montesquieu ange­ regten marginalen Überlegung formulierte Thomas Abbt, die Geschichte sei >>mit der Bewegung eines Körpers zu vergleichen. Ihre Masse oder Materia­ lien, Zeit und Raum, bestimmen ihre Methode, so wie bey j enem die Geschwindigkeit.«80 Die von dem Historiker zu leistende >>Auffindung der Ursachen« geschehe durch die Aufdeckung der Art, wie die >>historischen Begebenheiten« >>aneinander hängen«81 : >>Die Geschichte ist eine Art von Darstellung dieser Welt für jeden Augenblick der Zeit; und wer die verschie­ denen Zustände der Welt recht will kennen lernen, muß sie so sehen, wie sie auseinander folgen. «82 Mit den Worten Patrizis formuliert, hat der Histori­ ker also die >> legatura«, die Verbindung oder Verknüpfung der B egebenheiten

einsichtig zu machen. Abbt kommt mit dieser Überlegung der Auffassung von Chladenius sehr nahe, der mit seiner Definition: >>Historia est series Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, 25. Johann Andreas Fabricius, Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit, Erster Band, Leipzig 1 752, 290; cf. 289. 80 Thomas Abbt, Vermischte Werke, Berlin Stettin 1 772 - 1 78 1, VI, 120; vgl. hierzu Montes­ quieu, CEuvres completes, ed. R. Caillois, Paris 1 9 5 1 , II,233 (De l'esprit des lois, Iivre premier: »Des lois en general«). 8 1 Thomas Abbt, Vermischte Werke, VI,120. 82 Ibid. 1 2 1 . 78

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

factorum«83 einen Gedanken Bacons aufnahm. Bacon sah allerdings in der bloßen Beschreibung der »nuda actionum et eventuum series ac connexio>Causae rerum>Ursachenpraetextus, occasiones, consilia, orationes et reliquus actionum appara­ tus.circumstantiae rei gestae>Bestim­ mungendeterminationes, quae a spectatoribus ob diversum punctum visus diversimode percipiuntur.Die Begebenhei­ ten der Geschichte an sichsind immer gleich. Aber der Zusammenhang derselben, wie er vom Geschiehtschreiber erfasset wird, ist unendlich verschieden.Nachrichten>vollstän­ dige Reihe von Begebenheiten>Ursachen>Umstände>Charak­ tere>as may transport the attentive reader back to the very time, 88 make him a party of the councils, and an actor in the whole scene of affairslike philosophytowards our improvement in wisdom and virtue.> Ganzen«. Wie sich gezeigt hat, stand der Begriff des Ganzen im Mittelpunkt einer naturwissenschaftlichen Kontroverse, die in der Replik Maupertuis' auf Diderots holistischen (oder spinozistischen) Naturbegriff keine abschlie­ ßende Lösung gefunden hatte. Wie Thomas Abbt den Begriff des Zusam­ menhangs aus dem Bereich der mechanischen Bewegungslehre auf die Geschichte übertrug, so spricht Herder von einer >>Physik der GeschichteScenen>ein Ganzes, eine Hauptvorstellung>von der freilich der einzelne, eigennützige Spieler nichts wißen und sehen, die aber der Zuschauer im rechten Gesichtspunkte und in ruhiger Abwar­ tung des Folgeganzen wohl sehen könnte. -Penelopische ArbeitThey have the art of navigation.< Johnson. >A dog or a cat can swim.< Boswell. >They carve very ingeniously.< Johnson. >A cat can scratch, and a child with a nail can scratch.>Sein Phantom, der Naturmensch; dieses entartete Geschöpf, das er auf der einen Seite mit der Vernunftfähigkeit abspeiset, wird auf der andern mit der Perfectibilität und zwar mit ihr als Charaktereigenschaft, in so hohem Grade belehnet, daß er dadurch von allen Thiergattungen lernen könne.« - Zu den geschichtlichen Voraussetzungen dieses Gedankens vgl. E. Behler, »Ideas of the >State of Nature< and >Natural Man< in the Arabic Tradition of the Middle Ages and Their Entrance into Western Thought«, in: arcadia 3 ( 1 968), 1 - 26. 1 20 James Boswell, The Life ofSamueljohnson, ed. C. Hibbert, London 1 986, 32 1 ; unmittel­ bar zuvor führte Johnson aus: »These Voyages, (pointing to the three large volumes of Voyages to 117

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Die »Physik der Geschichte«

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Die Differenz zu Herders Konzeption beruht vor allem darauf, daß dieser den Menschen gegenüber dem sogenannten >>Stand der Wilden« immer schon als geschichtlich, nach Maßgabe der natürlichen und sittlichen Um­ stände willkürlich handelnd begreift. Die Frage nach dem Ursprung der Geschichte ist daher in der Tat mit der Frage nach dem Ursprung der menschlichen Handlungen und der sie motivierenden Freiheit des Willens identisch; die in den Schriften Vom Erkennen und Empfinden der mensch­ lichen Seele durch die Rezeption Spinozas und Leibniz' vertiefte Willenspro­ blematik war in der Skizze zur Negativen Wissenschaft in der Bestimmung: »Willkür ist ein ausgewachsner Trieb« aber schon enthalten. Hallers >>Reiz« und Helvetius' >>passions« oder >>ennui«,121 Lockes >>uneasiness>the chief if not the only spur of human Industry and Action«) und das >>StamenGeschmack< der Zeit ent­ sprechender Weise diesen Anfang des menschlichen Handelns. Der am Ursprung der Geschichte stehende >>MorgenländerTagwerke« überschriebenen Abschnitt der Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts aus, hielt es >>schon beinah' für Mühe [ . . . ], zu denken, für Strafe, daß seine Seele in den Körper gesetzt wäre, ihn zu bewegen, für höchste Seligkeit, sich dem unthätigen ruhigen Nichts zu nähern.Aufmerksamkeit>ausgewachsnen Trieb« erweiternden menschlichen Wil­ len gegenüberstellt. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch, so kann nun die oben erläuterte These im Hinblick auf Herders Geschichtsdenken ergänzt werden, beruht deshalb nicht auf dem je unterschiedlichen Grad der »Bedürfnisse« (besoins) und der aus ihnen folgenden >>Erfindungen«, wie Helvetius abermals an dem Beispiel der Affen zeigen wollte, 125 sondern auf der von Pascal mit all ihren Konsequenzen ausgesprochenen Tatsache, >>que les effets du raisonnement augmentent sans cesse, au lieu que l'instinct demeure touj ours dans un etat egal.« 126 Pascal wendete diese zuerst von Bossut in seiner Edition der Pensees publizierten Überlegungen, die sich hauptsächlich einer Verhältnisbestimmung von autoritativem und vernünfti­ gem Wissen im Horizont des von Charron aufgeworfenen Problems widmeten, auf den anthropologischen Sinn der Weltgeschichte an und be­ diente sich dabei des für Herders Denken bekanntlich höchst bedeutsamen Vergleichs der Geschichte mit den menschlichen Lebensaltern.127 Alle einzel­ nen Menschen sind in der Zeitenfolge, diesem >>continuel progres«, eigent­ lich nur ein und derselbe Mensch, der, weil er für die Ewigkeit geschaffen ist, immer lebt und, indem er altert wie das Weltall, »Erfahrungen« (experiences) und >> Kenntnisse« (connaissances) akkumuliert: »qui subsiste touj ours et qui apprend continuellement.>a representer la personne du Messie.>Bildern im sehendgewordenen Blinden Gestaltlos>wÜst und leerDem Aug' ein Lichtstrai Olympischen Offenbarung>Der grosse Gesichtskreis, der Bezirk vom Reiche des Menschen, wenn Er, das irrdisehe Bild der Gottheit, von dem Erdpunkte, wo er stehet, sich mit dem Auge Himmelan hebt, und ringsum auf die Strecken der Erde verbreitet, und end­ lich in die blaue Grenze des absinkenden Himmels einfließt, bis er sich wieder erhebt, und als Herr dieser sichtbaren Schöpfung noch mit Einem, dem letzten Blick das Ganze der Erd' und des Himmels umfaßet und einschließt. >erste Kräfteregung auf alles Menschliche Erkenntnisfremde Kraftsehen lernen«.164 In Absicht auf die sinnliche Konstitution des Menschen ist die Genesis » Gesang über die Gewohnheit«.165 Das Verfahren einer natürlichen Logik ist demnach die durch die Geschichte stets veränderbare »Methode, nach der man denkt und fortdenkt.« 166 In der Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden ( 1 778) schrieb Herder: »So, sehen wir, sammlet sich das Kind, es lernt sprechen wie es sehen lernt, und genau dem zu Folge denken. Wer Kinder bemerkt hat, wie sie sprechen und denken lernen, die sonderbare Anomalien und Analogien, die sich dabei äußern, wird kaum mehr zweifeln. « 167 Aus diesem Grunde seien »die eigentlichen Memoirschreiber den Geschiehtschreibern vorzuzie­ hen«; j eder Mensch kenne nur seine eigene Geschichte, und zehn Geschichtsschreiber werden »Über Eine Sache Philosophisch betrachtet zeh­ nerlei Geschichte« liefern.t6 s Diese j e individuelle bzw. national unterschiedene Art zu sehen, die durch den vielfach determinierten Standpunkt der auf dem »Waßerrade der Welt« Handelnden bedingt ist, 169 ist von dem Standort des >modernen< Historikers wohl zu unterscheiden; nur von diesem sprach Chladenius anläßlich seiner Lehre von dem punctum visus, und Gatterer folgte ihm hierin. Sie war, wenn auch nicht immer ausdrücklich formuliert, den Geschichtsschreibern lange

1 59 SWS Vl,299; cf. SWS V,120. Man erkennt hierin den vorreflexiven Aspekt in Bonnets Begriff der »personalite« wieder: siehe oben S. 1 06 f. 1 6o SWS Vl,248 . 1 6 1 SWS Vl,273. 1 62 SWS VIII,226. 16 3 SWS Vl,272. 164 SWS Vl,271. 16 5 Br. 1,261 (Brief an Johann Heinrich Merck vom 1 5 . Oktober 1 770); zu dem Begriff der Gewohnheit vgl. unten S. 2 1 0 - 2 1 6 . 166 SWS V,126. 16 7 SWS VIII,1 97. 168 SWS VIII,467. 169 So gegenüber Hamann: Br. 11,2 1 3 .

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

schon bekannt. In der von Karl Wilhelm Ramler übersetzten Einleitung in die Schönen Wissenschaften ( 1 756 - 1 758)170 führte Charles Batteux in Bezie­ hung auf die »historische Erzählung« aus: »Dem Schriftsteller kömmt es zu, sein Werk aus dem rechten Gesichtspunkte anzusehen und die Verhältnisse eines j eden Gegenstandes in seinem Gemälde nach den Regeln der Entfer­ nung gehörig abzusetzen.«171 Das Wort »gehörig« deutet unzweifelhaft wieder auf den rhetorischen Gehalt des zu intendierenden Stils. Gatterer kommt in seiner Abhandlung Vom Standort und Gesichtspunkt des Histori­ kers oder der teutsche Livius ( 1 768) über eine Aufzählung der natürlichen und sozialen Umstände, die den Standort des Historikers bedingen, nicht hinaus.172 Schon Bossuet formulierte mit Rücksicht auf den moralischen Aspekt der Geschichtsschreibung: >>Wenn ihr den Punkt zu finden wißt, von wo aus die Dinge betrachtet werden müssen, so werden alle Ungerechtigkei­ ten berichtigt sein, und ihr werdet nur Weißheit sehen, wo ihr zuvor nur Unordnung saht.«173 Die Aufgabe des Historikers findet also in dem Bemü­ hen Ausdruck, den ordo temporum wiederherzustellen.174 Insofern ist die Lehre vom Sehpunkt eng mit dem Problem der Chronologie verknüpft, denn, so Guthry und Gray in ihrer Vorrede zur Allgemeinen Weltgeschichte, >>je weiter wir in jene abgelegnen Zeiten zurückschauen, desto mehr scheinen sich alle Gegenstände zu verdunkeln, oder gar, durch eine Art perspektivi­ scher Verminderung zu verlieren. « t 75 1 70 Die französische Originalausgabe erschien 1 747 - 1 750 unter dem Titel: Cours de belles­ lettres, ou principes de la litterature. (Cf. BH 6029 - 6033). - Ramlers Batteux zählte zu Herders

frühester, bereits für die Königsherger Studienzeit bezeugter Lektüre: cf. Caroline Herder, Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder, ed. J. G. Müller, in: J. G. Herder, Sämmtliche Werke, Abt. »Zur Philosophie und Geschichte«, XX,67. 171 Charles Batteux, Einleitung in die Schönen Wissenschaften, Leipzig 4 1 774, IV, 28 1 282. 1 72 Dieser Aufsatz erschien im fünften Band der Allgemeinen Historischen Bibliothek; dort schrieb er, man müsse beachten, »was für einen Einfluß in die Auswahl der Begebenheiten der Standort und Gesichtspunkt des Geschiehtschreibers haben: das ist, was Nation und Zeitalter, was Religion und Sitten, und nebst diesen die Herkunft, die Talente, die Bedienung, das Ansehen etc. eines Schriftstellers zur Bestimmung des Geistes der Begebenheiten, zur Auswahl des Merkwürdigen beytragen.« (S. 5). 1 73 Zitiert nach W. Voßkamp, Romantheorie in Deutschland, Stuttgart 1 973, 1 7. 1 74 Daß dieses Erkenntnisideal mit dem der Naturwissenschaft zusammenfällt, wird z. B. in Buffons innerhalb der Histoire naturelle erschienenem Second discours. Histoire et Theorie de la Terre deutlich; G. Bernardini, »Buffon, Ia storia della natura e Ia storia degli uomini«, 1 84, bemerkt hierzu: »La parola storia ha dunque acquistato il significato di una ricostruzione completa degli avvenimenti nel tempo; tale storia ha una fondazione logico-filosofica ed ha abbandonato quella dimensione sincronica e descrittiva, attenta soprattutto alla ricostruzione dei particolari.« - Der Ausdruck »wiederherstellen« wird häufig von Schiller gebraucht: cf. Sämtliche Werke, München 1 980, IV,752. 753. 754. 1 75 William Guthry, John Gray, Allgemeine Weltgeschichte, 1,4.

Eine »Olympische Offenbarung«

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Allein Herders Erkenntnislehre, die er bei der Auslegung der Genesis zur Anwendung bringt, zielte nicht sowohl auf die Bestimmung des Standorts des Betrachters der Geschichte zu der in der Zeitenferne verschütteten Begebenheit, als vielmehr auf die Perspektive des die Welt erblickenden und dem gemäß handelnden geschichtlichen Subj ekts selbst; und in dieser Bezie­ hung wurde sie vor allem von Leibniz erörtert. In den Nouveaux Essais fand er Gelegenheit zu der Bemerkung, daß j ede Substanz das >>ganze Universum en raccourci« (so Herders Nachschrift) enthalte, >>mais d'une veue differente dans chacune de ses parties et meme dans chacune de ses unites de substan­ ces . « t 76 Die Kenntnis und die Untersuchung dieses die sinnliche Erfahrung der Substanzen perspektivisch einschränkenden >>verschiedenen Gesichts­ punkts« macht Herder zur Voraussetzung einer jeden historischen Herme­ neutik; in einer aphoristischen Notiz hielt er fest: >>Hermeneutik ist weniger demonstrative Wissenschaft, als Sache des Augenpunkts, Gesichtskr[eis], schnelle Bemerkung, sensus communis. « 1 77 Die zu Zeiten j e unterschiedliche Auslegung des Wirklichen ist demnach gebunden an die je eigene Art, sehen zu lernen. Rousseau stellte diesen Zusammenhang im Emile mit aller Deut­ lichkeit heraus, indem er sich des von Buffon entlehnten Vergleichs des menschlichen Blickpunkts mit dem einer Auster bediente: >>Comme la vüe est de tous les sens celui clont on peut le moins separer les jugemens de 1' esprit il faut beaucoup de tems pour apprendre a voir; il faut avoir longtems compare la vüe au toucher pour accoutumer le premier de ces deux sens a nous faire un raport fidelle des figures et des distances. 1 78 [ . . . ] L'univers entier ne doit etre qu'un point pour une huitre; il ne lui paroitroit rien de plus quand meme une ame humaine informeroit cette huitre.>Handlung>Handlungsweise> Geist Körperin der Natur ist alles übergehend, Leidenschaft der Seele und Empfindung des Körpers: Thätig­ keit der Seele und Bewegung des Körpers : j eder Zustand der wandelbaren endlichen Natur. « l83 Beide hier entwickelte Aspekte des Perspektivenproblems sind nicht von­ einander zu trennen; der Mensch findet sich immer in dieser doppelten Perspektive, indem er sein Handeln im Hinblick auf die >>Besichtigung>Handlungen unsrer erkennenden, wollenden Seele. « 1 85 Sie sind der oben im einzelnen erläuterten (natur-)geschichtlichen >Vergeistigung< der Materie gerade entgegengesetzt. 1 80 Johann Joachirn Winckelrnann, Geschichte der Kunst des Altertums, ed. Darmstadt 1 972, 145. Winckelrnanns Begriff des »Ausdrucks«, der ihm dieses Verhältnis bezeichnet (cf. ibid. 1 50.164 u. ö. ), geht wohl zunächst auf Charles Lebruns Schriften Discours sur les expressions des passions de l'ame ( 1 698) und Methode pour apprendre a dessiner les passions ( 1 702) zurück; cf. S. Ross, »Painting the Passions: Charles LeBrun's Conference sur l'expression«, in: Journal of the History of Ideas 45 ( 1 984), 2 5 - 4 7, hier: 47; die Autorin geht auch auf das Verhältnis zwischen Kunst (Malerei) und Geschichte im Kontext des aristotelischen Dictums (Poetica 1 4 5 1 a 3 6 - b 1 1 ) ein: vgl. S. 3 8 - 44. Hinzuweisen wäre allerdings auch auf d i e Beziehung zwischen Charakter (ij9oc;) und Rede/Handlung (A.oyoc;htpa�tc;) in Poetica 1 454 a 1 7 - 19; cf. Ethica Nicomachea 1 1 03 a 17: 1'J 1']9tKTJ t� e9ouc; m: ptyivetat. Cf. 1 144 b 4 - 5 . Zum Problern des Ausdrucks grundsätzlich: M Barasch, »Der Ausdruck in der italienischen Kunsttheorie der Renaissance«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgerneine Kunstwissenschaft 12 ( 1 967), 3 3 - 69. 181 Br. III, 1 5 8 . 1 82 Ibid. 183 SWS III,76. 1 84 SWS VIII,466. 185 SWS VIII, 194.

Eine »Olympische Offenbarung«

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In der ersten Fassung der Schrift Vom Erkennen und Empfinden der Seele ( 1 77 4) gebraucht Herder die Metapher, die Leidenschaften seien >>Winde und Neigungen« >>zum Wollen, zur Tat« : >>Das Schiff des Lebens hatte zum mindsten bei außerordentlichen Seelen, die Winde nöthig. « 1 86 Das in der Handlung zur Erscheinung kommende >> Gesetz« ist folglich Ausdruck der Seele selbst. Wie Herder schon in den Betrachtungen Ueber Christian Wolf[fjs Schriften ( 1 768)187 deutlich machte, ist dieses Gesetz eine Relation, auf die er die Gewißheit der sinnlichen Erkenntnis oder der cognitio historica gründet: >>Die meisten Philosophen über die Geschichte haben es vergeßen quantitatem effectus viribus caussae proportionatam demonstrare, und wie Vieles entgeht ihnen also von der höchsten Gewißheit.« 188 Es scheint zu­ nächst so, als bestätige Herder mit der Forderung nach einer Demonstration dieses Verhältnisses, und d. h. doch wohl: nach einem Beweis aus Gründen, die Unvereinbarkeit der cognitio philosophica mit der cognitio historica; aber sein Hinweis: >>Auch die Ursache geschiehet, und ist«,189 läßt überhaupt nur eine >>historische Kenntniß>jeder Philosoph siehet nach seinem Gesichtspunkt. « 1 90 Herders hermeneutische Regel findet sich also auch hier bestätigt; der >>Philosoph über die Geschichte>äußere Methode>zugleich innerer Geist>Schiff des Lebens«192 zusammen. Im Zusam­ menhang mit seiner Lehre vom Ausdruck gab Winckelmann zu bedenken, die Einsicht in die in der griechischen Skulptur erscheinende >>Idee der SWS VIII,244. · Die Datierung folgt 0. Hoffmann, dem Herausgeber von SWS XXXII; s. dort S. 535. 188 SWS XXXII, 1 5 8 f. Cf. Thomas Abbt, »Von der Gewißheit in sinnlichen, theoretischen und moralischen Wahrheiten«, in: Vermischte Werke, IV,80: »Einerley Würkungen = einerley Kräften, heißt eben so viel, als 2+2=4.« Beider Quelle konnte ich nicht finden. t 89 SWS XXXII, 1 5 8 . 1 90 Ibid.; cf. SWS Vl,367; cf. H. D. Irmscher, »Grundfragen der Geschichtsphilosophie Herders bis 1 774«, in: Bückeburger Gespräche 1983, 1 0 - 32, hier: 23 - 24. 191 SWS XXXII, 1 59. Vgl. oben S. 123. 1 92 Zur Geschichte der Schiffsmetaphorik (Verhältnis Winde -Segel) vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern, München 1 0 1984, 1 3 8 - 1 4 1 ; H. Blumen­ berg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 3 1 988. Vgl. außerdem Rousseau über die Bildung des »homme rare« im Zusammenhang mit der Schiffsmetapher, CEuvres completes, IV,25 1 : »Quand i l n e s'agit que d'aller contre l e vent, o n louvoye; mais s i I a mer est forte et qu'on veuille rester en place il faut jetter l'ancre. Prend garde, j eune pilote, que ton cable ne file ou que ton ancre ne laboure, et que Je vaisseau ne derive avant que tu t'en sois apper�u. >Contra fortunam illi [viri] tenendus est cursus«; cf. Cicero, Tusc. V,S). Bzgl. Herders Gebrauch vgl. Br. III,29, I. 1 2 1 ff. und SWS VIII,228 f.: »Oft sind dem jungen Schiffer, schon unterm Angesicht der Morgenröthe, Stürme beschieden« etc. 1 86 1 87

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

höchsten Schönheit« bedürfe keiner »philosophischen Kenntnis des Men­ schen«; es seien die Leidenschaften »die Winde«, »die in dem Meere des Lebens unser Schiff treiben.«193 Die von Herder mit diesem Bild intendierte Erläuterung dieses Verhältnisses richtete sich gleichwohl auf die von Helveti­ us in ihrer allgemeinen Gültigkeit aufgewiesene Beziehung zwischen »pas­ sion« und >>mouvement«; in dem Kapitel über die »Macht der Leidenschaf­ ten> Les passions sont, dans le moral, ce que, dans le physique, est le mouvement. [ . . ] C' est clone aux passions fortes qu' on doit l'invention et les merveilles des Arts: elles doivent clone etre regardees comme le germe productif de l'esprit, et le ressort puissant qui porte les hommes aux grandes actions.>die Gottheit>ausserordentliche Menschen, Kometen, in die Sphären der ruhigen Sonnenbahn.KräfteFer­ ment>Sauerteig>ZU Gutem oder zu Bösemprima materia des Geistesgerme productif de l'espritin Gärung>Verbindung>himmli­ schen FeuerErhö­ hung>Charakter« das Ergebnis der >>gewohnheitsmäßigen Anlagen« (dispositions habituel­ les).212 Durch den Wechsel der äußerlichen Sinneseindrücke bilde sich in dem menschlichen Gehirn eine je neue Konfiguration (ordre, arrangement) der Fibernmoleküle; Gewohnheit sei die in der Regel mit zunehmendem Alter abnehmende Fähigkeit der Fibern, neue Eindrücke aufzunehmen und ihre Moleküle ihnen entsprechend neu zu arrangieren.21 3 Indessen besitze j ede Fiber eine eigene »Grundkraft«: >>Plus une Fibre a de force originelle, plus elle a de capacite a retenir les impressions qu' elle a contractees. Les Molecules une fois disposees dans un certain ordre, prennent plus difficilement de nouvelles positions.«214 Daher kommt es, daß dieselben Gegenstände auf verschiedene Menschen nicht dieselbe Wirkung ausüben: >>Chaque Cerveau a des sa naissance un ton, des rapports qui le distinguent de tout autre.«215 Im Alter nimmt die Erregbarkeit der Fibern durch Obj ekte der Außenwelt stetig ab; »la Fibre devient de j our en j our moins susceptible d'impressions nouvel­ les.«216 >>Neuen Eindrücken«, so paraphrasierte Herder 1 769, >>ist die Seele kaum mehr offen; sie ist verschlossen: zu neuen Erfahrungen kaum aufge­ legt«.217 Dieser Beharrlichkeit der Gewohnheit wirkt die Erziehung entge­ gen, deren Kraft als das eigentliche Triebrad der Kultur und geradezu als >>zweite Geburt« bezeichnet werden kann: >>La force de l'Education modifie 210 Einen brauchbaren Ü berblick bietet L. Anderson, Charles Bannet and the Order of the Known, 9 1 - 1 04. Ausgehend von Locke und Rousseau weist er besonders auf die erkenntnis­

theoretische Dimension des Problems hin (S. 98): »the eighteenth-century fascination with education had little to do with pedagogy per se [ . . . ] Education, rather, must always be viewed in relationship to an epistemology and to a psychology that have come to overlap completely. « 211 Charles Bonnet, Essai de psychologie, 209; schon Montaigne und Charron hatten diesen Gedanken - in peiorativer Absicht - formuliert: cf. Pierre Charron, De la Sagesse: » Ia coustume » »fait valoir et establit parmy le monde, contre raison et jugement, toutes !es opinions, religions, creances, observances, mceurs et manieres de vivre !es plus fantasques et farouches.« (Zitiert nach T. Gregory, Theophrastus redivivus. Erudizione e ateismo nel Seicento, Neapel 1979, 5 1 ). Vgl. auch Samuel Pufendorf, Les devoirs de l'homme, et du citoien, Tels qu 'ils lui sont prescrits par la loi naturelle. Traduit [. . .} par ]ean Barbeyrac, Amsterdam 1 707, 1 1 - 1 3. 212 Charles Bonnet, Essai de psychologie, 2 6 1 . 213 Ibid. 206 f.; ähnlich äußerte sich 1 770 Pietro Moscati: vgl. seine Rede Von dem körper­ lichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen, Göttingen 1 771, 90. 214 Ibid. 208. 21s Ibid. 2 1 0; vgl. unten S. 2 1 4, Anm. 23 1 . 216 lbid. 207. 217 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im fahr 1769, ed. K. Mommsen, 1 3 7 f.

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Dritter Teil · Methodische Aspekte d e r Geschichtstheorie Herders

la force du Nature!. L'Education est une seconde Naissance, qui imprime au Cerveau de nouvelles determinations.«218 Für den »Fortschritt des Verstan­ des« (progres de /'Esprit) hat die Erziehung folglich eine stetige Akkumula­ tion von Kenntnissen zur Folge, wie Bonnet ganz im Sinne des Pascalsehen Dictums formuliert: >>L'Esprit vegete comme le corps. 11 est une gradation necessaire dans l'acquisition de nos Connoissances, & dans le developpe­ ment de nos Talens, comme il en est une dans l'accroissement de nos Membres.«219 Herder schrieb 1 769 im Reisejournal wohl mit Beziehung auf diesen Gedanken: »Die Menschliche Seele hat ihre Lebensalter, wie der Körper.«220 Drei Jahre später ( 1 772) zog er denselben Vergleich zwischen der Konstanz der Naturgeschichte des Menschen und seiner kulturellen »Pro­ greßion«, indem er zugleich die Analogie und die Disparität beider Aspekte hervorhob; seine Ausführungen sind einem Kommentar zu den von Bonnet vorgetragenen Überlegungen nicht unähnlich: »Es werden Lebensalter, Epo­ chen, die wir nur nach den Stuffen der Merklichkeit benennen, die aber, weil der Mensch nie fühlt, wie er wächset, sondern nur immer wie er gewachsen ist, sich in ein Unendlichkleines theilen laßen. Wir wachsen immer aus einer Kindheit, so alt wir sein mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt: das Wesentliche unsres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progreßion, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir - zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene, Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete. «221 Die von Bonnet als »Zweite Geburt« bezeichnete Divergenz zwischen den Bereichen des Natürlichen und des Kulturellen nannte Herder 1 777, bei der Themati­ sierung der Frage, »wie erst Kunst werde«,222 einen »Sprung, ohne den nichts, mit dem Alles gethan war; der Sprung aus dem Lande roher Versuche, die zu nichts bringen und Jahrhunderte dieselbe seyn können, durch Muster ins Land der Kunst. «223 An einen >>Übergang durch Natur« sei nicht zu 218 Ibid. 2 1 7; Schon K. Lamprecht, » Herder u n d Kant als Theoretiker d e r Geschichtswissen­ schaft«, 1 76 f., kommt auf Herders in den Ideen verwendeten Begriff der Kultur als einer »zweiten Genesis« zu sprechen, scheint ihn aber für einen genuinen Ausdruck Herders zu halten. - Zum Problem: D. R. Kelley, »>Second NatureIa diversiteschönen< Kunstwerks: »Alles andere, woran sich zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verab­ redungen zeigen, verdienet diesen Namen [sc. der Schönheit] nicht, weil die Kunst hier nicht um ihrer selbst willen gearbeitet, sondern ein bloßes Hülfsmittel der Religion war, die bei den sinn­ lichen Vorstellungen, die sie ihr aufgab, mehr auf das Bedeutende als auf das Schöne sahe.« (Lessing, Werke, Vl,74; cf. 76). Für Herder deckt sich das (zeitbedingt) »Bedeutende« mit dem »Schönen« : »So ist Wahrheit, Schönheit und moralischer Werth ein Phantom, das Jedem auf eine andre Art, in einer andern Gestalt erscheint: ein wahrer Proteus, der durch einen Zauberspiegel, immer verwandelt, und nimmer als derselbe sich zeigt.« (SWS XXXII,1 8 - 1 9) Die diesem Problem zugrundeliegende Schwierigkeit, erkennbar etwa noch bei Kant und Schiller sowie bei Wilhelm Heinse und J ean Paul, gründet in dem problematischen Verhältnis des beau relatif und des beau absolu: cf. H. R. Jauss, »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität«, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1 970, 32; W. Proß in HWP 11,870-8 7 1 . Da Herder über Diderots E n cyclop edie -Artikel » beau« mit Crousaz' Traite du beau ( 1 7 1 5) vertraut war, sei hier auf dessen Definition des Begriffs »Beaute« verwiesen: »Ce terme n'est pas absolu, mais il exprime le rapport des objets, que nous appellans Beaux avec nos idees, ou avec nos sentimens, avec nos lumieres, ou avec notre creur, ou enfin avec d'autres objets differents de nous-memes; De sorte que pour fixer l'idee de Ia Beaute, il faut determiner, et parcourir en detail les relations auxquelles on attache ce nom.« ( Traite du beau, ed. Paris 1 985, 22). 22 7 SWS VIII,448. 22 4 225

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Dritter Teil · Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders

kultur< nennen könnte. Das übrige ist nach der Geschichte Kreislauf oder Chaos.« >>In diesem Betracht« sei allerdings >>wenigstens bis jetzt noch« >>keine Philosophie der Geschichte des Menschlichen Geschlechts« mög­ lich.228 Diese >>allgemeine und zugleich genaue Wissenschaft von den Nationalfähigkeiten, Kenntnissen, Tugenden und Untugenden aller Völker in den älteren und gegenwärtigen Zeiten«, so führte der Graf gegenüber Herder aus, hätte >>die verschiedenen Verhältnisse der Werthe (wenn man sich so ausdrücken kan[n]) des Menschlichen Geschlechts von Zeit- zu Zeital­ ter«229 zu vergleichen und zu bestimmen. Des Grafen Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer derartigen Wissenschaft gründen offensichtlich in der fehlenden, aus den Daten zu erschließenden und >>durch die Erfahrung und Geschichte«230 selbst zu bestätigenden Methode, welche die Art der kultu­ rellen Progression genau zu bestimmen vermöchte. U mso überraschender ist die von Herder zur gleichen Zeit in der Aeltesten Urkunde und in Auch eine Philosophie vorgeführte Gesetzmäßigkeit einer kulturellen Entfaltung des seelengeschichtlichen Anfangs, obschon sie nur als stetige Differenzierung, nicht aber als kontinuierliche Vervollkommnung des Menschen betrachtet werden darf. Darin unterscheidet er sich von Bonnets Überlegung, nicht aber in dessen neurophysiologischer Ableitung der >>Kultur« des menschlichen Verstandes.231 Herder hatte die kulturelle Differenzierung in der zweiten Fassung der Schrift Vom Erkennen und Empfinden nachträglich durch einen Dreischritt in dem Gedanken einer >>sich bildenden Gesellschaft« erläutert: gleichwie >>im ersten Zustande« des Menschen >>noch alle Fäden in Einem Knäuel« seien >>und in Einem Seile würken:232 Erkennen im Empfinden, Vernunft in Handlung, Theorie in der Praxis begraben« sei,233 ebenso waren >>die ersten Geister, die Väter des Menschengeschlechts Alles in Allem, Dichter und Philosophen, Gesetzgeber und Meßkünstler, Musiker und Krie228 229

Br. Il, 1 4 1 . Wilhelm Graf z u Schaumburg-Lippe, Schriften und Briefe, Bd 3, Frankfurt/M. 1 983,

345. Ibid. Ganze Passagen der bereits 1 766 entstandenen Skizze Von der Verschiedenheit des Geschmacks und der Denkart unter den Menschen, die von der »Struktur der Nerven«, dem »Ton« ihres »Faserngewebes« und ihrer Wirkung auf >>Nachäffung« und »Gewohnheit« handelt, gleichen einer produktiven Auseinandersetzung mit Bonnets Essai de psychologie: cf. SWS XXXII,24 -25. Vgl. oben S. 2 1 1 . 232 Man denke hier wieder a n Herders Verwendung der Begriffe fibra und stamen. 233 Cf. SWS VIII,261 : »Gedanke liegt in der Empfindung, Theorie in der Praxis begraben. Die Ersten Genies, die das Menschengeschlecht bildeten, waren Alles, Dichter, Philosophen, Meß­ künsder, Gesetzgeber, Musiker, Krieger: aber alles nur im Keime zu ihrer neu sich bildenden Gesellschaft d. i. sie waren vorzüglich grosse, thätige und gute Menschen. Sobald eine Wissen­ schaft auch auf ihre Simplicität zurückgeht: so wird sie ganz Praktisch, wie die Philosophie des Sokrates, wie die Politik und Redekunst im Sinne der Alten.« 2 30 231

Gewohnheit und Erziehung

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ger [ . ], alles i m Keime z u ihrer sich bildenden Gesellschaft, große, thätige, gute Menschen.« In einem zweiten Schritt teilten >>sich nachher mit den Ständen und Lebensarten auch die Fähigkeiten«, die »Kräfte und das Amt des Einzelnen« wurden >>vertheilt«. Zu dieser Zeit treten >>Fehler« und >>Auswüchse« auf, >>Moralisten ohne That, Spekulanten ohn Anschauung, Redner ohn Handlung, Regelngeber ohne Kunstübung.« Schließlich werde in einem >>Rückgang>aus dem Allen« >>jedes Glied gesund, in seinem Maas des Erkennens und der Empfindung Thatvoll. «234 Recht verstanden handelt es sich hierbei um die Bildung einer Gesellschaft oder Nation, nicht aber um eine Aussage über den weltgeschichtlichen Verlauf im ganzen. Daß es zu dem »Sprung«, zu dem Anfang einer solchen Entwicklung überhaupt kommt, leitet Herder in der Aeltesten Urkunde aus der Bestimmung des Menschen, und das heißt wohl: aus dem dem Menschen eigenen >> Grundstoff« der Seele ab; diese Entwicklung entsteht aus dem Zusammentreffen menschlicher und göttlicher » Kräfte von innen«, womit die Regentschaft der Providenz im Rahmen der >>Hauptvorstellung« sowie des menschlichen Willens in Beziehung auf j ede einzelne Handlung bezeich­ net ist, und der >>Bedürfnisse von aussen«.235 Mit diesem letzten Aspekt befindet sich Herder in Übereinstimmung mit einer seit dem Geschichts­ werk des Diodorus Siculus verbreiteten Kulturentstehungslehre, die Jere­ mias Nicolaus Eyring in Gatterers Allgemeiner Historischer Bibliothek ( 1 767)236 ausführlich vorgetragen hatte. 237 Schon in den Fragmenten bemerkt Herder deshalb, >>daß der Erfindungsgeist in der Brust des Menschen sehr ruhig schlafe, wenn ihn nicht eine Gewalt von Nothdurft wecket. «238 Eyring . .

SWS VIII,330-33 1 . SWS Vl,300. 2 36 Herder entlieh sich die Allgemeine Historische Bibliothek (AHB) 1 772 von Heinrich Christian Boie: vgl. die Briefe vom März und November 1 772: Br. 11,1 52; IX, 1 66. Einzelne Stücke daraus kannte er freilich schon vorher, wenn er nun von Boie das gesamte, inzwischen abgeschlossene Werk anfordert; so erwähnt er den zweiten Band etwa in den Fragmenten (SWS 11,85). Einen Aufsatz über Winckelmann hatte er ursprünglich in der AHB veröffentlichen wollen: vgl. B. Suphan in SWS III, S. XI, Anm. 3. Vgl. unten S. 23 1 ff. 237 Cf. Jeremias Nicolaus Eyring, »Von dem Plane des Diodors aus Sicilien«, in: AHB IV ( 1 767), 25 ff. Man vermutet heute eine Abhängigkeit der Lehre Diodors von Demokrit: vgl. Der Kleine Pauly 11,4 1 . - Herder spricht gleichbedeutend von »Bedürfnis «, »Notdurft« und Not­ wendigkeit. Zum Problem vgl. Cicero, De inventione 1,2; Epikur (Diog. Laert. X,75: livayKacr9fi vat - xpocre�eupicrKetv); Lukrez, De rerum natura V,925 ff.; daran anschließend: Vitruv, De architectura 11,1 ( Herder besaß die frühe Ausgabe von Daniele Barbaro, Venedig 1 567: BH 1 989; zu dieser Edition vgl. W. Proß, »>Naturheidnischer< Dichter, wie etwa Sophokles' oder Euripides', Ovids oder Martials, zu erweisen trachtete. Aber im Brief vom 2. Juni 1 772 spricht Heyne seine Verwunderung und seinen Vorbehalt gegenüber einer Interpretation offen aus, die >>dies poetische Bild« als >>Hieroglyphe« oder Denkbild auszulegen versucht ist; er nennt dieses Verfahren geradezu eine » Künstelei«, die der >>Einfalt der alten Welt« zu widersprechen scheine: >>Daß die sogenannte Schöpfungsgeschichte ein poetisches Fragment, daß es das Gemälde der Schöpfung unter dem Bilde eines werdenden Tages sei - bis dahin ist alles -

2 73 2 74 2 7s 2 76

SWS VIII,33 1 . SWS VI,3 0 1 . SWS XXXII,149. SWS VIII,3 3 1 . Vgl. den Propheten Danie/ 7,4 und Luthers »Vorrede auf den Propheten Danielhistorischen Evidenz«284 fähig, die j ener bei seiner Auslegung postulierte. Aufgrund einer Restitution des >>ir­ gendwo in der ersten Simplicität« entstandenen >>Urtexts«,285 so entgegnete Herder noch im Juni 1 772 dem Heyneschen Vorwurf der » Künsteleiwie sie in dem frühen Alter sein können Gang meiner Begebenheit>zu der ich mir übrigens alle kritische Kälte nehme und alle theologische Unpartheilichkeit habe, deren ich vielleicht fähig.Zeitmalen>Zeitforschung« hat, mindert nicht ihren Wert. Aber der Sinn des Streits mit dem Göttinger Freund Heyne, dem er zuerst das »älteste Symbolgebäude des Menschlichen Geschlechts «288 im einzelnen darlegte, lag in der entscheidenden Frage nach den Kriterien, die dem ordo successivorum zugrunde liegen sollten, ohne daß man sich auf ein willkürlich angenomme­ nes System zur Gliederung der Zeitenfolge beziehen müßte. Auch die dem Geschichtsobj ekt >>angemeßne Schreibart«, wie sie Ernesti von dem Histori­ ker forderte, 289 war gegenüber der Möglichkeit einer Einsicht in den Zusammenhang der menschlichen Handlungen von gänzlich untergeordne­ ter Bedeutung. Ernestis Auffassung lieferte Herder und Heyne übereinstim­ mend die Argumente gegen August Ludwig Schlözers Allgemeine Nordische Geschichte ( 1 77 1 ), der seine >>Methode«, wie er selbst formulierte, auf >> Gründe nicht der Nothwendigkeit, sondern der Schicklichkeit« baute.290 Diese von den rhetorischen Regeln der dispositio abhängige Vorschrift des Schicklichen (aptum ), von den Lehrbüchern der ars historica seit langem dargeboten, ist in Schlözers Werk, in dem Heyne nur den >> Geist der Com­ pilation« sehen konnte,291 in der Tat vorherrschend; er folgt damit noch der Auffassung Quintilians, der die dienende Funktion der Geschichtsschrei­ bung im Hinblick auf die Tätigkeit des Redners hervorgehoben hatte: >> [Historia] est enim proxima poetis et quodam modo carmen solutum est et scribitur ad narrandum, non ad probandum, totumque opus non ad actum rei pugnamque praesentem, sed ad memoriam posteritatis et ingenii famam componitur: ideoque et verbis remotioribus et liberioribus figuris narrandi taedium evitat.«292 Die Geschichtsschreibung erfüllt also nicht einmal eine epideiktische Aufgabe (pro bare), sondern tritt nur als digressives Beiwerk (narrare) in Erscheinung. Innerhalb dieses Horizonts konnten Schlözer die von Herder intendierten Ordnungskriterien der Geschichte nicht in den Blick kommen. Die Geschichte der Polemik Herders gegen den ersten Teil von Schlözers 288 Br. IX, 1 34. 28 9 Johann August Ernesti, »Vorrede« zu William Guthry, John Gray, Allgemeine Weltge-

schichte, Bd. I, S. V.

2 90 August Ludwig Schlözer, Allgemeine Nordische Geschichte, Halle 1 77 1 , 3 . 2 9 1 V. u . a . Herder 11, 1 3 5 . 2 92 Quintilian, lnst. orat. X,1,3 1 . Einen Teil dieser Problematik (bzgl. Lukian, Theophrast

und Cicero) behandelt F. Wehrli, »Die Geschichtsschreibung im Lichte der antiken Theorie«, in ders., Theoria und Humanitas. Gesammelte Schriften zur antiken Gedankenwelt, Zü­ rich, München 1 972, 1 3 2 - 1 44; vgl. grundsätzlich A. Momigliano, La storiografia greca, Turin 1 982.

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

Vorstellung seiner Universal-Historie ( 1 772)293 liefert einen jener bizarren Grabenkämpfe, die in der Sache völlig berechtigt, deren Mittel aber gänzlich übertrieben oder doch zumindest unangemessen zu sein scheinen. Schlözers Vorschlag zur Reform der Geschichtsforschung setzte bei dem Gedanken ein, das Allgesamt der Weltgeschichte als ein nach den Ordnungskategorien des Linneschen >>Systema Naturae« gegliedertes oder diesem angenähertes >>Systema Historiae« zu errichten.294 Das >>Ideal der Weltgeschichte« setzt er in eine >>Abteilung in 5 Welten oder Hauptzeiträume« und erhofft aus dieser nach den >>Facta«, nicht aber nach >>Raisonnemens« getroffenen Gliederung die Grundlegung einer >>allgemeinen historischen Encyclopädie« zu leisten, die als ein »vollständiges Fundamentale der ganzen Geschiehtkunde in ihrem unermeßlichen Umfange«295 einem jeden künftigen historischen Werk den methodischen Leitfaden an die Hand zu geben verspricht. Insbesondere für die Geschichte der »Künste und Erfindungen« führt er aus, es lasse sich >>eine Anordnung der Weltgeschichte denken, wo diese Künste schicklich classifi­ zirt, ihre Geschichte nach den verschiedenen Ländern und Zeiten zusam­ menhängend beschrieben, und alle übrigen Weltbegebenheiten als nähere oder entferntere Ursachen, als unmittelbare oder mittelbare Folgen dieser Erfindungen eingeschichtet werden. «296 Herder ließ noch im seihen Jahr in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen eine Rezension dieses Werkes erschei­ nen, in der er Schlözers Klassifikation eine >>Linneische Nachäffung«297 nannte und Einwände gegen dessen >>Spielwerk« von >>runden Zeiten und verminderten Perioden«298 erhob. Statt die Gesamtheit des historischen Handlungsverlaufs als geschlossenes >>Bild« und »ganzes Continuum>Sitten« und >> Gebräuche« als >>Standards of right and wrong, of true and false« be­ trachte,309 so gab Herder damals zu bedenken: >>Man kann auch leicht die Ursache von diesen 4. Monarchien wißen, wenn man bedenkt, daß wir unsre Nachrichten meist von Römern, diese von Griechen, und diese zum Theil von Morgenländischen Völkern herhaben; nun glaubt ja j edes Volk: es sey das vornehmste auf der Erde, insonderheit wenn es Fremde nicht kennet: und 304 Jacob Usher [i. e. Usserius], Annales veteris et novi testamenti, 2 Bde, London 1 650. 1 654. Postum erschien: Chronologia sacra & de symbolis fidei, Oxford 1 660. Noch Lenglet du Fresnoy bezieht sich mehrfach lobend auf Usher: cf. Anweisung zur Erlernung der Historie, 1,125 - 1 28 u. ö. 3 0 5 Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, ed. J. H. Zedler, Halle, Leipzig 1 732 - 1 754, s. v. >Usserius>lieu de repos« in dem folgenden Sinne: >>Dans l'ordre des siedes il faut avoir certains temps marques par quelque grand evenement auquel on rapporte tout le reste.«326 Der Epochen­ begriff ist demnach ein bloßes Hilfsmittel zur Vermeidung von >>Anachronis­ menZeitalter« (ere).328 Aber das Problem einer aus der Ereignisgeschichte abgeleiteten und durch sie begründeten Ordnung der Geschichte war damit keineswegs gelöst. Herder nähert sich dem Epochenbegriff in den Fragmenten bei der Erörte­ rung des >>historischen Stils>tempus enim continuo fluit, & sine ullo intermedio hiatu partes ipsius sibi continuo succedunt aliae aliis.indem er sich immer halb wiederholt, eben damit immer weiter>beständig fortgehende Handlung>überall Ruhepunkteein Endpunktkeinen Riß>in gleichen Schritten>Rhapsodien>Episoden« >>Teilweise aus einander fallen«.331 Gatterer, so Herder, mißverstehe den eigentümlichen Charakter des Werkes Herodots, wenn er frage: >>wie fern zu unserer Zeit Geschiehtschreiber den Herodot in seinem Halb-Epischen, in seinem Episodenmäßigen nach- oder nicht nach­ ahmen können. «332 Zu fragen sei vielmehr, wie Herodots Stil >>aus seinem Zeitalter in Cultur und Sitten, in Denk- und Lebensart, in bürgerlicher und wissenschaftlicher Verfassung gleichsam« erklärt werden könne.333 Hero­ dots historischer Stil rückt somit selbst in die Ferne geschichtlicher Bedingt­ heit, und die aus dem Sprachproblem erwachsene Frage nach dem Stil einer künftigen Geschichtsschreibung kann deshalb nur durch die Einsicht in die den >>historischen Stil« selbst modifizierende Geschichte der Sprache gelöst werden: >>Der Historische Stil soll unserer Sprache noch erst angebildet werden.«334 Denn, so konnte man bei Helvetius lesen, >>la Iangue vieillit insensiblement estime de tradition«).335 Gatterer war sich völlig darüber im klaren, daß »wir j etzt einen ganz andern Standort in der Welt haben, als Herodot«,336 aber die >>Theorie« seines >>Plans, die Einschaltungsmethode«, glaubte er ohne weiteres als Maßstab für die zeitgenössische Geschichtsschreibung übernehmen zu können.337 Her­ ders Vorwurf, daß Herodots episodische Geschichtserzählung >>Teilweise aus einander« falle, trifft daher indirekt auch den >>teutschen Livius« Gatte­ rer, der das von ihm sonst mit großer Umsicht behandelte Problem der (kausalen) Verknüpfung der Begebenheiten nach Maßgabe des Schicklichen zu überspielen schien. Er trifft aber zugleich und mit derselben Intensität Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums, denn in einer Vorstudie zu einem geplanten, im Jahr von Winckelmanns Tod zunächst aufgegebenen Aufsatz, der das Verhältnis von >>Geschichte« und >>Lehrgebäude« näher bestimmen sollte, bediente sich Herder desselben Ausdrucks; über Winckel­ manns Epochenfolge schrieb er: >>Die Kette zwischen den Völkern fehlt offenbar. Das Buch fällt alsdenn in so viele Theile, als es Völker be­ schreibt. «338 In Abbts Fragment der Aeltesten Begebenheiten des mensch33 1 33 2 333 334 335 33 6 337 33 8

Ibid. 85. Ibid. lbid. Ibid. 86. Claude-Adrien Helvetius, De /'Esprit, 1 80. Cf. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaph. § 752. AHB 11,48; cf. W. Proß in HWP 1,758. Zitiert nach der Edition von H. D. lrmscher, »Probleme der Herder-Forschung«, 292.

Chronologische Ordnungen der Geschichte

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liehen Geschlechts hoffte er gerade umgekehrt Hinweise auf die »Verknüp­ fung der ältesten Perioden«339 zu finden. Herder näherte sich dem Werk Winckelmanns bekanntlich in mehreren Ansätzen, unter denen die Ausführungen in der zweiten Sammlung der Fragmente und das als Preisschrift bei der Societe des Antiquites de Cassel eingereichte Denkmahl Johann Winkelmanns ( 1 777) hervorzuheben sind. 340 Daß er die Arbeit an j ener Ende 1 767 begonnenen Abhandlung bereits 1 768 abbrach und statt dessen Teile daraus in den Fragmenten veröffentlichte, war jedoch nicht so sehr durch den überraschenden Tod Winckelmanns begrün­ det; nachdem Herder zunächst geplant hatte, den in Arbeit befindlichen Aufsatz in Gatterers Allgemeiner Historischer Bibliothek publizieren zu lassen und zu diesem Zweck auch schon einen Brief An den Direktor der Historischen Gesellschaft in Göttingen entworfen hatte,341 mußte er feststel­ len, daß sich seine Aufzeichnungen über Winckelmann unversehens zu einer teils kritisch-argumentativen, teils polemischen Auseinandersetzung mit Gatterers Aufsatz Vom historischen Plan auswuchsen. 342 An eine Aufnahme seines Manuskripts in Gatterers Zeitschrift war daher nicht zu denken. Herders Argumentation beginnt zunächst bei dem Begriff des » Lehrge­ bäudes«, mit welchem Winckelmann das griechische Wort für »Geschichte« etymologisch abzuleiten gedachte.343 In der Tat setzt aber schon hier seine Kritik gegenüber dem Werk Gatterers ein, der es in der genannten Abhand­ lung als » eines der wichtigsten Hauptstücke der historischen Kunst« bezeichnet hatte, »an den Plan zu denken, nach welchem alle grosse und kleine Stücke, woraus das Gebäude aufgeführet werden soll, am schick339 Br. I,67 (Brief an Johann Georg Scheffner, Dezember 1 766); Abbts Fragment findet auch in einer vermutlich 1 767/68 entstandenen Disposition, die »Anmerkungen zur Geschichte der Wißenschaften« überschrieben ist, Erwähnung: cf. R. Otto, »Herders Vorarbeiten zur >Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts< in handschriftlicher Überlieferung«, 35. 34 0 Vgl. den Brief an Hamann vom August 1 777: »Zu Kassel ist eine Academie des Antiquites gestiftet und Eloge de Winckelmann als erste Preisfrage ausgestellet: wer weiß, treibt mich auf den Winter mein böser Dämon nicht, antiquo me includere ludo und für meinen 2ten Jungen um diese erste Preismünze der ersten Academie des Antiquites in Deutschland (leider! Römische Antiquites) zu buhlen. « (Br. IV,39). 34 1 Cf. HN I 21, fol. 1 8 ' : Herder bittet um die Aufnahme seines Aufsatzes » Ü ber den Plan der Winkelmannischen Geschichte« in die AHB; dieser Aufsatz( entwurf) folgt unmittelbar darauf, ist also Teil des Briefkonzepts (foll. 1 8'-2 1 '). 34 2 Dieses Motiv für den Abbruch der Arbeit an dem Aufsatz wurde bisher nicht gesehen; noch M. Embach, » Kunstgeschichte und Literatur: zur Winckelmann-Rezeption des Deutschen Idealismus«, 1 05 - 1 1 0, nimmt hiervon keine Notiz. Trotz Berücksichtigung des Nachlasses scheint ihm das von H . D . Irmscher (»Probleme der Herder-Forschung«, 289- 293) 1 963 mitge­ teilte wichtige Manuskript entgangen zu sein. 343 Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, 9; vgl. Herders Entwurf nach der Edition von H . D . Irmscher, »Probleme der Herder-Forschung«, 289; SWS VIII,466; vgl. zum folgenden auch SWS IV, 1 99 - 2 1 8.

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

lichsten in Ordnung gebracht werden können, so daß man nach der Vollendung des Werks, ohne Mühe begreifen kan[n], warum ein Stück der Materialien eben hieher, und nicht an einen andern Ort gesetzt worden ist.«344 Aber der »philosophische Geschichtschreiber« benötige >>histori­ sches Genie«, um das >>System von Begebenheiten« aus ihrem >>inneren Verhältnis« >>von den Wurzeln an durch alle Haupt- und Nebenzweige>Der Zusammenordner vieler Begebenheiten zu einem Plan, zu einer Absicht: der ist, sagt unsre historische Kunst, der ist der wahre historische Künstler, Maler eines großen Gemäldes von der tref­ lichsten Composition: der ist historisches Genie, der ist der wahre Schöpfer einer Geschichte! Und ist das, so ist Geschichte und Lehrgebäude eins ! «346 Die Schwierigkeit, die Herder in dem Verhältnis des >> Geschichtsschreibers>Raisonneur über die Geschichte« aufdeckt, bezeichnet er durch den psychologischen >>Unterschied zwischen Geschichte und U rtheil >Er­ fahrung und Urthei/«.347 Wie läßt sich also, so könnte seine Frage mit den Begriffen der überlieferten Terminologie formuliert werden, eine philoso­ phische Erkenntnis aus der cognitio historica, der bloßen >>Besichtigung« gewinnen, so daß man hierdurch die >>Dinge« >>bindet, wie sie die Geschichte, nicht das Raisonnement bindet.>Schlußkunstraisonniert>enthymematischen Entwickelung des Triebwerks Es ist dieß das Schicksal aller Schriftsteller, welche ein Ganzes schaffen wollen, wo noch nicht das Einzelne vollständig bearbeitet ist; welche Systeme bauen, ehe noch Beobachtungen und Erfah­ rungen genug gemacht sind. Wie viel hängt nicht das Verdienst eines Genies vom Zufalle ab ! «350 34 8 Die Literatur zu Heyne ist, unverdientermaßen, äußerst dürftig; neben der mehrmals zitierten vorzüglichen Biographie von Heeren aus dem Jahr 1 8 1 3 und den in der Einleitung genannten Schriften von H. Bräuning-Oktavio, A. Schulz und M. Ernbach vgl. noch die biographische Notiz von C. Bursian ( 1 880), den Vortrag von H. Sauppe, »Johann Matthias Gesner und Christian Gottlob Heyne« ( 1 872), die solide Studie von W.-H. Friedrich, »Heyne als Philologe«, in: Der Vormann der Georgia Augusta: Christian Gottlob Heyne zum 250. Geburts­ tag, Göttingen 1 980, 1 5 - 3 1, sowie die Hinweise bei K. Fittschen, »Heyne als Archäologe«, ibid., 3 2 - 40, H. Vogt, »Heyne als Bibliothekar«, ibid., 4 1 - 46, und J. Irmscher, »Christian Gottlob Heyne. Altertumsforscher, Wissenschaftsorganisator, Winckelmannverehrer«, in: Winckel­ manns Wirkung auf seine Zeit, ed. J. Irmscher, Stendal 1988, 1 1 3 - 1 22; vgl. auch A. Horstmann, »Mythologie und Altertumswissenschaft. Der Mythosbegriff bei Christian Gottlob Heyne«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), 60- 85, H. Döhl, »Die Archäologievorlesungen Chr. G. Heynes. Anmerkungen zu ihrem Verständnis und ihrer Bedeutung«, in: Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit, op. cit., 123 - 147, und insbesondere U. Muhlack, »Historie und Philologie«, in:

Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, 49 - 8 1 . 349 Heyne nennt a n dieser Stelle, möglicherweise irrtümlich, Buffon. 35° Christian Gottlob Heyne, »Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannischen Ge­ schichte der Kunst des Alterthums«, in: Deutsche Schriften von der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen, Bd 1 , Göttingen, Gotha 1771, 207. Herder bemerkt 1 772 in seiner Rezension der Deutschen Schriften von der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttin­ gen (cf. Meine Bücher 8°: 5 1 6; BH Varia 24 1 ), in denen Heynes Studie erschien: »Unstreitig gehört dieser Aufsatz unter die besten Stücke dieser deutschen Schriften. Wir wollen keinen Auszug hierher setzen. Er muß von jedem Kenner selbst gelesen und bewundert werden. Überall wird man finden, daß nur Heyne im Stande war, die Hand an die Berichtigung und Ergänzung der Winkelmannischen Geschichte anzulegen.« (Zitiert nach M. Morris, Goethes und Herders Anteil, 1 43). Da dieser Aufsatz vermutlich nicht leicht verfügbar ist, sei hier der Schluß des Absatzes (Deutsche Schriften, 207 - 208) zitiert; unmittelbar im Anschluß fährt Heyne fort: »Daß der eine ein gründliches Gebäude aufführt, der andere Hypothesen oder Träumereyen auf-

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

In seinem Aufsatz Ueber die Künstlerepochen beym Plinius ( 1 778) setzt er sich in einer der Polemik Herders ganz verwandten Weise mit der Frage der diachronen Ordnung der Geschichte bei Winckelmann auseinander: ••Was helfen uns so viele neue Schriften, welche statt einer Geschichte, die sie versprechen, Raisonnements über die Geschichte liefern, und doch dabey nicht einmal das, was wirklich geschehen ist, sondern ihre Vorstellungen, wie das alles hätte geschehen können, unterlegen ! Im Winkelmannischen Werke ist, wegen der unzählichen Unrichtigkeiten in großen und kleinen Sachen nicht nur der ganze historische Theil so gut wie unbrauchbar, sondern auch in dem U ebrigen läßt sich auf seine Kunstbestimmungen, Feststellungen von Stilen, Epochen und Perioden, und die denselbigen zufolge gefaßten Ur­ theile über alte Kunstwerke und ihre Meister, ohne vorgängige genaue Prüfung seiner Behauptung, wenig rechnen.«351 Winckelmann komme auf­ grund einer mangelhaften philologischen Kritik der Quellen, die er durch seine »Einbildungskraft« zu ersetzen gestrebt habe, zu » Urtheilen«, »Grundsätzen« und Folgerungen über die Geschichte der Völker, die in der Sache unbegründet seien; Plinius habe mit der Einteilung der Geschichte in Olympiaden »keine eigentlichen Kunstepochen«, »sondern bloß Ge­ schichtsepochen, Glieder in der Geschichtfolge« bezeichnen wollen.352 Friedenszeiten, so argumentierte Heyne übereinstimmend mit Voltaire,353 sind in dieser Folge keineswegs »Ruhepunkte«, »in denen die Kunst blühte«;354 sie geben Plinius oder einem älteren Schriftsteller, von dem dieser sein Quellenmaterial bezogen habe, bloß die Gelegenheit, im Rahmen einer digressio die Namen einer Reihe von Künstlern aufzuführen. Aus der civilen und militärischen Geschichte können daher keine sicheren Kriterien für die thürmte, war nicht eben ein Beweis grösserer oder schwächerer Geisteskräfte. Nein, dem einen war gehörig vorgearbeitet, die andern fanden noch nichts, oder weniges; und bauten zu früh. Das Genie, das den Kranz aufsetzt, ist in meinen Augen nicht immer dasjenige, das ich am meisten verehre oder bewundere. Es mußten viele seltsame Lehrgebäude vorausgehen, ehe das nur weniger seltsame System eines Buffon [Linne ?] zum Vorschein kommen konnte. Auch Winkel­ manns Erfindungs- oder Einbildungskraft hat die Lücken mit Voraussetzungen und Mög­ lichkeiten ausgefüllt, wo kritische Nachforschungen noch nicht den Stoff zu etwas Gründ­ lichem darboten. « 35 1 Christian Gottlob Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd 1 , Leipzig 1 778, 1 65 - 1 66. 35 2 Ibid. 1 77. 353 Vgl. Voltaires für die Encyclopedie verfaßten Artikel »Histoire«: »C'est dans ce temps [sc. zu Zeiten des Bürgerkriegs] que tous les arts florissaient en Grece.« (Voltaire, CEuvres alphabe­ tiques /, ed. J. Vercruysse, Oxford 1987, 1 73). 354 A. Demandt, »Winckelmann und die alte Geschichte«, in: ]ohann ]oachim Winckelmann. 1717-1168, ed. T. W. Gaehtgens, Harnburg 1986, 301 - 3 1 3, hier: 306, stellt mit Beziehung auf Heynes Kritik fest: »Winckelmann konstruiert eine ganz mechanische Analogie zwischen den Gezeiten von Freiheit und Kunst.«

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Entwicklung der Kunst abgeleitet werden.355 Aufgrund dieser Zweifel an der Verläßlichkeit der antiken Schriften fordert Heyne eine Quellenkritik, die im Rückgriff auf die von Plinius benutzten Autoren, wie Apollodar oder Cornelius Nepos, die wahrscheinliche >> Geschichtfolge« der Kunst zu re­ konstruieren versucht.356 Auch Gatterers allzu sehr an dem rhetorischen Stilideal der antiken Geschichtsschreibung orientierte Methode mußte trotz mancher Innovationen auf dem Felde der historischen Hilfswissenschaften dem von Heyne bevorzugten sorgfältigen philologisch-vergleichenden Ver­ fahren zuwiderlaufen. Noch 1 767 publizierte Johann Georg Meusel seine Übersetzung von Lukians von Samosatha Gedanken über die Geschichtschreiberkunst; im] ahr darauf folgte des Dionysios von Halikarnassos Abhandlung Von dem Cha­ rakter des Thucydides.357 Zwar forderte auch Lukian, der Historiker müsse alle Begebenheiten >>wie in einer Kette verknüpft>so, daß keine Lücke dazwischen falle und es nicht scheine, als wären es viele Erzählungen, die neben einander liegeninneren VerhältnisWahrheit>Hieroglyphe« Dank seinem Studium bei Kant hatte Herder seit den frühen 1 760er Jahren Gelegenheit, sich mit der antiken Skepsis362 und dem modernen Pyrrhonis­ mus363 vertraut zu machen. In der Skizze Von der Verschiedenheit des Geschmacks und der Denkart unter den Menschen ( 1 766) erwähnt er die »Pyrrhonisten und die akademische Sektemitigated scepticism>unter den Neuernsensitive Erkenntnis« nach Locke nur die Dinge betrifft, die im Augenblick unsere Sinne affizieren (Leibniz: >>qui frappent actuellement nos sens«),371 so kann die Wahrheit der Geschichtsschreibung nur in der der >>ursprünglichen Wahrheit« (d. h. Gewißheit) mehr oder weniger angenäher­ ten >> Glaubwürdigkeit« der überlieferten Zeugnisse bestehen, denn, so Leibnizens Referat, >>nulle copie ne s'eleve au dessus de la certitude de son premier original. «372 Voltaire sollte diese Überlegung an den Anfang seines Enzyklopädie-Artikels >>Histoire« stellen und formulierte: >>Les premiers fondements de toute histoire sont les recits des peres aux enfants, transmis ensuite d'une generation a une autre; ils ne sont que probables dans leur origine, et perdent un degre de probabilite a chaque generation.«373 Zur Bestimmung der » Grade der Wahrscheinlichkeit« (degres de probabilite) 3 66 Es handelt sich bei der deutschen Ausgabe um die Ü bersetzung eines seinerzeit unveröf­ fentlichten Abrege de l'histoire du Pyrrhonisme de Crousaz, den Johann Heinrich Samuel Formey 1 740 angefertigt hatte: cf. G. Tonelli, » Kant und die antiken Skeptiker«, 1 2 1 , Anm. 1 09. Die anonym erschienene, nicht sehr ergiebige Prüfung der Secte die an allem zweifelt, Mit einer Vorrede des Herrn von Haller, Göttingen 1 75 1 , wurde von Crousaz selbst noch approbiert (cf. ibid. 398). BH 3452,1 führt sie mißverständlich als Werk Hallers auf. Zu dem Werk in der Gestalt, wie es Crousaz hinterließ, vgl. J. E. de La Harp e ]ean Pierre de Crousaz et le conflit des idees au siede des lumieres, 225 - 227. 3 6 7 Am Ende des ersten Abschnitts von Auch eine Philosophie erwähnt Herder Montaigne, Bayle, Crousaz und Leibniz; mit Beziehung auf Voltaire, Hume und Diderot spricht er von dem »großen Jahrhundert des Zweifelns und Wellenerregens.« (SWS V,5 1 2 Anmerkung). 3 68 Ich folge den Hinweisen G. Tonellis, » Kant und die antiken Skeptiker«, 107. 1 2 1 , Anm. 1 09: Tonelli bezieht sich hier auf Kant, A. A. XXIV,2 1 8, I. 1 1 . 3 69 Cf. Antoine Arnauld, L a Logique o u l'Art de penser ( 1 662, 6 1 685); cf. B H 6538. I n ihrer vierteiligen Anlage ist Arnaulds Logik im wesentlichen der lnstitutio logica ( 1 658) Gassendis verpflichtet. 370 Zu Arnaulds Verhältnis zum Pyrrhonismus vgl. C. Borghero, La certezza e La storia, 1 00 - 1 06. 371 Gottfried Wilhelm Leibniz, Werke, III/2, S. 274. 372 Ibid. 522. 373 Voltaire, CEuvres alphabetiques I, Oxford 1987, 1 64. ,

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forderte Leibniz zunächst mit Rücksicht auf die >> Glücksspiele« (jeux de hazard) eine >>neue Art von Logik«, »pour perfectionner l'art d'inventerhistoire sacree>historische Kritik>große Regel der WahrscheinlichkeitÄhnlichkeit der FälleWir sehn von außen, ordnen nach Ähnlichkeiten und begreifen nicht ganz. Ähn­ lichkeiten>Bestimmung der historischen Gewißheit, und Wahrscheinlichkeit> Laune>Raison­ neurs ZU finden, was [er] finden wollte>Wir fühlen von allen [Dingen] nur Beziehungen auf uns, auf andere, auf Welt: nie was eine Sache sei«.381 Bereits Sextus Empiricus wies innerhalb des skeptischen Horizonts auf den Zusammenhang der Frage nach dem Wahrheitskriterium mit dem Problem der Selbsterkenntnis und der Stellung des Menschen in Beziehung auf das Allgesamt der Weltdinge hin. Die Ungewißheit des Selbstverhältnis­ ses des Menschen und seines Verhältnisses zur Welt lasse alle Erkenntnis des Wahren als trügerisch oder aber als bloß wahrscheinlich erscheinen.382 Das den »Gang« der »Wissenschaftsgeschichte« bestimmende Kriterium ihrer Beurteilung liegt für Herder gleichwohl in der zu stets neuen Gestalten sich findenden, im »Typus« aber identischen » genetischen Symbole>geist­ lichen Väter« (patres spiritales) ermahnte, >>ut studium atque diligentiam in eruditione et nutrimento filiorum suorum impendant«.479 Hatte Hrabanus die Lebensregeln für die Ökonomie der Geschlechterfolge, wie sie Jesus Sirach entfaltete, im engeren Sinne auf die >>successio filiorum sanctorum« bezogen, indem er die Lehre und Wissenschaft der Heiligen (doctrina et disciplina) in ihren Reden und Taten ausgedrückt fand,480 so führt Herder diese durch die Geschichte verfolgte Ökonomie des Wissens auf ihre lebens­ weltliche Gültigkeit wieder zurück. Der metaphorische Gehalt umfaßt hierbei Grundverhältnisse des menschlichen Lebens, dem Herder mit dem Rückgriff auf Ripa eine komplizierte bildliehe Komposition sprachlich un­ terlegt. Sie eröffnet in dem lmpresenstil am Anfang seiner Geschichtsphilo­ sophie einen Beziehungsreichtum, der ohne zur Schau gestellte Gelehrsam­ keit eine Fülle möglicher Deutungen enthält.

477 Charles Bonnet, Essai de psychologie, 2 0 1 . 47 8 Filippo Picinelli, Mundus symbolicus, Köln e d . 1 694, 1,580 (Lib. IX, cap. XXV, § 3 1 0).

(Kapitälchen bei Picinelli). 479 Hrabanus Maurus, Commentariorum in Ecclesiasticum libri decem, in: Opera omnia, ed. Migne, PL 1 09, col. 9 8 1 . 4 80 Ibid.: »Successio enim filiorum sanctorum, qui post patres suos ex hac vita decedentes bonum studium eorum in sancta religione et bona conversatione imitantur, mortuos parentes quasi redivivos exhibet, cum eorum doctrinam et disciplinam in suis dictis et factis omnibus servando manifeste declarat.« Diese Stelle ist auch bei Filippo Picinelli, Mundus symbolicus, ed. cit., 1,580, zitiert.

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

Die Quellen, die Herder zur eminenten, die Geschichte des Wissens im ganzen gliedernden Funktion der Zahl sieben bestimmten, entstammen aus nahezu allen Kulturkreisen des Altertums. Sie werden von ihm in der .Regel genau nachgewiesen; auch hier wieder bediente er sich ausgiebig des Pan­ theon Aegyptiorum Jablonskis.481 Zu denken wäre aber vor allem auch an die pseudo-hermetische Schrift Divinus Pymander, die Herder frühzeitig in der Edition des calabresischen Minoritenmönchs Annibale Rosselio benutzte.482 Die »dignitas« der Sieben ist hier auf das patristisch-rinascimentale Thema der dignitas hominis483 bezogen und spiegelt derart die ihrerseits vielfach vermittelte Auffassung einer Folge der sieben menschlichen Lebensalter wider. Aber auch in dem den kosmischen Ort der res publica bestimmenden Somnium Scipionis fand er eine Anregung in den Ausführungen Ciceros über die durch Intervalle unterschiedenen, das Weltall ordnenden »sieben Töne«, »qui numerus rerum omnium fere nodus est. «484 Die >Hieroglyphe>Knote der Schöpfung«,485 gibt solcherart das die Verknüpfung der Begeben­ heiten regelnde Strukturgesetz wieder. In seiner Rezension (7. Juli 1 772) von Carlo Deninas Staatsveränderungen von Italien ( 1 771 [ - 1 773 ])486 gab Her­ der an einem konkreten historischen Beispiel seiner Ansicht Ausdruck, ihm scheine >>der Byzantinische Hof das schönste Urbild der Politik und Hofma­ schienerie [!] unsres erleuchteten, verfeinerten, allklugen Jahrhunderts. Nur jene bildetens über die beiden Naturen Christi; wir über Trödelkram, der eben so entbehrlich ist.«487 Obwohl inkommensurabel in Beziehung auf das Zusammentreffen der j edesmaligen zufälligen Umstände, folgen doch beide 481 Hierauf hat kürzlich H . B . Nisbet, »Die naturphilosophische Bedeutung von Herders >Aeltester Urkunde des Menschengeschlechtsdignitas hominis< e Ia letteratura patristica«, in: La Rinascita 1 ( 1 938), 102- 1 46; L. Sozzi, »La >dignitas hominis< dans Ia Iitterature fran'dignitas hominis< chez les auteurs lyonnais du XVI• siede«, in: Actes du colloque sur l'humanisme lyonnais au XVI• siede, Mai 1972, Grenoble 1 974, 295 - 338; E. Traverso, »Il problema della >dignitas hominis>Urbild« Maß nehmende Geschichtsforscher dennoch den >>Gang« des »Schicksals« zu erschließen. Denina bediente sich in der Tat einer ähnlichen Art von » Schlußkunst« (Herder), indem er in der Weise eines heuristischen Analogie­ schlusses den Zustand Italiens in den ältesten Zeiten mit dem biblischen Palästina verglich: >>Um sich einigermaßen einen Begriff [von dem alten Italien] zu machen, stelle man sich den Zustand des gelobten Landes zu den Zeiten Sauls und Davids vor, oder man nehme an, daß die am meisten bewohnten und angebaueten Cantons der Schweiz mit einem Stücke der Lombarday, ein ganzes ausmachten, so wird die Verbindung des fruchtbaren Bodens der Ietztern mit dem Fleiße und Arbeitsamkeit der Schweizer, eine Vorstellung von dem, was Italien in j enen Zeiten war, geben können. Gleich­ wohl ist diese Vergleichung in vielen Stücken nicht richtig, weil die Sitten der heutigen Schweizer von der einfachen und wenig Bedürfnisse erfordernden Lebensart der alten Italiener weit unterschieden sind. «489 Die Analogie beruht also mehr auf der natürlichen und klimatischen Verwandtschaft dieser Weltgegenden, da die sozio-kulturell manifeste Differenz der Lebensweise durch kein Verhältnis bestimmt werden kann. Dennoch sind dergleichen heuristische Analogieschlüsse für die Kulturentstehungslehren des acht­ zehnten Jahrhunderts äußerst signifikant, wie ein Blick auf Nicolas Antoine Boulangers L'antiquite devoilee par ses usages (1 766), die sich Herder exzer­ pierte, 490 lehrt. Die alten Ägypter unterscheiden sich nach Baulanger kaum von den heutigen Chinesen, und die Wilden Kanadas gleichen in ihren Sitten den Wilden des alten Thrakien. Die Chinesen und die kanadischen Urein­ wohner können daher als ein »lebendiges und noch immer bestehendes Altertum« (antiquite vivante & toujours subsistante) betrachtet werden.49! Mattbias Claudius hob in seiner Rezension der anonym erschienenen geschichtsphilosophischen Schrift Herders die Kritik des Autors an der These kultureller Vervollkommnung zugunsten der Auffassung einer zuneh­ menden Differenzierung der Geschichte des Menschen hervor, enthielt sich 4 88 SWS V,433. 4 8 9 Carlo Denina, Staatsveränderungen von Italien in vier und zwanzig Büchern [ . . . ]. Aus

dem Italienischen übersetzt von D.JJ Volkmann, Leipzig 1 771 - 1 773, 1,1 7. 49o Cf. SWS XXXII, 1 5 3 - 156. 49 1 Nicolas Antoine Boulanger, L'antiquite devoilee par ses usages, ou Examen critique des

principales Opinions, Ceremonies & Institutions religieuses & politiques des differens Peuples de la Terre, Bd 1, Amsterdam 1 768, 3 1 . - Boulangers Schrift erschien postum in der Edition von d'Holbach. Cf. P. Sadrin, Nicolas-Antoine Baulanger (1722 - 1 759) ou avant nous le deluge, Oxford 1986, bes. 1 3 1 - 1 94.

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

aber nicht, zu bemerken, »in dem allen« sei »noch viel Ideal mit unter[ge]lau­ fen«.492 Er benutzt also zur Beurteilung von Herders Schrift denselben Begriff, den dieser in seiner über ein Jahrzehnt dauernden intensiven Ausein­ andersetzung mit Winckelmann gebraucht hatte. In einer Skizze zur Vorrede seiner Auslegung der Apokalypse vom März 1 775 gibt Herder ganz in dem Sinne der methodischen Überlegung von Spinozas Tractatus493 zu bedenken, es sei »ihm erster Vorsatz, nichts zu erklären, was nicht selbst spricht, kein Bild bedeuten zu laßen, was es nicht, nach der gewöhnlichen Landessprache und Landessitte, selbst bedeutet.«494 Spinoza, der das Studium des kulturel­ len Ambientes zum Zwecke der Schriftauslegung wiederholt empfohlen hatte, nannte die Erscheinungen der Propheten des Alten Testaments »re­ praesentationes propheticae et hieroglyphica«495 und Lavater hielt sich von dem »sehr hieroglyphischen Styl« der Apokalypse überzeugt.496 In beiden Fällen scheint der Begriff der Hieroglyphe auf das Problem des mehrfachen Schriftsinns zu deuten. Nach Spinoza hat auch die den sensus literalis ergän­ zende metaphorische oder hieroglyphische Exegese ihren Grund in der Schrift selbst oder in einem Vergleich mehrerer Schriftstellen aufzusuchen, keinesfalls aber von einer dem überlieferten Text fremden Quelle herbeizu­ ziehen. Zu Beginn von MAPAN. AE>A. schränkt Herder die Möglichkeit einer derartigen Auslegung insofern ein, als er die historische Ferne nicht nur der >>Bilder« der Apokalypse, sondern auch ihrer Bedeutung betont: >>Die Bilder müssen also bedeutend, durch sich verständlich gewesen seyn. «497 Der >>historische Schlüssel«498 zu ihrer Deutung sei nicht durch >> Grübelei und Errathung>Zeit­ nähe>Ein heiliges Gesicht, ohn' einzelne Zeichendeutung verständlich Künsteleimoralischen< Welt durch eine gegenüber den 1 770er Jahren modifizierte »Physik der Geschichte« entfalten und zu bestimmen suchen, denn »die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte mensch­ licher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit.«503 Herder scheint zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit eines >natürlichen Systems< der Ge­ schichte zu akzeptieren; da der reale Zusammenhang und das verwirrende Netz der Interdependenzen menschlicher Handlungen niemals vollständig aufgedeckt werden können, vermag der Historiker nur eine »idealische« GeschichteS04 zu liefern, die im Hinblick auf Bonnets Gedanken einer »zweiten Geburt« den Bauplan der moralischen Handlungen in Analogie zu dem Strukturgesetz der natürlichen Welt nachzuweisen habe. Wenn Herders Auseinandersetzung mit Winckelmann hier 1 778 in der Annäherung an den Begriff eines historischen »Lehrgebäudes« zu resultieren scheint, so polemi­ siert er aber auch in der Preisschrift mit Entschiedenheit gegen Winckel-

5 02 SWS IX,407 (Hervorhebungen von Herder). 50 3 SWS XIV, 1 45; zum Problem vgl. W. Proß, » Herder und die Anthropologie der Aufklä­

rung«, 1 1 75 ff.; P. H. Reill, »Science and the Science of History in the Spätaufklärung«, in:

Aufklärung und Geschichte, Göttingen 1 986, 430 - 4 5 1 , hier: 447 f. 5 04 Cf. SWS VIII,469.

»Zeichendeuterey«

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manns >>allgemeine, hypothetische Gründe des Möglichen und a priori«;505 die beobachtete Konvergenz beruht also nur auf der Form und Anlage der Geschichtswerke, nicht aber auf einer gemeinsamen Methode.506 Für das >Lehrgebäude< der Ideen gilt deshalb in gleicher Weise, daß sie »gar keine Metaphysik seyn sollen. «507 Der von dem niederländischen Naturforscher Peter Camper für die Naturgeschichte aufgewiesene anatomische Bauplan der Lebewesen mußte deshalb für Herder von größter Bedeutung sein, weil er die Beziehungen der natürlichen Welt nicht aus einem den Dingen äußer­ lichen Kalkül, wie er in dem Kanon Polyklets, bei Vitruv und Dürer überliefert war, errechnete, sondern aus dem den Lebewesen inhaerenten, gleichwohl aber empirisch nachweisbaren, an der Anatomie des Kopfes mit Hilfe zweier Winkel meßbaren Strukturgesetz herleitete: >>Man würde sagen können: die Natur habe sich gleichsam dieser Winkel bedienet, alle Verschie­ denheiten der Thiere zu bestimmen, und sie gleichsam Stufenweise bis zum Schönen der schönsten Menschen hinaufsteigen zu lassen. Also beschrieben die Vögel die kleinsten Winkel, und diese Winkel werden größer, je nachdem das Thier sich mehr der menschlichen Gestalt nähert, welches aus den Affenköpfen erhellete«.508 Aufgrund der irrtümlich auf die Lebewesen appli­ zierten Proportionsregeln hätten Rubens, van Dyck und Jacob Jordaens >>anstatt Mohren schwarzgefärbte Europäer gemahlet. «509 Herder fand in Campers anatomischen Studien eine Bestätigung auch für das >>Folgeganze« der Geschichte der Kultur; Camper, der die Ideen über Fran�ois Hemster­ huis kennengelernt hatte, schrieb in einem Brief an Herder, alle Anerken­ nung von Proportionen und sinnlichen Schönheiten beruhe nur auf Gewohnheit (habitude); Polyklets Kanon und Vitruvs Regeln für die Archi­ tektur seien bloße Einbildung ifantaisie).510 Der >>Plan des Schöpfers«, >>dont je crois avoir donne la clef«, sei vielmehr in der von ihm aufgezeigten Einheit des anatomischen Plans zu sehen.511 Auch die Kulturentstehungslehre verSWS VIII,472. Insofern wäre die Interpretation von H. C. Seeba, »Winckelmann: Zwischen Reichshisto­ rik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschrei­ bung«, 302, zu korrigieren. 507 Br. IX,374 (Brief an Hamann vom 2. Januar 1 786). 508 Aus der anonymen Nachschrift einer Vorlesung Campers, 1 784 publiziert unter dem Titel: »Auszüge aus zweyen in der Amsterdammer Malerakademie gehaltenen Vorlesungen«, in: Peter Camper, Sämmtliche kleinere Schriften, Bd. 1 , Leipzig 1 784, 1 5 f. - Zum Problem vgl. auch R. P. W. Visser, The Zoological Work of Petrus Camper (1722 - 1 789), Amsterdam 1 985, 96 - 1 20 (Kap. IV: »Man's Place in Nature«). 509 lbid. 1 6 . 5 1 0 V. u. a. Herder, 111,295; vgl. auch Herders Brief a n Heyne v o m 9. Januar 1 786 (Br. IX,375, I. 30 ff.). 511 lbid. 296 f. 5o5

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Dritter Teil Methodische Aspekte der Geschichtstheorie Herders ·

fügt demnach über eine Methode, die den Wandel der Kultur des Wissens als Vermannigfachung der Gestalten menschlicher Lebensverhältnisse in der Einheit des zeit-räumlichen Kontinuums zu deuten gestattete. Campers Begriff >>metamorphoser«,512 durch den er die stetige Differenzierung der lebendigen Formen im Tierreich zu erklären versuchte, erhält so einen präzis zu bestimmenden Sinn. Der bei Huet an prominenter Stelle erläuterte Begriff der Palingenesie513 dient im Rückgriff auf die antiken Denker nun nicht mehr nur dem Aufweis einer bestimmten Auslegung des Unsterblichkeitsgedan­ kens; er bezeichnet vielmehr ein die Fülle der natürlichen wie kulturellen Gestalten gliederndes Moment, welches die Rekonstruktion der Kultur des Wissens aus ihrem seelengeschichtlichen Anfang, wie er an dem anatomischen Bau des Menschen und an der seit Buffon und Voltaire anerkannten specifi­ schen Differenzierung des Menschengeschlechts514 erscheint, zu ermög­ lichen schien. Robinet selbst hatte, wie zu sehen war, diesen universellen >>developpement des formes« mit Beziehung auf Winckelmann ausdrücklich auch in dem Bereich der kulturellen Produktionen erkennen wollen. Cam­ pers anatomische Untersuchungen, die er im Horizont der Physiognomie für die Künste nutzbar machen wollte, führten zu einem in den Ideen, wie es schien, eingelösten Resultat, das Herder in der Mitte der 1 760er Jahre als Desiderat formulierte: das Studium der >>Bildung des Körpers«, >>so fern sie in die Denkart einen Einfluß hat« .515 Das darin implizierte Problem einer >>Wissenschaftsgeschichte«, wie er es mit einem Hinweis auf Humes Essay über die Künste und Wissenschaften formulierte, fand in dem Nachweis einer wechselseitigen Abhängigkeit und strukturellen Identität der Lebens­ verhältnisse des >natürlichen< und der Handlungen des civilen Menschen516 einen angemessenen Ausdruck. Die produktive Beziehung beider Aspekte, deren Gesetzmäßigkeit Herder in den Denkformen der Völker aufzusuchen unternahm, formt den Antrieb zu einer Kultur des Wissens, die in der Ambiguität des >>psychischen Menschen« stets wieder die Einheit des >>sensus humanitatis« hervortreten läßt.

5 12 lbid. 295. 5 1 3 Pierre Daniel Huet, Alnetanae Quaestiones de Concordia rationis & fidei, Paris 1 693,

293.

5 1 4 Voltaire, La Philosophie de l'histoire, ed. J. H. Brumfitt, Genf 1 969, 92 f.; vgl. hierzu SWS XXXII,20 f. Zur Problematisierung des Begriffs der »races d'hommes« und zu dessen Ursprung im 1 7. Jahrhundert vgl. G. Gusdorf, Dieu, la nature, l'homme au siecle des lumieres, 362 ff. 5 1 5 SWS XXXII,22 ( Von der Verschiedenheit des Geschmacks und der Denkart unter den

Menschen).

5 1 6 SWS XXXII,39.

ANHAN G

1 . Zwei Stücke aus Herders Nachlaß Die beiden im folgenden transkribierten Stücke aus Herders Nachlaß sind durch ihre Anlage und ihre Entstehungszeit gänzlich voneinander unter­ schieden; dennoch geben sie in verschiedener Hinsicht Auskunft über Herders Arbeitsweise und über den erkenntnistheoretischen Status seiner Kulturtheorie. Sie erscheinen hier mit freundlicher Genehmigung der Staats­ bibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

zu A. Aufzeichnungen zum Problem einer »negativen Wissenschaft« (HN XVIII 2: 69r-70")

Vgl. die Charakterisierung des >>Studienbuchs Ü«, aus dem dieser Text stammt, durch lrmscher/Adler, Der handschriftliche Nachlaß, S. 24 1 f. : >>grau­ grüner Pappband mit Aufschrift Excerpta mit verschiedenen Bemerkungen von unbekannter Hand, 1 64 BI, Format 10 x 1 5,5 cm, mit eingefügten ausge­ rissenen Blättern, verschiedene Blätter fehlen; größtenteils in Riga beschrie­ ben, mit einzelnen Eintragungen aus der Weimarer Zeit auf freigebliebenen Blättern. Als Sammelband angelegt mit folgenden Titeln: Ossa disciplinarum quarumdam Anatomica, Logica quaedam, Membra physices disjecta.>negati­ ven Wissenschaft>Bemerkungen Herders« (ibid.), die er unmittelbar während der Niederschrift hinzufügte; sie sind in dem fortlaufenden Text des biswei­ len schwer lesbaren, durch Abkürzungen oft kontrahierten Exzerpts von ihm selbst durch einfache Klammern ausgezeichnet. Herder gliederte seine Nachschrift nach den Teilen oder Bänden des Werks Poirets folgenderma­ ßen:

266

Anhang

fol. 1 r :

[Bd 1] >>Poirets G[öt]tl[iche] Haushalt[ung] d. i. Zus[am­ men]h[an]g d[er] Werke G[ot]tes geg[en] d[ie] Menschen Berleb[urg] [1 7]37. « fol. 4v: [Bd 2 ] ••Th. 2 . « fol. 9r: [Bd 3 ] >>Poirets < Haus > Th. 3 . Sünde, Engel, Fall, Erbsünde« fol. nr: [Bd 4] ••Poiret Th. 4 Wied[er]herstell[un]g« fol. 1 7r : [Bd 5 ] »Poiret B. 4. T. V.« fol. 22v : [Bd 6] >>Poiret Th. 6. [ . . . ] Mitwürk[ung] des Menschen« fol. 23v - 24v sind leer. Die im folgenden mitgeteilten Texte sind sämtlich Auszüge aus dem zweiten Band; ihre Auswahl erfolgte im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung und soll einer vollständigen Edition im Rahmen der von H. D. lrmscher geplanten Ausgabe der »Studien und Entwürfe«, die sicherlich auch die wichtigsten Exzerpte zu umfassen hätte, nicht vorgreifen. '' Die von Herder verwendeten Kürzel wurden stillschweigend aufgelöst. Im einzelnen bedeuten folgende Zeichen: < . . . > Unlesbares Wort [[xxx]] Von Herder gestrichenes Wort [] Auflösung der von Herder verwendeten Abkürzungen und Kürzel (nur in >>Negative Wissenschaft