Jesus Christus und die soziale Frage 9783111695204, 9783111307336


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German Pages 328 [336] Year 1903

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Inhaltsverzeichnis
I. Kapitel. Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre
II. Kapitel. Die sozialen Grundsätze von Jesu Lehre
III. Kapitel. Jesu Lehre Ton der Familie
IV. Kapitel. Jesu Lehre über die Reichen
V. Kapitel. Jesu Lehre über die Fürsorge für die Armen
VI. Kapitel. Jesu Lehre über die industrielle Ordnung
VII. Kapitel. Die Wechselbeziehungen der sozialen Fragen
Anmerkungen
Sachregister
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Jesus Christus und die soziale Frage
 9783111695204, 9783111307336

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"Was bietet uns

FB. G. PEABODY in seinem Buche:

„JESUS CHRISTUS UND DIE SOZIALE FRAGE"? „ . . . . Da ist zuerst eine umfassende Kenntnis des christlichen Sozialismus aller Länder, von dessen Geschichte uns ein Abriss mit guten Literaturangaben

gegeben

wird.

Dazu

kommt

das

Vermögen, wie Harnack es ähnlich hat, aus den Grundgedanken Jesu, auch wenn sie scheinbar zunächst gar nichts Soziales an sich haben, die sozialen Forderungen für die Gegenwart abzuleiten.

Nach-

dem dies in einem zweiten Kapitel im allgemeinen geschehen

ist,

behandelt P. in

den

folgenden

Abschnitten alle einzelnen Fragen: Familie, Eigentum, Reichtum und Armut, die Organisation der Industrie usw., indem er stets eine kurze Geschichte des Problems vorausschickt und dann genau angibt,

wie sich dasselbe gerade unserer Generation

darstellt."

H. Weinel,

Bonn.

Im Yoijahr erschien von demselben Verfasser:

ABENDSTUNDEN Religiöse Betrachtungen. Autoris. Übersetzung von E. Müllenhoff mit einem Vorworte von Prof. D.

0. Baiimgarten, Kiel.

Originell gebunden M. 2.50.

„Es ist eine alte Klage, dass in unserer Erbauungsliteratur so viel Veraltetes ist. Betrachtungen, deren Sprache den Staub der Jahrhunderte auf sich trägt, deren Gedankenwelt in der Brust des modernen Menschen kein Echo mehr findet. Hier haben wir jedoch ein Erbauungsbuch vor uns, das nicht unter dieses Urteil fällt. Wie sich's fürs „moderne Land", dem sie entstammen, gebührt, so sind die Betrachtungen Peabodys für den Menschen des 20. Jahrhunderts bestimmt, fiir alle die, die in der Unrast unserer Zeit mitten inne stehen, die die Arbuit an den Kulturaufgaben der Neuzeit als Gottesdienst empfinden und dabei ihrem Geiste die Buhestunden gönnen wollen, in denen sie sich aus dem angespannten Leben emporziehen und Gott zu ihrer Seele reden lassen. Die 23 Betrachtungen knüpfen je an ein Schriftwort an und ziehen aus ihm in eigenartiger kraftvoller "Weise die Fäden, die zu unserer Lebensarbeit hinüberführen; das Gefühl, das uns oft bei ähnlichen Sammlungen beschleicht: „Das hast Du schon 100 mal ähnlich gelesen und gehört" — bleibt uns hier ferne. Wir empfehlen Peabodys Betrachtungen besonders den hartangestrengten Arbeitsmenschen unserer Tage." Die Wartburg, 1903 No. 1.

J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung, Giessen.

Jesus Christus und die soziale Frage von

FRANCIS Q. PEABODY Professor » . d. Harvard-Universität zu Cambridge

Autorisierte Übersetzung von E. MÖLLENHOFF.

$

Gl ESSEN

J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann)

1903.

C. G. Röder, Leipzig. 21321. 03.

Ob schwer am Himmel Wolken hangen, Ob leuchtend hoch die Sonne stand, Wir sind den Lebensweg gegangen — Mein Weib — und immer Hand in Hand. Durch dunkle Täler, lichte Weiten Hat deine Liebe mich gebracht, Wie Israels Gott zu allen Zeiten Mein Schatten Tags, mein helles Licht bei Nacht. Nicht kann ich nach Gelehrtenweise Dir Wissen geben und Verstehn; Ein Bild des Herrn nur zeichn* ich leise, Wie ich in dir es hab' gesehn.

Inhaltsverzeichnis. I. Kapitel. Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre II. Kapitel. Die sozialen Grundsätze von Jesu Lehre

Seite 1 „

59

III. Kapitel. Jesu Lehre von der Familie

„ 103

IV. Kapitel. Jesu Lehre über die Reichen

„ 149

V. Kapitel. Jesu Lehre über die Fürsorge für die Armen

„ 186

VI. Kapitel. Jesu Lehre über die industrielle Ordnung

„ 222

VII. Kapitel. Die Wechselbeziehungen der sozialen Frage

„ 275

Anmerkungen zu Kapitel I—VII

„ 305

Sachregister

„ 324

I. Kapitel. Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre. Das Leben war das Licht der Menschen. Der Rückblick auf die Geschichte zeigt uns, daß viele ihrer Perioden durch bestimmte zentrale Fragen und Aufgaben ausgezeichnet sind, als ob jedem Zeitalter eine besondre Arbeit übertragen wäre. Wie eine ferne Bergkette vom Abendhimmel heben sich diese Merkzeichen scharf von der Vergangenheit ab. Wir sprechen einfach von der Kulturaufgabe Griechenlands, von der geschichtlichen Stellung Roms, von der Berufung der Israeliten, vom Zeitalter der Reformation, von der Zeit Napoleons. Der Herr der Jahrhunderte hat die Erziehung des Menschengeschlechts anscheinend so geleitet, daß er ihm je eine Lehre zu ihrer Zeit eingeprägt hat; sei es, daß die Lehre den Typus der Schönheit, Kraft, Gerechtigkeit oder des Strebens nach geistiger Freiheit getragen hat, oder daß sie eine Warnung gewesen ist vor den Verlockungen der Macht. Zuweilen wird die Mission, die einem Zeitalter oder einem Stamme übertragen ist, von denen erkannt, die sie erfüllen; zuweilen sieht man sie besser aus der Entfernung, wenn die sich drängenden Einzelheiten des Lebens zu einem Gesamtbilde verschmelzen. Die Israeliten sind im Laufe ihrer ganzen Geschichte durch den Glauben an ihre heilige und besondere Berufung aufrecht erhalten worden, und dieser Glaube hat ihrer Entwicklung den ernsten, tapfern, auf sich selbst gerichteten P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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I. Kapitel.

Charakter gegeben. Die Griechen dagegen sind sich nicht bewußt gewesen, daß ihnen die Mission geworden war zu „lehren", und diese Unbefangenheit hat ihrem Leben Heiterkeit und Reiz verliehen. Hätte die griechische Kunst mit vollem Bewußtsein in den Spiegel der Zukunft sehen können, so wäre sie vielleicht der Lehrer aber niemals die Freude der Welt geworden. Unsere jetzige "Welt gehört ohne Zweifel ersterer Axt an. Ihr ist nicht nur eine Mission gegeben, sondern auch ein bestimmtes Bewußtsein dieser Mission. Es bedarf keines gelehrten Geschichtsforschers einer fernen Zukunft, um das Problem unsrer Zeit zu erkennen. Trotz aller außerordentlichen Errungenschaften der heutigen Zivilisation, trotz des Umschwungs im Geschäftsleben, trotz aller bewundernswerten wissenschaftlichen Entdeckungen, trotz der mächtigen Vereinigung politischer Kräfte empfinden wir in unsrer Zeit ein drückendes Gefühl sozialen Mißstandes, und aus diesem entspringt die sogenannte soziale Frage. „Die soziale Frage," bemerkt Prof. Wagner, „ist der zum Bewußtsein gekommene Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden, gesellschaftlichen Entwicklungsprinzip der Freiheit und Gleichheit1)*)." Gerade das gibt unserer Zeit ihren Charakter. Die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und geistigen Idealen redet in der Sprache der Sozial-Philosophie zu uns, oder nimmt die Gestalt sozialen Dienstes oder Gesetzes an, oder sie äußert sich in dem leidenschaftlichen Schrei der Empörung und des Hasses, der sich den Hungrigen und Verzweifelnden oder denen entringt, die mit ihnen sym*) Die Zahlen beziehen sich auf Anmerkungen am Schlüsse des Buches.

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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pathisieren. I n all diesen verschiednen, oft unvernünftigen und übertriebnen Formen zeigt sich die charakteristische Bewegung unsrer Tage. Wir leben in der Zeit der sozialen Frage. Niemals wurde eine so ungeheuere Menge Menschen, Gelehrte und Ungelehrte, Reiche und Arme, Philosophen und Agitatoren, Männer und Frauen derartig bewegt durch die Erkenntnis der Ungleichheit sozialer Chancen, durch den Ruf zu sozialem Dienst, durch Träume von einer bessern, sozialen "Welt. Außerdem gibt es natürlich eine unendlich große, träge Menschenmasse, die kein Auge für jene neue Region der Hoffnung und des Glaubens hat, in die unsere Generation eintritt. Diese Menschen leben dem Geschäft oder dem Vergnügen, und schon Jesus sagt mit feiner Satire von solchen seiner Zeitgenossen, daß sie eben Beobachtungsgabe genug hätten, um das "Wetter für den nächsten Tag vorherzusagen, aber zu wenig, um die Merkzeichen ihrer eigenen Zeit zu erkennen (Matth. 16, 2—3, Luk. 12, 54—56). Niemand indes, der die Augen von seinem eignen, kleinen Leben abwendet, kann die Merkzeichen unserer Zeit mißverstehen. Die Literatur unseres Zeitalters ist durchdrungen von dem "Wunsch nach sozialer Besserung oder sozialem Umsturz; Arbeiter mit schmutzigen Händen und Frauen mit gierigen Augen blättern im Buche des wirtschaftlichen Lebens und suchen nach praktischen "Weisungen; soziale Allheilmittel bietet man überall im Tone der Überzeugung a n ; eine Organisation im großen Maßstabe befestigt die Streitkräfte der arbeitenden Klasse. Die Gesetzgebung wird offen besprochen und hierdurch tatsächlich die frühere Auffassung von der Aufgabe einer Regierung gestürzt, und schließlich verkündet die revolutionäre Partei, die Millionen Stimmen in allen europäischen Staaten hat, daß alle 1*

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I. Kapitel.

anderen Zeitfragen sich der sozialen Frage unterordnen sollten, und alle anderen Parteien nur als reaktionäre Masse angesehen werden2). Jetzt ist das Zeitalter der sozialen Frage, und wer da behauptet, daß das soziale Leben unerschüttert oder nur oberflächlich erregt ist, bekennt damit nur, daß er in einem Strudel unseres Zeitalters gefangen ist ohne seinen vollen, tiefen Strom zu fühlen. Wenn man sagt, daß die soziale Frage gerade jetzt unter den menschlichen Interessen eine zentrale und herrschende Stelle einnimmt, so sagt man damit bei weitem nicht genug. Man muß hinzufügen, daß es zwei Kennzeichen ihrer modernen Gestaltung gibt, die die heutige soziale Frage zu etwas ganz anderm machen, als es die wirtschaftlichen und sozialen Bewegungen der Vergangenheit waren. Zunächst tritt uns ein Radikalismus und eine solche Menge von rekonstruktiven Plänen entgegen, daß diese in der Tat eine neue Lage schaffen. In früheren Jahren sind soziale und industrielle Reformen zum großen Teil menschenfreundliche Besserungsmaßnahmen gewesen, die die bestehende Ordnimg der Dinge gelten ließen, ihre härteren Wirkungen jedoch mildern wollten. Ab und zu erhob sich aus der Tiefe der menschlichen Natur plötzlich eine Woge der Empörung und riß einen besonderen Mißstand, z. B. die Sklaverei in Amerika oder eine besondre Form der Gesellschaftsbildung, wie das ancien régime in Frankreich, mit sich fort; meistens aber ließ sich der Wunsch den Unglücklichen zu helfen und die Lage der Arbeiter zu bessern, an Taten der Barmherzigkeit und an Auswegen einzelner Industrieller genügen, die auf das soziale Leben oberflächlich beruhigend wirkten. Heute herrscht eine ganz andere Auffassung. Unter allen Beruhigungsmitteln, welche die Philanthropie oder die

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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Industrie gegen den sozialen Mißstand anwenden, erhebt sich eine ungeheuere und stets wachsende Flut von Unzufriedenheit, die den Strom des sozialen Lebens bis zum Grunde aufwühlt. Bei der sozialen Frage unsrer Zeit handelt es sich nicht darum die Schäden der bestehenden Ordnung zu bessern; es handelt sich vielmehr darum, ob diese bestehende Ordnung selbst fortdauern soll. Der moderne Geist beschäftigt sich weniger mit dem Problem sozialer Verbesserung als mit dem Problem sozialen Wandels und Wiederaufbaues. Die modernen Interessen sind nicht auf die Wirkungen sondern auf die Ursachen gerichtet, nicht auf soziale Therapeutik, sondern auf soziale Bakteriologie und soziale Hygiene. Bei dieser Anschauung begegnen wir in der Tat oft einer heftigen Reaktion gegen die hergebrachten Formen der Wohltätigkeit und gegen die gemäßigten Maßnahmen der Reform. Es ist Zeitverschwendung, sagt man, gelegentlich einen einzelnen Zweig sozialen Mißstandes zu kappen; die wahre soziale Frage setzt das Messer an die Wurzel, aus der alle jene Zweige emporwachsen. Anstatt darüber nachzudenken, welche Mittel der Barmherzigkeit wir am besten ergreifen, sollten wir darüber nachdenken, warum Barmherzigkeit nötig und warum Armut vorhanden ist. Anstatt die Einrichtungen der Industrie zu reformieren, sollten wir uns lieber fragen, warum ihre Wirkungen so grausam, verderblich und ungerecht sind. Die Forderungen, an die unser Ohr sich in letzter Zeit hat gewöhnen müssen und die uns den Charakter der modernen sozialen Frage zeigen, wollen keine barmherzige Handhabung der bestehenden Dinge, sondern einen Zustand aller Dinge, in dem kein Mitleid nötig ist; sie wollen nicht Schutz sondern Gerechtigkeit, nicht die großmütige Austeilung überflüssigen Reichtums sondern die rechtmäßige Zurückgabe des

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I. Kapitel.

Reichtums an die, die ihn zusammengetragen haben. Die vielen Heilmittel, die die Armut erleichtern und ihr wohltun sollen, sagt ein englischer Agitator, taugen nicht mehr als ein auf ein hölzernes Bein gelegtes Pflaster. Wir bedürfen keiner frommen und heldenhaften E n t schlüsse sondern einer wirtschaftlichen Revolution 8 ). Dieser vor nichts zurückschreckende Radikalismus geht so weit, die Säulen des sozialen Lebens zu untersuchen und darüber nachzudenken, ob es die Kosten lohne, sie zu stützen und aufrecht zu erhalten. Drei soziale Institutionen scheinen unsre Zivilisation zu tragen — die Familie, das Privat-Eigentum und der Staat, und unter diesen Institutionen ist keine Einzige, deren Fortdauer in ihrer jetzigen Form nicht ein Gegenstand lebhafter Erörterungen ist und deren Abschaffung nicht voll Zuversicht vorhergesagt wird. Sollte man nicht die Institution der Familie als eine vorübergehende Erscheinung im Lauf der sozialen Entwicklung ansehen, und hat nicht dadurch der von ihr geleistete soziale Dienst beinahe sein Ende erreicht? Ist nicht die Institution des Privat-Eigentums ein bloßes Zeichen sozialen Druckes, und könnte nicht dem Schrei früherer Revolutionäre „Eigentum ist Diebstahl" der Ruf folgen: „Es ist recht, die Räuber zu berauben". Ist nicht die Institution des Staates in der gegenwärtigen Form ein bloßes "Werkzeug der bevorzugten Klasse, und wäre es nicht besser, ihn durch eine Genossenschaft auf der Grundlage kommunistischen Eigentums zu ersetzen? Ahnliche Fragen, die in unsrer Zeit von Menschen aller Art und aller Verhältnisse frei besprochen werden, zeugen dafür, daß das soziale Problem, von der sie einen Teil ausmachen, fundamental und tiefgehend ist. Sie wollen eine Revolution, die sich nicht nur auf die äußeren Verhält-

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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nisse des sozialen Lebens erstreckt sondern auch auf die hergebrachten Anschauungen, die mit der jetzigen sozialen Ordnung übereinstimmen. Der Möglichkeit eines solchen sozialen Wandels sehen viele mit ernster Sorge, viele mit jubelnder Hoffnung entgegen. Einige glauben, daß wir von sozialem Unheil, industriellem Chaos und neuer Sklaverei bedroht sind; die Gegner meinen, wir ständen im Morgendämmern einer glücklichen Ära von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit und AVilliam Morris singt: Kommt, Ihr Brüder, kommt und lauscht! Künd' ich doch mit frohem Mut Euch von schöner künft'ger Zeit, Da es besser wird als gut 4 ).

Aber von jedem Gesichtspunkt aus gesehen ist die soziale Frage so umfassend und so radikal, daß sie dadurch in Wahrheit zu einer neuen Streitfrage wird, und bei dem Beginn der vorliegenden Untersuchung ist es von Wichtigkeit, daß wir uns klar machen, wie groß die Frage ist, mit der wir es zu tun haben. Vor einem Menschenalter schlug Mr. Lowell den rechten Ton an in „Vision of Sir Launfal". Damals schien man der sozialen Pflicht durch Taten des Erbarmens und aufopferungsvoller Liebe zu genügen, und eine ganze Generation sprach die folgenden Strophen als Inbegriff sozialen Dienstes nach: „Nur was wir teilen, nimmer was wir geben, Der Gabe ohn' den Geber fehlt das Leben; Nur wer in seiner Gabe selbst sich gern Hingibt, speist sich, den Bettler und den Herrn."

Aber diese Auffassung der sozialen Frage entspricht nicht unserer heutigen Anschauung. Statt Großherzigkeit fordern die Menschen Gerechtigkeit, statt Almosen Arbeit. Und die Legende, die uns von dem Suchen nach Heilig u n g berichtet, muß für uns moderne Leser aus der

I. Kapitel.

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Sprache der Nächstenliebe in die Sprache industriellen Lebens übertragen werden, und der neue Sir Launfal findet seinen heiligen G-raal eher durch wirksame Arbeit als durch erbarmungsvolle Liebe: „Die den Pfad der Arbeit schreiten, folgen Christi Fuß im Stillen, Die da schaffen ohne Klagen, sie erfüllen Gottes Willen; Dort ist meiner Jünger Schar, wo die Müden stehn im Streite, Und wo sie im Schlummer ruhn, knie ich an ihrer Seite." *

*

*

Dem Arbeitsevangelium gilt's den vollsten Klang zu geben; Du Glocke künd's, der Liebe Herr, er kam, mit Arbeitern zu leben!5)

Die moderne soziale Frage hat noch eine zweite charakteristische Seite, die ebenso unverkennbar und ebenso bedeutsam ist. Unter welchem Gesichtspunkte wir sie auch betrachten, wir finden immer, daß die Erörterungen und Bewegungen der Gegenwart in ganz beispielloser Weise sittliche Zwecke behandeln und die Sprache und die Waffen einer sittlichen Umwandlung annehmen. Die • soziale Frage unserer Zeit ist eine ethische Frage. Es gibt gewiß bei den Vorkämpfern sozialen Wandels Selbstsucht, Klassenhaß und Machtbestrebungen und jene niedrigen Instinkte, die, wie Hobbes sagt, jeden Menschen zum Wolf gegen seinen Nachbarn machen; aber die Kraft und das Pathos der modernen sozialen Bewegung beruht auf der leidenschaftlichen, überall vernehmlichen Forderung nach Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Freiheit und den Chancen eines menschlichen Lebens. In seinem: Progress and Poverty bemerkt Henry George: „Wenn unsere Forschungen nach den Ursachen dafür, weshalb niedere Löhne und Verarmung die Begleiter materiellen Fortschrittes sind, einigen Wert haben sollen, so müssen wir sie aus der Sprache der Wirtschaftslehre in die der Ethik übertragen, und dann zeigt sich als Quelle der sozialen Mißstände ein

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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Unrecht4)." Das ist der Grundton der gegenwärtigen Lage. Die soziale Frage, die auf ihrer Oberfläche wirtschaftlicher Natur zu sein scheint, entspringt in Wahrheit aus einem Gefühl des Unrechts. Dieser ethische Ton wird von der neuen Philanthropie angeschlagen in ihrem beispiellosen Gefühl sozialer Verpflichtung, ihrem Ruf nach persönlicher Hingabe, ihrer Forderung von Selbstzucht und "Weisheit, und denselben Ton kann man mit härterem Klang aus der Arbeiterbewegung vernehmen in der Erklärung gegen die Unbilligkeit der Arbeitgeber und der Behauptung der Unvereinbarkeit des Privat-Eigentums mit der Brüderlichkeit der Menschen. Manchem wirtschaftlichen Trugschluß liegt diese Kraft des moralischen Gefühls zu Grunde, die den unvernünftigen Glauben stützt wie ein Gebäude das sich anlehnende Gerüst. Diese Eigenschaft der modernen sozialen Frage ist es, die uns verheißungsvoll erscheint. Mißgeleitet, leidenschaftlich, unartikuliert mag der Schrei nach sozialer Gerechtigkeit sein; aber im Grunde ist es ein unverkennbares Zeichen sozialen Fortschrittes, wenn Millionen Menschen aller Länder und aller Verhältnisse, zuweilen freilich mit blinden Augen, erkennen wollen, was Recht und was Unrecht an den sozialen Verhältnissen ist, und wenn sie darnach streben, eine gewisse Übereinstimmung der sozialen Verhältnisse mit den sozialen Idealen herzustellen. Auf einem Kongreß der Handelsgesellschaft in Dublin sagte Professor Ingram: „Die wahre Lösung dieses Problems kann nur durch eine Erneuerung der Ideen und der Gesinnungen herbeigeführt werden, die sich bis zur Höhe einer geistigen und moralischen Reform erheben7)". Es ist also kein Zufall, daß die soziale Frage am sichtbarsten in den blühendsten und den am höchsten entwickelten Ländern ist. Sie ist ein Ausdruck des Wohlstandes

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I. Kapitel.

und der Bildung. In der Türkei oder in Ägypten gibt es keine soziale Frage. Das Problem sozialer Gerechtigkeit entspringt nicht aus den schlechtesten, sondern aus den besten sozialen Verhältnissen. Es ist nicht ein Anzeichen sozialen Verfalls, sondern sozialer Lebenskraft, eins von den vielen Zeichen der im Volke herrschenden Bildung, der geistigen Freiheit und der lebhaften Gefühle von Zuneigung und Liebe, und aus einer Bewegung, die im Grunde auf einem Wiederaufleben sittlicher Verantwortlichkeit beruht, kann schließlich nur Gutes hervorgehen. Gerade diese sittliche Seite der sozialen Frage hat einen bestimmenden Einfluß auf hochherzige Menschen. Eine große Menge Männer und Frauen widmen dem sozialen Dienst ihre Zeit und ihre Gedanken, ohne sich genau darüber Rechenschaft zu geben, warum ihnen dies eine besondre Art von Frieden und Freude erschließt. An den Armen und Niedrigen ist wahrhaftig nichts Malerisches; die Beschäftigung mit all den kleinen Fragen des industriellen oder sozialen Lebens hat durchaus nichts Romantisches. Woran mag es liegen, daß man für eine solche Sache in so reichem Maße seine Zeit, Fähigkeit und sein Geld hingibt? Es hegt einfach daran, daß diese Kanäle der Tätigkeit der natürliche Ausfluß des jetzigen moralischen Lebens sind. Es ist eine Quelle wahren Glückes, mit Menschen verbunden zu sein, die einen, wenn auch unvollkommenen Versuch machen, die Welt zu verbessern. Manches Leben ist durch solche Gemeinschaft aus Enge und Leere zu Tiefe, Fülle und Befriedigung gelangt. Dieser Ubergang gleicht einer Reise aus dem Heimatdorf in ein fremdes Land, aus dem wir mit einem neuen Verwandtschaftsgefühl und größrer Zuneigung für die Menschen und mit tiefrer Dankbarkeit für die eignen Segnungen zurückkehren. Der Advent der heutigen sozialen

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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Frage hat unser Vertrauen auf eine höhere Sittlichkeit von neuem belebt. Die frühere Ethik war individuell, mit sich selbst beschäftigt und grüblerisch, und ihr Strom wurde schmal, reizlos und seicht; aber in ihr Bett hinein hat sich die neue Strömung sozialer Interessen ergossen wie eine Frühjahrsüberschwemmung, die den Fluß bis über .seine Ufer füllt, und nun vermag eine ungeheure Menge von Abzugskanälen kaum den Strom menschenfreundlicher Dienste zu fassen, der zur Erfrischung der Welt weiter fließt8). "Wenn wir unsere jetzige Lage von den beiden Merkzeichen der sozialen Frage aus, der radikalen Absicht und der sittlichen Leidenschaft, betrachten, so wird es uns überraschend sein, daß es den Anschein hat, als bestände eine unverkennbare Verwandtschaft zwischen dem Geist der neuen Philanthropie und dem Geist der christlichen Religion. Beiden ist dieselbe Wertschätzung auch der bescheidensten menschlichen Seele eigen, dasselbe Verlangen nach geistiger Demokratie, derselbe Ruf zur Aufopferung, dieselbe Bereitwilligkeit bestehende Überlieferungen und Einrichtungen um der Gerechtigkeit willen zu stürzen. Man könnte leicht den Schluß ziehen, daß die soziale Frage im Grunde nicht nur eine sittliche sondern auch eine religiöse Frage wäre. „Das religiöse Element," sagt Mazzini, „ist universell, unsterblich." Jede große Revolution hat seinen Stempel getragen und es in seinem Ursprung oder seinen Zielen dargelegt. „Die instinktive Philosophie des Volkes ist der Glaube an Gott®)." «Die große Anziehungskraft," so hat man gesagt, „die der Sozialismus in seiner ausgeprägtesten und absolutesten Form auf die Massen ausübt, beruht auf jener Eigenschaft, die er mit dem Evangelium gemein hat." Diese Tatsache hat denen, die sie bekennen und verbreiten, die Illusion verliehen.

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I. Kapitel.

als erfüllten sie ein Apostelamt und denen, die sich ihr unterwarfen, eine an Fanatismus grenzende Begeisterung, die sie ohne persönlichen Beweggrund zum Verbrechen, ja zum Schaffot führt10)." Und doch tritt nichts deutlicher zu Tage, als daß die beiden praktisch nie zusammenwirken, und daß Mißtrauen und Feindschaft in vielen Fällen zwischen diesen beiden Formen sozialen Dienstes herrschen. Zuweilen finden wir dabei eine offenbare Furcht vor theologischen Verwicklungen, als wenn es sich eine rein wissenschaftliche Wohlfahrtslehre zum Prinzip gemacht hätte, sich jeder Bekehrungsversuche zu enthalten. Zuweilen ist die soziale Tätigkeit der christlichen Kirche so vollständig mißlungen, daß dies einen der gescheitesten Arbeiteranführer in England zu dem Ausspruch veranlaßte „im Programm der arbeitenden Klasse sähe er keinen Platz für die Religion". In anderen Fällen dagegen, z. B. in dem fortwährend zunehmenden Gemeinschaftswesen in Großbritannien, sehen wir eine natürliche Wiedergabe christlicher Lebensgrundsätze ohne formelle Anerkennung der christlichen Kirche. In all diesen Formen sozialer Tätigkeit finden die Menschen, die in früheren Jahren zur Religion geführt wurden, nun Befriedigung ohne Religion; oder sie finden in der Philanthropie, in Arbeitsvereinen, Genossenschaften oder ähnlichen sozialen Einrichtungen einen äußern Ersatz für die Religion; diese Dinge stillen das Verlangen ihres Herzens nach edeln Regungen und gewinnen sie für Treue und Kameradschaft. Wenden wir uns nun zu den radikalen Ausdrücken sozialer Unzufriedenheit, so sehen wir, daß die Stellung zur Religion noch weniger freundlich ist. Ganz abgesehen von den gemeinen Reden der Agitatoren, die da glauben, es gehörte zu ihrem Handwerk, das religiöse Leben lächerlich zu machen und zu beschimpfen11), erkennt man doch, daß das offizielle

Die umfassende Bedeutung von Jesu Lehre.

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Programm der sozialen Revolution die Religion der persönlichen Entscheidung jedes Einzelnen überläßt, als wollte man gleichsam Neutralität ihr gegenüber beantragen12). Die Vertreter der revolutionären Grundsätze aber lassen keinen solchen Vorbehalt gelten. Sie machen sich kein G-ewissen daraus zu behaupten, wenn die bessere soziale Ordnung herrschen soll, müssen die Institutionen und Gewohnheiten der christlichen Religion als Grundpfeiler der jetzigen sozialen Ordnung fallen. Bebel sagt gerade heraus: „Die große, soziale Umwälzung . . . unterscheide sich von allen ihren Vorgängerinnen dadurch, daß sie nicht nach neuen Religionsformen suche, sondern die Religion überhaupt negiere18)." „Das erste Wort von Religion," schrieb Friedr. Engels, „ist eine Lüge." „Der Begriff ,Gott'," sagte Marx, „muß zerstört werden; denn er ist der Grundstein einer verderbten Zivilisation*)." „Es wäre nutzlos," fügt Beifort Bax hinzu, „die Tatsache zu leugnen, daß heutzutage das höhere sittliche Gefühl durch die christliche Lehre mehr verletzt wird, als derzeit das Gewissen der ersten Christen durch die Saturnalien im Dienst der Proserpina verletzt wurde,"14) und an anderer Stelle sagt er: „Es wird nun klar sein, in welcher Hinsicht Sozialismus nicht Religion ist. Er verschmäht vollständig jene andere Welt mit all ihren Theaterrequisiten und damit alles, worauf unsere jetzige Religion hinaus will. In welcher Hinsicht Sozialismus nicht Irreligion ist, wird nun auch klar sein; er bringt die Religion vom Himmel auf die Erde." . . . „Der Sozialist findet sein Ideal, seine Religion in der Hoffnung auf ein höheres Leben." „Er bedarf keines neu gebildeten, christlichen Ritus, um sich sein Ideal vor Augen zu halten." . . . Es '*) Rückübersetzt. aus dem Englischen.

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I. Kapitel.

ist natürlich, daß der Sozialist mit einer gewissen Empörung den beständigen Hinweis auf einen halb sagenhaften Syrer des ersten Jahrhunderts als Ideal aller Vollkommenheit empfindet, während er selbst höhere Vorbilder in einigen Menschen erblickt, die noch auf dieser Erde wandeln1*). Kurz, wie der beredte Pfarrer Naumann sagt: „Die Sozialdemokratie wendet sich . . . gegen die bestehende Staatsordnung, in welcher sie das Mittel der herrschenden Klassen zur äußeren Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft sieht16)." Hier stoßen wir auf einen der eigentümlichsten und wichtigsten Faktoren der revolutionären Bewegung. Im ersten Augenblick verstehen wir nicht, warum eine Bewegung, die anscheinend einen sozialen Wandel herbeiführen will, solchen Widerwillen gegen geistige Ideale zur Schau trägt. In Wahrheit ist jedoch dieses charakteristische Merkzeichen des sozialen Radikalismus nicht Folge einer wirtschaftlichen Notwendigkeit sondern die Frucht der Q-eschichtsphilosophie, mit der die deutsche Schule des wissenschaftlichen Sozialismus zufällig verbunden ist. Marx und Lasalle, die deutschen Apostel des sozialen Evangeliums, waren beide jüdischer Herkunft, wenn auch ganz verschiedenen Charakters, und beide waren in den Strom Hegelscher Philosophie in ihren radikalen Auslegungen hinein geraten. Ihrer Anschauung nach ist das Universum ein sich selbst entwickelnder Prozeß materieller Kräfte, und eins seiner Ergebnisse wird in den wechselnden Meinungen und dem Glauben der Menschen zum Ausdruck gebracht. Der linke Flügel der Hegelianer hielt dieses nicht für Funken der Wahrheit sondern für die Wirkungen sozialer Verhältnisse. Geistige Ideale sollten das Ergebnis wirtschaftlicher Umstände, nicht Enthüllungen einer unbedingten Wahrheit sein. Eine gewisse Reihe wirtschaftlicher

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Beziehungen mußte eine gewisse Art geistigen Glaubens oder religiöser Gemeinschaft zur Folge haben. „Jeder Mensch," sagt Bebel, „ist ein Produkt seiner Zeit und ein Werkzeug der Verhältnisse." Darum müsse das Christentum, der vorwiegende, geistige Ausdruck für die gegenwärtige soziale Ordnung, vorübergehen, sobald eine bessere soziale Ordnung aufkommt. In der Tat sollte sich der weise Reformer ausschließlich der wirtschaftlichen Umwälzung widmen, weil er sicher ist, daß die hinsiechenden Einbildungen, die der Kapitalismus erregt hat, verschwinden werden wie Tau, wenn der Morgen des Sozialismus dämmert. Man kann sich kaum vorstellen, daß eine solche Philosophie für eine Parlamentspartei einfacher Arbeiter von Bedeutung sein könnte, und doch gibt sie in der Tat den meisten Reden der Arbeiteragitatoren die eigentümliche Färbung, stimmt mit vielen niedern Impulsen überein, rechtfertigt viele natürliche Vorurteile und trägt sehr zur Vereinigung der arbeitenden Klasse gegen die Bevorzugten und Frommen bei. Das sozialistische Programm steht der Religion nicht nur gleichgültig gegenüber, sondern es will einen Ersatz für die Religion schaffen. Es ist selbst Religion insofern, als Religion durch eine Lebensphilosophie vertreten wird, der sich die Menschen mit Leidenschaft hingeben. Es stellt sich selbst dem Christentum gegenüber, weil dieses, wie Liebknecht sagte, die Religion des Privateigentums und der angesehenen Massen wäre. Es läßt nur die Wahl zwischen sich selbst und der christlichen Religion zu. Es ist, wie ein bedeutender Kritiker gesagt hat, nicht nur ein neues, wirtschaftliches und soziales Programm, sondern es ist ein Programm, das mit dem Christentum wetteifern will, indem es einen umfassenden Glauben bietet 17 ).

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Wir sehen also, daß zwischen der sozialen Bewegung und der christlichen Religion ein Abgrund voller Haß und Mißdeutung liegt, — ein Abgrund, der so breit und tief ist, daß das Urteil Schopenhauers zutrifft, daß das Christentum in seiner wirklichen Stellung zur Welt dem Geist des modernen Zeitalters vollkommen fremd wäre. Doch seit die soziale Frage ihre jetzige Gestalt angenommen hat, hat es nicht an Protesten gefehlt, die sich gegen die Entfremdung dieser neuen Bewegung von der Organisation des christlichen Lebens ausgesprochen haben. Jedem, der die sittliche Eigenschaft der heutigen sozialen Frage erkannt hat, muß in der Tat ihre Deutung als rein philosophischer Materialismus als Verdrehung ihrer charakteristischen Ziele erscheinen, die nur durch einen unglücklichen, geschichtlichen Zufall herbeigeführt worden sein kann. Viele fragen: Was gibt der christlichen Kirche Daseinsberechtigung, — wenn es nicht ihre Teilnahme an der Gestaltung einer besseren Welt ist, dasselbe Ziel, das die soziale Bewegung erstrebt? Was war Jesu Evangelium, wenn es nicht, wie er selbst sagte, ein Evangelium für die Armen, Blinden, Gefangenen und Leidtragenden war? Könnte nicht die soziale Bewegung, die dem Werk der christlichen Religion so oft fremd, ja feindlich gegenübersteht, im Grunde eine moderne Erweiterung jener Religion sein? Könnte nicht die Lösung der sozialen Frage in den Grundsätzen der christlichen Religion gefunden werden? Und ist es nicht auch klar, daß die moderne Welt die christliche Religion nach ihrer Anwendbarkeit auf die Lösung der sozialen Frage beurteilen wird? Müssen wir nicht, wie Maurice sagte, entweder das Christentum sozialisieren oder den Sozialismus christianisieren? Solche Betrachtungen haben eine ungeheure Menge experimentaler und philosophischer, reaktionärer und radikaler Vorschläge

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ins Leben gerufen, die alle auf die Vereinigung wirtschaftlicher Bedürfnisse mit christlichen Idealen hinzielen. Sie bilden eine Leiter von den klarsten und praktischsten Unternehmungen zu den verworrensten und spekulativsten Plänen. Diese Pläne führen seltene Genossen zusammen, — Katholiken gehen mit Protestanten, Gelehrte mit Handwerkern Hand in Hand; aber alle sind einig in dem Wunsch, in der modernen Welt einen Platz für das christliche Leben zu finden. Es ist nicht unsre Absicht, die ganze Geschichte dieser Pläne wiederzugeben; aber es wird lehrreich sein, einige der Wege anzudeuten, durch die man diese Vereinigung hat herbeiführen wollen. Der erste und einfachste dieser Pläne ging darauf hinaus, das wirtschaftliche Leben der ersten Christenheit buchstäblich wiederherzustellen. In der Apostelgeschichte lesen wir, die Jünger „hielten alle Dinge gemein", „ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nachdem jedermann not war", „auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären", Act. 2, 44. 4, 32. Diese Textstellen haben die Christen zu einer ganzen Reihe kommunistischer Versuche ermutigt, die zuweilen die Form klösterlicher Gemeinschaft, zuweilen die einer asketischen Vereinigung annahmen, aber immer von der Hoffnung ausgingen, inmitten einer unchristlichen Welt eine tatsächlich christliche Lebensweise einzuführen. Wir können dieser friedlichen Vereinigungen frommer und sich selbst vergessender Seelen nicht gedenken, ohne von Bewunderung ergriffen zu werden. Es ist wohltuend zu sehen, daß die Lüste der Welt, die so viele Leben beherrschen, hier keine Macht haben. Die Gemeinschaften, die sich bis in unsere Tage erhalten haben, die ohne Ehrgeiz in der Stille das apostolische Leben wiederherstellen wollen, sind für unsere Zeit, was die Blüte klösterlichen P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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Lebens derzeit war, Ruhepunkte inmitten der fieberhaften Tätigkeit der Welt. Dennoch sind diese gewissenhaften Versuche, das geschäftliche Leben der ersten J ü n g e r wieder aufblühen zu lassen, weder durch die Wirtschaffcslehre noch durch die christliche Geschichte gerechtfertigt. Einerseits kommen sie dem modernen Problem nicht näher, sondern sie laufen ihm einfach aus dem Wege. Solchen Gemeinschaften ist es unmöglich in größerem Maßstabe mit den Methoden der großen Industrie in unmittelbaren Wettbewerb zu treten; und es ist ebenso unmöglich, daß die Bedürfnisse der Welt und also auch die Bedürfnisse der Gemeinschaft selbst durch diese primitiven Produktionsarten versorgt werden können. Der Kommunismus beruht auf der ihn umgebenden wirtschaftlichen Ordnung, obgleich er sie verwirft. Die Faktoreien, die Eisenbahnen, die großen Städte und der Umsatz des Handels schaffen die Umstände, die es den wenigen Bevorzugten ermöglichen, sich zu einem ruhigen Leben zurückzuziehen. Dasselbe trifft bei dem Klostersystem zu. Es konnte nicht f ü r viele, noch weniger für alle gelten. Die Arbeit der Welt mußte fortschreiten, und die unproduktiven Heiligen mußten zum großen Teil erhalten werden von der arbeitenden unheiligen Welt, die um ihre Klostermauern lag. Der christliche Kommunismus ist also selbst in seiner besten Form kein Fort-, sondern ein Rückschritt. Seine Anhänger täuschen sich in dem Gedanken, die Welt besiegt zu haben, vor der sie in Wirklichkeit geflohen sind. Der einzige Weg, der uns aus wirtschaftlicher Unordnung und Unvollkommenheit. herausführt, geht durch sie hindurch; das christliche Leben müssen wir heutzutage nicht in dem Rückfall in eine unmögliche Vergangenheit, sondern in dem Erschaffen einer bessern Zukunft suchen.

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Diesen Betrachtungen müssen wir die Tatsache hinzufügen, daß die Wiederherstellung der primitiven, christlichen Wirtschaftslehre selbst in den Schriftstellen, auf denen sie anscheinend beruht, keine genügende Rechtfertigung findet. Bei näherer Prüfung sehen wir, daß das soziale Leben der ersten Jünger ganz anders gewesen sein muß als die Regel eines Mönchsordens mit seinem G-elübde der Armut oder als die moderne Gesellschaft mit ihrer gemeinschaftlichen Kontrolle über produktive Industrie und Familienleben. Die Vorstellung, daß jene ersten Tage christlicher Nachfolge dem Aufbau eines Wirtschaftssystems oder der Vorschrift einer festen Regel des sozialen Lebens gewidmet waren, entspricht dem Geist jener Tage durchaus nicht. Wir finden zunächst keinen Beweis dafür, daß das, was uns von der kleinen Gemeinde in Jerusalem berichtet wird, als von Jesu Lehre angeregt, in irgend einer Weise zur allgemeinen Regel wurde. In der Apostelgeschichte ist kein weiterer Hinweis auf kommunistisches Eigentum; dagegen lesen wir, daß Markus' Mutter dauernd im Besitz ihres Hauses in Jerusalem blieb, Act. 12, 12, und daß aus Antiochien freiwillige Unterstützung von einem jeglichen geschickt wurde, „nachdem er es vermochte". Act. 11, 29. Der Apostel Paulus weiß nichts von solch kommunistischen Regelungen: „Ein jeglicher nach seiner Willkür, nicht mit Unwillen oder aus Zwang", 2. Kor. 9, 7. „Auf jeglichen ersten Tag der Woche lege bei sich selbst ein jeglicher unter Euch und sammle, was ihn gut dünkt", 1. Kor. 16, 2. „Solchen aber gebieten wir, und ermahnen sie durch unsern Herrn Jesum Christ, daß sie mit stillem Wesen arbeiten und ihr Brot essen", 2. Thess. 3, 12. Der Kommunismus des Pfingsttages war, wie die im selben Kapitel beschriebene Gabe der Rede, eine spontane, einzeln dastehende, nicht wiederholte Kund2*

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gebung der Erhebung und geistigen Einheit, wie sie die kleine Gemeinde in der ersten Q-lut ihres neuen Glaubens beseelte. Ferner war diese Teilung ihres gegenseitigen Besitzes für den Augenblick wohl ein Zeichen ihrer vollkommenen Brüderschaft, aber selbst damals kein formelles oder zwingendes System. Es wird uns unmittelbar darnach erzählt, ein Jünger Barnabas „hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es zu der Apostel Füßen", Act. 4, 37, und dieser Mann wird anscheinend als ungewöhnlich großmütig aus der Menge hervorgehoben. Ananias und Sapphira, Act. 5, 1—10, werden nicht verdammt, weil sie einen Teil des Landpreises zurückbehielten, sondern weil sie eine Lüge gegen den heiligen Geist aussprachen. „Hättest du ihn doch wohl mögen behalten, da du ihn hattest; und da er verkauft war, war er auch in deiner Gewalt", Act. 5, 4. Beide, Mann und Frau, wollten den Glauben erwecken, als brächten sie dasselbe Opfer, das Barnabas so hoch angerechnet wurde, und ihre betrügerische Tugend, nicht das Zurückbehalten ihres Privateigentums, ließ ihre Sünde so niedrig erscheinen. Der sogenannte Kommunismus der ersten Christenheit war also ein frohes, freies Familienverhältnis voll großherziger Hilfe und großmütigem Dienst, dem auch jetzt noch jede christliche Gemeinschaft unbedenklich nachstreben könnte. Es löscht den Unterschied zwischen reich und arm nicht aus und dringt noch weniger in die Sphäre der produktiven Industrie ein. Seine Wirtschaftsordnung war die einer liebenden Familie. Jeder konnte seinen eigenen Besitz behalten; aber es „sagte keiner von seinen Gütern, daß sie sein wären". Die Herzen der ersten Gläubigen waren für selbstvergessenden und aufopferungsvollen Dienst begeistert, und die Kirche zu Jerusalem

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wurde bald in einem solchen Grade zur Zuflucht der Armen, daß sie der Hilfe heiden-christlicher Gemeinden bedurfte. Gewiß würde Jesus mit Freuden das Neu-Aufflammen der Treue begrüßt haben, die „alle Dinge gemein hält", und er würde die selbstvergessende Liebe in mancher bescheidnen, in den Hintergrund tretenden Vereinigung unserer Tage anerkennen, und doch ist es unpraktisch und unhistorisch den Kommunismus als die Lösung der sozialen Frage zu betrachten, die sich aus dem neuen Testament ergeben sollte. Es ist ein Glück für das Christentum, daß Jesus es weder in die Grenzen eines einzelnen sozialen Systems noch in die eines Programmes einschließt, das keinen wesentlichen Platz in der Organisation der modernen Welt finden könnte18). Eine zweite und noch bekanntere Weise den christlichen Geist der sozialen Frage anzupassen, ist die der christlichen Philanthropie. Sie erkennt die Aufgabe der Religion in einer Welt voll sozialer Bedürfnisse nicht in der unpraktischen Nachahmung des primitiven sozialen Lebens, sondern in der Erleuchtung der Welt durch Taten der Barmherzigkeit und des Dienens. „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihre Liebe unter einander habt," Joh. 13, 35. Diese Art des Dienens ist offenbar zur christlichen Pflicht geworden. Niemals waren sich die gläubigen Christen ihrer sozialen Verantwortlichkeit so bewußt; niemals wurde im Namen der Christenheit soviel menschenfreundlicher Dienst geleistet; niemals stimmte man so allgemein darin überein, daß der Prüfstein für die jetzige Religion die Fähigkeit sein müßte, uns zu Liebeswerken zu begeistern. Pastor Wichern, der Gründer der innern Mission in Deutschland, richtete im Jahre 1849 einen Brief an die Nation, in dem er die gläubigen Christen aufforderte, auf die Gärungen und

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Fragen der Zeit einzugehen und den einzigen unbestreitbaren Beweis zu liefern, daß die Christenheit vollbringen könnte, was keiner Macht oder Weisheit der Welt ohne das Evangelium möglich wäre 19 ), und dieses Beweisen christlichen Glaubens durch christliche Werke ist zum Kennzeichen des modernen Christentums geworden. Hundert Formen des Dienstes, Besuche und Unterstützungen, Vertretung der Mäßigkeit und Erholung, die Vorkehrungen der sozialen Einrichtungen und der institutionellen Kirche zeigen uns, wie sehr das Werk der Religion in das G-ebiet der sozialen Bewegung hinein greift. Und doch können wir diese christliche Werktätigkeit, wenn sie auch noch so schön und fruchtbar ist, wenn sie auch einen noch so großen Beweis für die Lebenskraft der christlichen Religion liefert, nicht als Lösung der modernen sozialen Frage ansehen. Diese Frage bricht vollkommen mit der Aufgabe der Philanthropie und kann nicht in dem Ausdruck des Erbarmens für die Unglücklichen oder des Almosengebens für die Armen zusammengefaßt werden. Sie fragt nach den Ursachen des Unglücks und fordert Gerechtigkeit für die Armen. Sie will die Verhältnisse ändern, die die Menschen arm machen, nicht die Armut bedauern, die durch schlechte Verhältnisse hervorgerufen wird. Die zunehmende christliche Sympathie und die Barmherzigkeit, so echt und wohltuend sie auch sein mögen, befriedigen nicht die Forderung unserer Zeit. Sie gleichen der Tätigkeit eines Arztes, der einzelne Krankheitsfälle behandelt und die Folgen der Krankheit zu lindern sucht, während tief unten die größern Fragen ruhen, die die Ursachen und Verhütung der Krankheit selber betreffen. Um der sozialen Frage in ihrer gegenwärtigen Form näherzutreten, muß die Religion mehr als barmherzig und großmütig sein; sie muß für sich

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selber einen Platz erringen dadurch, daß sie nach besseren, wirtschaftlichen Verhältnissen und besserer, sozialer Organisation sucht, auf die sich die Aufmerksamkeit der jetzigen Zeit richtet. Hier finden wir viele Pläne und Träume, die sich im Namen der christlichen Religion unmittelbar mit der Unordnung und Unvollkommenheit der industriellen Welt beschäftigen. Sie können in wenige allgemeine Typen klassifiziert werden. Zuerst und an den Ausläufern dieser Pläne und Programme begegnen wir der Arbeit der sogenannten Propheten. In der sozialen Frage sowohl wie in der Religion ist der Prophet nicht der Schöpfer eines neuen Systems oder der Verkünder der Zukunft. Er ist der Vertreter der Gerechtigkeit; er deckt die Sünden seines Volkes auf und richtet seine Uberschreitungen; er entwirft ein Bild von der Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens und verheißt eine gerechte Vergeltung. Dies wenigstens ist eine Aufgabe für den christlichen Prediger. Es bedarf keiner Schulung in politischer Wirtschaftslehre, um uns die sozialen Sünden fühlbar zu machen. Dieselbe Begeisterung für Gerechtigkeit, von der die jüdischen Propheten erfüllt waren, finden wir in dem heutigen, wirksamen, christlichen Predigtamt. Der Prophet kann nicht genau wissen, wie jene bessere Zukunft sein wird, und wenn er versucht jene Zukunft auszumalen, wird er vielleicht zum unpraktischen Schwärmer. Aber seine Aufgabe ist es, das ewige Gesetz der Gerechtigkeit zu verkünden, das jedem Unrecht des Einzelnen sowohl wie des Volkes die Vergeltung folgen läßt. „Ein Prophet, der Träume hat," sagt er. „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt" (Jer. 23, 28—29). „Siehe, ich will an die, so falsche Träume weissagen, spricht der Herr," „so will ich Euch hin wegnehmen und

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Euch samt der Stadt, die ich Euch und Euern Vätern gegeben habe" (Jer. 23, 32,39), und von den Getreuen wiederum sagt er: „Und will ihnen ein Herz geben, daß sie mich kennen sollen, daß ich der Herr sei. Und sie sollen mein Volk sein. Und will sie gnädiglich ansehen und will sie wieder in dieses Land bringen" (Jer. 24, 7, 6). Unter den Propheten der modernen sozialen Frage sind zwei, die einen außerordentlichen Einfluß auf die Seelen der Christen ausgeübt haben20). Carlyle greift mit glänzender Satire die Herrschaft des Mammons und des Dilettantismus im modernen Leben an und schildert ein Wiederaufleben der alten Formen sozialer Stetigkeit und sozialen Friedens; Ruskin klagt die herrschende politische Wirtschaftsordnung als wesenlos und illusorisch an, und in dem nach seiner Meinung bedeutendsten seinerWerke schlägt er eine politische Wirtschaftsordnung vor, deren Wurzeln Ehre und deren Adern des Wohlstandes, die „purpurnen Adern glücklicher, menschlicher Wesen" sein sollen. Diese beiden großen Lehrer gehören zu den Propheten. Niemand kann ohne glühende Begeisterung und ohne Selbst-Vorwürfe ihre Anklagen gegen die soziale Ungerechtigkeit lesen. Manchen Menschen, die wie die Ägypter in selbstzufriedener Geschäftigkeit untergingen, kam es bei Carlyles Ruf vor, als wäre ein neuer Moses erstanden, der sein Volk in die ernsteren Regionen moralischer Ideale hinüberführen wollte; manchem Menschen, der durch die Häßlichkeit und Unsauberkeit der modernen Zivilisation stumpf geworden war, hat Ruskin die Hoffnung auf Schönheit und Frieden wiedergegeben. Anstatt eines Englands voll unbarmherziger Handelsleute und schwatzender Politiker erblickte Carlyle ein England voller Helden, voller Herrscher über die Industrie, die fähig sind einen heiligen Kampf zu fähren. Anstatt eines Wohlstandes, der gleich einem Sack

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mit Goldmünzen den Menschen in die Tiefe zieht, verlangt Ruskin eine neue Bestimmung der Reichtümer. Der einzige Wohlstand ist Leben; alles andere ist nicht Wohl- sondern „Ubelstand". „Ich kann mir sogar ein England vorstellen, das alle Gedanken an Besitz abschüttelt auf die Barbarenvölker, wo er erstanden, und das imstande ist, seine Söhne vorzuführen und zu sagen: „Dies sind meine Schätze" 21). Wenn aber diese Lehrer der Pflicht und Schönheit den Pfad geistiger Inspiration verlassen und den Weg wissenschaftlicher Unterweisung betreten, so mahnen sie uns an die Grenzen des Prophetenamts. Carlyle schlägt vor, daß man im industriellen Leben von den freien Vereinbarungen zur Leibeigenschaft der Lehnsverfassung zurückkehren sollte. „Ich bin in allen Dingen für Beständigkeit." „Ich nenne Gurth, den Leibeigenen Cedrics, der den Eisenring um den Hals trug, kein Bild menschlicher Glückseligkeit; aber er erscheint mir glücklich im Vergleich mit vielen Menschen der Gegenwart, obgleich diese nicht als Sklaven eines andern geboren wurden." „Wenn die Freiheit zu einer Freiheit wird, die uns Hungers sterben läßt, ist sie nicht göttlich"22). Ruskin bringt ein System des Austausches in Vorschlag, die alle Unterschiede in Befähigung und Treue aufheben und eine Gleichheit der Dienstleistungen gelten lassen sollte, an deren Möglichkeit er selber nicht glaubt28). Es gibt in der Literaturgeschichte kaum etwas Merkwürdigeres als die Stellung, die schließlich Carlyle und Ruskin in der Geschichte der Sozialreform einnehmen. Beide waren entschiedene Gegner der demokratischen Tendenzen in der modernen Politik und Industrie. Beide waren von Herzen Aristokraten und Reaktionäre. Keiner hatte Sympathie für das sozialistische Programm. Beide traten für Autorität,

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Ordnung und Gehorsam ein. Ruskin nennt sich selbst einen alten Tory und einen Illiberalen24). Carlyle läßt seiner Verachtung über die Antisklavereibewegung einer hochtrabenden, langohrigen Exeter Hall freien Lauf 26 ). Beide wollten den modernen sozialen Übeln entrinnen und nahmen ihre Zuflucht zum Mittelalter. Carlyle wollte die wirtschaftlichen Übel des neunzehnten Jahrhunderts durch eine Rückkehr zur Lehnsverfassung heilen. Ruskin wollte das Häßliche der modernen Zivilisation durch die Wiederbelebung primitiver Einfachheit ersetzen. Beide mißtrauten dem Geist der Demokratie und dem Maßstab der Mehrheit. „Ich hasse euere naseweisen Republiken," sagt Carlyle von den Vereinigten Staaten, und Ruskin stimmt in seiner glänzenden Rhetorik mit dieser Ansicht überein: „Dieses sage ich, weil die Amerikaner als Nation ihr Vertrauen auf Freiheit und Gleichheit setzen, von denen ich die eine verachte und die Möglichkeit der andern leugne; und weiter, weil die Amerikaner, als Nation betrachtet, weder Ruhe wünschen noch fähig sind sie zu ertragen; so wie sie jetzt unehrerbietig gegen sich selbst sind, werden sie es in Zukunft sein; unzufrieden mit dem, was sie sind, doch ohne ein Ideal, das sie erreichen möchten, gleichen sie der bewegten See, die niemals ruhen kann24)." Durch eine seltsame Verkehrung der vornehmsten Absichten Carlyles und Ruskins aber, haben ihre prophetischen Anklagen ihre eigentlichen Lehren überlebt. Man hat ihre Schmähungen über die Welt in ihrer gegenwärtigen Form gehört, die Bilder aber, die sie von einer künftigen Welt entwarfen, sind vergessen worden. Carlyles „Past" würde ganz unleidlich sein für die radikalen Reformatoren, die über seine Anklagen in der „Present" noch in Entzücken geraten. Ruskins „Unto this Last" mag in seinen wirtschaftlichen Lehren so unpraktisch sein, daß es zu dem

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Scherz berechtigt, man sollte den Titel in „Beyond his Last" umändern; aber die visionäre Eigenschaft von Ruskins Wirtschaftslehre mindert nicht die Wirksamkeit seiner glänzenden Satyre oder seiner moralischen Ermahnungen. Die prophetische Seite dieser beiden Meister aber hat die von ihnen vertretene Lehnsverfassung überlebt; sie sind in die Bewegung des radikalen Sozialismus hineingerissen worden, vor der sie instinktiv zurückgeschreckt wären, und schließlich werden sie als leitende Autoritäten in den Textbüchern der sozialen Revolution angeführt 27 ). Nichts ist für die Lehrer der Gerechtigkeit wichtiger, als die natürlichen Grenzen des Prophetenamtes zu erkennen, wozu selbst das Leben dieser vorzüglichen Männer eine Ullustration gibt, die bei weniger begabten Menschen noch deutlicher zu Tage tritt. Mancher christliche Prediger, der durch die Erkenntnis des sozialen Unrechts — und nicht selten durch die Flammenbotschaft Carlyles und Ruskins aufgerüttelt wurde, ist dazu berufen die Stimme eines Propheten zu werden, der in die Wildnis der sozialen Frage hinausruft; aber mancher Prophet verwechselt sein Amt mit dem des Wirtschaftslehrers und bekennt sich mit voller Hingabe zu einem industriellen Programm, dass einen Zweck sicher verfehlt. Weder sittliche Leidenschaft noch rhetorisches Genie geben dem Prediger die Fähigkeit wirtschaftliche Verhältnisse richtig zu beurteilen. Der Prophet der Gerechtigkeit soll ermahnen und warnen, nicht verwalten und organisieren. Für Weisheit in industriellen Angelegenheiten ist eine andere Natur und eine andere Bildung erforderlich. Mag eine solche Kritik über den Beruf eines Propheten vernünftig sein, so setzt sie doch dem christlichen Geist, der sich mit der sozialen Frage beschäftigt, keine Grenzen. Im Gegenteil, oft geben die, welche religiöse Beweggründe

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auf das soziale Leben anzuwenden wünschen, das Prophetenamt ganz auf und wenden sich wie andere Menschen wirtschaftlicher Diskussion und Untersuchung zu. Es ist wahr, daß die christliche Frömmigkeit an sich uns keine soziale Weisheit schafft; aber es ist nicht wahr, daß sie uns unfähig macht, kluge und geduldige Forscher zu werden und verständige Entscheidungen zu treffen. Über das Amt des Propheten hinaus gibt es verschiedene Phasen des unmittelbaren und praktischen Dienstes, die oft vorgeschlagen werden, um die Religion als soziale Kraft auszunutzen und ihr einen bestimmten Platz im wirtschaftlichen Leben zu geben. Die üblichste und gemäßigste Art dieses Ausnutzens der Religion für soziale Zwecke finden wir, wenn wir die Bezeichnung als einen Ehrentitel auffassen wollen, in der Methode des christlichen Opportunismus. Der Opportunist braucht kein Achselträger zu sein sondern einfach ein Reformator, der jede Gelegenheit benutzt, wie sie sich eben bietet. Der Opportunist hat kein bestimmtes oder endgültiges Programm; er ist nur bereit alle Mittel zu benutzen, die ihm für den Augenblick brauchbar erscheinen. Er tastet seinen Weg durch das unmittelbar Mögliche hindurch, um das erwünschte Ziel zu erreichen. So verhält sich die Mehrzahl derer, die versuchen wollen, durch den Geist des Christentums auf die soziale Frage zu wirken. Die Sozialkongresse, die in europäischen Ländern jedes Jahr von Katholiken und Protestanten gehalten werden, fordern von ihren Anhängern im Namen der Religion keine Einzelunternehmungen sondern Beobachtungen, Forschungen und die Bereitwilligkeit, sich im sozialen Leben durch religiöse Beweggründe leiten zu lassen, wo die Gelegenheit sich bietet. Ihnen ist der rege, wache Geist des Opportunisten eigen, der große christliche Gemeinden an-

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gefeuert hat, ein Geist, dem sich oft durch neue Verhältnisse ganz unvorhergesehene Wege des Wirkens eröffnet haben88). Eine hervorragende Erläuterung dafür, daß der christliche Impuls oft in ungeahnte Kanäle geleitet wird, gibt uns der hingebende Dienst von Maurice und seinen Freunden in England49). Der einzige wirtschaftliche Q-rundgedanke, der diesen braven Männern anfangs klar zu sein schien, war die Uberzeugung von dem unchristlichen Charakter des herrschenden Wirtschaftssystems. Es war wie Kingsley sagte, eine „enge, eingebildete, heuchlerische, anarchistische und atheistische Weltanschauung". An positiver Lehre hatten sie wenig zu bieten. „Ich sehe nur insoweit klar," sagte Maurice, „daß es eine Lüge ist, die Konkurrenz als Weltgesetz aufzustellen." Ursprünglich nahm also diese Gruppe die Stellung der abwartenden Opportunität an. Es war ein glückliches Zusammentreffen, daß gerade damals in England die große Bewegung der Genossenschaften entstand, die, wie wir uns immer mit Stolz erinnern sollten, durch die bescheidensten Handwerker ohne den Rat der Gelehrten ins Leben gerufen wurde, und in dem Geist dieses industriellen Unternehmens fand Maurice einen Ausdruck für sein soziales Christentum. „Wettbewerb," sagte Kingsley, „bedeutet Tod, Zusammenwirken bedeutet Leben." Die englischen Opportunisten gaben sich mit ganzer Kraft der Leitung dieser Bewegung hin und fanden in einem praktischen Plan, den sie selbst nicht ersonnen hatten, Befriedigung für ihren christlichen Sozialismus. Wohlwollender Opportunismus indes erschöpft die Hilfsquellen des christlichen Denkens in Betreff der sozialen Frage nicht. Außer der steten Bereitwilligkeit jeden sich bietenden Weg, der helfen könnte, nutzbar zu machen, gibt es viele wohlerwogene Versuche, die soziale Frage

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in christlichem Sinne systematisch auszulegen. Ob sie nun die extreme, revolutionäre Lehre leugnen oder sich zu ihr bekennen, in jedem Fall begegnet man hier der wirtschaftlichen Streitfrage und greift im Namen der Religion entscheidend in die Angelegenheiten des industriellen Lebens ein. Wir sehen hier auf der einen Seite die sogenannte wissenschaftliche Reaktion, — man prüft, sozusagen, aufs neue die Tatsachen, die die soziale Frage ins Leben rufen ünd deutet sie als zum moralischen und persönlichen Leben gehörend, nicht zur wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Eine außerordentliche Illustration zu den in dieser Richtung gemachten Forschungen gibt uns die Arbeit des französischen Ingenieur Le Play 80 ). Dieser ausgezeichnete Forscher stand nicht nur in seinem wissenschaftlichen Beruf auf der höchsten Stufe, sondern er war auch ein aufrichtiger Katholik. Kaum hatte die Revolution in Frankreich ihre Kraft erschöpft, so untersuchte Le Play die soziale Unordnung mit derselben wissenschaftlichen Genauigkeit, mit der er vordem die Geologie Europas geprüft hatte. Mit erstaunlichem Fleiß und beispielloser Beobachtungsgabe prüfte er die Bedingungen des häuslichen und wirtschaftlichen Lebens vieler Länder und vieler Phasen der Zivilisation und stellte ein bis ins Kleinste ausgeführtes Budget des Einkommens und Verbrauches zusammen, das typisch ist für die Lage des wirtschaftlichen Lebens. Diese Ergebnisse standen in offnem Gegensatz zu den revolutionären Dogmen, die in Frankreich schon berühmt geworden waren. Bei der sozialen Frage, so schloß er, handle es sich im Grunde nicht um wirtschaftlichen Wandel oder um Abschaffung der Vorrechte sondern um häusliche Lauterkeit, industriellen Wohlstand, moralische Erziehung und lebendige Religion. Das Ergebnis war ein mehr ethisches als wirtschaftliches; die

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Sicherheit eines Landes wie Frankreich sollte auf der Lebenskraft seiner Geschlechter, auf größerer Vorsicht in den Ausgaben, auf produktiver Geschicklichkeit und auf dem Glauben an die moralische Ordnung der Welt beruhen. Le Plays wissenschaftlicher Liberalismus schaffte sich sofort in den weitesten Kreisen Gehör. Er erwarb sich den Beifall der konservativen Kirche und fand viele ausgezeichnete Anhänger, die ihn durch statistische und historische Gelehrsamkeit stärkten. Jedoch in letzter Zeit hat selbst in Frankreich und in der katholischen Kirche der reaktionäre Widerstand gegen den kollektivistischen Glauben einer wohlwollenderen Anschauung Platz gemacht. Was man nun von häuslichen Tugenden und moralischer Erziehung sagen mag, so ist es doch vielen Christen unmöglich erschienen, in den häuslichen Tugenden und der moralischen Erziehung allein die Lösung der sozialen Frage zu finden. Man hat gefühlt, daß man sich dem spezifischen Problem des industriellen Wandels im Namen der christlichen Kirche nähern muß. Die Kirche muß ein soziales Programm haben; es muß eine christliche Wirtschaftslehre geben; die revolutionäre soziale Bewegung muß durch den Geist christlichen Glaubens gemäßigt und vertieft werden. Diese Uberzeugung hat in dem als „christlicher Sozialismus" allgemein bekannten Typus einen Ausdruck gefunden und vereint in beispielloser Kameradschaft Katholiken und Protestanten, Deutsche und Franzosen, konservative Geistliche und radikale Prediger. Der erste bestimmte Ton dieses neuen, christlichen Programms wurde in Deutschland angeschlagen und nicht, wie man denken könnte, von einem protestantischen Reformer, sondern von einem katholischen Kirchenfürsten. Für diese bemerkenswerte historische Tatsache können verschiedene

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Gründe angeführt werden. Die katholische Kirche hat sich alter Uberlieferung gemäß ein Gefühl lebendiger Verantwortlichkeit bewahrt und war deshalb besonders geeignet den Gedanken einer industriellen Einheit, der die moderne soziale Frage bestimmt, aufzunehmen und zu deuten. Dann war die katholische Kirche in Deutschland die Partei des Protestes, und weil sie von der politischen Kontrolle ausgeschlossen war, hatte sie freiere Hand für soziale Agitation als einer Staatskirche zugestanden wird. Noch vor der Revolution von 1848 hatte der französische Abbé Lamennais81) eine neue Mission für seine Religion verkündet und hatte in den beunruhigenden Losungsworten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" nicht nur die Zeichen sozialer Revolution sondern einen Ruf zur Wiederbelebung des Christentums gefunden. Seine Stimme jedoch klang in eine "Wildnis konservativer Uberlieferung hinein, und seine Lehre wurde von Gregor XVI. verdammt. Als aber die soziale Frage eine bestimmtere Form angenommen hatte und die Arbeiter in Deutschland für die sozialistische Sache gewonnen waren, erneuerte sich auch das Interesse der katholischen Kirche. Am Anfang dieser neuen Zeit hatte Lassalle, der ein größerer Idealist war als Marx, die Bildung produktiver Arbeitervereine in Vorschlag gebracht, die vom Staat unterstützt werden sollten ; — ein Vorschlag, der zuerst von der deutschen Sozialdemokratie willkommen geheißen, bald aber durch umfassendere Revolutionspläne ersetzt wurde. Lassalles Anregung aber war ein Same, der in fremdem Boden Wurzel fassen sollte. Freiherr von KetteierS2), Erzbischof von Mainz, ein ritterlicher Kirchenfürst, empfing durch die Botschaft Lassalles den Wink für ein Wirtschaftsprogramm der Kirche selber. In seinem bedeutenden Werk „Die Arbeiterfrage und das Christentum" nahm er den Grundgedanken und oft auch die Sprache des

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sozialistischen Programms an. Die Selbsthilfe, die die Liberalen seinerzeit den armen Leuten empfahlen, erscheint Herrn v. Ketteier bei der gegenwärtigen Lage der Arbeiter als reiner Hohn. Eine in den Händen der arbeitenden Klasse ruhende Genossenschaftsproduktion sollte sie vom Kapitalismus erlösen. Während Lassalle jedoch für eine solch produktive Industrie auf die Unterstützung des Staates rechnete, hielt sich v. Ketteier an die Kirche. Laßt die Christen, so schlug er vor, freiwillig die Mittel für diese industrielle Emanzipation stiften! Was ist es in der Tat anderes als eine Erneuerung des früheren Geistes, durch den Klöster gegründet und Kirchen erbaut wurden? Das neue Zeitalter fordert eine ähnliche christliche Freigebigkeit, wie sie in Frankreich und England zu Tage trat, als diese Länder durch den Glanz gotischer Kunst bereichert wurden. Möge Gott in seiner Güte schnell Menschen erstehen lassen, die den fruchtbaren Gedanken der Genossenschaftsarbeit in den Boden des Christentums säen! Dies war eine kühne und edle Auffassung von der sozialen Pflicht einer lebendigen Kirche, und wenn die Verhältnisse in Deutschland auch ungünstig waren, und v. Kettelers Vorschläge bald in den größeren Plänen des katholischen Sozialismus untergingen, so sind sie doch kürzlich im Zentrum katholischer Autorität wieder neu erstanden. Kaum hatte das Chaos von 1871 in Frankreich einer gewissen Ordnung Platz gemacht, als eine Gruppe katholischer Legitimisten sich daran machte, die Arbeit auf den Grundsätzen der Religion zu reorganisieren. Der Hauptvertreter der französischen katholischen ArbeiterPartei, der militärische und beredte Comte de Mun, fand den Schlüssel zu der Situation, in dem von v. Ketteier angeregten und durch deutsche katholische Sozialisten später P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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näher bestimmten industriellen Programm :JS ). Es sollte die im Mittelalter als „Gilden" bekannte Einrichtung wieder aufleben. Wirtschaftliche Freiheit ist eine moderne Einbildung. Die sozialistische Forderung nach Rekonstruktion der Industrie unter gemeinsamer Eigentümerschaft ist rechtmäßig und unvermeidlich; aber der Geist dieses gemeinsamen Besitzes sollte religiös und die Verwaltung katholisch sein. Die Religion muß die alte Ordnung reorganisieren und die Gesetzgebung zu diesem Zweck nutzbar machen. Der Staat mag die Hände der Kirche stärken; aber die Kirche unter Vormundschaft der Religion muß die Produktiv-Associationen wiederherstellen, was, wie Lassalle geträumt hatte, die arbeitende Klasse allein hätte vollbringen können. Hier entsteht die Frage: Sollte dieses romantische "Wiederaufleben des industriellen Feudalismus ein Zwangssystem oder eine freiwillige Organisation sein? Der Comte de Mun und seine Verbündeten legen allen Nachdruck auf die Notwendigkeit staatlicher Autorität und Kontrolle und ihre politischen Forderungen stimmen im großen und ganzen mit dem Programm der sozialdemokratischen Partei überein. Anderseits haben sich in Frankreich einige freiwillige Associationen gebildet, die eine Illustration liefern zu der praktischen Richtung der vom Geist der Religion beherrschten produktiven Industrie. Es gibt in der modernen Welt wenig so Idyllisches wie die berühmte Faktorei von Léon Harmel in Valdes-Bois, — eine zufriedene, abgeschlossene, homogene Bevölkerung, eine „famille ouvrière", das Bild dessen, was die industrielle Welt sein könnte, wenn alle Arbeiter französische Katholiken und alle Arbeitgeber so fromm und verständig wären wie Harmel. Wenn die Kirche auch nicht autoritativ irgend eine Form der Oberaufsicht angenommen hat, so

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hat sie doch den allgemeinen Plan einer katholischen Organisation der Industrie aufs höchste gebilligt. Als der jetzige Papst in seiner beachtenswerten Enzyklika vom 15. Mai 1891 die Wege aufzählte, die für die wirtschaftliche Erleichterung empfehlenswert schienen, begann er mit folgenden Worten: „An erster Stelle kommen die Gilden der Künste und des Handwerks; die wachsenden Anforderungen des täglichen Lebens machen es notwendig, daß diese Gilden den gegenwärtigen Verhältnissen angepaßt werden." Solche Anregungen, wenn sie auch sorgfältig verhüllt sind, deuten das tiefe Interesse an, das durch Unternehmungen wie die Harmels, durch parlamentarische Anträge wie die des Grafen de Munt erweckt ist. Ein Wiederaufblühen des Gildelebens mag in der Tat unpraktisch sein, ausgenommen in den engen Grenzen einer homogenen Gemeinde; aber es ist zum mindesten eine Form unmittelbarer Aufnahme wirtschaftlicher Fragen seitens der christlichen Kirche, und es scheint die förmliche Empfehlung durch den auffallenden Mann erhalten zu haben, der, wie man sagt, als Papst der arbeitenden Klasse in der Geschichte fortzuleben wünschtS4). Wenden wir uns nun der damit parallel laufenden Entwicklung des christlichen Sozialismus im protestantischen Deutschland zu, so finden wir weniger Geschlossenheit und Bestimmtheit in den sozialen Plänen, aber dieselbe Bereitwilligkeit, in der sozialen Bewegung einen Platz für die Religion zu suchen. Die Geschichte dieses Suchens beginnt mit der Arbeit einer höchst interessanten, obwohl jetzt halb vergessenen Persönlichkeit, dem gelehrten und frommen Victor Huber35). Dieser fleißige Gelehrte war bei seinen Besuchen in England mit dem Werk Maurices bekannt geworden, während er auch einen sym3*

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pathischen Briefwechsel mit v. Ketteier führte. So war er gewissermaßen ein Glied, das die christlich sozialistische Bewegung Großbritanniens mit der des katholischen Deutschlands verband. Aus der einen stammte sein Glaube an industrielle Kooperation, und er wandte dieses Prinzip nicht nur auf Produktion und Konsumtion, sondern auf Baugesellschaften, Sparvereine und sogar unter dem Titel: „Innere Kolonisation" auch auf die Organisation deutschen Dorflebens an; von der andern hatte er sein Vertrauen zur christlichen Organisation der Industrie, das ihn dazu trieb, den „Verein für christliche Ordnung und Freiheit" zu gründen. Allein Huber war nicht zur rechten Zeit geboren; in politischer Hinsicht war er ein der früheren Schule angehörender Liberaler, der der Bevormundung der Regierung, die damals schon in Deutschland zu herrschen begann, ebenso gegnerisch gegenüberstand wie dem revolutionären Sozialismus, der zu dieser Zeit sein erstes Programm aufstellte. Für seinen Plan gab es keine natürlichen Partei-Genossen. Er wollte für seine kooperativen Gesellschaften weder die Hilfe der Regierung, noch wollte er sie der Sozialdemokratie überlassen. Er setzte sein Vertrauen auf die Initiative Privater und auf das freie christliche Gefühl. In England hatte er gesehen, daß sich einige christliche Gelehrte der Bewegung der Arbeiterklasse anschlössen und er glaubte, daß in Deutschland eine ähnliche Führerschaft entstehen könnte. Er hatte sich jedoch die heftige Reaktion der Arbeiterklasse in Deutschland gegen jeden Bund mit den Wohlhabenden nicht klar gemacht. Auch sagt man, daß seiner Natur jede versöhnende Weisheit fehle, daß er in geistiger Isolierung lebe, die die Deutschen als „Einspännerei" bezeichnen. Seine Laufbahn war voll von Enttäuschungen; 1851 zog er sich aus den Universitätskreisen Berlins zu-

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rück und lebte achtzehn Jahre lang im Harz in tiefster Abgeschlossenheit; die unmittelbaren Ergebnisse seiner großherzigen Bemühungen waren klein und vorübergehend. In unsrer Erinnerung aber sollte er leben als der erste deutsche Protestant, der im Namen der christlichen Religion ein bestimmtes, soziales Programm aufstellte. Christliche Philanthropie, sagte er, sollte sich nicht am Almosengeben und an Hilfeleistungen genügen lassen; sie sei dazu berufen, zu den neuen industriellen Zielen beizusteuern durch die Kraft der Organisation und der Selbsthilfe. Das soziale Klima Englands war den Bemühungen Maurices günstig, während das Klima Deutschlands die Pläne v. Kettelers und Hubers zerstörte, und der Sozialismus des Staates und der Revolution wenig Raum für christlichen Liberalismus ließen; aber es ist nicht unmöglich, daß das Interesse an den Unternehmungen persönlicher und geistiger Initiative in Deutschland wieder aufleben wird, wenn einst die volle Wirkung des durch die Gesetzgebung gesicherten Wohlstandes zur Geltung kommt, und wenn jene Zeit anbricht, wird man wahrscheinlich aufs neue den Mann anerkennen, der zuerst für die freie Tätigkeit einer lebendigen Kirche eintrat. Mit dem lärmenden und treibenden Charakter der modernen sozialen Bewegung steht die Laufbahn eines zweiten deutschen protestantischen Führers in weit größerem Einklang; es ist die des beredten und herrischen Pastor Stöcker 3e). Während 25 Jahren hat dieser glänzende Redner zu den berühmtesten und zu den am meisten besprochenen Deutschen gehört. Wenig Kritiker pflegten nach den Motiven seiner ungeheueren und mannigfaltigen Tätigkeit zu fragen; aber keiner kann sich an die wechselnden politischen Richtungen seines stürmischen Lebens erinnern, ohne den pathetischen Eindruck zu gewinnen,

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daß er seine Kraft verschwendet hat. Schon im Jahre 1878 gründete er, der damals Hofprediger in Berlin war, die „christlich-soziale Arbeiter-Partei" «auf dem Boden des christlichen Glaubens . . . sie verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen Reich und Arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit". Er verwarf die Sozialdemokratie als „unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch" und verkündete an ihrer Stelle ein christliches Programm. Jedoch stellte er dies Programm nicht im Namen der Kirche auf, denn „die christliche Kirche hat nicht den Beruf wirtschaftliche Programme . . . . aufzustellen". Seine Organisation war nicht darauf gegründet, daß die Geistlichkeit der arbeitenden Klasse helfen sollte, sondern daß die Arbeiter sich selber hülfen. Für einen Hofprediger mit wesentlich konservativen Anschauungen, einen der gebildeten Klasse Angehörenden war es jedoch unmöglich das wahre Vertrauen der deutschen Arbeiter zu gewinnen. Auch wurde Stöckers ursprünglichem Ehrgeiz durch das Anti-Sozialistengesetz, das durch die Regierung eingeführt wurde, Einhalt getan, ein Angriff, der nur dazu diente, die Kräfte der Sozialisten zu konsolidieren, wobei die Stöckersche Arbeiter-Partei ganz außer Betracht blieb. Sein Eifer wandte sich deshalb einem neuen und weniger edlen Kreuzzug zu. Seine Sympathie, der die Arbeiter nur kühl begegneten, fand ein wärmeres Willkommen in den Reihen der kleinen Kaufleute, deren industrielle Wohlfahrt durch die stets wachsende Macht und Wohlhabenheit der Juden ernstlich gefährdet war. Das soziale Interesse Stöckers verband sich nun mit seiner orthodoxen Theologie und verwandelte seinen ursprünglich christlichen Sozialismus in Anti-Semitismus, und er gewann einen weit größeren Ruf als Judenhasser denn als Arbeiterfreund.

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Im Jahre 1895 wandten sich, schließlich Stöcker und seine Freunde einem umfassenderen aber mehr konservativen Plane zu, als wenn sie davon überzeugt wären, daß eine Bewegung der arbeitenden Klasse unmöglich sei. Sie gründeten in Eisenacb. eine „christlich, soziale Partei". Sie erstrebt „auf dem Grunde des Christentums und der Vaterlandsliebe die Sammlung der vom christlich-sozialen Greiste durchdrungenen Volkskreise aller Schichten und Berufe. Indem sie, gemäß der dringenden Aufgabe der Zeit ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge besonders der Kräftigung des Mittelstandes und der Hebung der arbeitenden Klassen zuwendet, will sie doch allen schaffenden Ständen in Stadt und Land, der Landwirtschaft wie der Industrie und dem Handwerk mit gleicher Freudigkeit dienen und auch für die gerechten Forderungen der Angestellten, besonders der mittleren und kleineren in Staats- und Kommunal- und Privatbetrieb kräftig eintreten". Sie bekämpft deshalb „alle unchristlichen und undeutschen Einrichtungen . . . den falschen Liberalismus und die drückende Kapitalherrschaft, das übergreifende Judentum und die revolutionäre Sozialdemokratie". So vereinigte Stöckers neuer Entwurf in einem Programm alle die verschiedenen Zwecke, für die er der Reihe nach gekämpft hatte. Wie sein erstes Programm jedoch an seiner engen Begrenzung scheiterte, so scheiterte dies an seinem allzu großen Umfang. Obgleich Stöcker von bedeutenden Personen unterstützt worden ist, ist doch der Unterschied zwischen seinen politischen Idealen und denen der konservativen Partei kein derartiger gewesen, daß viele Wahlstimmen abgesplittert wären; aber er ist zum Hauptgegenstand des Angriffs geworden, der sich gegen den klerikalen Einfluß in der Politik wandte. Die soziale Gesetzgebung Bismarcks entzog Stöcker den Boden, und 1890

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zog er sich aus seiner Stellung als Hofprediger zurück. Seitdem steht er als auffallende und einsame Gestalt im parlamentarischen Leben, von vielen mit zaghafter Bewunderung, von einigen mit besonderer Feindschaft betrachtet, doch wird er unter den deutschen Protestanten, die dafür eintraten, daß in der modernen Welt soziale Einrichtungen eine wesentliche Pflicht der christlichen Kirche sind, als der beredteste und beharrlichste genannt werden. So wahr und ernst der christliche Sozialismus der deutschen Protestanten gewesen ist, so kann man doch nicht behaupten, daß er ein bestimmtes industrielles Programm oder eine tiefere Wirkung hervorgebracht. Er hat zwischen zwei Feuern gestanden, dem Mißtrauen der Regierung und der unverhüllten Verachtung der Sozialdemokratie. Einerseits ist ihm das Wort des Kaisers entgegengetreten, daß die Geistlichkeit die Politik in Frieden lassen sollte, anderseits die Ansicht der Sozialisten, daß Religion ein Aberglaube wäre, der nur im Interesse der besitzenden Klasse aufrecht erhalten würde. Unter diesen Verhältnissen würde der letzte Vorschlag der protestantischen Sozialisten, wenn er auch heroisch ist, doch Don Quixotisch, wenn nicht selbstmörderisch erscheinen. Der beredte Pfarrer Naumann und seine Freunde sagen, daß der Verweis des Kaisers nicht ungerechtfertigt ist. Ein der Staatskirche angehörender Geistlicher darf nicht hoffen sein geistliches Amt zu behalten, wenn er zu gleicher Zeit freundliche Beziehungen zu der Bewegung der arbeitenden Klasse pflegt. Entweder wird die Freiheit seiner Rede ihm seine Stellung kosten, oder er wird nur zu Vermögenden reden. Die einzige Rettung aus solchem Dilemma ist, dem Priesteramt als Beruf zu entsagen und im Namen einer neuen Parlamentspartei sich

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in das politische Leben zu stürzen. Der christliche Sozialismus muß als politische Alternative angesehen werden, die man den deutschen Arbeitern anstatt der Sozialdemokratie bietet, die jetzt ihre Wahlstimmen beherrscht. Der christliche Sozialismus nimmt das wirtschaftliche Programm der Sozialisten an; aber er deutet und behauptet es als Zeugnis der Religion. Mag nun dieses Programm edel und voll Aufopferung sein, so können wir es dennoch nicht als hoffnungsvolle Phase praktischen Strebens ansehen. Die Kirche um der Religion willen verlassen, in der Politik die Stätte religiöser Wiederbelebung sehen, sich mit der sozialistischen Partei verbinden, um sie zu stürzen, — das wird den meisten von uns vorkommen wie der Angriff auf Balaklawa, der freilich großartig aber kein Krieg war; daß sich die christlichen Prediger von ihrem Prophetenamt zurückziehen, sichert ihnen augenblicklich noch keinen entsprechenden Einfluß und keine Führerschaft in der politischen Welt. Es ist nicht wesentlich f ü r unseren Zweck noch mehr Beweise anzuführen, daß die Christen Protest erheben gegen die Entfremdung der sozialen Frage von der christlichen Religion. Durch die Versuche, die neutestamentarische Wirtschaftslehre nachzuahmen, durch Werke der Barmherzigkeit, durch Prophetenworte, durch Forschung und Organisation und durch politische Methoden hat es sich herausgestellt, daß das christliche Leben in unserer modernen Welt das Recht behauptet hat, die sozialen Bewegungen der Zeit zu deuten und zu leiten. Aber angesichts all des verschiedenartigen Ausdrucks christlicher Verantwortlichkeit fällt es uns auf, daß man einer Forschung, die von größter Wichtigkeit ist, nur wenig Aufmerksamkeit schenkt. Hinter den Behauptungen von den Pflichten der christlichen Kirche und hinter allen

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Forderungen, die man im Namen der Christenheit an das soziale Leben stellt, liegt doch für uns Nachfolger Jesu Christi jene Vorfrage, die sich mit Jesu persönlicher Lehre beschäftigt. Was sagte Jesus selbst von den verschiedenen Regionen der sozialen Pflicht? Was für eine soziale Lehre enthält das Evangelium? Die Beantwortung solcher Fragen muß für die praktische Führung eines loyalen Jüngers Jesu bestimmend sein. Um so überraschender ist es, daß gerade in einer Zeit, wo das soziale Gefühl der christlichen Gläubigen so rege ist, und wo die Losung: „Zurück zu Christo!" uns so vertraut geworden ist, so wenig systematische oder wissenschaftliche Forschungen sich über die Natur der sozialen Lehre Jesu unterrichtet haben. Beiläufig werden natürlich in den sorgfältigen Studien von Jesu Leben, deren wir seit Strauß und Renan eine Fülle haben und in einigen Kapiteln der Handbücher über christliche Ethik auch Jesu Beziehungen zu dem Problem des sozialen Lebens behandelt; aber die aufs höchste gespannte Begier der jetzigen Zeit, die soziale Lehre des Evangeliums kennen zu lernen, findet in wenigen Fällen auch nur die geringste Würdigung. Das theologische und philosophische Interesse an Jesu Leben hat seine menschliche und soziale Bedeutung zum großen Teil in den Schatten gestellt. Es erschien wichtiger, die Beziehung seiner Person zu dem Geheimnis der Gottheit festzustellen als seine Stellungnahme zu den weltlichen Problemen unsrer Zeit. Vielen erscheint Jesu Persönlichkeit in der Tat so übermenschlich und überirdisch, daß es ihnen pietätlos vorkommt, seine soziale Lehre überhaupt zu erörtern. Es ist eine überraschende Tatsache, daß dor Glaube, der für Millionen Menschen das Wesen christlicher Nachfolge ausmacht, seine Aufmerksamkeit so ausschließlich auf das übernatürliche Drama von der Erlösung

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richtet, daß er niemals auf irgend ein Ereignis in Jesu persönlichem Leben hinweist, als wäre all das, was zwischen Christi wunderbarer Geburt und seinem Leidenstode läge, für das Wesen des christlichen Glaubens von gar keiner Bedeutung 87 ). Selbst eine von so großer Ehrfurcht zeugende Studie von Jesu Leben, wie in dem epochemachenden Buch: „Ecce Homo" enthalten ist, wurde früher von vielen Kritikern verurteilt, weil sie das Hauptgewicht auf die menschlichen und ethischen Züge von Jesu Leben legte; deshalb sagte man, sie schände seine Natur und seine Mission, und der ausgezeichnete Lord Schaftesbury schilderte das Buch als „das verpestetste Buch, das je aus dem Schlund der Hölle ausgespieen wäre". Ein deutscher Theologe von großem Ruf wurde kürzlich aufgefordert , den literarischen Mangel betreffend Jesu Beziehungen zu der sozialen Frage zu erklären; er sprach seine Meinung dahin aus, daß es das Risiko kirchlicher Disziplinierung gewesen wäre, die deutsche Theologen dazu getrieben hätte, harmlosen Themen nachzudenken 38 ). Es wäre wahrscheinlich gerechter, diese Erscheinung auf die Isolierung und die allgemeine Überlieferung zurückzuführen, die den theologischen Geist einengen. Das Interesse an theologischen Studien ist so unabhängig von den beweglichen Zeitfragen und zieht den Geist so oft von den wechselnden Vorfällen des sozialen Lebens ab, daß der Theologe schließlich an eine bestimmte Reihe von Fragen denkt, während die "Welt um ihn herum sich mit ganz andern Fragen beschäftigt, und am Ende kaum eine Berührung zwischen seinen wissenschaftlichen Forschungen und den menschlichen Bedürfnissen des modernen Lebens besteht. "Wenigstens haben eine Menge einfacher Menschen diesen Eindruck gewonnen, während die Erörterungen für die Theologen von lebhaftem Interesse zu sein schienen.

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Für die Menschen, die mit den tragischen Problemen moderner Armut, sozialen Dienstes und politischer Moral kämpfen, sind die feineren Unterscheidungen und die scharfen, geistigen Differenzen ohne jegliches Interesse. Ihnen erscheint die Kirche unwirklich und deren Kraft mißleitet; es kommt ihnen vor, als beschäftigte sie sich mit wenig anderm als was Coleridge das Problem „übermenschlicher Bauchrednerei" nannte und als existierte sie nur, um den Scharfsinn ihrer Geistlichen zu üben und die Mußestunden ihrer Anhänger auszufüllen. Wenn aber einem dogmatischen Christentum ein unendlich praktisches und ethisches Zeitalter gegenübersteht, so hat das noch weitere Folgen. "Wir bekennen bald, daß selbst die Befangenheit der Theologen die Person Jesu Christi nicht aus der sozialen Frage auszuschließen vermag. Sobald wir das Neue Testament öffnen, sehen wir, daß Jesus die soziale Pflicht mit derselben Kraft verkündet wie die göttliche Liebe. Sein Leben geht durch eine Welt menschlicher Beziehungen hindurch, und auf beiden Seiten seines Pfades streut Jesus Worte der Erquickung und Taten des Segens aus für die Armen und Niedrigen, die Müden und die Schwerbeladenen, die Gebrochenen, die Blinden und die Trauernden. Sein Evangelium ist, wie er ausdrücklich sagt, ein zweifaches, und die eine Hälfte ist eine soziale Botschaft. „Du sollst deinen Nächsten heben wie dich selbst" (Matth. 22, 39). Was Wunder, daß ein schneller Umschwung der Meinungen stattfindet, wenn die Aufmerksamkeit sich jetzt auf das so lange vernachlässigte Bild der Persönlichkeit Jesu richtet, auf den nicht übernatürlichen, nicht kirchlichen, auf den menschlichen, erbarmenden Freund des Volkes, der sich beugt, um dem Niedrigen zu dienen und bereit ist, den Stolzen zu tadeln. Anstatt des Christus der Glaubens-

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sätze scheint man einen neuen Messias zu entdecken, einen Heiland f ü r die armen, verlassenen Mengen des Volkes. Was war der junge Jesus anders, so f r a g t man, als ein Zimmermann an der Hobelbank? Waren seine Gefährten unsrer jetzigen Anschauung nach etwas anderes als Proletarier? Welche Worte waren häufiger auf Jesu Lippen als: „Weh' euch Reichen" (Luk. 6, 24) und: „Selig seid ihr Armen!" (Luk. 6, 20). Streift man n u n alle verdunkelnden, theologischen Interpretationen ab, was ist dann Jesu Lehre anders als das Evangelium einer Arbeiterbewegung, als die Sprache eines Sozial-Agitators, der geschichtliche Yorschmack des modernen sozialdemokratischen Programms. Hier tritt die unvermeidliche Reaktion einer metaphysischen Christologie ein. Die neue Zeit r u f t sich solche Worte ins Gedächtnis zurück wie: „Verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen" (Luk. 18, 24). „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen" (Luk. 18, 22) und der Angriff auf die besitzenden Klassen wird noch verstärkt durch den Gedanken an den reichen Mann in der Hölle und an den zufriedenen Lazarus; und an Stelle eines übernatürlichen Christus, der in einer andern Welt zur Rechten des Vaters sitzt, ist es jetzt die Gestalt des Zimmermannes, die neue Anhänger gewinnt, der Vertreter der Armen, der größte Sozialist, „Jesus der Demagog", wie man ihn kürzlich genannt hat 8 9 ). Der erste der modernen Biographen, der Wert auf diese Auffassung von Jesu Person und A m t legte, war Renan 40). E r wollte das Evangelium im allgemeinen modernisieren und zeichnete die Gestalt Jesu, als wäre sie dem modernen Arbeiteragitator verwandt, als griffe sie einerseits die Regierung, und andererseits die Wohlhabenden an. „Jesus," sagt Renan, „war in einer Hinsicht Anarchist; denn er hatte kein Verständnis für eine staatliche Ver-

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iassung; sie erschien ihm nur als Mißstand." „Dem entsprechend war also Jesu Lehre reiner Ebionitismus, eine Lehre, die uns verkündet, daß nur die Armen (Ebioniten) gerettet werden können." „Er vergab dem Reichen nur, wenn dieser um irgend eines Vorurteiles willen, der Gesellschaft mißfiel." Er zog offenbar die Menschen vor, die ein fragwürdiges Leben führten." „Er sah die Welt an wie ein Sozialist mit galiläischer Färbung." „Er träumte von einer großen, sozialen Revolution, durch die jeder Rangunterschied geebnet und jede Autorität gestürzt werden sollte." Kurz, Renans Jesus war ein Vorläufer des modernen Revolutionärs, und der Radikalismus seines Programmes wurde nur durch die Bedingungen seiner sozialen Umgebung beschränkt, und es darf uns nicht überraschen, daß diese Deutung des Evangeliums in der Sprache der modernen sozialen Frage für manchen sozialen Schriftsteller entscheidend geworden ist in der Beurteilung des neuen Testamentes. Dieselbe Deutung aber, die Jesu Lehre bekräftigt, vermag sie auch zu verdammen. Ein hervorragender, englischer Philosoph, der das Evangelium als ein revolutionäres Traktat auffaßt, sieht in jener Charakteristik keinen Beweggrund Jesu Lehre zu befolgen, sondern er will sie als unpraktisch und visionär zurückweisen. Wenn wir Jesus für einen frommen Anarchisten halten, so müssen wir seine Lehre als für die moderne Zeit untauglich verwerfen41). Man hat gesagt, daß die christliche Lehre der Selbstaufopferung Selbstzerstörung wäre. Wenn das Christentum bedeutet, daß man die Evangelien als Richtschnur nimmt, dann ist keiner von uns ein Christ, und trotz allem, was wir dagegen sagen möchten, wissen wir wohl, daß wir dann keine Christen sein dürften; denn unter unseren großen, moralischen Institutionen ist keine einzige, die nicht vom Neuen Testament ignoriert oder

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verdammt würde. Die Berechtigung des Eigentums wird geleugnet oder beargwöhnt, die Familienbande werden zerrissen, es gibt kein Vaterland, keinen Patriotismus die Moral der ersten Christen ist heimatlos, geschlechtslos und vaterlandslos. Lange Zeit haben wir uns zu einem Glauben bekannt, dem keiner gerecht werden kann, und der, wenn man ihm gerecht werden könnte, ebenso unmoralisch sein würde, wie er jetzt wesenlos ist. Etwas vor der blühenden Romantik Renans trat ein beinahe vergessener, aber frommer und arbeitsamer, deutscher Gelehrter besonnener und vorsichtiger der Lehre Jesu nahe; er erkannte vor mehr als dreißig Jahren schon die Bedeutung, die das Neue Testament in der sozialen Bewegung haben würde. Rudolf Todt*2) war ein unbeachteter Pastor, der durch eine flüchtige Anregung des berühmteren Stöcker 43 ) dazu veranlaßt wurde, die Lehre des Neuen Testaments in ihrer Beziehung zum sozialen Programm mit systematischer Sorgfalt zu prüfen. Er glaubte, daß das Neue Testament nicht nur allgemeine Grundsätze aufstellt, sondern daß sich bei genauer Forschung auch wirkliche positive, konkrete Urteile und Vorschriften aus ihm für die Lösung der sozialen Fragen ableiten lassen. Er behauptet, es sind „die Lehren des Neuen Testaments, aus denen wir die Aufgabe des Staates, der Besitzenden und Besitzlosen erkennen". „Wer die soziale Frage erkennen und zu ihrer Lösung beitragen will," schreibt er auf seiner ersten Seite, „muß in der Rechten die Nationalökonomie, in der Linken die wissenschaftliche Literatur der Sozialisten und vor sich aufgeschlagen das Neue Testament haben." Todt fährt dann fort, die verschiedenen Artikel des sozialistischen Glaubens im einzelnen darzulegen und jedem, der Reihe nach, die Lehre des Neuen Testaments gegenüberzustellen, und er schließt damit:

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„Außer dem Atheismus widerspricht kein einziger ihrer Grundgedanken . . . . dem Inhalt des Evangeliums. Ihre Grundprinzipien bestehen nicht nur vor der Kritik des Neuen Testaments, sondern enthalten geradezu evangelische, göttliche Wahrheiten." Die besondere Form des Glaubens, die von den Sozialdemokraten in Deutschland angenommen wurde, schien Todt „unevangelisch und zwecklos". Jeder Christ muß Sozialist, aber nicht Sozialdemokrat sein. Gegen den atheistischen Sozialismus muß man deshalb einen christlichen Sozialismus organisieren. Mit Stöcker und anderen Freunden begann Todt daraufhin die Organisation des „Centraivereins für Sozialreform auf religiöser und konstitutionell monarchischer Grundlage", eine Bewegung, die durch manchen "Wandel und Ubergang nun in dem Evangel.-Sozialen Kongreß und der Christlich Sozialen Partei weiter geführt wird, und deren Lebenskraft zum großen Teil aus dem genauen Studium des Evangeliums hervorging, mit der sie begann. Wenn wir schließlich betrachten, was gegenwärtig bei dieser Deutung des Neuen Testaments zu Tage gefordert worden ist, so lernen wir in diesem Zusammenhange eine höchst anregende und edle Persönlichkeit kennen, deren Lehre mit besonderem Nachdruck auf den persönlichen Einfluß Jesu Christi zurückgeht. Pfarrer Naumann*4) aus Frankfurt war einer der wenigen echt deutschen Kanzelredner, und durch alle seine Predigten geht ein Zug so männlicher Frömmigkeit, daß sein erzwungener Rücktritt und seine wenig versprechenden, gewagten Schritte ins politische Leben unser natürliches Bedauern erregen. Man darf nicht glauben, daß Naumann in Jesus nur einen sozialen Reformator sieht. Im Gegenteil, er geht tief in die persönlichen Beziehungen des christlichen Glaubens

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ein. „0 Herr Jesus," sagt er, „wir wollen uns zu deinen Füßen setzen und da fühlen, was wahres Christentum ist." Jesus Christus ist „kein Philosoph und kein Staatsmann, kein Physiker und kein Nationalökonom . . . . er bringt nicht Ergebnisse oder Methoden. Er lebt und eben sein Leben ist die Offenbarung Gottes." Für Naumann hat jedoch die soziale Frage mit all ihrer Tragödie von Mangel und Leid ein solches Ubergewicht, daß er mit immerwährendem Nachdruck auf die soziale Lehre des Evangeliums zurückkommt. „Jesus Christus," sagt er, „ist.... der Volksmann; immer wieder von reich und arm geredet" . . . . „Aus seelsorgerischen Gründen ist er gegen den Reichtum. Er liebt die Reichen, . . . . aber er weiß, daß die Seelen erst frei werden, wenn sie bereit sind, ihr Gold von sich zu werfen." „Jesus ist aus ethischen Gründen radikaler Gegner der Kapitalansammlung." „Wonach wird die Welt gerichtet? Nicht nach Dogmen, nicht nach Konfessionen, sondern nach ihrem Verhalten zur Armut. Die Hungrigen, Durstigen, Heimatlosen, Nackenden, Kranken, Gefangenen . . . ." „Ein Zeitalter, welches sie nicht speiste, tränkte, beherbergte, kleidete, pflegte, besuchte, ein solches Zeitalter gehört in das ewige Feuer. Christentum ist Armenhilfe." Es ist kaum nötig, diesen leidenschaftlichen Äußerungen Naumanns die übertriebenem Aussagen anderer moderner Gelehrter hinzuzufügen. „Das Christentum," sagt der italienische Wirtschaftslehrer Nitti, „sei mehr als alles andere eine ungeheuere wirtschaftliche Revolution;" „die Armut sei eine unerläßliche Bedingung, um in das Himmelreich zu kommen18)." Ein amerikanischer Schriftsteller geht mit noch weniger Zurückhaltung vor und verallgemeinert alles in Bausch und Bogen. „Die Bergpredigt," schreibt er, „ist die Gesellschaftslehre. Sie ist P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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eine Abhandlung über politische Wirtschaftslehre." „Die Kreuzigung, die Jesu Herz erlitt, war die Verwerfung seines sozialen Ideals." „Eine industrielle Demokratie würde die Verwirklichung des Christentums sein." „Das ist die Logik der Bergpredigt"46). Die Übertreibung dieser Auslegungen zeigt, wie groß die Schwingung ist, die das Pendel des Interesses gemacht hat von einer Christologie, die die soziale Frage ignorierte, zu einer Christologie, die in der sozialen Frage den Mittelpunkt des Evangeliums sieht. Auf Grund dieser Deutung würde es in der Tat nicht schwer sein, das Neue Testament, wie es kürzlich angeregt wurde, als sozialistischen Traktat neu herauszugeben41). Wir können annehmen, daß Jesus die Schweine ins Meer trieb, um seine Gleichgültigkeit gegen das Privateigentum zu bezeugen. Wenn er der Volksmenge begegnet, ist seine erste Sorge sie zu speisen, um dadurch zu zeigen, daß wirtschaftliche Probleme den Vortritt vor geistigen Fragen haben. Er treibt die Geldwechsler aus dem Tempel, um ein öffentliches Zeugnis gegen den Kapitalismus und seine Sünden abzulegen. Eine solche Anschauung der Person Christi ist in der Geschichte freilich unbegründet; aber sie wird von einer großen Menge einfacher Menschen mit Begeisterung begrüßt. Vor der Kirche und den Theologen hat der moderne Revolutionär, wie wir gesehen haben, wenig Achtung. Die Kirche ist für ihn das Bollwerk der besitzenden Klasse, und die Theologen verwirren seiner Meinung nach den Geist des Unglücklichen durch Verheißungen des Glückes in einer andern Welt. Felix Holt meint „wir könnten ihnen etwas von ihrem Himmel zurückgeben und dagegen für uns und unsere Kinder etwas in dieser Welt eintauschen". Aber für die Person Jesu, für den Arbeiter, den Freund der Armen, den Ausgestoßenen, den Höllen-

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Prediger ist in der Bewegung der arbeitenden Klasse eine neue Verehrung entstanden. Viele Arbeiter sind in der Tat der Meinung, daß sie erst den wirklichen Christus entdeckt haben, gleichsam als wären erst vor kurzem die Züge des Mannes von Nazareth klar gelegt worden, die bisher unter dem mittelalterlichen Fresko eines unwirklichen und mystischen Christus verborgen gehalten wurden. „ Christus," so antwortete ein deutscher Arbeiter, „war nicht wie seine Nachfolger nur in Worten, sondern auch in seinen Taten ein Freund der arbeitenden Klasse." „Er wurde gehaßt und verfolgt wie der moderne Sozialist und wenn er heutzutage gelebt hätte, würde er unzweifelhaft zu uns gehören 48 )." „Christus," schrieb ein anderer, „war ein großer Revolutionär; wenn jemand heute so predigen würde, wie er es t a t , würde man ihn gefangen nehmen." „Er würde mehr vollbracht haben," f ü g t ein Dritter hinzu, „wenn er sich mehr um wirtschaftliche und wissenschaftliche als um religiöse Ziele bemüht hätte." „Er war ein Mann aus dem gemeinen Volke," schließt ein Vierter, „der einen harten Kampf für seines Volkes moralische und wirtschaftliche Wohlfahrt ausfocht." Kurz, es ist geschehen, wie es der Verfasser von „Kernel and the Husk" voraussagte, die Arbeiter sagen: „Wir hielten Christus für eine Phantasiegestalt der Priester, . . . . aber nun sehen wir, daß er im Grunde ein Mensch war wie wir, — ein armer Arbeiter, der ein Herz für die Armen hatte — und nun wir dies erkannt haben, wissen wir, daß er der Mann für uns ist 4 9 )." Es ist eine verwirrende Situation. Den meisten, die von der sozialen Frage zunächst berührt werden, ist der kirchliche Christus, wenn nicht verächtlich, so doch vollkommen gleichgültig; aber dem Christus, der von den Uberlieferungen und Glaubenssätzen des christlichen Gottesdienstes weit entfernt ist, — dem nicht geheimnisvollen, mensch4*

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liehen Führer der Armen — wird eine Ehrerbietung entgegengebracht, die ihm als übernatürlichem Wesen nicht mehr gezollt wird. Der großen Menge der christlichen Gläubigen auf der anderen Seite jedoch scheint dieses Bild Jesu als Anführer der Arbeiterpartei und als sozialer Revolutionär ein durchaus nicht entsprechendes ungeschichtliches Abbild des Christus zu sein, den uns das Evangelium zeigt. Haben wir nicht einen offenbaren Bruch zwischen den Uberlieferungen der Vergangenheit und den Bedürfnissen der Gegenwart? Auf der einen Seite sehen wir die alte und köstliche Geschichte von der Beziehung zu jeder einzelnen Seele, die Offenbarung des Verhältnisses des Vaters zum Kinde und des Bandes zu ihm selber; wir erkennen die Botschaft, die er dem religiösen Leben in seinen Erfahrungen von Sünde, Reue und geistigem Frieden bringt; und auf der andern Seite sehen wir, daß er den äußern Übeln, die aus der Umgebung, dem Unglück, den sozialen Verhältnissen und der Ungerechtigkeit entstehen, eine neue, beispiellose Bedeutung gibt, und wir machen die Entdeckung, daß Jesus auch hier eine Botschaft zu bringen hat, eine Botschaft voll ernsten Tadels und voll erbarmender Liebe. Soll denn zwischen der Arbeit der christlichen Kirche und den Bedürfnissen der modernen Welt beständig eine Kluft liegen? Lassen sich die verschiedenen Auffassungen der Lehre Jesu auf keine Weise vereinigen? Soll die Kraft der christlichen Religion auf geistige und persönliche Erneuerung beschränkt bleiben, ohne Teil zu haben an der Leitung der sozialen Bewegung unserer Zeit? oder, wenn anderseits die Person Jesu einen Platz in der sozialen Frage findet, soll dieses auf Kosten der geistigen Führerschaft Jesu und seiner religiösen Bedeutung gescheheu? Müssen wir zwischen Christus dem Heiland und Jesus dem Demagogen wählen? Oder enthält die Religion Jesu einen

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Charakterzug, der aus sich selbst heraus die soziale Botschaft bringt, der die moderne Welt so sehr bedarf? Das sind die Fragen, die uns entgegentreten, wenn wir die Entfremdung zwischen der christlichen Lehre und den sozialen Bedürfnissen beobachten, und sie mahnen uns aufs neue, das Evangelium auf seine soziale Lehre hin zu prüfen 50). Zwei Erwägungen sind es, die uns zu solchen Forschungen besonderes Interesse und neuen Mut verleihen. Erstens sehen wir hier, wie aus dem Vorhergesagten hervorgeht, daß wir uns einem Punkte der christlichen Lehre nähern, an den man von beiden Seiten der jetzigen sozialen Streitfrage mit aufrichtiger Würdigung und Ehrfurcht herantritt. Schon bei dem oberflächlichen Blick auf die jetzige Tendenz der christlichen Theologie erkennen wir, daß sie davon absieht, ihren Glauben auf übernatürliche Entscheidung und sorgfältig ausgearbeitete Formeln zu stützen und mit einer neuen Demut sich der bescheidneren Aufgabe zuwendet, die Lehre Jesu Christi zu deuten und zu erhalten. „Die Kirche," so heißt es in dem früheren und umfassenderen Status von dieser Rückkehr zum Evangelium, „gibt niemandem Gehör als Christus; der moderne Mensch aber fragt viel einfacher ,was würde Jesus sagen'?" Christo folgen, selbst wenn man ihn nicht genau erfassen kann, zu denen gehören, die nicht nur seinen Namen nennen, sondern seinen Willen tun wollen, das Leben der eigenen Seele und das der Welt in Bahnen lenken, von denen Jesus sagen könnte: „Ei du frommer und getreuer Knecht," das sind Grundsätze, die dem modernen Christen nicht Beigabe, sondern die ihm der Inbegriff des christlichen Lebens sind; und diese Auffassung und dieser Gehorsam, selbst wenn er von einem hohen Grade der Unwissenheit über die innere Natur der Gottheit und die Zwecke des Unendlichen begleitet ist, wird doch, so glauben

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wir, einst mit dem großen Worte angenommen werden: „Dein Glaube hat dir geholfen, gehe ein in Frieden!" (Luk. 7, 50.) "Wenn es also wahr ist, daß die Nachfolge Christi ein besserer Beweis für die christliche Jüngerschaft ist als die Anschauung über ihn, so ist es anderseits auch wahr, daß die soziale Bewegung jetzt zu einem Punkte gelangt ist, an dem sie mit besondrer Verehrung vor der Person Jesu steht. Und wenn die "Wertschätzung, auf die sich diese Verehrung gründet, auch ungenügend und oberflächlich sein mag, so bietet sie doch einen Berührungspunkt zwischen der Kirche und der Welt. Mögen die Geistlichen ihre Ansprüche auf Autorität beweisen, und die Theologen orthodoxe Systeme ersinnen — von ihren Folgerungen und Beratungen wird keine weder auf Gewerkvereine noch auf die Sozialdemokraten aus dem Sumpf der Städte irgend einen Eindruck machen. Wenn aber die soziale Lehre des Evangeliums in einfachen Worten erzählt wird und man ihren müden Ruf vernimmt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid" (Matth. 11,28) und ihre Aufforderung zur Nachfolge in den Worten: „Was ihr einem der Geringsten unter meinen Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan" (Matth. 25, 40—41), so werden die Schwerbeladenen und die Niedrigsten in der modernen Welt für diese Lehre empfänglich sein und sie werden von einer Verehrung für die Person Jesu ergriffen werden, die ihnen bisher vollständig fremd war. Es ist hoffnungslos durch die jetzt herrschenden Methoden des Christentums zu irgend einem Verständnis mit der sozialen Bewegung zu kommen; aber dennoch haben wir Grund zu hoffen, daß die Lehre Jesu sich aufs neue den Bedürfnissen unsrer neuen Welt anpassen wird. Die Kirchensprache ist für den modernen Arbeiter zum größten

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Teil ebenso unverständlich wie Hebräisch; aber aus der Lehre Jesu scheint er die willkommnen Klänge einer vertrauten Sprache heraus zu hören. Gemeinsame Verehrung kann gegenseitiges Verständnis erzeugen. Der christlich Gläubige und der soziale Reformer werden vielleicht einander begegnen, wenn sie sich beide der Einfachheit, die in Christus liegt, nähern 51 ). Dieser Schilderung der jetzigen Forschung muß eine weitere ermutigende Beobachtung hinzugefügt werden. Wenn wir feststellen wollen, wie sich Jesu Lehre zu den besondern Bedürfnissen der wirklichen Welt verhält, so dürfen wir nicht denken, daß dieses Problem seiner Natur nach ein neues ist; es ist im Gegenteil ein immer wiederkehrendes. Jede Periode der Zivilisation hat der Reihe nach ihre eigenen besonderen Interessen und ihre eigenen geistigen Forderungen gehabt, und jede hat, wenn sie sich zu der Lehre Jesu zurückfand, erkannt, daß diese sich in ganz außerordentlicher Weise für die augenblicklichen Ziele und Bedürfnisse verwerten ließ. Einer der überraschendsten Züge des Evangeliums ist, daß es den Anschein hat, als wäre es besonders für die Probleme geschrieben, die die Menschen im Augenblick am meisten beschäftigen. Wie das menschliche Interesse sich immerfort wandelt, so scheint auch Jesu Lehre immer neue Worte zu enthalten. Für ein Zeitalter war der Brennpunkt menschlichen Interesses da, wo der griechische Geist und die hebräische Überlieferung einander begegneten und den Grund zur christlichen Theologie legten, und jenem Zeitalter galten die großen Aussprüche Jesu über seine Beziehungen zum Vater, als wenn die Bestimmung des Platzes, den Jesus in der Theologie einnehmen sollte, das wichtigste am Evangelium wäre. Ein andres Zeitalter, das besonders von der Entwicklung der Kirche in

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Anspruch genommen wurde, glaubte, daß Jesu Lehre sich hauptsächlich auf die Organisation der Kirche beziehe. Der moderne Forscher des Evangeliums aber wird von einem neuen Gesichtspunkte aus erkennen, daß die Lehre Jesu jede Anschauung und jede Tendenz der Reihe nach beleuchtet. Ein G-elehrter, der wie Renan — nach den malerischen und orientalischen Zügen eines Mannes aus der galiläischen Landbevölkerung aussah, findet in den visionären Hoffnungen eines solchen Jünglings den Schlüssel zu Jesu Lehre; ein andrer Gelehrter dagegen, der mit dem Geist eines konstitutionellen Historikers an die Lehre Jesu herantritt, erkennt sie als das "Werk eines Mannes, der eine Verfassung gründet und er erblickt in der Mission Jesu das Aufblühen der reinsten und idealsten Monarchie, die je unter Menschen bestanden hat 62 ) und wieder ein andrer, der von dem Ton der Trauer und Verzweiflung, der durch die moderne Literatur klingt, tief ergriffen ist, wendet sich auch der Lehre Jesu zu und findet, daß sie besonders ein Evangelium für das Zeitalter des Zweifels ist 58 ) und daß hierin ihre Hauptbedeutung liegt. "Wollen diese auseinander gehenden Eindrücke uns zeigen, daß jedes Zeitalter und jeder Gelehrte einen neuen Christus geschaffen hat, und daß jene anscheinend geschichtliche Figur nur ein Reflex gewesen ist, den der Geist des Forschers auf die Leinwand der Vergangenheit geworfen hat? Ist es nur die fromme Eingebung einander ablösender Gelehrter, die aus Jesus bald die Quelle der Theologie, bald den Gründer einer Kirche, bald einen Bauern, dann einen König oder den Erlöser von allem Zweifel macht? Im Gegenteil, das Leben Jesu bietet tatsächlich nicht nur diese Gesichtspunkte, sondern auch viele andere, und nicht als falsche Ausleger, sondern teilweise als Zeugen stehen die Menschen auf ihrem eigenen Platze und berichten von

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dem Zug des Evangeliums, der sich ihrem Geiste zeigt. Diese außerordentliche Fähigkeit sich Neuem anzupassen, diese große Fassungskraft von Jesu Lehre, die durch so viele Beweise der Vergangenheit illustriert wird, gibt auch uns die Zuversicht, daß sie sich aufs neue für die Frage verwerten läßt, die die heutige Zeit am meisten berührt. Wenn uns ein neues Problem beschäftigt, und wir daraufhin das Evangelium durchforschen, so wird es voraussichtlich, wie es schon tausendmal früher geschehen ist, uns vorkommen, als wenn dasselbe zum großen Teil geschrieben wäre, um den Bedürfnissen des neuen Zeitalters Rechnung zu tragen. Worte und Taten, die anderen Generationen unklar oder dunkel erschienen, können für uns neue Bedeutung gewinnen, wenn wir sie im Lichte der neuen sozialen Bewegung und Hoffnung sehen. Wie es so vielen vor uns ergangen ist, werden auch wir vielleicht glauben, daß kein anderes Zeitalter Jesu Lehre so gebührend hat würdigen können wie das unsere; es wird uns sein, als hätte Jesu prophetischer Geist über die Jahrhunderte hinaus geblickt und das ferne Herannahen sozialer Konflikte und Bestrebungen erkannt, die zu seiner Zeit unbedeutend waren, jetzt aber universell und tiefgehend sind. Das ist der ungeheure Umfang von Jesu Lehre! Ein großer moderner Prediger hat diese Fähigkeit der Anpassung in dem Gleichnis vom Feenzelt beschrieben54). Stellte man die magische Einhägung in des Königs Schloß, so war sie für das kleinste Zimmer nicht zu groß, trug man sie auf den Hof hinaus, so war sie groß genug, um alle Ritter aufzunehmen, und brachte man sie aufs freie Feld, so dehnte sie sich so sehr aus, daß sie das ganze Heer des Königs umfassen konnte; sie besaß eine unendliche Biegsamkeit und eine unendliche Ausdehnungskraft. Jesus selbst geht in dem vierten Evangelium von einem

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noch größeren Gedanken aus und zeigt uns seine Mission öfter in dem Gleichnis vom Licht. „Ich bin," so sagt er, „das Licht der Welt" (Joh. 8, 12). „Ich bin kommen in die Welt ein Licht" (Joh. 12, 46). „Wandelt dieweil ihr das Licht habt" (Joh. 12, 35). Das Licht ist seiner Natur nach viel umfassend; es läßt sich fortpflanzen und ist allgegenwärtig. Es gibt nicht zuviel Licht für das Bedürfnis eines einzelnen Menschen und doch gibt es genug für alle Menschen. Jedes einzelne Zimmer scheint den vollen Sonnenschein aufzufangen, und doch strahlt das unerschöpfliche Licht in Millionen andrer Häuser. Dasselbe gilt von dem Einfluß Jesu Christi. Jedem neuen Zeitalter, jeder Strömung und jedem persönlichen Verlangen scheint seine spezifische Lehre in besonderer Fülle zu teil zu werden, und es ist vollkommen wahr, daß ihr direkter leuchtender Strahl in den Winkel des Geistes dringt, den kein anderer Punkt berührt. Es ist, als sähen wir in der Nacht den Mond über dem Meere aufgehen und betrachteten das glitzernde Lichtband, das gerade zu ihm hinüberfuhrt, und es erscheint uns, als wenn der Mond für unser Leben allein leuchte, während wir in der Tat doch wissen, daß sein umfassender Schein nicht nur für uns, sondern daß er für die Freude und Führung einer ganzen Welt da ist. So berührt das unerschöpfte Evangelium mit seiner erleuchtenden Kraft jedes neue Problem und jedes neue Bedürfnis, und doch gibt es noch Myriaden andrer Wege der Ausstrahlung auf andere Seelen und andere Jahrhunderte, die alle von jenem Leben ausgehen, das das Licht der Menschen ist.

II. K a p i t e l .

Die sozialen Grundsätze von Jesn Lehre. Ich heilige mich selbst für sie. "Wir wenden uns der Geschichte der Evangelien zu, um nach den Beziehungen zu forschen, die Jesu Lehre zu den verschiedenen Fragen der jetzigen Zeit hat. Ehe wir jedoch in die Einzelheiten einer solchen Forschung eingehen, wird es vorteilhaft sein, die Geschichte im ganzen zu überblicken und zu sehen, ob in den Evangelien irgendwelche allgemeine charakteristische Zeichen oder Grundsätze zu Tage treten, die uns erkennen lassen, wie sich Jesu Geist den Problemen der sozialen Reform gegenüber verhält. Wenn wir in dieser allgemeinen Absicht die Evangelien öffnen, so sind wir überwältigt von der Fülle des Stoffes, der sich uns bietet. Jesus war weder ein Klausner noch ein Asket. Er lebte in einer Welt voll sozialer Intimitäten, Probleme und Gemeinschaften. Er begann sein Wirken damit, daß er eine Gruppe vertrauter Freunde um sich sammelte, deren vereinte Tätigkeit seine Lehre einst fortpflanzen sollte. Mit natürlichem, sich immer gleichbleibendem Mitgefühl ging er auf die Freuden und Sorgen des sozialen Lebens ein. (Joh. 2, 1—11, Joh. 11, 1—44.) Ihm waren die verschiedensten sozialen Typen vertraut, die Fischer (Matth. 4, 18), Pharisäer (Apostelgeschichte 23, 6), Zöllner (Matth. 9, 9, Lukas 5,29),

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H. Kapitel.

Bettler (Mark. 10, 46, Joh. 9, 1), Juden (Joh. 3, 1), Römer (Matth. 8, 5), die Heiligen (Lukas 10, 42) und die Sünder (Lukas 19, 7. 7, 37). Fast jede soziale Frage, die seiner Zeit bekannt war, wurde in irgend einer Form vor ihn gebracht, entweder in der Absicht sein Urteil zu erlangen, oder ihm in seiner Lehre einen Fallstrick zu legen. Die Integrität der Familie, die Beziehungen zwischen arm und reich, die Verantwortlichkeit der "Wohlhabenden — alle diese anscheinend modernen Fragen werden von Jesu oft in strenge Erwägung gezogen, sodaß die Aufgabe, aus so reichem Material den Charakter seiner sozialen Lehre zu bestimmen, uns leicht erscheinen muß. Ehe wir diese Lehre in ihrer vollen Bedeutung klar legen, ist jedoch zu beachten, daß wir verschiedene Züge von Jesu Wirken vollkommen erkannt haben müssen. Obwohl das Evangelium viele soziale Lehren enthält, die gewichtig genug sein mögen, so hinterläßt es doch im großen und ganzen den Eindruck, daß der Geist des Lehrers sich hauptsächlich einem andern Weg zuwendet. Wir müssen ohne Zaudern zugeben, daß es Jesus mehr am Herzen lag, der menschlichen Seele ihre Beziehungen zu Gott zu offenbaren, als die menschliche Gesellschaft zu reorganisieren. Jesus war nicht in erster Linie Reformer, sondern Offenbarer, nicht ein Agitator mit einem Plan, sondern ein Idealist mit einer Vision. Seine Mission war eine religiöse Mission. Sein Hauptbestreben war, der menschlichen Seele klar zu machen, in welcher Beziehung sie zu ihrem himmlischen Vater stände. „Herr," sagen die Jünger, „zeige uns den Vater, so genüget uns" (Joh. 14, 8). „Das Evangelium," sagt ein großer, deutscher Gelehrter, „will nicht verbessern, sondern erlösen"1). Ferner war Jesu geistige Haltung zuweilen eine zurückhaltende, als wenn er sich von den sozialen Pro-

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blemen, die sich seinem Geist aufdrängten, loslösen wollte. Es war nicht seine Absicht sich in dieselben zu verwickeln. „Mensch," sagt er, „wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt" (Lukas 12, 14). Diese Worte zeigen uns, daß er sich keine Berechtigung zusprach eine Verteilung des Eigentums vorzunehmen. Auch ziemte es ihm nicht die Formen der Regierung zu ändern: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist" (Matth. 22, 21). Wohl galt es, um ihn herum Laster zu verdammen und politischen Druck oder soziale Ungerechtigkeit zu heben; aber Jesus stürzt sich nicht in diese sozialen Streitfragen seiner Zeit. Mit eigentümlicher Ruhe geht er durch sie hindurch; er steht ihnen nicht gleichgültig gegenüber; sondern er hat sein Auge fest auf ein Endziel gerichtet, in dem alle diese sozialen Probleme ihre eigene Lösung finden werden. Die sozialen Fragen begegnen ihm, sozusagen auf seinem Wege, und gelegentlich behandelt er sie, doch ohne System. Zuweilen, wenn ihm eine solche Frage entgegentritt, wendet er sich nicht ihr, sondern dem geistigen Motiv zu, das der sozialen Frage zu Grunde liegt. Er wird aufgefordert die spezielle Frage über die Erbschaft zu behandeln, und er beantwortet die weit größere Frage von der Liebe zum Gelder „Sehet zu und hütet euch vor dem Geiz" (Luk. 12, 15). Kurz, Jesus will durch das Verlangen nach sozialer Lehre nicht von seiner besondern Botschaft der geistigen Ermunterung, die er zu bringen berufen ist, abgezogen werden. Die praktische Wissenschaft macht viele Prozesse durch, in denen gewisse Ergebnisse erlangt werden, die als Nebenprodukte bekannt sind; sie werden meistens auf dem Wege, der zu dem erwünschten Endziel führt, beiseite geworfen oder überholt. Zuweilen sind diese Nebenprodukte von außerordentlichem Wert; aber nichtsdestoweniger werden

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II. Kapitel.

sie nur beiläufig erlangt, und solch ein Nebenprodukt ist die soziale Lehre Jesu. Sie war nicht das Ziel, auf das seine Mission gerichtet war; sie bildete sich nur während er jene Mission erfüllte. Wollte man die Evangelien in erster Linie als ein Programm sozialer Reform aufstellen, so hieße das, das Nebenprodukt für die Hauptsache nehmen, und indem man sich von dem Wunsche treiben ließe, für Jesus in der modernen Welt einen Platz zu finden, würde man das verwirken, was ihm einen Platz sichert für alle Zeit 8 ). Die Lehre Jesu enthält noch einen charakteristischen Zug, der im Hinblick auf die soziale Frage von großer Bedeutung ist. Es ist die Gelegentlichkeit derselben. Jesus schafft kein System. Er betrachtet jeden Fall für sich. Er posiert nicht bei jeder Wendung, als wenn die Zukunft seinen Worten lauschte. Er gibt sich mit voller Uneigennützigkeit jeder einzelnen Person, jeder besonderen Gruppe, jedem einzelnen vorliegenden Falle hin. „Jesus," sagt Wendt, „war nicht wissenschaftlicher Lehrer, sondern volkstümlicher Prediger. Er gab insbesondere seine praktischen Forderungen nicht in abstrakter Form und systematischer Ausführung. Er schnitt sie speziell auf die Menschen zu, mit denen er gerade zu tun hatte, auf ihre konkreten Verhältnisse und Bedürfnisse . . . . ohne gleich mit wissenschaftlicher Vorsicht Einschränkungen und Vorbehalte hinzuzufügen, die unter modernen Verhältnissen von andern Gesichtspunkten aus in Betracht kommen konnten" s). Kurz, Jesus denkt vor allem an den einzelnen Menschen. Er hält immer die Persönlichkeit hoch; das ist der erste Impuls für seineWorte und Werke. Der Hirte verläßt die neun und neunzig Schafe, um das eine zu suchen, das verloren ist (Matth. 18, 12). Die Frau kehrt das Haus, um den einen Groschen zu finden (Luk.

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15, 8). Wie der Duft der Rose entsteigt, so gehen aus der Rede Jesu allgemeine Grundsätze hervor; aber die Quelle dieses Duftes finden wir in der besondern Blüte, die sich uns in seinen Worten und Taten erschließt. Die Lehre Jesu, die also fragmentarisch ist, widerspricht sich oft in ihren Einzelheiten. Wenn wir dem Buchstaben nach den Befehlen Jesu Folge leisten, sehen wir uns sofort in Widersprüche und Ungereimtheiten verwickelt. Bekennen wir uns zu der Lehre Jesu niemandem Widerstand zu leisten: „Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den andern auch dar" (Luk. 6, 29), so hören wir gar bald diesen selben Verkünder des Friedens seinen Freunden befehlen, ihre Kleider zu verkaufen „und kaufe ein Schwert" (Luk. 22, 36). Im Vereine mit dem modernen Agitator wird der leidenschaftliche Tadel Jesu: „Wehe euch Reichen" wiederholt, und blicken wir uns weiter um, so sehen wir denselben Jesus dem jungen Manne begegnen, der große Reichtümer besitzt und wir sehen, daß er ihn lieb hat. Er schlägt ihm vor, allen Luxus, allen häuslichen Frieden aufzugeben, um dem zu folgen, der nicht hat, da er sein Haupt hinlege (Matth. 8, 20); und dann sehen wir denselben Jesus fröhlich an Hochzeitsfestlichkeiten (Joh. 2, 2) und dem Frieden einer behaglichen Häuslichkeit teilnehmen (Joh. 9, 6). Um Jesu Lehre zu deuten ist also mehr nötig als der gute Wille. Das Studium der Evangelien verlangt Vernunft. Nichts hindert uns in der Tat mehr, den Geist des Neuen Testaments zu erfassen wie dieses Festhalten am Buchstaben. Die wahre Deutung desselben beruht darauf, aus den losgelösten Aussprüchen die geistige Haltung des Lehrers zu erkennen. Jesus selbst gab wiederholt zu, daß er ein solches Nachdenken von seinen Jüngern verlange. „Wer Ohren hat zu hören" (Mark. 4, 9) sagt er, „könne seine

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Lehre aufnehmen; andern aber sei es nicht gegeben, sie zu verstehen." Hierin gleicht er dem Künstler, der die Schönheit nicht erörtert, sie aber in Farbe und Form zu Tage treten läßt, und es denen, die da hören und sehen können, anheim stellt, sie zu würdigen. E r schleudert seine Wahrheit in die Welt f ü r die, die sie aufnehmen können. „Gehet hin," sagt er zu denen, die nach seiner Lehre fragen, „und verkündiget Johannes, -was ihr gesehen und gehöret habt" (Luk. 7, 22). Durch Jesu Belehrung in solch besondern Fällen wurde der Geist der Jünger geschult, und dadurch lernten sie andere vorkommende Fälle deuten und beurteilen. Wie Jesus denen verheißen hat, die ihm folgten, so geschieht es: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten" (Joh. 16, 13). Die Aufgabe also, um die es sich sowohl f ü r einen Hörer Jesu damaliger Zeit als f ü r einen jetzigen Forscher handelt, ist — die Lehre Jesu im Lichte jener besondern Verhältnisse und Veranlassungen aufzunehmen, die ihm den Antrieb gaben, und daraus die allgemeinen Grundsätze zu folgern, die diese Lehre enthält. Denn wie Wendt wieder bemerkt, „in vielen einzelnen Fällen, wo bei isolierter Betrachtung der überlieferten Worte Jesu verschiedene Deutungen möglich scheinen, können wir vermöge einer Kenntnis seiner in zahlreichen anderen Fällen zu beobachtende Lehrweise zu einer sicheren Entscheidung für die eine dieser Deutungen gelangen 1 )." Das Studium der Rechte ist kürzlich durch die Einführung der sogenannten praktischen Übungen in großem Maßstabe umgewandelt worden. Anstatt der Vorlesungen über die fundamentalen Grundsätze der Jurisprudenz stellt man dem Lernenden nun einzelne wahre Fälle gegenüber, und aus der genauen P r ü f u n g der Ähnlichkeiten und Ver-

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schiedenheiten derselben darf er wagen, die allgemeinen Grundsätze abzuleiten, die sie zusammen illustrieren. In ungefähr derselben Weise werden uns Jesu Prinzipien mitgeteilt. Sie werden uns nicht in einem philosophischen System enthüllt, sondern sie sind in die Behandlung einzelner Fälle eingeschlossen, und der beobachtende Gelehrte fühlt, daß gerade diese Gelegentlichkeit von Jesu Lehre ihr dauernd Frische, Lebensfähigkeit und Kraft gibt"). Es sind zwei charakteristische Züge des Evangeliums, die anscheinend seine soziale Lehre bis zu einem gewissen Grade verdunkeln, — die Unterordnung der sozialen Probleme und die Beschränkung der Lehre Jesu auf ganz spezielle Beispiele und Gelegenheiten. Jesus spricht zumeist von Gott und zumeist zum einzelnen Menschen. Wir sind also anscheinend auf einem Irrwege, wenn wir von vornherein eine klare und deutliche Lehre betreffs der sozialen Welt von Jesus erwarten. Wenn Jesus sich nicht in erster Linie der sozialen Frage widmete und wenn seine Lehre anstatt systematisch und allgemein hauptsächlich persönlich und gelegentlich war, muß es da nicht schwer sein, daraus allgemeine Grundsätze zu folgern, die für die Probleme des modernen sozialen Lebens maßgebend sind? Im Gegenteil, wir müssen bekennen, daß gerade diese beiden charakteristischen Züge, Jesu Beziehung zu Gott und seine Beziehung zum einzelnen Menschen, die Erhabenheit seines Theismus und die Genauigkeit seiner gelegentlichen Lehre es sind, die uns bei näherer Beobachtung die sozialen Grundsätze der Lehre Jesu erschließen. Jesu ruhige, geistige Erhabenheit über die sozialen Streitfragen seiner Zeit hinaus gibt ihm einerseits Weisheit und Einsicht in diese; denn nur der wird die Dinge wahrhaft sehen, der um sie herum und über sie hinaus blickt. Tiefe Weisheit erfordert einen großen, geistigen Peabody, Jesus Christus und die soziale Frage. " •>

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II. Kapitel.

Horizont. "Wer sich aber mit Einzelheiten beschäftigt, wird oft so sehr von ihnen eingeschlossen, daß sie seine Anschauung mehr einengen als erweitern. Ein weiser Arzt teilt nicht die Erregung und den Kummer des Kranken, den der einzelne Fall mit sich bringt, sondern er hilft ihm am besten dadurch, daß er sich von diesem frei macht und den Einzelfall mit der Ruhe und Selbstbeherrschung eines weitern Blickes prüft. Ein weiser General stürzt sich nicht in den Pulverdampf der Schlacht, sondern er stellt sich etwas entfernt auf einen erhöhten Punkt, von dem er das Ganze überschauen und leiten kann. Ein weiser Ratgeber steht über der Streitfrage, die er beurteilen soll und sieht sie in der Perspektive einer großen Erfahrung. Die größte Weisheit in Sachen des praktischen Lebens ward zuweilen den unweltlichsten Menschen verliehen. Sie schauen in das Leben hinein, indem sie über dasselbe hinaus schauen, und die Geschäftsleute suchen sich solche Ratgeber, da der Horizont, den ihr Urteil umfaßt, so groß ist 6 ). "Weisheit ist jedoch nicht die Eigenschaft, die man gewöhnlich mit dem Leben Jesu verbindet. Seine Herzensgüte leuchtete so hell, daß sein Scharfsinn dadurch oft in den Schatten gestellt und der Beobachtung entzogen wurde. Doch auch bei flüchtigster Berührung mit jener Art, wie er die Fragen behandelt, die man vor ihn brachte, erhalten wir einen tiefen Eindruck von seiner Einsicht, Vorsicht, Fassungskraft und Weisheit. Die Traditionen der Kirche schreiben Jesus eher jede andere Eigenschaft als den Scharfsinn zu. Er ist der Typus von Ergebenheit und Resignation. Die christliche Kunst liebt es, ihm die Züge eines weiblichen, vergeistigten, geduldigen Wesens zu geben, nicht die einer männlichen, herrschenden, starken Persönlichkeit. Er ist das Ideal eines mönchischen, aske-

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tischen Charakters geworden, und viele Menschen würden ihn als klugen Führer in praktischen Dingen kaum in Betracht ziehen. Ein sorgfältigeres Studium der Lehre Jesu führt jedoch zu einem ganz entgegengesetzten Resultat. Jesus war in der Tat ein Mann der Schmerzen; er kannte das Leid; aber er war deshalb nicht weniger ein Mann der Weisheit, 'mit der menschlichen Natur vertraut. Sein gesundes Urteil ist ebenso außergewöhnlich wie sein tiefes Mitgefühl. Die keimende Weisheit des Jesusknaben machte auf die, die ihm begegneten, den tiefsten Eindruck; er „nahm zu an Weisheit und Alter" (Luk. 2, 52). Die ersten Bemerkungen seiner Hörer betrafen seinen Scharfsinn. „Woher kommt Diesem solche Weisheit?« (Matth. 13, 54). Die christliche Kunst und Verehrung hat in Erinnerung der in ihm erfüllten Prophezeiung Jesaia 63, 9: „Wer sie ängstete, der ängstete ihn auch," jene andere Hoffnung auf einen gerechten, urteilenden Führer vergessen, die ebenfalls in ihm erfüllt wurde: „Und die Herrschaft ist auf seiner Schulter und er heißt: Wunderbar, Rat" (Jes. 9, 6), „auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes" (Jes. 11, 2). Das Bild Jesu, das die christliche Kunst jetzt malen sollte, ist das eines männlichen Christus, einer Persönlichkeit, die mit Autorität lehrt und deren weiter Horizont ihr einen umfassenden Blick gibt. Jesus selbst verkündet uns, woher ihm diese Weisheit kam. Seine Absonderung von der Welt, sagte er, gäbe ihm Einsicht in die Dinge der Welt. „Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen" (Joh. 12, 32). Er stand über der Welt, und das gab ihm die Führerschaft in den Dingen dieser Welt; seine religiöse Mission schuf seine soziale Autorität. Am 5*

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Ende seiner Mission verhieß er seinen Jüngern, daß seine dauernden Beziehungen zu dem Leben Gottes ihre Kraft für den sozialen Dienst befruchten würden. „Und wird größere Werke denn diese tun; denn ich gehe zum Vater" (Joh. 14, 12). Man erzählt, daß der fromme Edelmann, Graf Zinzendorf, der die verbannten Mähren in seinem Hause willkommen hieß, als junger Mann das wildeste Pferd aus den Ställen seines Vaters zu reiten verstand; und als man ihm Verwunderung darüber aussprach, wie er zu gleicher Zeit Pietist und Athlet sein könne, antwortete er: „Wem aber irdische Dinge gleichgültig sind, der kann sie auch besser als andere nützen7)." Jesu soziale Lehre zeigte dieselbe Herrschereigenschaft. Anstatt sich in soziale Fragen verstricken zu lassen, ging er mit ruhiger Autorität, ja selbst mit feiner Ironie durch sie hindurch. Sein Wandel war im Himmel; deshalb lag die Welt ihm zu Füßen. Hierin liegt einer der schlagendsten Gegensätze zwischen der Lehrweise Jesu und der der alttestamentlichen Propheten. Diese stürzten sich mitten in den Kampf um nationale Gerechtigkeit hinein; sie ermunterten, ermahnten, tadelten ihr Volk, wenn es schwankte oder zum Unrecht seine Zuflucht nahm. Jesus aber überschaute den Kampf von oben, als einen Zwischenfall in Gottes großem Feldzug; die alten Propheten rangen mit den Wogen der sozialen Bewegung; Jesus wandelte auf ihnen. Der Unterschied bestand nicht so sehr in der sozialen Absicht als in dem sozialen Horizont. Das Werk eines Reformators gilt für sein Zeitalter, das eines Offenbarers gilt für alle Zeiten. Jesu soziale Lehre ist universell, gerade weil sie eine Beigabe ist, die aus seiner Lehre des göttlichen Lebens hervor in die Seele des Menschen geht. Jesus betrachtet die soziale Welt von oben, und jener Gesichts-

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punkt gibt ihm Mut, umfassende Kraft, Vision und Hoffnung. Das andere Merkzeichen der Evangelien, das wir beobachtet haben, ist für die soziale Frage von ähnlicher Bedeutung. Jesus wandte sich in seiner Lehre hauptsächlich einzelnen Fällen und unmittelbar vorliegenden Zielen zu. Nur ein einziges Mal im Anfange seines "Wirkens vor einer auserwählten Gruppe seiner persönlichen Jünger machte er, sozusagen, eine formelle Ankündigung sogenannter allgemeiner Grundsätze (Matth. 5, 7). Er wendet zum großen Teil „das System des Einzelfalles" an; er spricht zu wenigen; er heilt einen Menschen zur Zeit; er läßt seine reichsten Lehren einem einzelnen zukommen; und schließlich, nachdem er seine Lehre einer handvoll einfacher Menschen anvertraut hat, gibt er sein Werk dem Vater zurück in dem seltsamen Gefühl, daß es vollendet sei: „Es ist vollbracht" (Joh. 19, 30), spricht er. „Ich habe vollendet das Werk, das du mir gegeben hast" (Joh. 17, 4). Der Masse gegenüber ist Jesus nicht nur gleichgültig, sondern er scheint durchaus keine Neigung zu haben, sich mit ihr einzulassen. Er schickt die Menge fort; er geht mit seinen auserwählten Jüngern hinauf ins Gebirge (Matth. 17, 1); er zieht sich aus dem Gedränge Jerusalems in das stille Heim zu Bethanien zurück (Joh. 12, 1); über die höchsten Ziele seiner Mission spricht er mit den Zwölfen in einem großen Saal (Luk. 22, 12—28); die Schätze seiner Weisheit erschließt er zur Nachtzeit einem Pharisäer (Joh. 3, 1—21) und einem unempfänglichen Weibe am Brunnen (Joh. 4, 7—29). Was zeigt uns in Bezug auf die soziale Reform diese außergewöhnliche Individualisierung von Jesu Lehre? Sie zeigt uns das Werkzeug, dem er seine Hoffnung für die Welt anvertrauen wollte. Was er zu geben hatte, gab er einzel-

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nen Menschen, damit es durch einzelne Menschen weitergegeben werde. „Gleich wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch" (Joh. 20, 21). Nicht durch äußere Organisation oder Massenbewegung oder durch die Kraft der Menge oder auf einem äußern Wege, sondern durch innere Eingebung, durch die Begeisterung einzelner Menschen, durch die Macht der Persönlichkeit, von innen heraus kam er dem Leben seiner Zeit nahe. Wenn wir an die Uberlieferungen und Hoffnungen seines Volkes denken und an das Gefühl der eigenen Fähigkeit, deren sich Jesus vollkommen bewußt gewesen sein muß, so ist es geradezu überraschend, daß er sich nicht an die Spitze einer Bewegung stellte oder eine Organisation gründete oder seine Lehre auf die Bekehrung der Menge im ganzen richtete. Es kann keine schwierigere Aufgabe der Exegese geben, als aus den Evangelien einen verwaltenden oder organisierenden oder kirchlichen Christus heraus zu finden. Im Gegenteil, Jesu Lehre trägt besonders den Zug von Zurückhaltung und Vertraulichkeit. Zuweilen heißt er seine Hörer schweigen über das, was er gesagt oder getan hat (Matth. 8, 4; Mark. 8, 26; Luk. 5, 14; Matth. 17, 9). Zuweilen erklärt er seinen Freunden allein die Lehre, die andere nicht verstanden haben (Mark. 4, 34). Niemals sonst ist es vorgekommen, daß ein Volksführer sein Werk so ohne System zurück gelassen hat. Das Gefühl, daß Jesu Werk so unvollendet war, brachte seine Freunde in seinen letzten Tagen in hilflose Verwirrung. Sein Leben war das einzige Licht, das ihnen geleuchtet hatte, und als er sagte, daß es ihnen dienlich sei, wenn er sie verließe, da kam es ihnen vor, als wenn ihr Licht erlösche (Joh. 16, 7). „Wir aber hofften," sagten sie, „er solle Israel erlösen" (Luk. 24, 21). Er hatte ihnen keine äußere Form gezeigt, in die ihre Lehre sich kleiden sollte.

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Hatten die Herzen der einzelnen Menschen den Geist der Wahrheit in sich aufgenommen, so traute er ihnen die Fähigkeit zu die Fragen der Form und Organisation selber zu lösen. Anstatt einer Wiedergeburt durch Organisation bietet Jesus uns eine solche durch Inspiration. Er wollte nicht in erster Linie ein soziales System ersinnen; er wollte das Leben des Einzelnen erleuchten. Er gibt uns keine Form; er gibt uns Leben. „Ich bin kommen, daß sie das Leben haben sollen" (Joh. 10, 10). „Die Worte, die ich rede, die sind Geist und sind Leben" (Joh. 6, 63). „Denn ich lebe und ihr sollt auch leben" (Joh. 14, 19). Das Verleihen der Lebenskraft, der Einfluß der Persönlichkeit, die Übertragung des Charakters, — das sind die Ziele, die er erstrebt und die uns erreichbar sind durch jene Individualisierung der Lehre, die sein Wirken kennzeichnet. Phillips Brooks sagte einst: „Jesus war nicht in erster Linie der Vollbringer großer Taten oder der Verkünder großer Worte, sondern er war der Spender des Lebens8)." Jesus sagt selber von sich und seiner Lehre, daß sie mit dem einzelnen Menschen beginnt. Für sie, sagt er, organisiere ich nicht in erster Linie ein Gemeinschaftsleben oder verkünde einen Erlösungsplan, nein zu allererst „heilige ich mich selbst" (Joh. 17,19). Also überblickt Jesus das Leben nicht nur von oben, sondern er nähert sich ihm von innen. Diese beiden Eigenschaften indes, soziale Weisheit und soziale Kraft sind nicht die einzigen Prinzipien, die die soziale Lehre Jesu beherrschen. Im Gegenteil, sie führen nur ein in seine hervorragendsten und wesentlichsten sozialen Prinzipien. Uber dem Gesichtspunkte, von dem aus Jesus die Welt überschaut und über dem Werkzeug, dem er seine Arbeit für die Welt anvertraut, steht sein Ideal für die Welt — ein soziales Ideal, dessen Bedeutung und Tragweite man sich nur klar

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machen kann, wenn man vorher erkannt hat, daß Jesus das Leben von oben überschaut und sich ihm von innen nähert. Dieses soziale Ideal, das dem Geiste Jesu beständig und lebhaft gegenwärtig ist, ist in den Worten zusammengefaßt, die mehr als hundert Mal in den ersten drei Evangelien vorkommen — das „Himmelreich" oder das „Reich Gottes"9). Vom Beginn seines Wirkens bis zum Ende ist das der Gegenstand von Jesu Prophezeiung, Gleichnis und Gebet. „Jesus," so beginnt das Evangelium Markus, „kam von Galiläa und predigte das Evangelium vom Reiche Gottes und sprach: ,Die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbeigekommen'" (Mark. 1, 14. 15). Das Himmelreich war das eine ersehnte Ziel; es war die köstliche, wertvolle Perle, um derentwillen alles übrige verkauft werden konnte (Matth. 13,46); es war der Groschen, nach dem das Haus fleißig gekehrt wurde (Luk. 15, 8); es sollte für die Nachfolger Jesu der Gegenstand täglichen Gebetes sein: „Dein Reich komme!" (Matth. 8, 10). Diese Worte scheinen uns beim oberflächlichen Betrachten oft dunkel und in den verschiedenen Textstellen auch von unvereinbarer Bedeutung zu sein. Bald wird das Reich als ein gegenwärtiges, bald als ein zukünftiges geschildert, bald als innerlich und bald als äußerlich. Einmal erscheint es uns wie eine ferne, herrliche Vollendung der Herrschaft des Messias am letzten Tage: „Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes im Himmel. Und alsdann werden alle Geschlechter auf Erden . . . sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit" (Matth. 24, 30). Dann ist es wiederum nicht fern und überirdisch, sondern nahe und von dieser Welt. „Es stehen etliche hie, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen" (Mark. 9,1). Es ist eine stille,

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geistige, innerliche Gegenwart. „Das Reich. Gottes kommt nicht mit äußerlichen Geberden. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hie oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch" (Luk. 17, 20—21). Ist es möglich, diese anscheinend unvereinbaren, einander widersprechenden Anschauungen vom Reiche Gottes in einer Lehre zu vereinigen? 10 ) Zuerst müssen wir uns, um gewisse Schwierigkeiten der Auslegung zu vermeiden, die Verhältnisse ins Gedächtnis zurückrufen, unter denen Jesu Lehre gegeben wurde. Seinen Hörern war jener Begriff vertraut. Er enthielt für sie die Erfüllung ihrer nationalen Hoffnungen und ihrer messianischen Träume 11 ) (Ex. 19, 6; Dan. 2, 44). Den Israeliten selbst aber war er zu einer verworrenen, schwankenden Idee geworden. Bald meinten sie den Plan zu nationaler Befreiung in ihnen offenbart zu sehen, bald die Verwirklichung eines religiösen Traumes von der Herrlichkeit des Messias. Selbst denen, die nach dem Reiche Gottes ausblickten und sich nach ihm sehnten, waren diese Worte nicht zu einer klar definierten und bestimmten Hoffnung geworden. Jesus aber greift nach diesem biegsamen Ausdruck, der der Vergeistigung fähig ist, um seine Mission uns klarzulegen. Er weiß, daß seine Auffassung vom Reiche Gottes nicht die unter dem Volke gangbare ist; aber er gebraucht die einzige Redewendung, die seiner Lehre angemessen ist in dem Glauben, daß das Reich, von dem er spricht, in keinem Gegensatz zur nationalen Hoffnung steht, sondern vielmehr in Wirklichkeit die innere Wahrheit jenes nationalen Ideals darstellt. E i n e r Mißdeutung seiner Botschaft jedoch tritt er bestimmt entgegen. Das Reich, das er verkündet, soll sicherlich nicht jene Form einer politischen Restauration annehmen, zu der viele seiner Zeitgenossen ihr soziales

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Ideal erniedrigt hatten. Die Segnungen jenes Reiches erfüllen sich nicht an den Großen und Mächtigen, sondern an denen, die bescheiden zum Wohle anderer wirken: „"Wer nun sich selbst erniedriget wie dieses Kind, der ist der G-rößeste im Himmelreich (Matth. 18, 4). „Welcher will groß werden unter euch, der soll euer Diener sein" (Mark. 10, 43). „Mein Reich," so sagt er ausdrücklich, „ist nicht von dieser Welt" (Joh. 18, 36). Und dann wieder: „Sehet euch vor vor dem Sauerteig der Pharisäer und vor dem Sauerteig des Herodes" (Mark. 8, 15). Das will sagen: Hütet euch vor dem Streben nach politischer Obergewalt und nach Partei-Ordnung12). Eine andere Vorstellung vom Himmelreich, die zu Jesu Zeit herrschend war, können wir nicht so leicht übergehen. Es ist die apokalyptische Vollendung der Messianischen Herrschaft, — eine Anschauung, die in der derzeitigen jüdischen Literatur deutlich zu Tage tritt und die tief in die Evangeliengeschichte eingedrungen ist. Deshalb hat man mit Geist und Geschick die Meinung aufrecht erhalten18), daß Jesus mit seiner Zeit und seinem Volke jene eschatologischen Ideale teile, und daß der Schlüssel zu seiner Lehre vom Reiche Gottes nicht in seinen mehr vergeistigten Aussprüchen zu suchen wäre, sondern in den apokalyptischen Äußerungen und Prophezeiungen der Evangelien. Es gibt unzweifelhaft viele Stellen, die dieser Anschauung Glauben verleihen, und die Methode der neutestamentlichen Kritiker, die die Lehre Jesu in ihrer Beziehung zu den vorhergehenden Überlieferungen und Idealen des jüdischen Glaubens deuten, hat uns vieles klar gemacht und ist sehr fruchtbar gewesen. Es ist jedoch schwer die geistigen Aussprüche in Jesu Lehre jenen Hoffnungen der Juden unterzuordnen. Während wir in der Auslegung eine Schwierigkeit weg-

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räumen, drängt sich eine andere ein. Wenn Jesu Geist sich vornehmlich mit einem apokalyptischen Reich beschäftigt hätte, wie konnte er uns dann auf ein Reich verweisen, das „inwendig" wäre. Wollten wir glauben, daß die geistige und ethische Lehre vom „Reich" von Jesu Nachfolgern der Anschauung aufgepfropft wäre, die er selber hatte, so stände das im Widerspruch zu allem, was uns im Evangelium von wahren Beziehungen zwischen Jesus und seinen Jüngern gesagt ist. Matthew Arnolds bekannter Ausspruch: „Jesus über den Häuptern seiner Berichterstatter" ist einer der gesundesten in der Auslegung des Neuen Testamentes. Je durchgeistigter und ethischer eine Lehre ist, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie von des Meisters Lippen gekommen ist. Wollen wir also die apokalyptischen Stellen überhaupt für echt halten, so darf das zum mindesten nur in Verbindung mit jener andern Form der Verkündigung geschehen, in der das Reich als eine geistige Wahrheit bezeichnet wird, die uns schon jetzt gegenwärtig ist. „Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet" (Luk. 10, 23). „So ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen" (Matth. 12, 28)14). Wie sollen wir uns nun die Verwandtschaft erklären zwischen einem Reich, das uns gegenwärtig und einem Reich, das uns einst in einer himmlischen Welt erwartet? Drei Möglichkeiten haben ernste Erwägung gefunden. Erstens könnten wir im Gegensatz zu der vorher geäußerten Auffassung annehmen, daß die apokalyptischen Stellen hinzugetan sind und daß sie weniger den Geist des Meisters darstellen als die aus der jüdischen Uberlieferung stammenden Gedanken der Jünger 15 ). Eine solche Schlußfolgerung jedoch würde für den Kritiker die letzte Zuflucht sein. Es ist in der Tat glaublich, daß mancher Ausspruch Jesu eine lebhaftere Färbung be-

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kommen hat durch den Bericht der Evangelisten, die tief in die apokalyptische Literatur getaucht waren; wollte man aber aus der Uberlieferung jede Vorempfindung einer zukünftigen Vollendung auf seiten Jesu streichen, so hieße das ohne weitere Ursache einen großen Teil der Geschichte verwerfen. Eine zweite Möglichkeit, die Beachtung verdient, ist, daß Jesu Gedanke selber sich während seiner Lehrtätigkeit allmählich weiter entwickelte und von der Anschauung eines äußeren zu der eines geistigen Reiches überging, und während er anfangs das populäre Ideal eines Messias teilte und ein Reich verkündete, das in den "Wolken des Himmels erscheinen sollte, es ihm allmählich bewußt wurde, daß eine solche Vollendung nicht eintreten würde, daß dagegen das wahre Reich, noch während er es lehrte, sich geistig im Herzen derer verwirklichen würde, die ihn aufnahmen16). Allein auch bei dieser Anschauung stoßen wir auf große Schwierigkeiten. Es finden in der Tat sich Anzeichen dafür, daß während Jesu Lehrtätigkeit fortschreitet, ihm selber die Bedeutung und das Ziel seiner Lehre klarer und zwingender wird. Die Hoffnung, bei seinem Volke Aufnahme zu finden, mit der er unzweifelhaft begann, erwies sich als eitel; das Kreuz enthüllte sich ihm als unvermeidliches Ende und schließlich, so lesen wir, „wendete er sein Angesicht stracks nach Jerusalem zu wandeln" (Luk. 9, 51). Anderseits aber lassen die engen Grenzen, die seiner Tätigkeit gezogen waren, wenig Raum für radikalen Umbau seiner Gedanken in Bezug auf das Himmelreich. Seine ersten Lehren bezeugen in der Tat ebenso vollkommen ihre geistige Natur wie seine späteren Aussprüche. Was man bei ihm Versuchung genannt hat, war das wohlerwogene Fortschieben materieller Beweismittel und Anerkennungen. Es liegt viel näher, die

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wachsende Vergeistigung seiner Rede auf die allmähliche Einführung der Jünger in eine tiefere Anschauung zurück zu führen alsauf eine zunehmende Erleuchtung seines eigenen Geistes. Viele Anzeichen sprechen in der Tat für eine Vertiefung und Vergeistigung der Idee des „Reiches"; aber diese waren weniger bei Jesus als bei seinen Hörern und Nachfolgern zu finden. Zuerst mag es ihnen schwer geworden sein zu verstehen, daß Jesus einem alten Ausspruch eine neue Bedeutung gab; seine kühne Benutzung der herkömmlichen Sprache mag von ihnen aufgenommen sein, wie sie noch heute von vielen Gelehrten aufgenommen wird. Allmählich aber, als einer nach dem andern sich den Eindruck von Jesu Lehre zurückrief, mag ihnen die tiefere Bedeutung aufgegangen sein, die sie zuerst übersehen hatten, bis sich schließlich sogar das "Wort vom „Reiche Gottes" im vierten Evangelium in die weitere Vorstellung vom „Leben" vom „ewigen Leben" auflöst. Dies allmählich dämmernde Bewußtsein von der inneren Bedeutung, die Jesu Lehre enthielt, scheint in Pauli Geist seine höchste Vollendung zu finden. Für ihn ist dio geistige Bedeutung die einzige, die er anerkennt. „Das Reich Gottes," sagt er ohne Beschränkung, „ist Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist" (Rom. 14, 17). Wir kommen also zu dem offenbar widersinnigen Schluß, daß das Reich Gottes in Jesu Augen zwei Bedeutungen hatte, die eines zukünftigen und gegenwärtigen Zustandes und die einer himmlischen und irdischen Gesellschaft. Diese anscheinende Paradoxie verschwindet aber, wenn wir die Idee vom Himmelreich im Lichte jener beiden Grundgedanken betrachten. "Wie wir gesehen haben, schaut Jesus die Welt von oben an. In ihr erkennt er das Leben Gottes, das sich in den Seelen der Menschen be-

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wegt. Wo immer im Menschenleben dieser Geist Gottes willkommen geheißen wird, da ist unmittelbar ohne Aufsehen und doch sicher das Reich Gottes schon erschienen, und wenn jener Geist schließlich die ganze Welt durchdringt, dann wird das Resultat eine soziale Zukunft sein, die zu beschreiben keine Sprache reich genug ist. Darin liegt kein Widerspruch und keine Unklarheit der Gedanken. Jesu Geist umfaßt beides, das was ist und das, was sein wird, die gegenwärtige innere Kraft des Reiches und seine zukünftige Verwirklichung. Darin liegt die Bedeutung des Gleichnisses vom Sauerteig und vom Senfsamen. Das Wesen des Reiches liegt gerade in der Fähigkeit sich ausdehnen zu können. Es lebt ebenso sehr im Samen wie im Baum; es ist in der zukünftigen Herrlichkeit nicht weniger wirklich als in dem jetzigen Samen. Es ist im Sauerteig verborgen; aber deshalb wird es sich in der Masse nicht weniger augenscheinlich offenbaren. Jesu Christi soziales Ideal läßt sich nur durch sein religiöses Bewußtsein deuten. Er schaut von oben auf das Menschenleben und sieht, wie es durch das Leben Gottes langsam gestaltet und gereinigt wird, er blickt mit transzendenter, nie schwankender Hoffnung auf die Zukunft der menschlichen Gesellschaft. Das Himmelreich lebt schon in den Plänen Gottes, und wenn Gottes Wille auf Erden geschieht, dann wird sein Reich, das jetzt geistig und innerlich ist, sichtbar werden und auf Erden herrschen wie im Himmel17). Anderseits naht sich Jesus dem Leben von innen durch die Begeisterung des einzelnen Menschen. Als die Jünger Jesus fragten: „Wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft?" (Matth. 24, 3) antwortete er ihnen, „daß das Reich nicht durch äußere Gewalt oder soziale Organisation oder apokalyp-

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tische Träume kommen würde, sondern durch die fortschreitende Heiligung einzelner menschlicher Seelen18)." Und fragen wir wiederum nach dem Grunde jener persönlichen Heiligung, so finden wir ihn nach der Lehre Jesu in dem Gedanken an das Reich Gottes. Einerseits ist das Himmelreich ein sich immer weiter entwickelnder Vorgang sozialer Gerechtigkeit, der durch einzelne Menschen vollbracht werden soll; anderseits spornt der Gedanke, das Reich Gottes herbeiführen zu können, den einzelnen Menschen zu einem bessern Leben an. So wachsen das Individuum und das Himmelreich in eins zusammen. Das Individuum entdeckt sich erst in der sozialen Ordnung, und die soziale Ordnung wartet wie jene ganze Kreatur, von der Paulus schreibt, auf die Offenbarung der Söhne Gottes (Rom. 8, 19). In andrer und modernerer Sprache würde die soziale Lehre Jesu also lauten, — die soziale Ordnung ist kein Produkt des Mechanismus sondern der Persönlichkeit, und eine Persönlichkeit bildet sich nur in der sozialen Ordnung. Jesu Sozial - Philosophie ist also nur ein anderer Ausweis seiner Religions - Philosophie. Als Lehrer der Religion sagt Jesus, daß sich das Leben des Menschen erst entdeckt im Dienste Gottes. Der Sohn schlägt in sich und spricht: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen" (Luk. 15, 18). Mit dem Gefühl der Abhängigkeit, um mit Schleiermacher zu sprechen, beginnt sein religiöses Leben. Religion ist Befreiung von der Welt durch die Abhängigkeit von dem, „dessen Dienst", so heißt es in den schönen Worten des englischen Gebetbuches, „vollkommene Freiheit ist"19). Derselbe geistige Vorgang läßt sich in Jesu sozialer Lehre verfolgen. Der einzelne Mensch ist wieder der Ausgangspunkt; aber er findet seine Selbstverwirklichung nur im Dienste der so-

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zialen Welt. Wie gesagt worden: „Wahre Individualität wird nur in einer vollständig organisierten Gesellschaft gefunden und eine würdige Gesellschaft nur in dem vollkommen entwickelten einzelnen Menschen"20). Wie eine Insel in dem größeren Meer des religiösen Lebens, so ruht die Welt der sozialen Ethik in dem Geiste Jesu. Ob man nun das Feld seiner Insel bestellt, oder ob man aus dem Hafen ausläuft um größern Abenteuern auf der See zu begegnen, stets wird man von demselben Prinzip des Dienstes geleitet. Sollen wir nun Jesus einen Individualisten nennen, oder sollen wir sagen, daß er in irgend einem Sinne des Wortes Sozialist war? War sein Geist auf persönliche Erziehung oder auf soziale Reform gerichtet? Wir müssen erwidern, daß seine Lehrart einen solchen Streit zwischen geistigem Leben und sozialer Wohlfahrt gar nicht zuläßt. Für ihn ist das eine Mittel, das andere Ziel. Das erste Wort seiner Lehre heißt Charakter, das zweite heißt Liebe. Der Liebe ward das Losungswort „für sie"; dem Charakter ward der Befehl „heilige dich selbst"; und das christlich soziale Gesetz wird in dem ganzen Ausspruch Jesu erfüllt: „Ich heilige mich selbst für sie" (Joh. 17, 19). Dies scheinen in ihren allgemeinen Umrissen die sozialen Grundgedanken von Jesu Lehre zu sein — der Blick von oben, die Annäherung von innen und das Streben nach einem geistigen Ziel, Weisheit, Persönlichkeit und Idealismus, ein sozialer Horizont, soziale Kraft und soziales Ziel. Die erhabene Wahrheit, daß es Gottes Welt ist, verlieh dem Geiste Jesu jenen sozialen Optimismus; die Gewißheit, daß der Mensch Gottes Werkzeug ist, veranlaßte ihn zu der Methode des sozialen Opportunismus; der Glaube, daß Gottes Kinder in Gottes Welt das Reich Gottes herbeiführen sollen, gab ihm jenen sozialen

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Idealismus. Mit dem Blick unverschleierten, religiösen Glaubens schaut er auf die kämpfende, verworrene, sündige Welt und nimmt in ihr den Grundgedanken wahr, daß die Persönlichkeit im sozialen Dienst den Willen Gottes erfüllt. Spätere Kapitel werden zeigen, wie jene sozialen Grundsätze im einzelnen auf die speziellen sozialen Probleme der modernen Welt angewandt werden können. Augenblicklich genügt es, im voraus die allgemeine Wirkung festzustellen, die sie auf unsere ganze Anschauung vom sozialen Leben haben können. Wahrscheinlich hat es in der Weltgeschichte niemals ein Zeitalter gegeben, das so wie unsre Zeit im stände war, die Grundgedanken zu würdigen, die wir unter den Worten und Taten Jesu Christi entdecken. Die soziale Frage ist, wie wir im Anfang sahen, von so großem Interesse, daß sie uns alle umschließt und alle in Anspruch nimmt. Selbst die, die nicht anerkennen wollen, daß sie von ihr berührt werden, sind nichtsdestoweniger in sie verwickelt. In der Tat ist die Gleichgültigkeit und Neutralität im modernen sozialen Leben eines der drohendsten Elemente der modernen sozialen Frage. Diejenigen dagegen, die die gegenwärtige Lage klar erkennen, werden oft von ihr bedrückt und verwirrt. Einige von ihnen werden eingeschlossen von der Menge der Einzelheiten, die die soziale Pflicht umfaßt. Ihre spezielle Arbeit ist im besten Falle nur ein Bruchstück, und sie wundern sich oft darüber, wie es in der ganzen Bewegung des sozialen Fortschrittes Platz haben kann. Zu Zeiten scheint es ihnen, als wenn sie mehr schadeten als nützten, und als wenn es besser wäre, nichts zu tun. Sie gleichen den Detachements eines Heeres, die als Plänkler kämpfen, ohne zu wissen, welche Rolle ihr Dienst im Plane des Generals spielt. Sie werden bedrückt von einem P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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Gefühl der Unfähigkeit. Sie sehen, daß die jetzt gangbare Philosophie in der Gesellschaft eine Philosophie des Materialismus ist. Für diese sind die wirtschaftlichen Probleme die Hauptsache; ihrer Lehre nach geht der Wiederaufbau der Gesellschaft von unten aus vor sich, und die Ideale eines Zeitalters sind nur die Zugabe zur industriellen Ordnung. Für solche Beobachter führt die soziale Frage eine neue "Woge von sozialem Pessimismus mit sich, als wenn die Probleme der modernen Gesellschaft zu verwirrend und Unglück verheißend wären, um dem Mut und der Hoffnung Boden zu gewähren. Solch einem eingeengten, schwachherzigen Geist, der sich vergebens bemüht das Leben von unten zu deuten, wird die Lehre Jesu mit ihren sozialen Grundsätzen geboten. An erster Stelle gibt Jesus einen neuen Gesichtspunkt, den Gesichtspunkt von oben, den Sinn für einen Horizont, die Fähigkeit großer Fassungskraft und Weisheit. Leidenschaftlicher Tatendurst, schöne Selbstaufopferung und unwillige Entrüstung, alles dieses drängt sich heutzutage im Überfluß zum sozialen Dienst; aber wie sehr mangelt es uns an einer weiten Auffassung, an sozialem Mut, an gerechtem, beständigem Optimismus. Wie sollen diese Eigenschaften die Engherzigkeit und Erbitterung verdrängen, die die soziale Hoffnung jetzt als utopischen Traum erscheinen lassen? Man soll, sagt Jesus, den Geist einer verständigen Religion auf die soziale Frage wirken lassen. Was dem modernen Reformator not tut, ist die Fähigkeit, über die Grenzen seiner besondern Arbeit hinauszublicken und ihre Beziehungen, Ursachen und Wirkungen als teilweise Bewegung eines göttlichen Planes zu erkennen. Nichts könnte der Lehre Jesu mehr widersprechen als die allgemein gewordene Vorstellung, daß sie die Aufmerksamkeit von dieser Welt abzöge und auf eine

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andere lenke. Jesu "Wirken galt ebenso sehr dieser wie jener Welt. „Dein Reich komme," betet er, „auf Erden". Aber der Gesichtspunkt ist es, der die Szene verändert. Von der Spitze des Hügels aus kann man die Landschaft besser erforschen als von unten aus dem Gestrüpp. Der General, der etwas von der Schlacht entfernt steht, übersieht sie vollständiger als die Unteroffiziere und Gemeinen, die mitten im Pulverdampf sind. Gerade dieses, die geistige Gemeinschaft mit dem Leben Gottes gibt Jesus einen Überblick und eine Hoffnung für die unter ihm liegende Welt. Er blickt von oben auf das Leben; und dessen Verwirrung und Streit lösen sich auf in Ordnung und offenbaren ihren Zweck als Teil von den größeren Absichten des Vaters. Er schaut über die Spaltungen des sozialen Provinzialismus hinüber und sieht die Ausdehnung und Einheit der Welt. Wenn wir nun gleich vielen Reformatoren fragten: „Welchen Anteil hat die Religion an diesen praktischen Dingen? Was berechtigt uns, in unsrer großherzigen Tätigkeit inne zu halten und das Leben in Jesu Geist zu betrachten?" so würde die erste, wenn auch nicht vollständige Antwort lauten — daß gerade die Fähigkeit sich abzusondern und die praktischen Dinge vom religiösen Gesichtspunkt aus zu betrachten, der praktischen Tätigkeit am meisten Geduld, umfassende Kraft und Weisheit verleiht. Die spezielle Schwäche der modernen sozialen Tätigkeit ist gerade der plötzliche Antrieb, die Unbeständigkeit, das geteilte Interesse, die Begeisterung für Einzelheiten. Was der philanthropischen Tätigkeit und der Reform der Industrie not tut, ist der weitere Horizont, den der Blick von oben gewährt. Jesus heilt den mondsüchtigen Knaben um so freudiger und sicherer, weil er gerade auf dem Berge der Verklärung gewesen 6"

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ist (Matth. 17, 15—18). Dasselbe trifft bei manchem hingebenden und überbürdeten, modernen Leben zu, wenn es sich den sozialen Schäden seiner Zeit zuwendet und sie zu heilen versucht. Geduld und Mut, die allein in verständiger "Weise Erleichterung gewähren, entspringen daraus, daß das Leben des Menschen vorher durch die Gemeinschaft mit Gott verklärt worden ist. Würde man einen modernen Menschen auffordern, die Bedeutung und Nutzbarkeit seiner religiösen Erfahrungen zu definieren, so würde er wenig mehr zu sagen haben als: Mein Glaube an Gott macht mich fähig meine Arbeit zu tun. Er erlöst mich aus Enge und Hoffnungslosigkeit und gibt mir von Tag zu Tag Beharrlichkeit und Mut. Er gibt mir eine große Auffassung meiner Pflicht und hält mich aufrecht, wenn meine augenblicklichen Erfolge erbärmlich klein und unbedeutend sind. Kurz, er steht zwischen mir und überwältigender Müdigkeit oder sozialer Verzweiflung. Der Gerechte lebt noch heute seines Glaubens. Die Anschauung des Lebens von oben gibt uns verständigen Mut für den Dienst des Lebens da unten. Der zweite Zug, den Jesu Lehre zeigt, läßt sich ebenso wohl auf das moderne Leben anwenden. Worin liegt neben der Engherzigkeit noch eine besondere Gefahr für die jetzige soziale Bewegung? Sie liegt ohne Zweifel in ihrer Äußerlichkeit. Wohin wir blicken, sehen wir, daß der Fortschritt gebunden ist an Worte wie „Organisation, Schema, Majorität, soziale Maschinerie". Das industrielle Leben ist allmählich so kompliziert geworden, daß der einzelne Arbeiter wenig mehr ist als ein Rad in einer gewaltigen Maschine. Politische Methoden haben die Funktion der Regierung ungeheuer vergrößert. Das Beamtentum ersetzt mehr und mehr das Verlangen nach persönlicher Initiative, bis schließlich, wie vom deut-

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sehen Militärwesen gesagt worden, jede Anstrengung darauf hinausläuft, den Menschen zur Maschine zu machen. Das Glaubensbekenntnis des wissenschaftlichen Sozialismus ist ganz offenkundig rein äußerlich. I n seinem Programm finden wir kaum ein Wort über die Hebung des Charakters. Es mahnt die Arbeiter nicht Klugheit, Selbstzucht oder Geduld zu üben. Im Gegenteil, jene Eigenschaften, die doch allgemein als Tugenden anerkannt werden, scheinen dem Streben des Arbeiters oft im Wege zu stehen. Man drängt ihn mehr Lohn, mehr Bequemlichkeit, bessere äußere Bedingungen zu fordern und sagt ihm, daß die Umwandlung der äußern industriellen Ordnung aus sich selbst heraus die Fähigkeit entwickeln werde, sie zu benutzen. Auch die Religion läuft ernstlich Gefahr, so sehr organisiert und in äußere Formen gekleidet zu werden, daß sie sich selbst kaum wiedererkennt. Organisation und Ritus, kirchliches Maschinenwesen, Bündnisse und Gemeinschaften — alle jene äußeren Methoden haben einen so erschreckenden Umfang und eine solche Wichtigkeit erlangt, daß es, wie Stevenson bemerkt, eine Hauptpflicht des Christen geworden zu sein scheint „Vereinsmitglied" zu werden, und es wird sogar als ein sichtbares Zeichen christlichen Fortschrittes verkündet, daß nach einer bestimmten Verordnung an einem gewissen Tage einige Millionen vereinter Gläubiger in sechzehn verschiedenen Sprachen zum Thron der Gnade flehen. Was hat Jesus zu dieser wunderbaren Entwicklung des sozialen Maschinenwesens zu sagen? E r gibt keine Direktion und übt keine Kritik. Diese Phase ist in der Entwicklung der Gesellschaft ebenso unvermeidlich, wie sie vielleicht bewundernswert ist. Die Methoden der Großindustrie bringen ebenso wohl einen Wandel in den Gebräuchen der Kirche hervor, wie sie auch die Geschäftswelt

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umgewandelt haben. Alle diese Dinge liegen außerhalb der Sphäre, der Jesu Lehre umfaßt. Jesus ist kein sozialer Mechaniker, kein sozialer Organisator. Die Kompliziertheit der modernen "Welt stellt ein Programm äußerer Veranstaltungen auf, das sich Jesu geistigem Auge niemals darstellte, und das ihn, wenn es ihm nahe getreten wäre, wahrscheinlich nicht tief berührt hätte. Jesus indes wendet sich einem anderen Faktor des sozialen Lebens zu, dessen Bedeutung durch den Hang zur Äußerlichkeit ganz verdunkelt wird. Die modernen Lehrer haben gewiß Recht, wenn sie behaupten, daß die Umgebung die Persönlichkeit gestaltet, daß die jetzigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse derart sind, daß es schwer ist, ein gesundes, menschliches Leben zu führen, daß die Reorganisation der Gesellschaft eine zwingende Aufgabe ist, und daß eine solche Verbesserung der Organisation das industrielle Leben stärken kann, wie ja auch der Mut eines einzelnen Soldaten größer ist, wenn er ein wohlgeordnetes Heer in seinem Rücken weiß. Die Lehre Jesu jedoch handelt von dem Menschen, der seine Umgebung gestaltet, von dem Manne, der die Verhältnisse umwandelt, von dem Mute, der in der Einsamkeit genährt wird, und der doch nicht allein ist, weil der Vater bei ihm ist. Kurz, Jesus nähert sich der sozialen Frage von innen; er behandelt die einzelnen Personen; er schafft Männer. Andere mögen der "Welt durch Organisationen dienen; er dient ihr durch Inspiration. Andern bleibe es überlassen uns das zu bieten, was die Theologen den Heilsplan genannt haben; das einzige Heil, das Jesus uns darbietet, kommt durch Erlöser, und Erlöser sind alle, die sich für andere geheiligt haben. Bedeutet das nun, daß Jesu Lehre einer äußeren Reform gleichgültig gegenüber steht und gleich so vielen

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ihrer Anhänger ganz hingenommen wird von einem mystischen Verkehr mit Gott und der Rettung der eigenen Seele? Wußte Jesus nicht, daß es im Leben Verhältnisse geben kann, in denen es beinahe unmöglich ist die eigene Seele zu retten? "Würde er, wenn er das Leben der modernen Welt überblicken könnte, sich für eine solche Verbesserung äußerer Bedingungen nicht interessieren? Würde er erwarten, daß er dort geistige Eingebung bringen könnte, wo zehn Personen, männliche und weibliche in einem Räume hausen, oder wo eine Familie von vier Köpfen von dem Verdienste eines Einzelnen lebt? Ist er ein so schwächlicher Schwärmer, der da glaubt, das Gute werde von innen kommen, ohne daß ihm der Weg von außen bereitet ist? Wir werden bald sehen, wie weit Jesu Lehre entfernt ist von einer solchen Gleichgültigkeit gegen äußere Bedingungen, und wie radikal seine Anweisungen sind, die sich mit dem beschäftigen, was das Leben umgibt. Wenn es Jesu Hauptbestreben ist, das Prinzip der Persönlichkeit zu verkünden, das höhere Leben der Persönlichkeit zu erwecken, die Menschen in sich schlagen zu lassen, dann fehlt seiner Lehre jegliche Daseinsberechtigung für die sozialen Bedingungen, die das individuelle Wachstum, die Gelegenheit, Initiative und den Charakter zu fördern unterlassen. Das alles werden wir beobachten, wenn die Gesichtspunkte der neuen Ordnung der Reihe nach unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Allein das Problem von der besseren sozialen Ordnung enthält immer das Problem von besseren Menschen. „Es gibt keine politische Alchemie," sagt Mr. Spencer, „durch die ihr aus bleiernen Trieben eine goldene Lebensführung gewinnen könnt21)." Es ist vergebens sich einzubilden, daß eine Umwandlung der äußeren Verhältnisse an und für sich einen Wandel des menschlichen Herzens hervor-

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bringt. Tatsache ist, daß gerade außerordentlich günstige Bedingungen zum Ruin des Charakters und zur Lähmung der "Willenskraft führen können, und daß es oft harte und dürftige Verhältnisse sind, -welche „Männer" schaffen. Manche Phase der Zivilisation, in der das Glück sich verschwenderisch über ein Volk ergossen hat, ist schließlich zu einer Zeit politischen oder moralischen Verfalles geworden, während viele der schönsten, kräftigsten und duftendsten Blüten auf einem nackten Felsen gleich dem von Athen gewachsen sind oder in einer unbedeutenden Provinz wie Galiläa. Kurz, die Behandlung der äußern Verhältnisse trifft nur die eine Hälfte der sozialen Frage. Es ist der jetzigen Generation eine große und ehrenvolle Aufgabe gestellt worden, — die Aufgabe die soziale Organisation zu vervollkommnen, den Weg zu ebnen und zu erweitern, auf dem das bessere Leben der Zukunft in die Welt eingehen kann; aber wenn kein besseres Leben kommen sollte, wenn wir nach dem Rufe: „Bereitet, bereitet dem Herrn den "Weg" vergebens auf die Ankunft des Menschensohnes warteten, mit welchem Gefühl von Nichtigkeit und Zwecklosigkeit ständen wir dann da mit unseren Organisationen und Plänen und Komitees, die alle für einen Tag des Triumphes vorbereitet sind, der niemals kommt. In der Tat führt die Kompliziertheit der Organisation eine neue, drohende Gefahr mit sich. "Was soll die Organisation erzielen, wenn sie ein "Werkzeug wird in der Hand ränkesüchtiger Leute? Welchen Gewinn soll uns die Überführung der Industrie in das Eigentum der Gesellschaft bringen, wenn diese Gesellschaft nur ein Spielzeug in der Hand eines „boss" ist! Worin liegt der Erfolg einer tadellosen, mechanischen Ordnung der Liebestätigkeit, wenn sie in den Händen geistloser Beamten

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liegt? Je vollkommener die soziale Maschinerie wird, desto besser müssen ihre Ingenieure erzogen sein. Außere Ordnung verlangt innere Zucht. Jesu Lehre will nicht den ganzen Umkreis der sozialen Frage umfassen. Sie erkennt, daß für die Ordnung der sozialen Verhältnisse jedem neuen Zeitalter ein neues Problem gegeben ist; deshalb will sie Menschen schaffen, die imstande sind, die Verhältnisse zu behandeln, die jedes neue Zeitalter der Reihe nach mit sich bringt. „Reinige zum ersten das Inwendige an Becher und Schüssel" (Matth. 23, 26), sagt Jesus, „denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?" (Mark. 8,36). Den dramatischen Gegensatz zwischen der Mission eines Reformators und dem Beruf eines Dichters verkündet Mrs. Browning uns in folgenden Worten: „Auch mir," sagt sie, „Ward ein Beruf, ein Werk verliehn, — — — Ein ernstes Werk, ein unumgänglich Werk, Der Wirtschaftslehre eins. Geh' hin und bessre, Mach, daß mit Christensinn man Handel treibe, Was Einem recht, nicht unrecht sei's der Menge! . . . Und was, wenn nun Die Sterblichen nicht größer als ihr Glück? Der Seele braucht's, den Körper zu bewegen, Hochherz'ger Männer braucht's, damit die Menge Sich fortbeweg', und sei's zum reinem Stall. . . . Vorboten ja, ihr fielt, Weil keine Dichter nah euch zu verkünden: „Von innen nur, von innen wächst das Leben")."

In noch dramatischerer Weise tritt der (reist der Äußerlichkeit in der sogenannten Versuchung an Jesus selbst heran. „Bist du Gottes Sohn," sagt der Versucher, „so sprich, daß diese Steine Brot werden" (Matth. 4, 3). Wie modern klingt der Vorschlag! Gerade diese Be-

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nutzung der Kraft würde der moderne Agitator als höchst segensreich anerkennen. Die Nutzbarmachung geistiger Kräfte zur Erzeugung wirtschaftlicher Produkte. Einem solchen Agitator würde es in der Tat fast grausam erscheinen, in einer Welt, in der es soviel Hunger gibt, die Kraft zu etwas anderm zu benutzen als Brot zu schaffen. Allein Jesus nähert sich der sozialen Frage von innen. Er spricht nicht gegen das Brotmachen; an andrer Stelle speist er eine große Menge. Wenn jedoch die höhern Bedürfnisse des Lebens in Frage kommen, weiß er, daß es eine tiefere Not gibt als den Hunger. „Der Mensch," sagt er, „lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht" (Matth. 4, 4). Das größte Sehnen des menschlichen Herzens, das weiß er wohl, gilt der Einsicht, der Erleuchtung, der Wiedergeburt, der Persönlichkeit und der Kraft, und manches Wesen, das von Armut und Hunger niedergedrückt ist, empfindet noch heute jenes tiefere Bedürfnis. Es ist ein zweiter Grundsatz der Lehre Jesu, der unsre Aufmerksamkeit auf einen andern Gesichtspunkt der sozialen Frage lenkt. Die Tatsache, daß sich Jesus zuerst dem einzelnen Menschen nähert, spricht dafür, daß er den größten Teil der sozialen TJbel weniger den sozialen Mißständen zuschreibt als den Fehlern der mißleiteten, der Erlösung bedürftigen Menschen. Man braucht hier nicht die innern und äußern Ursachen des sozialen Unrechts abzuwägen. Wenn sich die Bakterien einer Krankheit im menschlichen Körper festsetzen, ist es unmöglich zu entscheiden, ob hauptsächlich das äußere Grift oder die innere Empfänglichkeit daran schuld sind; es genügt zu sagen, daß ein großer Teil der äußern Umwandlung und des Verfalles aus einer früheren, innern

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Veranlagung entsteht, und daß die Konstitution in vielen Fällen gegen solche Übel gefestigt werden kann. Forschen wir nun im eigenen Herzen, so finden wir es in derselben Weise bestätigt, daß hier Ursache und Verhinderung für einen großen Teil sozialer Leiden zu suchen ist, und daß der Anfang eines großen Teiles sozialer Verbesserung die Erkenntnis jener persönlichen Verantwortlichkeit ist, die die Bibel ohne Zaudern Sünde nennt. "Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, von den äußern Dingen zu reden, daß es uns etwas veraltet und theologisch vorkommt, das soziale Unrecht auf eine so persönliche Ursache zurückzuleiten, wie es die Sünde ist. "Wir neigen vielmehr dazu, die Übel der Gesellschaft auf eine ungünstige Umgebung, unvollkommene Gesetzgebung oder auf die industrielle Konkurrenz zurückzuführen. Allein keine Tendenz des modernen Lebens wirkt so zerstörend auf den sozialen Fortschritt als die, das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit in Bezug auf die soziale Unvollkommenheit zu schwächen und die Schuld den ungünstigen Verhältnissen zuzuschieben. Die Tatsache tritt klar zu Tage, daß die Leidenschaften und der Ehrgeiz einzelner Menschen für einen großen Teil der sozialen Unordnung verantwortlich sind, und daß keine soziale Einrichtung die soziale Wohlfahrt sicherstellen kann, wenn sie nicht einer großen Anzahl von Individuen ein tieferes Gefühl persönlicher Sünde beizubringen vermag. Ein sozialer Fluch, z. B. die Trunksucht, wird von dem Gesetz rechtskräftig angegriffen; aber diese äußern Hilfsmittel werden vergeblich angewandt, wenn die Überzeugung nachläßt, daß in den meisten Fällen die Trunksucht kein Unglück ist, für das man die Gesellschaft verantwortlich machen kann, sondern eine Sünde, für die der einzelne Mensch die Verantwortung trägt. Ebenso wird die der Wohltätigkeit

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gestellte Aufgabe immer mehr anwachsen; es werden immer mehr Erleichterungen und Almosen gewährt werden müssen — es sei denn, daß sich dadurch in den einzelnen Menschen die Kraft regt, ohne Almosen fertig werden zu wollen und die Reihe derer zu vergrößern, die die Initiative ergreifen und die Selbstachtung pflegen. Und wiederum in dem Problem der Industrie wird man es zu keinem dauernden Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit bringen, solange die Kapitalisten raubgierig und unbarmherzig und die Arbeiter leidenschaftlich und treulos sind. Welcher Phase der sozialen Frage wir uns auch zuwenden, wir sehen in der Sphäre der sozialen Einrichtungen immer das innere Problem, das sich mit der Erlösung des Charakters beschäftigt. Ein großer Teil des sozialen Leids rührt von der sozialen Ordnung her, aber ein weit größerer wahrscheinlich von der menschlichen Sünde. Diesem Punkte nun, der persönlichen Verantwortlichkeit, gilt der größte Teil von Jesu Lehre. Jesus will nicht teilhaben an dem kraftlosen Fatalismus, der den Charakter als ein Geschöpf der Verhältnisse ansieht. E r wendet sich kräftig an den eigenen Willen des Menschen. E r läßt nicht zu, daß man die Wahrheit hintenan setzt. Der Zöllner, von dem er berichtet, tadelt weder seinen Beruf noch seine Verhältnisse. „Gott", sagt er, „sei mir Sünder gnädig" (Luk. 18, 13). Als der verlorene Sohn zu seinem Vater zurückkehrt, klagt er nicht die sozialen Verhältnisse an, die in dem fernen Lande bei dem schwelgerischen Leben herrschten; er kommt mit dem männlichen Bekenntnis: „Vater, ich habe gesündigt" (Luk. 15,18). E s mag vielleicht tiefere Anschauungen über die christliche Lehre von der Sünde geben, wie man ja auch viele kunstgerechte und unwirkliche Wege eingeschlagen hat um sie zu deuten; aber die Stellung zu würdigen, die die

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Lehre von der Sünde im sozialen Leben einnimmt, das blieb unsrer Zeit vorbehalten, und eine Zeit, in der die soziale Frage der Mittelpunkt menschlichen Interesses ist, hat es mehr als jede andere Zeit nötig sich an die persönlichen Ursachen sozialen Fortschrittes und Verfalls zu erinnern. Die Hauptschwierigkeit im modernen sozialen Leben ist, wie wir noch oft sehen werden, kein mechanischer, sondern ein moralischer Fehler. Wohl ist der christliche Reformator unsrer Zeit berechtigt zu beten: „Gib eine bessere soziale Ordnung, o Gott, und schaffe ein richtiges Verhältnis zwischen den verschiedenen Menschenklassen!" Aber für den, der die soziale Ordnung seiner Zeit zu gestalten wünscht, wäre eine tiefere und seiner würdigere Bitte, die Bitte der alten Zeit: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist!" Die Lehre Jesu kommt den Bedürfnissen unsrer Zeit entgegen, wenn wir uns so der sozialen Frage von innen nähern. Menschen also mit weitem Horizont und innerlicher Initiative, das sind die Werkzeuge, auf die Jesus rechnet, wo es gilt die Enge und Äußerlichkeit der sozialen Bewegung zu verbessern. Was ist es, fragen wir schließlich, was in dem Menschen jenes soziale Streben erweckt und ihn befähigt zum sozialen Dienst? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns dem dritten und charakteristischsten Grundsatz Jesu zuwenden, dem Begriff des „Himmelreichs". Jesus lehrt uns, daß nur die Hingabe des einzelnen Menschen an ein geistiges Ideal des sozialen Lebens ihn von den kleinen Anschauungen sozialer Pflicht und von den rein äußerlichen sozialen Methoden befreit. Der Gedanke des „Himmelreiches" schafft den Menschen, und der Dienst des Menschen führt anderseits das Himmelreich herbei. Bei all den störenden

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Zwischenfällen, bei der Routine, der Unvollkommenheit und den mißleiteten Anstrengungen, deren wir reichlich im sozialen Dienste finden, liegt, wie Jesus sagt, im Idealisten das Geheimnis der Wirksamkeit und des Mutes. "Wie Matthew Arnold von Aeschylus sagt, daß er das Leben sicher und daß er es im ganzen überblickt. Er findet sich selbst, weil er ein Ziel gefunden hat, dem er sich hingeben kann. Er ist der himmlischen Vision gehorsam; er heiligt sich für andere, und Weisheit, G-esundheit und Kraft werden ihm gegeben, wenn er sich also dem Reiche hingibt. Wie weit scheinen uns solche Worte fortzutragen von der in der modernen sozialen Frage herrschenden Stimmung! Man möchte fragen: Ist für den Idealisten wirklich Platz in einer Welt, wo Armut und Übervölkerung, Hungerlöhne und industrielle Sklaverei herrschen, in der die Masse des Volkes nicht um Ideale, sondern um das tägliche Brot kämpft? Mag das geistige Ideal auch weit entfernt von der unendlich praktischen Welt des sozialen Dienstes sein, so ist es dennoch wahr, daß das Fehlen eines solchen Ideals der hauptsächlichste Fluch des modernen sozialen Lebens ist, und daß der nicht geistige Charakter jener Ziele, die als Ersatz für den Idealismus vorgeschlagen werden, die größte, soziale Gefahr bildet. Was ist unsrer Meinung nach in der gewöhnlichen Arbeit des modernen Durchschnittslebens das Allerniederdrückendste und Herzzerreißendste? Das ist ohne Zweifel die tötende, abwärts blickende und entmenschende Langeweile, die mechanische Tretmühle einer durch nichts erleuchteten, durch nichts begeisterten Routine. Sie ist es, die das Gefühl von Begrenzung, Bedeutungslosigkeit und Zwecklosigkeit bringt, das die Menschen in Maschinen umwandelt und ihnen Lebenskraft, Phantasie, Glauben

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und Hoffnung raubt. Die hohen Mauern ihres Berufes begrenzen die enge Straße ihres Lebens und schließen jeden Ausblick aus, bis schließlich die Menschen nicht wie Kinder Q-ottes dahingehen, sondern sich wie Lasttiere einherschleppen. Und was kann solchem Leben Farbe und Bedeutung wiedergeben? Ohne Zweifel kann viel dadurch erreicht werden, daß man die Verhältnisse bessert, die Wälle des Berufes einebnet, dem Mechanismus entflieht. Aber durchaus nicht die allein, die in den beklagenswertesten Verhältnissen leben, sind sich dessen bewußt, im eigenen Leben gefangen zu sein. Die Wohlhabenden werden gerade so gut wie die Armen in solcher Schlinge gefangen. Kleinmut und „ennui" sind soziale Leiden, an denen sowohl die Reichen wie die Arbeiter kranken. Der Aufgabe, die sozialen Verhältnisse zu bessern, liegt für alle Menschen die Aufgabe zu Q-runde, das Leben zu deuten wie es ist und wie es unter allen Umständen sein muß und jenen täglichen, unvermeidlichen Kreislauf zu durchleuchten durch ein Gefühl von Bedeutung, Einheit, Zweck und Wert. Eine solche Verklärung des gewöhnlichen Lebens bietet Jesus den Menschen in seiner Vision vom Reiche Gottes. Er blickt auf die strebende, kämpfende Welt der sozialen Bewegung und erkennt ihren Anteil an jenem Endzweck. Er sieht den „Einen fernen, göttlichen Ausgang, dem sich die ganze Schöpfung entgegen bewegt.u Weder der Wirbel des Stromes noch das Zurückfluten der Wellen lassen ihn den Ozean vergessen, dem er zufließt. Kleinlichkeit, Mühsal, Einförmigkeit und Bedeutungslosigkeit des Lebens — ja selbst der Schmerz und seine Bitterkeit — werden in die Bewegung jener mächtigen Hoffnung hineingerissen, und anstatt den Lauf

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des Stromes zu hindern, tragen sie zu seiner Größe bei. So gibt die Lehre Jesu manchem dunkeln Leben „das in der Verwirrung der modernen Welt gefangen gehalten wird," Bedeutung. Sie bietet einem solchen Leben nicht in erster Linie neue Verhältnisse, sondern eine neue Einsicht in seine Verhältnisse. Ein Mensch fleht um die Deutung aller Erfahrungen, die er gemacht hat und findet sie in dem Gebet: „Dein Reich komme!" Sein soziales Ideal schafft Raum für seinen persönlichen Dienst. Seine unbedeutende Arbeit gewinnt Bedeutung, weil sie in den göttlichen Plan aufgenommen ist "Was er als Erfolg bezeichnet oder als Mißgriff ansieht, kann beides von gleicher Bedeutung in dem großen Feldzug Gottes sein. Er gewinnt aufs neue Ruhe, Selbstachtung und Mut, weil er sich für jenen Dienst hat anwerben lassen. Das Weltall gehört nicht ihm. Ihm ist der Befehl geworden, in den Reihen seine Pflicht zu tun. Für ihn gilt der Ruhm des triumphierenden Befehlshabers nicht; aber vielleicht gilt ihm zuletzt dessen Ruf: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen . . . . gehe ein zu deines Herren Freude" (Matth. 25, 21). Die Bedeutung eines solchen sozialen Ideals läßt sich noch von einem ganz andern Gesichtspunkte aus ansehen. Wir wenden uns nun dem zu, was man jetzt als Ersatz vertrauensvoll für jene geistigen Auffassungen des sozialen Lebens in Vorschlag gebracht hat, und bemerken sofort, daß auch hier der Geist des Idealismus die wirksame Triebkraft ist. Man kann nichts Rührenderes sehen als ein Ideal, das aus lauter Fetzchen zusammengesetzt ist, die im Grunde durchaus nicht geistig sondern sehr materiell sind und die leidenschaftliche, aufopferungsvolle Treue, die solch unechtem Ideal entgegengebracht wird. Das soziale Ziel, das von der Philosophie des Sozialismus in

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Vorschlag gebracht wird, kann man in gewissem Sinne wohl als ein Ideal bezeichnen; denn es ist wenigstens ein visionäres, entferntes und utopisches Ziel; bei genauerer Forschung jedoch zeigt es sich, daß es soweit wie möglich von einem geistigen Ideal entfernt ist; es ist eine rein materielle, äußerliche Wiederherstellung von Besitztümern und Vorteilen. Und mit welcher Hingabe xuid Tiefe hängen doch Millionen einfacher Menschen an diesem wirtschaftlichen Glaubensbekenntnisse! Jesu rührende Treue, des können wir gewiß sein, ist nicht durch ein industrielles Programm erweckt worden, sondern durch die idealen Elemente, die sich mit ihm vereint haben, durch Grundgedanken wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", durch den Sinn für Recht und durch die Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter der Gerechtigkeit, kurz durch jene Züge, die das sozialistische Evangelium mit dem christlichen Evangelium vom Reiche Gottes gemein hat. Es ist also keineswegs wahr, daß die moderne Welt dem Idealisten entwachsen ist. Im Gegenteil, seine Sinnesart wirkt überzeugend auf die Lehren der industriellen Revolution. Es ist in der Tat nicht unwahrscheinlich, daß die moderne Welt 8 ), wie wir später mehr im Einzeln zeigen werden, vor eine Wahl zwischen zwei Idealen gestellt wird — auf der einen Seite steht die ins Materielle gezogene Hoffnung, die die soziale Propaganda bietet und auf der anderen Seite die geistige Vision, für die Jesu Lehre begeistert. Nur eins kann unter den vielen Unsicherheiten der sozialen Zukunft vernünftigerweise als sicher angesehen werden, — daß nämlich keine der sozialen Lehren voraussichtlich die Herzen der Menschen gewinnen wird, wenn sie nicht in irgend einer Weise durch den Glauben des Idealisten die Färbung erhält. Die unP e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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II. Kapitel.

sichtbaren Dinge sind es im Grunde doch, an denen das Menschenherz hängt. "Wo keine Vision ist, geht das Volk zu Q-runde. Der dauernde Einfluß der Lehre Jesu auf den Geist des Menschengeschlechtes war sichergestellt, als er es sich zu seiner ersten Pflicht und höchsten Freude machte, das Nahen einer idealen Ordnung voll göttlicher Gerechtigkeit und "Wahrheit zu verkünden, und nach Galiläa kam und das Evangelium von dem Reiche Gottes predigte. Dieses scheint die Beziehung zu sein, die Jesu soziale Grundsätze zur sozialen Frage unsrer Zeit haben. Sein Beitrag dazu ist nicht der einer Organisation oder einer Methode; aber er gibt einen neuen Gesichtspunkt; er schafft einen Weg der Annäherung, ein Ziel, das wir erreichen können. Sein soziales Evangelium ist kein Evangelium der Tatsachen und der Lehrsätze, sondern des Geistes und des Strebens. "Wenn es also wahr ist, daß die soziale Bewegung durch enge Anschauungen, mangelnde Weisheit und einen beschränkten Gesichtskreis gehemmt wird, wenn sie durch eine äußerliche Auffassung in Versuchung geführt, auf das Problem vom einzelnen Menschen hingewiesen werden muß, wenn ihre Ideale nicht geistig sondern unecht sind; dann hat Jesu Lehre dem sozialen Leben noch heute etwas zu bieten, selbst unter Verhältnissen, die er nicht voraussehen und für die er deshalb keine regelrechten Gesetze aufstellen konnte. Wir werden jetzt im Einzeln beobachten, wie diese Lehre Stellung nimmt zu den verschiedenen Formen der sozialen Organisation, die die moderne Welt bietet. Es gibt besonders drei Beziehungen, die wie konzentrische Kreise das einzelne Leben umgeben. Am nächsten liegt uns der Familienkreis, die innere und einfachste, soziale Gruppe; jenseits dieses Kreises liegt die größere Gruppe, die die Gemeinschaft der Familien

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umschließt. Hier finden wir die verschiedenen Stufen von Wohlstand und Armut, die dem einzelnen Menschen die Probleme von „arm und reich" auferlegen, und um diese beiden Kreise herum zieht sich wieder der größere Kreis, der die industrielle Ordnung unsrer Zeit umfaßt. Jeder von diesen Kreisen des sozialen Lebens enthält eine soziale Frage, die in einer Hinsicht ganz ohne Vorgänger und rein zeitgenössisch ist: Die Institution der Familie, die Verteilung des Eigentums und die Organisation der Industrie sind in der jetzigen Zeit Gegenstände von solcher Bedeutung, daß sie auf einen gründlichen Wandel hinweisen. Solchen sozialen Problemen, die nur auf zeitweilige Einrichtungen ausgehen, kann deshalb die Lehre Jesu, die einem vollständig andern Zeitalter angehörte, wenig zu sagen haben. Die Lehre Jesu aber beschäftigt sich mit den Grundgedanken, die diese sozialen Erscheinungen illustrieren. Er betrachtet sie von oben, im Lichte seiner religiösen Berufung; er nähert sich ihnen von innen durch die Entwicklung der Persönlichkeit; er beurteilt sie in ihren Zielen als Förderer von Gottes Reich. In jeden Kreis des sozialen Lebens tritt er mit diesen sozialen Grundsätzen, einem Menschen gleich, der von innen seinen Schlüssel in eine Tür nach der andern steckt und in die freie Luft hinausgeht. Kurz, wir werden zu dem Punkte geführt, wo soziale Organisation und soziale Inspiration — die Menge und die einzelne Person einander begegnen. Da die Lehre Jesu sich hauptsächlich mit dem letzten Faktor beschäftigt, so mag sie unter den Verhältnissen unsrer Zeit anscheinend von geringerer Bedeutung sein. Es gab keine Zeit, die so vollkommen den Grundsatz „zu organisieren1* hatte wie die unsere. Unser Zeitalter ist das der Massenbewegungen, der Majoritäten, der Demokratie, der Kom7*

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binationen, der Maschinen. Wo bleibt noch Raum für das freie "Wachsen und den schaffenden Dienst des einzelnen Menschen? Es ist jedoch Tatsache, daß die wachsende Organisation anstatt das Prinzip der Inspiration zu verdrängen, ihr nur größere Gelegenheit zu seiner Wirksamkeit gibt. Die beiden Faktoren der sozialen Bewegung sind gegenseitig kein Ersatz für einander; sie sind voneinander abhängig wie Flügel, die auf entgegengesetzten Seiten den Vogel im starken Fluge tragen. Die Persönlichkeit findet in der Organisation die Vervielfältigung ihrer Kraft; je zusammengesetzter die Organisation wird, desto größere Anforderungen stellt sie an die Persönlichkeit. Das moderne Maschinenwesen verlangt eine bessere Ausbildung der Ingenieure; die moderne Industrie fordert von den Handwerkern größere Geschicklichkeit; die moderne Politik, die Staatskunst, die Verwaltung müssen sich mehr und mehr auf kompetente Männer verlassen, die die ungeheuere Kraft, die die moderne Organisation erfunden hat, überwachen und leiten. Alle Dinge, sagt der Apostel, warten auf die Macht der Persönlichkeit, um in die Organisation einzugehen. „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes." Wenn wir nun zugeben, daß Jesus hauptsächlich dadurch zum sozialen Wohle beigetragen hat, daß er eine geistige Persönlichkeit schuf, so sagen wir damit nicht, daß seine Lehre für die moderne Welt unwichtig wäre. Im Gegenteil, wir wenden uns ihm mit neuer Aufmerksamkeit zu, da er vielleicht dem sozialen Fortschritt das Element bietet, dessen die moderne Welt am meisten bedarf. Wenn es wahr ist, daß in jeder Form sozialer Tätigkeit der Ruf unserer Zeit der Persönlichkeit gilt, wenn wir in Gefahr sind, von sozialem Mechanismus überwältigt und der sozialen Kraft beraubt zu werden, wenn in den Ten-

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denzen unserer Zeit das Individuum dahinsiecht und das Zeitalter mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, wenn Jesu Christi Kirche selbst mit ihrer großartig entwickelten Organisation in Gefahr ist, von den Tätigen und Denkenden verlassen zu werden, weil es scheint, als wenn es ihr an Weisheit und Kraft fehle, — ja wenn selbst Jesus zu den äußeren Faktoren des sozialen Fortschrittes nichts Wesentliches beiträgt, mag es an der Zeit sein, sich den Lehrer ins Gedächtnis zu rufen, der da sprach: „Ich bin gekommen, daß sie das Leben haben mögen und zwar im Überfluß." Der größte Beweis dafür, daß die moderne Welt aufs neue die Bedeutung der Persönlichkeit anerkennt, ist das allgemein erneute Interesse an der Person Jesu Christi selber. Und doch war er ein Mensch, der im modernen Sinne des Wortes wenig vollbracht hat; er war im geringsten Grade Administrator oder Organisator; er ließ sich daran genügen von seiner Mission im allgemeinen zu sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Aber durch alle Unsicherheiten der christlichen Theologie hindurch und durch alle Konflikte der christlichen Geistlichkeit ist es doch Jesu Einfluß gewesen, der sich als das erwiesen hat, nach dem sich die Welt am meisten sehnt, — der Einfluß einer Persönlichkeit, die das Leben von oben anschaut, von innen beurteilt und es zu einem geistigen Ziel lenkt. Es ist ein außergewöhnliches Zeichen der Zeit, daß man der Persönlichkeit Christi mit neuer Hingabe und Ehrfurcht anhängt, während doch die Lehrsätze, die ihn zum Mittelpunkt haben, für die große Masse beinahe die Bedeutung verloren haben. Die Menschen, die von den Formen unseres modernen Lebens völlig hingenommen sind, nähern sich in geistiger Treue dem, der sich mitten in den verwirrten Interessen als weiser und zuver-

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lässiger Führer erweist. In einem großen Orchester mit allen seinen verschiedensten Mitteln musikalischen Ausdrucks gibt es einePersönlichkeit, die kein einziges Instrument spielt, von der aber nichtsdestoweniger die ganze Harmonie und der Rhythmus abhängen. Bis der Dirigent erscheint, gehen die mißklingenden Töne ihre verschiedenen Wege; aber auf ein Zeichen von ihm hört das Stimmen der Instrumente auf, und die Symphonie beginnt. So geht es auch mit der geistigen Führerschaft Jesu Christi. Seine Kraft erweist sich nicht darin, daß er zwischen die widerstreitenden Tätigkeiten unsrer Zeit noch eine weitere Tätigkeit stellt, sondern darin, daß er uns Weisheit, Persönlichkeit und Idealismus gibt. Er tritt als Autorität mitten in das unharmonische Streben der Menschen hinein und sobald er das Zeichen gibt, wird das Hervortönen jedes Instrumentes im sozialen Dienst gedämpft, und gibt man sich ihm hin, so findet jeder seinen Platz in der großen Symphonie des Lebens.

DL

Kapitel.

Jesu Lehre Ton der Familie. Und am dritten Tage ward eine Hochzeit zu K a n a in Galiläa . . . Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß es nicht praktische Erwägungen über häusliche Pflichten sind, die das Problem der Familie ausmachen. E s handelt sich nicht um das Benehmen innerhalb des häuslichen Kreises, sondern um die fortdauernde Erhaltung dieser Form sozialer Beziehungen. Aber auch so definiert steht uns das Problem der Familie so nahe, daß es schwer ist, seine wahre Ausdehnung und seine Bedeutung zu schätzen. Bevor wir aber mit dieser Frage an die Lehre Jesu herantreten, ist es nötig einige der Anschauungen anzuführen, die von den augenblicklichen Zielen unsrer Zeit weit entfernt zu sein scheinen. Das Problem zeigt sich uns sofort, wenn wir zu der Erkenntnis gelangen, daß der Zusammenhang und die Fortdauer des Familienlebens unter den jetzigen sozialen Verhältnissen ernstlich bedroht sind. Die Lockerung der Familienbande scheint aller Beobachtung nach in erschütternder Weise zu einem epidemischen, sozialen Übel zu werden. Die Zahl der jährlichen Ehescheidungen in den Vereinigten Staaten von Amerika nehmen in immer

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beschleunigterem Zeitmaß und in einem Grade zu, wie in keinem anderen zivilisierten Lande1). 1889 betrug die Summe aller Ehescheidungen in ganz Europa, Kanada und Australien 20111; in denVereinigten Staaten betrug sie in demselben Jahre 23472. Im Jahre 1867 wurden in den Vereinigten Staaten 9937 Ehen geschieden, im Jahre 1886 29 535. In jenen zwanzig Jahren nahm die Bevölkerung um 60 Prozent zu, die Ehescheidungen um 156 Prozent. Im Jahre 1870 kamen in den Vereinigten Staaten auf ein geschiedenes Paar 664 Ehepaare, im Jahre 1880 nur 481 Paare. In Massachusetts war das Verhältnis der Eheschließungen zu den Ehescheidungen im Jahre 1867 wie 45 zu 1, im Jahre 1886 wie 31 zu 1; in Illinois im Jahre 1867 wie 20 zu 1, im Jahre 1886 wie 13 zu 1. Man kann sogar berechnen2), daß, wenn das jetzige Verhältnis zwischen der Bevölkerungszunahme und den Ehescheidungen entsprechend weiter verschiebt, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts weniger Ehen durch den Tod als durch gerichtliches Urteil gelöst werden. Es sind verschiedene Ursachen daran schuld. Die Schlaffheit und die Handhabung der Ehescheidungsgesetze, ihre Mannigfaltigkeit in den verschiedenen Staaten und eine beinahe ebenso große Ungebundenheit in den Eheschließungsgesetzen — das alles trägt dazu bei, eine Lage zu schaffen, die, wie man schon gesagt hat, weniger Sorgfalt auf einen Ehevertrag verwendet als auf einen Vertrag, der ein Pferd oder ein Stück Land betrifft3). Daß wir an diese Lage so gewöhnt sind, daß die Lockerung der ehelichen Bande sogar zum. Gegenstand landläufiger Scherze geworden ist, genügt schon an und für sich, um ein Problem von außerordentlichem Ernst zu schaffen, und es ist ganz natürlich, daß sich viele Gemeinschaften der christlichen Kirche eifrig bemühen, die

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trügerische Art dieser sozialen Gefahr ihren Anhängern fühlbar zu machen und daß sie sowohl für den Staat als für die Kirche strengere Gesetze für Eheschließungen und Ehescheidungen einführen wollen. Diese praktischen Bemühungen indes, die Lauterkeit und den Bestand des Hauses zu bewahren, umfassen jedoch weit mehr als es zuerst den Anschein hat. Es handelt sich in der Tat um nichts Geringeres als um einen Ausweg zwischen zwei verschiedenen Anschauungen über die ehelichen Bande, — die Auffassung der Ehe als eines zeitweiligen Vertrages, der die Interessen der beteiligten Personen vertritt — und die Auffassung der Ehe als einer sozialen Institution, die das Gebäude der sozialen Ordnung umfaßt. Die Familie ist in der Tat nur ein Element im allgemeinen Kampf um das Dasein zweier Typen der Zivilisation. Den einen leitet das Interesse an der Entwicklung des einzelnen Menschen, den anderen charakterisiert seine Anteilnahme an der sozialen Ordnung. In England herrschte lange Zeit die erste Auffassung. „Die Bewegung der fortschrittlichen Gesellschaft," sagte Sir Henry Maine, „ist in einer Hinsicht eine gleichförmige Bewegung gewesen. Während ihres ganzen Verlaufes hat sich eine allmähliche Auflösung des Familienzusammenhanges bemerkbar gemacht; dafür aber ist die Verpflichtung des einzelnen Menschen größer geworden. Das bürgerliche Gesetzbuch rechnet nur mit der einzelnen Person als Einheit, die an die Stelle der Familie getreten ist" 4 ). Diese Stellvertretung ist durch mehrere Generationen hindurch sowohl der Schlüssel zur englischen Jurisprudenz, Philosophie und Wirtschaftslehre als auch zum religiösen Leben und Denken der Protestanten gewesen 5 ). Die zweite Auffassung von der menschlichen Gemeinschaft ist anderseits in der jetzigen Generation zum vollen Ausdruck ge-

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kommen. Sie bringt aufs neue die Stabilität und den Fortschritt der sozialen Ordnung in Anschlag. Sie wird erläutert durch die Menge neuer Gesetze, die die Fragen sozialer Wohlfahrt behandeln, durch die neue Ausdehnung der Philosophie, die sich in die Probleme sozialer Ordnung, Entwicklung und Verpflichtung vertieft, durch den Ubergang der "Wirtschaftslehre von der Konkurrenz des Einzelnen und der Übereinstimmung des wohlverstandenen Eigeninteresses mit den Einrichtungen der vergesellschafteten Industrie und schließlich durch den Nachdruck, den die christliche Theologie neuerdings auf das organische Leben der Kirche oder der Welt legt. Mitten in diesen kämpfenden Tendenzen unserer Zivilisation steht das Problem der Familie. Wenn das Individuum der Endzweck ist, um dessentwillen das soziale Leben vorhanden ist, wenn im Fall einer Heirat nur die „beteiligten Personen" in Betracht kommen sollen, dann ist das Gesetz des Selbstinteresses, das nur das Glück oder auch die Laune des Einzelnen in Anschlag bringt, bestimmt, den Vertrag zu schließen und zu brechen. Wenn dagegen die Ehe ein elementarer Ausdruck des organischen, sozialen Lebens ist, ein Zeugnis für jene soziale Kontinuität, die nach und nach in der Kirche, in der industriellen Ordnung und im Staat anerkannt wird, oder um in der Sprache christlicher Philosophie zu reden, — wenn der einzelne Mensch nur in und durch den Dienst der sozialen Ordnung zur Selbstverwirklichung kommt — dann wird die Integrität der Familie als elementarste Gruppe des sozialen Lebens strenge gesichert und ehrfurchtsvoll behütet werden. In dieser Streitfrage nun zwischen einem Rückfall des sozialen Typus in den Individualismus, dem man überall sonst entwachsen ist und der Sicherstellung des sozialen Organismus in seiner ele-

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inentarsteii Form liegt der erste Gesichtspunkt, den das Problem der Familie uns bietet. Ist nun dieser Zwiespalt zwischen den gleichzeitigen Typen auch ernst, so zeigt er uns das Problem der Familie doch nicht in seiner vollen Bedeutung. Es liegen dem Angriff, den man aus reinem Selbstinteresse auf die Integrität des häuslichen Kreises macht, feinere Gefahren zu Grunde, die man nur ganz würdigen kann, wenn man sich die Geschichte und die Entwicklung der Familieninstitution ins Gedächtnis zurückruft. Wir sehen, daß die Familie in ihrer jetzigen Form durchaus keine ursprüngliche und fertige Gabe für das Menschengeschlecht war, sondern daß sie das Ergebnis eines ungeheuren Weltvorganges ist, der sich in der sozialen Entwicklung vollzog, daß sie verschiedene Formen häuslicher Vereinigung der Reihe nach durchgemacht hat und daß sie erprobt worden ist, bis schließlich die passendste Form die andern überlebt hat. Von diesem Gesichtspunkte aus ist das Problem der Familie nicht nur eine zeitweilige Streitfrage zwischen Tunlichkeit und Idealismus, sondern es ist ein Element in dem weit größeren Problem menschlichen Fortschrittes und menschlicher Bestimmung, und unser Urteil über die Stellung und Zukunft der Familie wird durch die Beobachtung der allgemeinen Entwicklungsvorgänge, durch die die moderne Form der Familie allmählich hindurchgegangen ist, bestimmt. Darin erkennen wir schließlich die ganze Ausdehnung und die soziale Wichtigkeit des Problems, das die Ehescheidungsgerichte und die Kirchenversammlungen zu behandeln versuchen, und hier erreichen wir zugleich eins der seltsamsten Kapitel der modernen Forschung, das eine ganz unerwartete Rolle in den praktischen Erörterungen spielt6). Zuerst zieht die sogenannte „Patriarchalische Theorie"

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unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das soziale Leben des alten Roms und viele Angaben über die sozialen Verhältnisse im alten Israel zeigen uns, daß die Familie die Einheit war, aus der sich der nationale Zusammenhang ergab und daß diese Einheit durch die Obergewalt des ältesten männlichen Gliedes aufrecht erhalten wurde. Darnach ist die patriarchalische Theorie der Schlüssel zur ursprünglichen G-eschichte der Familie. Aus der Ausdehnung des Familienkreises schien sich das Geschlecht, der Stamm, die Nation zu entwickeln, und die Autorität des Vaters wurde nach und nach zu der des Häuptlings, des Herrschers und des Königs. Die Bedeutung, die der Stellung der Familie in der menschlichen Geschichte gegeben wurde, läßt sich nicht leicht überschätzen. Sir Henry Maine sagt in seinen bekannten Worten: „Die Familie war die Einheit der alten Gesellschaft, das Individuum ist die Einheit der modernen Gesellschaft7)." Sozialer Fortschritt geht nicht aus den Beziehungen vereinzelter Atome hervor, sondern aus der Vermehrung organisierter Zellen, nicht aus der Vereinigung von einzelnen Menschen, sondern aus der Fortdauer der Familien. „In einer zusammenhängenden Familie," sagt Mr. Bagehot, „liegt der beste Keim zu einer kämpfenden Nation . . . in lose verbundenen Familiengruppen ist nichts derartiges möglich8)." Doch hat die patriarchalische Theorie, zu der die vertrauteren Typen der alten Zivilisation die Erläuterung liefern, nicht nur eine ungeheure Ausdehnung gehabt, sondern sie ist in wichtiger Hinsicht durch eine ausgedehntere Untersuchung der ersten Gemeinschaft ergänzt und verbessert worden. Es bleibt wahr, daß die Familie die Einheit der Zivilisation ist; aber es ist ebenfalls wahr, daß jene Einheit ihre eigene Entwicklung gehabt hat, sodaß die Familie nicht nur den Grund zur modernen

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Gesellschaft gelegt hat, sondern daß sie ihrerseits aus der alten Gesellschaft hervorgegangen ist. Die menschlichen Beziehungen, so wird uns an erster Stelle nachgewiesen, sind wahrscheinlich selbst unter den rohesten Verhältnissen nicht die vermischten Beziehungen einer Herde, sondern — die Beziehungen höherer, gepaarter Tiere: sodaß selbst in der primitivsten Gemeinschaft entweder durch Kraft oder Eifersucht oder gemeinsamen Besitz, Fürsorge für Kinder oder durch eine notwendige Selbstverteidigung ein mehr oder weniger dauernd vereintes Gruppenleben aufrecht erhalten wurde. „Aus dem, was wir über die Eifersucht aller männlicher Vierfüßler wissen," sagte Darwin, „können wir in der Tat schließen, daß gemischte Beziehungen im Naturzustand außerordentlich unwahrscheinlich sind9)." Was ist es dann, was dieser gepaarten Gruppe ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre Beständigkeit gab? John Fiske gibt uns hierauf die Antwort in seinen Erörterungen über die physiologischen Bedingungen der menschlichen Kindheit 10 ). Er erinnert uns daran, daß die meisten höheren Tiere Junge gebären, die schon bei ihrer Geburt für sich selber sorgen können, während der Mensch durch viele Monate hindurch hilflos und auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. Diese Verlängerung der Kindheit entwickelt die Gemeinschaft. Sie überbrückt den Abgrund, der die Welt der Menschen von der der Tiere zu trennen scheint. Sie gibt der rätselhaften, hilflosen Kindheit eine tiefere Bedeutung. Von alters her haben wir die Mahnung vernommen: „So ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen." Die jüngste Wissenschaft zeigt uns jetzt, — wenn auch in anderem Sinn des Wortes — daß das ethische Phänomen, das dem Ausdruck „Himmelreich" seine volle Be-

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deutung gibt, für uns nicht vorhanden gewesen sein würde, wenn wir nicht wie die Kinder gewesen wären. Von noch größerer Bedeutung für die Philosophie der Familie sind die späteren Forschungen der Ethnologen gewesen. Die Erforscher der arischen Stämme und der nordamerikanischen Urvölker, die sich von den vorgeschrittenen, sozialen Verhältnissen der römischen und hebräischen Literatur den ursprünglicheren, sozialen Typen zuwenden, entdecken in den Anfängen der menschlichen Gemeinschaft weit mannigfachere und seltsamere, häusliche Beziehungen als die patriarchalische Theorie aufweist. Bevor die Familie, die die Einheit weiterer Zivilisation sein soll, ihre jetzige Gestalt angenommen hatte, muß sie versuchsweise erst verschiedene Typen und alle möglichen Formen der Gruppenbildung durchgemacht haben, bis die passendste Form die andern überlebt hat. In dem ursprünglichen Verhältnis, der Paarung der Tiere, tritt zuerst eine häusliche Einheit und Stätigkeit zu Tage, die durch die Frau repräsentiert wird, die unter den wandernden und räuberischen Männern mit ihren Kindern eine mehr oder weniger zusammenhängende, soziale Gruppe bildet. Der matriarchalische, häusliche Typus geht in der Regel dem patriarchalischen voraus; die Kinder gehören in erster Linie der Mutter; Vielmännerei scheint viel früher geherrscht zu haben als Vielweiberei. Es ist ein Typus, den wir noch bei manchen orientalischen Stämmen und in mancher indischen Überlieferung finden, und es mag vermutet werden, daß jene ursprüngliche Institution der praktischen Oberherrschaft der Frau in der Verwaltung manches modernen Hauses noch nicht erloschen ist. Als aber der Besitz sich vermehrt und der "Wettbewerb um die Frauen eifriger wird, sehen wir, wie in diesem halb verhüllten Kapitel der menschlichen Entwicklung in vielen

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Stämmen die Einheit der Familie nicht durch die Frau, sondern durch die Oberherrschaft des Mannes bestimmt wird. Nach Lennans Meinung wurden erstens während des beständigen Kriegszustandes die weiblichen Kinder vernachlässigt; infolgedessen trat im Stamme ein Mangel an Frauen ein; durch diesen wurde die Notwendigkeit der Exogamy oder die Anschaffung der Frauen aus andern Stämmen bedingt, und die Folge waren die Raubehen und die Ergänzung der Familie außerhalb des eigenen Stammes. Schließlich geht aus dieser Einheit des männlichen Geschlechtes unter den fortgeschritteneren, sozialen Verhältnissen die patriarchalische Familie hervor, die durch das römische Gesetz und den Kirchengebrauch eine so tiefe Wirkung auf die modernen Anschauungen von Ehe und Ehescheidung ausgeübt hat. Aus solchem Kampf ums Dasein der verschiedenen Typen heraus ist die moderne Familie geboren. Die in ihr repräsentierte Beziehung der einzelnen Menschen zueinander mit persönlichen Verpflichtungen ist ein Verhältnis, das in den ursprünglich sozialen Gruppen niemals erreicht wurde. Mag auch durch die Entwicklung des häuslichen Kreises die Monogamie prophezeit sein11), die Familie, so wie wir sie verstehen, mit ihren wechselseitigen Opfern, ihrer persönlichen Hingabe, der Entdeckung des höheren Selbst in der sozialen Gruppe, ist ein Ziel, auf das die soziale Entwicklung durch Jahrhunderte hindurch gerichtet gewesen ist. Die soziale Ordnung, sagt Paulus, hat in Schmerzen gestöhnt und auf die Offenbarung des höheren Typus gewartet. Und hier fangen wir an das Problem der Familie endlich in seiner wahren Ausdehnung zu übersehen. Es ist nicht nur ein Problem zeitweiliger oder sozialer Tauglichkeit oder nur ein Problem der Sozialphilosophie, sondern eins, das die ganze Geschichte des

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Menschengeschlechtes als Hintergrund und die ganze Zukunft der sozialen Ordnung zur Folge hat. Die jetzige Frage der Ehe und Ehescheidung, die die moderne Welt bewegt, sollte man im Lichte dieser langen Geschichte sozialer Entwicklung oder sozialen Rückfalls betrachten. Mit der Integrität oder der Wandelbarkeit, die die Einheit der Zivilisation zeigt, wird wahrscheinlich das Gebäude jener Zivilisation stehen oder fallen. Wollte man sich über jede Phase der sozialen Verhältnisse unterrichten, so kann die fundamentale Frage nur lauten: „Welchen Charakter, welche Form und welche Gewohnheiten zeigt das jeweilige Familienleben?" Es ist indes gerade der Punkt, zu dem wir jetzt kommen, wo die moderne Familie offen und unnachgiebig angegriffen wird — und zwar von dem wissenschaftlich gebildeten Sozialisten. Es wäre durchaus ungerecht zu sagen, daJß die Ermutigung zu häuslicher Unstätigkeit einen wesentlichen Teil des sozialistischenProgramms bildete. Viele eifrige Vertreter des gemeinsamen industriellen Besitzes schrecken vor dem Gedanken zurück, die Frauen und Kinder zum Gemeingut zu machen 14 ). Dennoch muß zugegeben werden, daß die Führer der deutschen Schule mit großem Scharfsinn und großer Offenheit die Forschungen der Evolutionisten, auf die wir soeben hinwiesen, benutzt und auf das Problem der sozialen Revolution angewandt und eine Geschichtsphilosophie geschaffen haben, die eine tiefgehende Wirkung auf die praktische Uberzeugung von Millionen einfacher Menschen ausübt 13 ). Für die, welche dan Kommunismus an die Stelle der persönlichen Freiheit setzen möchten, ist die Institution der Familie eins der hartnäckigsten Hindernisse. Häusliche Einheit verträgt sich nicht mit einer vom Staat eingesetzten absoluten sozialen Einheit. Das Glück, die Wirtschaft und das auf einen Punkt konzentrierte Interesse

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eines in sich abgeschlossenen Hauses hält die, die solchem Hause angehören, von der vollständigen Hingabe an das sozialistische Ideal ab. Die Oberherrschaft der Familie ist durchaus unvereinbar mit einem solidarischen Gemeinwesen14). Diesen praktischen Erwägungen gegenüber läßt sich überdies die Lehre von der sozialen Entwicklung noch in neuer Form anwenden. Die Familie hat, wie wir gesehen haben, einen primitiven Ursprung; sie hat wechselvolle Phasen und ein allmähliches Wachstum durchgemacht und jetzt soll sie nach der Meinung vieler SozialPhilosophen eine weitere Periode des Übergangs und des schließlichen Verfalles erleben. Sie ist „eine geschichtliche Erscheinung, die in der Zeit sich gebildet habe und mit der Zeit verschwinden müsse". Das, was den häuslichen Kreis ursprünglich vereinte, war der Wunsch das Privatvermögen zu vererben. Die Familie war „eine wirtschaftliche Einheit16) und eine solche bleibt sie noch immer". Sie ist ein Werkzeug der besitzenden Klasse. Ohne solches Privatvermögen kann die Einheit der Familie in der Tat kaum bestehen. Wie kann man von der Heiligkeit des Hauses sprechen, so fragt man wohl, wenn Mann und Frau weder ein Heim noch irgend welchen Privatbesitz haben, wenn beide den ganzen Tag in der Mühle oder auf der Straße arbeiten. Ein deutscher Gelehrter sagt, daß infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unsrer großstädtischen Arbeiter-Bevölkerung die überlieferte Form der Familie schon jetzt nicht mehr vorhanden ist1"). Es ist ferner darauf hingewiesen worden, daß die Bedeutung der Familie selbst in Hinsicht auf ihre Mitwirkung am industriellen Leben schon ungeheuer abgenommen hat. Einst wurde die Industrie nur im FamilienPeabody, Jesus Christus und die soziale Frage.

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kreise ausgeführt; aber seit die Methoden der Großindustrie an die Stelle der Hausarbeit getreten sind, hat die Familie für das wirtschaftliche Leben keinen Nutzen mehr. Die Frauen sind nicht länger Sklaven im Dienste des Hauses. Sie können ihr eigenes Leben führen und ihr eigenes Brot verdienen. „Die Maschine ist dann ihr Heiland geworden 17 )." Mit dem Herannahen des sozialistischen Staates wird also die Familie einem höhern Ziele weichen. Die Frau, die. nicht mehr zur Plackerei im Haushalt verurteilt ist, wird die größere Segnung wirtschaftlicher Gleichheit genießen. Die Gemeinde wird unter gesunden und gleichmäßigen Verhältnissen für die Kinder sorgen, und es wird die Zeit kommen, die man die „glückliche" Zeit genannt hat, in der der ununterbrochene Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft nicht mehr von der Kinderstube des Einzelnen abhängt 18 ). Frauen, die da Kinder gebären und solche, die es nicht tun, sollen jede in ihrer Weise berücksichtigt werden 19 ), sodaß sowohl die Produktion wie die Freiheit gesichert ist. Die Entwicklung der Familie wird von Einfachheit zu Einfachheit fortschreiten. Die Geschichte ihrer Entwicklung wird einen spiralförmigen Lauf machen; sie hat mit der allgemeinen Freiheit der Wildnis begonnen und sie wird in den ebenso zufälligen und losen Beziehungen enden, die aus persönlichen und zeitweiligen Wünschen entstehen. Es ist schwer für jemanden, der mit der Propaganda der Sozialisten nicht vertraut ist, zu glauben, daß diese Gedanken über die soziale Entwicklung einen ernstlichen Einfluß auf die Arbeiterbevölkerung gehabt haben, für die doch der Sozialismus wirklich zum praktischen Glauben geworden ist; aber in volkstümlicher und selbst in gröberer Form ist der Protest gegen die Familien-

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abgeschlossenheit tatsächlich, ein Teil des deutschen Evangeliums von der Unzufriedenheit geworden. Der deutsche Arbeiter wird beständig darauf hingewiesen, daß er wirtschaftliche Wohlfahrt nur durch einen vollständigen Bruch mit jener sozialen Ordnung findet, deren Bollwerke Kapitalismus, Religion und Familieneinheit sind und sein reger Sinn wird unausgesetzt durch eine Literatur genährt, die häusliche Empörung predigt. Noch viel tückischer ist diese Lehre in der englischen und deutschen Literatur, wenn sie sich nicht an die arbeitende Bevölkerung, sondern an die leichtsinnigen, der Selbstsucht lebenden Leser der besitzenden Klassen wendet. Kein Stoff scheint so ergiebig für den heutigen Roman zu sein wie das Fehlschlagen der Ehe, und in mehr oder weniger unverhüllter Sprache behandelt er die nächsten Schritte, die für die Entwicklung der Familie in Vorschlag gebracht werden können. Kurz, es ist nicht nur klar, daß eine Umwandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse wahrscheinlich eine radikale Umänderung der häuslichen Verhältnisse von Grund aus herbeiführen wird, sondern daß auch anderseits das größte Hindernis des radikalen, wirtschaftlichen Wandels nicht entfernt werden kann, solange wir uns nicht mit neuen Anschauungen über das Familienleben vertraut gemacht haben. Nichts erscheint uns in der modernen sozialen Bewegung seltsamer, als daß man den Hauptangriff, den man anfangs gegen den Kapitalismus richtete, auf die anscheinend ferne und stille Region der Familie übertragen hat, und wahrscheinlich wird die Geschichte das Programm des wirtschaftlichen Sozialismus mehr nach dem Einfluß, den es auf die Lauterkeit der Familie gehabt hat, beurteilen als nach den Zielen, die dieses Programm anscheinend vertritt. Das also ist im modernen Denken die Stellung des 8*

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Problems, das in seiner sichtbaren und vorübergehenden Form nur die bloße Regulierung der Ehe und Ehescheidung betrifft. Zwei Kräfte scheinen die Fortdauer der jetzigen sozialen Ordnung zu bedrohen, — die reaktionäre Kraft des für sich selbst interessierten Individualismus und die revolutionäre Kraft des wissenschaftlichen Sozialismus, und an dem Punkt, wo jene Kräfte zusammentreffen, steht die Institution der Familie. Einerseits steht sie in Gefahr, in Atome zerschmettert zu werden, andrerseits in einer größeren Einheit aufzugehen. Einerseits gibt es möglicherweise einen sozialen Rückfall, anderseits eine soziale Revolution. Das Problem der Familie ist nicht nur in theoretischer Hinsicht fundamental für die SozialPhilosophie, sondern es ist auch das praktische Ziel, das wahrscheinlich über die Zukunft der menschlichen Gesellschaft, der Regierung und der Religion entscheiden wird. Mit diesem Problem also, das wir in größerm Uberblick und in seinen weitreichenden Wirkungen betrachtet haben, wenden wir uns der Lehre Jesu zu und forschen weiter, ob uns die sozialen Grundsätze seines Evangeliums, die wir schon kennen gelernt haben, bestimmte Unterweisungen über diesen besondern Fall geben. Stellen wir uns diese Frage, so fällt uns sofort auf, daß Jesus der Institution der Familie eine große, außerordentliche Bedeutung beilegt. Bei vielen andern Problemen hat man sein Urteil gesucht und mußte es oft aus leichten Andeutungen oder vollkommenem Stillschweigen oder aus einem einzigen aufklärenden Satzo folgern. Der Politik, den größeren, sozialen Institutionen und selbst den theologischen Streitfragen seiner Zeit gegenüber verhielt er sich in der Regel außerordentlich zurückhaltend; das hat manchen modernen Reformator enttäuscht und manchen Hörer seiner Botschaft verwirrt20). Anderseits beschäftigt sich

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die Lehre Jesu in unvergleichlicher Weise bis ins kleinste mit der Natur und den Verpflichtungen der Familie. In ungewöhnlicher Übereinstimmung berichten hierüber die ersten drei Evangelien, und die öftere Wiederholung der Lehre spricht für den tiefen Eindruck, den sie ursprünglich gemacht hat. (Matth. 5, 31. Matth. 19,9, Mark. 10,11. Luk. 16, 18.) Ferner ist dieses der einzige Punkt des sozialen Lebens, bei dem Jesus es nicht bei der Verkündigung allgemeiner Grundsätze bewenden läßt, sondern auch auf die Pflicht weiter eingeht, besondere Gesetze vorzuschreiben. Wenn die Pharisäer z. B. davon unterrichtet werden, daß die neue Lehre über Ehe und Ehescheidung nicht das ist, „das zu den Alten gesagt ist" (Matth. f>, 21) und zu Jesus kommen „und versuchten ihn" (Matth. 19, 3), weigert sich Jesus nicht, wie in so vielen anderen Fällen in die Falle ihrer Fragen zu gehen, sondern er erklärt ihnen mit Aufrichtigkeit und Gründlichkeit das christliche Gesetz der Familie in seinem Verhältnis zum mosaischen Gesetz. Wenn die Sadduzäer wiederum das Problem der Ehe vor ihn bringen, das sie erfinderisch in ein theologisches Rätsel umgewandelt haben, so antwortet Jesus ihnen nicht: „Ihr Heuchler, was versucht ihr mich?" (Matth. 22, 18), sondern froh über die in böser Absicht herbei geführte Gelegenheit bestimmt er den Platz, den die Ehe in der geistigen Welt einnehmen soll und er trägt seine Lehre mit solcher Kraft und Klarheit vor, daß „da solches das Volk hörte", entsetzten sie sich über seine Lehre (Matth. 22, 33). Noch mehr spricht sich Jesu warmes Empfinden für die Familie darin aus, daß er sie als Sinnbild alles dessen gebraucht, was seiner Seele am heiligsten ist. Man kann seine ganze Theologie eine Verklärung der Familie nennen. Gott ist ein Vater; der Mensch ist sein Kind, und dem

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Kinde wird vom Vater die köstliche und versöhnende Botschaft der väterlichen Liebe gebracht. In jenem Gleichnis , das 11ns das sündige und reuige Leben am vollkommensten schildert, lauten die ersten Worte des verlorenen Sohnes, nachdem er „in sich schlug", „ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen", und als er noch weit entfernt ist, sieht der wartende Vater ihn kommen und wird von Mitleid bewegt. Das will heißen, daß Reue nur ein Heimweh der Seele ist, und daß die ununterbrochene und wache Sorge des Vaters das schönste, irdische Bild von der nie fehlenden Vergebung Gottes ist. Die Familie, so meint Jesus, ist jener göttlichen Ordnung, die er offenbaren sollte, am nächsten verwandt. Wenn wir aus all diesen Zeichen sehen, wie Jesus über die Familie gedacht hat, so müssen wir uns ferner seines beständigen warmen Empfindens für das Familienleben und seiner immer gleichen Verehrung für die Frauen erinnern. Obgleich Jesus „nicht hatte, da er sein Haupt hinlege" (Luk. 9, 58) war er weit entfernt von den Gewohnheiten des Zölibats und des Asketentums. Er teilte die Freuden des Hochzeitsfestes (Joh. 2, 1—11); er lebte bis zu seinem Mannesalter in der ruhigen Einfachheit eines dörflichen Hauses; er war seinen Eltern „Untertan" (Luk. 2, 51); von der Anspannung seiner letzten Tage ruhte er im Familienkreise zu Bethanien aus (Matth. 26, 6). Den Frauen gegenüber war er verständnisvoll und mutig. Nichts konnte Jesu Sinn mehr widersprechen als Bebels Ausspruch: „Das Christentum enthält in seinen Lehren dieselbe Verachtung der Frau, die alle Religionen des Orients enthalten." Im Gegenteil, ohne sich auf besondere Erörterungen über die Rechte der Frauen einzulassen, ehrte er sie in Wort und Tat. Zu einem unempfänglichen Weibe spricht

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er seine bedeutenden "Worte: „Gott ist ein Geist" „Ich bin's, der mit dir redet" (Joh. 4, 24—26). Er hat Verständnis für die Hingabe des andern Weibes, das ihre köstliche Salbe über ihn ausgießt (Joh. 12, 78); er liest in dem Herzen der sündigen Frau (Joh. 8, 7—11); er hebt Marthas Gedanken über die Sorgen des Haushalts hinaus (Joh. 11, 21—27); in seiner Lehre über die Ehe tritt er ausdrücklich für die Rechte und Pflichten der Frau ein, und sein letzter Gedanke, da er schon am Kreuze hing, gilt seiner Mutter und deren vereinsamtem Hause (Joh. 19, 26—27). Seine Lehre bewegt sich in einer Atmosphäre häuslicher Interessen und die Wertschätzung der Familie gibt seinen tiefsten Gedanken das Gepräge21). Sobald wir indes die Merkzeichen von Jesu Lehre näher beobachten, so tritt uns eine schlagende Ähnlichkeit entgegen mit den Erörterungen, die wir schon als die charakteristischen Zeichen unsrer Zeit beschrieben haben. Die Erwägungen, die das Problem der Familie in Jesu Augen bedeutend machten, waren natürlich weit entfernt von den Spekulationen und Besorgnissen der modernen Welt; aber es macht uns einen tiefen Eindruck, daß beide zu demselben Ergebnis gelangt sind. Die Lehre Jesu, die von einem ganz anderen Gesichtspunkte ausgeht, ergreift denselben Schlüssel zum sozialen Fortschritt, auf den uns jetzt die Sozial-Philosophie hinweist; und wie wichtig in dieser Beziehung die Lehre Jesu ist, vermochte erst die heutige Generation genügend zu schätzen, die ihre Aufmerksamkeit wieder dem Problem der Familie zuwendet. Sowohl in Jesu Lehre wie in jenen letzten Forschungen über die Entwicklung der Gesellschaft betrifft das Hauptproblem das eigentliche Wesen und die Fortdauer der häuslichen Gruppe: die moderne Forschung weiß, wie das System der zusammenhängenden Familien

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sich seinen Weg durch die Geschichte der Stämme und der Völker hindurchgebahnt und ganze Rassen zu einem festen Stoff geknetet hat. Vor Jesu Augen indessen breitet sich ein ganz anderer Gesichtskreis aus; er sieht, wie jene Gemeinschaft der Familien in eine noch weitere Sphäre göttlicher Ordnung hineingestellt ist und er findet in der Einheit der Familie jene soziale Kraft, die die ganze Menschheit zu einer großen Familie unter der Vaterschaft eines hebenden Gottes macht. Das moderne Gelehrtentum sagt in seiner Sprache: „Die Familie ist die Einheit der Zivilisation." Jesus in der Sprache der hebräischen Schrift sagt: „Und werden die Zwei ein Fleisch sein" . . . „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden." Treten wir nun an die Lehre Jesu mit der Erkenntnis heran, daß die Familie einen Hauptplatz in seinen Gedanken einnimmt, so ergibt sich noch eine andere Ähnlichkeit mit der modernen Lage. Die jetzige Streitfrage hat, wie wir schon gesehen haben, zwei verschiedene Gesichtspunkte — sie hat eine vorübergehende, augenblickliche, gesetzgebende Form, die die praktische Behandlung der Ehe und Ehescheidung in sich schließt und anderseits ihre mehr umfassende philosophische, prophetische Form, in der das Problem der Familie zu einem Element im Prozeß der sozialen Entwicklung wird. Denselben Unterschied kann man in der Lehre Jesu bemerken. Soweit Jesus auch davon entfernt ist, seine Rede in akademischer Weise mitzuteilen, so spricht er nichtsdestoweniger zuzeiten in Ausdrücken sozialer Gesetzgebung für die Familie, zuzeiten in Ausdrücken moralischer Erziehung durch die Familie. Einerseits gibt er eine eigenartige Lehre über Ehe und Ehescheidung; anderseits verkündet er Grundsätze des sozialen Lebens, die unmittelbar und

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tief auf die Institution der Familie wirken. Jener erste sichtbare und deutliche Gesichtspunkt seiner Lehre hat die Aufmerksamkeit derer, die das christliche Gesetz des sozialen Lebens erforschten, zum größten Teil auf sich gezogen, als wäre Jesus in erster Reihe ein sozialer Reformer gewesen; die zweite Art seiner Lehre, die mehr seiner gewohnten Weise allgemeiner Instruktion glich, ist weniger bestimmt und weniger nach außen gerichtet, wurzelt aber in Wahrheit viel tiefer in Jesu Absichten, und ist von größerer Bedeutung für die moderne Frage der Familie. Was nun die von Jesus angewandte Lehre über Ehe und Ehescheidung betrifft, so scheint es uns leicht sie zu deuten. Wir können in der Tat schwer verstehen, daß dieser Gegenstand so unerschöpflichen Stoff zu geistlichen Erörterungen gegeben hat. Manchem modernen Geist mag Jesu Lehre unwillkommen sein; unter den modernen Verhältnissen mag sie unpraktisch und unverständig erscheinen, sie mag, wie es Renan nannte, eine überspannte Moralität enthalten — aber in ihren Hauptzügen kann jene Lehre wahrlich nicht verwickelt oder zweideutig oder dunkel genannt werden. In jener Stelle, die am bestimmtesten darüber aussagt, beginnt Jesu Lehre wie so oft mit einem Text aus der hebräischen Schrift, aus jener Schrift, die er, wie er seinem Volke so feierlich sagt, nicht zerstören, sondern erfüllen will. „Und Gott schuf den Menschen," sprach Jesus mit den Worten des ersten Buches Moses, „und schuf sie einen Mann und ein Weib, und werden die zwei ein Fleisch sein" (Matth. 19, 4—5). Die also geschlossene Vereinigung, erwidert Jesus denen, die ihn „versuchen" wollten, ist eine unbedingte. „So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch" (Matth. 19, 6). Wenn deshalb ein Mann sein Weib verstößt und ein anderes

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heiratet, sagt Jesus ohne Zögern, bricht er die Ehe, und wenn ein Weib seinen Mann verstößt und einen anderen heiratet, so bricht auch sie die Ehe. In einer wichtigen Einzelheit freilich besteht ein Unterschied zwischen den Berichten des Matthäus und den parallelen Stellen bei Markus und Lukas (Mark. 10, 1—12, Luk. 16, 18). Das erste Evangelium schaltet in beiden Stellen, in denen es sich um Ehescheidung und "Wiederverheiratung handelt, die Bedingung ein, „es sei denn um der Hurerei willen", während in den andern zwei Evangelien selbst von dieser einzigen Ausnahme nichts bemerkt ist. Diese Abweichung in der Uberlieferung hat verschiedene Deutungen erfahren22). Wahrscheinlich ist einerseits, daß Jesus den Ehebruch, da dieser im praktischen Sinne die Vereinigung des Fleisches bricht, als das Ende der ehelichen Beziehungen angesehen hat. Weiter darf angenommen werden, daß die beiden Evangelien jenen Q-rund für eine Wiederverheiratung unerwähnt lassen, weil er ihnen ganz selbstverständlich vorkam. Auf jeden Fall muß zugegeben werden, daß das erste Evangelium einen Standpunkt vertritt, der nach einer Scheidung wegen Ehebruch dem unschuldigen Teil eine Wiederverheiratung gestattet. Hierin aber liegt keine Unterstützung für die, die den Ehebruch durch undefinierbare Ursachen wie Verlassung oder Abneigung oder noch trivialere Vergehen, wie es jetzt häufig geschieht, begründen wollen. Anderseits darf man vernünftigerweise den Schluß ziehen, daß es viel wahrscheinlicher ist, Matthäus sei in einer Sache, die so eng mit dem praktischen Leben verbunden ist, dazugeführt eine Ausnahmeklausel hinzuzufügen, als daß die beiden anderen Evangelisten versäumt haben sollten, eine so wichtige Bestimmung zu erwähnen. Ferner ist es gerade die Zulassung dieser einzigen Ausnahme, die in allen

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möglichen, verhüllten Formen jene Laxheit hervorgerufen hat, die Jesus durchaus ausschließen wollte, weil er wußte, daß der eine Teufel mit sieben andern Teufeln zurückkehren würde, die schlimmer wären als der erste28). So wichtig nun auch die Auslegung jener Stelle ist, und so lang die Erörterungen waren, die im Rat der christlichen Kirche sich auf jene Frage gründeten, so ist doch das wahrhaft bedeutende Element in der Lehre nicht das, über das die verschiedenen Berichte auseinandergehen sondern das, in dem sie übereinstimmen. Durch diese Erörterung über einen einzelnen Punkt ist die Hauptabsicht der Lehre weit in den Schatten gestellt worden. In Wahrheit legt Jesus den Nachdruck — nicht auf die Bedingungen einer möglichen Trennung — sondern auf die Frage der Wiederverheiratung nach einer solchen Trennung. „Wer sich von seinem Weibe scheidet und freiet eine andere," heißt es in allen Stellen. Jesu Protest richtet sich gegen die, die in Gedanken an eine Wiederverheiratung absichtlich eine Entfremdung in der Ehe herbeizuführen suchen, und die moderne Welt, die ein freiwilliges Verlassen, das oft nur in einer vorübergehenden und illegitimen Neigung seinen Grund hat, so häufig erlebt, weiß wohl, wie ernst die soziale Gefahr ist, die Jesus behandelt. Er erläßt kein Verbot gegen eine freiwillige Trennung, falls die Ehe ein Mißgriff war; er stellt an den unschuldigen Teil nicht die grausame Forderung, die Kinder oder das Leben oder die Liebe um eines großen Fehlers wegen zu opfern; aber ausgenommen diesen äußersten Fall um des einen Grundes willen — und vielleicht auch nicht einmal deshalb — ist der Fehler derartig, daß er nach Jesu Urteil dauernd getragen werden muß. Die Ehe soll nicht eine zeitweise Übereinkunft, sondern eine in Wirklichkeit unlösbare Vereinigung sein.

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Es überrascht uns nicht, daß sowohl die Pharisäer, denen Jesus jene Lehre gab, wie die Jünger, die ihr lauschten, sich in einem Protest gegen sie vereinigten. Einerseits sagten die Pharisäer, „das ist eine härtere Lehre als die, welche Moses uns gab," und Jesus gibt zu, daß es so ist. Ihr lebt, sagt er, nach dem Gesetz des Deuteronomiums, aber selbst in eurer eigenen Uberlieferung gibt es das ältere Gesetz der Genesis. „Moses hat euch erlaubt zu scheiden von euern Weibern; von Anbeginn aber ist es nicht also gewesen" (Matth. 19, 8). Das soll heißen: Hinter jener Auffassung der Ehe als Sakrament, selbst wenn es von Moses eingesetzt wurde, liegt das noch primitivere Gesetz der Natur, das in der Genesis niedergeschrieben ist, die wesentliche Anpassung der Monogamie an das menschliche Leben oder das, wie Jesus sagt, was von Anbeginn gewesen ist. Anderseits sagten die Jünger: „Stehet die Sache eines Menschen mit einem Weibe also, so ist's nicht gut, ehelich werden" (Matth. 19, 10) und denselben Einwurf macht die moderne Welt gegen eine zu strenge Handhabung des Ehebandes geltend. Die gemeine Gewohnheit des politischen und gesetzlichen Lebens trachtet weniger nach idealer, sozialer Auffassung als nach zeitweiliger Sicherheit gegen unmittelbare Gefahr. Eine strenge Regelung der Ehe, sagt man, vermehrt die Möglichkeit außerehelicher Verhältnisse und läßt in manchen Fällen Zweifel über die Rechtsgültigkeit der wahren Ehen und über die Legitimität der Kinder entstehen. Im Interesse der Ordnung sollte man deshalb den Ehevertrag vereinfachen und seine Lösung erleichtern. Das ist die Verteidigung sowohl der Gesetze , die die Ehe ohne vorhergehende Lizenz, ohne feierliche Magistratsperson und ohne Zeugen bestätigen als derjenigen, die die Ehescheidung um eines heftigen

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Temperamentes oder einer vorübergehenden Laune willen gestatten. Soll das Verhältnis eines Mannes zu seinem Weibe strenger gehandhabt werden, sagt man, so ist's nicht gut ehelich werden. Jesu Lehre jedoch spricht gegen alle die Vorschläge, die um der Heiligkeit der Ehe willen diese weniger bindend machen wollen. Jesus stellt uns nicht die Wahl zwischen einer dauernden Annahme der ehelichen Bande und einem Vertrag, der eilig geschlossen und eilig gebrochen werden kann; noch weniger gibt er die Möglichkeit eines lasterhaften Lebens zu, wenn man nicht verehelicht ist. Sein G-ebot, das im Lichte der modernen Gesetzgebung und des sozialen Brauches asketisch und unausführbar erscheinen mag, ist durchaus nicht unverständig; er stellt uns die Wahl zwischen dauernder ehelicher Vereinigung oder dauernder Keuschheit außerhalb der Ehe. Jesus gibt zu, daß es Fälle gibt, in denen es nicht gut ist, „ehelich werden" (Matth. 19, 10—12), obgleich das durchaus nicht Fälle bloßer ungenügender Selbstzucht sind, wie sie vor den modernen Gerichtshöfen Befreiung suchen. Physische Ursachen des Temperaments oder der Vererbung mögen zuweilen die Ehe verbieten. „Solche Menschen," sagt Jesus, „sind verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren." Wiederum ist ein tiefes, geistiges Bedürfnis zuweilen unvereinbar mit der Ehe, und das war in der Tat bei Jesus der Fall. „Das sind Menschen," sagt er, „die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen." In allen solchen Fällen handelt es sich nicht um größere, sondern um geringere sexuelle Freiheit. Sie opfern das Familienleben einer Pflicht, die in ihrem Falle höher steht. Sie handeln nach dem Worte Jesu, daß es besser ist, das rechte Auge auszureißen und die rechte Hand abzuhauen, als daß sie uns eine Ursache werde zum Straucheln (Matth. 18, 8—9).

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Die allgemeine Regel für die Ehe und deren logische Folgen finden wir in Jesu Lehre deutlich und unverhüllt. Die Ehe, die von Gott eingesetzt ist zur Vereinigung zweier Menschen in einem Fleisch, ist seiner Absicht nach für zwei und nur für zwei, solange diese beiden leben. Nur zu blicken auf ein anderes "Weib, ihrer zu begehren, heißt im Herzen einen Ehebruch mit ihr begehen. Jesus erkennt weder eine gleichzeitige, noch eine sogenannte aufeinander folgende Polygamie an24). G-erade so wie jene anderen Familienbeziehungen, das Verhältnis der Eltern zum Kinde, das des Bruders zum Bruder nie „geschieden" werden können, gerade so kann in diesen Beziehungen wohl Entfremdung, ja selbst Trennung aber niemals Scheidung eintreten, die eine neue Verbindung mit neuen Söhnen und Brüdern erlaubt — gerade so faßt Jesus das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf. Die Menschen, die eine Ehe schließen und Eltern werden wollen, nehmen eine Verantwortlichkeit auf sich, der sie nicht entfliehen können. Der Sohn, mag er auch ein verlorner Sohn sein, gehört doch zum Vater; der Gatte, wenn er auch in einem fernen Lande in dauernder Trennung von seinem Weibe lebt, gehört dennoch zu ihr. Das christliche Gesetz ist nicht in erster Linie dazu bestimmt, Nachsicht mit sozialen Fehlgängen zu haben, sondern die Grundsätze des Reiches Gottes aufzustellen. Diese Strenge, die unmöglich aus Jesu Lehre ausgeschieden werden kann, sie gerade war es, die jene Lehre zuerst so unwillkommen machte. Sie fiel in eine Zeit, wo in Rom die häusliche Lauterkeit, die einst den Staat begründet hatte, durch äußeren Schein und durch Ausschweifungen zerrüttet war, wo in Judäa die Lehren der Schrift in so gelehrter Weise gedeutet wurden, daß sie gerade die Zügellosigkeit gestatteten, die sie ursprünglich verbieten sollten. So war also Jesu Lehre, obwohl sie den besseren

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Überlieferungen beider Länder getreu war, zu strenge für die römische Aristokratie, die nur der Befriedigung ihres Selbst lebte und zu unverhüllt und klar für die schlauen Theologen Jerusalems. Sie verletzte in der Tat beide um so mehr, als sie beide gezwungen waren, anzuerkennen, daß sie das Ideal darstellte, von dem sie abgefallen waren. In diesem Sinne prüft Jesus noch heute die Herzen und tritt dem selbstzufriedenen Begehren und dem theologischen Scharfsinn entgegen. Jeder Klage über unglückliche, häusliche Verhältnisse, über ungleichartiges Temperament und neuerdings entdeckte Seelenfreundschaft begegnet Jesus mit den einfachen Worten: „Was nun G-ott zusammengefüget hat, das soll der Mensch nicht scheiden" (Matth. 19,6). Und wenn sie, die sich seine Diener nennen, es den Menschen gestatten seinen Gesetzen weichherzig zu entfliehen, so tritt er ihnen mit den unverhüllten Worten, entgegen: „Wer sich von seinem Weibe scheidet und freiet eine andere, der bricht die EheJ (Matth. 19, 9). Die Familie ist für Jesus keine zeitweilige Institution, die einem unbeherrschten Temperament und einer Laune preisgegeben ist; sie wurde eingesetzt, um jene Nachsicht und Selbstzucht zu pflegen, die viele Menschen gerade abschütteln wollen, und der rasche Bruch der Familie vernichtet jene Tugenden schon im Keim. AVarum sollte man in der Ehe soviel Rücksicht und Nachsicht üben, da es so viel leichter ist, sie zu lösen als wirklich gut zu sein. Schließlich ist es sehr interessant zu beobachten, daß in Bezug auf die Ehe, Jesu hoher Idealismus nicht unvereinbar ist mit gesunder Vernunft und gemeinem Menschenverstand. Als er eines Tages von den Sadduzäern gefragt wurde, was seinen strengen Ehegesetzen zufolge „in der Auferstehung" (Matth. 22,28) dem Weibe geschehen würde, auf das viele rechtmäßige Ansprüche hätten, antwortete

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Jesus ohne Zögern, daß das Eheverhältnis auf physische Bedingungen gegründet und nicht maßgebend für das himmlische Leben sei. In der Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern sie sind gleich wie die Engel Gottes im Himmel (Matth. 22, 30). Von einem Mystiker und Schwärmer, als ein solcher erschien Jesus ohne Zweifel denen, die ihn versuchten, setzte man voraus, daß seine Lehre keine Ausnahme dulde und daß er leicht gleich manchem schwachen Mystiker der modernen Welt in eine Abhandlung über geistige Ehen und Seelenfreundschaften gelockt werden könnte. Jesus ist jedoch in dieser Sache weder ein Mystiker noch ein Asket. Er erkennt an, daß in der Ehe die physische Liebe ein Element zur geistigen Vereinigung ist. Er betrachtet die Dinge des Fleisches nicht als unrechte, sondern als wirkliche Dinge. Gerade die Tatsache, daß wie Jesus sagte: „der machte, daß ein Mann und ein Weib sein sollte", beschränkt die ehelichen Beziehungen auf das physische Leben, und jene physische Beziehung macht die Ehe zu einem Verhältnis, das dauern soll, solange das physische Leben dauert. Das war im wesentlichen die eine Form des sozialen Gesetzes, das Jesus uns gegeben hat. Für eine große Menge Menschen, die zerrüttete, häusliche Verhältnisse mit christlicher Treue in Einklang zu bringen wünschten, war es hart jene Lehre aufzunehmen; vielen Unschuldigen hat sie ohne Zweifel schweres Leid gebracht; vielen, die leichtherzig und unvorsichtig eine Ehe geschlossen hatten, kam die Strafe für ihren Fehler oft unerträglich vor. Jesus jedoch überschaut das Problem der Ehe wie alle anderen sozialen Probleme von oben in dem weiten Gesichtskreis der göttlichen Absichten. Einem klugen Arzte gleich löst er sich los von einer gänzlichen Vertiefung in spezielle Fälle

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des sozialen Übels und betrachtet diese in ihrer Beziehung zu den allgemeinen Grundsätzen der sozialen Reform. Es kann wohl sein, daß seine Lehre nicht Frieden, sondern das Schwert bringt. Es kann wohl geschehen, daß eine Schwiegertochter sich gegen die Schwiegermutter auflehnt, und daß man des Mannes Feinde im eigenen Hause findet. Nichtsdestoweniger bleibt die feste, monogamische Familie in Jesu Lehre das Sinnbild für die Einheit des Reiches Gottes, und Jesu Hoffnung für die Welt soll sich durch die Ausbreitung jener Liebe erfüllen, die naturgemäß in der unverdorbenen und ungestörten Einheit des Hauses geboren wird. Auf die Aufrechterhaltung des Hauses im Interesse des Reiches Gottes ist seine Gesetzgebung gerichtet. Jesus erlaubt denen, die durch Fehler oder Unglück in häusliche Zerrüttung geraten sind, ihren Fehlgriff einzugestehen und sich zu trennen; aber eine neue Verbindung gestattet er nur um eines einzigen Grundes willen — und nicht einmal ganz sicher um jenes Grundes willen. Vor jenen Ehen aber, die mit Vorbedacht auf dem wohlkekannten Felsen vernachlässigter Pflicht Schiffbruch erlitten haben, damit der eine oder der andere Teil sich mit voller Freiheit auf ein anderes Wagnis einlassen kann, steht Jesu Lehre gleich einem Leuchtturm, um den Kanal zu bezeichnen und um solches Unglück zu einem Verbrechen zu stempeln, das nicht zu entschuldigen ist. Jesu Lehre zufolge dürfen besondre Fälle sozialen Übels nicht die allgemeine Gesundheit gefährden. Sozialer Schiffbruch darf die soziale Schiffahrt nicht hindern. Der Blick von oben gibt vielem in Jesu Lehre Bedeutung und rechtfertigt, was von unten gesehen, unvernünftig strenge erscheint. Solche Ergänzungen jedoch, wie diese, die aus der Gesetzgebung Jesu herauswachsen, führen uns, wie wir Peabody, Jesus Christas und die soziale Frage.

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sehen werden, weit über die wirkliche Sphäre derselben hinaus, und wir gelangen in das Gebiet der allgemeinen Folgen seiner Lehre und hier stoßen wir, wie schon bemerkt worden, auf das, was in Jesu Lehre charakteristischer ist als es Gesetzgebung in irgend einer Form sein kann. Wenn es wahr ist, wie wir es sowohl den Schlüssen des modernen Gelehrtentums wie den christlichen Evangelien entnehmen, daß die Aufrechterhaltung der Familienlauterkeit die Grundlage der jetzigen sozialen Ordnung ist, dann muß es ebenfalls wahr sein, daß jene Tendenzen und Unternehmungen der modernen Gesellschaft, die auf die Befestigung der Familie hinaus gehen, am meisten mit Jesu Zwecken in Einklang stehen, und es muß ferner wahr sein, daß viele Tendenzen und Unternehmungen der modernen Gesellschaft, die an und für sich geringen Schaden bringen, zu ernsten, sozialen Gefahren werden, sobald sie die Reinheit der Familie bedrohen. "Wir müssen in der Tat weiter gehen und zugeben, daß die Hauptstützen der Familie nicht in irgend einer Form der Gesetzgebung, sei sie nun politisch oder christlich, zu suchen sind, sondern in den viel entfernteren Quellen sozialer "Weisheit und Kraft. Viel von der Kraft, die darauf bedacht ist, Regeln über Ehe und Ehescheidung aufzustellen, gleicht zum großen Teil jener Kraft, die den Deich aufrecht erhalten will, nachdem der Ozean schon begonnen hat hindurch zu rieseln. Gegen die Außenseite solch heilender Gesetze drängt die gewaltige Flut rastloser "Wünsche mit einer Kraft, gegen welche die Verbesserungen der Gesetzgebung nur von geringem Nutzen sind, und der wachsende Strom der Ehescheidungen, der jetzt die Schranken der Familie durchbricht, ist in "Wahrheit das Anzeichen eines Sturmes, der oft durch weit entfernt liegende Ursachen hervorgebracht wird. Es gibt im

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modernen Leben Verhältnisse, die Verwirrung und Heimatlosigkeit unvermeidlich machen, wo es Hohn sein würde, von der Heiligkeit des Hauses zu sprechen, und es gibt andere soziale Verhältnisse, die von den erstem weit entfernt sind, welche durch ihren sozialen Ehrgeiz und ihre Öffentlichkeit eine beinahe ebenso große Gefahr für die Familie sind. Will man die Bedeutung von Jesu Lehre für die jetzige moderne Welt erkennen, so muß man Dinge in Rechnung ziehen, die anscheinend ganz außerhalb des besondern Problems der Familie liegen und muß Tendenzen des heutigen Lebens erwägen, die einerseits nach sozialer Lauterkeit und anderseits nach sozialer Auflösung streben. Jene entfernteren Ursachen, die in unsrer Zeit für oder gegen die Stabilität der Familie sprechen, sind in der Hauptsache von zweierlei Art. An erster Stelle sind es Ursachen, die aus der wirtschaftlichen Bewegung unserer Zeit hervorgehen, an zweiter Stelle sind es solche, die aus den herrschenden Maßstäben des sozialen Lebens sich ergeben. Die -wirtschaftlichen Einflüsse wirken hauptsächlich auf unsere sozialen Sitten; die moralischen Ursachen haben eine noch ernstere Wirkung auf das, was wir unseren sozialen Glauben nennen können. Von den wirtschaftlichen Wandlungen, die das häusliche Leben zu bestimmen pflegen, tritt am sichtbarsten die beispiellose Konzentration der Bevölkerung im städtischen und industriellen Leben hervor. 1791 lebten in den Vereinigten Staaten nur drei Prozent der Bevölkerung in Städten über fünftausend Einwohner. Im Jahre 1840 waren es noch acht Prozent, dann aber wuchs der Zuzug nach den Städten so sehr an, daß 1880 zweiundzwanzig, also beinahe ein Drittel der Bevölkerung in Städten wohntea&). Das Wachsen der „Großindustrie" bietet uns 9»

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nur ein anderes Bild derselben Strömung; sie häuft die Bevölkerung aufeinander und zieht Produzenten, Verkäufer, Käufer und Händler zusammen, bis man im noch soweit entfernten, ländlichen Leben das spürt, was Mr. Charles Booth die „Zugkraft der Städte" nennt. Es wäre ganz ungerechtfertigt zu sagen, daß jener Zug und die Anhäufung der Bevölkerung, die er zur Folge hat, notwendig die häusliche Einigkeit stören müsse; aber wahr ist es, daß jene Verhältnisse dem Familienleben ungünstig sind. Die Zahl der Ehescheidungen, die jährlich in den Vereinigten Staaten bestätigt wird, ist um ein Drittel, ja um die Hälfte größer als die auf dem Lande26). Anderseits bietet das Leben auf dem Lande keine Bürgschaft für Zuneigung und Rücksichtnahme; gerade die Einförmigkeit und Einsamkeit des Landlebens treibt ruhelose Geister, sei es zum Guten oder zum Bösen, oft in die Lebhaftigkeit und Gemeinschaft der Großindustrie und der Großstadt; im allgemeinen jedoch ist das Stadtleben von einem Gefühl der Unbeständigkeit und Heimatlosigkeit durchdrungen, während das Leben auf dem Lande häusliche Reinheit begünstigt. Die Bevölkerung einer großen Stadt ist nur zum geringsten Teil imstande, die Abgeschlossenheit einer Häuslichkeit aufrecht zu erhalten und jene Gefühle und Uberlieferungen zu pflegen, die im Innern des Hauses gedeihen. Ein großer Teil der Stadtbevölkerung gleicht industriellen Nomaden, die, wie die Araber, täglich ihre Zelte abbrechen und dorthin auswandern, wo sie einen besseren Markt für ihre Arbeit und ihre Waren finden, und ein erbarmungswürdig großer Teil hat nicht einmal Zelte, die sie aufnehmen; sie hausen, wie der Zufall sie zusammenwürfelt, in den Logierhäusern, in den Schlafstellen oder auf der Straße. Dieses ruhelose Wandern, das dem Armen aufgedrängt und zur Gewohn-

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heit geworden ist, scheint in der Tat von den "Wohlhabenden jetzt aus Liebhaberei betrieben zu werden, und es gibt viele Reiche, die die Öffentlichkeit oder ein oft wechselndes Quartier oder ein Hotel einer dauernden Heimstätte vorziehen. Welche wirtschaftlichen oder KonvenienzVorteile für ein Gemeinschafts- oder für ein Wanderleben sprechen mögen, es ist doch gewiß, daß dieses bei reich und arm jenes Gefühl untergräbt, das die Einheit der Zivilisation erhält. Die römische Familie hatte als Symbol der Stetigkeit ein heiliges Feuer, das auf dem Herd der Ahnen brannte; aber jenes Gefühl einer heiligen und dauernden Einheit kann man schwerlich um den Kochherd einer Mietswohnung, an der zugigen Luftheizung eines Logierhauses oder auch bei der Dampfheizung eines „chambre garnie" pflegen. Das Problem der Stadt jedoch, das also in das Problem der Familie verwickelt ist, bietet durchaus keine so beträchtliche, überwältigende, soziale Gefahr, wie man bei dem ersten Anschein denkt. In jener Anhäufung des sozialen Lebens sprechen viele Zeichen für eine Wiederherstellung der sozialen Gesundheit und für eine Erneuerung der häuslichen Reinheit. Gedenken wir zuerst der großen Fürsorge, die bessere Wohnungen für die Armen schafft. Eine der größten Errungenschaften der modernen Philanthropie ist die Entdeckung, daß Musterwohnungen unter geeigneten Verhältnissen eine gute Kapitalanlage sind. Es ist seit langer Zeit der unerfüllte Wunsch der Wohlgesinnten gewesen, wohltätig zu sein ohne ungeschäftlich zu werden, und der Logierhausbetrieb ist dahin gelangt, wenigstens eine Form der Wohltat zu bieten, die sich den weitherzigen aber klugen Menschenfreunden mit Recht empfiehlt27). Sollen jene praktischen Unternehmungen jedoch dauernden Erfolg haben, dann muß eine sehr

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wesentliche Bedingung berücksichtigt werden, deren Vernachlässigung manchem wohlgemeinten Plan ungeahntes Unglück gebracht hat. Es ist die Bedingung, die jeder Familie häusliche Unabhängigkeit und Abgeschlossenheit sichert. Mag auch der Wohlhabende Vergnügungen außerhalb des Hauses zuneigen — das gesunde Gefühl des sich selbst achtenden Armen fordert etwas, das man ein Heim nennen kann. Aus diesem Grunde müssen Blocks von Musterwohnungen so gebaut werden, daß jede Familie ihre eigene Haustür hat, hinter der alles, was zum Leben nötig, geborgen ist. Deshalb ist es auch, wenn es irgend durchführbar, klüger, einzelne Häuser zu bauen als feste Blocks. Die großen, industriellen Kolonien, die ganz unter Aufsicht eines Arbeitgebers oder einer Korporation stehen, sind dem Arbeiter oftmals unwillkommen, selbst wenn sie mit aller Behaglichkeit ausgestattet sind und ihm unter günstigen Bedingungen überlassen werden. Der gute Arbeiter will nicht patronisiert werden, sondern er fordert gerechte Bezahlung und Unabhängigkeit. Er will das Gefühl haben, daß er etwas sein eigen nennt und daß er etwas hat, für das er spart. Das hat manchen Arbeitgeber irre gemacht, weil es ihm vorkam, als wenn Undank und Dummheit seine Pläne durchkreuzten, während doch nur der gesunde Instinkt des Hauses ihm entgegentrat. So zeigt uns das industrielle Problem der Wohnungen für die Armen in unerwarteter Weise, wie fundamental die Bedeutung ist, die das Problem der Familie hat. Ein zweites, hoffnungsvolles Zeichen bei der gegenwärtigen Anhäufung der Bevölkerung ist der rasch wachsende Hang zum Vorstadtleben. Die Vorkehrung, die einen raschen Durchzug vom Mittelpunkt einer Stadt ermöglicht, treibt eine große Menge einfacher Menschen täglich aus der innern Stadt hinaus zu den natürlichen

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Verhältnissen des ländlichen Lebens, sodaß vielleicht die Zeit nicht mehr fern ist, wo eine Stadt wenig mehr als ein ungeheueres Warenhaus und ein Verkaufsplatz ist, wo die Bevölkerung abnehmen wird wie in jenem Teil Londons, den man speziell die „City" nennt. In jenem Volksstrom, der allmorgendlich in die Stadt hinein- und allabendlich aus ihr herausfließt, sehen wir eine soziale Bewegung, die ohne Zweifel zur Reinigung des sozialen Lebens und zur Wiederherstellung häuslicher Eintracht beiträgt. Ein Vorstadtheim bietet keine Gewähr für häusliches Glück, aber es bietet eine Stätte, wo Zuneigung, Anhänglichkeit, Einfachheit und Sparsamkeit gepflegt werden können. Der denkende Beobachter zählt die endlose Reihe hescheidener und oft geschmackloser Häuser, die jetzt jede Großstadt umgeben, zu den bedeutendsten Beiträgen zum Problem der Familie. Noch eine weitere Tendenz, die im städtischen Leben allgemein geworden ist und bessernd auf die Reinheit der Familie wirkt, ist die verständige Pflege der Kinder. Die moderne Wissenschaft, die sich mit der Pflege der Kinder beschäftigt, stützt sich auf den Glauben an die stärkende Kraft eines guten Heims. Sie hält die städtischen Einrichtungen nicht nur für die kostspieligste, sondern auch für die hoffnungsloseste Art für abhängige Kinder zu sorgen, und ihre Hoffnung beruht darauf die Kinder dem Einfluß der Stadt zu entziehen und ihnen auf dem Lande ein Heim zu schaffen28). Alle Länder, die lebhaft auf öffentliche Hilfe bedacht sind, haben sich zu dem System bekannt die Kinder „auszutun", weil das die den Kindern angemessenste Art des Wohltuns ist, und diesem System liegt nicht in erster Linie der Gedanke zu Grunde den Kindern außerhalb des Hauses, sondern außerhalb der Stadt ein Obdach zu schaffen und je weiter entfernt desto

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besser. Der Instinkt des Familienlebens, der sozusagen durch das Wachsen der Stadt bedroht ist, zeigt uns wiederum den gesundesten und fruchtbarsten "Weg zur Rettung der Stadt. Eine ähnliche Tendenz finden wir in den Gewohnheiten der Wohlhabenden. Die Anforderungen des Geschäfts und der Hang sich in Herden zusammenzurotten, zwängen manche wohlhabende Menschen in eine Form des Stadtlebens hinein, das kaum einem Familienleben gleicht, und die geteilten Interessen und die Verpflichtungen außerhalb des Hauses zerren an den ehelichen Banden und reiben sie schließlich auf. Sobald jedoch diese widersinnigen Anforderungen der Stadt befriedigt zu sein scheinen, machen sich die gesunderen, häuslichen Neigungen wieder geltend, und die Wohlhabenden schließen sich — oft in der Tat, um der städtischen Steuer zu entgehen aber ebenso oft, um sich der Öffentlichkeit und dem verwirrenden Treiben der Stadt zu entziehen —, jenem Strom an, der ins Land fließt, sodaß in vielen Städten wenigstens ein halbes Jahr lang die Straßen, in denen die luxuriösen Stadtbewohner leben, in Grabesstille liegen. Noch bedeutungsvoller ist ihr Verhalten in Bezug auf die Kindererziehung. Sie sind sich ganz unbewußt darüber klar, daß das Kind zuerst eines Heims bedarf, und da sie erkennen, daß ihre eigenen häuslichen Niederlassungen jenen Namen kaum mehr verdienen, so übertragen sie die Sorge für ihre Kinder, hauptsächlich für die Knaben, Lehrern auf dem Lande. Das ist nur eine andere Anwendung desselben Systems „die Kinder auszutun", ein System, das man seit langer Zeit mit Erfolg bei den Kindern der heimatlosen Armen angewandt hat, und das nun mehr und mehr Ausdehnung gewinnt unter den Kindern der heimatlosen Reichen. In solchen Fällen sollte man jenen Lehrern, die mit voller Hingabe

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sich bemühen eine Schule in eine Familie umzuwandeln, die allerhöchste Achtung zollen; aber was kann man anderseits von der Familie sagen, die selber eingesteht, daß sie für die Kinder weniger gesund ist als eine Schule? Ohne Zweifel können gelegentlich häusliches Unglück, ein notwendiger Bruch oder unvermeidliche Verhältnisse es sowohl bei den Reichen wie bei den Armen nötig machen, das Kind der Obhut Fremder anzuvertrauen. Im allgemeinen jedoch ist das Wachsen der Pensionen eine Anklage gegen das Haus. Es mag sein, daß das Kind in einer Schule eine bessere Erziehung genießt als im Hause, aber nur aus dem Grunde, weil das Haus aus genügenden oder ungenügenden Ursachen nicht das ist, was es sein sollte. Anderseits ist das System „die Kinder auszutun" das sprechende Zeugnis dafür, welch große Bedeutung das Haus bei der Erziehung hat. Die Eltern, die ihre Kinder so in Kolonien zusammenleben lassen, zeigen deutlich, daß sie ihnen gern einen Ersatz für die Segnungen geben möchten, die sie in der eigenen Häuslichkeit entbehren , um die moralische und physische Gesundheit derer zu sichern, die ihnen das Liebste sind. Die Übel, die aus den Straßen der Stadt und aus den Häusern hervorgehen, die kein wirkliches Heim sind, bedrohen reich und arm in gleicher Weise, und unter dem Problem der Stadt lesen wir wie unter einem Palimpsest die zugrunde liegenden Zeichen, die von der Bedeutung der Familie reden. Es gibt noch viele andere wirtschaftliche Wandlungen, die in derselben Weise den Umfang des Problems der Familie vergrößern und die zur Lösung einer Frage beitragen, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. Jeder, der verständig sein Kapital in wohlgebauten Wohnungen für die Armen anlegt, der die Eisenbahnlinien in

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die Vorstädte ausdehnt und ihre Fahrpreise herabsetzt, jeder, der seine Angestellten zur Beständigkeit und Sparsamkeit ermuntert, der zur Verbesserung des städtischen Lebens beiträgt, der dem Laster der Trunksucht entgegentritt, der neue Quellen erschließt, die dem Volke Erfrischung, Belehrung und Gesundheit bringen, — trägt zur Reinheit und zum Frieden des Hauses bei. Wir bemerkten am Anfang, daß, wenn wir einen Auszug machen würden von der Geschichte der Entwicklung der Familie, wir Schritt für Schritt die fortschreitende Geschichte der menschlichen Zivilisation fänden. Nun fügen wir noch hinzu, daß die Erhaltung der Familie sowohl einen Beweis für die Weisheit der wirtschaftlichen Bewegungen als der philanthropischen Bestrebungen liefert. Jene philanthropischen Unternehmungen und jene wirtschaftlichen Ausgleiche, so segensreich sie sein mögen, enthüllen uns dennoch nicht die Hauptursachen, die dem Problem der Familie zu Grunde liegen. Die wesentlichen Quellen häuslicher Unstetigkeit sind nicht wirtschaftlicher sondern moralischer Natur. Das Problem der Familie ist nicht in erster Linie ein Ergebnis mangelhafter, sozialer Einrichtungen, sondern es ist das Ergebnis mangelhaften, sozialen Glaubens. Die Wahrheit dieser Behauptung wird sofort dadurch bestätigt, daß die Ehescheidung ebenso wie nervöse Niedergeschlagenheit ein Übel ist, das die Wohlhabenden öfter trifft als die Armen. Die Lebensverhältnisse, das „durcheinander leben" bringen den Armen oft in mancherlei Versuchung, und doch ist die innige, eheliche Liebe, die selbst durch Armut und Laster nicht gebrochen wird, einer der hauptsächlichsten und rührendsten Charakterzüge der Armen. Mancher wohlmeinende Menschenfreund hat versucht eine Familie aus dem Elend emporzuheben, indem er die Frau von dem herunter-

Jesu Lehre von der Familie.

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gekommenen Manne trennte, und er ist entsetzt und womöglich verletzt worden durch die unverständige Treue, mit der der unschuldige Teil an dem unwürdigen Partner hing. Das bedeutet: Zum großen Teil ist häusliche Unbeständigkeit nicht das Resultat ungünstiger Verhältnisse, sondern das Ergebnis ungeistlicher Anschauungen, die Glück und Erfolg außer dem Hause suchen. Sie ist nicht die Folge eines harten Lebens sondern eines schwachen Glaubens; sie werden nicht in erster Linie durch äußere sondern durch innere Dinge hervorgerufen und ihre Heilung muß durch eine feinere, soziale Moral und durch eine würdigere Auffassung von den Zielen des menschlichen Lebens geschehen. Das Problem der Familie ist nur ein Zug jenes ganzen Treibens der sozialen Richtungen und Ideale im modernen Leben, und von diesem Gesichtspunkte aus ist die Auflösung der ehelichen Bande das Vorzeichen eines allgemeinen Erdsturzes sozialer Moralität und gleicht dem gelegentlichen Herabfallen von Eisstückchen, das in den Alpen eine allgemeine, in einer mächtigen Lawine endende Erweichung der Kruste anzeigt. Für das uns drohende Sinken des sittlichen Maßstabes sprechen im modernen Leben zwei deutliche Anzeichen — das eine ist die Deutung des Lebens im Ausdruck des Egoismus und das andere ist die Wertschätzung des Lebens im Sinne des Geschäftsprinzips. Das eine ist die Liebe zu sich selber, das andere die Liebe zum Gelde. Das eine ist die alte Ketzerei, die sich selbst zum Mittelpunkt der sozialen "Welt macht, — es ist die ptolomäische Philosophie des selbstsüchtigen Lebens; das andere ist die besondere Versuchung, die dem sozialen Leben in unsrer Zeit gegenübersteht, eine Folge der reichen Schaffenskraft und des Uberflusses, die in der modernen Welt zu Tage treten.

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III. Kapitel.

Es ist nicht nötig über die Wirkung zu sprechen, die bloße Selbstsucht bald in Form tierischer Brutalität, bald in Form unedler Selbstbevorzugung auf die Stetigkeit der Familie ausübt. Die Familie bildet ihrer eigenen Natur nach eine Übertragung von dem sich selbst betrachtenden zu dem sich unterordnenden Leben. Der einzelne Mensch gibt sein isoliertes Selbst auf, wenn er in die soziale Vereinigung eingeht. Deshalb ist eine Ehe, in der der eine Teil alle Rechte beansprucht und der andere alle Pflichten erfüllt, kein rechtes Familienverhältnis sondern ein Verhältnis von Obergewalt und Dienstbarkeit; sie ist ein Rückfall in jene ursprünglichen, patriarchalischen oder matriarchalischen Q-ruppen, aus denen die Rasse durch langsame Entwicklungsprozesse hervorgegangen ist. Die Ehe ist in ihrer modernen Form der elementarste Ausdruck des gemeinsamen Lebens. So einfach diese Behauptung auch sein mag, so werden doch viele Menschen durch ihre Wahrheit in Schrecken versetzt. Sie glaubten, daß in der Ehe Brutalität und Leidenschaft, ein despotisches Regiment und eigennützige Klagen geduldet würden und bei der Entdeckung, daß die Ehe gemeinsame Rechte und gemeinsame Opfer fordere, gerieten sie in Zorn über die ungeahnten und verdrießlichen Beschränkungen. Sie haben die Ehe kaum für etwas mehr gehalten als eine Befriedigung der Lust oder des Ehrgeizes oder jeder beliebigen Form, in die sich die Eigenliebe kleidet und nun finden sie sich plötzlich in eine moralische Lage verwickelt, die die beständige Ausübung jener großmütigen Triebe fordert, von denen vielleicht ihre erste Liebe erfüllt war. Darin liegt sowohl die Hauptgefahr wie die hauptsächliche soziale Leistung des Einrichtens der Familie. Die größte Gefahr, die der Familie droht, besteht nicht in unvollkommenen

Jesu Lehre von der Familie.

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Gesetzen und unangemessenen, sozialen Einrichtungen sondern in dem ungezügelten "Willen und in dem nicht aufs Gemeinsame gerichtete Begehren in den überwiegend tierischen Trieben, den Instinkten der Raubtiere, einer Natter und eines Schweines, die noch im Menschen fortleben. Andererseits besteht der hauptsächlichste soziale Beruf der Familie darin, daß sie beiträgt zur Sozialisierung des Willens. Die Familie stellt das Individuum bei der Geburt in ein Verhältnis altruistischen Interesses. Sie erneut und reift die Freude, die sie in der Aufopferung gefunden hat, wenn es eine eigene Familie gründet; sie dauert nur fort solange solche Hingabe zum Gesetz des Lebens wird. Das bedeutet: Es ist nicht der Beruf der Familie das Leben leichter sondern besser zu machen. Sie beruht auf den edlen Trieben natürlicher und sich selbst vergessender Liebe. "Wollte man die Ehe von irgend einem anderen Standpunkte aus betrachten, so hieße das nur das Unglück herbeiziehen. Häusliche Stetigkeit entsteht nicht durch die Herrschaft des einen "Willens und die Unterdrückung des anderen Willens, sondern durch die Zucht eines Jeden zu gegenseitigem Dienen, durch die Berichtigung gegenseitiger Fehler, durch das Teilen gemeinsamer Lasten und Freuden. Solche Verhältnisse schließen naturgemäß ein Abschleifen und Verbessern, Selbstzucht und Aufopferung in sich; aber gerade jene ethischen Anforderungen geben der Familie einen Anteil an der moralischen Erziehung des Menschengeschlechtes. Eine ebenso große Gefahr für die Lauterkeit der Familie wie die Selbstsucht ist der rein kaufmännische Geist. Es ist an sich keine Sünde Geld zu erwerben. Es gibt im Leben wenig Wünsche, die achtenswerter oder dem Charakter förderlicher sind als das Streben durch ehrliche Arbeit Geld genug zu verdienen, um sich selbst und die man

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IIL Kapitel.

lieb hat von drückenden und niedrigen Sorgen zu befreien. Der kaufmännische Geist dagegen schätzt das Leben nur nach dem Gelderwerb und erwartet vom Gelde Segnungen, die mit Geld nicht zu erkaufen sind. Ebenso wie er sich mit seinem Gelde andere Vorteile verschaffen kann, will er sich auch eine Sicherstellung seines Familienglückes erkaufen. Er spricht von einer „guten Heirat", wie er von anderen gewinnbringenden Spekulationen spricht, und doch kann jene Güte, ausgenommen in seinen Augen, lauter Schlechtigkeit sein. Niemand jedoch kann die Zeichen der Zeit lesen ohne zu bemerken, daß Geld und Glück ebenso oft voneinander getrennt wie vereint gefunden werden. Der kaufmännische Geist bereitet in der Tat den Boden, auf dem die Malaria häuslichen Unglücks sich am leichtesten verbreitet. Die Handelskonkurrenz verdoppelt sich im sozialen Leben. Die Gewohnheit öffentlicher Anzeige wird zu der Gewohnheit sozialer Prahlerei. Den Wert des Geldes nimmt man irrtümlich für einen Wert, der Freunde erwirbt, und schließlich tritt, gerade wie in den Handelsströmungen, ein Zusammenbruch des Hauses ein, und das Haus macht Bankrott und zerfällt wie die Geschäftsfirma. Es ist eine tragische Nemesis, die da folgt, wenn man den Mammon als Gott des Hauses aufgestellt hat. Lang ersehnter Luxus bringt Ruhelosigkeit mit sich; der Befreiung von wirklichen Sorgen folgt eine viel erschöpfendere Knechtschaft eingebildeter Sorgen; mag die Heirat anscheinend „gut" gewesen sein, so ist es für die, welche durch sie vereint wurden, schwer gut zu sein, und noch schwerer ist es für die aus ihr geborenen Kinder mannhaft und unverdorben zu bleiben. Das natürliche Ende naht schließlich in einem gewaltigen Stoß; das Götzenbild, das man fälschlich als Ideal auf den Herd des Hauses gestellt hat, stürzt aus seiner Nische und zertrümmert das Haus.

Jesu Lehre von der Familie.

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Der kaufmännische Geist übt aber nicht allein seine Wirkung auf die Familien aus, die im Handel Erfolge aufzuweisen haben. Es gibt viel mehr und viel pathetischere Fälle, in denen häusliche Unstetigkeit nicht aus schlecht ertragenem Wohlstand, sondern aus dem unbefriedigten Durst nach unerlangtem Reichtum hervorgeht. In solchen Fällen werden die Menschen vom kaufmännischen Geist angesteckt; aber ihnen fehlt die Erfahrung, die gegen solche Ansteckung festigt. Sie bilden sich ein, daß ihnen äußeres Gepränge und öffentliches Auftreten ein Glück bringt, das der Einfachheit und Abgeschlossenheit abgeht und daß in der Nachahmung jener Torheiten, die die Reichen begehen, ein Ersatz für das eigene Heim läge. Einen der erbarmungswürdigsten Berichte über die Ehescheidungen enthüllte uns die Tatsache, daß häusliche Unstetigkeit in den Vereinigten Staaten nicht so sehr unter den Armen oder Eingewanderten oder der arbeitenden Klasse herrscht als in dem ehrgeizigen, handelnden, wandernden Mittelstand der eingeborenen Amerikaner. Kurz, es ist ein Zeichen jener allgemeinen Ruhelosigkeit des modernen amerikanischen Lebens, in dem die Preise des Kommerzialismus der einzig sichtbare Lohn im sozialen Wettbewerb sind. Der verderbte Maßstab und die Ideale der im Handel aufgehenden Reihen sickern wie das Wasser einer infizierten Quelle durch die soziale Schicht und vergiften manches Leben, das mit den Versuchungen des Reichtums in keine unmittelbare Berührung gekommen, das aber durstet nach den Vergnügungen, derer sich die Wohlhabenden zu erfreuen scheinen. Wenn also der mit sich selbst beschäftigte Sinn und das im Handel aufgehende Leben die Quellen sind, aus denen eine so weit verbreitete Befleckung hervorgeht, dann muß man, um die soziale Gesundheit wiederherzustellen,

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III. Kapitel.

mit nichts geringerm beginnen als mit der Reinigung des herrschenden, sozialen Glaubens. Die Lauterkeit der Familie kann ebensowenig durch Verfügungen gesichert werden, wie die Gesundheit einer Stadt durch städtische Verordnungen geschützt werden kann, wenn das "Wasser, das sie versorgt, schon an der Quelle verpestet ist. Das Problem der Familie ist nur ein Teil jenes viel größeren Problems der Sozialisierung und Vergeistigung der Gewohnheiten und Ziele des sozialen Lebens. An diesem Punkte jedoch sehen wir uns wiederum, vielleicht mit einem gewissen Erstaunen, dem sozialen Prinzip der Lehre Christi gegenübergestellt. Genau dieselben Fragen, die durch den Gegensatz selbstsüchtiger und materieller Ziele der sozialisierten, geistigen Ideale entstehen, die jetzt die moderne Welt beschäftigen, bewegten auch Jesu Geist, und damals wie jetzt wurde die „crux" der Lage in dem Problem der Familie gefunden. Jesus malte sich selber eine vollkommene, geistige Einheit des sozialen Lebens aus, die er das Reich Gottes nannte, und Keim und Sinnbild für jene schließliche Verwirklichung dieses Reiches fand er in einer einigen Familiengruppe, in der die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen in hebender Hingabe besteht. Jesus verkündete deshalb das endgültige Gesetz für die Familie mit einer Bestimmtheit, wie er es in keinem andern Falle auch nur annähernd getan hat. Es scheint, als wenn Jesus uns sagen wollte, daß innerhalb einer reinen Familie sich die Grundsätze des Himmelreiches leicht bewahrheiten, die in größerem Umfange oft unklar werden. Jesus aber baute nicht darauf, daß solche Gesetzgebung das Himmelreich herbeiführen würde. Er überschaute das soziale Leben von oben mit dem freien Blick des Idealisten, und er nahte sich dem sozialen Leben von innen, indem er nicht die sozialen Verhältnisse, sondern

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die Menschenherzen wandelte. Er wußte wohl, daß keine sozialen Gesetze und wären sie noch so wesentlich, soziale Stetigkeit geben könnten, wenn nicht die innern Ideale des einzelnen Lebens an ihrer Quelle gereinigt und veredelt würden. Jesus sucht deshalb zuerst die Quellen des persönlichen Lebens auf, die, wenn sie unrein bleiben, sicher den ganzen sozialen Strom, in den sie fließen, infizieren werden. „Reinige zum ersten das Inwendige von Becher und Schüssel" (Matth. 23, 26), sagte er, „es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt" (Matth. 3, 10). Kurz, haben wir bisher die entferntem Ursachen verfolgt, die dem Problem der Familie zugrunde liegen, so kommen wir jetzt zu jener Lösung des Problems, die für Jesu Lehre am aller charakteristischsten ist. Es ist nichts geringeres als die Erlösung des persönlichen Lebens vom Geist der Selbstsucht und von jenem Fluch des Kommerzialismus, den das Neue Testament die Liebe zur "Welt nennt. Die Selbstsucht läßt die Quellen vertrocknen, aus denen der Strom des Himmelreiches fließt; der Kommerzialismus vergiftet jenen Strom in seinem Lauf. Wo die Familie zum Werkzeug des Selbst-Interesses oder zu einem Handelsvertrag erniedrigt worden, da ist durch äußere Gesetze kein Wandel zu schaffen, wo sich aber anderseits im häuslichen Leben eine selbstlose Natur und ein geistiges Sehnen kund gibt, da ist kein Familienproblem mehr zu lösen. Müssen wir nun aus alle dem schließen, daß jene umfassende und geistige Lösung des Problems der Familie keinen Erfolg gehabt hat? Daß die Dauer der Lehre Jesu über das selbstlose und unweltliche Leben der Familie nicht gesichert ist? Ist es wahr, daß jetzt sogar die Existenz der Familie ernstlich bedroht ist und daß voraussichtlich bald auf eine Periode der AbgeschlossenP e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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III. Kapitel.

heit der Familie eine Periode vollständiger Ungebundenheit oder kommunistischen Zwanges folgen wird? Im Gegenteil, müssen wir antworten, so ernst die Tatsachen auch sind, die wir in diesem Kapitel nachgewiesen haben, so haben sie doch eine solche Bedeutung nicht. Es ist erschreckend genug, wenn uns gesagt wird, daß in den Vereinigten Staaten von je tausend Ehen wahrscheinlich sechzig in Ehescheidung enden werden; aber wir dürfen nicht vergessen, daß von demselben Tausend neunhundert und vierzig in einem gewissen Grade in Einigkeit und Liebe fortdauern. Eine Epidemie, wie wir sie nachgewiesen haben, läßt, so ernst sie auch ist, die große Menge der Bevölkerung unberührt. Mag auch eine Lawine in den Alpen zerstörend wirken, so bleiben die Berge doch stark wie vorher. Keine Selbst-Täuschung kann größer sein als die des Sozialisten, der sich einbildet, wir ständen auf dem Punkte, an dem ein allgemeiner Zusammenbruch des FamilienSystems stattfindet. Nichts in der Literatur kann ein unwahreres Zeugnis von der Hauptbewegung moderner Gedanken ablegen als die Bücher und Dramen, die von vornherein annehmen, daß in der modernen Welt zügellose Vorstellungen und ehebrecherische Freuden an die Stelle reiner Romantik und gesunder Liebe getreten sind. Der schmutzige Schaum, der in Kreisen auf der Oberfläche jenes Stromes „des sozialen Lebens" schwimmt, trübt wohl seine Klarheit, aber er bestimmt nicht seinen Lauf. Unter diesen mancherlei Zeichen häuslicher Ruhelosigkeit ist der Hauptkörper des sozialen Lebens noch unbefleckt, und die Lehre Jesu von der Selbstlosigkeit und (Jnweltlichkeit bewahrheitet sich praktisch in einer Menge unbeachteter und unverdorbener Häuser. Was ist eine christliche Familie? Sie ist keine besonders engelhafte oder asketische Gruppe. Sie ist ein-

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fach ein Familienkreis, in dem die geistigen Ziele der Ehe weder durch ungezügelte Selbstsucht noch durch schmutzigen Kommerzialismus verdunkelt werden. Solch eine Ehe geht aus natürlicher reiner Liebe hervor, und jene einfache Liebe wird zum dauernden Trieb des Lebens. Auch in einer christlichen Ehe werden sich die Interessen reiben und es werden Augenblicke des Sturmes kommen, wie ein Strom seine Stromschnellen und seine Gefalle hat; aber solche Zwischenfälle werden die Bewegung des Lebens nicht hemmen, und der Strom der Liebe wird tiefer und ruhiger werden, während er weiter fließt. Eine christliche Familie verliert ihre Einfachheit, ihre Reinheit und ihre innerlichen Hilfsquellen nicht, wenn sie reich wird, und sie wird ihres wesentlichen Glückes nicht beraubt, wenn sie arm wird. In einem christlichen Hause beruht die Erziehung der Kinder weniger auf Ermahnung als auf Ansteckung. Das Klima des unberührten Idealismus, das in solchem Hause herrscht, stärkt die moralische Konstitution des Kindes. So erlangt die christliche Familie ihre Einheit und Beständigkeit nicht durch äußere Gesetze, sondern durch die natürlichen Vorgänge ihres innern Lebens. Sie hat ihre Sorgen; aber sie zieht die Herzen zusammen. Ihre Freuden werden verdoppelt, weil sie geteilt werden. Wenn die Kinder jener Familie schließlich aufwachsen um jene größern Wahrheiten zu hören, — die Wahrheiten vom Reiche Gottes, vom himmlischen Vater und vom Sohn, auf dessen Rückkehr der Vater wartet, dann werden sie sich, wie Jesus sie tun hieß, jene großen Geheimnisse der ewigen Welt in der Sprache ihres eigenen, liebenden, einigen Hauses deuten. Gibt es viele solche christlicher Familien? Wir dürfen vertrauensvoll antworten, daß es Millionen solcher Familien gibt. Sie sind der normale Typus des zivilisierten Hauses. Jesu 10*

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III. Kapitel.

Lehre, die in vielen Lebenssphären so oberflächlich aufgenommen wird, hat tatsächlich im Boden der Familie feste Wurzel gefaßt. Wenn Jesus wiederkäme und die unverkennbare Wirkung seiner Lehre auf die Gewohnheiten des sozialen Lebens beobachtete, so würde er vielleicht keinen Wandel so dramatisch und so ausgesprochen finden wie den, den man in dem Zusammenhang und der gegenseitigen Liebe des modernen Hauses bemerkt. Für die meisten Menschen irgend einer modernen Gemeinschaft ist das Problem der Familie nur ein fernes, interesseloses Zeichen der Zeit, dem sie lauschen, wie die Bewohner des Binnenlandes dem Brausen des Ozeans lauschen, der einen Sturm verkündet, der weit draußen auf der See herrscht. Es gibt Häuser genug, die, wie wir gesehen haben, in solchen Stürmen Schiffbruch leiden, und eine Menge Menschenleben werden von rauhen Wogen hin und her geschleudert und haben nichts, das sie ein Heim nennen können, aber das Festland unserer Zivilisation wird durch die vordringende See nicht ernstlich bedroht. Die reine Liebe, die eine dauernde, feste Familie schafft, heiligt noch eine Menge solcher Häuser, die fern von der stürmischen Bewegung unsrer Zeit stehen; und in solchen Häusern kehrt der Geist Jesu Tag für Tag ein, wie er selbst einst zu dem neuvermählten Paar in Cana kam und das gemeine Wasser der Prosa in den Wein der Romantik und Freude umwandelte.

IV. Kapitel.

Jesu Lehre über die Reichen. Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen? Welch ein groß' Ding ist's um einen treuen und klugen Haushalter, den der Herr setzet über sein Gesinde . . . Selig ist der Knecht . . . Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. Wir treten nun aus dem innern Kreis sozialer Beziehungen — der Familie — heraus und befinden uns in einem größern, aber konzentrischen Kreise. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch und forscht nach seinem Platz und seiner Stellung in der sozialen Ordnung; aber um ihn herum kreist jetzt das Leben einer Gemeinschaft, zu der sich viele Familien der komplizierten, modernen Welt zusammen getan haben. Aus diesem größern Kreise, der sein Leben umgibt, tritt dem Menschen ein neues soziales Problem entgegen, und er erkennt die außerordentlichen Verschiedenheiten sozialer Verhältnisse, die in jeder dieser Gemeinschaften vorliegt. Einige dieser Familien hungern nach dem täglichen Brot oder nach Arbeit; andere dagegen scheinen durch überflüssigen Besitz überbürdet zu sein. In einigen Häusern tritt uns in der Armut, in andern im Reichtum die Versuchung nahe. Der Mensch überblickt die moderne Welt und sieht, wie ver-

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IV. Kapitel.

schieden der Wohlstand in ihr verteilt ist und der Anblick, der sich ihm bietet, ist weder friedlich noch sonnig. Um ihn herum hegen freilich große Strecken, die von allgemeinem Wohlstand zeugen; wellenförmig dehnt sich die Landschaft vor ihm aus mit größern oder geringem Besitztümern; aber mitten aus jener lachenden Landschaft erheben sich einige jähe und düstere Gipfel, die die tiefen Schluchten der Unzulänglichkeit und des Mangels, die dazwischen liegen, nur um so finstrer und sonnenloser machen. Es ist ein Anblick, der reich ist an Pathos, und dem eine gewisse Ironie nicht fehlt. Alle diese Unterschiede schließen, aufs äußerste getrieben, eine besondere Gefahr in sich; jeder soziale Typus, die Menschen, die auf den Höhen wohnen und die, die niemals die Sonne sehen, hat seine eignen Versuchungen; jeder Typus pflegt in seinen eigenen Verhältnissen abgesondert und fest zu werden; aber in jedem Typus finden wir Gruppen, die in Gewohnheiten und Bedürfnissen eine seltsame Verwandtschaft zeigen. Auf der einen Seite steht die Gruppe der reichen, geschäftigen Müssiggänger, auf der andern Seite die Gruppe der unbeschäftigten und berufsmäßig trägen Armen. Die beiden Gruppen haben vieles miteinander gemein. Jede von ihnen bildet eine Abteilung des sogenannten Heeres der Müssiggänger. Charakteristisch ist beiden, daß sie der Arbeit keine Achtung zollen. Jede von ihnen trägt deshalb einen Teil der Verantwortung für die revolutionäre Bewegung unsrer Zeit. Das Werkzeug für diese Bewegung wird wahrscheinlich unter den verbitterten Armen zu suchen sein; aber der Anstoß zu ihr geht wohl von den müssigen, nur sich selbst lebenden Reichen aus, von denen, die verschwenden, was andre erworben haben, von den Menschen, von denen Ruskin behauptet, daß ihr Reichtum für sie kein Wohlstand, sondern ein Ubelstand

Jesu Lehre über die Beichen.

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wäre, weil es um ihre Seele nicht wohl, sondern übel bestellt sei. Während also der Hauptstrom des sozialen Lebens gesund und frei ist, hat er durch seine Bewegung eine Art Leben an die Oberfläche getrieben, das man als sozialen Schaum bezeichnen könnte, und auf dem G-runde hat er eine Art Leben abgelagert, das man sozialen Bodensatz nennen kann, und wer vermag zu sagen, von wo uns eine größere soziale Gefahr droht — von den halb ertränkten Armen oder von den leichtherzigen Reichen, von der Ruhelosigkeit des sozialen Bodensatzes oder von der Gedankenlosigkeit des sozialen Schaumes? Man muß hier bemerken, daß diese Verschiedenheit der sozialen Verhältnisse, die anscheinend eine neue soziale Frage schafft, nicht an sich eine neue oder beispiellos ernste Situation bietet. Im Gegenteil eine der bemerkenswertesten Tatsachen in der modernen Zivilisation ist, daß der allgemeine Wohlstand zunimmt, und daß jede soziale Klasse Macht erlangt. Es ist durchaus nicht wahr, daß im Verhältnis wie die Reichen reicher die Armen ärmer werden. Ist auch großer Reichtum in wenig Händen vereinigt, so finden wir doch außerordentlich viel Komfort bei Millionen Menschen, und wir sehen, daß Bequemlichkeiten und Hilfsquellen, die vor zwei Menschenaltern ein Luxus waren, den nur Wenige sich gestatten konnten, jetzt auch für den Bescheidensten erreichbar sind. Dieses Wachsen des allgemeinen Wohlstandes ist jedoch nicht gleichartig gewesen. Während die Reichen reicher geworden, sind die Armen weniger arm geworden; aber sie haben nicht mit einander Schritt gehalten. Während man also zugeben muß, daß im allgemeinen ein Fortschritt gemacht worden ist, kann man ihn dennoch als ungerecht anklagen; und jenes Gefühl von Ungerechtigkeit gibt gerade der jetzigen sozialen Lage ihren besondern Oha-

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IV. Kapitel.

rakter. Es ist nicht wahr, daß die arbeitende Klasse weniger besitzt als früher; aber es ist wahr, daß sie mehr weiß, tiefer empfindet und mehr wünscht. Die moderne soziale Frage also ist eine Frucht der Massenerziehung. Sie ist kein Zeichen sozialen Verfalls sondern ein Zeichen sozialen Fortschritts. Das Volk, bemerkt Graham, war blind gemacht worden wie Simson, damit es, ohne gefährlich zu werden, besser arbeite. Im Jahre 1870 fühlte man . . . daß ein gewisser G-rad von Erziehung nötig und politisch wäre, und Lord Sherbrooke (damals Robert Lowe) gab in seinem wohlbekannten Aphorismus „Wir müssen unsere Herrn erziehen" nur dem allgemeinen Gefühl Ausdruck. In solcher Lage jedoch zeigt sich die soziale Frage in einer viel radikalem Form, als sie je unter andern Verhältnissen angenommen hat. Sie ist keine Frage wirtschaftlicher Reformen oder philanthropischer Pläne, sie behandelt das Dasein der durch die Verhältnisse gebildeten Extreme. Soll es im sozialen Leben überhaupt Typen wie Arme und Reiche geben? Kann man den Besitz in irgend einer Weise rechtfertigen? Kann man die Armut vollständig ausrotten? Ist eine soziale Ordnung, die eine ungeheure Anhäufung von Reichtum in den Händen Einzelner zuläßt, gerecht und verständig? Und wenn das nicht der Fall ist, sollte man dann nicht eine neue soziale Ordnung gründen, in der die Täler des sozialen Lebens erhöht und die Berge und Hügel geebnet würden? Wir sagen von einem reichen Manne „er ist eine gewisse Summe wert". Wieviel, so fragt man im modernen Sinn, ist ein Reicher in der Tat wert? Ist er das wert, was er kostet? Sollte man nicht in einer Zeit, in der die Mehrheit wohl die Macht, aber nicht das Geld hat, durch Gesetze oder durch eine Revolution

Jesu Lehre über die Seichen.

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die Anhäufung und das stete Wachsen des Reichtums möglichst hindern und beschränken? Könnte man nicht den Weg des Reichen ebenso erschweren wie den Weg dessen, der die Gesetze übertritt? Wenn der Privatbesitz der Allgemeinheit keinen Nutzen bringt, ja wenn er sich, was noch schlimmer ist, als eine Quelle der Demoralisation erweist, sollte man ihn dann nicht als gemeines Übel behandeln und stürzen können? So prüft also die moderne soziale Frage die Institution des Privat-Eigentums darauf hin, ob sie ihren Beitrag zum allgemeinen Wohl liefert. Gibt sie dem sozialen Leben etwas, was des Fortbestehens wert ist? Erfüllt das Gelderwerben einen sittlichen Zweck? Ist es im ganzen besser, den Weg zum Reichtum bis zur höchsten Höhe offen zu lassen, sodaß jeder, der dafür veranlagt ist Reichtum zu erwerben, auch seine Vorzüge genießen kann? Oder soll der Reichtum anderseits aus der Welt geschafft werden, weil es unmöglich ist, reich und gut zugleich zu sein? Was ist die Tatsache jener Verschiedenheit in den Verhältnissen des heutigen sozialen Lebens anders, als eine Aufforderung an die Armen, ihre Kraft zu benutzen und die Säulen einer verderbten Zivilisation niederzureißen wie Simson, der nicht länger blind ist. Das sind die Fragen, die unsre Zeit stellt, bald in Bitterkeit und bald in Furcht. Der Reichtum wird auf seinen Nutzen hin geprüft. Wenn es sich nicht herausstellt, daß er der Allgemeinheit dient, so gräbt er sich höchst wahrscheinlich selbst sein Grab. Mit solchen Fragen also wenden wir uns der Lehre Jesu Christi zu, und die Grundgedanken seiner Lehre treten uns sogleich entgegen, deren wir uns im allgemeinen schon öfter erinnert haben. Jesus schaut von oben auf die soziale Ordnung und sieht sie in dem weiten Gesichtskreis von Gottes Zwecken; er

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nähert sich der sozialen Ordnung von innen, indem er die Fähigkeiten des einzelnen Menschen erweckt; er beurteilt die soziale Ordnung nach ihren Zielen als ein Werkzeug des Reiches Gottes. Was hat nun Jesus zu sagen über den Gegensatz von reich und arm, der in seiner Zeit so sichtbar war wie in unsrer? Glaubt Jesus, daß der Reichtum jene Art von Menschen schafft, die ihrerseits helfen werden das Reich Gottes herbeizuführen? Kann ein reicher Mann als Nachfolger Jesu Christi angesehen werden? Oder gehört anderseits die Armut zum Wesen christlicher Jüngerschaft, und ist ein reicher Mann notwendig vom Himmelreich ausgeschlossen? Wie lautet Jesu Lehre über die Reichen?1) Sobald wir diese Fragen aussprechen, fallen uns auch die häufigen ungemilderten Worte der Warnung und des Tadels ein, die Jesus an die Wohlhabenden richtet: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen" (Mark. 10, 23). „Weh euch Reichen"; „Selig seid ihr Armen" (Luk. 6, 20 und 24). „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden" (Matth. 6. 19). „Denn niemand lebet davon, daß er viele Güter hat" (Luk. 12, 15). „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Matth. 6, 24). „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme" (Matth. 19, 24). Wenige moderne Agitatoren, die die Armen zum Widerstand gegen ihre Bedrücker drängten, haben jemals stärkere Ausdrücke gebraucht; wenige sind in der Tat so weit gegangen, daß sie ihren Anhängern sagten: „Verkaufe alles was du hast und komm' und folge mir nach!" (Luk. 18, 22.) Es kann uns nicht überraschen, daß solche Aussprüche Jesu als ein folgerechtes Zeugnis seiner Lehre begrüßt worden sind und ihm einen Platz in der Geschichte begründet haben als des größten Vor-

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läufers des modernen Protestes gegen das industrielle System, dem das Privatkapital zugrunde liegt. Wenn Jesus, so hat man zuversichtlich gesagt, spricht: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden", so zeigt das, „Jesus ist aus ethischen Gründen radikaler Gegner der Kapitalansammlung 2)", Die größere Offenbarung Christi ist die Verwerfung des Lohn-Systems3). Käme heutzutage ein Mann, der die Ansichten der ersten Christen verträte, in eine geachtete Gesellschaft, würde man da nicht etwa zur Polizei schicken?4) Das Leben des predigenden Zimmermannes, der keinen Ort hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte, von dem uns nicht berichtet wird, daß er ein einziges Geldstück besaß, der seiner Mutter nichts hinterlassen konnte, und dessen Grab von einem Freunde entliehen wurde, steht in vollem Einklang mit der Botschaft, die er verkündete5). Solche und ähnliche Auffassungen von Jesu Lehre dürfen nicht kurz abgewiesen werden. Es ist unmöglich, die Kraft jener erhabenen Aussprüche, die in den Evangelien gegen die Betrügerei der Reichen enthalten sind, zu brechen; man kann aus Jesu Lehre die ernsten Mahnungen gegen die Wohlhabenden und das schöne Erbarmen mit den Armen nicht ausscheiden. Ist es aber möglich, daß eine Botschaft, die so deutlich und so scharf begrenzt ist wie diese, daß eine Lehre, die so leicht von der Gossenrhetorik eines modernen Agitators zu unterscheiden ist, Jesu Lehre in ihrem vollen Umfang und in ihrer vollen Kraft wiedergeben kann? Ist es nicht im Gegenteil wahrscheinlicher, daß wir hier eine neue Erläuterung zu jenem Buchstabenglauben haben, der während der ganzen Geschichte der Christenheit die Lehre des Evangeliums verzerrt und beschränkt hat? Keine Meinung war

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so töricht oder so extravagant, daß sie sich nicht auf Jesu Lehre gestützt und dies durch eine fragmentarische und zufallige Auswahl seiner Worte bekräftigt hätte. Die Evangelien enthalten indessen keine Reihe unzusammenhängender Aphorismen; sondern sie berichten uns von einem ununterbrochenen Leben, dessen vollkommene Absicht uns nicht in einzelnen Zwischenfallen oder losgelösten Aussprüchen enthüllt wird sondern in der allgemeinen Richtung und Bewegung von des Meisters Geist. Wollen wir also ernstlich wissen, wie Jesus wirklich über die Reichen und Armen dachte, so müssen wir die zerstreuten Aussprüche des Evangeliums prüfen, vergleichen und abwägen und aus ihnen einen allgemeinen Eindruck jenes Lebens ziehen, das der Lehre ihre Bedeutung gab; und wenn wir so von dem Buchstaben auf den Geist des Evangeliums kommen, so wird sich uns vielleicht der Geist und Umfang einer Lehre offenbaren, den ein einzelner Ausspruch kaum annähernd wiedergibt, die aber uns Lernende, je mehr wir sie prüfen, mit einem tiefern Gefühl heiliger Scheu zu dem Lehrer zieht8). Treten wir nun so der Lehre Jesu näher, so fallt uns sofort ein außerordentlicher Unterschied zwischen den vier Evangelien auf7). Im vierten Evangelium wird die Frage materiellen Besitzes überhaupt kaum berührt. Das Evangelium bewegt sich in einer ganz andern Welt — in einer Welt erhabener Philosophie, geistiger Biographie und göttlicher Gemeinschaft. Mit Ausnahme von zwei unbedeutenden Textstellen (Joh. 12, 5. 13, 29) kommen sogar die Worte „reich" „arm" „Reichtum" „Armut" „reich sein" „arm sein" weder im vierten Evangelium noch in den Briefen des Johannes vor. Auch das zweite Evangelium bietet — wenn auch aus entgegengesetzten Gründen — praktisch kein weiteres Material für die Fragen über „arm"

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und reich" als die Evangelien von Matth, oder Lukas. Das vierte Evangelium verliert in seinem geistigen Gedankenflug solch' menschliche Interessen ganz aus dem Auge. Das zweite eilt an jenen allgemeinen Problemen des sozialen Lebens vorüber und bringt nur einen gedrängten Bericht über die Worte und Taten Jesu. So muß also die Lehre Jesu über die sozialen Verhältnisse fast ganz in den Evangelien des Matth, und Luk. gesucht werden, und hier stoßen wir auf reiches Material. Aber auch hier begegnen wir einem noch überraschendem Unterschied. Erstens finden wir, wenn die beiden Evangelisten Matth, und Luk. von derselben Begebenheit oder demselben Ausspruch Jesu über die Reichen und Armen berichten, die ursprünglich vollkommen identisch sind, daß Lukas die eine Klasse meistens strenger verurteilt und die andre lobend hervorhebt. "Wenn Matthäus sagt: „Gib dem, der dich bittet!" (Matth. 5, 42), so spricht Lukas: „Jedem, der dich bittet, gib"! (Luk. 6, 30); wo Matthäus sagt: „Verkaufe was du hast" (Matth. 19, 21), sagt Lukas: „Verkaufe alles, was du hast!" (Luk. 18, 22). "Wo wir in den Seligpreisungen des Matth, lesen: „Selig sind, die da geistig arm sind!" (Matth. 5, 3), lesen wir in Lukas: „Selig seid ihr Armen!" (Luk. 6, 20), und Lukas verstärkt diese Modifikation noch durch die "Worte: „Aber dagegen wehe euch Reichen!" (Luk. 6, 24); Matthäus sagt: „Sammelt euch aber Schätze im Himmel!" (Matth. 6, 20); Lukas sagt: „Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen!" (Luk. 12, 33); Matthäus berichtet, daß zu der großen Mahlzeit sowohl Böse als Gute geladen sind (Matth. 28, 10), bei Lukas aber sagt der Herr, der das Mahl gibt: „Führe die Armen und Krüppel und Lahmen und Blinden herein" (Luk. 14, 21). Diesem ausgeprägten Unterschied muß noch hinzugefügt werden, daß nur das dritte Evangelium

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auf die Gefahren des Reichtums hinweist und sie in radikaler "Weise erläutert. In diesem Evangelium lesen wir die Geschichte vom armen Lazarus und vom reichen Mann (Luk. 16, 20), vom törichten reichen Mann (Luk. 12, 16—21), vom ungerechten Haushalter (Luk. 16, 1—13) und die Unterredung über die Erbteilung (Luk. 12, 13). Nur Lukas gebraucht das prophetische Wort: „Und die Reichen hat er leer abziehen heißen" (Luk. 1, 53). Kurz, es besteht zwischen der Lehre des Matthäus und des Lukas ein ebenso großer Unterschied wie in der modernen Literatur zwischen der Lehre eines ernsten Philanthropen und eines sozialistischen Agitators. Man spricht mit Recht von Lukas als dem Sozial-Evangelisten8). Und was können wir wohl als Ursache jener auffallenden Eigenart des dritten Evangeliums ansehen? Die nächstliegende Deutung ist wohl die, daß der Charakter des Evangeliums den Charakter des Verfassers wiederspiegelt. Man sagt, daß Lukas dem Paulus gleich, mit dem er lebte und lehrte, größere soziale Erfahrung und lebhaftere menschliche Sympathie hatte als die andern Evangelisten. Er ergriff deshalb die radikalen Aussprüche Jesu in ihrer ursprünglichen Strenge, während Matthäus solche "Worte milderte und vergeistigte, bis sie mit der landläufigen Sinnesart übereinstimmten. Der Sozial-Evangelist verstand also seinen Meister am besten, und Jesu Lehre über die Reichen findet man bei Lukas. Diese Anschauung von den Beziehungen der Evangelien zueinander läßt jedoch verschiedene der bedeutendsten Gesichtspunkte außer acht. Erstens widerspricht es dem allgemeinen Grundsatz der Kritik, daß von zwei Lesarten, die äußerlich gleich gut beglaubigt sind, die vergeistigtere die "Worte des Herrn am treuesten wiedergeben sollte. Bei der Ubereinstimmung in andern Dingen ist es

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nicht wahrscheinlich, daß die unumwunden ausgesprochene Auffassung die ursprüngliche, und daß die vergeistigte Bedeutung nur darüber gelegt ist. Es ist nicht wahrscheinlich, daß bei den zwei Lesarten: „Selig sind, die da geistig arm sind" und „Selig seid ihr Armen", die eigentümlich tiefe und schöne Wahrheit der ersten Stelle nur eine Glosse zu der äußerlichen, um nicht zu sagen, zweifelhaften Lehre der zweiten Textstelle sein soll. Ohne uns ferner allzutief auf das vielumstrittene Problem von dem Paulinismus des dritten Evangeliums einzulassen, tritt es ganz deutlich hervor, daß in der Haltung, die jenes Evangelium zur Armut und zum Reichtum einnimmt, ein Charakterzug liegt, der von der gewöhnlichen Lehre und dem Beispiel des Paulus sehr weit entfernt ist. Wenn man die Armut in irgend einer Weise als Einlaßkarte zum Reiche Gottes ansieht, oder die Wohlhabenden von ihm nur um ihres Reichtums willen ausschließt, so steht man damit in vollem Gegensatz zu dem Geist des starken, scharfsinnigen und unabhängigen Heidenapostels. Er bemerkt in der Tat, daß „nicht viel Weise . . . . nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle berufen sind" (1. Kor. 1, 26); aber es liegt nicht in seiner Absicht, den Reichen ihren Reichtum zum Vorwurf zu machen oder Heiligkeit und Armut zu identifizieren. Er für sein Teil, so sagt er, will keinem Menschen zur Last sein. „Ihr seid wohl eingedenk, lieben Brüder, unserer Arbeit und unserer Mühe; denn Tag und Nacht arbeiteten wir, daß wir niemand unter euch beschwerlich wären" (1. Thess. 2, 9). Es ist wahr, Paulus betrachtet es in der Tat als eine Verachtung der Kirche Gottes, wenn man die beschämt „so da nichts haben" (1. Kor. 11, 22). Er betont die Genügsamkeit mit dem, was einer hat (Phil. 4, 11); jedoch in der Welt, wo man Gott christlich dient, hat er auch einen Platz für

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den Reichen. In den von ihm organisierten Kirchen gibt es Jünger, die reich genug sind, um der Mission Beihilfe zu gewähren. „Als wir dann nun Zeit haben, so lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen!" (Gal. 6, 10), „denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb" (2. Kor. 9, 7). Er heißt die Gaben willkommen, die der Mission aus der Kirche von Philippi zufließen als „ein angenehm Opfer, Gott wohlgefällig" (Phil. 4, 18). Er heißt Timotheus dafür sorgen, daß die Reichen „Gutes tun, reich werden an guten Werken" (Tim. 6, 18), und schließlich sagt er in seiner umfassendsten Darstellung des christlichen Charakters ausdrücklich, daß das Aufgeben des Eigentums nicht an und für sich ein Beweis von Heiligkeit ist. „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe . . . . und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze" (1. Kor. 13, 3). Diese Sinnesart ist so verschieden von der, die uns aus mancher Stelle des dritten Evangeliums entgegentritt, daß die Beziehungen des Lukas zu Paulus, soweit die Berechtigung des Besitzes in Frage kommt, nicht auf eine nahe Geistesverwandtschaft schließen lassen. Es gibt aber noch einen andern und allgemeinern Gesichtspunkt, von dem aus man den Gegensatz zwischen Lukas und Paulus ins Auge fassen kann. Wenn wir das Neue Testament als Ganzes prüfen, so sehen wir, daß sich derselbe Zwiespalt, den wir zwischen dem dritten Evangelium und den Briefen des Apostel Paulus bemerken, auch in andern Büchern findet und die Bücher des Neuen Testamentes in zwei allgemeine Gruppen teilt. Die einleitenden Kapitel der Apostelgeschichte und der Brief des Jakobus scheinen mit dem dritten Evangelium zusammen zu stehen, und zu den Paulinischen Briefen stellen sich die Evangelien des Matthäus und Markus. Daraus entsteht

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eine Lage, die in scharfem Gegensatz zu der gewöhnlichen Gruppierung der neutestamentlichen Bücher steht, und die die neutestamentliche Kritik bisher nur wenig in Betracht gezogen hat. Ohne Frage hat z. B. das erste Evangelium in mancher Hinsicht seine Färbung durch die Traditionen Palästinas erhalten, und das dritte Evangelium wendet sich im allgemeinen an heidnische Leser; prüfen wir aber die soziale Lehre der beiden, so sehen wir, daß sich das Verhältnis umkehrt und daß sich das erste Evangelium mehr als das dritte von den Prüfungen zu befreien scheint, die durch Armut und deren Linderung in Palästina entstanden sind. Es ist nicht möglich, hier auf die interessante kritische Frage einzugehen, die sich uns also eröffnet; im allgemeinen aber ist der Spalt nicht leicht zu verkennen *). Die Apostelgeschichte beginnt in einem Ton erhabener Begeisterung, die aus dem festen Glauben an eine nahe bevorstehende "Weltkatastrophe hervorging, und dieser Glaube machte auch die ersten Jünger gleichgültig gegen soziale Verhältnisse und sozialen Wandel. Ihre vollständige Freiheit über die gewöhnlichen Grenzen des Lebens hinaus bezeugten sie durch die Gabe „der Zungen", und ihre Gleichgültigkeit gegen soziale Unterschiede bewiesen sie dadurch, „daß sie alle Dinge gemein hatten" (Act. 2, 44). Die Epistel des Jakobus geht jedoch weiter und nennt jeden Reichen zweifellos einen Sünder. Rücksichtslos und mit bitterer Ironie greift er den Reichen an: .."Wohlan nun, ihr Reichen, weinet und heulet über euer Elend, das über euch kommen wird" (Jak. 5, 1). So schließt der radikalste aller neutestamentlichen Schriftsteller. Anderseits sind die beiden ersten Evangelien in ruhigem, leidenschaftslosem, erzählendem Tone gehalten etc.; ihre Lehren über die Unabhängigkeit von der "Welt sind weniger männlich als das P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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von Selbst-Schätzung zeugende Urteil des Paulus; aber sie machen auch keinen so großen Unterschied zwischen den sozialen Klassen10). Was zeigt uns nun dieser allgemeine Gegensatz, der sich in den neutestamentlichen Büchern geltend macht in Hinblick auf die im frühern christlichen Leben herrschenden Verhältnisse? Er zeigt uns, wie wir schon oft beobachtet haben, den Gegensatz zwischen den' sozialen Bedingungen und der Sinnesart der heidnischen Gemeinden und der Gemeinden in Palästina. Die Jünger in Jerusalem rissen in der hohen Begeisterung der ersten Nachfolger die Grenzen nieder, die Eigentum und Sprache zogen und hatten nur eine Sprache und eine Börse. Es war, wie wir schon gesehen haben, kein vorbedachter und vorgeschriebener Kommunismus, sondern wie Petrus ausdrücklich sagt, ein freiwilliges Teilen dessen, das man bedurfte (Act. 5, 4). "Wenn man es behielt, hatte man es zu eigen, und wenn man es verkaufte, hatte man es doch noch in der Gewalt. Eine solche Auffassung jedoch ließ sich in einer immer wachsenden Kirche nicht verwirklichen. Wenn wir nun in der Apostelgeschichte weiter lesen, so sehen wir, daß die sozialen Typen, die sich mit der neuen Religion verbinden, immer verschiedenartiger werden, bis Menschen aus allen sozialen Verhältnissen, Pharisäer (Act. 23, 6) und Fischer (Matth. 4, 18), dor Kämmerer der Königin Kandace (Act. 8, 27), der Prokonsul Paulus (Act. 13. 9), der Areopagit Dionysius (Act. 17, 34), Crispus (Act. 18, 8), das Oberhaupt einer jüdischen Synagoge samt vielen, für die durch tägliche Almosenpflege gesorgt werden muß (Act. 6, 1) als annehmbare Mitglieder der christlichen Gemeinden erscheinen. Auch dürfen wir nicht vergessen, was für eine Wir-

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kung die in dem Briefe des Jakobus wiedergegebene soziale Lehre auf die Gemeinden in Palästina hatte. Die weniger ehrenhaften Armen traten mit den Frommen in gemeinsamen Besitz, bis schließlich die Kirche zu Jerusalem trotz ihres edeln Strebens alle Dinge gemein zu haben, so sehr verarmte, daß sie die Kraft verlor, sich selbst zu erhalten und auf die Almosen der Missionskirchen angewiesen war. Es war eine seltsame Nemesis, die da folgte, sobald man die Religion Jesu einem besondern wirtschaftlichen Verhältnis gleichsetzen wollte. Jakobus möchte fortfahren gegen die Sünden der Reichen zu toben; aber die Gemeinden, an die er schrieb, sanken in immer tiefere Verarmung hinab und fanden erst Hilfe bei den männlichen und tätigen Gemeinden, die im Geiste des sich selbst behauptenden Paulus gebildet waren. Das waren, so darf man mit gutem Grund annehmen, die Verhältnisse, aus denen die verschiedenen Anschauungen über Reichtum und Armut in den Schriften des Neuen Testamentes entstanden sind. In den Gemeinden Palästinas, in denen die Gläubigen mehr und mehr verarmten, und nicht in der Lage waren, sich zu verteidigen, wurde jeder Ausspruch Jesu, der die Armen tröstete und die Reichen tadelte, mit Freuden begrüßt. Die Missionskirchen dagegen ordneten die Unterschiede und Feindseligkeiten zwischen den sozialen Klassen der größern Mission unter, zu der die christliche Religion berufen war; und wenn dieselben Worte Jesu wiederholt wurden, so gedachte man ihrer geistigen Bedeutung. „Selig seid ihr Armen!" (Luk. 6, 29) ruft die Kirche von Palästina ihren bedrückten Anhängern zum Tröste zu. In der vergeistigten Wiedergabe aber heißt es zur Demütigung unchristlichen Stolzes: „Selig sind, die da geistig arm sind!" {Matth. 5, 3). Jakobus sagt: „Also wird der Reiche in 11*

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seinen Wegen verwelken" (Jak. 1, 11); Paulus aber antwortet: „Es ist alles euer; ihr aber seid Christi" (1. Kor. 3, 21—23). Diese Mutmaßungen indes führen uns weit über unser jetziges Ziel hinaus. Es ist genug, wenn wir erkennen, daß die beiden Überlieferungen, die wir im Neuen Testament über das Verhältnis der Reichen zum christlichen Leben finden, vollständig auseinander gehen. Der einen Uberlieferung zufolge ist der Arme der einzig wahre Christ, nach der andern soll wahrer Reichtum und wahre Armut in der Seele ruhen. Stellen wir nun die Frage, welche von diesen zwei Uberlieferungen die ursprüngliche Lehre Jesu wiedergibt, so dürfen wir uns weder auf die Autorität einer einzelnen Textstelle noch auf die Autorität eines einzelnen Evangeliums verlassen. Hinter diesen herausgerissenen Bruchstücken von Jesu Lehre müssen wir auf des Herren Leben und auf dessen Gesichtspunkte und Beziehungen blicken. "Wie, müssen wir fragen, verhielt sich Jesus im gewöhnlichen Leben, wenn er mit den Armen oder Reichen ging, oder wenn er zu ihnen sprach? Mit wem verkehrte er selber am meisten? "Wem gab er sein Herz am vollständigsten hin? Wen hieß er als Freund und Nachfolger willkommen? Wie verhielt sich seine Lehre zu den Anschauungen über reich und arm, die in seiner eigenen Zeit und seinem Volke herrschte? Wenn wir nun die zerstreuten Lehren zusammenfassen, die verschiedenen Gleichnisse nebeneinander stellen und die allgemeine Richtung von Jesu Geist und Leben beobachten, was tritt uns dann als Kern seiner Botschaft an die Reichen entgegen? Um diese Fragen richtig beantworten zu können, müssen wir uns zuerst an die soziale Umgebung erinnern, in der Jesu Lehrtätigkeit begann; wir müssen des Volkes

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und der Ideen gedenken, in denen er sich bewegte. E s waren wahrlich nicht die reichen und herrschenden Klassen, die ihn zuerst willkommen hießen, sondern es waren in der Regel einfache bescheidene Menschen. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die ersten Nachfolger Jesu, wie man im modernen Sinne sagen würde, ausschließlich jener Klasse, der „Armen" angehörte. I m Gegenteil, das Evangelium mit all seinem zarten Empfinden für die Armen bewegt sich zum größten Teile in einer sozialen Umgebung, die über dem Bereich der Armut liegt. Jesus selbst wurde in einem Hause geboren, das weder arm noch reich genannt werden kann. E r wurde in den Wissenschaften und im Handwerk unterwiesen. Kein Zeichen spricht dafür, daß bei dem Beginn seines öffentlichen Lebens die soziale Gefahr des Reichtums sein Herz irgendwie bedrückt hätte. Als er im Anfang seines Wirkens vom Teufel versucht wurde, suchte dieser ihn nicht durch Reichtümer zu locken, sondern durch die Aussicht auf R u h m , Macht und durch die Verwertung seiner eignen Kraft. Betrachten wir ferner die sozialen Verhältnisse der Menschen, die zuerst durch seine Lehre gewonnen wurden, so finden wir viele verschiedene soziale Typen 11 ). Unter denen, die sich um einen Lehrer scharten, der ihnen neue Hoffnung und Selbstachtung gab, waren in der Tat viele Besitzlose und Ausgestoßene; aber unter seinen Vertrauten und Freunden finden wir Menschen der verschiedensten A r t , Besitzende sowohl wie Besitzlose. Die Fischer, die zuerst von ihm berufen wurden, waren durchaus nicht arm oder heimatlos, sondern es waren Leute von mäßigem Wohlstande. Sie „ließen ihren Vater mit den Tagelöhnern und folgten ihm nach" (Matth. 1, 20). Einer von ihnen „war dem Hohenpriester bekannt und ging mit Jesus hinein

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in des Hohenpriesters Palast" (Joh. 18, 15). Nach dem Tode ihres Meisters kehrten sie zu ihren Schiffen und zu ihrem Fischfang zurück (Joh. 21, 3). Petrus besaß ein Haus, und Jesus kam zu ihm, als die Mutter von Petri "Weib krank lag (Matth. 8, 14). In dem Hause Matthäi des Zöllners saß Jesus zu Tische (Matth. 9, 10) und „setzten sich viel Zöllner und Sünder zu Tisch mit Jesu und seinen Jüngern" (Mark. 2, 15; Matth. 9, 10). Zachäus war ein Oberster der Zöllner „und war reich". „Die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen", sprach er zu Jesus, und Jesus lobt ihn und heißt ihn willkommen und spricht: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren" (Luk. 19, 2. 8. 9). Nikodemus „ein Oberster unter den Juden" (Joh. 3, 8) wird mit überraschender Offenheit von Jesus angeredet; aber Jesus macht dem Pharisäer seinen Reichtum nicht zum Vorwurf. Der Hauptmann (Matth. 8, 10), eine wichtige und gewaltige Persönlichkeit, wird nicht von Jesus gemaßregelt, sondern durch besonderes Lob geehrt. „Johanna das Weib Chusas, des Pflegers des Herodes und Susanna und viele andere" — die, wie wir einschieben müssen, vermögende Frauen waren — „taten ihm Handreichung von ihrer Habe" (Luk. 8, 3). Das Haus in Bethanien, in dem Jesus wiederholt friedliche Erholung von dem Druck seines öffentlichen Lebens suchte, war ein behagliches, wenn nicht luxuriöses Heim; „daselbst war ein Pfund Salbe von ungefälschter köstlicher Narde" (Joh. 12,3). Und schließlich bereitet Joseph von Arimathia, „der ein Jünger Jesu war", ein Grab für den gekreuzigten Herrn und kommt mit Nikodemus und „brachte Myrrhe und Aloe untereinander bei hundert Pfund" (Joh. 19, 38 u. 39). Alle jene Anzeichen beweisen uns zur Genüge, daß nicht ein bestimmter sozialer Typus Jesu Sympathie für sich allein in Anspruch nehmen konnte oder von ihm

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allein anerkannt 'wurde. Wenn wir auch freudig zugeben, daß Jesus mit besonderer Zartheit von den Armen sprach, und daß es wahr ist, „die große Menge hörte ihm mit Lust zu" (Mark. 12, 37), so dürfen wir doch nicht annehmen, daß Jesus die Armen den Reichen gegenüberstellen und eine soziale Klasse zur Rechten, die andere zur Linken haben wollte. Tatsache ist, daß seine Lehre sich in einer Welt von Gedanken und idealem Streben bewegte, in der solche Unterschiede ganz wegfielen und wo die Einteilung der Menschen auf einem tiefern Grunde beruhte. Jesus sammelte Männer und Frauen aller Arten und aller Verhältnisse um sich; kein Zeichen spricht dafür, daß ihm der Übergang aus der Gesellschaft der Reichen in die der Armen und wieder zu den Reichen zurück jemals bewußt war. Er fühlte sich ebenso heimisch am Tische des reichen Zachäus wie in dem ruhigen Hause zu Bethanien und bei dem blinden Bettler am Wege (Mark. 10, 46). Er sprach die Worte tiefer Weisheit ebenso frei vor dem gelehrten Nikodemus (Joh. 3, 1—21) wie vor dem unwissenden und törichten Weibe am Brunnen aus (Joh. 4, 7—26). Kurz, sein soziales Urteil richtet sich nicht nach Reichtum und Armut. Seine Gedanken sind auf die Verwirklichung des Himmelreiches gerichtet. Wenn er irgend einen Charakter entdeckt, der zu jenem Ideal beiträgt, so nimmt er ihn freiwillig und oft plötzlich auf; stößt er dagegen auf Verhältnisse, die jene große Vollendung zu hindern scheinen, so müssen wir seiner Lehre zufolge Opfer bringen, ihnen zu entfliehen oder sie zu besiegen. Darin muß eine Quelle großer Freude gelegen haben für alle, die Jesu zuhörten. Die Menschen sahen, daß sie nicht länger einer einzelnen sozialen Klasse von begrenzter Empfänglichkeit und Fähigkeit gleichgesetzt wurden, sondern daß ihnen ein Ausblick

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auf die umfassende Einheit menschlicher Ideale und Bedürfnisse eröffnet ward, in der die Unterschiede zwischen den sozialen G-ruppen in einer größeren Gemeinschaft untergingen. Jene Freude gleicht der des schmalen Stromes, der endlich in den umfassenden Ozean ausfließt und hier mit den verschiedenen andern Strömen in Berührung kommt, von denen er bisher abgeschlossen war. Jesu Geist war über soziale Unterschiede erhaben. Das zeigt sich uns ferner in seinem Verhältnis zu jener Anschauung von Armut und Reichtum, die derzeit unter seinem eigenen Volke und in seiner eigenen Zeit herrschte. Nationaler Uberlieferung gemäß lebte dieses der Hoffnung, daß Frömmigkeit zum Reichtum führe, aber trotz der Frömmigkeit wurde sein Volk von den gottlosen Römern geplündert und bedrückt, und die Prophezeiung, daß ihre Rechtlichkeit auch äußerlich belohnt werden würde, schien sich noch lange nicht zu erfüllen. Das war eine soziale Lage, die sowohl im Gegensatz zu ihrer religiösen Hoffnung als zu dem seinem Volke eigenem Instinkte des Gelderwerbens stand, und das hebräische Volk war mit Bitterkeit und Wut gegen die erfüllt, die gottlos und zugleich reich waren. „Ein Streifzug durch diese Schriften mutet oft an wie ein Gang durch Dantes Hölle," so ist gesagt worden, „nur daß hier nirgends wie bei dem großen Italiener die in ihrer zermalmenden Gerechtigkeit immer noch erkennbare göttliche Barmherzigkeit zu verspüren ist." 12 ) Und allmählich erwuchs unter ihnen das, was man den „Genius des Hasses" gegen die Reichen genannt, hat. „Wehe euch," sagt das Buch Henoch, „die ihr Silber und Gold erwerbet, und saget, „wir sind reich geworden, und besitzen alles, was wir wissen " Der Reichtum wird auch nicht bleiben, sondern plötzlich

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wird er von euch aufsteigen, weil ihr alles mit Unrecht erworben habt, und ihr selbst werdet der großen Verdammnis anheim gegeben." In diese soziale Umgebung, die durch Armut und durch groß gezogenen Haß verbittert war, in der man keine Lösung für das paradoxe Verhältnis von Armut und Frömmigkeit fand, tritt nun Jesu Lehre mit ihrer neuen Auffassung. Jesus lehrt, daß der Reichtum kein Zeichen göttlicher Gnade, sondern im Gegenteil eins der drohendsten Hindernisse f ü r das geistige Leben ist. Die Gedanken des Volkes sollten von der Anschauung lassen, daß Reichtum ein Zeichen von Frömmigkeit, Armut dagegen ein Zeichen göttlicher Ungnade wäre. Laßt die Armen Mut fassen! Sie haben keinen Grund die Reichen zu beneiden oder zu hassen. Viel lieber sollen sie es sich klar machen, wie schwer es ist für einen Reichen ins Himmelreich zu kommen. Es gibt nur ein gleiches erhabenes Ziel, — das Himmelreich zu erlangen, und es gibt mir eine einzige Entscheidung zu treffen, — ob man Gott dienen wolle oder dem Mammon. Kurz, in scharfem Gegensatz zu der Uberlieferung und Literatur des Hasses, die Jesus unzweifelhaft kannte, überblickte er das Verhältnis iler Reichen zu den Armen von oben im Lichte seines Ideals, des Himmelreiches; und Jesus erweckte ein neues Gefühl von Hoffnung und Selbstachtung in manchem verwirrten fragenden Geist, indem er ihn auf einen Lebensweg ruft, zu dem weder Reichtum noch Armut führt, für den aber andrerseits auch keins von beiden ein absolutes Hindernis bildet. „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden ; denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz" (Matth. 6, 19—21). So ist Jesu Lehre in einem Sinne von dem Problem sozialer Unterschiede und kommerziellen "Wohlstandes weit

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entfernt. Jesus ist kein sozialer Demagoge; er ist ein geistiger Seher. Er bemüht sich nicht, die sozialen Klassen auszugleichen, sondern die sozialen Ideale zu erheben. Er nimmt ein Menschenleben auf um seines eigenen Wertes willen, nicht um äußerer Verhältnisse wegen. Verliert nun durch diese Charakteristik von Jesu Lehre seine Botschaft an die Reichen — als eine besondre Klasse — irgend etwas an Bedeutung, Feierlichkeit oder Tiefe? Im Gegenteil, aus seinen einzelnen Äußerungen und gelegentlichen Gleichnissen geht eine Lehre hervor, die ihrer Eigenart nach ebenso radikal und ihren Forderungen nach ebenso scharf ist wie irgend eine moderne Anklage gegen den Reichtum; aber sie zeigt einen Zug tiefer Weisheit und ein so fein abgewogenes Urteil, daß sie dadurch nicht zur Lehre für eine spezielle Zeit und eine spezielle Klasse wird, sondern zu einer Lehre für alle Verhältnisse und alle Zeiten. Die zerstreuten Äußerungen Jesu über das Problem des Reichtums zerfallen in zwei bestimmte Klassen. Einerseits empfiehlt sie die getreue Benutzung des Besitzes, anderseits dagegen stellt sie einfach die Forderung, den Besitz aufzugeben. So wird z. B. in den Gleichnissen von den anvertrauten Zentnern (Matth. 25,13—14) und Pfunden (Luk. 19,13—27) sowie in den Geschichten vom ungerechten Haushalter (Luk. 16,1—13) und vom törichten reichen Mann (Luk. 12, 16—35) weniger der innerliche Nachteil des Reichtums als vielmehr die Pflichten der Treue, Wachsamkeit und Vorsicht in seiner Verwaltung behandelt. „Darum wachet; denn ihr wißt weder Tag noch Stunde" (Matth. 25,13). „Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern" (Luk. 12, 20). „Ei du frommer und getreuer Knecht" (Matth. 25, 21). „So ihr nun in dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer

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will euch wahre Reichtümer anvertrauen?" (Luk. 16, 11). In allen solchen Stellen scheint das Geld als Prüfstein betrachtet zu werden. Treue in geringem bereitet uns vor auf die Herrschaft über großes. Der ungerechte Mammon kann uns Freunde machen, die uns aufnehmen in die ewigen Hütten. Dieselbe Lehre ist in dem Gleichnis von den Talenten enthalten, wo von dem sich stets mehrenden Gewinn die Rede ist. Jesus ist hier so weit wie möglich von der Stellung eines sozialen Gleichmachers entfernt. Er erkennt mit außerordentlicher Klarheit, daß bei einer weisen Benutzung des Besitzes der Gewinn sich mehren muß, und er verkündet ein Gesetz, nach dem die Verteilung des Eigentums nicht nur dem Programm der modernen Revolution gerade entgegengesetzt ist, sondern auch mit der Methode der Natur mehr in Einklang steht. „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden wer aber nicht hat, dem wird auch, das er hat, genommen werden" (Matth. 25,29). Anderseits haben wir eine ganze Reihe von Stellen, die selbst milde gedeutet, nichts anderes als die Verleugnung jeglichen Besitzes sind. „Also auch ein jeglicher unter euch, der nicht absaget allem, das er hat, kann nicht mein Jünger sein" (Luk. 14, 33). „Verkaufe alles was du hast und gib's den Armen und komm und folge mir nach" (Luk. 18,22); „und sie verließen alles und folgten ihm nach" (Luk. 5,11). „Gedenke, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet und du gepeinigt" (Luk. 16, 25). Was nun einige dieser Stellen betrifft, so darf man mit Recht sagen, daß jene unbedingten Forderungen anscheinend nicht an alle Menschen ergingen, sondern an die unmittelbare Gruppe der Jünger, die in besonderm Maße berufen waren, ihres

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Herren Wanderleben zu teilen und sich von allen Banden des Geschäftes und Hauses zu lösen. Ferner hat man, was den reichen Mann und Lazarus betrifft, nicht ohne Grund behauptet, daß der ursprüngliche Kontrast zwischen ihrer beider Schicksal noch in etwas anderm gelegen haben muß als in dem bloßen Unterschied zwischen Reichtum und Armut. Selbst, wenn wir annehmen wollten, daß der reiche Mann nur um seines Reichtums willen zur Pein verurteilt wurde, so können wir doch unmöglich glauben, daß die Armut des Lazarus der einzige Grund war, deswegen er in den Himmel aufgenommen wurde. Hat man auch auf alle mögliche "Weise die Strenge solcher Aussprüche mildern wollen, so klingt doch durch viele unverkennbar ein Ton der Entsagung hindurch. Das Motiv des Verzichtes tritt am allerdeutlichsten zu Tage bei dem rührenden Zusammentreffen Jesu mit dem reichen jungen Obersten (Matth. 19,16—22, Mark. 10,17—23, Luk. 18,18). Die beiden ersten Evangelien wenigstens berichten hierüber in einem Ton, als wenn sie des Meisters Worte bei dieser Gelegenheit ganz besonders schätzten. Der junge Mann im Evangelium war impulsiv und voll Verehrung für Jesus. Er läuft auf Jesum zu; dann kniet er vor ihm nieder, und Jesus blickt ihn an und liebt ihn (Mark. 10,21). Es ist ein schönes Zusammentreffen reiner freier Jugend mit einem weisen und ruhigen Lehrer, der eine naht sich aus freiem Antriebe voll Begeisterung dem andern, und dieser andere wird sogleich von Liebe zu ihm erfaßt. Aber der Reiz des Jünglings mildert in keiner Weise das Urteil des Lehrers. Im Gegenteil, gerade weil Jesus ihn lieb hat, fordert er ein großes Opfer von ihm. Eins gibt es, was hindernd zwischen dem liebenswerten Jüngling und dem Reiche Gottes steht, und dieses Eine ist sein Reichtum. Kann

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der, der ihn lieb hat, etwas andres als ein kräftiges Heilmittel vorschlagen? Es ist ein Fall, in dem ein milderndes Heilverfahren mißlingen muß, und in dem ein weiser Arzt mit anscheinender Grausamkeit zu einer durchgreifenden Operation rät. Mit solchen Situationen sind wir im modernen Leben wohl vertraut. Ein junger Mann aus guter Familie und von guter Erziehung, einnehmend und ritterlich, wird durch das Gewicht seines Besitzes von einer wirksamen Ausnutzung seines Lebens abgezogen. Wenn er nur vergessen könnte, daß er reich wäre, wenn er sich selbst eifriger Arbeit hingäbe, so würde er mannhafte Taten vollbringen. Wenn eine außergewöhnliche Forderung, z. B. ein Ruf zum Krieg an ihn heranträte, so würden die Torheiten des Luxus und der Befriedigung seines Selbst von ihm abfallen, und er würde der ausdauerndste und tapferste Soldat sein. Mittlerweile aber bietet sich ihm zum nützlichen Leben kaum eine Gelegenheit; er macht das Spiel zur Arbeit und er versinkt in eine falsche und törichte Anschauung von Leben und Glück. Beruht unsere Hoffnung f ü r einen solchen Jüngling nicht auf einer radikalen Wandlung, die wenn auch grausam, doch heilend ist wie das Messer des Arztes? Also forderte Jesus viel von dem jungen Obersten, weil er ihn lieb hatte, und als dieser vor der Operation zurückschreckte, die allein ihn retten konnte, da können wir uns das liebevolle Erbarmen vorstellen, mit dem Jesus um sich schaute und die Worte sprach: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen!" (Matth. 10,23). I n der Lehre Jesu sind demnach zwei Anschauungen über den Reichtum, die anscheinend in Widerspruch miteinander stehen, — einmal wird der Reichtum als ein anvertrautes Pfand betrachtet, das man verwerten soll und ein andermal als eine Gefahr, der man entfliehen muß,

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die Vorschrift des Arztes für soziale Gesundheit und die Hilfe des Chirurgen als Rettung vor sozialem Tod. Zeugt diese Verschiedenheit von Jesu Lehre nun von einem Wandel oder einer Zweideutigkeit? Im Gegenteil, seine Botschaft an die Reichen beruht wesentlich auf dieser doppelten Eigenschaft. Es ist Jesus nicht unmöglich, Strenge mit Liebe zu verbinden. Er erkennt mit vollkommener Klarheit, daß die unmittelbarste und tückischste Gefahr für das christliche Leben die Liebe zum Gelde ist. Den Götzen Mammon begleiten Gemeinheit, Großtuerei, Neid, Ehrgeiz, Eigendünkel, die materiellen Begriffe vom Glück — die Eigenschaften, die die Menschen geistlos, ungelehrig und unempfänglich für das Licht machen. Darum ist das Ergebnis klar. Kein Mensch kann zwei Herren dienen. Kein Mensch kann zwei Götter haben. Der Dienst des Himmelreiches verlangt den ganzen Menschen, sowohl seine Besitztümer als seinen Geist und sein Herz. Jesu Lehre erlaubt dem Menschen in keinem Falle, sich als unbeschränkten Besitzer zu fühlen. Niemand kann sagen: „Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem Meinen?" (Matth. 20, 15). Der Mensch besitzt den Reichtum nicht, er schuldet ihn. Gerade wie ein Geschäftsmann zu sich selber sagt: Ich muß eine bestimmt« Summe mit besondrer Sorgfalt anlegen, weil ich sie als Vormund verwalte, und weil ich dem Gesetz eine besondre Rechnung ablegen muß —; gerade so handelt ein Jünger Jesu in allen Lagen seines Lebens — wie ein Diener, der das große Wort vernommen hat. „Darum seid ihr auch bereit, denn des Menschen Sohn wird kommen zu der Stunde, da ihr's nicht meint" (Luk. 12,40). Wenn nun ein solcher Mensch der Lehre Jesu lauscht und bekennen muß, daß er von seinem Gelde beherrscht wird, daß er glaubt, ein Recht an seine Besitztümer zu

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haben anstatt sie als ein anvertrautes Pfand zu betrachten, wenn er den unrechtmäßigen Gewinn des G-eldes durch die wohltätige Benutzung desselben ausgleichen will, oder wenn er mit seiner Seele einen stillen Vertrag schließt in dem Sinne, daß seine überflüssigen Mittel dem Herren gehören sollen, und daß er mit dem übrigen sagen kann: „Liebe Seele, du hast einen guten Vorrat auf viele Jahre; hab'nun Ruhe, iß, trink und hab' guten Mut!" (Luk. 12,19) — dann sagt uns die Lehre Jesu, daß der vollständige und unmittelbare Verzicht auf den Reichtum besser als solche Selbsttäuschung ist. „Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde" (Matth. 5, 30). „Und was Nutzen hätte der Mensch, ob er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder beschädigte sich selbst ?" (Luk. 9,25). Kurz, Jesus stellt uns in seiner Lehre eine ernste Alternative nach der wir die Geheimnisse unseres Herzens prüfen müssen. "Wenn wir bei einem plötzlichen Nahen des Herren ihm ins Gesicht blicken und sprechen können: „Herr, du hast mir fünf Zentner getan; siehe da, ich habe damit andere fünf Zentner gewonnen" (Matth. 25, 20), dann ist der Reichtum unser Freund gewesen, der uns in die ewigen Hütten führt, und der Herr, der uns das Geld anvertraut hat, wird uns mit den "Worten willkommen heißen: „Gehe ein zu deines Herrn Freude!" (Matth. 25,21). Müssen wir uns dagegen vor seinem Urteil verbergen wie jemand, der einen andern Gott verehrt und das anvertraute Pfund nicht angelegt hat, dann ist es besser, den Altar des Mammons schnell und rauh umzustürzen, damit uns nicht der überwältigende Tadel trifft: „Und den unnützen Knecht werfet in die Finsternis hinaus! da wird sein Heulen und Zähneklappen" (Matth. 25,30). So dürfen wir uns nicht einbilden, daß die zweifache

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Lehre Jesu durch die Übersetzung in die moderne Sprache zu einer gemäßigteren und duldsameren Botschaft an die Reichen wird, als es die roheren Äußerungen und das radikalere Programm der modernen Agitation sind. Jesus denkt nicht sentimental über die Pflichten, die der Reichtum auferlegt. Mit ruhiger Strenge stellt er die vor dem Reichen liegende Alternative fest. Wenn in irgend einem Falle der Reichtum die vollständige Hingabe des Lebens hindert, erhebt Jesus keinen Einspruch gegen die umfassendsten modernen Forderungen der Abschaffung allen Besitzes. Er geht in der Tat noch über die meisten jener Forderungen hinaus. Der moderne Angriff auf den Reichtum würde sich daran genügen lassen, wenn der Gewinnanteil, der jetzt der besitzenden Klasse zufällt, sehr verringert würde. Die Lehre Jesu jedoch ist nicht auf wirtschaftliche Gerechtigkeit und billige Verteilung der Güter gerichtet; Jesus verlangt nicht, daß der Mensch ihm einen genügenden Teil seines persönlichen Gewinnes gäbe; er fordert den ganzen Gewinn und — das ganze Leben — für den Dienst des Himmelreiches, und das Problem wirtschaftlicher Verteilung reicht in seiner Lehre bis an jenes größere Problem geistiger Wiedergeburt und Bereitschaft heran 18 ). Das also ist Jesu Botschaft an die Reichen. Er stellt keinen Plan auf für eine neue wirtschaftliche Organisation; er ruft uns zum Dienste Gottes. Er stellt dem Menschen nicht das Problem seiner eigenen Rechte, sondern das Problem seiner eigenen Seele gegenüber. Zu manchem Menschen, der in den verwirrten und auf's höchste gespannten Verhältnissen des modernen Lebens gefangen ist, zu manchem Manne und mancher Frau, die beinahe über ihre Kraft durch Befriedigung ihres Selbst, durch niedrige Interessen uud materielle Dinge in Versuchung

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geführt werden, dringt Jesu Botschaft mit überzeugender Kraft. Solche Menschen wissen wohl, wie schwer es für die Reichen ist, ins Himmelreich zu kommen. Sie wissen wohl, wie schwer man sich religiöse Ideale, wahre Einfachheit und ein weites Herz in den exotischen und künstlichen Verhältnissen eines reichen Lebens bewahren kann. Sie sehen, wie oft der Reichtum zum Fluch wird, und wie oft die Kinder, für die der Vater gearbeitet hat, um des von ihm erworbenen Überflusses willen nur um so schlimmer daran sind, gerade als hätten sie ihren Vater um Brot gebeten und er hätte ihnen einen Stein gegeben. Sie müssen bekennen, daß es für die Armen leichter ist als für die Reichen geistig arm zu sein. Blicken sie indes etwas weiter in die Welt des modernen Lebens hinein, so sehen sie, daß auch hier die strenge Forderung Jesu befolgt wird, daß die Reichtümer — hier und da — beständig und sorgsam als ein von Gott anvertrautes Pfand hingenommen werden, und daß der Reichtum gerade und breite Wege bahnt, auf denen man andern helfen kann; und wir erkennen die Weisheit Jesu, der nach den rückhaltlosen Worten: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen (Luk. 18,24) — zu dem getreuen Verwalter vieler Güter zu sagen vermag: „Selig ist der Knecht . . . . wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen" (Luk. 12, 43—44). Wenn nun unter solchen Bedingungen die Reichen einen Platz im Reiche Gottes finden, so drängt sich uns schließlich die Frage auf, wie der Reichtum als ein anvertrautes Pfand rechtmäßig benutzt werden kann? Sagt Jesu Lehre uns etwas Bestimmtes darüber, wie man das Geld im Dienste des Himmelreiches verwenden kann? In dreierlei Weise scheint Jesus die Verwaltung des Reichtums als einen Teil christlichen Dienstes willkommen P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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zu heißen. Zuerst im Almosengeben: „Gib dem Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben" (Luk. 18, 22). Es ist jedoch wichtig zu sehen, daß Jesus dem Almosengeben, obgleich er es bei seinen Anhängern als etwas Natürliches voraussetzt, keinen hohen Platz unter den christlichen Tugenden einräumt. Jesus hält es für selbstverständlich, daß die Hingabe des ganzens Lebens die Hingabe des Besitzes in sich schließt; aber er will uns nicht in erster Linie zum Almosengeben antreiben; sondern er will die Fehler und die falsche Wertschätzung, die oft damit Hand in Hand gehen, verbessern. Das Almosengeben muß frei von Großtuerei sein. „Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut" (Matth. 6, 3). Nicht nach der Größe der Gabe darf das Almosen bemessen werden, sondern nach dem, was es dem Gebenden kostete. „Wahrlich, ich sage euch; diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt, denn alle, die eingelegt haben" (Mark. 12, 43). Soviel wir wissen, gab Jesus selbst keine Almosen, es müßte dann schon als Almosen gerechnet werden, daß er die Menge speiste, damit sie seiner geistigen Botschaft aufmerksam lausche. In der wundervollen Schilderung vom jüngsten Gericht (Matth. 25, 35) werden die Gerechten nicht gelobt, weil sie den Armen von ihrem Uberfluß austeilten, sondern weil sie sich dem Fremden, dem Gefangenen und dem Kranken in persönlichem Dienst hingaben. Gewiß ist es wahr, daß Jesu Lehre das Almosengeben als etwas Selbstverständliches ansieht; aber sie weist ihm unter den Tugenden nicht den ersten Platz ein, der ihm in der christlichen Kirche lange zugeschrieben worden ist, und es zu einem Deckmantel für eine Menge Sünden gemacht hat. Sehr verschieden von der Lehre Jesu über das Almosengeben sind die Andeutungen, die Jesus über

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eine zweite Verwendung des Geldes — im Dienste des Glückes und der Schönheit — macht. Nur hier und da berichten uns die Evangelien, daß in dem ernsten und arbeitsreichen Leben Jesu auch das Gefühl für Schönheit zum Ausdruck kommt gleich Sonnenstrahlen, die einen wolkigen und gewitterschwülen Tag durchleuchten; wenn aber jene seltnen Strahlen ästhetischer Freude seine Lehre durchdringen, so berühren sie eine Seite seines Charakters, die vielen frommen Christen beinahe verborgen geblieben ist. Jesus blickt um sich auf die Yögel in der Luft und die Lilien auf dem Felde, und der Reichtum und die Schönheit, die über sie ausgegossen sind, lassen sie ihm als passende Erläuterung für Gottes Weise erscheinen. Jesus sitzt an einem Hochzeitsfeste zwischen den glücklichen Gästen und geht freudig auf den festlichen Geist der Szene ein. Man hat ihn einen Weinsäufer und Schenkwirt genannt, weil er nicht finster allen Gelegenheiten auswich, wo ihm heitere Gastfreundschaft und fröhliche Gemeinschaft geboten wurde. Daß Jesus iiueh Verständnis für solche Ausgaben hatte, die nicht gerade nutzbringend waren, zeigt uns am deutlichsten die Geschichte von dem Weibe mit dem Glase köstlichen Wassers, eine Erzählung, die sich dem Geist der Hörer so tief eingeprägt hat, daß sie sich in verschiedenen Verbindungen in allen vier Evangelien befindet 14 ) (Matth. •26,4; Mark. 14,3; Luk.4,34; Joh.12,3). Dieser Fall stellt eine offne Streitfrage dar zwischen der Benutzung des Geldes für sinnreiche Symbole und der Verwendung des Geldes für Almosen. Die Jünger wurden unwillig „und sprachen: Wozu dient diese Vergeudung? Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden" (Matth. 26, 8, 9). Jesus aber erkennt, daß noch andere Bedürfnisse des menschlichen Lebens in Frage 12*

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kommen als die bloße Erhaltung desselben. „Der Mensch lebt nicht allein vom Brot" (Luk. 4, 4). Das "Weib gießt ihre Grabe verschwenderisch über Jesus aus, gleichsam als Antwort auf das tiefe menschliche Verlangen nach dem Schönen, dem Gedankenreichen, Opferfreudigen, und Jesus begrüßt ihre Gabe, wie er die Schönheit der Lilien begrüßt, die Zeugnis gibt von der Vollkommenheit Gottes, die er zu offenbaren wünscht. „Wahrlich ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat" (Matth. 26, 13). Das ist der Freibrief für alle jene Unternehmungen, die im Namen Christi dem Geiste Nahrung geben, die Phantasie anregen, die Gefühle beleben, um das Dasein weniger dürftig, weniger tierisch und weniger stumpf zu machen. Ein moderner Arbeiter unter den Armen sagt, das sittliche Recht des Luxus ist bedingt durch seine Mitteilbarkeit1R). Die Verwendung des Reichtums auf Kunst, Erziehung, Musik, auf die Eröffnung natürlicher Hilfsquellen für das ermüdende Stadtleben, auf die Befreiung der Menschheit von reinem Geschäftsstandpunkt, auf die Ermöglichung jener Vergnügungen, die die Natur zu Organen und Symbolen menschlichen Wesens erheben, wird nicht nur durch den erhebenden und erzieherischen Erfolg gerechtfertigt, sondern beruht auch auf der ausdrücklichen Autorität der Lehre Jesu Christi. Es ist nicht in allen Fällen besser für solche Zwecke etwas zu verwenden als es den Armen zu geben; aber es ist ebenso berechtigt. Das christliche Leben würde in der Tat armselig sein, wenn es die Opfer, die das Herz freiwillig und ohne Überlegung bringt, nicht willkommen heißen wollte. Beide Arten der Benutzung des Geldes sowohl für wohltätige als für ästhetische Zwecke erkennt Jesus an;

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aber in. seiner Lehre ordnet er beide einer dritten Verwendung des Reichtums unter, die er als die höchste hinstellt. Wir sind beinahe überrascht durch die Entdeckung, daß jene allerchristlichste Anwendung des Besitzes einfach in seiner gewissenhaften und ehrenhaften Benutzung für jenes besondere Werk besteht, das wir zu tun berufen sind. Die jetzige christliche Welt hat einen doppelten ethischen Maßstab angenommen. Sie prüft nicht mehr genau die Art und Weise, auf die die Menschen Geld verdienen; sondern sie urteilt nach der Not, in der sie es ausgeben. In der Geschäftswelt darf ein Mann sich ihrer Meinung nach wohl auf fragwürdige Unternehmungen einlassen, wenn er sich nur durch eine weihevolle Benutzung seines Raubes wieder loskauft. Die Arbeit der Welt, wir fühlen es oft, verlangt einen geschäftlichen Maßstab, während das sogenannte Christenwerk mit anderm Maßstab gemessen wird. Der Dienst des Mammons bringt so großen Gewinn, daß es den Anschein hat, als fördere er den Dienst Gottes. Nichts erniedrigt in den Augen der Geschäftsleute die christliche Religion so sehr, als die Ubereinstimmung, mit der christliche Kirchen oder christliche Gläubige dieser Lehre des Bimetallismus anhängen. Wenn man sieht, daß ein Mensch, der mit doppeltem Maßstab rechnet, unter die Heiligen aufgenommen wird, und daß es gestattet ist, einen Unterschied zwischen geschäftlichen und christlich kirchlichen Grundsätzen zu machen, so genügt das, um manchen Menschen, dem Konsequenz, Unbestechlichkeit und Treue zur Lebensregel geworden, dem Einfluß der Religion zu entziehen. Er vermag nicht zu glauben, daß schlechte Münze im religiösen Brauch gültig ist. Mit diesem Urteil der Geschäftsleute stimmt Jesu Lehre vollkommen überein. Jesus verdammt das geteilte

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Leben. Der Grundgedanke seiner Lehre über den Reichtum ist, daß man nicht zwei Herren oder zwei Göttern dienen kann. Seine strengsten Worte richten sich gegen die Heuchler, die da im Geschäft „fressen der Witwen Häuser" und in den Synagogen „wenden langes Gebet vor" (Mark. 12, 40). Konsequenz hält Jesus für den Anfang eines christlichen Lebens. Er beurteilt den Menschen deshalb nicht in erster Linie nach dessen Gebet oder Almosengeben oder nach der Erfüllung seiner religiösen Pflichten sondern nach seinem täglichen Leben und seiner gewöhnlichen Arbeit. Als Bilder des religiösen Lebens zeigen uns die Evangelien meistens Scenen aus der Geschäftswelt. Ein Mann, der in ein fremdes Land ziehen will, ruft seine Knechte zusammen und verteilt seine Güter unter sie (Matth. 25, 14). Ein Edler fordert zehn seiner Knechte und gibt ihnen zehn Pfund und sagt: „Handelt, bis daß ich wiederkomme" (Luk. 19, 13). Ein Mensch „läßt sein Haus und gibt seinen Knechten Macht, einem jeglichen sein Werk und gebietet dem Türhüter, er sollte wachen" (Mark. 13, 34). Ein Mensch pflanzt einen Weinberg und tut ihn aus den Weingärtnern, „daß er von den Weingärtnern nehme von der Frucht des Weinbergs" (Mark. 12, 2). Wer sind jene Knechte. Händler, Türhüter und Weingärtner? Es sind die Menschen, die sich Jesus zu Jüngern wünscht, und die gerade jene Art des Dienstes verrichten, die er von seinen Anhängern erwartet. Wem dagegen gelten seine ernstesten Warnungen, seine furchtbarsten Verdammungen? Dem Knechte, der das anvertraute Pfand vernachlässigt (Matth. 25, 24—30), dem Türhüter, der auf seinem Posten schläft (Mark. 13, 14), dem Weingärtner, der sich darauf verläßt, daß keine Abrechnung verlangt wird (Mark. 11. 1—11), dem, der des Herren Geld weniger gewissenhaft

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verwaltet als das eigene (Luk. 19, 20—24). „Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk!" (Luk. 19, 22). „Was wird nun der Herr des Weinberges tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben" (Mark. 12, 9). Das bedeutet: Die beständige Treue in der Verwaltung unserer eigenen Angelegenheiten ist für das christliche Leben charakteristischer als das großmütigste Austeilen von Almosen und die begeisterndste Pflege des Schönen. Will man eines Menschen Herz prüfen, so sollte man nicht in erster Linie fragen, wie er seinen Gewinn verteilt, sondern wie er ihn erwirbt. Jesu höchstes Lob gilt nicht dem großmütigen Almosenspender sondern dem getreuen Haushalter, dem wachsamen Türhüter, dem gewissenhaften Knecht. Es wurde einst gesagt, daß die Stimme des Messias „nicht auf der Straße gehört werden solle"; wenn wir aber jene Worte in die moderne Geschäftssprache übertragen dürfen, so ergeht Jesu Botschaft an die Reichen gerade „auf der Straße"; und keine Selbsttäuschung der Wohlhabenden kann größer sein als der Glaube, daß Jesu Urteil über die tägliche Lebens- und Geschäftsfülirung gemildert oder aus dem Wege geräumt werden könnte. Wer ist nun der christlich reiche Mann? Der, welcher erkennt, daß in der Verwaltung seines Reichtums beständig oine feine Versuchung liegt, daß der wachsende Wohlstand, wie Jesus sagt, uns leicht betrügt, sodaß das Geld, das anfänglich unser Diener zu sein schien, in jedem Augenblick zu unserm Herren werden kann. Der reiche Christ weiß wohl, daß es schwer für ihn ist, ins Himmelreich zu kommen. Er sieht, daß der Charakter vieler Menschen in dem Feuer des Reichtums zusammenschrumpft. Er erkennt, daß üppige, behagliche Verhältnisse, in denen die Reibung des Lebens fehlt, die moralische Fiber er-

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schlaffen lassen. Er hält sich deshalb immer jene ernste Alternative vor Augen, die Jesus ihm gestellt hat — die Herrschaft über den Reichtum und den Verzicht auf den Reichtum. So wird der Wohlstand des reichen Mannes für ihn zum anvertrauten Pfand, nach dessen Verwendung er beurteilt wird. Er verwaltet seine Angelegenheiten, indem er über sich selbst wacht und seine Hände rein hält von Bosheit, Grausamkeit oder Betrug. Er weiß, daß die unrechte Art des Geldverdienens nicht durch prahlerische Wohltätigkeit wieder gut gemacht werden kann. Er wird ebenso sehr nach der Art beurteilt, in der er seinen Reichtum aufhäuft als nach der. in der er ihn verteilt. Er ist nicht hart im Geschäft und weich im Wohltun; sondern eine einzige Fiber läuft durch alles hindurch. Sein Geschäft ist ein Teil seiner Religion, und seine Menschenfreundlichkeit ist ein Teil seines Geschäftes. Er beherrscht das Leben; das Leben beherrscht nicht ihn. Seine fünf Zentner bringen weitere fünf Zentner ein. Und wer ist die christliche reiche Frau? Es ist die Frau, die es nicht für unmöglich hält, an irdischen Gütern reich und doch geistig arm zu sein. In steter Wachsamkeit nimmt sie die Gelegenheit wahr, die sich ihr im Leben bietet. Sie weiß, daß sie selbst eine Dienerin ist, von der viel gefordert wird. In einer Welt der Torheit und Eitelkeit hält sie Einfachheit und gesunden Sinn aufrecht. Sie ist ebenso sehr bei den Reichen wie bei den Armen zu Hause. Man kann das Leben einer christlichen Frau auf keine größere Probe stellen, und es kann keinen schöneren Charakter geben als den, der aus solcher Prüfung hervor und durch das Nadelöhr hindurchgeht. Wenn Jesus Christus jetzt wiederkäme, so würde er verstehen, was es einen Mann gekostet hat, die Lockungen des Reichtums unter die Füße zu treten, oder was

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es einer Frau gekostet hat, ihr Herz rein zu erhalten von den Versuchungen der Selbstsucht. In das Haus solcher Männer und Frauen würde Jesus, selbst wenn es ein glänzendes Haus wäre, freudig eintreten, wie er ja auch in das Haus des Zachäus, der Martha und der Maria eintrat. Solchen Mann und solche Frau würde er mit derselben Liebe umfassen wie einst den jungen Mann, der viele Güter hatte. Der Kampf mit dem Mammon hat solcher Seele den Weg zu den ewigen Hütten bereitet. Der Knecht steht bereit für des Herren Abrechnung, und der Herr kommt und spricht: „Ei du frommer und getreuer Knecht, geh ein zu deines Herrn Freude!"

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Jesu Lehre über die Fürsorge für die Armen. Hierauf werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungern sehen und gespeiset? oder durstig und getränkt? Wann haben wir dich fremd gesehen und eingeladen, oder bloß und bekleidet? "Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen ? Und der König wird ihnen antworten: Wahrlich, ich sage euch, soviel ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan, habt ihr mir getan. Von dem Problem, das die Reichen behandelt, wenden wir uns jenem andern Problem zu, das die Fürsorge für die Armen umfaßt, und wir werden in eine Welt von Gedanken und Pflichten geführt, die den Nachfolgern Jesu Christi viel vertrauter ist. Von den ersten Tagen der christlichen Geschichte an bis auf unsere Zeit sind die Pflichten des Erbarmens mit den Unglücklichen und der Hilfeleistung für die Bedürftigen zu den ersten Christenpflichten gezählt worden. Der Wandel, den Jesu Lehre in der Geschichte der Menschenliebe hervorgebracht hat, ist kaum weniger auffällig als der, den sr in der Geschichte der Theologie herbeiführte. Die neue Anschauung von Gott schuf eine neue Liebe zu den Menschen. Die „Caritas" der Christen ist im Grunde vollkommen verschieden von der „Prodigalitas" der Römer.

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Bei dieser Behauptung jedoch müssen wir auf eine gewöhnliche, aber durchaus ungerechtfertigte Ubertreibung hinweisen. Die, welche in der modernen Zeit f ü r das Christentum eintreten, pflegen den Kontrast zwischen der vorchristlichen Philanthropie und der Nächstenliebe nach Jesu Gebot als einen Kontrast zwischen vollkommener Dunkelheit und blendendem Licht darzustellen, als eine Revolution aller menschlichen Beziehungen, die zum erstenmal in der Geschichte die Bedeutung des großen Wortes Liebe offenbaren. „Die Welt vor Christo," sagt man offen, „ist eine Welt ohne Liebe." Selbstsucht war der beherrschende Geist des Altertums. Das Menschengeschlecht hatte Gott vergessen. Die Familie und die Ehe waren nur politische Institutionen. Ohne das Evangelium würde die Gesellschaft aufgelöst worden sein, würde die Menschheit hoffnungslos in einem unergründlichen Abgrund untergegangen sein. Armut wurde als eine Schande angesehen, die nur von niedrigen und schlechten Menschen ertragen werden konnte 1 ). Diese Verteidiger der christlichen Religion lassen sich durch ihren übertriebenen Eifer irreführen. Es ist ebenso unwahrscheinlich, daß die christlichen Tugenden in eine ganz unempfängliche Welt geschleudert wurden, als daß eine Blume in unfruchtbarem Boden zur Blüte kommt; und die Gelehrten, die in der alten Welt keinen guten Boden für die Aussaat solcher Tugenden entdeckt haben, müssen in ihren Forschungen in der Tat sehr oberflächlich gewesen sein. Einerseits ist die jüdische Überlieferung, die das Christentum erbte, nicht nur reich an Ausdrücken erbarmungsvollen Gefühls, sondern auch an sorgfältigen Einrichtungen zur praktischen Erleichterung der Armen. „Wohl dem, der sich des Dürftigen annimmt!" (Psalm 41).

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„Wohl dem, der sich der Elenden erbarmt!" (Spr. Sal. 14,21). „Darum gebiete ich dir und sage, daß du deine Hand auftuest deinem Bruder, der bedränget und arm ist in deinem Lande" (5. Mos. 15, 11). „Das ist aber ein Fasten, das ich erwähle Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe ins Haus! u (Jes. 58,6—7). Diese Ermahnungen geben nicht allein Zeugnis von dem Grundgedanken alttestamentlicher Religion, sondern tatsächlich von der Handlungsweise der Frommen. Dem jüdischen Volke war während seiner ganzen Geschichte ein besonderes Gefühl der Verantwortlichkeit für die schwächeren Brüder eigen, und im heutigen Leben wird seine gründliche und in großem Maßstabe organisierte Mildtätigkeit durch kein Element irgend einer andern Gemeinschaft übertroffen8). Wenden wir uns dagegen der römischen "Welt zu, in der die christliche Religion sich ausbreitete und festigte, so sind wir betroffen über die Erscheinungen ernster sozialer Verderbnis und moralischen Verfalles, die uns entgegentreten. Die Excesse einer ausschweifenden und heruntergekommenen Aristokratie jedoch geben uns kein vollständiges Bild von dem sozialen Leben des alten Roms. Wenn wir nur die Unsittlichkeit der herrschenden Klasse ins Auge fassen, so können wir nach den Berichten der Satiriker einerseits und der Stoiker anderseits das soziale Leben des alten Roms als ein solches bezeichnen, das in Hinblick auf die Familie die außerordentlichste Lockerheit und in sozialer Hinsicht den hoffnungslosesten Verfall aufwies. Die historischen Romane, die uns von den Verhältnissen des Augustinischen Zeitalters berichten, sind sich mit den Apologeten des Christentums ganz einig in der Schilderung jenes moralischen Bankrotts; und der Zusammenbruch, den die römische Macht durch den Ver-

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lust moralischer Männer erlitt, ist der ernsteste Beweis, den die Geschichte dafür liefert, daß nur Ehrenhaftigkeit ein Volk erhebt. Wollte man aber ein solches Urteil über das gesamte römische Leben fallen, so würde das ebenso übertrieben sein, als wenn man sich ein Urteil über die amerikanische Zivilisation nur aus der Literatur und den Zeitungen bilden wollte, die ihren Stoff den Torheiten und Sünden der üppigen, dem Vergnügen nachjagenden, ungezügelten Reichen entnehmen. Bei aller Verderbtheit der römischen Aristokratie sowohl wie der Regierung gab es doch, hauptsächlich in den Städten der Provinz eine Atmosphäre unverdorbenen sozialen Lebens, in dem sich die Ideale des Christentums auf natürliche Weise entfalten konnten 8 ). Die Grabdenkmäler, die die Tugenden der Toten priesen, liefern einen entscheidenden Beweis dafür. Gerade in einer Zeit, in der Zügellosigkeit und Roheit an dem Leben der Reichen fraßen, sprechen diese stummen Zeugen dafür, daß in dem großen Volkskörper noch eine Lebens woge floß, die stetig, häuslich, erbarmungsvoll, bescheiden und voll Frieden war 4 ). Diese überlebenden römischen Überlieferungen und die noch blühenden israelitischen Traditionen waren es, in denen die Philanthropie der christlichen Religion Wurzel faßte. Ohne einen solchen Boden würde die christliche Religion ein Same gewesen sein, den man am Wege ausstreut. Die Ausdehnung des Ranges und der Tiefe, die das Christentum der Philanthropie verliehen hat, bildete ohne Zweifel eine mächtige Umwandlung in der Entwicklung des menschlichen Charakters. Aber sie war keine wunderbare Umwandlung des menschlichen Charakters selbst. Gott hat sich auch in der vorchristlichen Welt nicht unbezeugt gelassen. War die Philanthropie der Schriftgelehrten und Pharisäer auch gesetzmäßig und

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prahlerisch, so wurde doch in manchem frommen Hause des hebräischen Volkes die nationale Tugend des Erbarmens aufrecht erhalten, und in einem solchen Hause wurde Jesus geboren. Mochten die Laster römischer Herrscher auch üppig wuchern, die römische Welt hatte dennoch ihre alte häusliche Lauterkeit und ihren sozialen Frieden nicht verloren, und in Häusern, wo diese gepflegt wurden, in den Städten der römischen Provinzen wurden die Missionspredigten des Paulus willkommen geheißen. Doch wie man mit Recht die veredelte Rose als eine andere Blume bezeichnet als die ursprünglich am Wege erblühte, so kann man die Caritas des christlichen Glaubens eine neue Tugend nennen, die ihren eigenen und besonderen Wohlgeruch hat. „Das Christentum," sagt Lecky, „machte die Wohltätigkeit zum erstenmal zu einer elementaren Tugend;5) aber nicht dieses gab der Philanthropie besonders Schönheit und Duft, sondern es ist der Umfang ihrer Sympathie, die Ausdehnung ihres Gebens und die Anerkennung der Gemeinschaft mit solchen Menschen, die bisher von der Welt nicht beachtet oder zurückgestoßen wurden. Der Gottesdienst und die brüderlichen Beziehungen der ersten Christen sind reich an umfassender Fürsorge, die weder in Rom noch in Israel erreicht wurde. Die ersten Formen des christlichen Gottesdienstes enthalten besondere Gebete für die Armen, die Ausgestoßenen und die Gefangenen. Der erste Brief des Clemens von Rom schließt mit den Worten: „Rette die, welche in Trübsal sind, erbarme dich der Niedrigen, erhebe die Gefallenen, zeige dich den Bedürftigen, heile die Gottlosen, bekehre die Irrenden unseres Volkes, speise die Hungernden, erlöse die Gefangenen, erhebe die Schwachen und tröste die Schwachherzigen!") Derselbe Geist zarten aufopfernden Dienens zeigt sich

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wiederholt in den frühen Liturgien; er verherrlicht die ersten Gemeinden, und er erhellt die dunkle Zeit theologischer Streitereien, die die ersten schönen Träume der christlichen Kirche so bald trüben sollten. Jene christliche Wohltätigkeit ist mit der Kirche von Jahrhundert zu Jahrhundert gewachsen; sie hat manchen überflüssigen oder grausamen Widerstand ausgeglichen; sie hat die dunkle Geschichte des Mönchtums und der Bettel-Orden erhellt und dem Einfluß der christlichen Religion Millionen Menschen gewonnen, die nicht durch die Drohungen ewiger Verdammnis, sondern durch die Beweise der Liebe bezwungen wurden. In keiner früheren Zeit hat die christliche Kirche die Verantwortlichkeit für die Armen so sehr empfunden wie in der jetzigen. Keine noch so bescheidene christliche Gemeinde kann ihre Selbstachtung behaupten, ohne eine vollständige Organisation, wo das Erbarmen und die Hilfeleistung miteinander Hand in Hand gehen. Die christliche Kirche tritt nicht allein für die Wahrheit, sondern auch für die Allgemein-Nützlichkeit ein. „So will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken" (Jak. 2,18). Das Ausüben christlicher Werke ist zu einer besondern Art Geschäft geworden. Man hat besondere Kirchen gegründet, die ebenso sehr Vermittler christlicher Werke als Stätten der Anbetung sind, und manchen modernen Menschen, die die Ansprüche der christlichen Kirche auf dogmatische Wahrheit abweisen, erscheint sie als ein Werkzeug menschlichen Erbarmens und der Brüderlichkeit vollkommen gerechtfertigt. All diesen Offenbarungen christlichen Sinnens muß man noch große Unternehmungen weltlicher Wohltätigkeit hinzuzählen, deren Wirkung, selbst wenn sie durch soziale und politische Klugheit geboten sind, zum größten Teil

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auf der außerordentlichen Macht der christlichen Überlieferung beruht. Offizielle Hilfeleistungen werden durch christliche Zartheit gemildert, die Wohnungen der Armen werden durch christliche Besuche erhellt, und manche Institution, manche Stiftung, aus der die christliche Lehre formell ausgeschlossen ist, ist in ihrer Wirkung ein Werkzeug derselben. Hätte man sich nicht im allgemeinen zu der christlichen Lehre von der sozialen Verantwortlichkeit bekannt, so würden die, die um ihre Existenz ringen müssen, die Last, die ihnen durch die Fürsorge für die Armen auferlegt worden ist, nicht klaglos tragen. Nur wenig Menschen denken darüber nach, wie ungeheuer die Summen sind, die in allen zivilisierten Ländern jährlich für Werke der Wohltätigkeit ausgegeben werden. In den Vereinigten Staaten rechnet man für die Unterstützung der abhängigen Klassen nicht weniger als zwei Dollar auf jeden Kopf der Bevölkerung; die private Wohltätigkeit durch Vereine und einzelne Menschen kostet der Gesellschaft eine gleich große Summe, und wenn wir dazu den Beitrag schlagen, den die Kirchen für ihre eigenen Armen und für alle Formen menschenfreundlicher Werke hergeben, so finden wir einen überwältigend großen Gesamtbetrag, den die Wohltätigkeit in unserer Zeit aufweist7). Dieselbe Freigebigkeit herrscht in andern christlichen Ländern. Wir haben nun so verschwenderische Freigebigkeit erreicht, wie sie in der Geschichte der Philanthropie bisher noch nicht vorgekommen ist, und das ist durch Christi Befehl: „Gib den Armen!" (Luk. 18,22) in hohem Grade verursacht. Mögen andere Lehren des Evangeliums uns unpraktisch oder utopisch erscheinen, jener einen Forderung haben wir anscheinend gebührend gehorcht. Allein gerade an diesem Punkte, wo wenigstens ein

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soziales Problem seine Lösung gefunden hat, und wo das christliche Gewissen anscheinend befriedigt sein könnte, tritt uns das wahre Problem der Wohltätigkeit in seiner modernen Form zuerst entgegen. "Wir haben schon früher beobachtet, mit welcher Lebendigkeit und mit welchem absorbierenden Interesse sich die moderne soziale Frage in allen ihren Erscheinungen von dem Studium der Wirkungen dem Studium der Ursachen zuwendet, von der Verbesserung der Verhältnisse zur P r ü f u n g jener Verhältnisse selbst. Dasselbe Merkzeichen finden wir in der modernen Wohltätigkeit. Im allgemeinen betrachtet man jene außerordentliche Bewegung des Mitgefühls und Erbarmens nicht mit ungeteilter Bewunderung, sondern mit Mißtrauen und Kritik. Es drängt sich uns die Frage auf, was wird mit jener christlichen Freigebigkeit in Wahrheit anderes erreicht als die selbstsüchtige Befriedigung des frommen Gebers und die zeitweise Sicherheit und der Frieden des Staates? Ist es gewiß, daß jener außerordentliche Aufwand von Mitgefühl und Geld mehr Heil als Unheil anrichtet? Hat die Armut sichtbar abgenommen? Soll man diese verschwenderische Freigebigkeit als Selbstbespiegelung und Eitelkeit oder als eine soziale Gefahr betrachten? Sagt nicht ein ausgezeichneter sozialer Kritiker mit Recht, daß nächst dem Laster die Wohltätigkeit in ihrer gewöhnlichen und gebräuchlichen Auffassung das verderblichste ist? s ) Und wenn diese Anklage gegen die Gesamtwirkung der heutigen Wohltätigkeit in irgend einem Maße gerechtfertigt ist, sollte sie sich dann nicht mit noch größerer Strenge gegen die besondere Wohltätigkeit der christlichen Kirche richten? Wo finden Heuchelei und Falschheit so viele leichtgläubige Opfer als unter den Frommen? W e r läßt sich in der Philanthropie so leicht hinreißen und so Peabody, Jesus Christus und die soziale Frag«.

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schwer zur Zurückhaltung und zu einer durchdachten Methode bekehren wie die frommen Leute? Wo wird die Hilfe so oft doppelt geleistet, weil die Kraft geteilt ist und wo wird der Betrug so oft begünstigt wie in der zersplitterten Freigebigkeit der geteilten Kirche? Ist es nicht wahr, daß die christliche Philanthropie die Wohltätigkeit weniger zum Wohl der Empfänger als zum Heil der Geber benutzt hat? „Einzig und ausschließlich," wie Lecky bemerkt, „zu deren eigenem geistigen Gewinn"9). War nicht die große Bedeutung, die man der Tugend des Almosengebens beilegte, daran schuld, daß die Christen bald dazu kamen Bettelei und Asketentum als Zeichen der Heiligkeit anzusehen? Und müssen wir nicht das Klostersystem vom Standpunkte sozialen Fortschrittes aus trotz aller seiner edeln Züge als einen ungeheuern Fehler bezeichnen? „Entzog es dem Leben nicht," wie Lecky weiter sagt, „eine Menge schaffender Kräfte, beförderte es nicht ein blindes und verderbliches Almosengeben, begünstigte es nicht die Unbedachtsamkeit der ärmeren Klassen, paralysierte es nicht alle Energie und erwies sich als eine unübersteigbare Schranke gegen den materiellen Fortschritt?" Finden wir nicht noch in vielen Zweigen der christlichen Kirche diese falsche Schätzung der Armut und diese krankhafte Befriedigung im frommen Eifer? Gibt es nicht noch weitergehende Kritiken, die eine nochmalige Erwägung der christlichen Wohltätigkeit eröifnen? Sollten einer sozialen Ordnung, der es nie gelungen ist die Armut auszurotten, noch weitere Versuche gestattet werden? Spricht nicht der fortdauernde Unterschied zwischen Reichtum und Armut, der die Gelegenheit zur christlichen Wohltätigkeit bietet, genügend dafür, daß das Christentum ein Mißgriff ist? Ist nicht die ganze Wohltätigkeitspflege eine Beleidigung gegen die, die nicht

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einen Anteil von des reichen Mannes Uberfluß, sondern ein Anrecht an sein Eigentum wollen? Dürfte es überhaupt Arme geben? Hat nicht der moderne Revolutionär Recht, wenn er die christliche Wohltätigkeit, die die Schäden lindern will, als ein unästhetisches Mittel ansieht, das dem Armen beigebracht wird, damit er seine Lage nicht klar erkenne? Allein jene Fragen führen uns über das Problem der Wohltätigkeit hinaus zu dem Problem industrieller Revolution und industriellen Wiederaufbaues, und sie müssen deshalb für den Augenblick beiseite geschoben werden. Es genügt festzustellen, daß uns bei der Hilfeleistung für die Armen der ernsthafte und prüfendste Skeptizismus gegenüber steht, der sich sowohl mit den Formen wie mit dem Geiste beschäftigt, in dem die Wohltätigkeit gewöhnlich ausgeübt wird. Wir müssen, so scheint es, die ersten Grundgedanken christlichen Mitleids wieder aufnehmen. Bringt es mehr Heil oder Unheil, wenn wir diesen schönen freiwilligen Liebestrieben Gehör geben, in denen sich unsrer Meinung nach der christliche Geist am vollkommensten offenbart? Werden wir diese Grundgedanken nicht wie die Zeit des Klosterlebens schon bald als einen großen Irrtum ansehen, von dem die Zukunft nicht sagen wird, wie wir es von dem Angriff auf Balaklava sagen, daß er zwar herrlich, aber doch kein Krieg war. Was sollen wir nun von der Autorität Jesu als Führer unserer Philanthropie denken, wenn sich ein derartiger Widerspruch zwischen der heutigen Anschauung des sozialen Fortschrittes und der gewöhnlichen Ausübung christlicher Wohltätigkeit geltend macht? Sollen wir glauben, daß seine Lehre nur das Überbleibsel einer fernen orientalischen Welt ist und nicht einem wissenschaftlich gebildeten und komplizierten Zeitalter gilt. 13*

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Ist es überhaupt möglich, daß ein Armer unserer Zeit dankbar die Botschaft hinnehmen kann: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollt!" (Luk. 12,22) und ist es weiter möglich, daß ein Reicher in unsern Tagen dem Wort gehorchen kann: „Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht ab von dem, der dir abborgen will" (Matth. 5,42). Wollen wir diese Fragen beantworten, so dürfen wir uns nicht an einem allgemeinen Eindruck der philanthropischen Gewohnheiten genügen lassen, die einst unter den Jüngern Jesu herrschte; sondern wir müssen Jesu Lehre näher prüfen, und bei einer solchen Erforschung jener Lehre entdecken wir, daß sie durchaus nicht so unpraktisch ist, wie die Kritiker oft angenommen haben und durchaus nicht so entsittlichend, wie ihre Anhänger sie oft haben erscheinen lassen. Im Gregenteil, wenn wir Jesu Lehre nicht dem Buchstaben sondern dem vorherrschenden Greiste nach prüfen, so sehen wir, daß sie in außerordentlicher Weise auf die Bedürfnisse und Probleme der modernen Philanthropie paßt und selbst das beste Heilmittel für jene ernsten Irrtümer bietet, die viele Christen im Namen ihres Herrn bei der Wohltätigkeitspflege begangen haben. Nähern wir uns also der Lehre Jesu, die von der Fürsorge für die Armen spricht, so tritt uns zuerst ein besonderes Mitgefühl und eine besondere Rücksichtnahme für alle Unglücklichen und Bekümmerten entgegen. Jesus trägt die Last der Armen immer auf dem Herzen. Wenn er zu Johannes dem Täufer von den Merkzeichen seines Wirkens spricht, so braucht er clie Worte Jesaia: „Den Armen wird das Evangelium geprediget" (Matth. 11, 5) und wenn er wiederum in Nazareth dieselbe Stelle liest und „aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf

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ihn u , sagt er von sich, selbst: „Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren" (Luk. 20,21). Durch Jesu ganze Lehre hindurch zieht sich ein außerordentlicher Grundgedanke moralischer Klassifikation. Er hat tiefes Erbarmen mit jedem belasteten Leben, selbst wenn es sündig ist, und anderseits fällt er ein außerordentlich strenges Urteil über die Arroganten, die Selbstzufriedenen, die Geldprotzen und über die, welche sich für heilig halten. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!" (Matth. 11, 28) lautet seine trostreiche Botschaft. „Selig sind die Sanftmütigen" (Matth. 5, 5), „die da geistig arm sind" (Matth. 5, 3), „ihr Armen" (Luk. 6,20). „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen" (Joh. 6,37). Die Fürsorge für die Armen ist also ein selbstverständlicher und einfacher Teil christlicher Nachfolge. Worte wie: „Gib den Armen" (Matth. 19,21), verkaufe alles, was du hast und gib's den Armen!" (Luk. 18,22), „Arme habt ihr allezeit bei euch" (Joh. 12, 8) sind ein notwendiger Anhang des Evangeliums, eine Lebensweise, die sich von selbst gibt, wenn man das Reich Gottes sucht. Wenn „die kleine Herde" seiner Jünger seiner Lehre gehorcht, wird sie Almosen geben und sich selbst Säckel machen, die nicht veralten, „denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein" (Luk. 12,32—34). Wir sollten es jedoch wohl beachten, daß in jenen schönen Äußerungen umfassenden Erbarmens und in den kategorischen Befehlen für die Erleichterung der Armen durchaus nicht genau gesagt wird, auf welche Art und Weise wir Erleichterung schaffen sollen. Das Evangelium sagt allerdings: „Gib dem, der dich bittet!" (Matth. 5, 42). Es legt uns eine Pflicht auf; aber es sagt uns nicht genau, was wir geben oder in welchem Sinne wir geben sollen

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oder mit welchen Beschränkungen und Gedanken wir unsere Grabe austeilen sollen. Jesu Lehre betreffs der Fürsorge für die Armen ist deshalb in dem gleichförmigen Befehl des Almosengebens noch lange nicht erschöpft. Mancher Geber, der den Armen sorglos austeilt, glaubt dadurch Jesu Christi Forderung zu genügen, und mancher gewissenhafte Jünger, der bei dem Almosengeben der Klugheit und Selbstbeherrschung keinen Raum gewährt, stützt sich auf das "Wort seines Herrn: „Gib jedem, der dich bittet!" (Luk. 6, 31), während in "Wirklichkeit jenes Geben geradezu illoyal sein kann gegen seine wahre Absicht. Wie in so vielen anderen Fällen folgt man auch hier dem Buchstaben, und die größere Lehre, der Geist des Evangeliums wird dadurch verdunkelt. Wenn die Reichen glauben, daß ein gedankenloses Almosengeben dem Befehl: „Gib den Armen" (Matth. 19,21) entspricht, so zeugt das von einer ebenso oberflächlichen Auslegung des Evangeliums, als wenn die Armen denken, daß die Bettelei gerechtfertigt würde durch das Wort Jesu: „Bittet, so wird euch gegeben!" (Matth. 7, 7). Jesu Lehre liegt in ihrer wesentlichen Einheit weit hinter jenen zerstreuten Äußerungen, die die verderblichen und gedankenlosen Hilfeleistungen zu ermutigen scheinen. Es ist nun jene Lehre, die man nicht nur aus seinen vielen Aussprüchen über die Armen folgern kann, sondern aus der Art, in der er mit den Armen verkehrte, und wenn man dieses alles miteinander vergleicht und zusammenfaßt, so ist die Lehre Jesu viel tiefer und viel schwerer zu befolgen, als Jesu Nachfolger im großen und ganzen glauben wollen. Wenn wir diesen innern Geist der Lehre Jesu verfolgen, so müssen wir uns zuerst zwei allgemeine Grundgedanken des Evangeliums ins Gedächtnis zurückrufen, die, wie wir schon gesehen haben, Jesus in seinem Yer-

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halten gegen die Reichen leiteten. Einerseits schätzte er das Almosengeben als Tugend verhältnismäßig gering. Er nimmt jene Form der Wohltätigkeit als ein Ergebnis des religiösen Lebens an; er ist bereit, den Mann zu loben, der von sich sagen kann: „Die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen" (Luk. 19,8). Er verkündet sogar, daß wir nicht wegen unserer theologischen Korrektheit oder wegen unserer Übereinstimmung mit den Lehren der Kirche von Gott angenommen würden, sondern unseres liebevollen und demütigen Dienens halber. „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters," sagt er, „ererbet das Reich, das euch bereitet ist Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Matth. 25, 34—40). So sehr Jesus auch das Almosengeben schätzt, so spricht er doch meistens in Worten ernster Warnung und nicht lobend darüber. Er weiß wohl, wieviel Betrug, wieviel Prahlerei und Geschäftssinn unter dem Namen „Woldtätigkeit" besteht. „Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen" (Matth. 6,2), spricht er, „laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut" (Matth. 6,3). In der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Luk. 10,30—36) wurde dem Gelde, das er zur Erleichterung des Fremden hingab, die geringste Bedeutung beigelegt. Der Priester oder der Levit hätten sich zu einem Geldbeitrag für den Leidenden verpflichten können, ohne daß sie sich dadurch als seine Nächsten erwiesen hätten. Auf die Reichen, die „ihre Opfer einlegten in den Gotteskasten", blickte Jesus mit Geringschätzung; „denn diese alle haben von ihrem Überfluß eingelegt;" aber sein Antlitz leuchtete freudig auf, als er eine arme Witwe ihre Opfergabe bringen sah, die nicht nach dem Geldwert sondern nach dem geistigen Wert gewogen werden sollte. „Wahrlich, ich sage euch.

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diese arme Witwe hat mehr denn sie alle eingelegt" (Luk. 21,3). Es wird uns nie berichtet, daß Jesus, dem täglich alle Formen des Leidens und der Bettelei begegneten, Almosen gab. Wenn er von seinem Wirken sprach, öffnete er das Buch nicht da, wo geschrieben steht: „Darum gebiete ich dir und sage, daß du deine Hand auftuest deinem Bruder" (5. Buch Moses 15,11), sondern er wandte sich der größeren Botschaft des Propheten zu, obgleich sie manchem Armen weniger willkommen war: „Den Armen wird das Evangelium gepredigt" (Matth. 11,5). In der Geschichte vom Abendmahl liegt der Unterhaltung des Meisters und seiner Freunde eine verschiedene Auffassung in Betreff des Almosengebens zu Grunde. Da Judas den Beutel hatte, so glaubten die Jünger, Jesus habe ihm gesagt, „daß er den Armen etwas gäbe" (Joh. 13,29), während die Worte, die Jesus in Wahrheit zu Judas sprach, vom Almosengeben unendlich weit entfernt waren. Wahrscheinlich neigte der Verräter mehr zum Almosengeben als Jesus; denn es war Judas, der wenige Tage früher zu seinem Herren gesagt hatte: „Warum ist diese Salbe nicht verkauft und den Armen gegeben?" (Joh. 12, 5). Kurz, Jesus betrachtet das Almosengeben als eine Tugend, aber als eine solche Tugend, die beständig Wachsamkeit, Zucht und Demut erfordert. Die Wohltätigkeit ist in dieser Art eine der Grundzüge des christlichen Charakters, aber einer von denen, die uns am leichtesten irre führen. Nicht, daß man viel, sondern daß man mit Aufopferung gibt, verschafft der Wohltätigkeit, den Plate, den sie unter den Tugenden des Himmelreiches einnimmt. „Ihr Pharisäer," sagt Jesus, „euer Inwendiges ist voll Raubes und Bosheit ihr Narren gebt Almosen von dem, das da ist" (Luk. 11,39—42).

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Der zweite Gesichtspunkt der Lehre Jesu, den wir uns bei dem Problem der "Wohltätigkeit wie bei dem des Reichtums ins Gedächtnis rufen müssen, betrifft unsere Stellung als Haushalter. Was von der ganzen Lebensführung gilt, gilt auch von der besondren Pflicht der Wohltätigkeit. Für eine Gott wohlgefällige Tätigkeit gibt es viele Wege; Jesus aber legt den größten Nachdruck darauf, daß sich jeder einzelne gewissenhaft der Aufgabe widmet, die ihm im besondern anvertraut ist, und diese Sphäre der Wohltätigkeit ist von der Philanthropie in der Regel nur wenig beachtet. Es ist wohl möglich, die christliche Liebe in ihrem ganzen Umfang und in ihrer ganzen Schönheit auszuüben, ohne dabei über den täglichen Beruf und über die sich täglich bietende Gelegenheit hinauszugehen. Das besondere Lob, das Jesus dem getreuen Knecht (Matth. 25,21), dem klugen Haushalter (Luk. 12,42) und dem wachsamen Türhüter (Mark. 13,34) erteilt, zeigt uns in der Tat, daß man Gott am besten in der Betätigung des täglichen Lebens dient. Das ist eine Auffassung vom Geschäft, hinter der viele Menschen sich verstecken möchten, als wenn der Fortgang des Geschäftes, des Leihens, Tauschens und Verwertens die Summe christlicher Wohltätigkeit ausmachte. Christi Evangelium ist jedoch kein Evangelium des Mammons. Jesus legt dem Kaufen und Verkaufen keinen eigentlichen Wert bei. Im Gegenteil, er blickt von oben auf die Handelswelt herab im Lichte der klaren Unterscheidung: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Matth. 6,24). Seine ernstesten Warnungen gelten dem Geschäftsmann, der alles an sich rafft und nur sich selbst berücksichtigt. „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren."

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Nach der Lehre Jesu beruht ein gutes Haushalten nicht auf bloßem Scharfsinn und Spekulation oder auf besondern Unternehmungen und besonderm Erfolg, sondern auf einer darüber hinausgehenden großen Treue, die nicht geschäftsmäßig ist, die aber in dem Gewinn des Mammons eine Gelegenheit sieht, Gott hochsinnig und persönlich zu dienen. Ein Geschäftsmann kann seine Angelegenheiten so verwalten, daß sie entweder zu einer sozialen Gefahr oder zum sozialen Vorteil werden, entweder zu einem Hindernis für die allgemeine Wohlfahrt oder zu einem Kanal für die christliche Wohltätigkeit. Ein Geschäftsmann, der ehrenhafte Grundsätze hat, der seine Angestellten gerecht, konsequent und mit persönlicher Anteilnahme behandelt, der die verschiedenen Strömungen der Industrie im voraus erkennt und für dauernde Beschäftigung sorgt, der seinen Reichtum auch denen zukommen läßt, die ihn mit erworben haben, ein Mann, dessen Not auch von den Angestellten geteilt wird und bei dem der Unterschied zwischen Hand und Kopf zu einer gemeinsamen Verantwortlichkeit zusammenschmilzt, ist vielleicht nicht als Philanthrop bekannt, sondern nur als Geschäftsmann, mit dem man gern arbeitet; sein Haushalten ist nicht Wohltätigkeit im technischen Sinne; es würde sogar viel von seinem Wert verlieren, wenn es einen Anflug von Gönnerschaft oder Herablassung oder Wohltätigkeit annähme. Aber selbst wenn solche Gewissenhaftigkeit im Beruf keine Wohltätigkeit ist, so macht sie wenigstens viel von dem überflüssig, was als Wohltätigkeit bekannt ist, und bessert in ihrer eigenen Sphäre jene Schäden der Geschäftswelt, die Armut und das Bedürfnis nach Hilfeleistung zur Folge haben. So liegen die Wurzeln der Wohltätigkeit also in dem weit größeren Problem der industriellen Ordnung, und die unbestreitbarste und wirkungs-

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vollste Philanthropie wird in industrieller Gerechtigkeit, in industriellem Fortschritt und Frieden gefunden. Die Lehre vom Haushalten schließt die andern Formen der Fürsorge für die Armen nicht aus; aber sie zeigt uns, daß wir den Grund zu einer verständigen Wohltätigkeit legen, wenn wir unsere eigenen Angelegenheiten so verwalten, daß sie mitwirken zum Reiche Gottes. Auch gilt diese Lehre Jesu nicht nur den Männern. Es tut mancher Frau in der modernen "Welt not zu lernen, daß die christliche Wohltätigkeit im starken Gegensatz zu der gewöhnlichen Auffassung im Hause beginnt. Es würde dem christlichen Gehorsam Hohn sprechen, wenn wir für die ferner stehenden Armen sorgten und es an Rücksicht für die fehlen ließen, die in unserm eigenen Dienste sind. Es ist unbarmherziger bei unsern Einkäufen der Sucht nach Billigkeit nachzugehen, als dem Bettler auf der Straße ein Almosen zu verweigern. Letzteres verursacht uns persönlich einen augenblicklichen Schmerz; ersteres macht uns an unserm Teil verantwortlich für geringe Arbeit, geringen Lohn, geringe Moral, Krankheit und Tod. Eines weit größeren Versehens machen wir uns schuldig, wenn wir Jesu Wort „gib den Armen" (Luk. 18, 22) gehorchen und den Befehl des Apostels: „Seid niemand nichts schuldig" (Rom. 13, 8) unerfüllt lassen. Es kennzeichnete den ungerechten Haushalter, daß er das Geld, von dem er seinem Herren Rechenschaft ablegen sollte, in falscher Wohltätigkeit verschwendete. Und ebenso sollte der verdammt werden, dessen Name immer auf Subskriptionslisten für wohltätige Zwecke zu finden ist, der aber die Bezahlung gerechter geschäftlicher Forderungen stets hinausschiebt: „Dieses sollte man tun und jenes nicht lassen" (Matth. 23, 23). Die Lehre vom Haushalten hat

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viele Zweige; ihre Wurzeln aber finden wir in den natürlichen Gelegenheiten, die uns der Laden und das Haus bieten. Das sind einige vorläufige Züge aus der Lehre Jesu über die Fürsorge für die Armen. Die Lehre räumt dem Almosengeben nur eine untergeordnete Stellung ein; aber sie legt Wert auf die allgemeine Lebensführung. Sie hat einen ausgesprochen modernen Klang. Sie steht mit den Vorschriften einer gut organisierten Wohltätigkeit in vollkommenem Einklang: „Nicht Almosen sondern einen Freund." Die Verbesserung industrieller Verhältnisse und das Aufgeben von jeder Art industrieller Ungerechtigkeit zählt sie zu den Hilfeleistungen, die wir den Armen in der ersten Linie zukommen lassen sollten. Der anscheinend moderne Ton ist aber in Wahrheit ein Ton allgemeiner Menschlichkeit. Wie immer blickt Jesus auch hier von oben auf die Welt herab; er hat seine Hoffnung auf die umfassenden Grundsätze des Himmelreiches gesetzt, und von diesem Gesichtspunkt aus ist das besondre Problem der Fürsorge für die Armen nicht durch ein System zeitweiser Hilfeleistung begrenzt; sondern es ist ein Teil des universellen Problems, das von der Erlösung und Erneuerung des menschlichen Charakters handelt. Wäre Jesu Geist von seinem erhabenen Ziel abgelenkt worden durch das Mitleid mit den Bettlern, die sich um seinen Pfad drängten, so hätte er mit ebenso kurzsichtiger und verschwenderischer Freigebigkeit Almosen ausgestreut, wie es sich so viele seiner modernen Nachfolger im Namen des Herrn erlaubt haben; da er sich aber vornehmlich mit. der Offenbarung Gottes in den Seelen der Menschen beschäftigte, so überschaut Jesus das Problem der Wohltätigkeit in seinen größeren Verhältnissen, und der weitere Gesichtskreis seiner

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Lehre gibt ihm Zurückhaltung, gesunde Vernunft und einen umfassenden Blick. Diese vorläufigen Erwägungen jedoch führen uns nicht zu dem Schluß, daß Jesu Lehre uns keine unmittelbaren und positiven Weisungen über die Fürsorge für die Armen zu bieten hätte. Im Gegenteil, treten wir näher an Jesus heran und sehen wir, wie er in bestimmten Fällen tatsächlich Hilfe leistete, und wie werktätig er im einzelnen war, so erweist sich uns das Wort als charakteristisch, das die liebevolle Hand des Paulus von Jesu Art niederschrieb: „Geben ist seliger denn nehmen" (Apostelg. 20,35). Jene speziellen Lehren gehen zum großen Teil aus dem zweiten sozialen Grundgedanken Jesu hervor, während sich seine allgemeine Anschauung über die Fürsorge für die Armen, wie wir schon gesehen haben, aus seinem ersten sozialen Grundgedanken ableitet. Seine Weisheit in der Wohltätigkeit kommt daher, daß er die Frage von oben überschaute, und seine Art Wohltätigkeit zu üben hat seinen Grund darin, daß er sich der Frage von innen nähert. Die Bedeutung der Tatsache, daß sich Jesus in seinem Verkehr mit den Armen fast ausschließlich dem einzelnen Menschen zuwandte, ist nicht hoch genug anzuschlagen. E r hatte freilich Erbarmen mit der Menge und speiste sie, aber nur wie er ausdrücklich sagte: „denn sie nun wohl drei Tage bei mir beharren und haben nichts zu essen; und ich will sie nicht ungegessen von mir lassen, auf daß sie nicht verschmachten auf dem Wege" (Matth. 15,32). Sein Erbarmen mit den Bettlern, den Blinden, den Armen, den Kranken ist fast ohne Ausnahme ein individuelles Erbarmen, in dem er sich jedem einzelnen Falle speziell anpaßt. Es scheint Jesu gar nicht in den Sinn zu kommen, daß er die Wirkung seiner K r a f t verviel-

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fältigen und durch eine einzige Anstrengung viele heilen oder trösten könnte. E r kennt keinen andern Weg der Hilfeleistung, als daß sich der Geber in liebevolle und lebendige Beziehung zu dem Empfänger setzt und die Kraft seines Lebens auf das andere Leben hinüberströmen läßt. Die Lehre, die von der Hilfeleistung im einzelnen handelt, ist in der Geschichte vom barmherzigen Samariter zusammengefaßt (Luk. 10, 30—35); es ist eine so vollendete Geschichte, daß wir oft in Versuchung kommen, sie als Kunstwerk zu betrachten und jeden einzelnen Satz als besonderen Edelstein zu preisen. Die tiefste Schönheit liegt jedoch darin, daß alle Einzelheiten sich um eine Hauptlehre gruppieren. Der Gesetzesgelehrte nennt aus der ersten sozialen Gesetzgebung das Wort: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3. Mos. 19,18), und tritt nun an Jesus heran mit der Bitte, ihm das Gesetz jener Nächstenliebe zu deuten, und Jesus erwidert ihm, daß der Prüfstein für die Freundschaft das weise Anpassen sei, die Liebestätigkeit, die keine Mühe scheuet, und das beständige, freundliche Dienen. Am Wegrande liegt, was die moderne Wohltätigkeit als einen „Fall" bezeichnen würde, ein beraubter, halbtoter Fremdling, der eines Freundes bedarf. Weder der Priester noch der Levit, so dürfen wir annehmen, sind brutal. Sie eilen vorüber, weil sie wissen, daß die Hilfe, die der Fall erfordert, mehr Zeit und Mühe kostet, als sie aufbringen können. Beide sind auf dem Wege zu wichtigen Pflichten. Jeder würde den geeigneten Autoritäten in Jerusalem freudig von dem „Fall" berichten; aber gerade ihre Zeit und ihre eigenen persönlichen Dienste vermögen sie nicht zu opfern, und so gehen sie an der anderen Seite des Weges vorüber. Auch der Samariter hat große Eile. E r treibt sein Tier, das

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mit Öl und Wein für den Markt in Jerusalem beladen ist, das heiße schattenlose Tal hinauf. Allein sein Mitleid besiegt seine Klugheit. E r hält an, geht zu dem Fremden, lindert seine "Wunden, hebt ihn auf sein Tier und bringt ihn in eine Herberge am "Wege; er sorgt für seinen Unterhalt und versichert, daß er ihn nicht vergessen werde. Durch nichts kann das Programm, das die wissenschaftlich gebildete "Woltätigkeit f ü r ihre Besuche bei den Armen allmählich ausgearbeitet hat, genauer beschrieben werden — zuerst kommt das freundliche Erbarmen. dann die Hilfeleistung, die augenblicklich nötig ist, das Versetzen des Falles in geeignetere Verhältnisse und schließlich die Verwendung des Geldes nicht als Almosen für die Hilflosen sondern als Aufrechterhaltung dauernder Erleichterung. Dem „Wirt", nicht dem „Fall", gab der „Nächste" sein Geld mit den Worten: „Pflege sein und so du etwas mehr wirst dartun, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme" (Luk. 10,35). Bei den gewaltigen Organisationen der modernen Wohltätigkeit mag diese Art der Hilfeleistung sehr einfach und veraltet erscheinen. Die einfache Methode kann anscheinend in den verwickelten Verhältnissen des modernen Lebens keinen Platz finden. So dachten jedenfalls auch der Pharisäer und der Levit. Auch sie waren in so viele und so ernste Interessen verwickelt, daß sie die Sorge für die Hilflosen notwendigerweise andern überlassen mußten; sie bauten auf die vielen ausgezeichneten Wohltätigkeitseinrichtungen ihres Volkes. Das ist das Haupthindernis christlicher Wohltätigkeit, daß der einzelne Mensch, jetzt wie damals, von seinen eigenen Angelegenheiten überwiegend in Beschlag genommen wird und sich stets auf unpersönliche Formen der Hilfeleistung verläßt; und die Reform, die jetzt von der wissenschaftlich gebildeten

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Wohltätigkeit vorgeschlagen wird, ist in Wahrheit nichts anderes als eine Rückkehr zu den Grundsätzen des barmherzigen Samariters. Zwei Worte umfassen die ganze Veränderung, die die wissenschaftliche Wohltätigkeit in unserer Zeit vertritt. Das erste Wort heißt Klassifikation, das andere: Antiinstitutionalismus. Man hat in erster Linie beobachtet, daß die Hilfeleistung für die Armen unter den modernen Bedingungen eine viel zu komplizierte und mannigfaltige Aufgabe ist, als daß man sie auf nur eine Weise behandeln könnte. In dem homogenen sozialen Leben, das einst in kleinen isolierten Städten herrschte, war Wohltätigkeit nichts anderes als eine hilfreiche Hand, die der Nachbar dem Unglücklichen oder Unfähigen bot. In der großen modernen Stadt dagegen hat die Wohltätigkeit es mit vielen ausgesprochenen Typen zu tun; und eine Methode, nach der alle jene Typen ohne Unterschied behandelt werden, führt zu sozialer Demoralisation und zum Unglück10). Unter jenen ausgesprochnen Typen treten drei am deutlichsten hervor. An erster Stelle stehen die Arbeitsunfähigen, die Alten, Kranken und mit Gebrechen Belasteten, die eine dauernde, zarte Berücksichtigung erfordern; an zweiter Stelle stehen die Arbeitslosen, die wohl etwas leisten können, aber zeitweise unbeschäftigt sind, und für die Arbeit gefunden werden muß, und zu diesen zwei getrennten Klassen gesellt sich der dritte ausgesprochene Typus der Arbeitsscheuen, die nicht arbeiten wollen, die berufsmäßig faulen, herumtreibenden, bettelhaften Armen. Diese drei Arten nach einer Art behandeln, hieße jeder schaden; die würdigen Armen mit den Verbrechern zusammentun, hieße sie beschimpfen; den Arbeitslosen Almosen statt Arbeit geben, hieße sie erniedrigen; die, welche nicht arbeiten wollen,

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in ihrer Faulheit bestärken, hieße sich für die Fortdauer einer Klasse von Landstreichern verantwortlich machen. Eine wissenschaftlich gebildete Wohltätigkeit soll in erster Linie klassifizieren, die einzelnen Typen unterscheiden, die Methoden den Verhältnissen anpassen. F ü r die eine Art sollte man durch Erbarmen, f ü r die andere durch Arbeit, für die dritte durch Besserung sorgen; und jene drei verschiedenen Anforderungen verlangen drei verschiedene Arten der Behandlung. Die Arbeitsunfähigen und die freiwillig Trägen sollten nicht am Nacken derer hängen dürfen, die sowohl die Fähigkeit als den Willen haben sich zu erheben. Die Bewegung des sozialen Lebens gleicht der Bewegung eines im Felde stehenden Heeres. Hier ist der Marsch der diensttuenden Truppen und dort das erbarmungsreiche Gefolge der Roten Kreuz-Schwestern, die f ü r die Verwundeten sorgen, die Kranken pflegen und die Leiden der Schlacht mildern. Wir können nicht sagen, daß Pflegen weniger edel oder weniger wirkungsvoll wäre als K ä m p f e n ; aber wir müssen zugeben, daß jenes die Kampffähigkeit eines Heeres nicht aufhalten oder hindern darf. Schließlich soll der Kampf doch durchfochten, nicht durchpflegt werden, und es ist nicht die Hauptaufgabe, denen die am Wege fallen, Erleichterung zu verschaffen, sondern die Wirksamkeit und die Ordnung der kämpfenden Armee zu erhalten 11 ). Hier tritt uns der zweite Grundsatz in der Reform der Wohltätigkeit entgegen — der Anti-Institutionalismus, die Verwerfung der Anstalten. I n den Anstalten herrscht notgedrungen dieselbe Methode. Die Masse der Armen wird nach allgemeinen Regeln behandelt, und selbst wenn diese Masse bei dem Eintritt in die Anstalt von verschiedenem Stoff ist, wird sie beim Herauskommen wahrscheinlich nur von einer Art und zwar von der allerPeabody, Jesus Christus und die soziale Frage.

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niedrigsten sein. In dem Kapitel von der Familie haben wir schon davon gesprochen, daß die alles gleichmachende Wirkung des Anstaltslebens von besonderer Gefahr für die Entwicklung der Kinder ist. "Wirft man die unendlich verschiedenen Kinder, die guten und die bösen, die vielversprechenden und die verdorbenen zusammen in die Gleichförmigkeit und Heimatlosigkeit einer Anstalt, so stellt man die besten den schlechtesten gleich und verringert in allen den Geist der Selbstzucht und der persönlichen Initiative. „Der Anstaltsjunge", sagt einer der aufmerksamsten Beobachter des Kinderlebens, „ist immer der erbärmlichste Lehrling; er ist davor bewahrt worden, hart und fest zu werden, und so wird er zum Automaten" l2). Eine gute Anstalt, das ist wahr, ist immer besser als ein schlechtes Haus und deshalb müssen Anstalten zur Rettung für die Niedrigsten vorhanden sein; aber gerade jene Berührung mit den Verdorbensten bedroht die Sittlichkeit der bessern Art. Die Hoffnung auf eine dauernde Besserung des Lebens beruht für die Kinder in erster Linie, aber womöglich auch für alle andern Fälle, darauf, daß man den Einzelnen der Massenbehandlung entzieht und die Hilfeleistung jedem einzelnen Falle anpaßt. Der rechte Platz für ein Kind ist das Haus, wo es nach seiner Eigenart behandelt werden kann; und rechte Beziehungen mit dem Hause und dem Leben der Armen können wir nur herstellen, wenn wir jeden Fall als ein neues Problem betrachten, das neue Forderungen an die Einsicht, Geduld und Liebe des Gebens stellt. Die ungeheuren und kostbaren Versuche, die zur Hilfeleistung im großen und ganzen unternommen worden sind, haben uns schließlich zu den einfachsten Grundsätzen geführt. Die neue Wohltätigkeit schreitet von der Konsolidierung zur Individualisierung fort. Die Erhebung

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der Armen läßt sich nicht durch mechanische Pläne, durch Gesetzgebung oder Organisationen erreichen, als wäre die Armut eine feste Masse, unter die man soziale Hebel setzen könnte, um das Ganze in die Höhe zu treiben; sondern sie wird nur dadurch erreicht, daß ein Leben hinuntergreift und ein anderes emporzieht, durch die Mitteilung von Kraft, durch die Berührung mit einer Persönlichkeit. Individualisierung der Hilfeleistung bedeutet mit andern Worten nur, daß ein geschäftiger Mann oder eine Frau der modernen Welt innehält und einen bestimmten Menschen, der der Fürsorge und der Befreiung bedarf, aufrichtet, pflegt, für ihn |sorgt und beständig für ihn verantwortlich ist. Das letzte Wort also, das in der wissenschaftlichen Armenpflege gesprochen wird, ist eine Wiederholung von Jesu Lehre. Warum, so mögen wir nun fragen, sind an Stelle jener natürlichen und christlichen Art der Hilfeleistung so komplizierte Wohltätigkeitseinrichtungen getreten, daß wir, anstatt dem Armen nachbarlich beizustehen, unsere Namen nur auf eine Liste setzen, die zu seinen Gunsten herum geschickt wird ? Augenscheinlich darum, weil das christliche Ideal des sozialen Dienstes mehr Zeit, Gedanken und Fürsorge beansprucht, als wir zum großen Teil weder geben können noch mögen. Den meisten Menschen geht es wie dem Priester und dem Leviten; es erscheint ihnen unmöglich, die Geschäfte des Lebens zu unterbrechen, um dem Unglücklichen persönlich zu dienen Das, was am meisten erforderlich ist, die Hingabe unseres Selbst, haben wir in vielen Fällen schon andern Pflichten geopfert — und die nächstbeste Gabe — die indirekter und stellvertretender Hilfe — scheint die einzige, die wir bieten können. F ü r viele Menschen ist diese Selbstverteidigung gerechtfertigt. I n manchem Leben 14*

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erlauben die Verhältnisse es nicht, zu gleicher Zeit ein getreuer Haushalter und ein barmherziger Samariter zu sein. Dieses Zugeständnis jedoch verringert die Bedeutung der Lehre Jesu nicht. Jesu Lehre bezeugt uns die Wahrheit, daß stellvertretende, offizielle institutionelle Hilfeleistung, ob auch noch so gut verwaltet, ihrer Natur nach nur ein Ersatz für das ist, was in einer vollkommenen Gemeinschaft von Menschen für Menschen im Namen der christlichen Liebe getan werden würde. Unpersönliche, durch Vertretung geübte, wenn auch wohl überlegte Fürsorge ist nur eine künstliche Aushilfe für das persönliche und beständige Dienen und die ungeheuren und sorgfältigen Einrichtungen öffentlicher und privater "Wohltätigkeit werden nur dadurch gerechtfertigt, daß sie erwiesenermaßen jene Hingabe ersetzen, die die einzelnen Menschen nicht zu machen bereit sind18). Von jenem Grundsatz der Individualisierung lassen sich zwei Folgesätze ableiten, die unsern Hilfeleistungen für die Armen Richtung und Diskretion geben. Erstens sehen wir, daß sich diese Ersatzhilfe, je gewissenhafter sie sich von dem offiziellen Wesen, von der Routine und Namenlosigkeit löst, um so mehr der wissenschaftlichen Wohltätigkeit und der Lehre Jesu nähert. Der freundliche Besucher, der dem Armen statt des gönnerhaften Schutzes, statt der Almosen, der Selbstbetrachtung oder der religiösen Propaganda Sonnenschein, Mut, Reinheit, Beschäftigung und Geduld entgegenbringt, die soziale Anstalt, die nicht als Ermahnung oder aus Herablassung, sondern aus reinem menschlichen Gefühl in die Unsauberkeit und Dunkelheit einer großen Stadt gestellt ist, die schöne Vereinigung von offizieller Pflicht und liebevoller persönlicher Fürsorge, die wir zuweilen beobachten — sind die herrlichsten Früchte moderner Philanthropie. In der

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Geschäftssprache reden wir von der „Pflanze" einer modernen Wohltätigkeitsunternehmung; aber die Pflanze der Wohltätigkeit wächst nur, damit die Blume persönlicher Hingabe aus ihr hervorgehe. Wir verbrauchen viel Zeit, um Pläne für einen Mechanismus der Wohltätigkeit zu ersinnen; aber jener Mechanismus bewegt sich nur, um die Kraft persönlicher Liebe mitzuteilen. Der zweite Folgesatz, der aus dem Grundsatz der Individualisierung hervorgeht, ist von noch größerer Bedeutung. Wenn die Maschinerie der Hilfeleistuug ein Ersatz für persönliche Dienste sein soll, muß sie so organisiert sein, daß sie, wenn auch kein vollkommener, doch ein wirklicher Ersatz ist. Wenn ein Reicher für seine Person die Rolle eines barmherzigen Samariters nicht übernehmen will, so ist er nur dadurch gerechtfertigt, daß er eine Alternative stellen kann, die seiner Meinung nach verständiger und durchgreifender ist. Tritt ein Bettler einem Christen auf der Straße entgegen, so hat der Christ nur die Wahl zwischen zwei Dingen. Er muß entweder mit beständiger ruhiger Hingabe den einzelnen Fall behandeln, oder die Gemeinde muß einen entsprechenden Ersatz für seine Zeit und seinen Dienst stellen. Eine dritte Möglichkeit — ein Verweigern freundlicher Hilfe — kommt dem nicht in den Sinn, der den großen Befehl vernommen hat: „Wende dich nicht von dem. der dir abborgen will" (Matth. 5, 42). Will ein frommer Geber möglicherweise auch den betrügerischen Bettler nicht ohne Hilfe entlassen, damit nicht hie und da ein würdiger Bittsteller darunter leidet, so gehorcht er einem vollkommen gerechten Gefühl. Der barmherzige Samariter half dem Fremdling, ohne vorher Fragen an ihn zu richten. Dem Worte Jesu: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will!"

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(Matth. 5, 42) muß die moderne Wissenschaft gehorchen, Dem Triebe des Mitleids folgen verträgt sich wohl mit der gesunden Vernunft. Die uns auferlegte Pflicht des Gebens schließt nicht die Notwendigkeit törichten Gebens in sich. Zeit und Geld mag in einer Art und "Weise verwandt und verwaltet werden, daß dadurch der Einzelne rechtmäßig von der Verpflichtung persönlichen Dienstes befreit wird. Das Problem verständiger Hilfeleistung soll den Trieb des Wohltuns im Menschen nicht unterdrücken; sondern sie sollen ihn davon abhalten, ohne Unterschied in schädlicher Weise Hilfe zu gewähren; deshalb ist es durchaus wesentlich, daß der Ersatz, den die organisierte Wohltätigkeit an Stelle persönlicher Hilfeleistung bietet, zugänglich, unterschiedlich, sympathisch, sicher und leicht verständlich ist. So kommen wir allmählich zu jener Art der Wohltätigkeit, auf die Jesu Lehre uns deutlich hinweist. Wenn das Almosengeben, wie wir gesehen haben, nicht in erster Linie von Jesus empfohlen wird, und er doch eine persönliche Beziehung zwischen dem Geber und dem Empfänger herstellen will, was ist es dann für eine besondere Gabe, die Jesu Lehre gemäß von dem Starken auf den Schwachen übergehen soll? Es ist die Gabe der Kraft. Wenn Jesu Leben das der Niedrigen, Verkümmerten, Verzweifelten berührt, so teilt er ihnen neue Hoffnung, neuen Mut und neue Selbstachtung mit. Wenn die Menschen sich Jesu näherten und ihn anflehten, sie von einem zeitweisen Übel zu befreien, so geschah es oft, daß Jesus dieses Übel ganz unberührt ließ und tiefer griff an eine im Grunde liegende dauernde Not, an deren Erlösung sie nicht mehr geglaubt hatten. Der blinde Bettler (Joh. 9, 1—12) hatte anscheinend täglich an dem Zaun in Jerusalem gesessen, und die Frommen hatten ihm ihre Almosen zugeworfen, sodaß seine einzige Hoffnung schließlich dar-

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auf gerichtet war, mehr Almosen zu empfangen. Jesus aber gibt ihm kein Almosen; sondern er beugt sich über ihn, bestreicht seine Augen und teilt ihm die Kraft des Sehens mit, sodaß er nicht mehr zu betteln braucht, und das Volk spricht: „Ist nicht dieser, der da saß und bettelte?" Andere Blinde rufen Jesum an: „Ach du Sohn Davids, erbarme dich unser!" (Matth 9, 27), und wiederum zeigt Jesus seine Güte nicht im Erbarmen allein, sondern in der Mitteilung seiner Kraft. „Glaubt ihr, daß ich euch solches tun kann?" und sie sprachen: „Herr, ja" und er antwortet: „Euch geschehe nach eurem Glauben" (Matth. 9, 23—29). Dasselbe Erbarmen zeigte Jesu Jünger (Apostelg. 9, 34). Pauli Gabe an den Lahmen war nicht Hilfe für den Hilflosen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe: „Stehe aufrecht auf deine Füße!" (Act. 14, 14) spricht der Apostel, „und er spraDg auf und wandelte". Petrus spricht zu dem Gichtbrüchigen: „Stehe auf und bette dich selber!" (Act. 9, 34). Noch genauer im Sinne ihres Meisters handeln Petrus und Johannes, als sie den Lahmen an der Tür dss Tempels treffen, die man die „schöne" nannte; sie setzten ihn täglich vor des Tempels Tür" (Act. 3, 2), damit er Almosen erbäte von denen, die hinein gingen, und als er Petrus und Johannes sieht, „wartet er, daß er etwas von ihnen empfinge;" Petrus aber sprach: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, gebe ich dir: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle!" (Act. 3, 5 — 6). Jesu Lehre gilt also, in andern Worten gesagt, weniger dem anscheinenden Bedürfnis des Menschen als dem Menschen selber. Jesu Geist ist beständig auf das Himmelreich gerichtet, das durch die Hingabe der Persönlichkeit herbeigeführt werden soll. In jedem Falle liegt das Hauptproblem darin, die Hilflosigkeit, das mangelnde Selbstvertrauen und die Un-

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fähigkeit in Mut, Kraft und in den Impuls eines Lebens umzuwandeln, das zum Reiche Gottes beiträgt. Erhebe dich, stehe aufrecht auf deinen Füßen! Öffne die Augen, wandle! — Das sind die großen Worte christlicher Wohltätigkeit. Sie will nicht zeitweise Erleichterung schaffen, sondern dauernd wachsende Gelegenheit und Fähigkeit. Die christliche Wohltätigkeit ist nicht die „Prodigalitas'der klassischen Welt: sondern sie ist die „Caritas", die Liebe, die um anderer willen glaubt, hofft und alles trägt. Diese Lehre ist in ihren Folgen für die Wohltätigkeit aller Zeiten außerordentlich fruchtbar; für Nahrung und Obdach der Bedürftigen zu sorgen bleibt noch immer die Pflicht eines geordneten Staates. Ein Kenner des englischen Armen-Gesetzes bemerkt, daß „jede Gemeinschaft, wenn sie eine bestimmte Stufe der Zivilisation erreicht hat, es um ihrer selbst willen durchaus notwendig findet dafür zu sorgen . . . daß kein Mensch aus Mangel an den notwendigsten Lebensbedürfnissen umkommt"14). Wenn wir aber auch unter den liberalsten Bedingungen für die notwendigsten Bedürfnisse Sorge tragen, so kommen wir dadurch nicht in die Region christlicher Wohltätigkeit. Das ist einfach eine politische und soziale Notwendigkeit, die öffentlichen Frieden und Ordnung sichert. Die christliche Wohltätigkeit beginnt, wo politische Klugheit aufhört. Ihre Aufgabe ist nicht, die rastlosen Armen durch unästhetische Erleichterungsmittel zu beruhigen, sondern das entmutigte Leben anzuregen durch eine Liebe, die den einzelnen Mensehen umfaßt. Christliche Wohltätigkeit zieht nicht nur die Verhältnisse, sondern die Fähigkeiten in Betracht. In ihrem Problem handelt es sich nicht darum, der Armut Erleichterung zu verschaffen, sondern ihr alle Möglichkeiten zu erschließen. Ihr Streben ist darauf gerichtet, ein eingeschlossenes, gehemmtes, geistig verküm-

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mertes Leben in einen gesunden, wirkungsvollen Faktor umzuwandeln, der zur Herbeiführung des Q-ottesreiches beiträgt. Hier also ist die Hierarchie der Wohltätigkeit. Wichtig aber höchst einfach ist die Aufrechterhaltung des physischen Lebens. Speise, Trank und Obdach bedeuten für den Armen genau dasselbe wie für den Reichen; sie sind wesentliche Vorbedingungen des menschlichen Lebens; sie aber als Ziele der Wohltätigkeit auffassen, hieße die unvollkommene Anschauung der in Schwelgerei und Prahlerei lebenden Reichen teilen, die Trank und Speise, wenn auch in üppiger Form für den Inhalt des Lebens halten. Nicht der Uberfluß an Besitztümern macht des reichen Menschen Leben aus und nicht der Mangel an solchen macht eines armen Menschen Armut aus. Uber die notwendigen Bedürfnisse des armen wie des reichen Mannes hinaus geht das Verlangen nach der Mitteilung der Kapazität. Der Arme bedarf nicht nur Erleichterung seiner Verhältnisse; sondern er bedarf Mut, um seine Verhältnisse zu bessern. Das Streben der Wohltätigkeit ist nicht nur darauf gerichtet Trost sondern Kraft zu bringen, nicht nur eine größere Gleichheit der Verhältnisse, sondern eine größere Gleichheit der Chancen zu schaffen. Wie wir schon gesehen haben, besteht das Problem des Reichen darin, seinen Reichtum zu besitzen anstatt von ihm in Besitz genommen zu werden und sein Geld zum Werkzeug sosialen Dienstes zu machen; und mit demselben Ziel vor Augen sollte sich die Wohltätigkeit dem Problem der Armen nähern. Wie kann ein schwaches, unwissendes und von ernsten Versuchungen bedrohtes Leben, so mögen wir fragen, Selbstbeherrschung und Selbstachtung erlangen, um ein Werkzeug des Himmelreiches zu werden? So sollten wir in der Hierarchie der Wohltätigkeit über die

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Arbeit der Speiseküchen und über die Gewährung zeitweiser Hilfsmittel jene Erhebung der Armen stellen, die auf dem Lande und im Laden durch die Industrie herbeigeführt werden kann, durch den Unterricht im Gymnasium und Handelsschule, durch ein Heim in Verhältnissen, wo sich ein Heim verwirklichen läßt, durch eine Beschäftigung, durch die man wirklich seinen Lebensunterhalt erwirbt, durch Strahlen der Schönheit, durch die Reinheit der Liebe. Die Wohltätigkeit, die zum größten Teil in den christlichen Kirchen Brauch ist, steht mit Jesu Lehre nur wenig in Einklang. Sie gibt freilich keine Steine, wenn man Brot verlangt; aber sie gibt Brot, wenn man um Hoffnung, Kraft, Freude und Leben bittet. Der Mensch lebt in der Tat vom Brot, aber nicht vom Brot allein. Wir schätzen die Armen nicht richtig, wenn wir glauben, daß sie in erster Linie gespeist werden wollen. Sie sehnen sich gerade wie die Wohlhabenden nach jenem Leben, das mehr ist als Speise und Trank — nach dem Gefühl von Leistungsfähigkeit, Freude und Hoffnung, und die gefährlichste Quelle ihrer Erniedrigung ist der Verlust ihres Mutes und ihres Glaubens. „Es wird das höchste Streben des Wohlwollenden sein," sagt Spencer vielleicht ohne zu wissen, daß er damit Jesu Worte wiederholt, „einen wenn auch äußerlich unmerklichen Anteil an der Erschaffung von Menschen zu haben" 15 ). Schließlich möchte man fragen: „Wie wird uns jene Kraft zuteil?" Jesu Lehre antwortet, daß sie zum größten Teile nicht auf Gesetzgebung und Organisation, sondern auf Ansteckung beruht. Sie ist keine mechanische, sondern eine lebendige Kraft. Daß man Jesu und seiner seiner Jünger Macht gehorchte bei den Worten: „Erhebe dich, stehe aufrecht und wandle!" kam daher, daß man den Ansteckungskeim eines guten Lebens spürte. Und

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warum fehlt die s e Kraft so oft in unserer Armenpflege, selbst wenn sie gewissenhaft und besonnen betrieben wird? Weil wir in der Regel nicht gut genug sind, um viel Gutes zu tun. Ein Strom kann den Durst nicht befriedigen, wenn seine Quellen trocken sind. Die beste Absicht, die Armen zu erheben, muß mißlingen, wenn uns selber die erhebende Kraft fehlt. Die Armen können nicht hinaufgetrieben, sie müssen hinaufgezogen werden. „Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde,' spricht der Herr, „so will ich sie alle zu mir ziehen" (Joh. 12, 32). Die erhebende Kraft des sozialen Lebens beruht nicht auf Zwang, sondern wie in der Planetenwelt auf Anziehungskraft. „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe," sagt der Apostel, . . . . „und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze" (1. Kor. 13, 3). In der Tat würden die also hingegebenen Güter wahrscheinlich so töricht gegeben werden, daß sie auch den Armen nichts nütze wären. Kurz, das „gut sein" und „gut handeln" sind nicht zwei Probleme, sondern eins, und mancher entmutigende Versuch, der in wohlmeinender Wohltätigkeit unternommen wurde, zwingt die Gemeinde oder den einzelnen Menschen dazu, das eigene Herz aufs neue zu prüfen. Was ist nun christliche Wohltätigkeit? Es ist sicher nicht jenes prahlerische aufs Geratewohl geben, das von allen Menschen gesehen wird und seinen eigenen Lohn an Lob und Selbstschätzung vorwegnimmt; es ist auch nicht jene verschwenderische Freigebigkeit, die fernliegenden Bedürfnissen entgegenkommt und dadurch einen Ersatz leisten will für die Vernachlässigung der unmittelbar vor ihr liegenden Notstände; es ist auch nicht jenes gefühlsselige Mitleid, das eine mehr fromme als verständige Form annimmt. Die christliche Wohltätigkeit ist vor

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allem rationell, klug und weise. Sie überblickt das Problem frei von oben; sie sieht es in der rechten Perspektive und überschauet den ganzen Horizont. Sie beginnt mit den nächsten Pflichten im Geschäft und im Hause. Es genügt ihr nicht, zeitweise Hilfe zu schaffen, sondern das Niveau der Wünsche dauernd zu heben. Sie will Erziehung, Zucht, umfassende Kraft und Gerechtigkeit geben. Die christliche Wohltätigkeit beschäftigt sich deshalb hauptsächlich mit dem einzelnen Menschen. Sie mag große Methoden in Anwendung bringen; aber sie verliert sich nicht darin. Sie sucht das eine verlorene Schaf. Ihr Streben ist nicht auf die Yervollkommung eines Systems, sondern auf die Rettung einer Seele gerichtet. Sie blickt hinter die Verhältnisse nach dem Menschen, der darin verwickelt ist. Sie will die Welt nicht weich machen; sondern sie will die Charaktere stark genug machen, um in einer harten Welt leben zu können. Sie beurteilt alle Unternehmungen der Armenpflege darnach, ob sie zur Männüchkeit, Initiative und Selbsthilfe beitragen. Ihre Fürsorge will dem Schwachen keine Krücken verschaffen, sondern Wege bahnen, auf denen der Schwache dem Befehl nachkommen kann: „Stehe auf und wandle!" Die christliche Wohltätigkeit findet das Werkzeug zu dieser erziehenden und dauernden Hilfe in der Mitteilungskraft einer christlichen Persönlichkeit. „Nur der, welcher hat," sagt Emerson, „kann geben; nur der, auf den sich der Geist herabgelassen hat, kann reden." Der komplizierte Mechanismus der modernen Wohltätigkeit ist nur ein Mittel, durch das die Kraft eines guten Lebens mit Sicherheit und Erfolg arbeitet. Der Mechanismus der Wohltätigkeit ist wirtschaftlicher, die bewegende Kraft aber ist geistiger Natur. Die wissenschaftliche Wohltätigkeit ist ein Werk der Organisation; die Wohltätigkeit des

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Herzens beruht auf Ansteckung. Der erste Schritt, um Gutes tun zu können, ist gut sein. Die Erhebung der Armen wird durch viele Fehler im sozialen Mechanismus zurückgehalten, aber weit mehr noch durch die Unwissenheit, Ungeduld, Selbstüberhebung und Ungerechtigkeit derer, die den Armen helfen; und eine der reinsten Freuden des menschlichen Lebens empfinden die, welche große Pläne sozialer Verbesserung aufgeben und sich geduldig dem Dienst weniger mutloser Seelen widmen und dann entdecken, daß sie andern Kraft mitteilen und sie zur Selbstachtung und Hoffnung erheben können. Solch opferfreudigen Dienern des allgemeinen Wohles ward Jesu uneingeschränktes Lob zuteil: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist vom Anbeginn der Welt. Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Matth. 25, 34, 40).

VI. Kapitel. Jesu Lehre über die industrielle Orduung. „Das Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene." I n allem, was wir bisher von den verschiedenen sozialen Fragen gesagt haben, herrscht ein Gefühl des Unvollkommenen nnd Fragmentarischen, als behandelten wir in jedem Falle nur einen Gesichtspunkt einer viel umfassenderen Frage. Das Problem der Familie dehnte sich bei der Betrachtung soweit aus, daß wir erkannten, daß es noch weitere Streitfragen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens umschloß; die Probleme von Reichtum und Armut eröffneten tiefere Fragen über Besitz und Beschäftigung, über Arbeit und Trägheit, über die Verteilung der Erzeugnisse und der Benutzung der Mußezeit. Wir bemerkten, daß Reichtum vor allem zu wirtschaftlicher Gerechtigkeit beitragen, daß Wohltätigkeit in erster Linie f ü r wirtschaftliche Selbsthilfe Sorge tragen solle. Um diese inneren Kreise sozialer Beziehungen, die die Familie und die Gemeinschaft umfassen, zieht sich der größere Kreis der industriellen Ordnung. Ziehen wir den Radius des Familienkreises weiter, so kommen wir in die Sphäre, in der sich die Menschen als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen. Verfolgen wir Reichtum und Armut bis zum äußersten Rande, so kommen wir dazu,

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den Gebrauch der industriellen Gelegenheit zu erwägen oder ihren Mißbrauch oder die Unfähigkeit sie zu benutzen. Die Philosophie des Sozialismus, daß die Verhältnisse der konzentrischen Kreise wie Ursache und Wirkung zueinander ständen, als müßte der Schlüssel zu jeder sozialen Frage in dem industriellen Problem gesucht werden, ist in der Tat außerordentlich übertrieben. Die Familie ist mehr als eine wirtschaftliche Einheit und wird durch andere Motive als rein wirtschaftliche Interessen modifiziert; Reichtum und Armut entspringen außer den industriellen Verhältnissen noch aus vielen anderen Ursachen. Aber es ist nichtsdestoweniger wahr, daß die industrielle Frage wie eine Atmosphäre den ganzen Körper des sozialen Lebens umgibt. Die Integrität der Familie wird durch wirtschaftliche Wandlungen und Mängel bis ins tiefste berührt; Reichtum und Armut sind unter den herrschenden Verhältnissen des Besitzes und der Industrie unvermeidliche soziale Tatsachen. Worin besteht denn dies industrielle Problem, mit dem alle andern sozialen Fragen so tief verwickelt sind ? Das Problem hat zwei Seiten. Erstens die Form, die es annimmt, zweitens den Geist, den es repräsentiert. Jene zwei Seiten der modernen Industrie müssen sorgfältig unterschieden und der Reihe nach betrachtet werden. Die Form des industriellen Problems ist durch die gewaltige Ausdehnung der modernen industriellen Methoden, durch die mächtigen Vereinigungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestimmt worden und durch die ungeheuren Preise, die Strategie oder Glück belohnen. Diese Merkzeichen der modernen Industrie haben die Faktoren der Industrie in eine Lage versetzt, die einem Kriegszustand nicht unähnlich ist. Die schaffenden Kräfte leben miteinander auf dem Kriegsfuß. Der moderne Groß-

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VI. Kapitel.

industrielle ist aus demselben Stoff wie die großen Feldherrn. Er ist ein weitsichtiger entschlossener Führer der Menschen, er hat den Sinn auf ein einziges Ziel gerichtet und hat ein industrielles Heer zur Verfügung. Ihm stehen viele Kräfte feindlich gegenüber, — die unmittelbaren Konkurrenten im Geschäft, die Feindschaft konkurrierender Nationen und in erster Linie die industrielle Unzufriedenheit, die in seinen eigenen Truppen herrscht und sie zur Meuterei treibt. Mehr und mehr hat sich die industrielle "Welt in zwei bewaffnete Lager geteilt; auf der einen Seite stehen die Arbeitnehmer, die sich vereint haben, um den anscheinenden Angriffen der Arbeitgeber zu begegnen, auf der anderen die Arbeitgeber, die sich zusammengeschlossen haben, um sich den anscheinend unvernünftigen Forderungen der Arbeitnehmer zu widersetzen. Streiks und Boykotts sind zeitweilige feindliche Einfälle in des Gegners Lager; beide kämpfenden Heere sind wohl organisiert, diszipliniert und eingedrillt. Das industrielle wie das internationale Schiedsgericht erweist sich als letztes Mittel, um der Schlacht verzubeugen; indessen hängt sich die unorganisierte, immer wechselnde Masse der Unbeschäftigten an die Rockschöße der beiden streitenden Mächte, bedroht die Arbeitgeber mit Gewalt und schwächt durch ihren Wettbewerb die Kraft der Arbeitnehmer. Selbst die internationale Diplomatie beschäftigt sich jetzt ebenso sehr mit Fragen industrieller Wohlfahrt wie mit politischen Streitfragen, und die Verhandlungen, die Vergleiche und die Territorialausdehnung der Völker sind mehr und mehr zu Waffen für den Handelskampf geworden. Wenn dies Bild vom Wettbewerb der Industrie wahr ist, dann wird auch die jetzige Form der industriellen Frage deutlich. Es ist eine Frage, in der es sich um

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einen passenden Ersatz für den wirtschaftlichen Krieg handelt. Es ist das Problem industriellen Friedens. Dieser Friede kann auf verschiedene "Weise gesucht werden. Zuweilen wird er zeitweise durch die bloße Obergewalt der einen kämpfenden Partei gesichert. Aber solcher Friede ist sowohl im industriellen wie im politischen Leben unbeständig und getrübt. Die unterdrückte Partei wartet nur auf eine Gelegenheit um den Widerstand zu erneuern. Industrielle Sklaverei weist ebenso wie die politische Sklaverei auf Revolution hin. Anderseits sucht man den industriellen Frieden, indem man sich vom Kampfplatz in die Ruhe einer kommunistischen Gemeinschaft zurückzieht, in der kein Wettbewerb herrscht, wie sich einst fromme Seelen vor dem Kampf der Welt in das Klosterleben flüchteten. Solcher Friede ist jedoch selbst im besten Falle nur für wenige vorhanden. Die hastende Welt der modernen Industrie geht an diesen Unternehmungen vorüber wie ein Eisenbahnzug in Italien an den Klöstern vorbeirast, die in abgeschlossener Höhe am Bergabhang träumen. Zuweilen wird solcher industrielle Friede tatsächlich in einem beschränkten Kreise hergestellt, wie z. B. das gemeinsame Interesse an Stelle der geschäftlichen Gegnerschaft im Kooperativ-System. Und schließlich träumt man zuweilen, daß sich solcher Weltfriede allgemein und dauernd herstellen ließe in einer Genossenschaft mit kommunistischem Besitz und industrieller Demokratie. Bei allen solchen Plänen und Träumen setzt man voraus, daß der gegenwärtige Kriegszustand der Industrie wie der der Völker übertrieben und unnötig ist, alle haben den weitverbreiteten Wunsch nach industrieller Entwaffnung. Die Arbeiterbewegung der heutigen Zeit ist in ihrer Art ein industrieller Kreuzzug für den Frieden. Peabody, Jesus Christas und die soziale Frage.

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Man könnte in der Tat sagen, daß es ein Mißverstehen moderner Industrie ist, wenn man das Feld ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit wie ein Schlachtfeld schildert. Man könnte sagen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Wahrheit nicht feindliche Kräfte, sondern Verbündete und Teilhaber an der Produktion sind. Sie gedeihen und leiden im Grunde zusammen, und wollte man einen Zwiespalt in ihren Interessen annehmen, so wäre das nicht nur ungerechtfertigt sondern selbstmörderisch. Man könnte wohl fragen, ob es nicht eine seltsame Art Friedensbewegung ist, die damit anfängt, die Gegensätze in der Industrie zu übertreiben und eine soziale Revolution als letztes Ziel ins Auge zu fassen, die die besitzende Klasse ganz zerstörte. Solche Kritik ist durchaus verständig. In der Natur des industriellen Lebens ist selbst unter den heutigen Verhältnissen nichts, was es notwendigerweise in einen Krieg verwickeln müßte oder was idyllischste Beziehungen von gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Liebe ausschlösse. Hier und da finden sich in der Tat solche industriellen Verhältnisse, und anstatt eines Kriegszustandes sehen wir eine „industrielle Teilhaberschaft", eine „Institution patronale", oder eine „famille ouvrière". Solche Zugeständnisse geben uns jedoch nur ein deutliches Bild von der wahren Natur der gegenwärtigen industriellen Fehde. Es ist kein Streit, der mit dem wirtschaftlichen Leben notwendig verbunden ist. Im Grunde ist es überhaupt kein wirtschaftlicher Streit. Wie die meisten Kriegserklärungen geht auch er aus unvorhergesehenen, seelischen Ursachen hervor. Der industrielle Konflikt der Jetztzeit ist nur eine Form für das tiefe Gefühl moralischen Mißtrauens, das in dem Herzen der arbeitenden Klasse lebt, und das in der leiden-

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schaftlichen Forderung nach industrieller Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt. Von diesem Punkte aus sehen wir die zweite Seite der industriellen Frage an. Ihre Form wird durch wirtschaftliche Verhältnisse bestimmt. Ihr Geist aber drückt einen moralischen Protest aus. Vor fünfzig Jahren war die große Masse der arbeitenden Klasse noch ohne Wissen und ohne Nachdenken; nun haben die Arbeiter vom Baum der Erkenntnis gegessen und es sind ihnen die Augen geöffnet. Sie sehen um sich auf die verschwenderische Produktivität der modernen Industrie, und es scheint ihnen klar, daß der Gewinn ungerecht verteilt ist. Nicht, daß sie weniger als früher erwerben, treibt sie zur Empörung, sondern daß sie mehr wissen und unendlich mehr fühlen und wünschen. Sie werden nicht dadurch unzufrieden, daß ihre wirtschaftlichen Verhältnisse schlechter werden, sondern dadurch, daß ihr seelisches und geistiges Leben erwacht ist und Befriedigung fordert. Sie erkennen, daß der Gewinn, der bei dem allgemeinen Fortschritt wirtschaftlichen "Wohlstandes auf ihr Teil fällt, verhältnismäßig gering ist im Vergleich zu den enormen Aufhäufungen überflüssigen Reichtums, der einigen wenigen zufließt. Sie sehen selber, daß sie den Reichtum mit produzieren, von dem sie doch nur einen unbedeutenden Teil erhalten und sie erheben einen Schrei leidenschaftlicher Empörung, als wenn ihnen ernstlich Unrecht geschähe. Wir können von der sogenannten Arbeiterbewegung keinen rechten Eindruck gewinnen, wenn wir nicht den inneren Geist erkennen, der in jenen Forderungen nach industriellem Wandel zum Ausdruck kommt. Das wirtschaftliche Programm eines Agitators Vn.nri so augenscheinlich spekulativ und utopisch sein, daß wir kaum verstehen, wie sich einfache und 15*

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praktische Menschen ihm mit Treue und Aufopferung hingeben können; aber solches Programm ist nur die Form, durch die das Gefühl aufrecht erhalten wird. Manch ein mißleitetes und anfechtbares Unternehmen gewinnt Bedeutung, wenn wir den ethischen Unterton heraushören, den es ausdrücken will. Unter den tosenden miteinander kämpfenden "Wellen, die an die Oberfläche getrieben werden, ruhen die tieferen Bewegungen der Seele, die wie ungeheure Wogen aus der Tiefe aufsteigen. Das sind also die beiden Seiten des industriellen Problems — die wirtschaftliche Form und der ethische Geist; die Form, die nach industriellem Frieden sucht, der Geist, der industrielle Gerechtigkeit fordert. Was hat, so forschen wir weiter, die Lehre Jesu mit diesen Dingen zu tun? Gibt Jesus uns irgend einen Hinweis über die Form der industriellen Ordnung? Regt er uns zu irgendwelchen Gedanken über den Geist des industriellen Lebens an? Auf die erste dieser beiden Fragen dürfen wir ohne Zögern eine allgemeine Antwort geben. Wir können unmöglich denken, daß sich in Jesu Lehre ein spezieller Hinweis auf die Form der modernen Industrie findet. Der soziale Horizont jener Lehre war von den Problemen des modernen, industriellen Lebens so weit entfernt, als wenn er sich auf einem andern Planeten befände. Und wegen kategorischer Instruktionen über industrielle Organisationen, individuelle Initiative oder soziale Kontrolle sich an Jesum zu wenden, wäre ebenso widersinnig als nach seiner Ansicht über moderne Erfindungen und moderne Politik zu fragen1). Wollte man Ausdrücke wie „christliche Wirtschaftslehre" in dem Sinne gebrauchen, daß man unser Leben nach den unmittelbaren Vorschriften Jesu einrichten wollte, oder „christliche Soziologie" als eine Wissenschaft

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der modernen Gesellschaft hinstellen, die direkt von Jesus definiert wurde, oder den „christlichen Sozialismus" f ü r eine von Jesum vorgeschriebene Regierungsform erklären, so würde das durch die Lehre Jesu ebenso wenig gerechtfertigt sein, als wenn wir von christlicher Astronomie oder christlicher Wissenschaft sprechen wollten. Der klaren Tatsache, daß Jesus keine speziellen Gesetze für eine soziale Situation geben konnte, von der man in seiner Zeit noch nicht einmal träumte, muß die Tatsache an die Seite gestellt werden, daß er es meistens ablehnte, Gesetze selbst für die sozialen Probleme zu geben, die wirklich seinem Urteil unterstellt wurden. Hierauf gingen die Pharisäer hin und beschlossen, ihm mit einem Worte eine „Schlinge zu legen" (Matth. 22, 15) und die Frage des Tributgebens vor ihn zu bringen. Lehrt er Unterordnung unter Rom oder ist er ein politischer Revolutionär? Jesus jedoch erkennt ihre List und beantwortet ihre spezielle Frage nicht, sondern verkündet ihnen feierlich sein höheres Gesetz. Ihr zeigt mir wohl, sagt er, jene Münze mit dem Bilde des Casars, das Symbol eures Gehorsams gegen ihn, nun zeigt mir aber auch, ob euren Herzen ein gleicher Stempel der Treue gegen Gott eingeprägt ist. Ein anderes Mal bringt Petrus die soziale Frage betrefts der Tempelsteuer vor ihn (Matth. 17, 25). Sind Jesu Anhänger geistliche Reformatoren, die sich von dem mosaischen Gesetz freihalten sollen? Wiederum weist es Jesus zurück, sich durch solche Frage fangen zu lassen. E r und seine Freunde, sagt er, sind den Söhnen des Königs gleich, die frei sind von der Verpflichtung des Tributzahlens, deren Freisein von solchen Verpflichtungen aber den Tribut nicht länger als Last erscheinen läßt. Laßt uns, so sagt er ihnen, uns nicht zu einer solchen Streitfrage erniedrigen, lasset uns frei werden von den unwesent-

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liehen Dingen, sodaß sie niemandem eine Ursache werden zum straucheln, und dann laßt uns unsere Freiheit benutzen zum Wirken als Königskinder. Wiederum wird das Problem von der Verteilung des Besitzes vor ihn gebracht. „Meister," spricht einer, „sage meinem Bruder, daß er das Erbe mit mir teile" (Luk. 12, 13—15). Und wie vorher, will Jesus auch auf diese Frage nicht wie ein sozialer Reformator eingehen; er macht die Frage von der Erbschaft zu einer Frage des geistigen Lebens: „Mensch," spricht er zuerst strenge, „wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?" und wie er um sich schaut und sieht wie die Zuhörer eifrig auf seinen Ausspruch über die Verteilung des Besitzes warten, geht er von der an ihn gerichteten Frage zu dem Motiv über, das den Anstoß zu ihr gab. „Sehet zu," spricht er, „und hütet euch vor dem Geiz; denn niemand lebt davon, daß er viel Grüter hat." Und am Ende seines Lebens lehnt Jesus mit noch größerem Freimut jeden Urteilsspruch in sozialen und politischen Angelegenheiten ab (Joh. 14, 36 u. 37). Er fordert für sich nicht die Autorität eines Herrschers sondern die eines Offenbarers. „Mein Reich," sagt er zu Pilatus, „ist nicht von dieser Welt." „Aber nun ist mein Reich nicht von dannen." „Ich bin dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll." Jene erhabenen Bestätigungen unterscheiden Jesu Mission deutlich von der eines sozialen Gesetzgebers oder Revolutionärs. Keine einzelne Form industrieller Einrichtungen kann mit Recht behaupten, daß sie einen von ihm entworfenen Plan verwirkliche. Hieraus folgt jedoch nicht, daß die Lehre Jesu keine Anwendung findet auf das heutige industrielle Leben. Im Gegenteil; wenn wir uns an die sozialen Grundgedanken des Evangeliums erinnern, sehen wir sogleich, daß sie

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Entscheidungen über viele wirtschaftliche Pläne unsrer Zeit in sich schließen. Erstens sieht Jesus von oben auf das industrielle Leben wie auf alle andern menschlichen Interessen herab, als ein Mittel zur geistigen Erziehung des Menschengeschlechts, das sein Ziel im Himmelreich finden soll. Die Geschäftswelt ist für Jesus keine isolierte Sphäre menschlicher Tätigkeit, sondern sie liegt innerhalb des großen Horizontes seiner geistigen Ziele. Dieser Standpunkt bedingt jedoch zwei Anschauungen über das industrielle Leben, die sich beim ersten Hinblick nicht ganz miteinander vereinigen lassen. Der Blick von oben hält Jesus einerseits davon ab, sich hauptsächlich mit den Fragen wirtschaftlichen Vorteils und Verlustes zu beschäftigen. Seine Lehre über das industrielle Leben ist von dem großen Wunsche durchdrungen, Ehrgeiz und Eifer von den wirtschaftlichen Zielen ab und auf die geistigen Ziele hinzuweisen. „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln," sagt er, „auf Erden sammelt euch aber Schätze im Himmelreich" (Matth. 6, 19—20). „Darum sorget nicht für den anderen Morgen." „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit" (Matth. 6 , 3 3 — 3 4 ) . Jesus läßt den reichen Mann zu seiner Seele sprechen: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre," aber Gott antwortet ihm: „Du Narr, also gehet es, wer sich Schätze sammelt und ist nicht reich in Gott" (Luk. 12, 19—21). Anderseits gibt aber diese bestimmte Unterordnung wirtschaftlicher Interessen und wirtschaftlichen Gewinns Jesu Lehre keinen Anflug von Asketentum. Seiner Versicherung, daß „wahre Schätze" nicht nur Erzeugnisse der Industrie sind, muß man die Tatsache gegenüberstellen, daß er sich mit Sympathie und voller Würdigung in einer Welt industrieller Tätigkeit bewegt und sie nicht tadelt, sondern

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lobt und als Beispiel hinstellt. Der Säemann auf dem Felde (Matth. 13, 8), der Hirt bei der Herde (Joh. 10, 2—5), der Händler, der Perlen kauft (Matth. 13, 45 u. 46), der Fischer, der sein Netz auswirft (Matth. 13, 47 u. 48), der Arbeiter, der darauf wartet gemietet zu werden (Matth. 20,6), der Haushalter, der einen Kelter gräbt (Matth. 21, 33), ja, selbst der Zöllner (Matth. 9, 9), und der Soldat (Matth. 8, 5—13), die ihre Pflicht tun, sind nicht Menschen, auf die Jesus mit verweisenden oder bedauernden Worten hindeutet, sondern im Gegenteil, sie sind ihm Vorbilder, die er als Text für seine Reden benutzt. Nicht den Menschen, die tief in die Geschäfte dieser "Welt verwickelt sind, gilt sein strenger Tadel, sondern denen, welchen eine Arbeit zu tun gegeben ist, die sie versäumen oder halb getan lassen. Der Diener wird gelobt, der mit seines Herrn Pfunden Handel treibt (Matth. 25, 16—17), aber strenge tadelt Jesus den, der das Geld nicht zur Bank brachte, von wo er es mit Zinsen hätte zurückholen können. Jesu Lob gilt dem Hirten, der den Hügel abstreift um das eine fehlende Schaf zu suchen (Luk. 15, 4—6), der gewissenhaften Hausfrau, die ihre Lampe anzündet und das Haus emsig fegt, bis sie den einen verlorenen Groschen wieder findet (Luk. 15, 8—9). Das heißt, obwohl Jesus verkündet, daß der wahre Schatz im Himmel ist, und er den Menschen einen Narren nennt, der auf Erden nach demselben ausschaut, lehrt er nichtsdestoweniger, daß Gottes Anerkennung dem zuteil wird, der mit gewissenhafter Treue die täglichen Geschäfte besorgt. „So ihr nun in dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer will euch das Wahrhaftige vertrauen?" (Luk. 18, 11). Sind diese beiden Seiten von Jesu Lehre — die Unterordnung industrieller Erfolge und das Lob industrieller Treue — miteinander unvereinbar? Im Gegenteil; gerade

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die Vereinigung dieser Züge kennzeichnet die christliche Anschauung vom industriellen Leben. Der Christ geht durch die Erfahrungen dieser Welt wie ein verständiger Reisender durch eine interessante Landschaft. Solcher Reisende läßt sich nicht ganz von der Routine oder der Unbequemlichkeit oder den Äußerlichkeiten seiner Reise gefangen nehmen, sondern er erkennt die Hülfsijuellen und Reize, die ihm der W e g enthüllt. Er findet Vergnügungen an Zwischenfällen, die manchem anderen ärgerlich sein würden. E r widmet sich freudig den Einzelheiten der Reise um jenes Reisezieles willen, das er erreichen möchte. E r sammelt Schätze, die nicht verloren werden können, und wo sein Schatz ist, da ist auch sein Herz. Dies Problem, das Beweglichkeit mit Ruhe, Hingabe an Einzelheiten mit der Wahrnehmung des Endziels vereinigt, bildet für viele Menschen die persönliche Anschauung von der industriellen Frage. Wie sich die Freude an der Arbeit mit der Befreiung vom Despotismus der Arbeit vereinigen läßt, bleibt für viele ein ungelöstes Problem. Wenn sie ihr Herz industrieller Tätigkeit hingeben, werden sie zu ihrem Sklaven, wenn sie ihr Herz geistigen Zielen widmen, werden sie zu unnützen Dienern in der Welt der Arbeit. Wie kann man nun in solch geteiltem und unharmonischem Leben geistigen Frieden und ein Gefühl von Einheit erlangen? Nach der Lehre Jesu wird es uns zuteil werden, wenn wir in der uns gegebenen Arbeit eine geistige Bedeutung entdecken, und diese Entdeckung machen wir, wenn wir von oben auf unsere Erfahrungen herabblicken. Ein religiöser Standpunkt lenkt den Blick nicht von der Arbeit ab, sondern er gibt ihm Einsicht in die Arbeit. Die Welt der Industrie ist reich an Hilfsquellen und an Befriedigung, die ein genügender Lohn für das Wandern

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auf dunklem, gleichförmigem Wege sind, und das größere Ziel rechtfertigt die mühevolle Treue; Einzelheiten, die von unten gesehen, verdrießlich erscheinen, werden würdig und ehrenvoll, wenn wir sie von oben anschauen. Der Mann, der den Weg der Arbeit zieht, ohne einen Gedanken über jene staubige Straße hinauszusenden und der, der den "Weg überhaupt nicht gehen will, weil er staubig ist, lernt die Lehre des industriellen Lebens nicht kennen. Sieht man von oben auf jenes Leben herab, so findet sich im Bereich des christlichen Ideals ein Platz für seine Tätigkeit und Treue. Der Christ ist im geringsten treu, und durch jene Treue gelangt er zur Freude dessen, was groß ist. Der Lehre von dem Horizont in der industriellen Welt muß man die christliche Lehre vom industriellen Fortschritt hinzufügen. Jesus überblickt die Geschäftswelt nicht nur von oben, er nähert sich ihr von innen. Es ist seine Art, mit dem einzelnen Menschen zu beginnen. Sein erhabenes Ziel ist Menschen zu schaffen, die ihrerseits das Reich Gottes herbeiführen. Das ist ein Prüfstein, den man auf jede Form des industriellen Lebens anwenden kann. Anstatt die Vorteile oder Nachteile einer Form der Industrie zu erwägen, prüft Jesu Lehre sie darauf hin, ob sie zur Charakterbildung beiträgt. Jesus fragt bei einem industriellen Programm oder Plan nicht, ob sie sich lohnen werden, ob sie extravagant oder schwer durchführbar sind, sondern vielmehr, was für eine Art Menschen aus ihnen hervorgehen wird. Werden sie bei der Produktion von Gütern auch gute Charaktere hervorbringen? Oder werden sie, wenn sie geringwertige Produkte liefern, auch die Menschen gering machen? Von diesem Gesichtspunkt aus dürfen wir mit Recht jedes Handelssystem ins Auge fassen. Wir

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können z. B. die jetzt herrschende industrielle Ordnung darauf hin prüfen, und einen Charakter, der sich in diesem System entwickelt hat, haben wir schon beobachtet, — den Charakter einer regen, kühnen Herrschernatur, den Herrn der Industrie, den Napoleon der Finanzwelt. Dieser besitzt Eigenschaften, die der Entwicklung wohl wert sind. Keine neue wirtschaftliche Einrichtung kann die jetzige industrielle Ordnung dauernd ersetzen, wenn sie nicht ebenso männliche, kraftvolle Naturen hervorbringt. Hier drängt sich uns jedoch eine Reihe neuer Fragen auf. Bilden jene Herrschereigenschaften, so fragen wir wohl, das schönste moralische Produkt, das die jetzige industrielle Ordnung hervorbringen kann? Und wenn das bejaht werden muß, könnte dann nicht eine bessere Einrichtung des wirtschaftlichen Lebens möglicherweise großmütigere und edlere Naturen schaffen? Und wenn Avir weiter gehen und von dem Charakter des industriellen Befehlshabers auf den Charakter derer sehen, die als Gemeine im industriellen Heer mitkämpfen, was zeigt sich uns dann als Normalprodukt sittlicher Männlichkeit? Wird in der großen Masse der Untergebenen durch die Art und Weise unserer Großindustrie Initiative, Intelligenz und Gewandtheit entwickelt, oder werden durch sie verkümmerte, entmenschte, mechanische Naturen groß gezogen? Ist es wahr, daß der Gemeine in der großen Fabrik wie in der kämpfenden Armee oft ein besserer Soldat ist, wenn er nicht mehr eine freie Persönlichkeit ist, sondern ein Teil einer Maschine? Solche und ähnliche Fragen werden zum Schwerpunkt jener sozialen Klage, die in der sogenannten Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommt. Viele dieser industriellen Forderungen mögen unvernünftig und irregeleitet sein, aber durch sie hindurch dringt aus den Reihen der

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Industrie der Ruf nach einem menschlicheren, freieren und verständigeren Leben. Sie sind die leidenschaftlichen Zuckungen der unterdrückten, geschlagenen Persönlichkeit, die unter dem erdrückenden Berg der Routine begraben ist wie einst Euceladus unter dem stöhnenden Ätna. Das Pathos und die Würde der Arbeiterbewegung liegen in dieser Wiederholung von Jesu Lehre, daß wirtschaftliche Pläne darnach geschätzt werden sollen, ob sie zur Bildung der Persönlichkeit beitragen. Die wirtschaftliche Ordnung ist ein Werkzeug, das Menschen formen soll, und Kämpfe, die wie die jetzige Arbeiterbewegung, wenn auch durch viel Mühe, denkendere und treuere Menschen hervorbringen, sind die Geburtswehen einer besseren sozialen Welt. Dieser Grundgedanke Jesu, den Gewinn der Persönlichkeit unterzuordnen, kann als Prüfstein für jeden industriellen Plan gelten. Durch diesen Grundsatz lassen sich in der Tat zuweilen industrielle Bewegungen deuten, deren wirtschaftlicher Erfolg sonst unerklärlich wäre. Das Genossenschafts - System Großbritanniens liefert eine interessante Illustration für die Wahrheit dieser Worte. Diese Bewegung hat eine bunte Geschichte, reich an wirtschaftlichen Erfolgen und an wirtschaftlichen Niederlagen. Die außerordentliche Ausdehnung, die das Genossenschafts-System unter gewissen Verhältnissen gewonnen hat, könnte uns zu dem Schluß führen, daß die einfachen Weber von Rochdale ein Universalmittel gegen wirtschaftliche Übel entdeckt hätten. Unter anderen, anscheinend nicht weniger günstigen Verhältnissen ist die Genossenschaft aber von direktem Unglück betroffen worden. Was ist denn die Ursache, die den Genossenschaftsplan in einem Falle so reich, im anderen so arm an Erfolgen macht? Es ist die Tatsache, daß das System

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nicht nur ein wirtschaftlicher Plan, sondern im Grunde eine moralische Bewegung ist. Der Erfolg der Genossenschaft beruht nicht nur auf den Geschäftsgrundsätzen der Barzahlung und vorenthaltenem Vorteil, sondern auf moralischen Eigenschaften, auf Geduld, Strebsamkeit und Treue, die den Genossenschaftsmann charakterisieren. „Die Hauptlohren ihres Glaubens," sagte Prof. Marshall 1889 auf dem Genossenschaftskongreß, „gelten nicht in erster Linie der Produktion großer Güter, sondern der Produktion guter Menschen, als das letzte Endziel jedes würdigen Strebens." Zweitens führt der, der nur für sich oder nur für sich und seine Familie lebt und arbeitet, nur ein unvollkommenes Leben; um es zu vervollkommnen, muß er mit anderen gemeinsam für ein großes und hohes Ziel arbeiten" 2 ). Die Durchführungen des Genossenschaftssystems in Großbritannien sind moralische Siege. Millionen einfacher Leute sind in den Instinkten des Genossenschaftslebens durchgebildet worden, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit hat den wirtschaftlichen Gewinn zur Folge gehabt. I n jener ethischen Eigenschaft des Genossenschaftssystems liegt aber zu gleicher Zeit seine Begrenzung. Wo der Genossenschaftsmann es an etwas fohlen läßt, da fällt auch der wirtschaftliche Plan. Nicht an den Geschäftsschwierigkeiten, sondern an dem Mangel an Geduld, Aufopferung und Ehrenhaftigkeit unter den Genossenschaftsmitgliedern haben manche vielversprechende Unternehmungen der Genossenschaft Schiffbruch erlitten. Cäsars Übergang über die Alpen, sagte einst Hollyoake, wurde bedenklich verzögert durch die Menge Esel, die die Truppen begleiteten; der Fortschritt der Genossenschaft wird durch dieselben Tiere aufgehalten. Das Genossenschaftssystem ist also eine treffende Illustration zur Lehre Jesu. Ein Bestand an würdigen und treuen

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Menschen ist die erste Bedingung für ihren Erfolg. Ein paar einfache Menschen vereinigen sich zu einem genossenschaftlichen Unternehmen ganz unbewußt dessen, daß sie in irgend einer "Weise für die sozialen Grundsätze des Evangeliums zeugen; sie geben sich dem einfachen Problem hin, einen Laden oder eine Fabrik mit Treue, Aufopferung und Geduld zu führen, und wenn ihr Werk sich ausdehnt, scheint es ihnen, als hätten sie eine gute Spekulation gemacht, während sie in der Tat in einem Winkel der großen industriellen Welt die Grundgedanken der christlichen Religion illustrieren, daß der industrielle Fortschritt im Innern beginnt. Das ist der Standpunkt und der Weg der Annäherung, den uns Jesu Lehre in Bezug auf die Formen der Industrie zeigt. Die Methoden und das Programm, die den Horizont der Arbeit erweitern, die die Arbeit persönlicher, ergiebiger, schöpferischer und menschlicher machen, stehen in vollem Einklang mit dem Evangelium. Alle Arten der Erziehung, die den Umfang und die Bedeutung des industriellen Lebens vergrößern, sind durch Jesu Lehre gerechtfertigt und angezeigt. Solche Erziehung wird wirtschaftlich dadurch gerechtfertigt, daß sie die Gemeinde mit besseren Handwerkern, Mechanikern, Druckern, Bleigießern und Zimmerleuten versorgt; im Grunde aber wird sie weit mehr dadurch gerechtfertigt, daß sie die Persönlichkeit bereichert und kräftigt, daß sie Achtung vor ehrlicher Arbeit lehrt, daß sie die Arbeit mit dem Gefühl von Schönheit und Wahrheitsliebe durchleuchtet. Was eine Maschine in einen Menschen umwandelt, was den Arbeiter von obeD auf seine Arbeit blicken läßt, und sie ihm von innen deutet, das findet einen Platz in dem christlichen Programm des industriellen

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Lebens. Es trägt nicht nur zur wirtschaftlichen Stetigkeit bei, sondern es erhält Jesu Christi Lehre im Gange. In Verbindung hiermit müssen wir noch den dritten sozialen Grundgedanken des Evangeliums erwägen, der in der Tat die beiden anderen beherrscht und erklärt. Die Lehren von dem sozialen Horizont und vom sozialen Ursprung begegnen sich in dem sozialen Ideal Jesu Christi. Jesus sieht die Welt als ein Feld von Gottes Reich an und er begeistert die einzelnen Menschen, damit sie Werkzeuge jenes Reiches werden. Wenn wir an diese große, gewaltige Hoffnung denken, die Jesus für die Zukunft der Welt hegte, und an die Sprache, die er gewöhnlich gebrauchte, so fällt uns gewiß die treffende Ähnlichkeit zwischen seinem Ideal und mancher Hoffnung und manchem Traum der modernen industriellen Welt auf. Jesus sagt, daß wir das Reich Gottes in der allmählich verwirklichten und schließlich vollkommenen Brüderschaft der Menschen finden sollen. Dieses Reich soll auf eine Art herbeigeführt werden, von der die Weisen und Gelehrten keine Ahnung haben. Es ist durchaus nicht gewiß, daß es durch einen friedlichen Prozess sozialer Entwicklung erscheint. „Ich bin nicht gekommen Frieden zu senden, sondern das Schwert" (Matth. 10, 34). Es muß vielleicht sogar durch Gewalt herbeigeführt werden. „Bis hierher leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalt tun, die reißen es zu sich" (Matth. 11, 12). Es wird für die Reichen schwer sein, in das Himmelreich zu kommen, aber die Armen, die Blinden, die Krüppel, die Lahmen werden in ihm willkommen geheißen werden (Luk. 14, 21). Es ist ein Reich, das schon innerlich in der Welt vorhanden ist gleich dem Senfkorn, das gepflanzt ist und bald aufwachsen und alle anderen Kräuter beschatten wird (Matth. 13, 31). Und schließlich ist es ein Reich, in dem

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ein neues System der Arbeit herrschen wird (Matth. 20, 1—16), ein System, bei dem die Bezahlung der Arbeiter mehr deren Bedürfnissen als dem geleisteten Dienst entspricht. „Ich will aber diesem letzten geben gleich wie dir . . . also werden die letzten die ersten und die ersten die letzten sein" (Matth. 20, 14, 16). Spürt man nicht in diesen verschiedenen Beschreibungen vom kommenden Reiche Gottes eine außerordentliche Vorwegnahme mancher modernen Prophezeiung über industrielle Revolution, über eine internationale universelle Brüderschaft, in der weder reich noch arm sein sollen, und wo von jedem je nach seinen Kräften gefordert und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben werden soll? Breitet sich nicht diese Hoffnung auf eine umfassende soziale Einheit auch in unserer Zeit aus wie ein Senfkorn, das von vielen Weisen und Gelehrten dieser Welt nicht bemerkt wird? Kann man nicht von der Erfüllung dieses sozialen Programms sagen: „Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde" (Matth. 25, 13), und wieder: „Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe" (Matth. 24, 34). Wie sollen wir uns die augenscheinliche Ähnlichkeit zwischen jenen beiden sozialen Idealen — der modernen Lehre des Kollektivismus und der Lehre Jesu vom Reiche Gottes erklären? Einer Antwort, die oft auf diese Frage gegeben wird, haben wir schon mehr als einmal gedacht. Die Ähnlichkeit, sagt man, ist so einleuchtend und so sprechend, daß die beiden sozialen Ideale in der Tat als identisch angesehen werden müssen. Jesus war ein Sozialist. Hätte er zu unserer Zeit gelebt, so würde er ein Messias jenes neuen Evangeliums gewesen sein, das den Armen gegen den Reichen verteidigt und der Herrschaft des Kapitalismus das Ideal industrieller Gerechtigkeit gegenüberstellt. So

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bemerkt ein deutscher Theologe: „Es kann also gar nicht bezweifelt werden, daß die Grundgedanken des Sozialismus eben auf Jesus zurückgehen" 3 ). Enthalten auch die Sprüche der Evangelien vieles, was diese Anschauung unterstützt, so erschien doch eine Identifizierung von Jesu Lehre mit dem modernen Sozialismus selbst den Sozialisten nie unbedingt empfehlenswert. Die besonneneren und wissenschaftlich gebildeteren Vertreter der radikalen Reform haben, wenn sie ihre Gefühle auch nie analysierten, einen feinen Unterschied gleich einem Luftwechsel empfunden, wenn sie sich von dem Gebiet ihrer sozialen Pläne aus dem Geiste von Jesu Lehre näherten. Die Evangelien atmen Duldsamkeit, Erbarmen, Vielseitigkeit aus, die weit davon entfernt sind, das Herz eines Sozialisten höher schlagen zu lassen, die vielmehr seine Anklagen gegen die Welt mildern. Mag der organisierte Sozialismus auch froh sein, wenn er die geistigen Kräfte der modernen Welt für sein Programm in Anspruch nehmen kann, so ist er seiner Sache doch nie ganz sicher gewesen, wenn es sich darum handelte, den Impuls der christlichen Religion als Verbündeten in Anspruch zu nehmen. Er hat das religiöse Gefühl als „Privatsache" zugelassen, aber er hat nie große Neigung gezeigt, sich formell mit ihm zu verbinden. Man fühlte wohl, daß der ungeteilte Gehorsam gegen das sozialistische Ideal nicht so unbedingt geleistet werden würde, wenn sich die Menschen gleichzeitig zur Treue gegen die Ideale Christi verpflichteten. Dieser Argwohn der besonnenen Sozialisten geht aus einem gesunden Instinkt hervor. Wenn wir von der Ebene des sozialdemokratischen Programms zu der Höhenlage von Jesu Lehre übergehen, mögen die Landschaften, die sich unserm Auge bieten, allerdings gewisse Ähnlichkeiten miteinander haben, aber wir spüren sofort P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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einen Unterschied in der Bodenerhebung und einen Wechsel, der geradezu klimatisch ist. Eine neue Art sozialer Gefühle, sozusagen eine neue Flora sozialer Tendenzen, eine neue Mannigfaltigkeit und eine umfassende Kraft des sozialen Urteils sind ein Beweis dafür, daß wir auf größerer Höhe stehen, wenn wir auch dieselbe Aussicht haben. Für die, die gewöhnt sind, das Leben mit den Augen eines Sozialisten anzusehen, ist deshalb die Lehre Jesu voll von Überraschungen. Jesus zeigt beständig Sympathie mit den sozialistischen Zielen und dennoch kann er nicht als ein sicherer Lehrer derselben angesehen werden. Der Sozialist ist dessen niemals ganz sicher, was Jesus im nächsten Augenblick sagen wird. Viele seiner Aussprüche klingen wie orthodoxe sozialistische Lehren, aber plötzlich kann eines seiner Worte den ganzen sozialistischen Glaubenssatz zerstören, und es ist, als wenn zwischen bekannten Pflanzen eine Blume erblüht, die einer ganz anderen, sonnigeren Zone angehört. Man denke z. B. an das Wort Jesu, das von sozialistischen Schriftstellern hoch gepriesen ist — an den Grundsatz, der der Lohnzahlung der Arbeiter im Weinberg zu Grunde liegt (Matth. 20, 14, 19, 30; Mark. 10, 31; Luk. 13, 30). Allen, die bereit sind zu arbeiten, sagt die Verkündigung, wird ein gleicher, auskömmlicher Lohn gezahlt. Die Tatsache, daß ein Mensch eine bessere Chance im Leben hat, sichert ihm keine bessere Belohnung. „Ich will aber diesem letzten geben gleich wie dir" (Matth. 20, 14). Gab es jemals ein industrielles Gleichnis, das mehr auf das moderne Programm hinwies? Nimmt es nicht beinahe im voraus die neue Form an: „Jeder Arbeiter wird seiner Fähigkeit und seinen Bedürfnissen gemäß Stunde um Stunde gelohnt." Bildete nicht das Wort Jesu den Text zu Ruskins großartiger Anklage

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gegen die Wirtschaftslehre vom "Wettbewerb und war sie nicht die Grundlage seiner Lehre von einem gerechten Umsatz ohne Konkurrenz? 4 ) Freilich, wenn dieser Ausspruch Jesu seine ganze Lehre über das industrielle Leben ausmachte, so fänden wir darin eine umfassende Lehre sozialer Revolution. Kaum blättern wir jedoch etwas weiter im Evangelium, so stoßen wir auf eine Auffassung des sozialen Lebens, die anscheinend in vollkommenem Gegensatz zur Lehre von der Gleichheit steht — auf das Gesetz wesentlicher und wachsender Ungleichheit. "Wir lesen, daß der Knecht, dem fünf Zentner anvertraut waren, sie im Handel verdoppelt und, daß sein Herr zu ihm spricht: „Ei, du frommer und getreuer Knecht . . . . denn wer da hat, dem wird gegeben werden," der Knecht dagegen, dem am wenigsten anvertraut war, wird getadelt: „wer aber nicht hat, dem wird auch, das er hat, genommen werden" (Matth. 25, 23, 29). Denselben Grundsatz wachsender Vergeltung wendet Jesus nicht nur auf den Gewinn an Geld, sondern auch auf den Gewinn an Kenntnissen an. Die Jünger, die schon etwas von dem neuen Evangelium gelernt haben, werden noch mehr erfahren. Sie sollen „das Geheimnis des Himmelreiches" vernehmen (Matth. 13, 11). Andern aber ist es nicht gegeben, sodaß einer geistiges Wissen in „Fülle" haben soll, während „wer nicht hat, von dem wird man nehmen, auch das er hat" {Mark. 4, 25). Dasselbe Gesetz gilt auch für die Fähigkeit der Beobachtung und des Urteils. Der Mensch, der darauf siehet wie er „zuhöret," findet, daß seine Kraft zu hören und zu urteilen, wächst, während sich dem, der seine Lampe mit einem Geiäß bedeckt oder sie unter die Bank stellt, die geheimen Dinge weniger und weniger enthüllen, bis ihm selbst die Unterscheidungskraft, die er 16*

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noch hatte, allmählich genommen wird (Luk. 2, 16—18; Matth. 4, 25). "Was läßt sich nun von diesem Grundsatz wachsenden Ertrags und wachsenden Verlustes an Geld, Wissen und Fähigkeit sagen? In erster Linie, daß es ein Gedanke von zweifelloser und tiefer Wahrheit ist. Die ganze Erfahrung des Lebens spricht dafür, daß die Fähigkeit wächst, wenn sie benutzt wird und daß die unbenutzte Kraft gleich ungebrauchten Gliedern zusammenschrumpft. Einer der wirksamsten Antriebe für den Menschen, sich anzustrengen, ist die Gewißheit, daß die, einmal in Bewegung gesetzte Energie zu einer bewegenden Kraft wird, daß uns nur der erste Aufwand an Geld oder Geschicklichkeit etwas kostet, daß bei dem Geld wie bei der Arbeit der Gewinn Samenkörnern gleicht, die einmal gesäet, wachsen während der Mensch im Schlafe liegt, und daß man solche Erwerbung von den Eltern selbst auf die Kinder übertragen und die Wirkung des Gesetzes von den wachsenden Zinsen verlängern kann. Die Kehrseite dieser Wahrheit ist nicht weniger einleuchtend. In einer Welt, in der der Gewinn wächst, müssen auch die Verluste wachsen. Wir leben in dieser Welt, in der die Ungleichheit eine wesentliche Seite des menschlichen Lebens ist, in der die unbenutzte Fähigkeit abnimmt und die unentwickelten Kräfte zu Schwäche und Unvermögen herabsinken. Der Arme wird oft nur deshalb ärmer, weil ihm das Wenige fehlt, das ihm eine Chance bieten würde mehr zu erlangen; ein schlechtes Leben nimmt von Geschlecht zu Geschlecht zu bis es von Unwissenheit zum Laster, vom Laster zur Degeneration führt; Leid zeugt Leid; Fehler führen zu weiteren Fehlern; ein Schritt vom Wege der Tugend wird eine Versuchung zu größerer Sünde, bis denen, welche nichts haben, auch das genommen zu werden

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scheint, was sie haben. Das ist ein soziales G-esetz, das mit dem Ideal des Sozialisten durchaus unvereinbar zu sein scheint — ein Gesetz, das in der Tat die Anschauung der Welt darstellt, gegen die der Sozialist am hitzigsten kämpft. Wenn nun der Sozialist in den ersten drei Evangelien nicht weniger als sechsmal liest, daß unsre Welt eine Welt wesentlicher Ungleichheit ist, muß er dann nicht zaudern, für seine Sache die Unterstützung der Lehre Jesu in Anspruch zu nehmen, und muß er sich nicht mit Recht wundern, daß diese Verkündigung von den steigenden Zinsen von denselben Lippen kommt, die die Gleichheit der Lohnzahlung als Gesetz für des Herrn Weinberg verkündigten? Kann nun Jesu Lehre mit Recht zwei Grundsätze für das industrielle Leben enthalten, die anscheinend so unvereinbar miteinander sind? Die Verkündigung, daß der letzte der erste sein soll, und daß dem, der etwas hat, mehr gegeben werden wird, ist vom Standpunkte der Wirtschaftslehre aus ein reiner Widerspruch. Allein Jesus denkt nicht an wirtschaftlichen Gewinn und Verlust, sondern an die Erziehung der menschlichen Seelen für das Reich Gottes; er erkennt, daß diese beiden Grundsätze in der Erziehung, die Gott dem Menschen angedeihen läßt, nebeneinander bestehen können — die steigenden Zinsen und das jedem einzelnen Falle angemessene Urteil. Der Mensch wird einerseits dazu getrieben, sein Bestes zu tun, weil er gesehen hat, daß Fähigkeit, Kraft und Mittel sich entweder entwickeln oder verkümmern, sodaß dem, der hat, gegeben wird und von dem, der nichts hat, genommen wird. Anderseits ist es demselben Menschen klar, daß Gottes Urteil nicht durch das Vollbringen großer Taten, sondern durch die Treue des Tuns bestimmt wird. „Denn welchem viel gegeben ist, bei dem

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wird man viel suchen" (Luk. 12, 48), und zu dem, dessen Chance gering war, der sie aber treulich benutzt hat, wird das große Wort gesprochen werden: „Ich aber will diesem letzten geben gleich wie dir" (Matth. 20, 14). So verbinden sich geistig die Grundgedanken, die sich wirtschaftlich nicht vereinen ließen. Am Abend, wenn der Herr des Weinbergs kommt und spricht: „Rufe den Arbeitern und gib ihnen den Lohn" (Matth. 20, 8), mag sich der Mann, der wenig vollbracht hat, hinter seinen erfolgreichen Brüdern verbergen und sprechen: „Ich bin nur ein unnützer Diener; ich habe nur wenig Gelegenheiten gehabt und mein Gewinn ist gering," aber der Grundgedanke, des jedem einzelnen Falle angemessenen Urteils, gibt ihm den Platz, den sein Streben und seine Treue gewonnen haben. „Nicht das, was der Mensch tut, erhöht ihn, sondern das, was er tun wollte," sagt Browning's David, und denselben Ton schlägt Rabbi Ben Ezra an: „Das ist's allein, was mich erhebt, Was unerreicht mein Herz erstrebt."

So kommt endlich die wahre Beziehung zwischen Jesu sozialem Ideal und dem sozialen Ideal des modernen Revolutionärs in Sicht. Die christliche Lehre von der sozialen Ordnung umfaßt das Programm des Sozialisten, aber es umfaßt noch weit mehr. Im Evangelium findet sich ein Platz für das Prinzip des gleichen Lohnzahlens, aber auch für die Erkenntnis der entgegengesetzten Wahrheit von der ungleichen Begabung. Die beiden sozialen Ideale verhalten sich also zueinander wie zwei parallel laufende Linien auf verschiedenen Ebenen. Sie haben dieselbe Richtung, und wenn man nur diese im Auge hat, könnte man die eine

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Linie sozialer Bewegung leicht für die andere halten. Die beiden Linien liegen jedoch auf verschiedenen Höhenlagen der Erfahrung; sie haben verschiedene Ausgangspunkte und verschiedene Ziele und ihre Bahnen werden niemals zusammentreffen. Die Beweggründe, aus denen sie hervorgehen und die Ideale, denen sie zustreben, liegen in verschiedenen Zonen menschlicher Sehnsucht. Das sozialistische Programm beginnt mit der Erwägung wirtschaftlicher Bedürfnisse und endet mit dem Ideal wirtschaftlichen Wandels. Die Lehre Jesu beginnt mit dem Gefühl geistiger Bedürftigkeit und endet in dem Ideal eines geistigen Reiches. Beide soziale Lehren gelten dem Leben der wirklichen "Welt, geben der Industrie Gesetze und der Energie die Richtung, die eine aber will die Armen reich, die andere die Schlechten gut machen. Der Sozial-Philosoph glaubt, daß die Bildung des Charakters durch den Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt ist, Jesus aber zählt auf den Charakter, um wirtschaftlichen Wandel zu schaffen. Der eine Plan baut das soziale Leben von unten herauf, — der andere leitet es von oben aus. Das auf Kooperation gegründete Gemeinwesen soll aus einer neuen Ordnung der Produktion hervorgehen; das neue Jerusalem soll aus dem Himmel von Gott herniederkommen. Wir sehen hier zwei Ideale der sozialen Ordnung, die, wenn auch ihre Linien miteinander parallel laufen, durchaus nicht identisch sind. Es ist ganz etwas anderes den industriellen Wandel als Mittel zur geistigen Erziehung oder als Mittel zur Abschaffung des Privateigentums anzusehen. Das sozialdemokratische Programm bringt ein industrielles System in Vorschlag, das zu seiner Durchführung der Selbstlosigkeit, Großherzigkeit und Einfachheit des Charakters bedarf; aber es sorgt nicht ent-

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sprechend dafür, daß diese Tugenden groß gezogen werden5). Gebt dem Volke die Mittel zur Produktion, sagt man, vertilgt die Kapitalisten, und dieselben Menschen, die sich heut als ehrgeizige, den eigenen Vorteil suchende Nebenbuhler gegenüberstehen, werden Gemeinsinn, Edelmut und Selbstbeherrschung zeigen. Reinigt zuerst die Außenseite von Becher und Schüssel, so wird auch die Innenseite von Gier und Bosheit gereinigt werden. Zieht die Linie wirtschaftlicher Entwicklung weiter und sie wird in die Eigenschaften des Gottesreichesübergehen. Jesu Lehre sieht die Welt der Industrie gerade vom entgegengesetzten Standpunkt an. Sie urteilt nicht über wirtschaftliche Programme, wie radikal sie auch sein mögen. Sie sagt nur, daß kein noch so vielversprechender wirtschaftlicher Plan Aussicht auf Wirksamkeit und Bestand hat, bis das industrielle Leben zu einem Mittel der sittlichen Bildung erhoben und als ein von Gott anvertrautes Pfand hingenommen wird. Mögen auch in der Maschinerie der jetzigen Industrie ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden sein, die Hauptschwierigkeit ist nach Jesu Lehre nicht mechanischer, sondern moralischer Natur. Der Teufel führt auch den modernen Menschen in Versuchung, wie er es einst mit Jesus getan hat, er zeigte ihm alle Herrlichkeiten der Welt und spricht: „Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest" (Matth. 4, 9), und viele moderne Menschen sind auf diese Bedingung eingegangen. Nach Jesu Lehre aber liegen die Wurzeln der industriellen Frage nicht in den Verhältnissen, sondern im Charakter. Sie ist zu einer drohenden, sozialen Frage geworden, nicht weil das wirtschaftliche System schlecht ist, sondern weil die Menschen es sind, und die Lösung dieser Frage wird nicht in erster Linie durch gute Maschinen, sondern durch gute Menschen erreicht. Es gibt

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keine industrielle Einrichtung, die nicht durch gewissenlost; und hinterlistige Menschen zum Bösen ausgebeutet werden kann; wenn dagegen die Kontrolle der Industrie in den Händen gewissenhafter, großmütiger Männer läge, dann würde beinahe jedes — selbst das jetzige wirtschaftliche System sich als wirkungsvoll und gerecht erweisen, und die industrielle Revolution, die vielen Menschen jetzt unbedingt notwendig erscheint, könnte vielleicht unnötig werden "). Durch diesen Gegensatz der Ideale wird uns nun das praktische Problem der modernen Industrie vor Augen gestellt. Wir sehen hier die höher gelegene Ebene sozialer Entwicklung, die uns die Lehre Jesu vorzeichnet und die tiefer gelegene des wirtschaftlichen Wandels, den uns der wissenschaftliche Sozialismus zeigt. Oben herrscht die Anschauung vom industriellen Leben, das sich dem Reiche Gottes entgegen bewegt, unten glaubt man das Glück zu erringen durch bessere wirtschaftliche Verteilung der Güter. Unter diesen Verhältnissen läßt sich für die jetzige industrielle Lage vielleicht folgende Alternative stellen — schreitet die soziale Bewegung nicht auf dem höheren Niveau fort, so wird sie höchst wahrscheinlich auf dem niederen weitergehen. Ein Problem, das so ungemein tief empfunden wird wie die industrielle Frage unsrer Zeit, muß durch irgend einen Kanal zum Ausdruck kommen, und folgt dieser Strom leidenschaftlicher Gefühle nicht der Richtung, die Jesu Lehre ihm vorzeichnet, so ist allem Anschein nach die sozialistische Verwandlung der Kanal, der am meisten bereit ist, ihn aufzunehmen. Der Geist der modernen Revolution hat diese Alternative in der Tat schon angezeigt. Der Glaube an eine soziale Revolution ist bei vielen Menschen bereits an die Stelle der Religion getreten. Er hat dieselbe Treue

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und denselben Eifer zu erwecken gewußt, die gewöhnlich nur mit einem religiösen Glauben verbunden sind. Wie die Menschen einst f ü r Christus in den Tod gingen, so gehen sie jetzt für die Sache der Revolution aufs Schaffot, und mit einem Geiste, der dem der christlichen Märtyrer verwandt ist, geben sie ihr Leben f ü r den sozialdemokratischen Glauben hin. "Wenn wir daran denken, daß der Glaube, der über solche Hingebung gebietet, seiner Form nach ein Wirtschaftsprogramm ist, und daß es sich in seinen Religionsartikeln nicht um übernatürliche Wahrheiten, sondern um Lohn- und Steuerfragen handelt, so kann uns die Leidenschaft, mit der die Sozialisten ihrem Glauben anhängen, wohl in Verwunderung setzen. Woher kommt solche außerordentliche Hingebung an ein industrielles Programm, da dies Programm obendrein von vielen seiner Anhänger nur halb verstanden wird? Es kommt daher, daß dieser Glaube, obgleich er geistlos zu sein scheint, für Millionen Menschen eine Religion darstellt und ihnen einen Ersatz bietet f ü r die Lehre der christlichen Kirche, die sie zurückgewiesen haben. Kurz, daß man die soziale Revolution als Religion angenommen hat, ist eine praktische Anklage, gegen die religiöse Lehre der christlichen Kirche. Selbst bei denen, die die Religion zurückweisen, verlangt das religiöse Gefühl einen Weg, auf dem es sich äußern kann, und vielen Menschen, die den Glauben an die Ziele der Christenheit verloren haben, zeigt die sozialistische Bewegung einen Weg für solche Gefühlsäußerung. Dar sozialistische Programm stellt in anderen Worten die Strafe dar, die die moderne Welt für den ungenügenden Gehorsam gegen Jesu soziale Lehre erleidet. Wäre der soziale Fortschritt fest und standhaft auf dem höheren Niveau geistiger Erziehung weitergegangen, so würde wenig Grund vor-

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gelegen haben, jenen Fortschritt auf das niedrige Niveau industrieller Revolution zu übertragen. "Was konnten einfache Menschen anders tun, als den Sozialismus zur wirklichen Religion machen, da sie in der Religion nichts Wirkliches fanden. "Wir stehen hier vor einer Alternative. Die Empörung der arbeitenden Klassen ist ein pathetischer Versuch, einen Ersatz f ü r den religiösen Glauben zu finden, und die einzig wirksame Art jener Empörung zu begegnen, ist der Beweis, daß die christliche Religion verständig, praktisch, wirtschaftlich berechtigt ist, und in sozialer Hinsicht erlösend wirkt 7 ). Das schcint auch der Rat zu sein, den uns Jesu Lehre in Bezug auf viele Formen der modernen Industrie gibt. E r überblickt die wirtschaftlichen Probleme von oben und erkennt, daß Treue in industriellen Dingen den Weg zum Reiche Gottes eröffnet; er nähert sich den wirtschaftlichen Problemen von innen und findet den Schlüssel zu ihrer Lösung im Charakter; schließlich schildert er mit triumphierender Hoffnung wie das tätige Leben der Handelswelt in den göttlichen Prozeß geistiger Erziehung aufgenommen wird und sich auf dem höheren Niveau eines sozialen Idealismus weiter bewegt, der Verwirklichung von Gottes Reich entgegen. Beim Beginn dieses Kapitels haben wir jedoch schon darauf hingewiesen, daß das Problem industrieller Form keineswegs die ganze industrielle Frage ausmacht, sondern daß hinter den jetzt vorgeschlagenen Formen der sittliche Geist der jetzigen Bewegung liegt, und dieser gibt manchem, der Form nach irregeleiteten und unreifen Plan Kraft und Leidenschaft. Wir müssen deshalb noch das Verhältnis von Jesu Lehre zum herrschenden Geist des heutigen, industriellen Lebens betrachten und die Gründe und Leidenschaften erwägen, auf die er für den industriellen Fortschritt baute.

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Die erste geistige Eigenschaft der Lehre Jesu, die sich auf die moderne Industrie anwenden läßt, haben wir schon in seinen Äußerungen über das Reich Gottes bemerkt. Diese Erfüllung seines Ideals hat Jesus vorweggenommen, mit einer beständigen Hoffnung, die vielen in seiner Umgebung wie eine Don Quixoterie erschienen sein muß. Angesichts der ernstesten Hindernisse und Mißverständnisse verkündet er: „Das Reich G-ottes ist nahe zu euch gekommen" (Luk. 10, 9), „das Reich Gottes ist inwendig in euch" (Luk. 17, 21), „etliche sind . . . . die den Tod nicht schmecken werden, bis daß sie das Reich Gottes sehen" (Luk. 9, 27). Das bedeutet, daß Jesus der ausgesprochenste Optimist ist. Er sitzt mit seinen Freunden am Brunnen Jakobs und beobachtet die Landleute, wenn sie im Frühling das fruchtbare Feld pflügen, und er stellt den langsamen Prozeß der Jahreszeiten dem unmittelbaren Reifen seines eigenen "Werkes gegenüber. „Sagt von unserer Mission nicht, so spricht er zu seinen Jüngern, wie der Landmann von seiner Arbeit sagt, daß erst Monate vergehen müssen ehe die Ernte kommt; richtet euren Blick über dieses Tal hinaus auf das Feld der Welt, welches schon weiß zur Ernte ist" (Joh. 4, 35). Wie unvernünftig und übertrieben muß solcher Optimismus manchem erschienen sein, der die Zeichen der Zeit verständig beobachtete! Wie matt war in der Tat der Willkommensgruß, den man Jesu Lehre wirklich bot! Wie bald sollte er Niederlagen erleiden, wie bald sollte Mehltau darauf fallen wie auf den Samen, den man in unfruchtbarem Sandboden gesäet hat. Wie bald sollte das Feld seiner Mission, von dem Jesus sagte, daß es weiß zur Ernte wäre, ein Haceldama, ein Blutfeld werden. Jedoch wie unentwegt wurde Jesus bei jedem Schritt in seiner Art geleitet von unbesiegbarem Optimismus. Er glaubt an Menschen, die nicht an sich

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selbst glaubten. Er entdeckte G-utes in Menschen, die sich selbst unwiderruflich schlecht vorkamen. Er verzieh den Menschen, die von den Verständigen verurteilt waren. Er spornte die Menschen an so zu sein, wie er sie zu sehen wünschte. Der schwankende, unbeständige Petrus muß sich selbst viel mehr wie Triebsand als wie ein starker Fels vorgekommen sein; Jesus aber entdeckt in jener schwächlichen Nachfolge eine darunterliegende Anlage auf Kraft, und er ruft Petrus, daß er ein Fels werde wie sein Name es sagt, und der Charakter des Jüngers wird stark und beständig, da des Herrn Vertrauen und Hoffnung ihn berührt. Schließlich vertraut Jesus mit erhabenem Optimismus seine ganze Lehre den Nachfolgern an, von denen er wohl wußte, daß sie das von ihm Gehörte nur unvollkommen verstanden. Er ist gewiß, daß der heilige Geist sie eines Tages in die Wahrheit führen und ihnen alles das ins Gedächtnis zurückrufen wird, was er zu ihnen gesagt hat (Joh. 16, 13; Joh. 15, 26). Er läßt sich nicht dadurch entmutigen, daß viel kostbarer Same verloren wird (Matth. 13, 4—7), daß taube Ähren zwischen dem Korn wachsen (Matth. 13, 25 u. 26), daß die Haushalter ungetreu (Matth. 25, 24—28), die Klugen und Verständigen unempfänglich (Matth. 11, 25) und selbst die Freunde treulos sind (Matth. 26, 21). Zuweilen bricht seine Hoffnung in glühenden, orientalischen Bildern voll mächtiger Begeisterung hervor. „Des Menschen Sohn kommt," spricht er, „in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln" (Matth. 16, 27), „denn gleich wie der Blitz ausgehet vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes" (Matth. 24, 27). „Darum von nun an wird des Menschen Sohn sitzen zur rechten Hand der Kraft Gottes" (Luk. 22, 69). Kurz, durch alle Hindernisse hindurch, die Bi-

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gotterie, Dummheit, Hartherzigkeit, Heuchelei und die Geistlichkeit ihm in den Weg legen, bleibt Jesus beständig Optimist und vertraut darauf, daß die Welt um ihn herum bereit ist seine Botschaft aufzunehmen und daß die Fülle der Zeit gekommen ist. Wenden wir uns von dieser Eigenschaft in der Lehre Jesu dem Geiste zu, der in der modernen, industriellen Bewegung herrscht, so sehen wir darin eine Mischung verschiedener Züge. Der Optimismus, der einerseits darin herrscht, ist ebenso groß wie der, mit dem Jesus die Zeichen seiner Zeit überblickte. Es gibt in der Tat viele Beobachter, die in der jetzigen sozialen Ordnung durchaus keinen Grund zu sozialer Hoffnung sehen. Die fieberhafte Hast und die tumultuarische Agitation unsrer Zeit erscheinen vielen als Zeichen von sozialem Bankerott und wachsendem Wirrwarr. Sie ziehen sich von dieser verfallenen Zivilisation in das Klosterleben einer kommunistischen Gemeinde zurück oder richten ihren Widerspruch gegen die ganze Tendenz der modernen Gesellschaft, oder sie sitzen am Ufer des dahinjagenden Stromes, der das moderne Leben ausmacht, und planen eine unmögliche Ablenkung seines Laufes oder ein Hemmnis seines Stromes. Allein diese Sinnesart — der Geist sozialer Reaktion oder Verzweiflung — liegt dem Geist des wissenschaftlich gebildeten Sozialisten so fern wie möglich. Er hegt durchaus keinen Wunsch, sich von den Tendenzen des modernen Wirtschaftslebens zurückzuziehen oder sogar seinen Wirkungen entgegenzuarbeiten. Im Gegenteil; er heißt die wachsende Verworrenheit des industriellen Lebens freudig willkommen, da sie schon durch sein Evangelium prophezeit wurde. Im Sinne des lebendigsten Optimismus lehrt er seinen Glauben. Er betrachtet die sozialen Verhältnisse unsrer Zeit nicht als Zeichen wachsenden Übels

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sondern als wesentliche Präliminarien jener bessern Zukunft, die bald kommen soll. Sie bilden eine Phase sozialer Entwicklung, die für den Fortschritt wichtig ist, die aber ihrerseits bestimmt ist zu verschwinden. Selbst jene wirtschaftlichen Tendenzen, die von vielen Reformern mit Unruhe betrachtet werden, tragen, wenn man sie vom Standpunkt des folgerichtigen Sozialisten aus ansieht, nur zu dem einen großen Ziele bei, dem die ganze soziale Entwicklung entgegenarbeitet. Die ungeheuren Kapitalanhäufungen, die die industrielle Demokratie zu bedrohen scheinen, sind in Wahrheit nur Vorläufer, die ihr den Weg bereiten. Laßt die Zentralisation der Kontrolle, so sagt man, fortschreiten, laßt Trust zu Trust gefügt werden, bis das industrielle Leben zu einem ungeheuren Monopol wird, dann wird die Zeit reif sein für den kommunistischen Besitz; die Produzenten werden endlich den Mechanismus in Besitz bekommen, der sie erdrücken sollte, und aus der Welt anscheinenden Übels wird eine vollkommen gute Welt hervorgehen. Die soziale Entwicklung wird vollendet sein, wenn die Demokratie, die schon gelernt hat sich selbst zu beherrschen, es dahin bringen wird für sich selbst zu produzieren. Den Sozialisten hält eine größere Hoffnung sozialen Wandels aufrecht, als die Welt sie seit Jesu Optimismus je gekannt hat, und er mag wohl dazu kommen, vertrauensvoll die Prophezeiung zu wiederholen: „Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld; denn es ist schon weiß zur Ernte." Anderseits liegt jedoch im modernen Sozialismus unter diesem Optimismus oft ein seltsam mißklingender Ton von sozialem Pessimismus. Der krankhafte Kleinmut und der rücksichtslose Cynismus, die die moderne Literatur zum großen Teil beflecken, scheinen besonders durch Pläne sozialer Revolution angezogen zu werden.

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Es läßt sich eine Verwandtschaft zwischen literarischer und sozialer Bilderstürmerei beobachten8). Der G-laiibe, daß moderne Sittlichkeit nur ein verkleideter Animalismus und moderne Wissenschaft nur ein Gewebe konventioneller Lügen ist, bringt uns zu dem weiteren Glauben, daß unsre soziale Ordnung verdammt ist, und daß eine soziale Sündflut nahe bevorsteht. Dieser soziale Pessimismus wird von den Verkündern des sozialen G-laubens genährt. Weshalb sollten wir uns bemühen die jetzige soziale Welt zu bessern, so fragt man, wenn wir doch alle soziale Hoffnung auf das eine große Ziel der Revolution gerichtet haben? Wäre es nicht besser, wir ließen die jetzige soziale Ordnung immer tiefer sinken, damit sie schließlich durch den Druck des eigenen, innewohnenden Übels von innen zertrümmert würde, und sich aus ihren Trümmern dann die Demokratie der Arbeit erhöbe? Unter den ersten Christen gab es viele, die in ähnlichem Sinne „des Endes der Welt" warteten (Matth. 24,3). Sie glaubten, daß bald eine Sintflut kommen, in der das ganze Gebäude der damaligen Zivilisation verschwinden würde, und die, die diesen Glauben hegten, bekümmerten sich wenig um die vorübergehenden Erscheinungen politischer oder wirtschaftlicher Reform, sondern zogen sich von einer untergehenden Welt zurück und bereiteten sich für den großen Tag des Herrn. Eine Eigentümlichkeit unterscheidet jedoch den neuen, sozialen Pessimismus deutlich von den geistigen Vorahnungen der ersten Christen. Sie lebten im Lichte der Wiederkunft ihres Herrn, und keine Lehre wies sie auf soziale Zerstörung oder auf positiven Widerstand gegen die soziale Ordnung hin; der moderne Revolutionär ist in erster Linie ein Feind der bestehenden Dinge und vermag seinen Glauben oft nur so weit zu verfolgen, als es sich um die Lehre von der

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Zerstörung handelt. Sozialer Wiederaufbau ist ein zu ferner und unbestimmter Traum, um auf die Vorstellung einfacher Menschen zu wirken; aber soziale Obstruktion und die Zerstörung der bestehenden, sozialen Ordnung mit ihren sichtbaren Mängeln und Fehlern, machen ein leicht verständliches Programm aus. Die erste Lehre im Katechismus der industriellen Revolution ist also ein Unterricht im Klassenhaß. Nichts Gutes kann auf die Dauer von der Klasse der Arbeitgeber, so sagt man, erwartet werden, mögen ihre Glieder auch noch so vortrefflich sein; keine, aus einem sozialen Umsturz hervorgehende Einrichtung kann für den Arbeiter schlimmer sein als die bestehende Ordnung. „Die Zivilisation," so hat man mit tiefer Erregung gesagt, „verweigert dem Menschen das Recht schuldlos zu leben . . . . Was ich auch tue, wohin ich mich wende, ich kann weder meine Familie nähren noch sie kleiden, noch als Bürger an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen, noch die Wahrheit sagen, wie ich sie auffasse ohne mich mit dem Blut meiner Brüder und Schwestern zu beflecken"9). Aus dieser Klage des sozialen Pessimismus hören jedoch viele verständige Arbeiter einen falschen Ton heraus. Es ist ihnen vollkommen klar, daß der Maßstab des Lebens und die Erwerbskraft der, um Lohn arbeitenden Klasse, trotz industriellen Drucks und industrieller Ungerechtigkeit unverkennbar im Steigen ist. Das Zeitalter der Maschine hat es möglich gemacht, den Lebensunterhalt in wenigen Stunden und mit weniger Mühe zu erwerben, als es jemals früher geschehen konnte. Das allgemeine Streben im industriellen Leben geht dahin, fähige Arbeiter nicht hinab, sondern hinaufzutreiben und die niederen Plätze mit weniger fähigen zu füllen, die ihrerseits den wirtschaftlichen Fortschritt in dem Zug nach oben fühlen10). Peabody, Jesus Christas und die soziale Frage.

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Ein industrielles Programm, das von vornherein die jetzige soziale Ordnung als hoffnungslos schlecht ansieht, kann nicht über die Treue derer gebieten, deren Erfahrung eine soziale Hoffnung rechtfertigt. Es erscheint ihnen durchaus nicht gewiß, daß eine industrielle Katastrophe größere Segnungen herbeiführen wird als der langsame Prozeß sozialer Entwicklung. Kurz, alle, die bei der jetzigen Ordnung etwas aufs Spiel zu setzen haben, zaudern, sich einem Evangelium des sozialen Verfalls und der Verzweiflung anzuvertrauen, und überlassen es den Unbeteiligten, Gewissenlosen, Unwissenden oder Akademikern den Glaubenssatz vom sozialen Pessimismus zu predigen. Der Geist der jetzigen industriellen Bewegung hat also in einer Hinsicht eine wunderbare Ähnlichkeit mit dem Geiste Jesu, während er ihm in andrer Hinsicht durchaus entgegengesetzt ist. In ihren Zwecken wird diese Bewegung von demselben vertrauensvollen Idealismus beherrscht, aber auf ihren Wegen ist wenig von jenem Glauben zu finden an die Tätigkeit des einzelnen Menschen und an die Möglichkeiten, die die Welt bietet, die einst Jesu Lehre so gesund machte. So werden Jesu Nachfolger von dem sozialistischen Programm bald angezogen, bald abgestoßen. Der Traum von einer industriellen Welt, in der größere Gerechtigkeit herrscht und in der sich mehr Chancen bieten, erscheint wie eine Erneuerung der Vision vom Reiche Gottes; aber der Geist, der soziales Mißtrauen und soziale Verzweiflung nährt, findet keinen Platz im Evangelium vom Himmelreich. Den Menschen, die in christlicher Überlieferung erzogen sind, fällt es ebenso schwer an ein Reich menschlicher Gleichheit und Brüderlichkeit zu glauben, das durch das freie Spiel von Leidenschaft und Haß herbeigeführt wird, als daß die schlechte Welt durch einen äußeren Plan in

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eine liebevolle und schöne umgewandelt werden könnte! Sozialer Pessimismus läßt sich nicht leicht mit sozialer Hoffnung vereinen. Jesu Optimismus dagegen ist beständig und fest. Er wandelt die Welt um, weil er für die "Welt hofft. Der Sozialismus schwärzt den Charakter der wirklichen Welt, um den Gegensatz zwischen ihr und seinem Ideal mehr hervorzuheben; Jesus erleuchtet die wirkliche Welt und macht sie zum Werkzeug seines Ideals. Es ist natürlich, daß die Botschaft des Optimisten einen Widerhall im menschlichen Herzen findet, denn sie bringt das, was besser ist als soziales Glück — die Gabe der Hoffnung. Die Fülle der Zeit kam in Jesu Lehre, weil Jesus für seine Zeit eine Fülle von Hoffnung hegte. Wodurch wurde nun, so fragen wir weiter, Jesu Hoffnung für die Welt gerechtfertigt? Es war der Hauptzweck unserer Forschung, zu zeigen, daß sie durch das Vertrauen gerechtfertigt wurde, das Jesus in die Fähigkeit der menschlichen Seele setzte. Wenn er nur ein paar einzelne Menschen so begeistern kann, daß sie an ihm und seiner Hoffnung mit unwandelbarer Treue festhalten, so scheint ihm die Welt und ihre Erlösung gesichert. „Alle Dinge sind möglich," sagt er, „dem der da glaubet" (Mark, 9,23). „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1. Joh. 5, 4). Seine bängste Frage an die Jünger lautet: „Glaubet ihr jetzt?" (Joh. 16, 31). Der Glaube ist die Gabe, die seine Jünger bald am sehnlichsten von ihm erbitten. „Stärke uns den Glauben" (Luk. 17,5), sprachen sie. Das Werkzeug, das er zur Umwandlung der Welt benutzen wollte, war die Macht persönlichen Glaubens. „Wenn ihr Glauben habt und saget zu diesem Maulbeerbaum: Reiße dich aus und versetze dich ins Meer! so wird er euch gehorsam sein" (Luk. 17,6). Das ist die zweite Eigenschaft, 17»

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die Jesu soziale Lehre beeinflußt. Er blickt mit Hoffnung auf die Welt, weil er durch den Glauben auf sie wirkt. Wir haben schon gesehen, daß seine soziale Lehre mit dem einzelnen Menschen beginnt, und daß er in dem Wachsen des Charakters den Schlüssel zu den Verhältnissen findet. Wir dürfen jedoch nicht dies Charakterzeichen seiner Lehre wie eine Methode oder ein Programm betrachten, sondern wie eine geistige Einheit, eine herrschende Leidenschaft, ein Werkzeug zum sozialen Dienst. Jesus wollte seinen Nachfolgern in erster Linie sittlichen Mut und ein Gefühl geistiger Kraft mitteilen. Er wurde von dem Gefühl bewegt, daß der Verfasser von Ecce Homo bezeichnend „den Enthusiasmus der Menschlichkeit" nennt. Er hatte eine Leidenschaft für die Persönlichkeit. Durch die Berührung mit seinem Geiste wurde den Menschen ihr eigenes Herz offenbar, und zwar von der Zeit an, wo von ihm prophezeit wurde „auf das vieler Herzen Gedanken offenbar werden" (Luk. 2,35), bis zu dem Tage, an dem die Jünger nach Emmaus gingen und sprachen: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege?" (Luk. 24,32). Soziale Erlösung, sagt Jesu Lehre, beginnt damit, daß man dem Menschenleben den Geist eines lebendigen Glaubens mitteilt. Wie verhält sich nun jenes zweite charakteristische Zeichen von Jesu Geist zum Geist des modernen, industriellen Lebens? Unterschätzt oder ignoriert Jesu Lehre, da sie sich selbst hauptsächlich an den einzelnen Menschen wendet, die Anstrengungen der modernen Welt die die äußeren Verhältnisse bessern will. Im Gegenteil, Jesu Lehre begrüßt, wie wir schon gesehen haben, freudig jeden industriellen Wechsel, der in irgend einer Weise Menschen schafft, den Spielraum für persönliche Initiative erweitert oder persönliche Fähigkeiten entdeckt und be-

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festigt. Jesus ist jedoch kein Lehrer industrieller Mechanik sondern ein Lehrer geistiger Dynamik. Die Ausgleichung wirtschaftlicher Verhältnisse ist für jedes neue Zeitalter ein neues Problem des sozialen Mechanismus und muß durch neue Pläne gelöst werden, über die Jesus unmöglich etwas sagen konnte; aber das Ziel, um dessetwillen man diese wechselnden Formen des sozialen Mechanismus ersonnen hat, ist für alle Zeiten dasselbe. Es ist die Produktion von Persönlichkeiten, die Erschaffung von Menschen. Jeder wirtschaftliche Plan sieht sich früher oder später vor diese Probe gestellt und trifft an diesem Punkt mit Jesu Lehre zusammen 11 ). Man beobachte nun z. B. die Wirkung dieses Prüfsteins auf geringere Fragen des wirtschaftlichen Lebens. Man hat in letzter Zeit viel über den "Wert der Sparsamkeit hin- und hergeredet. In weniger vorgeschrittenen Zeiten wurde die Sparsamkeit für eine elementare soziale Tugend gehalten. Junge Leute wurden durch Lob und Belohnung und die Erwachsenen durch die Einrichtung von Sparkassen zu dieser Tugend ermuntert. Nun sagen uns jedoch die radikalen Reformer, daß die Gewohnheit des Sparens durchaus nicht als unbestrittener, sozialer Vorteil, sondern eher als ernste, soziale Gefahr zu betrachten ist. Der, sagt man, welcher imstande ist, von seinem jetzigen Verdienst Ersparnisse zu machen, wird kaum einen größeren Verdienst verlangen. Er wird eher mit dem jetzigen Stand der Dinge zufrieden und einem gänzlichen Wandel der sozialen Verhältnisse abgeneigt sein. Je mehr seine Ersparnisse zunehmen, desto konservativer wird sein sozialer Glaube werden; er wird sich von den Bestrebungen des um Tagelohn arbeitenden Klasse lösen und auf die Seite derer treten, die die soziale Ungerechtigkeit immerwährend erhalten wollen. „Wir lehren unsere Leute," sagte

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kürzlich ein Arbeiterführer, „daß Sparsamkeit keine Tugend ist." „Sparsamkeit," sagt John Burns 1894 auf dem Kongreß des Handelsvereins, „wurde erfunden durch kapitalistische Schurken, um ehrliche Narren des ihnen zukommenden Maßes an Wohlstand zu berauben, sodaß ihre Bilanz auf der Bank im Verhältnis stände zu der Kapazität der Arbeiter, je nach dem diese zulassen, daß man sie ihres Anteils an nationalem Wohlstand beraubt." Wie urteilt nun die Lehre Jesu über eine solche industrielle Frage? Jesus, müssen wir antworten, geht auf die Wirtschaftslehre von der Sparsamkeit nicht ein, wie er überhaupt kein soziales Programm entwirft; aber als Erzieher des persönlichen Lebens bietet er eine Lehre, die einen bestimmten Einfluß hat auf die sittliche Wertung des Sparens. Wenn diese Lehre uns ermutigte zum Sparen, so würde sie es nicht tun, weil dadurch viel G-eld erworben wird, sondern weil dadurch bessere Menschen erzogen werden. Die Sparsamkeit ist nicht in erster Linie dadurch gerechtfertigt, um das Guthaben auf der Bank größer zu machen, sondern um Menschen zur Sparsamkeit zu erziehen. Durch die Gewöhnung des Sparens können die Kinder der Reichen wie der Armen in Vorsorge, Selbstachtung und weiser Großherzigkeit unterwiesen werden. Befördert ein Wirtschaftsprogramm nicht Mäßigkeit, Klugheit und Selbstzucht, so wird es keinen wesentlichen Platz in der Zukunft der Gesellschaft finden; denn keine industrielle Lage der Zukunft, in die unklugo und verschwenderische Gewohnheiten eingeführt werden, kann dauernd gedeihen. Der Mensch, der kein hochzeitlich Gewand anhatte, fand keine Befriedigung am Hochzeitsfest. Hier sehen wir einen der vielen industriellen Aussprüche, in denen sich uns sowohl die Ähnlichkeit wie der

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Gegensatz zwischen der Lehre Jesu und den modernen Tendenzen des "Wirtschaftslebens offenbart. Jesu Lehre hält nicht den "Wohlstand, sondern den Charakter für das Ziel wirtschaftlichen "Wandels. Sie bemüht sich nicht, das Leben leicht und weich, sondern die moralische Fiber hart und stark zu machen. "Weisen viele Reformer mit vollem Recht auf die Wirkung hin, die bessere wirtschaftliche Verhältnisse auf den Charakter ausübten, so lenkt Jesu Lehre die Aufmerksamkeit auf die wunderbaren Siege, die unter den ungünstigsten wirtschaftlichen Verhältnissen von glaubensstarken Männern errungen worden sind. Nicht jene Gegenden der Erde, wo die Natur am freundlichsten und die Arbeit am wenigsten zwingend war, erfreuen sich des größten wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern die, die in hartem Kampf Männer hervorgebracht haben. Nicht die sonnigen Abhänge Italiens und Spaniens, nicht die unglaubliche Fruchtbarkeit Ägyptens, noch die mühelos erlangten Ernten der Tropen haben eine Gewähr für industrielles Glück geboten, sondern der endlose Kampf, den Holland mit dem Meere und Deutschland mit überlegenen Feinden auszufechten hatte, der Zwang, der Großbritannien durch seine Inselgestalt auferlegt wurde und der rauhe Boden und das harte Klima, mit dem Neu-England rechnen muß. „Was zieht ihr auf diesem Sand und auf diesem Felsen?" fragte einst ein Reisender im Lande der Pilger. Und die Antwort lautete: „Wir ziehen Männer!"12) Das ist der Geist der Lehre Jesu. Er steht der Verbesserung der Verhältnisse nicht gleichgültig gegenüber; im Gegenteil, die meisten Unternehmungen, die Erbarmen und Gerechtigkeit in das industrielle Leben gebracht haben, sind durch die Begeisterung hervorgerufen worden, die seine Lehre erweckte. Jene industriellen Unter-

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nehmungen, in Jesu Sinne aufgefaßt, treten nicht als mechanische Pläne, sondern als geistiges Verlangen auf. Der Mensch träumt von einem industriellen Verhältnis, das Jesu Lehre verwirklichen soll, und dann fährt er fort seinen Glauben durch seine Werke zu zeigen. Die Auffassung des Geschäftslebens Jesu ist ein Ausdruck des persönlichen Ideals. Hinter dem System steht der glaubensstarke Mensch1S). Wenn des Menschen Sohn kommt, wird er nicht zuerst nach Methoden wirtschaftlicher Verteilung ausschauen, sondern er wird sehen, ob er auch „werde Glauben finden auf Erden" (Luk. 18, 8). Wie wird sich nun, so fragt man schließlich, der Geist der Lehre Jesu praktisch offenbaren? Was wünscht der Mensch zu tun, der durch Jesu Optimismus zu neuer Hoffnung erweckt worden ist, in dem durch Jesu Art eine neue Kraft des Glaubens erwacht ist? Die Antwort auf diese Frage bringt uns zur letzten Forderung der sozialen Lehre Jesu, zu dem großen Wort „Dienst" oder zu dem anderen, noch größeren Wort, das durch christliche Sentimentalität mißbraucht worden ist, zu dem Wort „Liebe". „Ich aber bin unter euch," sagt Jesus, „wie ein Diener" (Luk. 22,27). „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene" (Matth. 20,28). „Und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht" (Matth. 20, 27). „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Diener seid, so ihr Liebe unter einander habt" (Joh. 13,35). Jesu Lehre sagt, daß das Ergebnis, was wir jetzt Erfolg nennen und was das Evangelium als „Herrlichkeit" bezeichnet, in der Fähigkeit und Bereitwilligkeit des Dienens besteht. Wodurch bezeugt Jesus, der wohl weiß, daß der Vater ihm alles in seine Hand gegeben hat (Joh. 3,35) und daß er von Gott kommt und zu Gott geht, uns seine erhabene Führer-

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schaft? Er legt die Kleider ab und wäscht den Jüngern die Füße, und als er diesen niedrigen Dienst verrichtet hat, spricht er: „Nun ist des Menschen Sohn verkläret und Gott ist verkläret in ihm" (Joh. 13,31). Neben das Symbol des Abendmahls sollte man dies andere Symbol des christlichen Lebens, das Symbol des Dienens stellen. Das eine ist das Zeichen der von Jesu stammenden Kraft, das andere ist das Zeichen des von Jesus inspirierten Dienens. Der entscheidende Beweis christlicher Jüngerschaft besteht in der Fähigkeit und Bereitwilligkeit, sich zu beugen und zu dienen. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe" (Joh. 13,15). Mit dieser letzten Eigenschaft von Jesu Lehre wenden wir uns nun den Methoden des heutigen industriellen Lebens zu und gewinnen zuerst den Eindruck, als gäbe es für die Beiden keinen gemeinsamen Boden. Wo finden Worte wie „Dienst" und „Liebe" einen Platz in dem kämpfenden Wettbewerb der Geschäftswelt? Was ist die Geschäftswelt in der Tat anders als ein gewaltiges Schlachtfeld wohlorganisierten Selbstinteresses, ein Spieltisch mit ungeheuren Einsätzen, eine Lotterie, in der einige große Gewinne hundert fiebernde Opfer anreizen zu wagen und zu verlieren. Wie seltsam würden mitten im Geschäftsleben die großen Worte klingen: „Und wer da will der vornehmste sein, der sei euer Knecht" (Matth. 20,27). Was für ein sonderbares Motto für ein Geschäftshaus würden die Worte sein: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr kluge Geschäftsleute seid, so ihr Liebe untereinander habt." Ist nicht anderseits die leidenschaftliche Hoffnungslosigkeit durchaus gerechtfertigt, die in Christi Namen ruft: „Nur die größte sittliche Unwissenheit kann von einem christlichen Geschäftsleben sprechen, denn Geschäft ist schon an sich schlecht;

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einen ethischen Handel gibt es nicht ehrliche Güter kann man weder kaufen noch verkaufen der entsetzliche, industrielle Krieg läßt das industrielle System wie einen Triumph der Hölle, wie einen Wahnsinn auf Erden erscheinen14). Es ist schon wahr, lautet die Antwort, daß die Welt der Industrie reich ist an dauernden, feinen Versuchungen, wie Selbstsucht, Ehrgeiz, Grausamkeit und Glaubenslosigkeit. Das Geschäftsleben der modernen Zeit ist für viele Menschen das, was der hohe Berg für Jesum war, — der Ort, wo der Teufel die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit ausbreitet und spricht: „Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest" (Matth. 4, 9). Wir müssen zugeben, daß kein Mensch eine Geschäftsangelegenheit weise behandelt, wenn er sich nicht täglich klar macht, daß er wahrscheinlich jeden Augenblick vom Teufel versucht werden wird. Durch alles dies ist jedoch nicht gesagt, daß die Geschäftswelt ihrer Natur nach unwiderruflich verdorben ist, und daß es unmöglich ist, ein christliches Geschäftsleben oder einen auf Sittlichkeit ruhenden Handel zu führen. Im Gegenteil; es gibt in der Geschäftswelt viele Punkte, — Punkte, die von den sozialen Reformern in der Regel kaum in Anschlag gebracht werden, — wo die Ethik und die Religion wesentlich dazu beitragen, die moderne Industrie zu bilden und zu leiten. Wenn wir uns zunächst einen Augenblick von den Motiven und Leidenschaften der einzelnen Geschäftsleute lösen und die Organisation des Geschäfts im allgemeinen überblicken, die Gesamtheit ihrer Arbeit und ihrer Ergebnisse, so erkennen wir, im Gegensatz zu der Behauptung, daß ihr Plan auf Zerstörung und sozialen Raub ausgehe, eine ungeheure komplizierte Bewegung sozialen Dienstes. An der Oberfläche der Geschäftswelt

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finden wir Verschrobenheit und Gier genug, wie ja auch ein Strom Unrat und Abschaum an der Oberfläche mit sich treibt; aber der Strom selbst führt, während er durch das Leben unsrer Zeit hindurch fließt, in seinem Laufe nichts mit sich, was unser Zeitalter vergiftet, sondern nur etwas, was seine Bedürfnisse befriedigt. Die Bildung neuer Geschäftsformen geht in der Regel nicht aus dem Wunsche hervor, die G-esellschaft zu berauben, sondern ihr zu dienen, und das sind im Grunde die lohnendsten Geschäftsformen, die auf die Beurteilung wahrer Bedürfnisse und die Ermöglichung wahrer Segnungen gegründet sind. Die erstaunliche Vermehrung der Produktion, die durch das moderne Maschinenwesen bewirkt ist, strebt im großen und ganzen auf dasselbe große Ziel sozialen Dienstes hin. Genug Trauerspiele von persönlichem Verlust sind durch die verbesserten, mechanischen Methoden verursacht worden, als wäre die Maschine dazu bestimmt, die in ihren Rädern gefangenen Arbeiter zu zermalmen; dennoch tritt nichts klarer zu Tage, als daß das Maschinenwesen durch die ungeheuer billige Produktion eher des Armen Freund als dessen Feind ist. Mögen auch die zeitweisen Erfolge, die den natürlichen Gesetzen des Geschäfts zum Trotz errungen werden, überraschend sein, im ganzen ist die Bewegung der Industrie doch eine Bewegung zum Guten. Der Nordpolforscher Nansen vollendete sein Werk dadurch, daß er dem Polarstrom folgte, und sich von seinem Laufe weitertreiben ließ. I n derselben Weise überläßt sich der weise Geschäftsmann dem großen Strome menschlicher Bedürfnisse und vereint sich mit Gott zur Arbeit. I n der Tat gibt es viele Wege, auf denen das sittliche Ziel der Industrie durch unbewußte und selbst widerwillige Werkzeuge erreicht wird, daß es uns oft wie eine Ironie der Vorsehung vorkommt.

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Mancher in Geschäfte verwickelte Mensch ist sich nicht bewußt, daß er einen sozialen Dienst leistet, er versucht vielleicht sogar, der sozialen "Welt einen Vorteil abzuringen oder ihr ein Unrecht zuzufügen; das Prinzip des Dienens aber macht oft den selbstsüchtigen und gierigen Menschen nutzbar und verwandelt das Böse desselben in Gutes, sodaß ein für die gemeinsten Zwecke ersonnenes Unternehmen in seiner Absicht besiegt wird und schließlich zum allgemeinen Wohl beiträgt. Noch beachtenswerter als dieser mit oder ohne Bewußtsein geleistete Dienst ist eine andere sittliche Eigenschaft, die in der Geschäftswelt deutlich zu Tage tritt. Es ist gewiß wahr, daß es dem im industriellen Leben herrschenden Maßstab an manchen feineren und zarteren Zügen sozialer Moral gebricht, aber nichtsdestoweniger gibt es im geschäftlichen Leben bestimmte Sittengesetze, die ihre eigenen Charakterzeichen haben und die von dem Geschäftsmann unbedingten Gehorsam verlangen. Die Methoden des Geschäftslebens sind oft hart und ungerecht, aber Wahrheit, Ehre, Treue und Zuverlässigkeit sind Eigenschaften, die im Geschäftsleben hochgehalten werden. In der Tat, blicken wir unter die Oberfläche des Geschäftslebens, so gewinnen wir den Eindruck, daß sogar sein Dasein und seine Fortdauer auf gewissen moralischen Voraussetzungen beruht, und daß es sittliche Eigenschaften in den Menschen erzieht, die in dem Maße sonst nirgend entwickelt werden. Den Menschen, die Vorschläge für die Reform sozialer Moral machen, fehlt es oft an gewissen Tugenden, die für das Handelsleben unbedingt notwendig sind. Die Reformer pflegen die weicheren Gefühle von Sympathie, Großmut und Aufopferung als die höchsten moralischen Eigenschaften hinzustellen, aber in der Abwägung ihrer Worte und der Erledigung ihrer geschäft-

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liehen Verpflichtungen sind sie nicht immer gewissenhaft; anderseits sind die in der Geschäftswelt lebenden Menschen oft in ihrem moralischen Horizont begrenzt und langsam in ihren moralischen Gefühlen, aber dennoch sind sie die Hauptvertreter und Erhalter der elementaren, sozialen Tugenden. Für eine Menge solcher Menschen besteht das Gesetz eines guten Lebens tatsächlich nur in der Aufrechterhaltung ihres Kredits und in unbedingter Wahrhaftigkeit. So kommt es, daß Geschäftsverhandlungen von außerordentlichem Umfang durch ein Wort oder nur durch ein Zeichen bestimmt werden, und daß die Sicherheit unseres ungeheuren Mitteilungswesens der absoluten Treue irgend eines unbekannten Angestellten am Telephontisch oder an der Eisenbahnweiche anvertraut wird. Je mehr das Geschäft sich herausarbeitet, desto abhängiger wird es von jenen sittlichen Eigenschaften. Von dem Lenker des Motors wird mehr Treue und Besonnenheit verlangt als von dem Droschkenkutscher, von dem modernen Mechaniker mehr Zuverlässigkeit als von dem einfachen Handwerker, den er abgelöst hat. Für die große Mehrzahl derer, die in der Geschäftswelt arbeiten, ist es ein besseres Kapital, sittlich unverdorben als geistig klug zu sein. Die erste Frage eines Arbeitgebers, der sich nach einem Stellensuchenden erkundigt, lautet nicht: Ist dieser Mensch schlau, gewissenlos und geschmeidig? Sondern: Ist er von untadeligem Charakter, kann man sich auf ihn verlassen, trinkt er? Insoweit wenigstens ist das moralische Leben zu einem deutlichen Element im industriellen Problem geworden, und in jeder industriellen Organisation, die den Bedürfnissen der Zeit entgegen kommen will, muß mit ihm gerechnet werden. Das moderne Geschäft ist nicht, wie es so oft geschildert wird, das Werk einer Horde von Seeräubern und Strandläufern,

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die auf eine Gelegenheit warten, den Unbedachten zu umstricken und zu berauben; es gleicht vielmehr dem rechtmäßigen Verkehr auf hoher See, wo viele Gefahren durch Sturm und Zusammenstöße entstehen und viel Unglück durch Verrat und Unbesonnenheit herbeigeführt wird, wo man aber doch im ganzen starke Männer zieht und die Arbeit der Welt tapferen Herzens vollbringt. Trotz der tückischen Versuchungen, an denen die industrielle Welt reich ist, haben Geist und Zweck des Geschäftslebens einen gewissen Berührungspunkt mit dem Geist der Lehre Jesu. Das Gesetz des Dienens, das er seinen Jüngern verkündet, ist in der Welt des konkurrierenden Handels kein völlig unbekanntes Gesetz. Es beherrscht die Organisation der Industrie im ganzen betrachtet, und es prüft eine Menge einzelner Menschen, die von seiner Beurteilung kaum etwas wissen. Was ist nun in Hinblick auf die industrielle Welt die Pflicht derer, die Jesu Lehre folgen wollen? Ihre Pflicht ist, sich nicht diesen Weg zu verschließen, auf dem der Geist des Dienens zum Ausdruck gebracht wird, und nicht skeptisch zu werden über die Möglichkeit eines solchen Ausdrucks, sondern sich vertrauensvoll und freudig den Geschäftsangelegenheiten hinzugeben, als der naheliegendsten Gelegenheit zum christlichen Leben. Das Problem eines in der Welt lebenden Christen besteht nicht darin, die Welt zu fliehen oder vor ihr auf der Hut zu sein, sondern die Welt zu besiegen. Werden ihm die Reiche der Welt gegenübergestellt, so verbirgt er sich nicht vor ihrer Versuchung, sondern er weist den Versucher zurück und fährt fort die Welt zu beherrschen, indem er ihr dient. Er wandelt, wie das Buch der Offenbarung sagt, das Reich dieser Welt in „das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus um" (Offenb. Joh. 11, 15).

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Das ist ein Prüfstein, den jeder auf sein eigenes Geschäftsleben anwenden mag. Werde ich. an meinem Platz und in meiner Stellung durch den Geist des Dienens bewegt? Trage ich zu der allgemeinen Bewegung der Industrie bei, die das Leben meiner Zeit hebt und verbessert, oder bin ich ein sozialer Schmarotzer oder Straßenräuber? Schaffe, verteile, verwalte ich so, daß ich mit Gott zusammen arbeite, oder beschmutze ich die Großherzigkeit der Natur und nähre mich vom Unglück der Schwachen? Das sind harte Fragen für viele, die durch die Leidenschaft des Handels oder die Sucht nach Gewinn verdorben sind; aber es sind Fragen, die die Mehrzahl der schwer arbeitenden Geschäftsleute zur Selbstachtung und Hoffnung zurückführen. Eine Menge solcher Menschen sind tief entmutigt und verwirrt, weil sie anscheinend die Hingabe ans Geschäft nicht mit der Treue gegen Christus vereinigen können. Sie wollen Nachfolger Jesu sein; aber sie müssen in der Welt der Industrie um ihren Unterhalt kämpfen und ihre Religion und ihr Geschäft, ihr Gottesdienst und ihre Arbeit scheinen hoffnungslos voneinander getrennt zu sein. Das ist der seelische Kampf, der in früheren Zeiten Tausende von gewissenhaften Seelen zum Klosterleben trieb. Sie konnten sich nicht zurecht finden, wo es galt, ihr eigenes Geschäft mit dem des Vaters zu vereinen. Was ist nun imstande, einem solchen geteilten Leben das Gefühl von Einheit wiederzugeben? Es ist der Geist des Dienens. Kann man aus dem Staub und der Unsauberkeit der Geschäftswelt aufblicken und ehrlich sagen: „Ich bin hier als ein Diener; ich lasse mir nicht dienen, sondern ich diene, ich nehme die Verantwortlichkeiten und Beschränkungen meines Geschäfts als einen Wegweiser an, der mir zeigt, auf welchem Platz in der Welt ich gebraucht werde und welche Arbeit in der

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Welt ich zu tun berufen bin," so gibt das manchem dunkeln, versuchungsreichen Leben Ruhe, Bedeutung und Würde. Der Soldat, der mitten in der Schlacht steht, erwartet nicht, daß ihm der ganze Feldzugsplan bekannt gemacht wird, auch hat er sich nicht für einen besonderen Dienst werben lassen. Er ist auf seinen bestimmten Platz gestellt; vielleicht steht er allein in der Reihe der Tirailleure, vielleicht in der festen Front des Hauptkörpers, vielleicht ist er, wie der Oberste im Evangelium, ein Befehlshaber, dem Soldaten unterstellt sind, auf jeden Fall aber hängt die Bewegung des ganzen Heeres in einem Punkte von ihm ab. Wenn er also mitten im Kampf steht, ist er da, wo ein tüchtiger Soldat zu sein wünscht, und er gibt sein Leben mit hoher und erhabener Freude seinem Beruf hin. Enthält solches Bild nun eine verkehrte Idealisierung des Kampfes und der Gier im industriellen Leben? Im Gegenteil; das industrielle Leben zeigt uns genau solchen Feldzug, in dem menschlicher Scharfsinn und menschliche Geschicklichkeit angeworben sind, um die Kräfte der Natur zu unterwerfen und nutzbar zu machen, und auf solchem Felde findet der gute Kämpfer Jesu Christi Gelegenheit zum Dienen. Der industrielle Krieg ist noch reich an niederen Kriegslisten und barbarischen Methoden, und die Folge davon sind Untreue und Revolution in den kämpfenden Reihen; aber dieser Mißbrauch der industriellen Gelegenheit dient nur dazu, uns die Aufgabe zu zeigen, die auf Jesu Nachfolger wartet. Der christliche Geschäftsmann wird nicht verwirrt und unterliegt nicht den Versuchungen. Der Geist des Dienens hält ihn auf seinem Posten fest. Er blickt von oben auf die geschäftlichen Dinge und sieht unter dem heftigen Wettkampf die Anzeichen von Brüderlichkeit und industriellem Frieden. Er

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nähert sich den industriellen Problemen von innen und ist überzeugt, daß ein wirtschaftliches, tausendjähriges Reich in erster Linie durch die weihevolle Hingabe der einzelnen Menschen herbeigeführt werden kann. In der Geschäftswelt erblickt er eines der wirkungsvollsten Mittel zur Fortführung von Jesu Lehre, — einen Platz, auf dem Lauterkeit, Treue, Geduld, Sparsamkeit und Standhaftigkeit unmittelbare Berechtigung haben und von großem Nutzen sind. Er sieht wachsam nach jedem Zeichen einer gerechten, industriellen Organisation aus, aber mit derselben Wachsamkeit benutzt er die moralischen Gelegenheiten, die ihm geboten sind, bis aufs äußerste. Er blickt voll Hoffnung auf die wirtschaftliche Welt und voll Glauben auf seine Mitmenschen, weil er sich beiden in dem Geist der Liebe naht. Ist denn solche Sinnesart so selten in der industriellen Welt? Hat der Teufel unserm Geschlecht denn die Reiche dieser Welt so überzeugungsvoll gezeigt, daß die Geschäftsleute wie mit einem Schlage niedergefallen sind und ihn angebetet haben? Im Gegenteil, hinter dem unersättlichen und gewissenlosen Geschäftsbetrieb birgt sich oft ein ehrenhaftes Leben, das die wirkliche Arbeit der Welt mit unbeachteter Hingabe vollbringt. Die Geschäftswelt gleicht einem Gebäude, dessen Eront durch augenscheinlich schlechte Arbeit so sehr entstellt ist, daß das ganze Bauwerk zu schwanken scheint. Die Säulen aber, die das Ganze stützen, sind glücklicherweise unbeschädigt. Man muß sich wohl schämen, daß das Gebäude nicht dauerhafter oder schöner ist, aber man braucht nicht zu fürchten, daß es fallen wird. Die Pfeiler des modernen industriellen Lebens sind fest in die moralische Treue eingefügt , die unter den meisten Geschäftsleuten herrscht. Millionen solcher Leute entsprechen, während sie gewissenP e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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haft ihren geschäftlichen Verpflichtungen nachkommen, Jesu Befehl: „Und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht" (Matth. 20, 27), und während sie sich zu ihren niedrigen Pflichten herabbeugen, gehorchen sie seinem Beispiel: „So nun ich, eurer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen" (Joh. 13, 14). In dem christlichen Problem der industriellen Welt handelt es sich darum, eine Fülle solcher Leben zu schaffen. Wenn eine Revolution das jetzige Wirtschaftssystem der industriellen Ordnung umstürzen soll, so muß die neue Ordnung, wenn sie dauernd sein will, auf den Grundgedanken von Jesu Lehre beruhen; sollten wir aber so weit kommen, daß die Grundgedanken von der Lehre Jesu das jetzige Wirtschaftssystem beherrschten, so würde eine Revolution in der industriellen Ordnung nicht nötig sein.

VII. Kapitel. Die Wechselbeziehungen der sozialen Fragen. Ich lebe und ihr sollt auch leben. Wir haben verschiedene moderne soziale Fragen betrachtet in der Form konzentrischer Kreise, die das einzelne Leben umgeben. Der Radius persönlicher Forschung wird soweit verlängert, bis er erstens das Problem der Familie, dann das von reich und arm und schließlich das Problem der industriellen Ordnung erreicht; und betrachten wir nacheinander den Flächeninhalt jedes Problems, so sehen wir, daß er ein wesentlicher Teil eines umfassenderen Problems von größerm Umfang und mit größerm Inhalt ist. Ist nun dieser Vergleich für die aufeinander folgenden Kapitel auch durchaus passend und hinsichtlich der Tatsachen vollkommen gerechtfertigt, so gibt er uns doch durchaus kein angemessenes Bild von den wahren Beziehungen, in denen die verschiedenen sozialen Fragen zueinander stehen. Es ist vollkommen wahr, daß sich das Problem der Familie bei der Betrachung so weit ausdehnt, daß man es als einen großen Teil jener Frage erkennt, in der es sich um die Benutzung des Reichtums oder um die Wirkungen der Armut handelt. Es ist ferner wahr, daß man Reichtum und Armut nicht als unabhängige oder feststehende Verhältnisse behandeln kann, sondern daß man sie mit den Ausdrücken deuten 18*

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muß, die aus der wirtschaftlichen Organisation, ihrem Fortschritt und ihrer Reform hergenommen sind; es ist aber dennoch nicht weniger wahr, daß sich jene äußern Kreise sozialer Beziehungen unter unsern Händen in innere Probleme verwandeln, sodaß sich der Radius, nach dem man sie mißt, ebensoleicht zusammenzieht wie ausdehnt. Die industrielle Bewegung z. B. ist nur eine Form von der Empörung der Armen gegen die Reichen; die Extreme des Reichtums und der Armut bedrohen in gleicher Weise die Existenz häuslicher Ideale und der Familien-Abgeschlossenheit; das Programm des Sozialisten zwingt uns, zuerst die Verteilung des Privatbesitzes, dann die Natur und Stellung des Familienkreises aufs neue zu erwägen. Das Verhältnis der sozialen Fragen zueinander ist also nicht nur das der Reihenfolge oder Ausdehnung; sondern es ist ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Übertragbarkeit. Jedes Problem, das wir betrachtet haben, erweist sich in einer oder der andern Hinsicht als ein verhülltes Problem, und es ist unmöglich, von dem einen nur als Ursache, von dem andern nur als Wirkung zu sprechen. Ist es z. B. das schlecht geordnete, ehrsüchtige Haus, das die Armut herbeiführt, oder ist es der Druck der Armut, der den Frieden des Hauses zertrümmert? Ist es die industrielle Ordnung, die die Sünden der Reichen schafft oder sind es die gewissenlosen Reichen, die die industrielle Ordnung verderben? Wir können in keinem Falle sagen, daß die soziale Krankheit an einem bestimmten Punkte beginnt und daß alle andern Symptome von Ansteckung herrühren. Jedes Problem kann überall beginnen. Die Übel, die wir betrachtet haben, sind eher epidemisch als ansteckend. Der Mangel an industrieller Chance mag zuerst Armut und dann den Zusammenbruch des Hauses

Die Wechselbeziehungen der sozialen Fragen.

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verursachen. Ein ehrsüchtiges Haus kann erst zum Reichtum, dann zu industrieller Verschrobenheit führen. Kurz, wir kommen zu einer Beziehung, die der analog ist, die zwischen den verschiedenen Formen der physischen "Welt besteht. Was einst eine isolierte unzusammenhängende Kraft von Hitze, Licht, Bewegung oder Elektrizität zu sein schien, ist jetzt durch die Lehre der Wechselbeziehungen mit allen andern Kräften vereint. Ich schlage zwei Steine gegeneinander und die Bewegung setzt sich um in Hitze oder Licht. Ich reibe meinen Siegellack und die Bewegung setzt sich um in Elekrizität. Im KalkLicht verwandle ich Hitze in Licht; im elektrischen Licht verwandle ich Hitze in Elektrizität und schließlich verwandle ich Elektrizität in Licht und Hitze und Bewegung zu jener wundervollen Kombination von Entdeckungen, die erst kürzlich gemacht und als elektrische Eisenbahn bekannt geworden ist. Das ist die fruchtbarste Lehre der modernen Wissenschaft. Die verschiedenen Kraftarten in der physikalischen Welt können nicht einzeln gedeutet oder benutzt werden; sie sind wandelbar, sie durchdringen einander und stehen miteinander in Wechselbeziehung. Der Art ist auch die Wahrheit, die der ganzen Reihe der sozialen Frage zugrunde liegt. Um praktischer Rücksichten willen kann jede hypothetisch isoliert sein; es kann Spezialisten für Wohltätigkeit, für wirtschaftliche Reform, ja selbst für eine Unterabteilung eines sozialen Problems geben wie z. B. die Fürsorge für die Kinder und die Handelsvereine es sind; es kann spezielle Organisationen für Ehescheidungsrefonn oder für die Erbauung von Wohnungen oder für die Bildung von Genossenschaften geben; aber man darf nicht vergessen, daß bei all dieser Verschiedenheit der Veranstaltungen diese mannigfachen Unternehmungen im Grunde in Wechsel-

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beziehungen zueinander stehen und daß sich die eine soziale Kraft in die andere umsetzen läßt 1 ). Die sanfte Besucherin der Armen beginnt ihre anscheinend einfache Aufgabe, einem elenden Hause Erleichterung zu bringen und sieht sich plötzlich andern sozialen Problemen gegenüber gestellt, deren Lösung ihre Fähigkeit augenscheinlich weit übersteigt. Die ihr entgegentretende wahre Frage erweist sich als eine Frage häuslicher Grausamkeit und bedingt ihrerseits eine Entscheidung über die Familieneinheit; oder das Elend, das sie lindern will, ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Zeichen unregelmäßiger Beschäftigung, und um dauernde Hilfe zu schaffen, bedarf es nicht der Almosen sondern der Arbeit. So wird das Problem der Hilfeleistung plötzlich in ein Problem häuslicher Lauterkeit oder in die komplizierte wirtschaftliche Frage von der Überfüllung der Arbeit verwandelt, und die freundliche Besucherin der Armen ist verwirrt, da sie den Umfang und die Beziehungen ihrer leichthin übernommenen Aufgabe erblickt. Oder der verständige Philanthrop, der sich die Aufgabe gestellt hat, die "Wohnungen der Armen zu verbessern, entdeckt, daß das erste Prinzip jener neuen Wissenschaft nicht — wie wir schon gesehen haben — auf Großmut oder Wohltätigkeit sondern auf der Sorge für häusliche Abgeschlossenheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit beruht. Viele Unternehmungen sind daran gescheitert, daß die Armen eine noch so elende Wohnung dem Leben in einer bequemen Baracke vorziehen, und viele andere Unternehmungen gingen daran zugrunde, daß die Armen nicht großmütig patronisiert und ihrer Freiheit beraubt werden wollten. Weises Handeln in dieser anscheinend isolierten Form der Philanthropie hängt ab davon, daß man die Wechselbeziehung der sozialen Frage versteht.

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Es muß zugegeben werden, daß die Lehre, die aus solchen Erwägungen hervorgeht, zuerst eine entmutigende Wahrheit enthält. Wie können wir hoffen, einen befriedigenden Schluß zu finden, wenn wir uns keine soziale Frage gründlich erklären können ohne in entferntere oftmals umfangreichere Fragen verwickelt zu werden? Wer kann alle diese Punkte des sozialen Lebens, die miteinander in Wechselbeziehung stehen, angemessen behandeln? Wird nicht mancher, der eine spezielle und beschränkte Forschung in so vielen komplizierten Erwägungen der Sozialphilosophie verzweigt findet, in Versuchung kommen eine Aufgabe aufzugeben, die zu vollenden er weder Zeit noch Fähigkeit hat? Gewiß müssen wir antworten, solche Refiektionen enthalten viel, was unsern Enthusiasmus dämpfen und uns verzagt machen könnte. Wenn wir die Dimensionen und die Vielseitigkeit des speziellen Problems erkennen, mit dem wir uns beschäftigen, so werden wir ihm mit weniger Sicherheit nahe treten und weniger bestimmt auf eine vollständige und endgültige Lösung hoffen. Aber gerade jene Zurückhaltung, jene Klugheit und den heilsamen Verlust des Selbstvertrauens, den sie in sich schließen, sollten viele Reformatoren der G-egenwart am meisten pflegen. Jede einzelne soziale Frage ist für viele ihrer eifrigen Vertreter von so umfassendem Interesse geworden, daß sie ihrer Meinung nach den Schlüssel zur sozialen Verbesserung enthält. Auf jeder Seite treten uns soziale Allheilmittel und soziale Lösungen entgegen. Vielen Menschen erscheint es geradezu als Pflicht ein Spezialmittel gegen soziale Übel zu besitzen oder einen kurzen Weg zum sozialen Glück zu wissen. „Wie lautet dann euer Plan," sagte der Verkünder eines Problems der allgemeinen Befreiung, „wenn der meine euch nicht genügt?"

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als wäre jeder ernst gesinnte Mann verpflichtet ein Heilmittel in Vorschlag zu bringen. In dieser eifrigen Hingabe liegt ein herrlicher Ernst. Er geht zum großen Teil nicht aus intellektueller Selbstüberhebung sondern aus moralischer Begeisterung hervor. Etwas, meinen die Philanthropen, muß getan und sofort getan werden um die Welt zu bessern, und sie geben sich edelmütig dazu her, jenen kleinen Winkel der großen sozialen Ordnung zu reinigen, auf den die Fenster ihres Geistes zufällig hinausgehen. Ihr sozialer Atisblick schafft ihren sozialen Glauben. Die spezielle Form, mit der sie sich befassen, erscheint ihnen umfassend und genügend. Wollte die Welt nur ihr Allheilmittel annehmen, — Einzelbesteuerung, Verbot, Nationalisierung der Industrie, Malthusianismus, Altersversicherung, kommunistischen Besitz, oder eins von den andern so ernstlich empfohlenen Heilmitteln — so würde die ganze Konstitution der modernen Gesellschaft in dauernder Gesundheit wieder erstehen. Es ist eine ritterliche und wie wir gleich sehen werden, fruchtbare Begeisterung, die unendlich viel mehr zum sozialen Fortschritt beiträgt als kritischer Cynismus und Gleichgültigkeit. Trotzdem bleibt es wahr, daß man die Gabe großer geduldiger Weisheit am seltensten bei dem Reformer findet. Gerade die Intensität, mit der er seine Vision sieht, bedingt in der Regel einen engen Gesichtskreis. Sein Auge ist auf ein einzelnes Ziel gerichtet und er bringt die außerhalb der Grenzen liegenden, bestimmenden Verhältnisse wenig in Anschlag. Es wäre notwendig, daß er die Wechselbeziehungen der sozialen Fragen richtig einschätzte, — die vielen oft entfernten Verhältnisse, die das unmittelbar vor ihm liegende Problem berühren und oft verwandeln, und die unerwarteten Verbündeten, die ihm zuweilen ohne ihr eigenes Wissen zu Hilfe kommen.

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Eine treffende Erläuterung dafür, daß sich eine soziale Frage oft in andere Formen ausdehnt und umwandelt, liefert uns die spätere Entwicklung der sogenannten Temperenzbestrebung. Es ist eine soziale Bewegung, die im allgemeinen als isolierte, spezielle Aufgabe betrachtet worden ist. Einige wenige sichtbare Heilmittel scheinen genügend, um dem schrecklichen Übel der Trunksucht zu begegnen. Das Gelübde der Abstinenz, das Verbot des Verkaufes, die physiologische Unterweisung der Kinder, die beständige Aufregung des öffentlichen Gefühls — solche und ähnliche Methoden direkter Reform haben anscheinend die Sphäre der Temperenz-Arbeit begrenzt. Es ist jedoch mehr und mehr zu Tage getreten, daß außer dieser speziellen Reformtätigkeit sich auf beiden Seiten der Temperenz-Frage Einflüsse und Bewegungen geltend machen, die ihr entweder zu drohenden Feinden oder zu mächtigen Verbündeten werden. Häusliche, wirtschaftliche und selbst psychologische Vererbungsfragen stehen in nahen Beziehungen zu dem Problem der Trunksucht. Zerstört der Trunk das Familienleben oder treibt das ungeordnete Familienleben den Menschen zum Trunk? Ist die Trunksucht eine krankhafte Leidenschaft oder ist es manchmal ein normales und gesundes Verlangen nach Erfrischung, das die Menschen in die Schenken treibt? Ist es wahr, was ein ausgezeichneter Nationalökonom gesagt hat, daß das Verlangen des Arbeiters nach starken Getränken nicht so sehr eine Frage des Durstes als des Hungers ist, und daß man in den Suppentopf des Armen schauen muß, um zu wissen, warum er trinkt. Beraubt der Trunk die Menschen ihres Verdienstes oder sind es die Schwankungen des Verdienstes, die die Menschen zum Trunk treiben? Würde der Handel mit Getränken weniger verderblich sein, wenn er weise in eine städtische Ein-

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richtung umgewandelt würde? "Wird der moralische Ton der G-emeinde durch gesetzliche Verbote geschwächt? "Woher kommt es, daß die weintrinkenden Völker Süd-Europas mäßig und die wassertrinkenden Angel-Sachsen unmäßig sind? Das sind nur Anzeichen der verschiedenen Forschungen, die jedem entgegentreten, der unter die Oberfläche des Temperenz-Problems blickt. Was anscheinend eine einzelne Frage über eine persönliche Gewohnheit war, steht in der Tat beinahe zu jeder Bewegung der sozialen oder wirtschaftlichen Reform in Beziehung. Der wirksamste Angriff auf die Trunksucht wird vielleicht durch eine Seitenbewegung im Interesse besserer Wohnungen, gesunderer Vergnügungen, regelmäßiger Arbeit, nahrhafter Kost, staatlicher Kontrolle oder durch die Anregung neuen, höheren Verlangens erreicht. Eine ähnliche Ausdehnung und Verzweigung läßt sich in beinahe jeder sozialen Frage der Gegenwart beobachten. Jede hat Teil an der Lösung aller übrigen Fragen, und alle hängen in gewissem Grade von dem Fortschritt jeder einzelnen ab. Spielplätze kann man, wie der Bürgermeister von Boston kürzlich gesagt hat, als Gegenpart für Strafanstalten ansehen und das Turnen kann die Benutzung der G-efängnisse verringern, sodaß selbst behauptet werden kann, daß das Verbrechen in unsern Großstädten zum großen Teil einfach eine Frage körperlicher Übungen ist. Kein soziales Programm kann in absolutem Sinne allein behandelt werden. Es ist immer nur ein Gesichtspunkt der allgemeinen Entwicklung sozialer Gewohnheiten und Ideale. Einer der scharfsinnigsten amerikanischen Wirtschaftslehrer hat einmal die Bemerkung gemacht: „Wenn ich höre, daß jemand eine Lösung der sozialen Frage vorbringt, so beantrage ich Vertagung." Damit will er sagen, daß es keine vollständige und augenblickliche Lösung für

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jene spezielleren Probleme gibt, die unwiderruflich in den allgemeinen Fortschritt der sozialen Entwicklung eingeschlossen sind. Wenn sich der ganze soziale Körper überhaupt bewegt, so bewegt er sich in allen seinen Teilen. Die Wechselbeziehung der sozialen Fragen gibt den zerstreuten Bewegungen der sozialen Reform eine Einheit und wechselseitige Abhängigkeit, die so groß ist, daß wir den G-edanken an ein Allheilmittel für jedes bekannte, soziale Übel aufgeben und zufrieden sein müssen mit der Leistung eines unvollkommenen, teilweisen Dienstes. Folgt daraus nun, daß wir zu unserm einzelnen Problem zurückkehren müssen mit dem kleinmütigen Gefühl, daß wenig getan werden kann? Enthält die Lehre von den Wechselbeziehungen in der Tat eine entmutigende Wahrheit? Im G-egenteil; die Vergrößerung der Beziehungen und die also anerkannte Übertragbarkeit der Kraft geben mancher teilweisen, entmutigenden Anstrengung in der sozialen Reform Würde und Bedeutung. Die Lehre von den Wechselbeziehungen lehrt uns in der Tat Bescheidenheit. Wir müssen anerkennen, daß die übernommene Arbeit viel mannigfaltiger und umfassender ist, als sie uns zuerst erschien. Sehen wir jedoch, daß unser eigener begrenzter Platz im sozialen Dienste verstärkt wird, und seinerseits wieder andere und größere Pläne verstärkt, so gibt uns das Selbstachtung und Hoffnung, wo wir uns vorher entmutigt und einsam fühlten. Der einsame Nachtposten denkt daran, daß das ganze Heer hinter ihm steht; das hart bedrängte Bataillon weiß, daß derselbe Kampf auf der ganzen Linie vor sich geht, und daß der auf einem Punkte geleistete Widerstand zum allgemeinen Sieg beitragen kann, und daß die Wirkungskraft oft durch neue, ungeahnte Verbündete verstärkt wird. Die Bewegung gegen die Trunksucht, von der wir oben

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gesprochen haben, gewinnt z. B. neue Lebenskraft, wenn sie sich mit der ganzen Bewegung industriellen und moralischen Fortschrittes vereinigt. Die Gefahr lag nahe, daß die Temperenz-Reform von der Hauptlinie moderner Interessen abgelenkt, auf Seitenwege geführt und den Politikern und Frommen überlassen werden würde. Nun hat man gesehen, daß sie ein Punkt der jetzigen, umfassenden, sozialen Bewegung ist und manchem aufmerksamen Beobachter scheint das Problem wirtschaftlichen Fortschrittes in hohem Maße von dem Problem der Trunksucht abzuhängen. Als der verständigste Führer der Arbeiterbewegung in Großbritannien gefragt wurde, warum er totale Abstinenz verträte, antwortete er, daß es zum Besten der wirtschaftlichen Kraft geschähe, die auf diese Weise so leicht gesichert werden könnte. Er glaubte an Temperenz und übte sie aus, aber nicht in erster Hinsicht um der Temperenz sondern um der Arbeitsreform willen. Er wiederholte in der Tat nur, was Professor Carnes vor wenigen Jahren nachgewiesen hatte, daß die Zukunft der arbeitenden Klassen durch eine Prüfung der Accise-Einnahmen prophezeit werden könnte. Das will sagen: Wirtschaftslehrer und Agitatoren vereinigen sich mit den Physiologen und Moralisten, indem sie die Aufmerksamkeit aufs neue auf die soziale Bedeutung der Trunksucht lenken, und der Vertreter der Temperenz, der früher im gewissen Grade isoliert in seinen Bestrebungen dastand, dem man als Fanatiker mißtraute, sieht sich nun, da man die Lehre von den Wechselbeziehungen erkannt hat, im Mittelpunkt des Hauptstromes sozialer Reform. Dieselbe Erweiterung aller Funktionen, die verschiedenen Wege nützlicher Tätigkeit kann man in jeder Form ehrlichen sozialen Dienstes entdecken; und dadurch

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wird der Lehrsatz von den Wechselbeziehungen nicht zu einer entmutigenden, sondern zu einer aufs höchste anspornenden Lehre. Stellen wir uns z. B. vor, daß einige großherzige Menschen nach einem vernünftigen Plan einen Klub für Arbeiter gründen. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie keine sehr klare Anschauung von dem Ergebnis ihres Unternehmens; aber sie werden von dem Wunsche getrieben, minder glücklichen Menschen Bildung und Unterhaltung zu bieten. Wie aber soll nun ihr brüderliches Werk, das in uneigennützigem Dienst fortschreitet, den sozialen Bewegungen unsrer Zeit eingereiht werden? Von einem Standpunkte aus findet es einen Platz in dem Kampf für Temperenz; denn es bietet einen reinen Ersatz für die Anziehung der Schenke; vom andern Standpunkte aus trägt es zur Arbeiterbewegung bei, weil es den Arbeitern Stoff zum Studium und Freiheit zur Erörterung gibt, und von einem noch andern Standpunkte erweist es sich als Friedensschließer zwischen den sozialen Klassen; denn reich und arm finden in ihm eine wahre Demokratie und kommen zu einem gerechteren Verständnis ihrer gegenseitigen Ideale und Fehler. Es kann selbst zur Beständigkeit des Hauses beitragen, obgleich es seine Mitglieder anscheinend dem Hause entzieht. Ein intelligenter Arbeiter, der einst in solch einem Klub gefragt wurde, ob seine Frau ihn abends nicht lieber zu Hause behielte, antwortete: „Ja, aber sie sagt, daß ich zu Hause jetzt viel interessanter wäre." Etwas gibt es, wogegen sich solcher Klub absolut verschließt, — die Form der Wohltätigkeit; und doch ist gerade dieser Klub ein Ausdruck für jene annehmbare Wohltätigkeit, die nicht Almosen, sondern Freundschaft bringt. In der Regel schließt ein solcher Klub e i n großes menschliches Interesse aus — die Erörterung über Religion, und dennoch richtet er sich

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nach jenem großen Wort, das Jesus als die Hälfte der Religion hinstellt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." So hat dieses anspruchslose Unternehmen an mindestens einem halben Dutzend sozialer Bewegungen teil und trägt vielleicht zur wirkungsvollen Philanthropie und unverdorbenen Religion mehr bei als viele Organisationen, die ausschließlich in deren Namen begründet sind. Oder kehren wir dieselbe Geschichte um, stellen wir uns vor, daß ein Arbeitgeber, der über die wahren Triebe und den Ehrgeiz seiner Angestellten im Unklaren ist, eine wohl geplante, aber unechte Großmut in seinem Geschäfte einführen will. Ihn hat die Luftströmung industrieller Brüderlichkeit, die in unserer Zeit erregt ist, berührt; aber sie regt seine Natur nicht wirklich zu neuem Leben an. Er will seine Selbstachtung, aber auch seinen Vorteil bewahren. Er sieht deshalb nach Wegen aus, auf denen sich der Dienst Gottes mit dem Dienst des Mammons vereinen läßt. So erscheint er sich selbst vielleicht großmütig, während er in der Tat gönnerhaft ist. Er sorgt für die Wohnung seiner Untergebenen aber unter Bedingungen, die deren Freiheit beschränken; mit anscheinender Freigebigkeit verbessert er die Löhne aber unter Bedingungen, die einengen und Ärgernis erregen; er ermahnt die Leute zur Sparsamkeit und Einfachheit, während sein eigenes häusliches Leben prahlerisch und gemein bleibt. Erstreckt sich jene kommerzielle Erscheinung nicht weiter als auf das Geschäft, wo Herr und Arbeiter einander begegnen? Im Gegenteil, der halbe Dienst übt seine Wirkung auch auf die ganze Linie sozialer Bewegung aus; er hindert den Fortschritt und verursacht Mißtrauen. Der Sinn für Häuslichkeit, der in den Arbeitern lebt, protestiert gegen ein Heim, das nicht ihr eigen ist; die Selbstachtung derer, die um Tagelohn ar-

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beiten, erlaubt ihnen nicht sich patronisieren zu lassen; die Geschäftsgrundsätze des Arbeitgebers können nicht lehren, was sein Privatleben verleugnet; und der Mann, der sich wie ein großmütiger Philanthrop vorkam, dem man Dank schuldet, sieht zu seiner großen Überraschung, daß er für industrielle Unzufriedenheit und Empörung verantwortlich ist. Hier finden wir also, daß die umfassende Auffassung der Wechselbeziehungen in der modernen sozialen Welt kein losgelöstes oder isoliertes Leben zuläßt und niemand so genau weiß, an welchem Punkte sein Leben oder seine Arbeit das Leben oder die Arbeit der Gemeinschaft berührt. Wir wollen vielleicht in einem Punkte dienen, und die Kraft unseres Dienens kann in eine ganz andere Form der Wirksamkeit übertragen werden; oder wir sind uns garnicht bewußt, daß wir an der sozialen Frage teilhaben, während wir uns in der Tat zum sichtbaren Anstifter sozialer Revolution gemacht haben. Machen wir uns diese Wahrheit klar, so wenden wir uns mit neuem Mut und neuer Selbstachtung der speziellen Form des Dienstes zu, die uns unmittelbar anzieht. Wir sehen, daß sich jede ehrliche und großherzige Arbeit in unvorhergesehener und überraschender Weise lohnt. Unsere Wohltätigkeit mag als Hilfeleistung mißlingen und doch zur Charakterbildung beitragen; unser Geschäft wird vielleicht nur geschäftsmäßig betrieben, und kann doch weise Philanthropie sein. Die zerstreuten, sozialen Kräfte, von Myriaden Menschen nutzbar gemacht, werden in die umfassende Einheit der sozialen Bewegung aufgenommen, sodaß jeder einzelne Impuls auf das ganze organische Leben fortgepflanzt wird. Das ist die Wechselbeziehung der sozialen Fragen, und wenden wir uns von dieser modernen und wissen-

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schaftlichen Analogie der Lehre Jesu Christi zu, so sehen wir in mancher treffenden Form schon dieselbe Wahrheit angedeutet. Keine Forschung könnte überflüssiger sein und uns mehr irre führen, als die Evangelien nach der Bestätigung modern wissenschaftlicher Grundsätze zu durchsuchen. Die Ubereinstimmung von Wissenschaft und Religion ist in diesem Sinne so unwirklich und eingebildet wie die Übereinstimmung von Poesie und Chemie oder von Kunst und Politik. Verfolgen wir jedoch die Wechselbeziehungen zwischen sozialer Tätigkeit und Übertragung sozialer Kraft weiter, so müssen wir der wiederholten Zusagen Jesu an seine Jünger gedenken, daß die bescheidensten Aufgaben, wenn sie Hand in Hand gehen, zur Erreichung der größten Ziele beitragen können. „Und wer dieser Geringsten einen," sagt er, „nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt . . . es wird ihm nicht unbelohnet bleiben" (Matth. 10, 42). „Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf" (Matth. 18, 5). „Da wird dann der König sagen . . . . kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt . . . Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Matth. 25, 34, 40). Das heißt, Jesus würdigt und verklärt die Hingabe an das Geringste nicht durch die Verheißung großen, zukünftigen Lohnes, sondern durch die Versicherung, daß es keinen Unterschied gibt zwischen viel und wenig, und daß die Zwecke des Himmelreichs und der Dienst des Königs durch das Hinreichen eines Bechers Wasser und durch die Fürsorge für ein kleines Kind bestimmt werden können. Auch wird diese Lehre von der Verwendung sozialer Kraft nicht nur lobend anempfohlen, sondern die ernstesten Anklagen werden gegen die gerichtet, die die bescheidene

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Gelegenheit vernachlässigen oder dem unbedeutenden Leben hindernd in den Weg treten. Mit großer Beredsamkeit schildert Jesus wiederholt bis ins einzelne den Mann, der es unterläßt für den Hungernden, Nackten, Kranken zu sorgen, und er erblickt in dieser sozialen Vernachlässigung eine -wesentliche Untreue gegen Gott: „Gehet hin von mir, ihr Verfluchten . . . . Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan" (Matth. 25, 41, 45). Er betrachtet den, der dem sozialen Leben hemmend in den Weg tritt, gerade so wie den, der in Wahrheit die Ziele des Gottesreiches durchkreuzt, und dessen Leben schlimmer als vergeudet ist. „Wer aber ärgert dieser Geringsten einen . . . dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist" (Matth. 18, 6). Jesus sagt, daß selbst die sorglos geäußerten Worte mit entfernteren Erlebnissen des Denkens und Lebens in Beziehung stehen und auf die äußeren Kreise des sozialen Lebens wirken gleich den kleinen Wellen, die durch den in einen stillen See geworfenen Stein entstehen und immer weiter kreisen, bis sie sich an dem fernen Ufer brechen. „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden und aus deinen Worten wirst du verdammet werden" (Matth. 12, 36, 37). Das heißt, Jesus verkündet, daß dieselbe Ausstrahlung und Übertragbarkeit der Kraft, die wir schon in physikalischer Hinsicht beobachtet haben, auch für das geistige Gebiet der Moral gilt. Es gibt für ihn keine vereinzelte Pflicht, keine isolierte Vernachlässigung, kein verlorenes Wort. Jedes wird in neue Gelegenheit zum Anstoß oder zum Verderben verwandelt, und jedes kann am Tage des GeP e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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richts zum Prüfstein für das ganze Leben werden. Der Lehrsatz von den Wechselbeziehungen sagt in modernen "Worten dasselbe wie Jesu Lehre, daß nämlich der fragmentarische Dienst des Geringsten seiner Brüder in die Gemeinschaft seiner Jüngerschaft aufgenommen wird. Hier kommen wir jedoch zu einem neuen Gesichtspunkt jener physikalischen Analogie, den wir bisher unbeachtet gelassen hatten, der aber, auf die soziale Welt angewandt, uns nicht ohne neue Anregung läßt. Die Verwandlung physikalischer Kräfte und deren Erhaltung in neuen Formen zeigt dem wissenschaftlichen Beobachter, daß er nicht wesentlich verschiedene Erscheinungen betrachtet, sondern mannigfache Offenbarungen einer einzelnen Kraft. Wir können nicht eigentlich von den Kräften der Natur sprechen. Wärme, Licht, Magnetismus und die übrigen sind in der Tat nur die zeitweiligen Ausdrücke einer einzigen durchdringenden und umfassenden Kraft. Hinter den mannigfachen Vorgängen in der Natur liegt die erhabene Tatsache von der Einheit der Natur, deren Tätigkeit durch die, von uns gesehenen, Kräfte weder hervorgebracht noch vermehrt, sondern nur übertragen und bewahrt wird. Der Glaube, auf dem die physikalische Wissenschaft beruht, ist die Gewißheit von der Beständigkeit und unverringerten Wirksamkeit jener Zentraltätigkeit, die in der Verwandlung der verschiedenen physikalischen Kräfte zerstreut oder zerstört zu sein scheint. Was ist, so fragen wir nun weiter, die Natur jener dauernden Krafteinheit, die durch die physikalischen Kräfte der Natur nur vorübergehend zum Ausdruck gebracht wird? Auf diese Frage weiß die Physik uns keine Antwort zu geben. Wir kommen nun zu der Grenzlinie zwischen dem, was man in der Natur beobachten kann

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und dem, wovon man nur folgern kann, daß es am Herzen der Natur liegt, und von dem Gebiet der Physik gehen wir zu dem der Metaphysik über. Um die wechselvollen und die dauernden Züge des physikalischen Lebens klar unterscheiden zu können, hat die Wissenschaft der zugrunde liegenden Krafteinheit den Namen Energie gegeben; aber von der Natur dieser Zentralenergie weiß auch die Wissenschaft nicht3 anderes als die Tatsache, daß sie sich in jenen Kräften offenbart, deren Tätigkeit wir beobachtet haben. In Worten, die einen beinahe lyrischen Klang haben, spricht Herbert Spencer von dieser Zentrallehre der Krafteinheit und schließt mit Worten, die einem theologischen Glaubensbekenntnis nicht unähnlich sind: „Tiefer als Demonstration," sagt er, „tiefer sogar als die bestimmte Erkenntnis, so tief wie die Natur des Geistes selbst ist das Postulat, zu dem wir gelangt sind. Unter den Geheimnissen, die geheimnisvoller werden, je mehr man über sie nachdenkt, steht die eine absolute Gewißheit, daß wir immer in der Gegenwart einer unendlichen Energie leben, aus der alle Dinge hervorgehen2).u Das ist die Lehre von der Energie, die die Lehre von den Wechselbeziehungen erschließt, und da wir gewagt haben die Analogie des letzteren zu benutzen, um die Wandlungen und die Einheit des sozialen Dienstes zu erläutern, so werden wir natürlicherweise dazu getrieben die letzte Frage zu stellen, zu der diese Analogie uns anregt. Diese verschiedenen Formen sozialer Tätigkeit werden, wie wir gesehen haben, in der überraschendsten Weise verwandelt und mit ungeschwächter Kraft in neuen Kanälen zum Ausdruck und zur Wirksamkeit gebracht. Die Wechselbeziehungen und die Konservierung der sozialen Bewegungen verbindet alle zerstreuten Formen sozialen Dienstes in einem Gefühl der Einheit. Sie sind 19*

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keine unzusammenhängende Unternehmungen, sondern teilweise Offenbarungen einer sozialen Einheit, die den ganzen Mechanismus der sozialen Ordnung bewegt. Was ist nun die Natur dieser Einheit, die in all den wechselnden Zügen sozialer Verantwortlichkeit zum Ausdruck kommt? Was ist nun die soziale Energie, von der alle die, von uns betrachteten, Bewegungen ausgehen? Diese Frage stößt augenscheinlich auf keine so wesentliche Schwierigkeit, wie wir sie in der physikalischen Welt bemerkten. Man braucht im sozialen Leben keinen Abgrund zu überbrücken zwischen dem, was man beobachten und abmessen kann und zwischen dem, was über alle Beweisgründe hinausliegt. Die sozialen Bewegungen sind keine äußern mechanischen Wandlungen; sie sind einfach Phasen des menschlichen Lebens und der Geschichte, die der Analyse eines jeden offen liegen, der die Motive der Massenbewegungen der Menschen zu deuten versteht. Kurz, bei dem Studium der modernen Gesellschaft bewegen wir uns in einer Region menschlicher Motive und Ideale, und die soziale Kraft, die das ganze treibt, muß ebenso bestimmbar sein wie die sozialen Bewegungen, die sie benutzt. Ein Heer kann in einer Hinsicht wie eine Maschine betrachtet und studiert werden, und in vielen Fällen erfüllt ein Heer seinen Zweck besser, wenn seine Bewegungen rein mechanisch sind; aber man erkennt bald, daß das, was wie eine Maschine arbeitet, im Grunde ein Werkzeug und ein Ausdruck für den Willen des Befehlshabers ist. Die sozialen Kräfte der Philanthropie und Reform haben in derselben Weise ihre mechanischen Gesetze und äußeren Bedingungen; aber die soziale Kraft, die sie leitet und eint, muß in dem Verlangen des Menschen, in seinen Pflichten, Vernunftgründen und Hoffnungen gesucht werden.

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Fragen wir also, was es ist, daß im menschlichen Leben den außerordentlichen Umfang und die Mannigfaltigkeit der modernen, sozialen Bewegung angeregt hat, so weist der Charakter unserer vorhergehenden Forschungen uns schon auf die Antwort hin. Die sozialen Fragen sind in ihrem Hauptumfang und in ihren Zielen Offenbarungen des moralischen Lebens der Zeit. Es sind ethische Fragen. Sie kleiden sich in politische oder industrielle Formen; aber hinter der verschiedenartigen Form arbeitet der eine Geist. Gegen die Lust des Fleisches erhebt sich der Instinkt reiner Liebe und schafft die soziale Frage der Familie; den Gelüsten des Reichtums stellen sich die Gefühle des Wohlwollens und Erbarmens gegenüber und schaffen das Problem der Wohltätigkeit; gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit erhebt sich die Hoffnung auf industrielle Gemeinschaft und bildet die Arbeiterfrage. In den sozialen Fragen also gibt es einen Mechanismus und eine bewegende Kraft, und während der Mechanismus äußerlich durch Gesetz oder Organisation bestimmt werden kann, wird die bewegende Kraft in dem Herzen und dem Willen der Menschen gefunden. Die sozialen Fragen entstehen einfach dadurch, daß eine große Anzahl Menschen auf verschiedene Weise das Rechte zu tun versuchten. In der Sprache der sozialen Fragen ist das moralische Leben quer über das Gesicht unserer Zeit geschrieben. Die soziale Energie des modernen Gewissens kommt in den sozialen Kräften moderner Reform am meisten zum Ausdruck. Diese Wahrheit, daß der Charakter der sozialen Fragen im Grunde ein ethischer ist, hat sich uns im Laufe aufeinander folgender Beobachtungen wiederholt gezeigt. Nun sie uns aber wieder als Ergebnis der Lehre von den Wechselbeziehungen erscheint, müssen wir sie in ihren Verwickelungen und Folgen genauer betrachten. Wenn

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es wahr ist, daß sozialer Fortschritt nur der Ausdruck moralischer Energie ist, so ist diese Wahrheit für den, der die sozialen Fragen sowohl als für den, der die Lehre Jesu Christi studiert, von größter Bedeutung. Ersterem zeigt sich das Element, das in allen Formen sozialen Dienstes unumgänglich notwendig ist. Es ist die Verstärkung und Kontrolle moralischer Triebkraft. Die sozialen Bewegungen der Gegenwart sind in solchem Umfang organisiert, daß die Handhabung ihrer Maschinerie unendlich viel Zeit und Aufmerksamkeit erfordert. Es gibt jedoch nichts Zweckloseres oder Lächerlicheres als einen sorgfältig ausgearbeiteten Mechanismus, der nicht Kraft genug hat, eine Arbeit zu verrichten. Soziale Kraft, die nicht durch einen wohlgeordneten Mechanismus beherrscht wird, ist in der Tat oft unwirksam, unnütz oder gefährlich wie der Dampf, der schlecht schließenden Ventilen entströmt; aber sozialer Mechanismus ohne moralische Kraft ist einfach tote Routine oder regelrechte Selbsttäuschung wie eine Maschine, zu deren Entwurf ein Mensch sein ganzes Leben verwandt hat, und die sich schließlich doch nicht bewegen will. Hier liegt die praktische Gefahr, gegen die jeder Verwalter sozialer Reform gerüstet sein muß. Es ist so leicht, in die Maschine zu geraten, die man vielleicht selbst ersonnen hat; es ist in der Tat so leicht, ein Teil jener Maschine zu werden und ihrer automatischen Wirksamkeit zu vertrauen, daß es zuweilen wirklich einer positiven, geistigen Anstrengung bedarf, um uns daran zu erinnern, daß die soziale Maschine nur durch die Übertragung sozialer Kraft Berechtigung hat. Ein Armenpfleger vollendet seine in Fragen und Hilfeleistungen bestehende Runde, der Arbeiterführer nimmt eine ganze Gewerkgenossenschaft in seinen Verein auf, der Reformer der Temperenz bringt ein Gesetz durch,

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das seiner Sache anscheinend not tut — aber wie entmutigend sind oft die Ergebnisse, wenn solche mechanische Tätigkeit auf die Probe gestellt wird. Die Armen bleiben so durchtrieben und hinterlistig wie zuvor; die Arbeiter lassen die Organisation und ihren Glauben im Stich, wenn ihre Treue und Geduld zu sehr angespannt werden; die Gemeinde benimmt sich unter den besten Gesetzen gegen die Trunksucht ungefä,hr so wie zu der Zeit, da es keine Einschränkung für sie gab. Werden denn die Hilfeleistungen für die Armen, die Arbeitervereine und die Temperenzgesetze zwecklos ersonnen und erhalten? Im Gegenteil; diese Kanäle der Organisation sind durchaus notwendig, sowohl um die Energie, die sie aufnehmen, zu beherrschen als um sie nutzbar zu machen. Der weise Ingenieur weiß jedoch, daß durch solche Kanäle der ungestüme Strom menschlicher Gefühle und Wünsche flutet, mit plötzlicher Ebbe und plötzlicher Flut, denen er Einhalt tun und die er in seinen Grenzen halten muß. Liegt die Armenpflege in verständigen und liebevollen Händen, so wird sie die Flut der Bettelei hemmen und Auswege finden, die in die Felder der Industrie führen, die Motive der Armen anregen und leiten, bis sie den Strom der Armut, wenn er auch breit bleibt, doch durch ihre Hilfeleistungen in Schranken hält. Will die Arbeiterorganisation unter Kontrolle sein, wenn der Strom der Leidenschaften hoch geht, so muß sie durch moralische Erziehung gestärkt werden, wenn der Lauf des industriellen Lebens ruhig ist. Nichts ist selbstmörderischer als in solchen Bewegungen auf plötzliche Gefühle, begeisternde Worte und ausgezeichnete Organisationen bauen. Diese Quellen der Kraft versiegen so plötzlich wie ein im Frühling angeschwollener Fluß und lassen im besten Falle nur eine Spur der Zerstörung zurück. Dauernde Wirksamkeit geht aus der

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Intelligenz, Klugheit und Treue hervor, die man in ruhigen Tagen gepflegt hat, und sichern in Zeiten der Anspannung einen zuverlässigen Bestand an moralischer Kraft. Die Temperenzreform ist nur eine Sisyphusarbeit und die Last, die sie heben will, rollt immer wieder auf die Gemeinschaft zurück, bis sich die Agitation konsequent nicht so sehr auf das Zügeln einer Leidenschaft als auf das Hemmen eines Gewerbes richtet. Die Trunksucht ist zum großen Teil nur die Entartung eines allgemein menschlichen Wunsches, sie ist der Durst nach Heiterkeit, Erholung und Freude; wollte man, ohne einen genügenden Ersatz zu schaffen, das einzige Mittel entfernen, das zur Befriedigung dieses normalen Verlangens vorhanden ist, so hieße das, den Kanal dort stauen, wo ein Strom Schaden anrichtet, ohne zu erwägen, daß derselbe Strom wahrscheinlich viele neue Felder verwüstet. So liegt bei jeder sozialen Frage hinter dem Problem der Entwicklung der sozialen Organisation das Problem der Führung und Leitung der sozialen Kraft. Die erste Frage des sozialen Reformers sollte lauten: „Was ist die Natur des speziellen Gefühls oder Wunsches und Begehrens, mit dem ich es jetzt zu tun habe? Wie kann ich es nutzbar machen, erziehen und zu dem geeigneten Ziele hinleiten?" Hier liegt der Schlüssel zu allen verständigen Methoden. Hat man es sich wirklich klar gemacht, daß man es nicht in erster Hinsicht mit Maschinen, sondern mit dem Leben zu tun hat, nicht mit „Fällen", sondern mit Menschen, nicht mit wirtschaftlichen Plänen, sondern mit den Leidenschaften, Hoffnungen und Idealen menschlicher Wesen, so werden die Wege sozialer Organisation zwar nicht weniger mühevoll, aber sie werden wohlwollender, klüger, geduldiger und weiser sein. Es gibt im modernen Leben in der Tat nichts Schöneres oder Helden-

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hafteres als die Fähigkeit, die soziale Maschinerie zu handhaben, ohne dabei moralische Lebendigkeit und Glauben zu verlieren. Von Tag zu Tag Beamter sein und doch barmherzig, zartsinnig und hoffnungsvoll bleiben, Reformer sein, ohne von der weitherzigen Sympathie und der freundlichen Gesinnung einzubüßen, ein Arbeitgeber sein und auf dem Felde der Industrie Platz für Menschlichkeit, Demokratie und Idealismus finden, an eine Sache und noch mehr an den Mut, die Kraft und den Frieden glauben, denen diese Sache den Weg erschließt — heißt den sozialen Dienst von Mutlosigkeit, kleinem Dünkel und automatenhaftem Wesen befreien und ihn mannhaft, gesund, glücklich und verständig machen. Die Wahrheit indessen, daß die sozialen Fragen der Ausdruck moralischer Energie sind, ist auch für den Forscher der Lehre Jesu von besonderer Bedeutung. Aus welcher Quelle, so fragt man sich, soll ein genügender Bestand kommen an moralischer Energie, an Impulsen der Liebe und Hoffnung, des Mutes und der Geduld, der Sympathie und Weisheit, die die soziale Bewegung frisch und frei erhalten? Welches ist die Quelle geistiger Kraft, die dem Strom des Dienens einen ebenen und reichen Fluß anstatt eines unterbrochenen, unnützen Laufes sichern? Es ist nicht nötig, als Antwort auf diese Frage zu behaupten, daß die Lehre Jesu die einzige Quelle solcher sozialen Kraft ist. Viele Ursachen haben dazu beigetragen, die Gegenwart zum Zeitalter der sozialen Frage zu machen; viele Einflüsse und Verhältnisse haben den Strom sozialer Sympathie und Verpflichtungen vergrößert, der mitten durch unsere Zeit fließt. Es ist jedoch vollkommen klar, daß der christlichen Kirche sowohl eine Quantität als eine Qualität sozialer Kraft zur Verfügung steht, die immer, wenn sie wahrhaft nutzbar gemacht worden ist, eine un-

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erreichte Wirkung gehabt hat. Kaum floß der erste Strom christlichen Fühlens über die alte "Welt, so ging von selbst eine neue Ernte der Philanthropie auf gleich der frischen Saat, die auf einem dürren Felde aufsprießt, wenn der Strom der Bewässerung darüber geleitet wird. Dieselbe soziale Fruchtbarkeit folgte zu allen Zeiten jedem neuen Zuwachs echten, christlichen Lebens. Selbst wenn ein solcher Strom, wie in der Entwicklung des Klosterlebens, abgelenkt wurde und dem sozialen Leben anscheinend widerstritt, hat er nichtsdestoweniger neue soziale Bande geschaffen, und neue Wege der Organisation für den sozialen Dienst eröffnet. Es ist klar, wir haben in Jesu Lehre eine Quelle sozialer Kraft, die von der modernen Welt nur in geringem Grade nutzbar gemacht worden ist. Wir brauchen auch nicht zu behaupten, daß Jesu Botschaft in erster Hinsicht auf soziale Wohlfahrt gerichtet wäre. Im G-egenteil; sie umfaßt viele andere Dinge, und beim Beginn dieser Forschung sahen wir, daß sie nicht in erster Linie eine Botschaft ist, die sich an die menschliche Gesellschaft, sondern an die Bedürfnisse und Wünsche der einzelnen Seele wendet. Richtet sich nun auch Jesu Botschaft vornehmlich an den einzelnen Menschen, so ist es deshalb nicht minder wahr, daß sie beständig in emster Wiederholung darauf hinweist, daß die Seligkeit des einzelnen Menschen auf dem Anteil beruht, den er am sozialen Dienste hat. Nicht nur das Bekenntnis der Sünde, sagt er, nicht Anbetung, nicht Rechtgläubigkeit, sondern die Früchte des Geistes sind das Zeichen der Jüngerschaft. Wenn der Mensch nicht Christi Geist hat, so gehört er nicht zu den Seinen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" (Matth. 7, 16). „Es werden nicht alle, die zu mir sagen ,Herr, Herr', in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel"

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(Matth. 7, 21). Nicht kirchliche Gemeinschaft noch theologische Zustimmung trennt nach Jesu Meinung die Schafe von den Böcken, sondern „die Fürsorge für den Hungernden, den Fremden und den Kranken" (Matth. 25, 35). Nicht der, der das Taufwasser oder den Abendmahlsbecher empfängt, ist des Segens gewiß, sondern: „"Wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt . . . . wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnet bleiben" (Matth. 10, 42). Welche Ironie auf die religiöse Lehre also ist es, und mit welcher Überlegung entzieht man dem Einfluß des Christentums alle Dinge des modernen Lebens, wenn man den alten Streit zwischen Orthodoxie oder Ritual oder Organisation fortführen will, als wenn sie in irgend einer Weise die Ziele darstellten, für die sich Jesus hingab, oder als wenn sie von der geringsten wahren Bedeutung für die Bedürfnisse der Gegenwart wären. Der Lehre Jesu gemäß soll die christliche Kirche nicht ein Depositum für Meinungen sein, sondern eine Quelle geistiger Kraft, eine mächtige, soziale Dogmatik, ein Brunnen erlösenden Lebens. „Denn ich lebe", sagt er, „und ihr sollt auch leben" (Joh. 14, 19). Jesu Gabe ist eine Gabe des Lebens. „Ich bin gekommen, daß sie das Leben . . . . haben sollen" (Joh. 10, 11), und das Leben erkennt man an der schaffenden, sich ausbreitenden, mitteilenden Kraft. Aus dieser Wahrheit folgt, daß Ausführungen, die uns in der Arbeit einer christlichen Kirche fremd und zufallig erschienen, in Wahrheit ihr wesentliches und hauptsächliches Ziel sein können und die beste Rechtfertigung für ihr Dasein und ihre Forderungen bilden. Eine Kirche hält es z. B. für ihre Hauptpflicht ihre Formen und Beweise, ihre Theologie und Philosophie durchzusetzen und nur zufällig erfüllt sie die Gemeinde mit dem Geist des

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Wohlwollens, des Mitgefühls, der Q-eduld und der Hoffnung. Was für eine seltsame Erscheinung wäre es für eine solche Kirche, wenn sie eines Tages erwachte und entdeckte, daß dies zufällig Erreichte gerade das war, was sie in des Herren Auge am höchsten stellte. Eine christliche Mission verschwendet in fremden Ländern ihre Bemühungen in dem Versuch, die Heiden Christo zuzuführen und mit vielen Selbstvorwürfen zählt sie die Wenigen, die sie durch ihre Hingabe gewonnen hat; während sie aber ihre technische Aufgabe erfüllt, geschieht es, daß das geistige Klima in der Nachbarschaft der frommen Seelen sich leise und allmählich ändert — daß die Grausamkeit verschwindet, das häusliche Leben reiner wird, Duldsamkeit und Aufrichtigkeit nach und nach an die Stelle heidnischer Bigotterie und Hinterlist treten. Was ist diese mildere Luft, die überall dort herrscht, wo eine weise verwaltete Mission geduldig ihr Werk tut? Sie ist der Beweis, daß die Mission das vollbringt, was sie zu tun bestimmt ist. Dies, und nicht die Zahl der Bekelirten, die sie aufweisen kann, ist der Prüfstein für die Treue, Reinheit und Kraft der Mission. Mancher kann die Heiden christliche Glaubenssätze lehren, aber nur ein Mensch, der mit Christus in Gott verborgen war, kann dem heidnischen Leben die geistige Kraft mitteilen, die durch Christus von Gott ausgeht. Oder noch eins, es wird einer Nation die neue, plötzliche Verantwortlichkeit auferlegt, den Menschen an den Grenzen der Erde die Segnungen christlicher Zivilisation zu bringen, und viele sind schnell bereit im Namen der Religion zu sprechen: „Laßt uns dies Volk zuerst durch Waffengewalt bezwingen, dann ist der Weg frei, auf dem wir ihm Jesu Lehre bringen können." Jesu Lehre wartet jedoch nicht darauf, bis die sozialen Fragen durch Angriff und Krieg beantwortet sind. Sie muß nicht

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vor oder nach dem Prozeß der Zivilisation verkündet werden sondern durch ihn. Es kann sich dieselbe Nation der heidnischen Welt nicht zuerst als räuberischer, ruhmsüchtiger Handelsmann und später als Gesandter der Barmherzigkeit und Gnade zeigen. Wir haben bei dem Erwerb des Geldes gesehen, daß es der mit reinen Händen erworbene Gewinn des Reichtums ist, der den christlichen Geschäftsmann charakterisiert, nicht aber das verschwenderische Hingeben übel erworbenen Wohlstandes. Dasselbe gilt von dem Schaffen der Königreiche. Es ist die moralische Art des Sieges, nicht das, was nach ihm geschieht, die die christliche Kraft der siegenden Nation darstellt, und es sind die Motive, die die ursprüngliche Annäherung an eine heidnische Zivilisation hervorrufen und leiten, die entweder die Heiden zu Christus bringen oder sie von ihm zurückstoßen. Und was ist nun schließlich das spezielle Problem der christlichen Kirche im Zeitalter der sozialen Frage? Das Problem besteht darin, der sozialen Bewegung jene soziale Kraft mitzuteilen, die Jesu Lehre hervorbringt und bewahrt. Die Lehre Jesu hat andere Züge, die den besondern Bedürfnissen andrer Zeiten entsprechen und sie hat Züge, die für alle Zeiten passen und die universelle Erfahrung von menschlicher Sünde, Zerknirschung und Sehnsucht berühren. Aber alle diese tiefen Wirkungen, die die Lehre Jesu hervorbringt, der Wiederaufbau der Theologie und die Erneuerung des einzelnen Lebens werden vollendet und gerechtfertigt, weil sie in ein Gefühl von Kraft zusammengefaßt sind, das eine bessere Welt schaffen kann. Der Prüfstein der Religion liegt doch schließlich in dem, was sie tun will. Wenn Paulus über christliche Theologie spricht, so unterwirft er selbst die Welt des Wissens der Prüfung dieser Kraft. „Zu erkennen ihn und

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die Kraft seiner Auferstehung" (Phil. 3, 10), als wäre selbst seine Gewißheit von Christi Auferstehung ihm köstlich wegen der Kraft, die sie fortpflanzt. Jesus selbst definiert oft die Jüngerschaft in Ausdrücken sozialer Nutzbarkeit: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt" (Joh. 13, 35). Welchen Platz soll nun die christliche Kirche in der modernen "Welt einnehmen? Sie soll keine Stätte sein, an der man korrekte Meinungen behütet und aufrecht erhält, kein Eiskeller für verdorbene Wahrheit, nicht bloß ein Ort religiöser Äußerungen oder Symbole, kein kirchlicher Festplatz für die Turnübungen der Seele. Sie ist, um in modernen Worten zu sprechen, eine „Kraftstation", in der ein Vorrat an geistiger Kraft erzeugt wird, die genügt, um die Welt mit Weisheit, Mut und Frieden zu erfüllen. Fehlt diese Kraft, so steht die Kirche ohne eigentliche Daseinsberechtigung im modernen Leben; sie ist ein Sonntagsklub, ein Unterhaltungsbureau, ein Überbleibsel der Tage, in denen die Religion Wirklichkeit war. Von einer lebendigen Kirche strömt Kraft aus. „Denn an der Frucht erkennt man den Baum" (Matth. 12, 33), „darum welcher Baum nicht gute Frucht bringet, wird abgehauen und ins Feuer geworfen" (Matth. 3, 10). Und was ist wiederum der Platz eines christlichen Lehrers oder Predigers in einer solchen Zeit? Er gleicht dem, der eine ungeheure Quelle physikalischer Kraft zur Verfügung hat, sowie sie der Niagara-Fall liefert, und der diese Kraft zum Dienste der Welt nutzbar machen will. Der Strom ist durch Jahrhunderte in ungebrauchter Fülle dahingeflossen; aber er ist größtenteils mehr ein bewundernswertes Schauspiel als eine nutzbare Kraft gewesen, und hat man von Zeit zu Zeit schüchterne Versuche gemacht ihn zu benutzen, so sind diese gescheitert gerade an dem

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Übermaß von Kraft, das man nicht zu beherrschen verstand. Endlich kommt für die moderne Welt die neue Gelegenheit. Die Wunder moderner Erfindung und Organisation liefern durch alle verschiedenartigen Bedürfnisse der Menschen einen angemessenen Kanal für die Verteilung jener mächtigen Kraft, und es ist die Aufgabe des modernen Ingenieurs, vermittelst dieser noch nie dagewesenen Gelegenheit die Kraft zu leiten und zu beherrschen. Die Welt hat früher niemals gesehen, daß der Mechanismus sozialer Ordnung so wie jetzt für die Übertragung sozialer Kraft verwandt wurde. Der also geschaffene breite Kanal wartet auf die Kraft des christlichen Lebens, und der volle Strom fließt in die verschiedenen Tätigkeiten der Welt aus und singt in seinem Laufe: „Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen" (Joh. 10, 10). Wie verhält sich nun, nach der einfachsten Angabe, die Lehre Jesu zur sozialen Frage? Diese Lehre ist für die, die sie aufnehmen können, die Hauptquelle jener geistigen Kraft, für deren Übertragung die soziale Ordnung bereitet ist, und der bescheidenste Jünger Jesu kann ein Werkzeug zur Übertragung jener Kraft sein. Er heiligt sich um Andrer willen, und ihm wird eine ungeahnte Wirksamkeit zum sozialen Dienst gegeben. Er wird zum ungehemmten Kanal für das Wasser des Lebens. „Wer an mich glaubet, . . . von dessen Leibe — werden Ströme des lebendigen Wassers fließen" (Joh. 7, 38). Jesu Lehre mag vieles enthalten, was zu erhaben oder zu dunkel ist, um den modernen Menschen wirklich zu überzeugen, aber dieser hat wenigstens das Geheimnis geistiger Kraft gefunden. Der Blick, den er von oben auf das Leben richtet, gibt ihm die Herrschaft über die untenliegende Welt. Die Annäherung an das Leben, die sich von innen

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heraus vollzieht, hat ihn zum Herrn über sich selbst gemacht, und die Richtung seines Lebens auf ein geistiges Ziel hin, hat ihm Großmut, Geduld und Frieden gegeben. Es bleibt ihm vielleicht versagt in die Geheimnisse des Himmelreiches einzudringen, aber es ist ihm genug, das Kommen jenes Reiches vorzubereiten. Die großen Worte Jesu stärken ihn in seinem Nichtwissen und erneuern seine Hoffnung: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen ,Herr, Herr!' in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel" (Matth. 7, 21). Ich weiß es wohl, das große Wort, Das mir die Seele ganz durchbebt; Nicht er, der mich „Herr, Herr" genannt, Nur er, der meinem Willen lebt! Ich sehe ihn auf seinem Gang Durch Galiläas heilig Land, Die Felder sind von Ähren schwer, Die Wellen spielen an den Strand. Und 6eine Stimme tönet noch Herüber aus vergang'nen Zeiten, Und in die dunkle Zukunft wird Uns seine Stimme weiter leiten. Von Eitelkeit und Glanz und Macht, Von Stolz, der nie an Grenzen dacht. Die arme Menschheit kehrt zurück, Sie kommt durch Staub und Sonnenglut Desselben Weges, den sie ging, Ihr von den Füßen rinnt das Blut; Sie kehrt zurück zum schlichten Wort, Das von des Heilands Lippen bebt: „Nicht er, der mich ,Herr, Herr' genannt, Nur er, der meinem Willen lebt!"*).

Anmerkungen. Zu Kapitel I. 1) A. Wagner, „Lehrbuch der politischen Ökonomie", 2. Aufl., 1876, S. 361; ebenso Bebel, „Die Frau und der Sozialismus", 10. Aufl., 1891, S. 240: „In ihrer Reichtumsgestaltung ist die Gesellschaft aber viel aristokratischer geworden als in jeder früheren Periode, . . . dagegen ist die Gesellschaft in ihren Ideen und Gesetzen weit demokratischer geworden." 2) Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind. „Programm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands." Gotha, 1878. 3) Ben Tillett, in London Times, January 1, 1895. 4) „Chants for Socialists." London, 1885. 6) Henry van Dyke, „The Toiling of Felix", 1898. 6) „Progress and Poverty." Book VII, Ch. 1. Siehe auch das Vorwort zur vierten Auflage: „The inquiry passes into the field of ethics . . . . It also identifies the law of social life with the great moral law of justice." 7) Kaufmann: „Christian Socialism", 1888, S. 12. 8) Der ethische Charakter der sozialen Frage wird nicht nur von den sozialen Reformatoren erkannt, sondern auch von den Geschichtsphilosophen: Th. Ziegler, „Die soziale Frage eine ethische Frage", 1891, ein Versuch „kritisch zu prüfen, was ist, und zuzusehen, was daraus werden kann, ohne daß uns die höchsten Güter verloren gehen". S. 8. Siehe auch Jodl, „Volkswirtschaftslehre und Ethik, deutsche Zeitund Streitfragen", 1886; F. Hasler (vom römisch-katholischen Standpunkt aus), „Über das Verhältnis der Volkswirtschaft und Moral", 1887; Bonar, „Philosophy and Political Economy in some of their Relations", 1893, Band 5; „International Journal of Ethics", Jan. 1897, S. 191; C. S. Devas, „The Restoration of Economics to Ethics", „All (these sciences) move in an ethical atmosphere; . . . all have principally to do with what is right and wrong"; L. Ragaz, „Evangelium und moderne Moral", 1898; und f ü r die Geschichte dieser „SozialisierP e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

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306 ung der Ideale" Stein, „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie", 1897, hauptsächlich S. 660 „Die Sozialisierung der Religion", vergleiche auch aie Ausspräche der Nationalökonomen: A. T. Hadley, „Economics" S. 23, „The modern economist . . . . would say that nothing was economically beneficent which was ethically bad; he would insist with equal force that nothingcould be ethically good which was economically disastrous"; C. D. Wright, „The Relation of Political Economy to the Labour Question", 1882; F. A. Lange, „Die Arbeiterfrage", 4. Aufl., 1879. Man beachte ebenfalls, wie sich die systematische Ethik in die Sphäre der sozialen Frage erstreckt: Wundt, „Ethik", 1886, S. 159, 498,529; Paulsen, „System der Ethik", 1889, S. 698, und seinen Vortrag auf dem 10. evangelisch-sozialen Kongreß, 1899, S. 95 „Wandlungen des Bildungsideals in ihrem Zusammenhang mit der sozialen Entwicklung"; Runze, „Praktische Ethik", 1891, S. 65, mit vielem bibliographischen Material; H. S. Nash, „Genesis of the Social Conscience", 1897, S. 223; Newman Smyth, „Christian Ethics", Ch. 4; „The social Problem and Christian Duties". 9) „Faith and the Future", 1835. 10) „Nuova Anthologia" 16. November, 1898, S. 269; F. NobiliVitelleschi, „II Socialismo di Stato". 11) Eine Reihe roher Äußerungen finden wir in Kaufmanns „Christian Socialism", 1888, S. 9 und in Köhlers „Sozialistische Irrlehren von der Entstehung des Christentums", 1899, S. 21. „Die Religion zu unterdrücken, die ein illusorisches Glück verschafft, heißt den Anspruch auf wirkliches Glück feststellen," Nouveau Parti 1884 (Kaufmann, S. 195); „The cross, once a symbol of suffering, is now a symbol of slavery". To-day, January, 1894 (Kaufmann S. 3). Ich denke doch, wir sind alle Anhänger der Marxistischen materialistischen Geschichtsauffassung, „Bemerkungen auf dem Stuttgarter Kongreß" (Köhler S. 7). 12) „Erklärung der Religion zur Privatsache", Programm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Siehe auch, Nation, Nov. 12, 1891, „German Socialists in Council", ein Bericht über den im Jahre 1891 abgehaltenen Erfurter Kongreß von F. G. Peabody. 13) „Die wahre Gestalt des Christentums", 2. Aufl., 1887; Herrmann, „Religion und Sozialdemokratie", 2. Evang.-soz. Kongreß, S. 13. 14) Zitiert im Pall Mall Magazine, April 1895. 15) Bax, „The religion of Socialism", 1886, S. 52, 96. 16) F. Naumann, „Das soziale Programm der evangelischen Kirche", 1891, S. 49. Die Stellung des wissenschaftlichen Sozialismus zur christlichen Religion wird ninlänglich dargestellt in der „Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen", 3. Band: F. Mehring, „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie", 1897, 2. Teil. S. 387, Die christlich-soziale Agitation; Engels, „Zur Geschichte des Urchristentums, Neue Zeit", 1894—1895; Lütgenau, „Natürliche und sozialistische Religion", 1894; Stein, „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie"; S. 660, „Die Sozialisierung der Religion". Wie diese Ansicht vom Volke angenommen wird, schil-

307 dert uns Bade in der „sittlich-religiösen Gedankenwelt unserer Industriearbeiter", 9. Evang.-soz. Kongreß, 1898, S. 66 und P. Göhre in „Drei Monate Fabrikarbeiter", 1891, S. 142. Eine genaue Kritik dieser Lage gibt uns Herrmann in: „Religion und Sozialdemokratie", 2. Evang.-soz. Kongreß, 1891; A. Wagner, „Das neue sozialdemokratische Programm", 3. Evang.-soz. Kongreß, 1892. Siehe auch die weniger bedeutende Diskussion in Flints „Socialism", 1894, Ch. 9, „Socialism and Religion". Eine detaillierte Bearbeitung des Gegenstandes gibt uns H. Köhler (Op. cit). So Uhland: Ich ging zur Tempelhalle zu hören christlich Becht, Hier innen Brüder alle, dort draußen Herr und Knecht! Der Festesrede Giebel war: Duck dich, schweig dabei! Als ob die ganze Bibel ein Buch der Könige sei. 17) H. Holtzmann, „Die ersten Christen und die soziale Frage" („"Wissensch. Vorträge über religiöse Fragen", 1880), S. 55. Ebenso Nathusius, „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage", 1897, S. 115. „Der radikale Sozialismus muß deshalb in Gegensatz gegen die bestehende Religion treten, weil er selbst Beligion ist." 18) Ausleger des Neuen Testaments mit sozialistischen Sympathien halten den Kommunismus in der Apostelgeschichte gewöhnlich für einen echten Vorgeschmack des modernen Protestes gegen den Kapitalismus. Nitti, „Catholic Socialism", London 1895, S. 62. „It is certain that the early Christians practised communism or community of g o o d s . . . . The first Christians did not seek to acquire wealth; like Christ they sought to annihilate i t . . . . Christianity was a vast economic revolution more than anything else." Herron, „Between Caesar and Jesus", S. 109. „Apostolic Christianity took seriously the economic facts of the spiritual life. Men understood that in becoming Jesus's disciples it was incumbent upon them to surrender private interests". Renan, „The Apostles" (tr. J . H. Allen, 1898): „The account in Acts is in perfect accord with what we know of the other ascetic religions, — Buddhism, for example, — which always begin with cenobitic (or communistic) life, the first adepts being a host of mendicant monks". Todt: „Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft", 2. Aufl., S. 70. „Die erste christliche Gemeinde war . . . . durchdrungen von der Solidarität ihrer Interessen. Einer strebte für Alle und Alle für Einen. In diesem Streben aber war sie kommunistisch wie unsere heutigen Sozialisten es sind." Später auf Seite 193 gibt Todt jedoch zu, daß das keine bestimmte oder unveränderliche Begel wäre: „Das Neue Testament repräsentiert durchweg die menschliche Freiheit . . . . dann acceptiert das Evangelium jede Form des Eigentums, sei es das Privateigentum an Grund und Boden, sei es das Gesamtheitseigentum im sozialistischen Sinne. Über die vorherrschende Lehre der wissenschaftlichen Sozialisten vergleiche die reichhaltige Literatur und deren Kritik bei Köhler, „Sozialistische Irrlehren von der Entstehung des Christentums", 1899, S. 85. 20*

308 Andererseits stimmen die bedeutendsten Kritiker des Neuen Testamentes in der Ansicht überein, daß keine wirkliche Analogie zwischen der modernen Situation und dem urchristlichen Verhalten existiert. Pfleiderer: „Urchristentum", 1887, S. 24; Weizsäcker: „Apost. Zeitalter", 2. Aufl., 1892, S. 47 und die Diskussion von "Wendt (Meyer's „Kommentar, Apostelgesch.", S. 102 u. 120). Siehe auch Eogge, „Der irdische Besitz im Neuen Testament", 1899, S. 73. „Die Kotvwvta der ersten Christen ist keine Institution, wie etwa die Gütergemeinschaft der Essener und Therapeuten, sondern treffend bemerkt Uhlhorn, daß man sich viel richtiger den Zustand als Abwesenheit jeder Institution vorstellt." Uhlhorn: „Die christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche", S. 68: „So wenig man in einer Familie von einer Institution der Gütergemeinschaft reden kann, so wenig auch hier . . . . Was wir vor uns haben, ist nicht die Institution der Gütergemeinschaft, sondern nur ein großartiges Almosengeben." M. v. Nathusius: „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage", 2. Aufl., 1897, S. 403. „Danach bestand die Gütergemeinschaft der ersten Gemeinde in Jerusalem zunächst wesentlich in der Gesinnung (keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären). Aber gerade in dieser Betrachtung liegt die Anerkennung, daß der Boden, von dem aus diese sittliche "Verpflichtung gestellt wird, das Recht des Privateigentums ist. Der Christ hat seinen Privatbesitz zum allgemeinen Besten zu verwenden." H. Holtzmann geht in seiner Studie: „Die ersten Christen und die soziale Frage" noch weiter S. 30: „Daß an eine zwangsweise herbeigeführte Auflösung der Eigentumsverhältnisse, an eine gesetzlich eingeführte Gütergemeinschaft nicht zu denken ist. Aber davon spricht auch die Apostelgeschichte nirgends", sondern er sagt S. 49: „Daß die Schilderung der Apostelgeschichte von der Gütergemeinschaft in Jerusalem das soziale Ideal des Verfassers . . . . als in der heiligen Urzeit des Christentums vollkommen realisiert gewesen darstellt", eine Ansicht, die Rogge S. 69 „als eine solche bezeichnet, die in vollem Widerspruch steht mit der ganzen Art, wie sonst der Verfasser des 3. Evaneliums und der Apostelgeschichte mit seinen Quellen verfährt", elbst ein Kritiker wie O. Holtzmann, der anerkannte Sympathien für das sozialistische Programm hat: „Jesus Christus und das Gemeinschaftsleben der Menschen", 1893 erklärt offen: „Was die Apostelgeschichte schildert, sind freiwillige Äußerungen christlichen Brudersinnes . . . . Von gemeinnütziger Arbeit, von Wertschätzung des Einzelnen nach seiner Arbeit, von einem Gleichmaß von Besitz und Arbeit ist hier gar keine Bede. Mit den Zuständen der ersten christlichen Gemeinde sind die vom Sozialismus erstrebten Einrichtungen nicht zu vergleichen." Vergleiche auch G Adler, „Geschichte des Sozialismus urd Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart", erster Teil 1899, S. 69; Stein, „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie", S. 232; „Das Urchristentum und die soziale Frage". 19) Wichern, „Die innere Mission der deutschen, evangelischen

f

309 Kirche", 3. Aufl., 1889; Göhre, „Die evangelisch-soziale Bewegung", 1896, S. 8; Schäfer, „Leitfaden der inneren Mission", 1889, S. 52; Uhlhorn, „Die christliche Liebestätigkeit seit der Reformation", 1890, S. 347. 20) Die bedeutendsten von Cariyles eigenen Schriften sind: „Chartism", 1848; „Past and Present", 1843; „Latter Day Pamphlets - ', 1880. Vergl. Schulze-Gävernitz, „Zum sozialen Frieden", 1890, I. S. 77—29; „Thomas Carlyle als Sozialtheoretiker und Sozialpolitiker" ; Garnett, „Life of Thomas Carlyle"; Gibbins, „English Social Reformers", 1892, S. 181, und Robertsons scharfe Kritik: „Modern Humanists", 1891, S. 11. Ruskins bedeutendste Schriften sind: „Unto this Last", 1862; „Crown of Wild Olive", 1866; „Time and Tide", 1867; „Fors Clavigera". Siehe auch J. A. Hobsons warme Verteidigung: „John Ruskin, Social Reformer" 1898; F. J . Stimsons kritische Würdigung: Quarterly Journal of Economics 1888; und die weniger wohlwollende Behandlung Robertsons S. 184; und von Politicus: „New Social Teachings", 1886, Ch. 1 und 2. 21) „Unto this Last", Essay II, Conclusion. 22) „Past and Present", Book III, Ch. 13. 23) Vergl. „Unto this Last", III. Essay mit „Fors Clavigera", Brief 5: „No liberty, but instant obedience to known law and appointed persons; no equality, but recognition of every betterness and reprobation of every worseness". 24) Hobson, S. 203. 25) „Past and Present", Book IX, Cb. 5. 2H) Time and Tide, S. 162. 27) E. Morris, „Art and Socialism", 1884. Anhang mit Textstellen von Carlyle und Ruskin. 28) „Verhandlungen des Evang.-soz. Kongresses", 1—11, 1890— 1900 ; L. Gregoire, „Le Pape, les Catholiques et la question sociale", 1895 (S. 313: „Programme du Congrès Catholique de Cologne", 1894). 29) Die Geschichte der Maurice-Kingsley'schen Bewegung wird uns köstlich erzählt in „Life of Frederic Denison Maurice, Chiefly in his own letters", 4. Aufl., 1885, hauptsächlich Band II, Kap. J, und in Brentano „Die christlich-soziale Bewegung in England", 1883. Die bedeutendsten von Maurice eigenen Werken sind: „Dialogue between Somebody (a person of respectability) and Nobody (the author) 1890, „Reasons for Cooperation", 1891 ; die von Kingsley, „Message of the Church to laboring Men", 1891; „Altons Locke", 1880; „Yeast", 1891; „Literary and General Lectures", 1880. Siehe auch Kaufmann, „Christian socialism", 1888, S. 67. Die wahre Beziehung Kingsleys zu Maurice wird uns in einer von E. Yarnall wiedergegebenen Unterhaltung geschildert: „Reminiscences", 1899, S. 190. „I owe all that I am to Maurice, said Kingsley". „I aim only to teach to others what I get from him". „I live to interpret him to the people of England". 30) Le Play, „Les Ouvriers Européens", 2. Aufl. 1879; „La Réforme Sociale", 3 Bde., 1872; C. de Ribbe, „Le Play d'après sa correspondance", 1884; Curzon „Frédéric le Play, sa méthode, sa doc-

310 trine, eon oeuvre, son esprit", 1899; Quarterly Journal of Economics, IV, 408, H. Higgs (und Anhang); „La Réforme Sociale, Balletin des Unions de la Paix Sociale, fondée par F. le Play". Das Musée Social, das 1895 von dem Grafen von Chambrun gegründet ist und das sich in seinem Palast 6 rue las Casas, Paris befindet, verewigt in seiner Bibliothek und in seinen verschiedenen Forschungen die Methoden von Le Play. Siehe Bödicker, „Le Comte de Chambrun et le Musée Social, Paris", 1896. „Statuts du Musée Social, Paris", 1896 ; „Chronique au Musée Social, Paris" ; Arthur Rousseau, 14 Eue Soufflot. Siehe auch C. Jannet: „Le Socialisme d'état et la réforme sociale", 2. Aufl. 1890. 31) Nitti, „Catholic Socialism", S. 99; Nathusius, „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage", 1897, S. 121; Kaufmann, „Christian Socialism", 1888, S. 35; Mazzini's „Essays", 1887, S. 73. „Weshalb, dachte Lamennais, sollte die Kirche, da doch die Mission der Völker und deren Sinn für Ordnung und Gerechtigkeit anerkannt ist, sich weigern, ihre Bewegungen zu regulieren und die Aktion zu lenken, wozu der Trieb den Mengen von der Vorsehung eingegeben ist." 32) Ketteier, „Die Arbeiterfrage und das Christentum", 4. Aufl., 1890; Girard, „Ketteier et la Question Ouvrière", 1896; Kaufmann, „Christian Socialism", 1888, S. 108; Rae, „Contemporary Socialism", S. 224; Nitti, „Catholic Socialism", S. 100. 33) Nitti, „Catholic Socialism", S. 273, 292 mit weiteren Verweisungen; „Fortnightly Review, January", 1896, „An Object-lesson in Christian Democracy" (Val des Bois). 34) Die soziale Lehre der Römisch-Katholischen Kirche kann nicht aus Nittis „Catholic Socialism" 1899 entnommen werden. Das Merkwürdigste bei diesem gelehrten Buche ist die immer wiederkehrende Kritik, die der Übersetzer an seinem Autor übt. Die autorisierte Auslegung der katholischen Lehre findet sich in der Enzyklika vom 15. Mai 1891 (ein Kommentar zu der Enzyklika von Bischof Keane); Forum, January, 1897. De Vogué, „Pape Leo XIII." ; und das sehr merkwürdige Buch von Léon Gregoire (pseudonym), „Le Pape, les Catholiques, et la Question Sociale", 2. Aufl. 1895. Mehr allgemeiner Art sind: Soderini, „Socialism and Catholicism", mit einem Vorwort von Kardinal Vaughan, 1896; Winterstein, „Die christliche Lehre vom Erdengut", 1898. Siehe auch J . G. Brooks in International Journal of Ethics „The Social Question in the Catholic Congresses" ; und in American Economic Association, 1894 „The Papal Encyclical on the Labor Question". 35) R. Elvers, „V. A. Huber, sein Werden und Wirken", 1879: Göhre, „Die evangelisch-soziale Bewegung", 1896, S. 6; Kaufmann, „Christian Socialism", 1888, S. 129. Siehe auch die Beziehungen Hubers in England, bfei Maurice, „Life and Letters", 4. Aufl., 1685, Bd. 2, 0. '¿. 36) A. Stöcker, „Christlich-soziale Reden und Aufsätze", 1885; Göhre, „Die evangelisch-soziale Bewegung", 1896, S. 41; Rae, „Contemporary Socialism", 1891, S. 234; Kaufmann, „Christian Socialism", 1888, S. 159.

311 37) Vergl. den treffenden Artikel in „New World", Juni 1899, S. 299: „F. A. Christie", „The Influence of the Social Question on the Genesis of Christianity". 38) Vergleiche jedoch den neuen Ausdruck der Verantwortlichkeit in den: „Verhandlungen des 10. Evang.-soz. Kongresses", 1899, S. 12: „Das Verhältnis der lutherischen Kirche zur sozialen Frage" von Prof. Kaftan und Bemerkungen von Prof. Harnack, S. 32. 39) Contemporary Review, März, 1896, S. 427: W. Walsh, „Jesus the Demagogue". 40) „Life of Jesus", 23. Aufl. (J. H. Allen, 1896), S. 170, 212, 215, 171. 41) International Journal of Ethics, Oct. 1894: F. H. Bradley, „The Limits of Individual and National Self-sacrifice"; Ebenso L. Stein, „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie", 1897, S 244: „Das Christentum trägt einen asketischen und pessimistischen Charakter. Es hat etwas mönchisch Finsteres, das sehr ungünstig ist für soziale und philosophische Untersuchungen, die Vertrauen in die menschliche Fähigkeit voraussetzen". 42) Todt, „Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft", 2. Aufl. 1878, S. 396: „Wiederholung der sozialen Lehre im Neuen Testament". Vgl. auch Göhre, „Die evangel.-soziale Bewegung", S. 10ff.; und die Kritik bei Holtzmann, „Die ersten Christen und die soziale Frage" (Wissenschaftl. Vorträge über relig. Fragen S. 21). 43) In der „Neuen evangelischen Kirchenzeitg", 1873. Vgl. Todt, S. 1: „Die Frage ging mir durchs Herz". 44) Naumann, „Das soziale Programm der evangelischen Kirche", 1891; „Was heißt Christlich-sozial?", 1894, S. 9; „Jesus als Volksmann", Göttinger Arbeiterbibliothek 1,1. 1896, S. 5,13; „Soziale Briefe an reiche Leute", 1899; Göhre, „Die evangelisch-soziale Bewegung", 1896, S. 193. 46) Nitti, „Catholic Socialism", 1895, S. 58, 64. 46) Herron, „The New Redemption", S. 30, 34, 80; vergl. S. 143: „Der schwerste Vorwurf, der einem Christen gemacht werden kann, ist, daß er versucht, die bestehende soziale Ordnung zu rechtfertigen". Vergl. auch die übrigen Schriften des aufopfernden Verteidigers der Revolution, z. B.: „The Larger Christianity", „A Plea for the Gospel", „Between Caesar and Jesus". „Niemand kann das Evangelium selbst lesen, ohne zu sehen, daß Jesus industriellen Reichtum als Sündenfall in sozialer Gewalttätigkeit ansah"; „Die Kirche als ganze weiß nicht, was Jesus lehrte, und sofern sie es weiß, hält sie seine Lehre nicht für ausführbar," „Between Caesar and Jesus", S. 107. „Ich fürchte nichts mehr als den Einfluß bestehender religiöser Organisationen auf die soziale Bewegung", Boston Address 1895. „Wenn wir Jesus in der sozialen Erlösung folgen wollen, müssen wir die Citadelle der Monopolwirtschaft stürmen." „Wir können das Volk nur dadurch davor bewahren, Unterlage der Profitwut zu sein, daß wir die Maschine in unsere Gewalt bekommen." The Industrialist, Juli 1899.

312 47) Contemporary Review, März 1896. 48) Yergl. die außerordentlich interessante Zusammenstellung von Ansichten, die Pfarrer Bade gesammelt hat in seinem Vortrag auf dem 9. Evangel.-soz. Kongreß 1898: „Die Gedankenwelt unserer Industriearbeiter". Vergl. auch Pflüger, „Kirche und Proletariat", 1899, S. 4: „Die ersten Verkündiger des Evangeliums, vor allem Jesus selbst, gehörten dem Proletariat an; . . . . die heutigen Prediger des Evangeliums gehören zur „guten Gesellschaft". 49) „The Kernel and the Husk" (Neue Ausg. 1887) S. 334 (zitiert Contemporary Beview, 1896, S. 429). 50) Die Literatur, die durch ihre neue Würdigung der sozialen Lehre Jesu von Bedeutung ist, kann man von „Ecce homo" von Professor Seeley 1867 datieren. Die hauptsächliche These dieses merkwürdigen Buches — daß Jesus der Gründer eines äußeren und gesetzgebenden Gemeinwesens war — muß man als eine nicht entsprechende, ja sogar irreleitende Auffassung der Absicht Jesu bezeichnen („Christus kündigte sich an als der Gründer und Gesetzgeber eines neuen Staates", S. 80); „eine Gesellschaft zu reorganisieren und ihre Glieder mit dem innigsten Bande aneinander zu fesseln, war das Geschäft seines Lebens", S. 103; „die erste vorwärts treibende Kraft . . . . ist die persönliche Beziehung loyaler Vasallenschaft der Bürger zu den Pürsten der Theokratie", S. 95. Doch machte die außerordentliche Einsicht dieses Buches in den Geist der Evangelien und seine Schönheit und Kraft im Ausdruck seine Publikation zu einer Epoche in der Auslegung der Lehre Jesu. Ein zweiter Beitrag von großer Originalität und Kraft war die Bampton-Vorlesung des Conr. Fremantle, „The world the Subject of Bedemption", 1885 (2. Aufl. 1895 mit einer Einleitung von Prof. B. T. Ely und mit wichtigen Anhängen illustrierender Literatur). Weniger akademisch, aber von höchster geistlicher Einsicht und von einer Bedeutung, die nicht allgemein von ihren Lehrern erkannt ist, sind die Bohlen-Vorträge von Phillipe Brooks, „The Influence of Jesus", 1879; dem modernen sozialen Geist näher stehend, mehr von exegetischem Charakter und ein genügender Führer für den durchschnittlichen Studenten ist das gründliche und urteilsstarke Buch von Shailer Mathews, „The social teaching of Jesus", 1897 (vgl. auch seinen Artikel in dem American-Journal of Sociology, Jan. 1900, „The Christian Church and Social Unity"). In der deutschen Literatur, die sich speziell mit unserer Frage beschäftigt, ist das einzige umfassende Werk, das neuestens erschienen ist, das gelehrte, aber konservative Buch von M. von Nathusius, „Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage", 2. Aufl. 1897, vgl. auch seine „Christlich-sozialen Ideen der Beformationszeit", 1897. Von weniger systematischen deutschen Studien nenne ich nur: Schmidt-Warneck, „Die sozialen Verhältnisse und die ethischen Grundgedanken des Evangeliums", 1891; Uhlhorn, „Vermischte Vorträge über kirchliches Leben", 1875 (S. 353: „Zur sozialen Frage"); Böhmer, „Brennende Zeit- und Streitfragen der Kirche", 1898;

313 Sabatier, „Die Religion und die moderne Kultur" (übersetzt aus dem Französischen) 1898; Bubland, „Die "Wirtschaftspolitik des Vaterunsers", 1895. Ferner muß der zunehmende Nachdruck hervorgehoben werden, den die allgemeinen Werke über Neutestamentliche Exegese auf die sozialen Ansichten des Evangeliums legen: z. B. Wendt, „Die Lehre Jesu", 2. Aufl. 1901; Beyschlag, „Neutestamentl. Theologie", 2. Aufl. 1896; Weiß, „Biblische Theologie des Neuen Testaments", 6. Aufl. 1895, I.; Bruce, „The Kingdom of God", 1891, und Gilbert, „Die Offenbarung Jesu", 1899. Hier mögen noch einige weniger spezielle Studien über die Einflüsse des Christentums auf das moderne Leben namhaft gemacht werden: z. B. Fairbairn, „The place of Christ in modern theology", S. 515; und seine „Religion in history and in modern life", 1894, 3. Vorlesung; Gore, „The social doctrine of the Sermon on the mount" (Economic Review, April 1892); Rade, „Die Religion im modernen Geistesleben", 1898, und von demselben „Religion und Moral", 1898; Söderblom, „Die Religion und die soziale Entwickelung", 1898; Church, „Christs Words and christian Society" in seiner „Gifts oi Civilization", 1880, S. 39; G. Hodges, „Faith and social service", 1896; E. W. Donald, „The expansion of Religion", 1898; R. T. Ely, „Social aspects of Christianity", 1889; J . LI. Davies, „The Gospel of Modern life", 1875, und desselben „Social questions*, 1885; „The message of Christ to Manhood, noble Lectures", 1895; „Flint, „Socialism", 1895 (ergänzende Notiz: „The Church's Call to study social questions", S. 493); Washington Gladden, „Applied Christianity", 1886 und von demselben „Tools and the man", 1893; Westcott, „Social aspects of Christianity", 1887; Harris, „Moral evolution", 1896, Ch. EX u. X ; Drummond, „Via, Veritas, Vita", Hibbert Lectures, 1894, 6. Vöries. S. 209; Lyman Abbott, „Christianity and social problems", 1897. 51) Göhre, „Drei Monate Fabrikarbeiter", 1891, S. 190; „Ein Einziges nur ist allen geblieben: Die Achtung und Ehrfurcht vor Jesus Christus . . . Wohl macht man sich ein ganz anderes Bild von diesem Jesus von Nazareth als bisher; es fehlt ihm in ihren Augen der Glorienschein . . . man lächelt über seine von den Theologen ihm „zugemutete" Göttlichkeit. . . . Aber sie alle halten doch sinnend still vor seiner großen Persönlichkeit." 52) Ecce homo, Kap. 10: „Christi Gesetzgebung." 53) Henry van Dyke, The Gospel for an age of doubt 1896. 54) Stopford Brooke, Religion in modern life, first sermon.

Zu Kapitel II. 1) A. Harnack, 5. Evangel.-sozialer Kongreß S. 120. 2) Vergleiche auch „The Message of Christ to Manhood," Noble Lectures, 1898, I I ; F. G. Peabody, „The Message of Christ to Human Society", S. 66.

314 3) 6. Evangel.-sozialer Kongreß 1897. „Das Eigentum nach christlicher Beurteilung", S. 23. 4) Lehre Jesu, I, S. 106. Vergleiche auch Paulsen, Ethik, S. 72. „Die Allwirksamkeit der Evangelien beruht eben darauf, daä sie nicht ein philsophisches oder theologisches System ausmachen. Systeme vergehen . . . . dagegen sind die großen Dichtungen ewig, wie ihr Inhalt, das menschliche Leben selbst." 5) Vergleiche auch den interessanten Vorschlag, der darauf hinausgeht, dieselbe Methode auf das Studium der Medizin anzuwenden: W. B. Cannon, „The Casemethod of teaching Systematic Medicine", Boston Medical and Surgical Journal, Januar, 1900. 6) Vergleiche ebenfalls Seneca, „De dementia", II, 6: „Er wird die Tränen des andern trocknen, aber er wird nicht mit ihm weinen" . . . . „Dies wird er mit ruhigem Geist und unverändertem Angesicht tun." (Succuret alienis lacrimis, non accedet . . . . Faciet ista tranquilla mente, voltu suo.) Und Neanders Ausspruch, (Vorwort zu Vinets „Socialisme") „Um sich hinzugeben, muß man sich angehören." 7) Nathusius a. a. 0. S. 317 Anmerkung. 8) Noble Lectures, 1898, I. A. V. G. Allen, „The Message of Christ to the Individual Man" S. 18. Vergleiche auch J . H. Newman: „Personal Influence the Means of propagating the Truth." 9) Die beiden Ausdrücke scheinen praktisch dieselbe Bedeutung zu haben. Beyschlag, Die Theologie des Neuen Testaments, I, 42, „daß mit beiden Namen sachlich dasselbe gemeint ist, zeigen die Parallelstellen und ebenso der bei Matthäus nicht selten vorkommende absolute Ausdruck r ßaaiXtia. Dafür, daß für den Wechsel in ihrem Gebrauche verschiedene Gründe möglich sind, siehe bei Wendt: „Die Lehre Jesu", I, S. 370. 10) Die Geschichte der modernen Auslegung der Lehre vom Himmelreich finden wir im einzelnen bei Schnedermann: Jesu Verkündigung und Lehre vom Reiche Gottes, I, S. 86 ff. Die Schlußfolgerung des Verfassers, die, wie er sagt, „bisher noch von keinem Forscher erkannt worden ist" und vermöge derer er der Idee des Reiches Gottes eine untergeordnete Bedeutung in der Lehre Jesu zuweist, wird wahrscheinlich nirgends angenommen werden. S. 173, „die Annahme, Jesus habe auf den Begriff vom Reiche Gottes von sich aus das größte Gewicht gelegt, ist völlig aus der Luft gegriffen!" und S. 195 „die Vorstellung vom Reiche Gottes in Jesu Verkündigung gehört in der Tat dem israelitischen Hintergrunde an. 11) Ex. 19, 6: Dan 2, 44. Siehe Wendt, die Lehre Jesu, I, 174; Holtzmann, die Theologie des Neuen Testaments, I , 255. Stevens, Theology of New Testament, S. 28. Beyschlag, Theologie des Neuen Testaments, I, 43 und die detaillierte und gelehrte Übersicht der vier „stadia" der jüdischen Gedanken in Toy's „Judaism and Christianity", 1896, 303—71. 12) Wendt, I, S. 364; Beyschlag, I , S. 47; Shailer Mathews, „Social Teaching of Jesus", S. 45.

315 19) Diese Anschauung ist mit kleinen Variationen in zwei Freisschriften der Haager Gesälschaft zur Verteidigung der christlichen Beligion behandelt worden, nämlich von Issel. „Die Lehre vom Seiche Gottes im N. T.", 1891 und von Schmoller, „die Lehre vom Beiche Gottes in den Schriften des N. T.", 1891 und in der berühmteren Abhandlung, zu der Joh. Weiß von Schmoller angeregt wurde: „Die Predigt Jesu vom Beiche Gottes", 1892. Das Gesamtresultat seiner Schlüsse siehe S. 61 u. 62, und seine im Beginn klargelegte Absicht: darzustellen, daß: „an dem durchaus transzendentalen apokalyptischen Charakter der Reich-Gottesidee Jesu teilnimmt." Vergleiche ebenfalls Bousset „Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum", 1892, S. 100 ff.; Schnedermann S. 190, „Aber eine Aufgabe ist das Beich Gottes in keinem Falle; die Ablehnung bezüglicher Aussagen Bitschis durch Haupt, Köstlin, Schmoller, J . Weiß u. a. ist als eine wichtige Errungenschaft der neuesten Arbeiten zu rühmen und festzuhalten. Vielmehr eine Gabe Gottes ist es, wie Schmoller und J . Weiß bewiesen haben." 14) So sagt mit großer Kraft Erich Haupt: „Die eschatologischen Aussagen Jesu", 1895, S. 77. „Die richtige Lösung der Schwierigkeit scheint mir nur gewonnen werden zu können, wenn man — umgekehrt wie jetzt zu geschehen pflegt — von den Stellen ausgeht, in denen das Gottesreich als gegenwärtig e r s c h e i n t . . . . Und gerade sie bieten den inneren Höhepunkt der Verkündigung Christi. Hier zeigt sich, daß es nicht ein neues, veredeltes Judentum ist, das er bringt. Was die Hauptsache ist am Beiche Gottes, die Gemeinschaft mit Gott, das Kindesverhältnis, ist jetzt schon zu haben." 15) Vergleiche das zurückhaltende, doch freimütige Urteil Toy's in „Judaism and Christianity." S. 260 „That they (the eschatological discussions) were not delivered by Jesus in the form in which we now have them may probably be inferred from the consideration already mentioned — that the disciples for some time after his death show no knowledge of their contents . . . The power of the founder of Christianity was in his moral personality and in his conception of a thoroughly spiritual society." 16) Beyschlag: „Leben Jesu", I, S. 229 ff., „Es ist wahrscheinlich, daß er allmählich dazu gelangte, an sich selbst als an den, von den Propheten verkündeten Erlöser zu denken" und Wendt, I, S. 380. Die entgegengesetzte Anschauung siehe bei Toy S. 352. 17) Holtzmann: „Die Theologie des Neuen Testaments", I, S. 200. „Das Reich Gottes ist ebenso sehr Gabe wie Aufgabe." Harnack: „Dogmengeschichte", I, S. 48: „Jesus verkündigte, daß das Beich Gottes nun nahe herbeigekommen sei. Dieses Beich wurde von Jesus als ein zukünftiges und doch gegenwärtiges, als ein unsichtbares und doch sichtbares bezeichnet." B. Weiß: Bibliche Theologie des Neuen Testaments, I, S. 52: „Gerade dieses Ineinandersein von Ideal und Wirklichkeit, diese Gewißheit der Vollendung auf jeder Stufe der empirischen Verwirklichung des Gottesreiches ist durch die Lehre Jesu ein unveräußerliches Moment des christlichen Bewußtseins geworden." Siehe ebenfalls Stevens „Theology of the New Testament"

316 1899, S. 37 ff. Holtzmann faßt auf S. 208 in einer Anmerkung eine lange Reihe von Definitionen des Reiches Gottes zusammen. 18) Über das Reich Gottes als ein geistiges siehe Bruce: The kingdom of God, 4. Aufl., 1891, Kapitel I : „Christ's Idea of the Kingdom" S. 58. „In all probability the title was used alternatively (kingdom of God or of heaven) by Jesus, for the express purpose of lifting the minds of the Jewish people into a brighter region of thought", und über das Reich Gottes als ein soziales siehe Mathews „Social Teaching of Jesus", Kapitel III und seine: „History of New Testament Times", 1899, S. 171. 19) Schleiermacher: „Christlicher Glaube", 1801, S. 84. „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind." In der Vereinigung des Gefühls der Freiheit und der Abhängigkeit treffen sich die beiden deutschen Tendenzen der Religionsphilosophie, die von Hegel und Schleiermacher ausgehen; Pfleiderer sagt in seiner „Religion", 1869, I, S. 78 und noch deutlicher in seiner „Religionsphilosophie", 1878, S. 298. „In Gott eins mit der Weltordnung und durch Gott frei von der Weltschranke . . . . das ist das Wesen der Religion"; Biedermann, „Dogmatik", 1869, S. 30. „Im inneren Zusammenhang mit der Tatsache dieser phychologischen Form ist der allgemeine, wesentliche Inhalt des religiösen Prozesses im menschlichen Geistesleben. Erhebung des Menschen als endlichen Geistes aus der eigenen endlichen Naturbedingtheit zur Freiheit über sie in einer unendlichen Abhängigkeit." Lipsius, „Dogmatik", 1876, 28. „Die Religion ist die Versöhnung des menschlichen Freiheitstriebes mit dem Abhängigkeitsgefühle." 20) New World, Sept. 1898, Henry Jones: „Social and Individual Evolution." 21) Essay über „The Coming Slavery." Popular Scientific Monthly, April 1884. 22) Aurora Leigh, II. Band. Zu K a p i t e l III. 1) United States Commissioner of Labor, „Report on Marriage and Divorce", 1889; „Columbia College Studies'", I, S. 1; Willcox: „The Divorce Problem, a Study in Statistics", 1891; Mayo-Smith: „Statistics and Sociology." A. P. Lloyd: „A Treatise on the Law of Divorce", 1889. 2) Willcox S. 12. 3) Atlantic Monthly, April 1888, F. G. Cook: „The Marriage Celebration in the United States"; S. W. Dike: „Reports of National Divorce Reform League"; Political Science Quarterly, Dec. 1889: „Statistics of Marriage and Divorce"; C. F. Thwing: „The Family,

317 an Historical and Social Study"; C. D. Wright: „Practical Sociology", 1899, S. 151. 4) Maine: „Ancient Law", 1878, S. 163, ebenso Horace Bushnell: „Christian Nurture" 1871, S. 91: „All our modern notions and speculations have taken on a bent toward individualism." Vergleiche: „The Message of Christ to Manhood", Noble Lectures 1899; H. C. Potter: „The Message of Christ to the family", S. 193. 5) Ein katholisches Urteil über den Protestantismus siehe in: „Life of Father Hecker", New-York 1894, „Protestantism is mainly unsocial, being an extravagant form of individualism. Its Christ deals with men apart from each other and furnishing no cohesive element to humanity. 1 ' 6) Westermarck: „The history of Human marriage", 1894; Lubbock: „Origin of Civilisation", 1879; Mc. Lennan: „Studies in Ancient History", 1886; Starcke: „The primitive Family", 1889; Schurmann: „The Ethical Import of Darwinism", 1887, Kap. VI; Coulanges: „The Ancient City", 1874, Buch II. 7) Maine: „Ancient Law", dritte vermehrte Aufl. 1878, S. 121. 8) Bagehot: „Physics and Politics", Kap. m , S. 517. 9) „Descent of Mail", S. 590, 591. 10) Dieser epochemachende Lehrsatz wurde zuerst in „Cosmic Philosophy", 1875, II, S. 363 dargelegt: er erscheint dann wieder in „the Destiny of Man" 1889, S. 57 und wird schließlich in autobiographischer Form in „A Century of Science", 1899, S. 100 beschrieben. IL) Spencer: „Principles of Sociology", I, S. 673. 12) L. Stein: „Die soziale Frage im Lichte der Philosophie", S. 77, „darum wird das Institut der Monogamie auch in einem etwaigen sozialistischen Staate, sofern dieser nur auf dem Boden der Kultur steht, unantastbar bleiben müssen." 13) Bebel: „Die Frau und der Sozialismus", 10. Aufl. 1891, S. 7—72; F. Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", 4. Aufl. 1892; Dritter Evang.-soz. Kongreß, 1892. S. 8; F. Naumann: „Christentum und Familie"; neunter Evang.-soz. Kongreß, 1898; Bade: „Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeiter." S. 117 („Ehe und Familienleben"). 14) Gronlund: „The Cooperative Commonwealth in its Outlines", 1884, S. 224. Bebel, S. 199, „Das Endresultat ist dies: die heutige Ehe ist eine Einrichtung, die mit dem bestehenden sozialen Zustand aufs engste verknüpft ist, die mit ihm steht und fällt". „Die volle und ganze Lösung der Frauenfrage . . . . ist aber unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen ebenso unmöglich wie die Lösung der Arbeiterfrage". E. u. E. M. Aveling: „The Woman Question 1 ', (ein Traktat) 1897, S. 16; „The contract between man and woman will be of a purely private nature . . . . For divorce there will be no need." K. P. „Socialism and Sex", London, Beeves: „Economic independence is essential to all h u m a n s . . . The current type of sex relationship . . . . is inconsistent with economic independence, and therefore is a type destined to extinction.

318 The socialistic movement with its new morality . . . . must surely and rapidly undermine our current marriage customs and marital laws." 15) Naumann: „Christentum und Familie", S. 12. 16) Göhre: „Drei Monate Fabrikarbeiter", 1891, S. 37, „daß infolge dieser Zustände in weiten Kreisen unserer großstädtischen Industriebevölkerung die überlieferte Form der Familie heute schon nicht mehr vorhanden ist." Ebenso Morris und Bax: „Socialism", S. 299. „The present marriage system is based on the general supposition of economic dependence of the woman on the man . . . . The basis would disappear with the advent of social economic freedom. . . . A new development of the family would take place on the basis of . . . . mutual inclination and affection, an association terminable at the will of either party. I t is easy to see how great the gain would be to morality and sentiment." 17) Naumann S. 14, vergleiche auch: „Der Ohrist im Zeitalter der Maschine", in: „Was heißt christlich-sozial?" 1894. 18) Bernard Shaw, zitiert Pall Mall Magazine, April 1898. 19) Die praktische Einrichtung dieses Unternehmens wird von Karl Pearson beschrieben in: „The Ethic of the Free Thought", 1888, S. 379. 20) „Ecce Homo", S. 336: „It was Christ's fixed resolution to enter into no contest with the civil power". 21) Vergleiche Shailer Mathews: „Social Teaching of Jesus", S. 98. Ebenso „Ecce Homo", S. 233: „Family affection in some form is the almost indispensable root of Christianity". 22) Einerseits sagt Keim: „Jesus von Nazareth", III, S. 310, „aber dieser Zusatz ist eingetragen"; V, S. 32 ,,zeigt, daß Jesus seinen gewaltigen Satz durch keine Ausnahme, auch nicht durch die beruhigendste des weiblichen Ehebruchs, welche die spätere Kirche und zunächst unser Matthäus einführte, erleichterte". Weiß: „Das Leben Jesu", II, S. 529 „Die Form des Ausspruches Jesu wider die Wiederverheiratung ist jedenfalls Luk. 16, 18 ursprünglich erhalten." Dagegen sagt Meyers „Handbuch" über Matthäus 19, 9, daß „die Worte auch nicht . . . . für einen Zusatz des Evangelisten zu halten sind. Die darin enthaltene Ausnahme vom Verbot der Ehescheidung ist die unica et adaequata exceptio." Zu einer Vereinigung beider Anschauungen regt Wendt in seiner „Lehre Jesu" an, I, S. 354: „Die von dem ersten Evangelisten bezeichnete Ausnahme bildet also keine wirkliche Ausnahme von der Regel, welche Jesus nachdrücklich hat einschärfen wollen, daß nämlich die eheliche Pflicht eine absolut bindende ist." 23) Eine interessante Analogie zu der Variation mit Hinsicht auf eine Ausnahmeklausel liefert die Variation des Matthäustextes in den Steiler, die von der Selbstbeherrschung handeln. In der autorisierten englischen Uebersetzung heißt es, nach einigen Lesarten: „Whosoever is angry with his brother without a cause," während die revidierte Uebersetzung, besseren Autoritäten folgend (siehe die kritische Anmerkung von Meyer über Matth. 5, 22. 1864, S. 186:

319 „Es ist ein unpassender, aus Befangenheit geflossener, obwohl sehr alter . . . . Zusatz") die Klausel ganz und gar fortläßt. 23 a) W. Mathews, Social teaching of Jesus, S. 93. 24) Princeton Review, Juli 1882, Leonard Bacon: „Polygamy in New England." 25) Quarterly Journal of Economics, Januar 1890, A. B. Hart: „The Eise of American Cities"; 'C. D. Wright: „Practical Sociology", 1899, Kap. VIII (mit Literatur). 26) „Eeport of Commissioner of Labor", 1889, S. 162. 27) Yon der reichhaltigen und rapide wachsenden Literatur über die Wohnungen der Armen mögen erwähnt werden: „United States Commissioner of Labor," und spezieller Bericht: „The Housing of the Working People" by E. R. L. Gould; „Report of New York Tenement House Committee", 1895; „American Economic Association XIII, Reynolds: „Housing of Poor in American Cities"; Post: „Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern", 1893, II, S. 215; H. H. Estabrook: „Some Slums in Boston" 1898. 28) J . A. Riis: „The Children of the Poor", 1892, S. 277 „He is saved from becoming a tough to become an automaton." Vergleiche auch Forum, Januar 1895, S. 52, F. G. Peabody: „Colonization as a Remedy for City Poverty."

Zu Kapitel IV. 1) Vergleiche auch: „Christian Register", Jan. 5. 1893 by F. G. Peabody: „The Problem of Rieh Men." 2) Naumann: „Was heißt Christlich-Sozial?" S. 9. 3) Herron: „The New Redemption". S. 63. 4) Leslie Stephen: „Social Rights and Duties", I, 21 (zitiert von Mathews „Social Teaching of Jesus S. 149). 5) Artikel in „The Outlook", 10. Dez. 1898. Vergleiche ebenfalls 0. Holtzmann, „Jesus Christus und das Gemeinschaftsleben der Menschen", 1893, S. 17. 6) 8. Evang.-soz. Kongreß 1897, Wendt: „Das Eigentum nach christlicher Beurteilung". S. 10: „Die rechte christliche Beurteilung des Eigentums ist nicht aus einzelnen biblischen Aussagen oder Vorbildern, sondern aus den Grundgedanken der religiösen Gesamtanschauungjesu abzuleiten." 7) Uber diese beachtenswerten Unterschiede der sozialen Lehre siehe einerseits Keim: „Jesus von Nazareth" III, S. 284 „Wir haben im Lukas ein völliges, großes ebionitisches Evangelium" . . . . Die nackte Lehre von der Armut . . . . In der Verherrlichung der Armut als solche . . . . haben wir die Umkehrung der Lehre Jesu*)." Gemäßigter sagt H. Holtzmann in: „Die ersten Schriften und die soziale Frage", S. 46: „Der Standpunkt Jesu also ist . . . . von der Gefahr des Reichtums . . . . Der Standpunkt des dritten Evangelisten ist . . . . *) Rückübersetzt aus dem Englischen.

320 daß der Beichtum an und für sich verderblich, die Armut an und für sich heilfordernd ist." Anderseits sagt Renan im „Leben Jesu", K. XI; „Das Evangelium ist seinem (Jesu) Sinne nach für die Armen". Der ebionitische Ton des dritten Evangeliums wird, vielleicht mit Übertreibung, von Colin Campbell vertreten, „Critical Studies in Luke's Gospel", 1891, Bd. II. Vergleiche Plummer. „Commentary on Luke", 1896, S. 25: „Is there any Ebionism-in St. Luke? That Luke is profoundly impressed by the contrast between wealth and poverty . . . . is true enough. But this is not Ebionism. He nowhere teaches that wealth is sinful and that rich men must give away all their wealth, or that the wealthy may be spoiled by the poor." Vergleiche auch die Auseinandersetzung von B. Weiß „Leben Jesu", Bandl, Kap. IV u.V; J . Estlin Carpenter: „The first three Gospels, their Origin and Relations", 1897, Kap. VIII—X und vor allem die mühsame und überzeugende Studie von Kogge: „Der irdische Besitz im N. T. u , 1897, S. 91. 8) Bogge, S. 10 (Zitat von H. Holtzmann in der Protestantischen Kirchenzeitung, 1894). Aber vergleiche ebenfalls die, die Bedeutung dieser Kontraste verringernde Erörterung über die allgemeine Sinnesart des Lukas in Plummer, Commentary on Luke, S. 62. 9) Über diesen Unterschied „der Neu-Testamentlichen Bücher siehe Bogges interessante Erörterung", S. 68. 10) Siehe den Essay von Th. Zahn: „Die soziale Frage und die innere Mission nach dem Briefe des Jakobus" in seiner „Skizze aus dem Leben der alten Kirche", 1898, S. 93. 11) Bogge, S. 20, H. Holtzmann: „Die ersten Christen und die soziale Frage", S. 23; New World, Juni 1899, S. 305. 12) Bogge, S. 34 mit vielen illustrierenden Zitaten. 13) Paulsen: „Ethik", S. 71. „Der Beichtum ist für den Christen wertlos, er besitzt genug, wenn er hat, was ausreicht, das tägliche Bedürfnis zu befriedigen. Aber der Beichtum ist nicht bloß wertlos, er ist gefährlich. An sich ist der Beichtum freilich nicht sündlich, er ist eben etwas an sich völlig Geichgültiges . . . . aber er ist für seinen Besitzer eine schwere Gefahr." 14) Vergleiche Stopford Brooke: „Christ in Modern Life" 28. Predigt: „Art Expenditure." 15) Barnett: „The Service of God" S. 99.

Zu Kapitel V. 1) Uhlhorn: „Christliche Liebestätigkeit in der alten Kirche", 1883, Kap. 1. Schmidt: „Die sozialen Besultate der ersten Christenheit", 1889, S. 107, 115, 139. Siehe ebenfalls C. L. Brace: „Gesta Christi", 1884. Vergleiche Lecky: „History of European Morals", 1870, B. H, Kap, IV. 2) Charities Beview, B. II, S. 21; F. G. Peabody: „The Modern Charity-Worker" (gerichtet an die United Hebrew Charities of New York City).

321 S) Ein richtiges, charakteristisches Bild des römischen sozialen Leben finden wir Dei Friedländer: „Sittengeschichte Roms", 6. Aufl. 1888—1890, m , S. 514; Keim: „Rom und das Christentum"; Mommsen: „Römische Geschichte", V, Kap. X I u. X I I ; Pearson and Strong : „Juvenal" (Einleitung, Kapitel über römisches Leben); Réville: „La réligion à Rome sous les Sévères"; Coulanges: „The Ancient City" 1884; Church: „The Gift of Civilisation", 1880, S. 147 (Civilisation before and after Christianity.) und den überraschenden Essay von Bosanquet über: „Paganism and Christianity" in seiner „Civilisation of Christendom", 1893. 4) Wilmanns: „Exempla inscriptionum Latinarum". 1873, S. 71, 147, 150, 168 und die rührende Lobrede auf die Minicia Marcella von dem jüngeren Plinius (V, 16), übersetzt mit einer Beschreibung des neu entdeckten Grabes von Lanciani: „Ancient Rome in the Light of Recent Discoveries", S. 282. 5) „History of European Morals", H, 84. 6) Lightfoot: „Clement of Rome", Anhang S. 376. 7) Statistische Details über die "Wohltätigkeit in den Vereinigten Staaten werden im „Jahrb. f ü r Nationalökonomie und Statistik" mitgeteilt, 1897; C. R. Henderson: „Armenwesen in den Vereinigten Staaten Nord-Amerikas" (mit vielen Belegen); und in Conrad: „Handwörterbuch der Staatswissenschaften", 2. Aufl. 98. E. G. Peabody: „Armenwesen in den Vereinigten Staaten". 8) W. G. Summer: „What Social Classes owe to Each Other", 1813, S. 167. 9) „History of European Morals", II, 99. 10) „Charities Review", März 1897, F. G. Peabody: „The Modern Charity-Worker." 11) „Charities Review", Juli 1897, F. G. Peabody: „Developing the Up-draught." 12) J . A. Riis: „The Children of the Poor", 1892, S. 277. 13) Vergleiche über diesen Punkt die englischen und deutschen Theorien der Armenpflege: Fowle: „The Poor Law" 1881; Aschrott: „The English Poor Law System", 1888 und: „Die Entwickelung des Armenwesens in England seit dem Jahre 1885, 1898; Mackay: „The English Poor" 1889 und „Parliamentary Report on the Elberfeld Poor Law System" 1888 (siehe den Nachweis von C. S. Loch, S. 88 : „We cannot have an out-relief policy in London — the German experience shows. We have not citizenship enough to administer it.") Böhmert: „Armenwesen in 77 deutschen Städten", 1886; Münsterberg: „Die Armenpflege" 1897; Forum, Dez. 1892 F. G. Peabody: „How should a City care for its Poor?" 14) Fowle: „English Poor Law", S. 10. 15) „Principles of Ethics", H, S. 433.

P e a b o d y , Jesus Christus und die soziale Frage.

21

322 Zu Kapitel VI. 1) H. Holtzmann: „Die ersten Christen und die soziale Frage", S. 21. „Von einer normativen Bedeutung der Nationalökonomie des Christentums zu sprechen kann unseres Erachtens so wenig die Rede sein als von einer normativen Bedeutung seiner Diätetik (Act. 15, 20. 29), seiner Hermeneutik (1. Kor. 9, 9. 10), seiner Astronomie (Matth. II, 9. 24. 29) oder seiner Metereologie (Matth. 16, 2. 3) Luk. 12, 54. 65). 2) A. Marshall: „Inaugural Address at Ipswich", 1889, S. 2. 3) 0. Holtzmann: „Jesus Christus und das Gemeinschaftsleben der Menschen", 1893, S. 14. 4) „Unto this Last": (Schlußparagraph) „Go Forth, then, weeping, bearing precious seed, until the time come and the kingdom when Christ's gift of bread and bequest of peace shall be unto this Last as unto thee." 5) Vergleiche 3. Evang.-soz. Kongreß 1892; A. "Wagner: „Das neue sozialdemokratische Programm", S. 96. 6) Über die Tendenz der Einrichtung des Privateigentums. Altruismus zu entwickeln, vergl. die bemerkenswerten Zugeständnisse L. Steins, „die Soziale Frage im Lichte der Philosophie", S. 105 und Erörterungen darüber in International Journal of Ethics, April 1898, S. 364. 7) Vergleiche ebenfalls „The Kernel and the Husk", S. 326: It appears, then, that what is called „Socialism" is really nothing but a narrow and unwise form of Christianity." 8) Ibsen: „Brief an Georg Brandes: „Der Staat muß vernichtet werden. An einer Revolution, die ein so zerstörendes Ende mit sich bringen würde, würde ich freudig teilnehmen Veränderungen in der Regierungsform sind nichts anderes als verschiedene Grade von Tändelei •— ein bischen mehr oder ein bischen weniger Torheit." Vergleiche ebenfalls H. van Dyke: „The Gospel for an Age of Doubt", 1896. Lecture I (und Zitate im Anhang.) 9) The Industrialist, Juli 1898; G. D. Herron: „The Social System and the Christian Conscience." 10) Vergleiche C. D. Wrights Anrede an Mt. Holyoke, 13. März, 1899 und den beredten Essay von F. Naumann: „Der Christ im Zeitalter der Maschine" in seinem „WELS heißt Christlich-Sozial?" S. 30. 11) So Buskin „Fors Clavigera", 70. Brief: „Property must consist of good things, not bad ones. It is rightly called a man's, oods, not a man's „Dads"; and „Munera Pulveris", S. 34: „We must istinguish the accidental objects of morbid desires from the constant objects of . legitimate desires." 12) Über den Einfluß, den eine feindliche Umgebung auf dip „soziale Fiber" ausübt, vergl. die treffende Anschauung Bagehot's in seinen „Physics and Politics", Kap. IL. „The Use of Conflict." Vergleiche ebenfalls Spectator, 8. April 1899, S. 479 über die sozialistische Arbeiter-Konferenz: The competitive struggle has many drawbacks,

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323 but at least it produces men, and it is men we want to make, not great associations of consumers of food." 13) So Leclaire in seinem ersten Versuch mit dem System der Gewinn-Beteiligung: Sedley Taylor: „Profit-sharing", 1884, S. 25. „I cannot believe that this consummation will ever be reached through the conflicts of opposing interests; it can only be from economic science enlightened by the Spirit of the Gospel." 14) The Industrialist, Juli 1899, G. D. Herron. Zu Kapitel VII. 1) In demselben Sinne beschreibt Prof. Clerk-Maxwell das, was er „Cross-fertilisation of the sciences" nennt (lies; Flame, Electricity and the Camera, 1899, S. 74). 2) „First Principles", Vermehrte Aufl. Kap. 6, S. 192. „Religion a Retrospect and Prospect", S. 35. 3) Longfellow „The Golden Legend", Finalf.

21*

Sachregister. Armen, die Ehe Jesn Lehre über 186 sozialistische Meinung über Kap. III Anm. 14 Fürsorge der Juden für 187 Diskussionen im Volk über 116 Fürsorge der Kirche 191 Jesu Lehre über 121 Jesu Gedanken über 196 nach der Ehescheidung 124 Jesu Verkehrsweise mit den 206 Regulierung der Ehe 125 verschiedene Typen der 208 einzige Alternative 125 können nicht im ganzen erleichtert Herrschaft der 126 werden 211 gesunde Lehre über 127 Erleichterung durch die Mitteilung von wie Jesus sich dem Problem nähert 128 Kraft 216 Selbstsucht in der 140 wie man den Armen Kraft verleiht 218 Geschäftssinn in der 141 Anstrengungen für 279 christliche 147 Arbeiterverein 282 Ehescheidung; Arbeitslose 150 Zunahme der 103 Bevölkerung Jesu Lehre über die 122 Konzentration der 131 Moses' Gesetz über 124 ländliche 134 Nichtigkeit einer heilenden GesetzChristentum gebung 130 sozialistische Meinung über das 13, 15 in den Städten 131 Beziehung zur sozialen Frage 16, 17 unter den Wohlhabenden 137 Kennzeichen des modernen 22 Eigentum Pläne, es auf die soziale Frage anzuPrivat-, sein Recht beanstandet 6 wenden 23, 28, 31, 42 dem Wandel offen 98 Wesen des modernen 53 Übertragung des 113 Stellung der Frau gegenüber dem 118, sein Beweis als Institution 153 119 Tendenz des Besitzes Kap. VI Anm. 6 EinfluU auf die Pflege der Armen 192 Ethik Prüfstein des 264—68 und die soziale Frage 9, 10, 293, Kap. I Wurzel in den Familien Kap. i n Anm. 21 Anm. 8 Deutsehland die alte 10 soziale Frage in 31 und Wirtschaftslehre Kap. I Anm. 8 protestantisches soziales Programm in muß die soziale Frage lösen 31 37 Jesu soziale 79 Militarismus in 85 niederer Maßstab der 139 Eblonlsmus Kap. IV Anm. 7 doppelter Maßstab der 180, 181 Egoismus in der Arbeiterfrage 228 Gefahr des 140 Evangelium im Altertum 187 die Natur des 60 Ehe Studium des 63 zwei Anschauungen der 105 | Charakterzeichen des 65, 69 im Licht sozialer Entwicklung 111

Sachregister. Evangelium apokalyptische Ideeil im 74 Variationen im 122 verlangt Familien-Integrität 130 vom Buchstabenwesen verzerrt 155 das vierte Evangelium achtet materielle Dinge gering 156 Eigentümlichkeit des dritten Ev. 158 seine Schätzung des Almosengebens 198-99 Toleranz des 241 Familie in Frage kommender Wert der 6 Platz in der sozialen Frage 31 dem Wandel offen 98 Jesu Lehre über die 103 Entwicklung der 107 patriarchalische Theorie der 108 die ursprüngliche 109 sozialistische Lehre über die 112 wirtschaftlicher Nutzen der 113 ein Bollwerk der jetzigen Ordnung 115 Jesu Betonung der 116 ihre Stellung in Jesu Gedanken 119 Dauer der 126 Hoffnung der Welt 129 Ursachen zum Untergang ihrer Stärke 131 Hauptgefahr für die 140 vom Kommerzialismus untergraben 141 Lösung des Problems der 144 was ist eine christliche 146 Frankreich soziale Frage in 31 Gesch&ft christliche Geschäftsführung 202 pessimistische Anschauungen über das 265 -66 ein System sozialen Dienstes 267 ethische Eigenschaft des 268 Gesetz des Dienens im 270 Glaube Kraft des 259 Stärke der Glaubensmänner 263 Bedürfnis nach 264 Heiliger Geist Sünde gegen den 20 wird die Menschen zur Wahrheit führen 254 Ideal Jesu soziales 71, 95 Entferntsein vom geistigen 94 des Sozialismus 96 des sozialen Dienstes 211 Ausdruck des Ideal9 im Geschäft 264

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Ideallsmus Jesu 80 nicht entwachsener 97, 102 der industriellen Bewegung 258 Individuum 63, 70, 78, 80 Verantwortlichkeit des 92 seine Hingabe an ein Ideal 94 seine Beschränkungen und seine Befreiung 95 seine Entwicklung durch die Gesellschaft 105 in der Familie 140 reine Ideale des 144 Erlösung der Welt durch das 259 seine Verantwortlichkeit 272 muß der Gesellschaft dienen 298 Industrielle Ordnung 222 gegenwärtige Lage 223 Ursachen zum Antagonismus 227 christliche Anschauung der 233 ihre Wirkung auf die Menschen 234 Übergang 249 verschiedene Gefühle gegen die 254 christliches Problem der 273 Jerusalem Kommunismus unter den Christen in 20, 163 Jesus Christus sein Tadel gegen die, welche die Zeichen der Zeit nicht sehen können 3 und die Sozialisten 13 sein Evangelium 16 befahl keinen Kommunismus 19, 21 seine soziale Lehre 41, 59 Achtung der Arbeiter vor 50 der Kirchen und Evangelien 51 Nachahmung von 54 Anwendung seiner Lehre 54 verschiedene Anschauungen über 55 sein erhabendstes Interesse 60 soziale Lehre nicht sein Streben 62 Lehrmethode 63 wie ausgelegt 64 Grund für seine Einsicht 65 sein Bild in der Kunst 66 Weltlehre 68 stellte keine Systeme auf 70 sein soziales Ideal 72, 78 seine eschatologischen Aussagen 74 seine Religionsphilosophie 79 Individualist oder Sozialist 80 seine Lehre für dieses Leben 82 Gesichtspunkte seiner Lehre 83 sein Heilsweg 86, 87 seine Versuchung 89

326

Sachregister.

Kinder Jesus Christus im sozialistischen Staat 114 sein Glaube an persönliche VerantwortFürsorge für 135 lichkeit 92 in einem christlichen Heim 147 seine Kontribution zur sozialen Frage 98 in Institutionen 209 seine Lehre über Grundsätze 99 Interesse an seiner Persönlichkeit 101 Klrehe Führerschaft 102 die Beziehung der Arbeit zur 12 Lehre über die Familie 116 Beziehung sozialer Reform zur 16 seine Sympathie für häusliches Leben 118 institutionelle 21 Achtung vor Frauen 119 um in die Industrie einzutreten 33, 34 über Ehe und Ehescheidung 121 kein wirtschaftliches Programm 38 seine Antwort an die Sadduzäer 127 Verlust des Einflusses 44 seine Lösung des Problems der FaAnschauung des Revolutionärs über milie 145 die 50 wie man auffassen soll 156 Organisation der 55, 56 seine Umgebung 165 Traditionen in Bezug auf Jesus 67 lehrte alle Klassen 166 Umwandlung der 86 Lehre über die Reichen 169 Gefahr der 100 und den reichen jungen Mann 172 Stellung zur Ehescheidung 105 anscheinender Konflikt in seiner Lehre in Jerusalem 163 173 ethische Degradation der 181 ihre Beziehung zu den Armen 191 seine strenge Botschaft an die Beichen Falsche Wohltätigkeit der 218 176 Mißbrauch der Wohltätigkeit in der 193 wen er lobt 182 Zurückweisung der 250 seine Lehre über die Armen 186 ihre innere Kraft 294 seine Anschauung über Almosen 199 eine Quelle geistiger Kraft 299 seine Lehre über die Haushalterschaft wahre Arbeit der 300 201 ihr Platz in der modernen Welt 302 der moderne Ton seiner Lehre über die Kommerzlallsmus Armen 201 Gefahr des 141 seine Art die Armen zu behandeln 205, Emanzipation von 181 214 im Geschäft 270, 273 gab keine Wirtschaftslehre 228 Kommunismus seine Lehre über Industrie 230 christlicher 118 seine Art sich der sozialen Frage zu nähern 243 Natur des in Jerusalem 20, 162 über zunehmende Zinsen 243 Neutestamentliche Kommentare über die Wiederversöhnung seiner industriKap. I Anm. 18 ellen Lehren 245 Kooperation 21 Verhältnis seines Ideals zum sozialisti- Kooperative Vereinigungen 12, 36, 243 schen Ideal 246 Kraft ein Optimist 252 Umwandlung der sozialen 287 was seine Hoffnung für die Welt rechtdie fundamentale, soziale 293 fertigte 259 Materialismus 14, 15, 81 Beziehung seiner Lehre zur Sparsam- Menschen keit 262 ihre Erschaffung das Ende der Gesellschaft 261 praktische Anwendung seiner Lehre 264 durch den Kampf gekräftigt 263 wie man ihm im Geschäftsleben nachNationen folgt 272 Mission der 1 seine Lehre über die Wechselbeziehung Vergeltung der 24 der Kräfte 287 Opportunismus der Prüfstein der Jüngerschaft 278 Katholische Klrehe christlicher 27, 80. in der sozialen Bewegung 32 Optimismus soziale Lehre der katholischen Kirche Jesu 252, 259 Kap. I Anm. 34, 35 in der industriellen Bewegung 254

Sachregister. Persönlichkeit ihr Platz in der sozialen Ordnung 79, 80 Modifikationen der 86 Jesu Streben 87, 101 Entwicklung der 88 Urs. Browning über 89 ihr Platz in der Organisation 99 in der industriellen Ordnung 236 Pessimismus im modernen Sozialismus 255 revolutionärer Charakter des 257 falscher Ton im 257 Philanthropie ihr ethischer Ton 9 als Anwendung des christlichen Geistes auf die soziale Frage 21 die soziale Frage geht darüber hinans 22 nicht sich an Almosen genügen lassen 37 was sie bedarf 83 Arbeit der 133 schlug Wurzel in Rom 189 Ausdehnung christlicher 190 beste Form der 212 falsche 282 Prediger die rechte Arbeit für den 23 Begrenzungen für den 27 sein Platz in der modernen Welt 302 Prophet der in der sozialen Frage 23 Kritik 27 im Alten Testament 68 Reformer Schwäche der 268 wie sie sich der sozialen Frage nähern müssen 279 Begeisterung der 280 ihre erste Frage 296 Regeneration wie sie bewirkt wird 71 Bedürfnis für 90 fundamentale 92 der Welt 259 Reichen, die 149 Jesu Lehre über 154, 169 Paulus über die Pflicht der 159 Jesu Nachfolger 165 jüdische Anschauung Uber die 168 Jesu Botschaft an 174 Jesu strenge Forderungen an 176 christliches Leben der 183 Releh Gottes 72 wie es kommen soll 78, 93 was es bietet 95 christliches Gesetz bestimmt, es zu gründen 126

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Reich Gottes Jesu Gedanke über das 239 Jesu Vertrauen zum 252 Reichtum Verteilung von 151 auf seine Nutzbarkeit hin geprüft 153 abweichende Lehren des Neuen Testamentes über den 157, 164 Jesu Aussprüche über 170 entnervende Wirkung des 173 ein Pfand des 174, 177 wie man ihn recht benutzt 177 seine Anwartschaft auf Glück 179 seine Benutzung im Geschäft Religion und soziale Unzufriedenheit 12 Stellung der Sozialisten zur 13 Prüfstein der 21 wie sie der sozialen Frage begegnet 23 soziale Nutzbarmachung der 27 im industriellen Leben 30 Organisation der Arbeit durch 33 Christi Religionsphilosophie 79 Abhängigkeit von Gott 79 als Lösung der sozialen Frage 82 Institutionalisierung der 85 Harmonie von Wissenschaft und 288 Prüfstein der 302 Reue Charakter der 118 Rom Korruption von 188 Samariter Lehre vom barmherzigen 198, 206, 211, 213 Sozialdemokratie Programm der 4, Kap. I Anm. 12, 34,247 billigt Albeiterverein 32 von Stöcker verdammt 37 weist den christlichen Sozialismus zurück 40 Soziale Frage die 2 jetzige Merkzeichen der 4, 7 Interesse der 9 ihr ethischer Charakter 9, Kap. I Anm. 8 ihr Verhältnis zur Religion 11 Mißdeutungen der 16 Carlyles und Ruskins Stellung zur 24 mehr ethisch als wissenschaftlich 31 Jesu Lehre über 41, 59 Jesu Ansicht über 81 alles an sich reißend 82 wie gelöst 82 Äußerlichkeit in der 81, 27 inwiefern Fehler des Individuums 90 ihre Wurzel im moralisch Bösen 248

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Sachregister.

Soziale Frage ihre Wechselbeziehungen 275 Wandlungen der 277 Ausdehnung der 281 im Grunde ethisch 293 Soziale Kongresse 28, Kap. I Anm. 38,48 Soziale Hasehinerle 84 Gefahren in 88 muH in jedem Zeitalter wieder in Ordnung gebracht werden 260 muH moralische Kraft haben 293 Soziallsmus Stellung zur Religion 11, 13 christlicher 31, 36, 39 Beziehung zur Sozialdemokratie 41, 48 Glaubensbekenntnis des 85 sein ideales Ziel 96 in Jesu Lehre 240 sein Glaube ein Ersatz für Religion 250 stellt die Welt falsch dar 259 Soziallsten ihre Geschichtsphilosophie 14, 31 Gesetz gegen 38, 40 protestantische 40 christliche 48 Angriff auf die Familie 112 auf die Ehe Kap. III Anm. 14 auf die Familie 113 Selbsttäuschung 146 Mißtrauen in Jesu Lehre 241 Verhältnis ihres Ideals zu dem Ideal Christi 246 Optimismus der 255 Pessimismus der 256 Sparsamkeit alte und neue Anschauungen über 261 Staat der als Institution in Frage gestellt 6 Sozialismus des Staats in Deutschland 37 als soziale Einheit 112 muH das Elend erleichtern 216 Entwicklung des sozialistischen 255 Sünde verantwortlich für soziales Übel 91 für industrielles Übel 248

Temperenz Sphäre der 281 wirtschaftlicher Fortschritt abhängig von 283 Methode der 296 Theologie ihr Interesse nicht sozial 42 Reaktion 44 Wandel und Anfang der 56 Jesu Theologie 117 Vereinigte Staaten von Carlyle und Ruskin kritisiert 27 Ehescheidung in den 103 Wohltätigkeit in den 192 Wettbewerb 29, Kap. VI Anm. 12 Wirtsehaftslehre in Beziehang zur Ethik Kap. I Anm. 8 der ersten Christen 26 Carlyle und Ruskin als Lehrer der 25, 26 Studium der 27 unchristlicher Charakter der herrschenden 29 Fundamentalproblem der 81 Neutestamentliche 229 Wohltätigkeit Zurückweisung der 5 alte und neue Anschauung 7 Problem der 92 Benutzung des Reichtums für die 178 christliche 186 erste christliche 190 Mißtrauen gegen die 193 revolutionäre Anschauung über die 194 gefährliche Form der 201 Beginn der im Hause 202 Wandlungen die in der W. angezeigt erscheinen 208 Institutionalismus in der 210 Organisation der 213 ihre wahre Aufgabe 217 Natur christlicher 219—20 Spezialisten in der 277 Wohnungen Muster 134