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German Pages 354 Year 2018
Vanessa Höse Wie die Anderen leben
Histoire | Band 107
Vanessa Höse (Dr. phil.) hat am Historischen Institut der Universität zu Köln promoviert. Sie arbeitet am Institut Solidarische Moderne in Berlin. Freiberuflich leistet sie zudem historisch-politische Bildungsarbeit zu den Schwerpunkten Migration, Medien, Rassismus und Widerstand.
Vanessa Höse
Wie die Anderen leben Die Soziale Frage in der argentinischen Magazinpresse (1900-1920)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Actualidades gráficas. Mundo Argentino en provincias: Grupo de canillitas de la ciudad de San Juan que contribuyen a aumentar la popularidad de nuestra revista«, in: Mundo Argentino, 63, 30.03.1912. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3774-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3774-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 11 Presse und Gesellschaft: Argentinien 1900-1920 | 15 Eine Kulturgeschichte des Sozialen: Fragestellungen | 28 Eine Geschichtsschreibung in biopolitischer Perspektive | 31 Quellen und Methode | 39 Zur Struktur des Buchs | 44 Das Neuste vom Neuen: Magazinpresse in Argentinien | 47 Markt, Masse und Modernisierung | 48 Magazinkultur | 64 Die Stadt lesen | 73 Beruf: Reporter | 81 Journalistische Praktiken | 90 Die Erforschung der städtischen Ränder | 101 Kontaktzone Ufer | 103 Badeanstalten – Licht und Luft für die Massen | 116 „Los residuos humanos“ – Leben auf der quema | 125 Proletarische Wohnverhältnisse | 143 Das conventillo als Hygieneproblem | 145 Von Bildern des Protests zur Bekämpfung des Elends | 154 Die Utopie des privaten Eigenheims | 164 Die curiosidades der modernen Stadt | 185 Die Porträtierung der tipos populares | 186 Transgression von Geschlechternormen | 202
Armut als soziales Risiko | 221 Das Problem der Armut | 224 Die moderne Schule der Bettelei | 232 Die freiwillige Armut der atorrantes | 248 „La fuerza viva de la nación“ – Gefährliche Kinder und gefährdete Kindheit | 259 Die Sorge um die Kindheit | 262 Das Problem der Delinquenz | 279 „El alma de la ciudad” – Die canillitas | 294 Fazit | 307 Bibliographie | 319
Danksagung
Für die Arbeit an meiner Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, habe ich viel Unterstützung und Zuspruch erhalten, für die ich einer Reihe von Menschen danken möchte. Mein erster Dank gilt meiner Betreuerin Barbara Potthast. Während meiner Forschungstätigkeit und Anstellung an der Abteilung für Lateinamerikanische und Iberische Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln habe ich sie als Chefin, als Historikerin und als Mensch sehr schätzen gelernt. Ich bedanke mich vor allem für das Vertrauen und die Aufmerksamkeit, die mich sehr gestärkt haben. Jens Jäger, meinem Zweitgutachter, danke ich für seine wichtigen Impulse für die Quellenarbeit mit Fotografie und für die wertvollen Hinweise auf transnationale Verflechtungen in meiner Arbeit. Olaf Stieglitz danke ich dafür, dass er auf den letzten Metern als Drittgutachter eingesprungen ist. Vor allem aber für die ganzen Jahre, in denen er mich in meinem historischen Denken und Arbeiten maßgeblich beeinflusst und inspiriert hat. Der Zusammenarbeit mit Katharina Motzkau und Antonio Sáez-Arance im DFG-Forschungsprojekt „Integration, Exklusion, Exzeption: Nationalidentitätsdiskurse und gesellschaftliches Selbstverständnis in Chile und Argentinien“ verdanke ich viele Erkenntnisse und gute Ideen. Meinen Kollegen Albert Manke und Hinnerk Onken und meinen Kolleginnen Bea Wittger und Lizette Jacinto danke ich für ihre kollegiale Unterstützung und Wertschätzung. Auch die „andere Seite des Flurs“, die Abteilung für Nordamerikanische Geschichte, war für mich ein wichtiger Ort des Austauschs darüber, wie wir kritische Geschichtsforschung betreiben und uns dabei gegenseitig unterstützen können. Danken möchte ich dafür Gudrun Löhrer, Muriel González Athenas, Dominik Ohrem und der „Sauerlandgruppe“, mit der wir uns gegen die Krisen der Promotionszeit und die Neoliberalisierung des Unibetriebs verschworen haben. Mit Mirta Lobato, Juan Suriano, Geraldine Rogers, Donna Guy und José Moya habe ich während meiner Forschungsaufenthalte in Buenos Aires und
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New York City insprierende Gespräche geführt und wichtige Hinweise erhalten, für die ich dankbar bin. Mein Bruder Alexander Höse hat mich von der ersten Hausarbeit bis zum letzten Kapitel der Dissertation beraten und begleitet, wofür ich ihm von Herzen danke. Meiner Schwester Stephanie Lob und meinen wunderbaren Freundinnen und Freunden Björn Klein, Christine Kiefer, Hrvoje Hlebec, Astrid Lauff, Linda Bausch und Viola Saur gebührt größter Dank für die Hilfe bei der Überarbeitung, beim Korrekturlesen und bei der Versorgung mit Mate. Meine Tochter Lola kam inmitten meiner Promotionszeit zur Welt und hat mir beigebracht, mich gut zu organisieren, die Stunden am Schreibtisch zu nutzen und mich neben der Dissertation auch mit den anderen wichtigen Dingen des Lebens zu beschäftigen. Auch möchte ich meinen Eltern danken, die mir als liebevolle Babysitter und durch ihren bedingungslosen Rückhalt eine echte Stütze waren. Ohne Massimo Perinelli und Teresa Huhle wäre dieses Buch nie zustande gekommen. Beide sind seit dem Studium meine wichtigsten Ratgeber_innen, meine Vertrauten, Mutmacher_innen und nicht zuletzt herausragende Historiker_innen, von denen ich so vieles gelernt habe. Teresa danke ich insbesondere für ihre Loyalität und die seit vielen Jahren geteilte Begeisterung für die Geschichte, mit der wir uns immer wieder gegenseitig anstecken. Massimo bin ich dankbar dafür, dass er mich in Momenten des Selbstzweifels überzeugt hat, dass diese historische Arbeit wichtig ist und dieses Buch unbedingt gedruckt werden muss.
Dieses Buch ist den Anderen gewidmet, die nicht Geschichte schreiben, aber Geschichte machen.
Einleitung
„Inacabable es el número de topos realmente característicos que pupulan [sic!] en el vientre hipertrófico de la gran cosmópolis. Especie de mosaico de todas las razas y por tanto, de todas las costumbres, existen en la ciudad como en un museo de historia natural, ejemplares de [...] la fauna exótica y de las más risueñas extravagancias mentales, desde los ex-hombres arrojados al margen de la vida por los oleajes de la miseria ó el vicio [...] hasta los triunfadores ungidos por el doble éxito del dinero y la política [...].“
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Dieses schier unerschöpfliche und vielgestaltige Panorama von Menschen und ihren Lebensverhältnissen in der Großstadt, welche das Magazin Mundo Argentino 1911 als reichhaltigen Fundus der modernen Presseberichterstattung pries, ist Ausdruck einer neuartigen medialen Beschäftigung mit der urbanen Bevölkerung in Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Um die Jahrhundertwende entstand mit der Magazinpresse in Argentinien und weltweit ein Unterhaltungsund Informationsmedium, das nicht nur ein bislang unbekanntes Spektrum an sensationellen, alltäglichen, problemorientierten und humorvollen Themen und Stilen aufwies, sondern auch ein klassen-, alters- und geschlechterübergreifendes Lesepublikum erreichte. 2 Mit dem Magazinjournalismus und seinem kostengünstigen neuartigen technischen Bilddruckverfahren begann das Zeitalter der visuellen Massenmedien: Die Fotografien, welche die Seiten der Magazine
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Gnomo: „Tipos de la ciudad. El hombre de presa“, in: Mundo Argentino, 1, 9, 08.03.1911, S. 3.
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Die Bezeichnung Magazine beziehungsweise Magazinpresse geht auf den englischsprachigen Quellenbegriff des magazine zurück, den verschiedene argentinische Zeitschriften des betrachteten Zeitraums (als Anglizismus) zur Selbstbeschreibung nutzten und damit ihre transnationalen Bezüge und ihre Modernität betonten. Die Bezeichnung als revista war dem gegenüber üblicher. Diese Arbeit verwendet den Begriff des Magazins und der Magazinpresse alternierend zum Begriff Zeitschrift.
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durchzogen, gewährten ihren Leserinnen und Lesern Einblicke in Lebenswelten, die sich außerhalb ihres eigenen Wahrnehmungshorizontes befanden und schufen damit eine neue Ebene von Bildaussagen, die über diejenigen der Texte hinausgingen und damit das Aussagevermögen des klassischen Textmediums revolutionierten. Die Bilder waren mit eigenen narrativen Qualitäten ausgestattet, welche die LeserInnen zu lesen lernten und den Magazinen jene bis dato unbekannte Popularität verschafften, die sie Anfang des 20. Jahrhunderts zum Leitmedium der Moderne erhob. Seit der ersten Ausgabe von Caras y Caretas am 8. Oktober 1898, der mit Abstand erfolgreichsten Zeitschrift ihrer Zeit in Argentinien, standen soziale Probleme des modernen städtischen Lebens auf der Agenda der Magazinpresse. Sie und eine Reihe von weiteren, in den folgenden Jahren neu gegründeten Zeitschriften erzählten von Armutsverhältnissen, Kriminalfällen und Selbstmorden, vom Leben auf der Straße und in den beengten Wohnverhältnissen der Arbeiterklasse, von primitiven, gefährlichen und rebellischen Lebensentwürfen innerhalb und außerhalb der urbanen Zentren. Eine neue Berufsgruppe von Reportern und Fotografen3 erschloss die räumliche Dimension dieser sozialen Dynamiken: Sie wanderten durch die städtischen Zentren auf der Suche nach außergewöhnlichen Menschen und Ereignissen, sie begaben sich zu den informellen Siedlungen an den Stadträndern und interviewten die dortigen BewohnerInnen, sie fotografierten gerade eingetroffene MigrantInnen am Hafen und im Hotel de Inmigrantes4,
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Die Berufsgruppen der Reporter, Fotografen und anderer Journalisten in der Magazinpresse setzten sich in der Phase des Untersuchungszeitraums zwischen 1900 und 1920 nach dem bisherigen Kenntnisstand ausschließlich aus Männern zusammen. Ohne die Möglichkeit auszuschließen, dass dennoch Frauen in diesen Berufen (verdeckt) tätig waren, wird für diese Gruppen dennoch grammatikalisch das männliche Geschlecht verwendet, um den Umstand des durchgängig männlichen Blicks im Journalismus nicht zu verschleiern. Dies gilt ebenso für weitere Berufs- und Gruppenbezeichnungen, für die vergleichbare Geschlechterverhältnisse angenommen werden können. In allen anderen Fällen wird hingegen das generische Maskulinum durch die geschlechtergerechte Schreibweise mit Binnenmajuskel vermieden, um die nachweisbare Agency von Frauen in allen behandelten gesellschaftlichen Feldern zu verdeutlichen. Komposita sind aufgrund der Lesefreundlichkeit von dieser Schreibweise ausgenommen.
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Das Hotel de Inmigrantes bezeichnete das Gebäude, das neu eintreffenden ImmigrantInnen eine erste Unterkunft, Orientierung und Arbeitsvermittlung gewährte.
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sie suchten die Arbeiterfamilien in den conventillos5 auf, sie frequentierten Polizeistationen, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten und Kinderheime. Diese sozialen Räume gewannen in den Schilderungen und Bildern der Magazine an Gestalt und Bedeutung für diejenigen, die sie lasen und betrachteten. Die Sozialreportagen und Milieustudien der Journalisten verdichteten sich zu einer sozialen Karte der modernen Stadt, die weitaus fragmentierter war als die glänzenden Selbstdarstellungen, die etwa die Eliten von Buenos Aires zum Anlass des Centenario, also zum 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit von der Stadt präsentierten.6 Sie zeigten jene Räume, die im Schatten der elektrifizierten Boulevards der Innenstadt standen, mit den neuesten Verkehrsmitteln der Untergrundbahnen und Automobile nicht zu erreichen waren oder sich bei Nacht von prächtigen Monumenten zu Refugien der Armen verwandelten. Die neuen Zeitschriften hoben unerlässlich jene städtischen Szenarios der Armut und des Anormalen hervor. Gleichermaßen porträtierten sie Individuen und Bevölkerungsgruppen, die als typisch, authentisch, rückständig, gefährlich, faszinierend, andersartig, bewunderns- oder auch bemitleidenswert oder zu verabscheuen repräsentiert wurden. Die einzelnen Darstellungen der subalternen Räume und Menschen verbanden sich zu Diskursen über soziale Marginalität, die indes mehr bedeuteten als bloße Exklusion. Sie identifizierten, visualisierten und problematisierten die subproletarischen ‚Ränder‘ der Gesellschaft, diskutierten die Gefahren und Chancen für die nationale Gemeinschaft und forderten den Einsatz politischer, sozialer und institutioneller AkteurInnen ein. Aufgrund ihrer oftmals humoristischen, simplifizierenden und unterhaltsamen Darstellungsweisen sind die Magazine in der historischen Forschung vielfach als Randerscheinung gesellschaftlicher Prozesse oder allenfalls als ‚Spiegel
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Als conventillos oder inquilinatos wurden kollektive Unterkünfte beschrieben, in denen die einzelnen Zimmer gewöhnlich von jeweils einer Familie oder mehreren einzelnen Männern bewohnt und Koch- und Sanitäranlagen sowie Innenhöfe gemeinschaftlich genutzt wurden. Diese Wohnform war typisch für proletarische Familien, neu eingetroffene EinwandererInnen und so genannte golondrinas, die saisonal als ArbeitsmigrantInnen zwischen ihren Herkunftsregionen und Buenos Aires pendelten.
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Einen visuellen Eindruck der Feierlichkeiten, Ausstellungen, Monumente, Grünanlagen und künstlerischen Produktionen zum Anlass des Centenario in Buenos Aires bietet der Katalog zur Ausstellung Buenos Aires 1910, die 1999 in Abasto, Buenos Aires gezeigt wurde. Vgl. Gutman, Margarita; Reese, Thomas Ford (Hg.): Buenos Aires 1910. El imaginario para una gran capital, Buenos Aires: Eudeba 1999.
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der Gesellschaft‘ oder ‚kultureller Indikator‘ betrachtet worden.7 Sie waren allerdings mehr als ein „registro del cambio de ideas, vidas y costumbres“8, wie Carlos Ulanovsky in seiner Geschichte der Presse in Argentinien vermerkt; ebenso wenig wie sie einzig Zeugen des Fortschritts und seiner Schattenseiten waren, wie Fraser für Caras y Caretas konstatiert.9 Dieses Buch wird zeigen, dass die Magazinpresse sowohl auf der Ebene von Praktiken wie der Erkundung von urbanen Räumen, der Befragung und der Intervention in soziale Verhältnisse als auch auf diskursiver Ebene produktiv für die Entstehung der modernen argentinischen Nation war. Sie fungierte als Schnittstelle zwischen subalternen Räumen und Menschen, ihrem Lesepublikum und reformorientierten ExpertInnen: Die Journalisten suchten, angereichert mit dem ExpertInnenwissen aus Hygiene, Kriminologie, Soziologie und anderen Wissenschaften, die subalternen Zonen auf, interpretierten sie und vermittelten ihr dadurch gewonnenes Wissen an eine Öffentlichkeit, die sich zunehmend mit den sozialen Verhältnissen im urbanen Raum konfrontierte. Mit diesem Wissen waren, so wird im Folgenden theoretisch und analytisch gezeigt, bestimmte Machteffekte verbunden. In der Diskursivierung der marginalisierten Subjekte ging es um nicht weniger als um eine neuartige Stratifizierung der argentinischen Gesellschaft in ihrer historischen Umbruchphase: Die Proletarisierung und gleichsam Verstaatsbürgerlichung der Unterschicht, die Entstehung der Mittelschichten und die als Demokratisierung bezeichnete Infragestellung alter Eliten wurde über die Kategorisierung und Problematisierung der Subalternen und subproletarischer Randgruppen verhandelt. Die Betrachtung dieser Ränder war für die Entstehung der neuen Schichten von Bedeutung; das Zentrum als nationalidentitäres Konzept wurde über die Bestimmung seiner Grenzen geformt. Als Objekte von Reform-strategien, als Alterisierungspole des Anormalen und Absurden, als das Parasitäre gegenüber dem neuen kapitalistischen System, als das zu Ordnende, Regulierende, Abzugrenzende, Abzuschaffende wurden die repräsentierten Subalternen im investigativen Magazinjournalismus zum konstituierenden Anderen des modernen Staatsbürgers beziehungsweise der modernen Staatsbürgerin. Diese diskursive Operation war gewiss keine reine Klassenfrage, sondern entstand ebenso mit Bezug auf Kategorisierun-
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Vgl. Auza, Néstor Tomás: „Un indicador de la cultura bonarense. El periodismo de 1877 a 1914“, in: Investigaciones y Ensayos, 50, 2000, S. 101-128.
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Ulanovsky, Carlos: Paren las rotativas. Una historia de grandes diarios, revistas y periodistas argentinos, Buenos Aires: Espasa 1997, S. 17.
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Fraser, Howard M.: „The Wit and Witness of a ‚Belle Epoque‘“, in: Américas, 36, 4, 1984, S. 32-39, S. 35.
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gen von raza, Geschlecht, Verhalten, Alter und räumlicher Anordnung der Menschen in den Reportagen im Verhältnis zu den sich als BeobachterInnen wähnenden ZeitschriftenleserInnen.10 Für diese Perspektive ist Michel Foucaults Begriff der Biopolitik wertvoll, mit dessen Hilfe verstanden werden kann, wie die historische Aushandlung von Nützlichkeit und Schädlichkeit für die Bevölkerung durch eine biologistische Betrachtung des Bevölkerungskörpers und seiner ‚sozialen Pathologien‘ die Regierungstechnologien des modernen Nationalstaates und die Ausbildung seiner Institutionen erst hervorzubringen vermochte.
P RESSE UND G ESELLSCHAFT : A RGENTINIEN 1900-1920 Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit umfasst die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.11 Diese Periode umreißt grob die Phase, in der sich die Magazinpresse in Argentinien als modernes Massenmedium etablieren und eine Vorreiterrolle gegenüber der ebenfalls im Aufschwung begriffenen Tagespresse einnehmen konnte. Der große Erfolg der Magazinpresse erklärt sich aus der Nutzung neuer technischer Möglichkeiten: Die Einführung der Rotationspresse vereinfachte und verbilligte wesentlich die serielle Reproduktion von Printmedien. Informationsaustausch und Pressedistribution wurden durch die Entwicklung regionaler und globaler Infrastruktur wie dem Ausbau von Eisenbahnnetzen und der Verbreitung der Dampfschifffahrt, sowie durch die Einführung moderner Kommunikationstechnologien wie der Telegrafie und dem Telefon enorm beschleunigt. Nicht zuletzt führte die serielle Reproduzierbarkeit von Bildern in der Presse durch Verfahren der Autotypie zum Aufstieg der Magazinpresse als erstem visuellem Massenmedium.12 10 Für die Kategorie der raza wird in dieser Arbeit der spanischsprachige Quellenbegriff beibehalten, da die deutsche Entsprechung ‚Rasse‘ durch ihre Bedeutung für die Geschichte von eugenisch-genozidalen Vernichtungsstrategien im Nationalsozialismus geprägt und von ihr überlagert ist. 11 Der Untersuchungszeitraum wird nicht als scharfe Eingrenzung begriffen. Das Magazin Caras y Caretas erschien in Buenos Aires erstmals 1898 und wird ab dieser Zeit in die Analyse einbezogen. In thematisch relevanten Fällen werden auch Artikel der frühen 1920er Jahre in die Betrachtung mit aufgenommen. 12 Die Autotypie bezeichnet ein technisches Bilddruckverfahren, bei dem die Fotografie als Rasternegativ auf eine Metallplatte kopiert wird. Durch einen chemischen Ätzprozess wird daraus eine Druckvorlage erstellt, die mittels eines Zylinder- und Walzen-
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Fotografen wurden Teil der Zeitschriftenredaktionen, ebenso wie eine neue Klasse von professionellen Reportern, deren Arbeit sich nun wesentlich über Recherchen in situ definierte, also weniger eine Aufgabe der intellektuellen Reflexion darstellte, wie sie für den Journalismus des 19. Jahrhunderts typisch gewesen war. Der parteigebundene Meinungsjournalismus, der vor der Jahrhundertwende die Regel war, wich graduell einem angelsächsisch orientierten Modell des informativen und unterhaltsamen Journalismus, der nicht länger an politische Fraktionen gebunden war. Gleichzeitig fand eine Kommerzialisierung der Medienkultur statt, für welche die neue Magazinpresse tonangebend war: Die Seiten der Magazine waren bereits in ihren Anfangsjahren bis zu 50 Prozent mit Werbung bedruckt, wodurch die Preise für die KäuferInnen rapide sanken und die Auflagen und Verkaufszahlen stiegen. Die neuen Zeitschriften erreichten ein wachsendes Lesepublikum, dessen Heterogenität sich auch in dem extrem breiten thematischen Spektrum abzeichnete, mit dem die Verlage und Redaktionen möglichst viele KäuferInnen zu adressieren suchten. Erst in den 1920er Jahren setzte sich eine Diversifizierung und Spezialisierung der Magazinkultur durch, die sich immer mehr auf bestimmte Themen oder Bevölkerungsgruppen ausrichtete. Die Ausbreitung von Frauenzeitschriften ab den 1920ern bildet diese Entwicklung besonders deutlich ab. Eine zunehmende thematische Spezialisierung ist ab dieser Dekade auch bei den zuvor gegründeten Zeitschriften bemerkbar: So stellte Mundo Argentino beispielsweise um 1920 seine stark an sozialen Problematiken der clases populares orientierte Berichterstattung zugunsten einer neuen Fokussierung auf Starkultur, Mode und Konsum um.13 Ab den 1920er Jahren wurde zudem die Rolle der Magazinpresse als kultureller Leitliniengeberin sowohl von der Tagespresse, die sich mit neuen Formaten und insbesondere durch das Mittel der Fotografie modernisiert hatte, ebenso wie durch den Aufschwung von Radio und Kino in den Schatten gestellt.14
systems Bilder und Texte industriell in einer bis dato nicht bekannten Qualität und Quantität auf Papier drucken konnte. 13 Clases populares bezeichneten Gabriel Di Meglio zufolge „la gente común, la que formaba la base de la pirámide social, de aquellos cuyo recuerdo se ha perdido o es dificial de recuperar, de quienes no tienen nombres que llevan sus nombres“. Vgl. Di Meglio, Gabriel: Historia de las clases populares en la Argentina. Desde 1516 hasta 1880, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 2012, S. 9. 14 Einen Überblick über die Geschichte der Presse in Argentinien bieten: Ángel Marco, Miguel de: Historia del periodismo argentino, Buenos Aires: Ed. de la Univ. Católica Argentina 2006; Ulanovsky, Paren las rotativas, 1997. Zur Geschichte der Zeitschrif-
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Periodisierungen Die Wahl des Untersuchungszeitraums erklärt sich nicht allein über eine medieninterne Geschichte der Magazine, Reporter und ihrer Leserschaft. Vielmehr sind die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts für das Aufkommen eines neuen Begriffs von Bevölkerung, Gesellschaft und Nation bedeutsam, der sich über die Massenpresse artikulieren und popularisieren konnte. Hier wurden gesellschaftliche Zugehörigkeit, Exklusion und Marginalisierung entlang von Kriterien der Herkunft, der raza, des Geschlechts, der Klasse, des Lebensstils und der sozialen Milieus diskursiviert. Bedeutend für die neuen medialen Diskurse über die sozialen Zusammenhänge und Gefahren war, dass die Magazinpresse Teil einer neuen Massenkultur wurde, die nicht mehr strikt entlang elitärer Prinzipien der ciudad letrada15 des 19. Jahrhunderts funktionierte, sondern gerade in ihrer pluralen und kommerziellen Ausrichtung Machteffekte des Ein- und Ausschlusses zu produzieren vermochte und dabei soziale Bedeutungen und Identitäten generierte. Die Periodisierung von 1900 bis 1920 widerspricht indes den gängigen sozialgeschichtlichen Epocheneinteilungen zu Argentinien. So geht sie über die Epochengrenze von 1916 hinweg, die den Übergang von dem so genannten orden oligárquico (1880-1916) zu einer Phase der demokratischen Öffnung darstellt. Zugleich bildet sie sozialgeschichtlich gesehen nur einen Ausschnitt aus der era aluvial, die den Höhepunkt der Masseneinwanderung zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg als wichtigstes strukturelles Merkmal erkennt.16 Auch die
tenkultur siehe einführend: Romano, Eduardo: Revolución en la lectura. El discurso periodístico-literario de las primeras revistas ilustradas rioplatenses, Buenos Aires: Catálogos 2004; Eujanian, Alejandro C.: Historia de revistas argentinas 1900-1950. La conquista del público, Buenos Aires: AAER 1999; Auza, Un indicador de la cultura, 2000. Eine ausführliche Besprechung der Transformationen im Bereich des Pressewesens und der Entwicklungen der Magazinpresse erfolgt in Kapitel 3. 15 Diese auf Ángel Rama zurückgehende Bezeichnung für abgrenzbare Zirkel von intellektuellen Eliten in der lateinamerikanischen Geschichte wird an nachfolgender Stelle genauer erläutert. 16 Der Begriff der era aluvial wurde von José Luis Romero geprägt, siehe: Ders.: Las Ideas políticas en Argentina, Buenos Aires: Fondo de Cultura Económica 1975. Auch Fernando Devoto periodisiert die Masseneinwanderung nach Argentinien zwischen 1880 und 1914. Siehe: Ders.: Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 2003. José Carlos Moya ist hingegen an einer langfristigen Perspektive interessiert, anhand derer die Bedeutung von Migrationsnetzwerken von spanischen ImmigrantInnen zwischen 1850 und 1930 erkennbar wird. Vgl. Moya,
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Epoche der Sozialen Frage, die soziale Kämpfe und Bewegungen sowie ihrer staatlich-institutionellen Antworten zwischen Repression und Reform umfasst, wird ab den 1880er oder sogar bereits mit den 1850er Jahren angesetzt.17 Der Untersuchungszeitraum von Arbeiten zu Nationalstaat und Nationalidentität in Argentinien endet für gewöhnlich vor 1900, während die Geschichte des Sozialstaats normalerweise erst mit dem Peronismus abgehandelt wird. Die Geschichte der Magazinpresse ist unmittelbar mit all diesen historischen Prozessen von Demokratisierung, Entstehen der Mittelschichten, Migration, Nationsbildung und Sozialstaatsbildung verbunden. Sie ist einerseits Ausdruck dieser Entwicklung, bildet jedoch vor allem durch die Medialisierung und Verdichtung von Diskursen den Resonanzboden, auf dem die dafür notwendigen Prozesse ausgehandelt wurden und zu einem verallgemeinerten Wissenskomplex ausreifen konnten. Im Folgenden werden die Epochenmerkmale der konservativen Ordnung, der Epoche der Masseneinwanderung und der Sozialen Frage erläutert und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung für dieses Buch aufgezeigt. Konservative Ordnung und nationales Projekt 1880 gilt als Epochenschwelle zu einer Phase des so genannten orden oligárquico, in dem sich unter der politischen Führung abgegrenzter elitärer Kreise eine staatliche Ordnung unter liberalen und konservativen Vorzeichen etablierte und bis 1916 andauerte. Nach über einem halben Jahrhundert machtpolitischer und mitunter militärischer Auseinandersetzungen über die Frage der staatlichen Organisation und der wirtschaftlichen Vormachtstellung zwischen Föderalisten und Unitariern setzte die nationale Regierung unter dem schlichten Motto paz y administración ein stabiles politisches System durch. Die Grundlage dafür bildete die Föderalisierung von Buenos Aires, die eine administrative und politische Trennung von Stadt und Provinz durchsetzte. Die Hauptstadt der Provinz Buenos Aires wurde nach La Plata verlegt und die Stadt Buenos Aires als Capital
José Carlos: Cousins and strangers. Spanish immigrants in Buenos Aires, 1850-1930, Berkeley, Calif., Los Angeles, Calif., London: Univ. of California Press 1998. Für eine Aufweichung der Periodisierungen zur argentinischen Einwanderung zeigt Birgit Zur Nieden historische Konjunkturen von Migrationsbewegungen zwischen Argentinien und Spanien als entangled history des 19. Und 20. Jahrhundert auf. Vgl. dies.: Konjunkturen der Migration. Spanisch-argentinische Diskurse und Politiken um das Recht auf Migration, Berlin: Verlag Walter Frey 2013. 17 Zu einer Diskussion der Periodisierung der Cuestión Social siehe: Suriano, Juan: „La cuestión social y el complejo proceso de construcción inicial de las políticas sociales en la Argentina moderna“, in: Ciclos, 11, 21, 2001, S. 123-147.
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Federal de la República aus der Provinz ausgegliedert.18 Die wichtigsten AkteurInnen und intellektuellen Eliten der konservativ-liberalen Epoche sind als generación del 80 in die Geschichte eingegangen. Dabei handelte es sich um jene Kreise, die sowohl die politischen Ämter bekleideten, als auch im wissenschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bereich großen Einfluss besaßen.19 Die nationale Regierung wurde von 1880 bis 1916 ausschließlich von Kandidaten des Partido Autonomista Nacional (PAN) gestellt. Über die Vorbestimmung von Kandidaten, Stimmenkauf und Wahlbetrug sicherten diese sich ihre Macht und höhlten damit das demokratische Prinzip der politischen Repräsentation aus.20 Unter der generación del 80 konkretisierte sich das Projekt eines modernen Nationalstaats, der sich eine nationale Rhetorik zueigen machte, die bereits von den intellektuellen Oppositionellen unter der Regierung von Juan Manuel de Rosas (1827-1852) und späteren ‚Staatsvätern‘ der so genannten generación del 37 formuliert und propagiert worden war.21 Ihr Motiv der civilización y barbarie
18 Zur allgemeinen Darstellung der politischen Prozesse staatlicher Konsolidierung in Argentinien siehe: Rock, David: State Building and Political Movements in Argentina, 1860-1916, Stanford, Calif.: Univ. Press 2002. Zur Geschichte der ‚konservativen Ordnung‘ siehe: Gallo, Ezequiel; Cortés Conde, Roberto: La república conservadora, Buenos Aires: Hyspamérica 1986. Zwischen 1862 und 1880 waren bereits wichtige staatliche Institutionen entstanden: eine nationale Armee, die Einführung eines Staatshaushaltes, eine Verwaltung, ein (föderales) Justizsystem und ein Bildungssystem. Vgl. Losada, Leandro: Historia de las elites en la Argentina. Desde la Conquista hasta el surgimiento del peronismo, Buenos Aires: Sudamericana 2009, S. 102. 19 Zu einer ideen- und kulturgeschichtlichen Befassung mit der generación del 80 siehe: Foster, David William: The Argentine Generation of 1880. Ideology and Cultural Texts, Columbia: Univ. of Missouri Press 1990. Eine stärker sozialgeschichtlich geprägte Herangehensweise findet sich in: Losada, Historia de las elites, 2009, S. 101160. 20 Vgl. ebd., 2009, S. 118. Losada betont, dass es sich dabei keinesfalls um eine homogene „elite sin fisuras“ gehandelt habe. Innerhalb des PAN gab es interne Konflikte und unterschiedliche Fraktionen. 21 Zur Entwicklung und Bedeutung der generación del 37 siehe: Shumway, Nicolas: The Invention of Argentina, Berkeley, Oxford: Univ. of California Press 1991, S. 112-167. Die Unterschiede im Nationsverständnis beider ‚Generationen‘ sind mit den Begriffen der früheren nación civica gegenüber der späteren nación civilizada differenziert worden. Rebecca Earle begreift die nación cívica als zukunftsorientiertes Projekt einer „small group of patriots sensitive enough to appreciate the idea oft he patria“, dem eine „failure of these elites to imagine an inclusive nation“ innewohnte, was sich mit
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wurde zum zentralen Ordnungsprinzip für die neue Staatsräson.22 Das Begriffspaar wurde von dem späteren argentinischen Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento geprägt, der in dem 1845 erstmals erschienenen Buch Facundo, o civilización i barbarie die ‚Barbarei‘ einer ländlich geprägten Bevölkerung und dortiger Machtstrukturen als Hindernis für eine angestrebte, europäisch geprägte nationale Identität ausmachte. Die binäre Opposition von Zivilisation und Barbarei, unter die Sarmiento die Gegen-sätze von Stadt versus Land, europäischer Aufklärung versus spanischem Absolutismus, weiße versus nicht-weiße razas sowie säkulare versus kirchliche Erziehung und Bildung zählte, wurde im späten 19. Jahrhundert zum Leitmotiv der Nationalstaatsbildung schlechthin.23 Während dieses Leitmotiv im 19. Jahrhundert für die liberalen politischen und ökonomischen Eliten von Buenos Aires als machtvolles Bild gegen die caudillos, also die über persönliche Klientelabhängigkeiten agierenden Machthaber in den argentinischen Provinzen, ins Feld geführt wurde, zeigt die Historikerin Julia Rodríguez in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen und politischen ReformerInnen der Jahrhundertwende die Neukonzeptualisierung dieser binären Kategorien auf: Die ‚barbarische‘ Peripherie der argentinischen Provinzen wurde allmählich auf die innerstädtischen Räume und subproletarischen Bevölkerungsgruppen projiziert, die mit Faulheit, Armut, Wahnsinn, Verbrechen, Degeneration und Schwäche in Verbindung gebracht und als Gefahr für den Fortschritt einer ‚gesunden Nation‘ evoziert wurden.24 Nicht allein die bereits weitgehend abgeschlossene territoriale und administrative Staatswerdung, sondern die Entstehung einer argentinischen Nation als sich im Inneren wie im Äußeren abgrenzendes Zivilisierungsprojekt beflügelte den Reformgeist der generación del 80.25
dem nationalen Zivilisationsprojekt der generación del 80 umkehren sollte. Dies.: The Return of the Native. Indians and Myth-Making in Spanish America, 1810-1930, Durham: Duke Univ. Press 2007, S. 11. 22 Vgl. Rodríguez, Julia: Civilizing Argentina. Science, Medicine, and the Modern State, Chapel Hill, NC: Univ. of North Carolina Press 2006, S. 14. 23 Vgl. Shumway, The invention of Argentina, 1991, S. 167. 24 Vgl. Rodríguez, Civilizing Argentina, 2006, S. 28. Rodríguez beschränkt diese Analyse auf wissenschaftliche Diskurse und die Entstehung eines medizinischen Expertenwissens über soziale Pathologien in Abgrenzung zum zivilisatorischen Fortschritt. 25 Siehe: Foster, The Argentine Generation of 1880, 1990.
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Bildung und regulierte Einwanderung waren diejenigen Mittel, mit denen die argentinische Nation geschaffen und gestaltet werden sollte.26 Eine gezielte Einwanderungsförderung europäischer ImmigrantInnen stand ganz im Sinne des wirkungsmächtigen Mottos gobernar es poblar, mit dem der ‚Vater‘ der argentinischen Verfassung von 1853, Juan Bautista Alberdi, nicht allein die Besiedlung des weitläufigen argentinischen Territoriums, sondern auch eine ‚Zivilisierung‘ des Landes durch den ‚Import‘ europäischer Kultur beabsichtigt hatte.27 Im Bereich der Bildung wurde die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahr 1884 ebenso wie eine Schulpolitik, welche die ‚Argentinisierung‘ der großen Massen von Kindern aus zugewanderten Familien verfolgte, zu einem Instrument der ‚Zivilisierung‘ und Nationalidentitätsbildung.28 Die Nation hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert allerdings noch keine breite Identifikationsbasis, sondern war ein elitäres und hochgradig visionäres Projekt, das auf die Zukunft ausgerichtet war. Buenos Aires wird in der Forschung als Epizentrum der Nationsbildung gesehen, insofern die Stadt im politischadministrativen, wissenschaftlichen und auch im journalistischen Bereich einen Knotenpunkt darstellte. So formuliert Arturo Laguado in seiner historischen Untersuchung zu liberalen Ideen im argentinischen Nationalidentitätsbildungsprozess: „La nación era una utopía y la nacionalidad un germen que apenas estaba comenzando a cristalizar en la ciudad de Buenos Aires.“29 Dass Buenos Aires
26 Vgl. Laguado, Arturo Claudio: „El pensamiento liberal en la construcción del Estado nacional argentino“, in: González, Jorge Enrique (Hg.): Nación y nacionalismo en América Latina, Bogotá: Univ. Nacional de Colombia. Facultad de Ciencias Humanas. Centro de Estudios Sociales 2007, S. 297-331, S. 306. 27 Vgl. Bletz, May E.: Immigration and Acculturation in Brazil and Argentina. 18901929, New York: Palgrave Macmillan 2010, S. 53 f. 28 Zum Verhältnis von Bildungsreformen und Nationalidentitätsbildung siehe: Bertoni, Lilia Ana: Patriotas, cosmopolitas y nacionalistas. La construcción de la nacionalidad argentina a fines del siglo XIX, Buenos Aires: Fondo de Cultura Económica 2001. Aufschlussreich für die diskursiven Inhalte der Schulbildung ist der Artikel von Katharina Motzkau, die argentinische und chilenische Schulbücher auf ihre nationalen Narrative und deren ambivalente Historisierung der indigenen Bevölkerung analysiert, siehe: Ebd.: „Nación y civilización – Lo indígena en la historia enseñada. Un análisis comparativo de los textos de Ricardo Levene y Luis Galdames“, in: Motzkau, Katharina; Höse, Vanessa; Sáez-Arance, Antonio (Hg): Identidades nacionales en América Latina. Discursos, saberes, representaciones, Heinz: Stuttgart 2017, S. 135-155. 29 Laguado, El pensamiento liberal, 2007, S. 317.
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nicht der alleinige Schauplatz der Nationalstaatsbildung gewesen ist, die lediglich in die Provinzen diffundierte, sondern in unterschiedlichen regionalen Kontexten eigene Diskurse und Effekte hervorbrachte, haben verschiedene Forschungsarbeiten gezeigt.30 Das wissenschaftliche Paradigma der Epoche war der Positivismus, dessen empirisch-rationale Methoden auf die Untersuchung sozialer Verhältnisse angewandt wurden und, wie Oscar Terán in einer wissenschafts- und ideengeschichtlichen Perspektive zeigt, im Auftrag von Modernisierung und Nationsbildung stand. „[El positivismo] construyó su intervención discursiva más exitosa en la doble pretensión de explicar, por una parte, los efectos no deseados del proceso de modernización en curso [...] y, por la otra, hacerse cargo reflexivamente del problema de la invención de una nación.“31
Die Betrachtung der generación del 80 zeigt die politische und kulturelle Hegemonie auf, die das elitäre Projekt der Nation und machtvolle Diskurse über Bevölkerungsprobleme nachhaltig prägen konnte. Die Dominanz intellektueller Eliten in der lateinamerikanischen Geschichte hat der Literaturwissenschaftler Ángel Rama mit dem mittlerweile klassischen Konzept der ciudad letrada bezeichnet. Darunter versteht er die kulturelle Hegemonie einer Elite von männlichen Intellektuellen, die von der Kolonialzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Machtmonopole ausbilden und dauerhaft durchsetzen konnten.32 In der argentinischen Geschichtsschreibung gilt das Jahr 1916 als Epochenschwelle, wel30 Der Anthropologe Alejandro Grimson zeigt in seiner Untersuchung des argentinischbrasilianischen Grenzraums, dass die argentinische Nationalstaatsbildung nicht, wie ein großer Teil der Forschungsliteratur mit Fokus auf Buenos Aires vermuten lässt, auf die Prozesse in der Hauptstadt begrenzt war. Er stellt heraus, wie die Grenze im 20. Jahrhundert zu einer Schlüsselkategorie für die nationalen Vorstellungen, Beziehungen und Interaktionen der lokalen Bevölkerung beider Seiten der Grenze wurde. Vgl. Grimson, Alejandro: La nación en sus límites. Contrabandistas y exiliados en la frontera Argentina- Brasil, Barcelona: Gedisa Ed 2003, S. 86. Zur Formulierung der argentinidad als politische Strategie in den Machtkämpfen um die Staatsbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich in unterschiedlichen lokalen Kontexten formierte, siehe: Chiaramonte, José Carlos: Ciudades, provincias, Estados. Orígenes de la Nación Argentina (1800 - 1846), Buenos Aires: Ariel 1997. 31 Terán, Oscar: Positivismo y nación en la Argentina, Buenos Aires: Puntosur 1987, S. 11 f. 32 Vgl. Rama, Angel: The Lettered City, Durham, NC: Duke Univ. Press 1996.
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che die bis dato dominierende Tradition der ciudad letrada durchbrach und eine 14-jährige Regierungsphase der Partei Unión Cívica Radical einleitete, die bis zum Ende der letzten Militärdiktatur 1983 die „experiencia democrática más duradera“ der argentinischen Geschichte darstellte. 33 Manifest wurde der Machtwechsel durch eine Wahlrechtsreform, die so genannte Ley Sáenz Peña von 1912, die das universelle (und damit nicht nach ökonomischen, sozialen oder kulturellen Kriterien beschränkte), geheime und verpflichtende Wahlrecht für männliche Staatsbürger ab 18 Jahren einführte und Mechanismen zur Durchsetzung dieser Reform bestimmte.34 Die Präsidentschaftswahl von 1916 brachte Hipólito Yrigoyen von der Unión Cívica Radical an die Macht. Der Historiker Alejandro Cattaruzza verdeutlicht, dass Yrigoyen und die politische Strömung des radicalismo als „expresión de la mismísima nación“ betrachtet wurden, die sich sowohl in einer breiten Anhängerschaft mit einem „cierto tono popular en su composición social“ und einer Verbreitung in den Provinzen niederschlug.35 Aus dieser Perspektive markierte das Ende der konservativ-liberalen Regierung, das mit dem Wahlsieg der Radikalen 1916 eingeläutet wurde, einen historischen Wendepunkt hin zu einer neuen Epoche der „cultura de masas“ und der „política
33 Cattaruzza, Alejandro: Historia de la Argentina. 1916-1955, Buenos Aires: Siglo Veintiuno Editores Argentina 2009, S. 45. Die Unión Cívica Radical stellte zwischen 1916 und 1930 die argentinische Regierung. Hipólito Yirigoyen übernahm 1916 das Amt des Präsidenten; 1922 folgte ihm Marcelo T. Alvear; 1928 wurde Yrigoyen wiedergewählt. Am 6. September 1930 stürzten rechtskonservative Kräfte unter General José Félix Uriburu die Regierung in einem Putsch, der von Streitkräften der Armee und Teilen der politischen Opposition, der Medien und der Öffentlichkeit unterstützt und befürwortet wurde. David Rock zeigt, dass sich die Einschätzung des Regierungswechsels 1916 als demokratischer Wendepunkt und als „great symbolic mark of progress in the country’s political development“ in vielen zeitgenössischen Aussagen nach 1916 wiederfindet. Vgl. Rock, State Building and Political Movements, 2002, S. 214 f. 34 Das Gesetz ist nach Präsident Roque Sáenz Peña benannt, der 1910 für die PAN ins Amt berufen wurde. Hinsichtlich der Frage, warum die PAN diese Reform veranlasst hatte, die ihr eigenes Machtfundament auflösen sollte, existieren unterschiedliche Erklärungen. Neben strategischen Überlegungen und optimistischen Annahmen zu den nächsten Wahlergebnissen für die eigene Partei war es jedoch zweifellos die öffentliche Meinung und der Widerstand seitens wachsender Bevölkerungsteile, die sich gegen die Wahlpraktiken der Regierung auflehnten. Vgl. Cattaruzza, Historia de la Argentina, 2009, S. 40 f. 35 Ebd., S. 49-51.
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de masas“, die sich fortan durch demokratische Partizipationsmöglichkeiten und den Aufstieg einer argentinischen Mittelschicht kennzeichnen sollte.36 Gesellschaft im Wandel Die politik- und ereignisgeschichtliche Fokussierung auf die Wahlrechtsreform von 1912 und den Regierungswechsel von 1916 verstellt jedoch die Sicht auf längerfristige soziale Transformationsprozesse, die sich vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbildeten, zur Jahrhundertwende enorm beschleunigten und jene historischen Veränderungen erst ermöglichten. Wie Hilda Sabato in ihrer Untersuchung der politischen Partizipationsmöglichkeiten und kämpfe seitens einer sich formierenden Zivilgesellschaft in den 1860er und 1870er Jahren herausstellt, befanden sich bereits zu dieser Zeit soziale Hierarchien und Grenzen in einem Prozess der Auflösung und Transformation, ohne bereits klare neue Zuordnungen hervorgebracht zu haben: „This was a dynamic and unstable society. New and old social relations and inequalities overlapped. The polarization between gente decente and plebe typical of the colonial and postcolonial order was gradually replaced by an increasingly complex stratification. New forms of economic exploitation, social control, and political dominion were taking shape. The traditional bonds that had articulated the social fabric, as well as the tensions that had run through it, were being replaced by those that emerged from the capitalist order in the making. This was not, however, a fully bourgeois order, but rather a world in transition.“37
Die gesellschaftliche Transformation prägte sich mit den wachsenden Migrationsbewegungen und der rapide zunehmenden Urbanisierung weiter aus. Der „mito civilizador y transformador“ der europäischen Einwanderung nach Argentinien hatte zwar eine nachhaltige Überzeugungskraft, zeigte aber bereits in den 1880er Jahren Erosionserscheinungen.38 Der Versuch einer staatlichen Lenkung 36 Vgl. ebd., S. 13. Rock verdeutlicht außerdem, dass die Radikalen seit ihrer Wahl 1916 einen sehr starken (rhetorischen) Bezug zur Mittelschicht herzustellen vermochten. Vgl. Rock, State Building and Political Movements, 2002, S. 214. 37 Sabato, Hilda: The Many and the Few. Political Participation in Republican Buenos Aires, Stanford, Calif.: Univ. Press 2001, S. 21. Hilda Sabato studiert die 1860er und 1870er Jahre und zeigt die Formen politischer und gesellschaftlicher Partizipation breiter Bevölkerungsschichten in den Bereichen der Vereine, der Presse und der politischen Mobilisierung. 38 Devoto, Historia de la inmigración, 2003, S. 259. Zum diskursiven Wandel von einer optimistischen und befürwortenden hin zu einer skeptischen Haltung zur Einwanderung in Argentinien siehe: Bletz, Immigration and Acculturation, 2010, S. 53-91.
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der Einwanderung über die Subventionierung von Überfahrten und die gezielte Anwerbung mittel- und nordeuropäischer MigrantInnen in den 1880er Jahren scheiterten weitestgehend. 39 Zwischen 1880 und 1914 migrierten mehr als 4.200.000 Menschen nach Argentinien; den größten Anteil davon stellten ItalienerInnen und SpanierInnen; geringere Anteile machten ImmigrantInnen aus Frankreich, Russland, Deutschland und dem arabischen Raum aus, von denen letztere offiziell als sirio-libaneses aufgeführt und in der Magazinpresse oftmals als turcos bezeichnet wurden.40 Juan Alsina, Leiter der Einwanderungsbehörde (Dirección General de Inmigración), formulierte rückblickend mit Bezug auf die staatlich gelenkte Einwanderungspolitik, dass die Mehrheit der ImmigrantInnen nicht wie selbst angegeben Bauern und Bäuerinnen waren, sondern größtenteils dem „bajo fondo de las ciudades“ entstammten.41 Anstatt die liberale Maxime des gobernar es poblar zu realisieren und sich in den Provinzen Argentiniens niederzulassen und in der Landwirtschaft produktiv zu werden, verblieben große Teile der EinwanderInnen in Buenos Aires; ebenso gab es eine starke Fluktuation von temporären MigrantInnen zwischen Amerika und Europa sowie eine Rückkehrerquote von 36 Prozent.42 Zwischen 1880 und 1910 vervierfachte sich die Bevölkerung von Buenos Aires von circa 300.000 auf 1,2 Millionen EinwohnerInnen.43 Aus der gran aldea, wie die Stadt retrospektiv für die Zeit vor der Masseneinwanderung bezeichnet wurde, war eine wirtschaftlich prosperierende Metropole geworden, die 1905 als erste lateinamerikanische Stadt die Millionengrenze überschritt.44 Viele Immigrantinnen verweigerten sich zudem der
39 Vgl. Devoto, Historia de la inmigración, 2003, S. 252. 40 Devoto beziffert die Einwanderungsströme der wichtigsten Gruppen wie folgt: Etwa 2.000.000 stammten aus Italien, 1.400.000 aus Spanien, 170.000 aus Frankreich und 160.000 aus Russland. Vgl. ebd., S. 247. Zum Bild der arabischen ImmigrantInnen in Caras y Caretas siehe: Taub, Emmanuel: Otredad, orientalismo e identidad. Nociones sobre la construcción de un otro oriental en la revista Caras y Caretas, 1898-1918, Buenos Aires: Teseo 2008. 41 Zitiert in: Devoto, Historia de la inmigración, 2003, S. 253. 42 Bei der Quote handelt es sich um eine aufgrund der fluktuierenden Migrationsbewegungen schwierig zu bemessene Angabe, die sich auf den Zeitraum von 1881 bis 1910 bezieht. Vgl. ebd., S. 247. 43 Vgl. Potthast, Barbara: „Urbanisierung und sozialer Wandel“, in: Dies., KallerDietrich, Martina; Tobler, Hans Werner (Hg.): Lateinamerika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Wien: Promedia 2004, S. 99-114, S. 100. 44 Vgl. ebd., S. 101. Die Bezeichnung gran aldea geht auf den gleichnamigen Roman von Lucio Vicente López zurück, der 1882 erstmals in der Zeitschrift Sud-América
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national-liberalen Idee, die argentinische Staatsbürgerschaft anzunehmen.45 Insbesondere die große italienische Gemeinschaft der ersten Generation bewahrte eine starke identitäre Verbindung zum Heimatland und gründete eigene Vereine, Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen und Presseorgane.46 Soziale Kämpfe Zu dem unterwanderten Projekt der nationalen Identitätsbildung durch die ImmigrantInnen gesellten sich wachsende Klassenkonflikte, welche die Hegemonie der Eliten, die konkreten Arbeitsbedingungen und das kapitalistische System an sich in Frage stellten. Die sozialistischen und anarchistischen Kräfte, die in den Streiks, Boykotts, Sabotagen und militanten Gewaltakten auftraten, wurden vielfach als ‚importiertes Übel‘ betrachtet und ab der Jahrhundertwende auch als solches bekämpft.47 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Proletariat zu einem neuen gesellschaftlichen Akteur geworden, der eigene politische und kulturelle Institutionen und ein Klassenbewusstsein ausgebildet hatte. Die Hegemonie der hauptstädtischen Eliten war im ausgehenden 19. Jahrhundert demnach konfliktiv und umkämpft. Fernando Devoto betont in seinem sozialgeschichtlichen Grundlagenwerk über die argentinische Einwanderung, dass insbesondere die alteingesessenen Eliten von Buenos Aires neben dem
publiziert wurde. Mit Nostalgie beschreibt López den Wandel des ‚alten‘ Buenos Aires hin zu einer Stadt, die mit dem Einsetzen von Masseneinwanderung, Urbanisierung und Modernisierung ihre authentischen Züge verloren hat. 45 Devoto, Historia de la inmigración, 2003, S. 255. Siehe dazu ausführlich: Bertoni, Patriotas, cosmopolitas y nacionalistas, 2001. 46 Die italienische Presse in Buenos Aires verortete sich in der Frage der Nation durchaus gespalten: Ein Teil berief sich auf die Bewahrung der eigenen italienischen Identität, Sprache und Traditionen. Andere befürworteten die Idee des crisol de razas, in dem eine Fusion der Kulturen und der razas mit einer hegemonialen Komponente des italienischen Einflusses geschehen sollte. Vgl. Cibotti, Ema: „Del habitante al ciudadano. La condición del inmigrante“, in: Lobato, Mirta Zaida (Hg.): El progreso, la modernización y sus límites (1880-1916), Buenos Aires: Ed. Sudamericana 2000, S. 365-408, S. 373 f. 47 Die sogenannten Leyes de Residencia y Defensa Social von 1902 und 1910 wurden als Instrumente einer restriktiven und selektiven Einwanderungs- und Ausweisungspolitik insbesondere gegen ‚subversive‘ MigrantInnen parlamentarisch durchgesetzt. Siehe dazu: Costanzo, Gabriela: Los indeseables. Las Leyes de Residencia y Defensa Social, Buenos Aires: Editorial Madreselva 2009.
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Aufbegehren des Proletariats auch die Konkurrenz einer aufsteigenden Mittelschicht aus Europa und anderen Teilen der Welt fürchteten.48 Identitäre Selbstentwürfe seitens der Eliten und seitens des Proletariats standen allerdings im Zeichen konkreter materieller und rechtlicher Auseinandersetzungen, die im Begriff der Cuestión Social konvergieren: Die Soziale Frage kreiste um mangelnde Arbeitsrechte und prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse und fand unterschiedliche Antworten von gewerkschaftlich organisierter und anderweitig mobilisierter Arbeiterschaft, von intellektuellen ReformerInnen, privaten Wohltätigkeitsgruppen und schließlich auch seitens staatlicher Instanzen. Die Widersprüche und Widerstände im Inneren der Bevölkerung erreichten 1910 ihren Höhepunkt: Zum Unabhängigkeitsjubiläum des Centenario feierten die Eliten die argentinische Nation, während die sozialen Protestbewegungen massiv angeschwollen waren und die städtische Bevölkerung von Buenos Aires eine hochgradig mobile und heterogene Vielfalt bildete. Die Magazinpresse bildete seit der Jahrhundertwende ein Kommunikationsmedium, das jenseits politischer Grabenkämpfe stand und – was viel signifikanter ist – bestehende identitäre Zugehörigkeiten zu glätten und zu vereinen wusste. Sie stellte gewissermaßen ein integratives Moment in der Sozialen Frage dar, indem sie zwar nicht (primär) die Kämpfe, aber doch ihre sozialen Inhalte auf die Agenda setzte und für ein (potenzielles) bürgerliches Publikum konsumierbar machte. Die Schicksale von verarmten ArbeiterInnen, von obdachlos gewordenen Familien, von Straßenkindern und vielen anderen prekären Existenzen bildeten den Bezugspunkt für eine als nationales Anliegen diskursivierte urbane Problematik. Die Zeitschriften bildeten das Potential für eine neuartige Subjektivierung als bürgerliche Mittelschicht und für ein nationales Selbstverständnis, das die multiplen sozialen Zugehörigkeiten zu integrieren wusste. Diese integrative Logik, welche die binäre Spaltung von Proletariat und Oligarchie im Modus der bürgerlichen Normalisierung zu überwinden suchte, ging allerdings mit neuen, nun verfeinerten Exklusions- und Differenzierungsmechanismen einher, die über die Dichotomien von Normalität und Anormalität, von Nützlichkeit und Schädlichkeit und von Gesundheit und Krankheit ausgehandelt wurden. Die Entstehung der modernen argentinischen Nation ist – so die These dieses Buchs– ohne die Kenntnis dieser spezifischen Mechanismen nicht zu verstehen.
48 Devoto, Historia de la inmigración, 2003, S. 259.
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E INE K ULTURGESCHICHTE F RAGESTELLUNGEN
DES
S OZIALEN :
Diese Arbeit versteht sich als eine Kulturgeschichte des Sozialen. Dieser Ansatz ist erklärungsbedürftig: Was wird unter Kulturgeschichte verstanden und inwiefern kann ‚das Soziale‘ ihr Untersuchungsgegenstand sein? Und was unterscheidet eine Kulturgeschichte des Sozialen von der Sozialgeschichte? Kulturgeschichte wird in Anlehnung an Ansätze einer so genannten Neuen Kulturgeschichte nicht als Geschichte einer wie auch immer definierten Kultur oder bestimmten kulturellen Phänomenen verstanden.49 Konkret handelt es sich auch nicht um eine Untersuchung der Pressekultur als eine abgrenzbare Sphäre öffentlichen Lebens zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Vielmehr ist damit zunächst eine spezifische Perspektive der Geschichtsschreibung gemeint, aus der historischen Prozesse grundsätzlich untersucht werden können – seien es typisch politikhistorische Ereignisse wie der Grenzkonflikt zwischen Chile und Argentinien, ökonomische Themen wie der Boom der Fleischindustrie oder eben soziale Verhältnisse wie Armut und Verelendung in Zeiten der Industrialisierung und Urbanisierung. Ute Daniel hat in ihrem einführenden Kompendium zu Kulturgeschichte darauf hingewiesen, dass weder abgrenzbare Gegenstandsbereiche noch bestimmte methodische Zugriffsweisen oder Theorien als konstitutiv für die Kulturgeschichte definiert werden könnten, sondern vielmehr eine wissenschaftliche Selbstreflexion im Umgang mit Geschichte ihre Grundlage bilde be-
49 Im 1889 von Lynn Hunt herausgegebenen Sammelband The New Cultural History wird diese neue Verortung der Kulturgeschichte herausgearbeitet. Wichtige Einflüsse bilden Hunt zufolge die marxistische Theorie und die Mentalitätengeschichte der Schule der Annales, die neue historische Subjekte in den Vordergrund rückten. Unter dem maßgeblichen Einfluss von Michel Foucault sowie literaturwissenschaftlichen, anthropologischen und soziologischen Theoriebildungen mit dem Label von Poststrukturalismus und Postmoderne gewann der anti-essentialistische Kulturbegriff der Neuen Kulturgeschichte an Profil. Vgl. Hunt, Lynn: „Introduction. History, Culture, and Text“, in: Hunt, Lynn; Biersack, Aletta (Hg.): The New Cultural History. Essays, Berkeley: Univ. of California Press 1989, S. 1-22. Zu den Konjunkturen der Neuen Kulturgeschichte in Form von so genannten cultural turns siehe: Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Zur Konzeption einer Kulturgeschichte des Sozialen in Anlehnung an Foucault siehe insbesondere: Landwehr, Achim: „Foucault und die Ungleichheit. Zur Kulturgeschichte des Sozialen“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, 15, 2011, S. 64-84.
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ziehungsweise bilden sollte. Ihre positive Formulierung dessen, was Kulturgeschichte sein kann oder muss, soll an dieser Stelle jedoch als minimale Definition übernommen werden: „[Kulturgeschichte] befragt vergangene Zeiten daraufhin, wie sich Menschen in ihnen wahrgenommen und gedeutet haben, welche materiellen, mentalen und sozialen Hintergründe jeweils auf ihre Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsweisen einwirkten und welche Wirkungen von diesen ausgingen.“50
Eine kulturhistorische Herangehensweise betrachtet ihre Gegenstände demzufolge in erster Linie dahingehend, welche Bedeutungen, welchen Sinn und welche Wahrheiten sie in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Kontext für wen hervorgebracht haben und welche Praktiken aus ihnen hervorgegangen sind oder auf sie eingewirkt haben. Eine Kulturgeschichte des Sozialen bedeutet darüber hinaus, die Repräsentationen zu untersuchen, die Gesellschaften von sich selbst und für sich selbst entworfen haben.51 Dieses Buch untersucht dahingehend, wie ‚das Soziale‘ unter Schlagwörtern wie der ‚Sozialen Frage‘ oder den ‚sozialen Pathologien‘ Anfang des 20. Jahrhunderts in Argentinien zu einem Bereich des mannigfaltigen Interesses wurde, wie die Magazinpresse diesen Bereich verhandelte und welche Effekte diese Verhandlung bezüglich der Nationsbildung zeitigte. Anders gesagt werden die journalistischen Repräsentationen daraufhin analysiert, wie soziale Kategorien der Marginalität geschaffen und für die Ausformung moderner National- und Sozialstaatlichkeit in Argentinien grundlegend wurden. Soziale Marginalität wird damit im Gegensatz zu einer sozialgeschichtlichen Untersuchung nicht als kausaler Effekt struktureller Entwicklungen und Ereignisse wie der massiven Urbanisierung, ökonomischen Krisenzeiten, schlechter hygienischer Verhältnisse oder schlicht der Benachteiligung von Unterschichten betrachtet. Ohne dabei real erlebtes Elend zu einem diskursiven Phänomen reduzieren und abwerten zu wollen oder gar die Erfahrungen marginalisierter Subjekte in Abrede zu stellen, gilt diese Studie der Wirkungsmacht von Diskursen, die soziale Marginalität zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses und populären Wissens machten und darüber im Sinne Foucaults biopolitische Machtverhältnisse und gouvernementale Regierungsformen etablieren konnten. Dabei sind die Subalternen jedoch nicht bloße Objekte eines an sie herangetragenen Wissens, um die sich die medi-
50 Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien Praxis Schlüsselwörter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014, S. 19. 51 Vgl. Landwehr, Foucault und die Ungleichheit, 2011, S. 73.
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alen Diskurse ranken konnten; vielmehr zeigen die Analysen der Zeitschriftenartikel, wie die Erzeugung von In- und Exklusionslinien von den Subalternen selber und ihren Taktiken der Resilienz, Verstellung oder Gegenaneignung mitgeprägt wurden. Der Konnex von Macht und Wissen war ein Ringen um Wahrheiten, an dem alle Seiten machtvoll beteiligt waren. Achim Landwehr hat in einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Wissens und den sich als Wissensgeschichte verstehenden kulturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Forschungen betont, dass Gesellschaft und kommunizierte Wissensformen untrennbar miteinander verknüpft, interdependent und gleichursprünglich sind.52 Wissen ist insofern als Kultur zu begreifen, da es die Gesellschaft nicht einfach abbildet, sondern fähig ist, soziale Bedeutungen zu produzieren.53 Der große Vorteil des analysierten Quellenkorpus besteht nun darin, die „kulturelle Situiertheit“54 dieses Wissens ausloten zu können und darüber der Frage nachzuspüren, wo, wie und von wem welches Wissen produziert wurde. Anders gesagt verfolgt der Ansatz einer Kulturgeschichte des Sozialen den Anspruch, die gesellschaftliche, heterogene Produktion und Zirkulation von Wissen und damit verknüpft die Funktionsweise von Machtdispositiven zu untersuchen.55 Die leitende Fragestellung dieses Buchs lautet also, welches kulturelle Wissen von subalternen Räumen und Bevölkerungsgruppen in der Magazinpresse erzeugt werden konnte und welcher Begriff sozialer Marginalität darüber gesellschaftspolitisch wirkmächtig wurde. Daraus leiten sich untergeordnet weitere Fragen ab: Welche Repräsentationsstrategien in Text und Bild verfolgten die Reporter der Magazinpresse in ihren Darstellungen? Dabei soll es nicht darum gehen, eine (vermeintliche) Intentionalität der Verfasser, Fotografen, Redakteure, Verleger oder anderen am Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess beteiligten Personen zu rekonstruieren. Vielmehr wird über die Serialität und Reiteration von Darstellungsformen und Aussagen über subalterne Räume und Bevölkerungsgruppen aufgezeigt, auf welche Weise sich bestimmte Diskurse verdichteten und zu einem common sense werden konnten. Für die journalistische Er-
52 Vgl. Landwehr, Achim: „Das Sichtbare sichtbar machen. Annäherungen an ‚Wissen‘ als Kategorie historischer Forschung“, in: Ders. (Hg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens, Augsburg: Wißner 2002, S. 61-89, S. 70. 53 Vgl. ebd., S. 87. 54 Ebd., S. 72. 55 Vgl. Sarasin, Philipp: „Was ist Wissensgeschichte?“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 26, 1, 2011, S. 159-172, S. 164.
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kundung unterschiedlicher urbaner Räume wie etwa die wilden Siedlungen an Flussufern, auf Brachen, Müllkippen und Stadträndern ebenso wie die Unterkünfte der Arbeiterklasse stellt sich weiterhin die Frage, wie diese als soziale Milieus konstruiert und problematisiert wurden und welche sozialreformerischen, ordnungspolitischen und stadtplanerischen Forderungen daraus erwuchsen. In Bezug auf Repräsentationen sozialer Gruppen wie etwa den mendigos profesionales, den atorrantes, den menores, den tipos populares oder den invertidos sexuales geht die Arbeit außerdem der Frage nach, wie diese identifiziert und kategorisiert wurden, wie diese sozialen Gruppen selber auf die Diskursproduktion Einfluss nehmen konnten und welche hegemonialen biopolitischen Diskurse in Verbindung mit Kategorien von raza, Geschlecht, Klasse, Alter oder Sexualität aus diesen Praktiken entstanden. Die Magazinpresse ist selbstverständlich nicht der einzige und auch nicht der erste Ort, an dem ein Wissen über soziale Marginalität produziert wurde, doch bildet sie Knotenpunkte aus, an denen sich unterschiedliche Wissensformen untrennbar miteinander verwoben. Die journalistischen Narrative waren eingebunden in Expertendiskurse, nahmen verschiedenste ikonografische Traditionen auf und inkorporierten gleichzeitig populärkulturelle Einflüsse. Diese Interdiskurse und Bezüge werden in dieser Arbeit nach Möglichkeit aufgedeckt, analytisch voneinander differenziert und auf ihre Konvergenzen und Diskrepanzen befragt. Insbesondere das Aufgreifen der Magazinpresse von zeitgenössischem akademischem Forschungswissen aus den Bereichen Hygiene, Medizin und Kriminologie wird anhand der Pressequellen nachvollzogen.
E INE G ESCHICHTSSCHREIBUNG P ERSPEKTIVE
IN BIOPOLITISCHER
Die Frage, wie ein kulturelles Wissen von sozialer Marginalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts medial konstruiert, wirkmächtig und handlungsanleitend wurde, berührt gleichermaßen zwei Konzepte einer auf Michel Foucault basierenden Theoriebildung, die in der Forschung oftmals getrennt behandelt und herangezogen werden: Es handelt sich um den Begriff des Diskurses und um jenen der Macht. Die Diskursanalyse hat sich eher im Feld der Sozial- und Geschichtswissenschaften etabliert, während sich eine Analytik der Macht unter dem Begriff der Gouvernementalität stärker in den Cultural Studies, in den Erziehungs- und
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den Politikwissenschaften durchgesetzt hat.56 Die vorliegende Untersuchung beruht auf einer Verbindung von Diskurs- und Machtbegriff, die im Werk Foucaults angelegt ist und für diese Arbeit operationalisierbar gemacht wird. Für die Geschichtswissenschaft ergibt sich die Aufgabe, eine historisierende Untersuchung von Wahrheitseffekten, oder anders gesagt eine „Geschichte der Wahrheit“ zu unternehmen.57 Für diese Arbeit bedeutet das, die Repräsentationen der Magazinpresse von urbanen Bevölkerungsgruppen und Räumen daraufhin zu untersuchen, wie sie sich zu einem Diskurs über soziale Marginalität und städtische Ränder verdichteten und Wahrheitsanspruch beziehungsweise einen Status als gültiges kulturelles Wissen erlangten. Der Begriff des Diskurses wird dabei, wie an späterer Stelle dargelegt, nicht allein auf textliche, sondern ebenso auf bildliche Aussagen bezogen und im Zusammenhang mit journalistischen Praktiken reflektiert. Der Diskurs über soziale Marginalität und Abnormität wird also nicht als mehr oder weniger wirklichkeitsgetreue Abbildung der städtischen Gesellschaft um 1900 untersucht, sondern als Effekt und Instrument eines neuen Machtverhältnisses, das mit Foucaults Begriffen der Biomacht oder der Biopolitik sowie – hinsichtlich staatlicher Regulierung – der Gouvernementalität erfasst werden kann. Der Perspektivwechsel, den der Biopolitik-Begriff von Foucault vornimmt und der für die vorliegende Arbeit grundlegend ist, besteht gerade darin, dass die „scheinbar stabile Grenze zwischen Natur und Politik [...] weniger Ausgangspunkt als Effekt politischen Handelns ist.“ Biopolitik steht demzufolge vielmehr für eine „fundamentale Veränderung in der Ordnung des Politischen“, die mit historisch spezifischen Machtformen in der Moderne entstanden ist.58 Ein mit dem Begriff der Biomacht zu fassendes Machtverhältnis hängt mit dem Entstehen moderner Nationalstaaten zusammen. Der Begriff der Biomacht beschreibt dieses neue Register der Macht, das sich über ein produktives Verhältnis zu Individuen und Gesamtbevölkerung konstituierte und darauf ausgerichtet war, „Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen“ und die „das Leben in die Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es
56 Vgl. Angermüller, Johannes; van Dyk, Silke (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt am Main; New York: Campus 2010, S. 9. 57 Vgl. Schrage, Dominik: „Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, ‚mehr‘ ans Licht zu bringen“, in: Bublitz, Hannelore (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt am Main, New York: Campus. 1999, S. 63-74, S. 67. 58 Lemke, Thomas: Biopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 45-48.
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im Einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“.59 Die Biomacht ist von einer anderen historischen Machtform, der Disziplinarmacht, zu unterscheiden, wenn auch nicht komplett abzugrenzen. Die Disziplinarmacht und ihre Techniken entstanden Foucault zufolge im 17. und 18. Jahrhundert und waren wesentlich auf individuelle Körper gerichtet. Es ging dabei um ein System der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle und Aufzeichnung, über welches die räumliche Verteilung, die Sichtbarkeit und letztlich der Nutzen von Individuen organisiert wurde, indem ihre Körper nützlich und gelehrig gemacht wurden.60 Dem gegenüber entwickelten sich im 19. Jahrhundert Formen und Techniken von Macht, die über Anreiz und Förderung operierten. Ihr Objekt war nicht mehr der individuelle Körper, sondern die Bevölkerung als Ganzes, die als „zugleich wissenschaftliche[s] und politische[s] Problem, als biologische[s] und Machtproblem“ zum vorrangigen Objekt der Betrachtung und Intervention wurde.61 Die neuen Machttechniken, die Foucault betrachtet, richteten sich auf die vitalen Gesamtprozesse der Bevölkerung: auf Geburten- und Sterberaten, auf die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung, auf Krankheiten, Alter, Schwächung, Unfälle, Gebrechen, Anomalien, auf Produktion und Reproduktion sowie auf soziale Milieus insbesondere der städtischen Bevölkerung. Diese neue Machttechnik galt dem „Leben der Menschen als Lebewesen, als Gattungs-Menschen“.62 Biopolitisches Wissen und Interventionen wurden demnach mit dem Erhalt, der Gesundheit und der Reinheit der Gattung beziehungsweise der Nation begründet. Die Biopolitik, deren Mechanismen sich typischerweise in Sozialpolitiken als so genannten „Sicherheitstechnologien“ ausbilden, sind daher auch als „Macht der milden Mittel“ bezeichnet worden.63 Mit den produktiven, fördernden Machtmechanismen der Biopolitik zog Foucault zufolge auch der Rassismus in die Mechanismen des Staates ein. Darunter verstand er die Fragmentierung der Bevölkerung entlang von ‚Rassen‘, die eine Hierarchisierung entlang biologischer Kriterien, soziale Ausgrenzung
59 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Die Geschichte der Sexualität I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 132 f. 60 Vgl. Foucault, Michel: „Vorlesung vom 17. März 1976“, in: Ders. (Hg.): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 276-305, S. 279-288. 61 Ebd., S. 283. 62 Ebd., S. 280. 63 Neubauer, Edith: „Entwicklung“ als Regierungsziel, „Indigenität“ als Widerstand, Bremen: Wiener Verlag für Sozialforschung 2014, S. 48.
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und in letzter Konsequenz die Tötung von Menschen begründete.64 Dem Rassismus kommt damit eine „vitale Bedeutung“ für die Ausübung der Biomacht zu: Er argumentiert mit dem Überleben der eigenen ‚Rasse‘, beziehungsweise die Gattung selbst, indem durch den „Tod des Anderen“ das „Leben im allgemeinen gesünder [...] und reiner“ werde.65 Foucaults Rassismusbegriff orientiert sich an der wissenschaftlichen Durchsetzung rassistischer Kategorisierungen in Anlehnung an Darwins Evolutionstheorie und an die französischen Degenerationstheorien, welche auch so genannte ‚Entartete‘, Alkoholkranke, psychiatrische PatientInnen und ‚Perverse‘ als ‚rassisch Andere‘ kategorisierte.66 Biopolitische Exklusionsprozesse funktionierten allerdings nicht allein entlang der Kategorie der ‚Rasse‘ oder der raza. Das argentinische Beispiel zeigt, dass selektive Schnitte in der Bevölkerung, die sozialen Ausschluss produzierten, sich auch in der Biologisierung anderer sozialer Kategorien etwa in Verbindung mit Geschlecht und Klasse manifestierten. Exklusionsmechanismen in Diskursen oder institutionellen Praktiken erfolgten entlang von Kategorisierungen wie krank/ gesund, normal/anormal, nützlich/schädlich und national/fremd. Sowohl für die Disziplin als auch für die Biopolitik ist der Begriff der ‚Normalisierung‘ als Verfahren der individuellen und gesellschaftlichen Intervention von Bedeutung. Jürgen Link zeigt, dass moderne Gesellschaften westlichen Typs allgemeine kulturelle Vorstellungen von Normalität ausgebildet haben, die schließlich zum allgemeinen Orientierungsmaßstab für moderne okzidentale Subjekte im Alltag geworden sind.67 Wie diese Normalität in der so genannten Normalisierungsgesellschaft allerdings ausgeprägt wird, ist nach Foucault in den Machttechnologien von Disziplin und Biopolitik grundlegend unterschiedlich. Über das disziplinarische Paradigma der Normativität schreibt er: „...es gibt eine
64 Vgl. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, 2009, S. 294-297. 65 Ebd., S. 296. 66 Philip Sarasin kritisiert diese Koppelung von Rassismus und wissenschaftlicher Theorie und betont, dass Rassismus sowohl vor als auch nach dem Einsetzen wissenschaftlicher Rassetheorien primär über das „rassistisch Imaginäre“ funktioniere, das der Selektion selbst als Voraussetzung inhärent sei. Rassismus sei die imaginäre Setzung einer Grenze des Sozialen, die auf verschiedene Weise artikuliert werden könne. Vgl. Sarasin, Philipp: „Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus“, in: Stingelin, Martin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 55-79, S. 70. 67 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009.
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anfänglich vorschreibende Eigenschaft der Norm, und mit Bezug auf diese gesetzte Norm werden die Bestimmung und die Kennzeichnung des Normalen und des Anormalen möglich.“68 In Bezug auf die (biopolitischen) Sicherheitsmechanismen gelte das Gegenteil: „Bei den Disziplinen ging man von einer Norm aus, und mit Rücksicht auf diesen von der Norm getragenen Richtwert konnte man dann das Normale vom Anormalen unterscheiden. Hier haben wir, im Gegenteil, eine Ortung des Normalen und des Anormalen, eine Ortung der verschiedenen Normalitätskurven, und der Vorgang der Normalisierung besteht darin, diese verschiedenen Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang zu setzen und auf diese Weise zu bewirken, daß die ungünstigsten auf die günstigsten zurückgeführt werden. [...] Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab [...] und spielt ihre operative Rolle.“69
Nicht mehr die Orientierung an (christlichen) Werten als ‚idealer Norm‘, sondern die Befassung mit einer empirisch messbaren Normalität, die den vorfindbaren Zustand der Gesellschaft wiedergibt, bildete demnach nun den Ausgangspunkt für soziale Interventionen. Die Normalität wird in der Biopolitik also aus der ‚Natürlichkeit‘ der Bevölkerung abgeleitet. Dieser Übergang von Normativität zu Normalität zeigt sich etwa im Aufkommen der Statistik als Methode der empirischen Erfassung von Bevölkerungsphänomenen, aus der sich spezifische Regulierungsmaßnahmen ableiten lassen.70 Das bekannteste Beispiel für eine empirische Bevölkerungsuntersuchung des frühen 20. Jahrhunderts stellte die von der argentinischen Regierung in Auftrag gegebene Studie über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklassen von Juan Bialet Massé von 1904 dar, für die der Mediziner und Jurist fast alle argentinischen Provinzen bereiste und nicht mit statistischen Mitteln, sondern auf Basis von teilnehmender Beobachtung und Befragung die ökonomischen und sozialen Verhältnisse ebenso wie die Physiologie, Psychologie und die raza der Arbeiterklasse zu erfassen suchte.71 Neben dieser Auftragsarbeit entstand eine
68 Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 90. 69 Ebd., S. 98. 70 Zur Bedeutung der Statistik in Argentinien siehe: Otero, Hernán: Estadística y nación. Una historia conceptual del pensamiento censal de la Argentina moderna, 1869-1914, Buenos Aires: Promoteo Libros 2006. 71 Vgl. Bialet Massé, Juan: Informe sobre el estado de la clase obrera, Buenos Aires: Hyspamérica 1986. Siehe auch: Lagos, Marcelo et.al. (Hg.): A cien años del informe
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Vielzahl an biopolitischen Betrachtungen und Untersuchungen, welche die Bevölkerung, die ‚Massen‘ und insbesondere subalterne Bevölkerungsteile zu Wissensobjekten machte, die für den modernen Nationalstaat und seine Regierungstechnologien konstitutiv waren. Hier wird deutlich, welches Potential eine Analyse der Prozesse in Argentinien um die Jahrhundertwende mit dem Konzept der Biopolitik birgt. Denn mit der Phase der nationalstaatlichen Konsolidierung seit den 1870/80er Jahren formte sich dort ein Wissen über die Bevölkerung aus, das mit neuen Methoden, wissenschaftlichen Disziplinen und Institutionen heraus entstand. Dieses Bevölkerungswissen, das im Folgenden als biopolitisch erklärt wird, verzweigte sich zum einen in alle Lebensbereiche insbesondere der urbanen Unterschicht und gewann zum anderen staatliche Bedeutung; nicht allein in Form bestimmter policies wie Gesundheitspolitik oder ähnlichem, sondern als Grundlage und Modell des Staates selbst. In der Betrachtung und Untersuchung der Bevölkerung gewann ein medizinisch-biologischer Blick an Dominanz, der die vitalen Prozesse der Gesamtbevölkerung und die Regel- und Unregelmäßigkeiten bestimmter sozialer Gruppen zu erfassen suchte. Die polyphonen Äußerungen über bio-soziale Probleme und Marginalität verdichteten sich um die Jahrhundertwende zu biopolitischen Diskursen, die Strategien der gesellschaftlichen Normalisierung verfolgten. Hubert Dreyfus und Paul Rabinow führen weiter aus, dass es mit diesem Ansatz möglich ist, (Bio-) Macht in ihrer Materialität und in ihrem tagtäglichen Wirken zu analysieren, sofern sie auf der Ebene der Mikropraktiken als produktives, von oben nach unten und von unten nach oben gerichtetes Beziehungsgeflecht verstanden wird.72 Für diese Prozesse wählte Foucault den Begriff der Gouvernementalität, der sich für die Fragestellung dieser Arbeit nach dem Verhältnis von sozialer Marginalität, medialer Repräsentation und (der Forderung
de Bialet Massé. El trabajo en la Argentina del siglo XX y albores del XXI, San Salvador de Jujuy: Univ. Nacional de Jujuy 2004; Haidar, Victoria: Trabajadores en riesgo. Una sociología histórica de la biopolítica de la población asalariada en la Argentina; (1890-1915), Buenos Aires: Prometeo Libros 2008, S. 63-72. Weitere bedeutende Berichte, die durch die nationale Regierung in Auftrag gegeben worden waren, waren der Bericht von Juan Alsina von 1905, der den Modus Vivendi der Arbeiterklasse und ihre moralische Disposition auch mittels Fotografien dokumentierte; der „Informe Storni“ von 1908 arbeitete hingegen hauptsächlich mit statistischen Erhebungen. Siehe dazu weiterhin: Ebd., S. 72-79. 72 Vgl. Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim: Beltz-Athenäum 1994, S. 217.
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nach) regulierender Intervention anbietet.73 Gouvernementalität bezeichnet „Regierungsvorgänge [...], die sich nicht in der Zurechnung auf eine zentrale Staatsmacht erschöpfen, sondern die im Innern des Gesellschaftskörpers gemäß ökonomischer Kalküle ausgeübt werden.“74 In dem Begriff verbindet sich das Regieren mit einer Denkweise, die nun auf politische Rationalität setzt, das heißt, die im Gegensatz zu älteren Herrschaftsformen keine normative Wertung mehr impliziert, sondern „eine intellektuelle Bearbeitung der Realität darstellt, an der dann politische Technologien ansetzen können“.75 Diese historisch neuar-
73 Das Konzept der Gouvernementalität ist sehr frühzeitig von Jacques Donzelot, einem Studenten und Kollegen von Foucault, auf die Geschichte von Sozialstaat und Familie angewendet worden. Vgl. Donzelot, Jacques: L' invention du social. Essai sur le déclin des passions politiques, Paris: Seuil 1994. In der angelsächsischen Forschung markiert das Erscheinen des folgenden Sammelbands den Beginn der Governmentality Studies: Burchell, Graham (Hg.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago: Univ. of Chicago Press 2009. Der Schwerpunkt der angelsächsischen Forschung liegt auf dem Liberalismus als einer politischen Doktrin, die ihre Regierungstechnologien außerhalb der im engeren Sinne politischen Sphäre anwendet. Vgl. Rose, Nikolas; Miller, Peter: „Political power beyond the State. Problematics of government“, in: British Journal of Sociology, 43, 2, 1992, S. 173-205, S. 180. Siehe auch: Dean, Mitchell: Governmentality. Power and Rule in Modern Society, Los Angeles, Calif: SAGE 2010 (1999); Rose, Nikolas S.: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London: Routledge 1991. Im deutschen Sprachraum ist das Konzept vor allem in Soziologie und Politikwissenschaften rezipiert und vor allem als Regierungsprinzip in Postfordismus und Neoliberalisierung erkannt worden. Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; Opitz, Sven: Gouvernementalität im Postfordismus. Macht, Wissen und Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität, Hamburg: Argument 2004; Krasmann, Susanne (Hg.): Michel Foucaults ‚Geschichte der Gouvernementalität‘ in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge, Bielefeld: transcript 2007, S. 128-155; Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: Springer VS 2007; Pieper, Marianne; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept in Anschluss an Foucault, Frankfurt am Main, New York: Campus 2003. Eine Einführung in das Konzept der Gouvernementalität für ein spanischsprachiges Publikum bietet: Grinberg, Silvia Mariela: „Gubernamentalidad. Estudios y perspectivas“, in: Revista Argentina de Sociología, 5, 8, 2007, S. 95-110. 74 Opitz, Gouvernementalität im Postfordismus, 2004, S. 21. 75 Lemke, Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien, 2000, S. 20.
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tige Kunst des Regierens betrachtete im Gegensatz zur Disziplinarmacht die Machtbeziehungen in einer Gesellschaft unter dem Aspekt der Fremdführung als auch der Selbstführung. Der Fokus der Gouvernementalität liegt demnach vor allem auf den (Selbst-)Techniken einer Subjektwerdung, in der das Individuum als „produziertes und zugleich aktives, Macht ausübendes und zur Selbstführung fähiges Subjekt“76 konstituiert wird. Foucault selber fasst den Begriff der Regierung im Kontext der Gouvernementalisierung des Staates folgendermaßen: „Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden. In der weiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen, und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert und modifiziert wird.“77
Ist die Regierung also das Scharnier, an dem die Aspekte der Fremdführung und der Selbstführung ineinandergreifen, so stellte die Magazinpresse die Anrufung und Medialisierung der verschiedenen Kräfte dar, die zur Bildung dieses Scharniers führten. Dies betraf auf der einen Seite den Ruf nach staatlicher Intervention, behördlicher Regulierung und wissenschaftlicher Untersuchung von problematisierten Milieus und Menschen. Auf der anderen Seite stellte die Magazinpresse auch eine Anleitung zur Selbstführung dar. Im konkreten Sinn geschah dies etwa in Rubriken, die Ratschläge beispielsweise für die Kindeserziehung oder die Körperhygiene bereitstellten. Darüber hinaus stellte die Magazinpresse Subjektivierungsangebote als Nationalbürger und -bürgerinnen bereit, die über biopolitische Kriterien gebildet wurden. Die Ankerpunkte, auf denen sowohl der Ruf nach Fremd- als auch nach Selbstführung basierten, wurzelten im Leben der Subalternen. Subalternität entstand in Argentinien erst im Spannungsverhältnis zwischen dem Akt der Repräsentation seitens der Presse und dem Entzug aus Repräsentierbarkeit und Subjektivierung seitens der Repräsentierten selbst. Anders gesagt
76 Pieper; Gutiérrez Rodríguez, Gouvernementalität, 2003, S. 8. Eine Einführung zu Subjekt und Subjektivierung in verschiedenen Forschungsansätzen bietet: Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld: transcript 2008. 77 Foucault, Michel: „About the Beginning of the Hermeneutics of the Self“, in: Political Theory, 21 (1993), S. 198-227, hier S. 203 f., zitiert und übersetzt in: Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, 2007, S. 37.
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ist in der neuen Magazinpresse eine Vermehrung von Repräsentationstechniken zu beobachten, welche der Erkennung, Problematisierung und gesellschaftlichen Positionierung von sozialen Gruppen dienten und letztlich deren Regierbarkeit mittels Reformen einforderten. Subalterne wurden darin objektiviert, parodiert, marginalisiert oder auch unsichtbar gemacht. Ihre Agency ist dennoch unverkennbar und zeigt sich in ihrer Resilienz gegen eine Normalisierung entlang bürgerlicher Werte, nationaler Kategorien und sozialer Reformen. Subalternität ist insofern weniger eine Sprach- und Machtlosigkeit, sondern auch eine Form der Agency, die soziale Problematisierungen provozierte und den Versuch ihrer biopolitischen Erkenntnis und Regierung immer wieder ins Leere laufen ließ. Das Spektakuläre der Sozialreportagen in der Magazinpresse speiste sich genau aus den Versuchen und dem Scheitern, die gesellschaftlichen Ränder biopolitisch zu bestimmen und in ein modernes, gouvernementales Machtverhältnis einzubeziehen. Gehoben wurde dieses Wissen in den Reportagen der Magazine nicht über intellektuelle, politische oder philosophische Debatten, sondern in der Durchmessung der lebendigen Körper der Subalternen. Im prekarisierten Leben schien eine Wahrheit angelegt, die zu verstehen, zu fürchten, zu begehren, zu verwerfen, zu disziplinieren oder zu romantisieren Grundlage für die Herausbildung eines homogenen Bevölkerungskörpers war, der die Grundlage staatlicher Regulierungsmechanismen und Vorstellungen von nationaler Gemeinschaft bildete. Die Intervention der Magazinpresse war eine biopolitische, ihr Vermögen ein Ausdruck einer zu dieser Zeit hegemonial werdenden Biomacht, ihr Objekt die Subalternen und deren resiliente Praktiken an den Rändern und in den Zwischenräumen der modernen Großstadt.
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Die gezielte Sammlung eines konkreten Quellenkorpus von Zeitschriften erfolgte entlang folgender Kriterien: Erstens wurden nur solche Publikationen herangezogen, die eine hohe Popularität aufwiesen, messbar durch Auflage und Verbreitung; ein zweites Kriterium galt ihrer Multidirektionalität, also der Adressierung klassen-, geschlechter- und altersübergreifender KonsumentInnen, und drittens spielte die Visualität, also die häufige Verwendung von fotografischen und anderen Abbildungen, eine signifikante Rolle.78 Die untersuchten Zeitschriften
78 El Hogar, 1904 von dem Verleger Alberto M. Haynes gegründet, gehörte beispielsweise zu den meistgelesenen Zeitschriften, wurde aufgrund seiner frühen Spezialisierung auf eine Zielgruppe von Frauen und aufgrund seiner thematischen Einschrän-
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sind in der Reihenfolge ihres erstmaligen Erscheinens: Caras y Caretas (ab 1898), PBT (ab 1904), Vida Moderna (ab 1907), Mundo Argentino (ab 1911), Fray Mocho (ab 1912) und Revista Popular (ab 1917).79 Zusätzlich zu diesen jeweils wöchentlich erscheinenden Magazinen wurden zwei weitere Printmedien herangezogen, welche die genannten Kriterien ebenfalls erfüllen: Die Wochenendausgaben der Zeitung Crítica (ab 1913) und die illustrierte Beilage der Zeitung La Nación (Suplemento de La Nación, ab 1902).80 Die Tageszeitung Crítica wurde aus dem Grund mit einbezogen, weil ihr Profil und ihre Agenda insbesondere durch die massive Verwendung von Fotografien, die Publikation von Sozialreportagen und ihre Leserschaft als erstes ‚Massenblatt‘ der Tagespresse gelten kann. Bei dem Suplemento de la Nación handelte es sich um die erste illustrierte Beilage einer Tageszeitung, die aufgrund des Erfolgs von Caras y Caretas ins Leben gerufen wurde und mit ähnlichen Charakteristika versehen war. Die Presseartikel werden gleichsam als Produkt wie als Produzent von Diskur-
kung auf Themen wie Mode, Festlichkeiten, Hochzeiten, Familie, Reisen, Theater und belletristische Literatur nicht in die Auswahl der untersuchten Zeitschriften aufgenommen. 79 Die Ausgaben von Caras y Caretas wurden für den gesamten Zeitraum zwischen 1898 und 1920 in der originalen Printversion gesichtet. Die Zeitschriftenbestände finden sich jeweils lückenhaft in verschiedenen Archiven: Über den besterhaltenen Bestand verfügt der Archivo General de la Nación (AGN); ebenso verfügen die Abteilung Hemeroteca der Biblioteca del Congreso de la Nación (BCN) und das Iberoamerikanische Institut (IAI) in Berlin über umfassende Bestände. Seit 2010 werden sämtliche Ausgaben von Caras y Caretas von 1898 bis 1939, ebenso die erste Erscheinungsserie der Zeitschrift in Montevideo zwischen 1890 und 1892, als digitalisierte Ausgaben in der Hemeroteca Digital der Biblioteca Nacional de España online zur Verfügung gestellt. Die Zeitschrift PBT wurde in der Hemeroteca der BCN eingesehen und mit Beständen der Hemeroteca der Biblioteca Nacional de la República Argentina (seit 2013: Biblioteca Nacional Mariano Moreno, BN) ergänzt. Im Zeitschriftenarchiv der BN wurden ebenfalls die Ausgaben von La Vida Moderna von 1907 bis zur Einstellung der Zeitschrift 1912 konsultiert, deren Bestände allerdings lückenhaft sind; genauso die Ausgaben der Revista Popular von 1917 bis 1919. Mundo Argentino konnte in der Zeitschriftensammlung des Museo de la Ciudad in Buenos Aires komplett eingesehen werden. Das Magazin Fray Mocho wurde in der Hemeroteca der Biblioteca de la Universidad Nacional de La Plata (UNLP) konsultiert. 80 Die Tageszeitung Crítica ist in der Hemeroteca der BN komplett auf Mikrofilm einsehbar. Die Printversionen des Suplemento de La Nación befinden sich in der gleichen Bibliothek.
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sen begriffen, das heißt von historischen Phänomenen, die in schriftlichen, mündlichen, bildlichen Formen und Praktiken aufkommen; sie kennzeichnen sich durch ihre Positivität und Materialität. Die Person des jeweiligen Autoren tritt hinter diesem Ensemble zurück und ist nur sehr bedingt von Interesse. Vielmehr bezeichnen deren Aussagen das wiederholte Auftauchen von Gesagtem, Geschriebenem oder Gezeigtem; sie sind durch eine „wiederholbare Materialität“ gekennzeichnet.81 Die Bestände der ausgewählten Printmedien wurden in diesem Sinne auf die Serialität von Aussagen hin gesichtet. Die daraus erfolgende Kategorisierung orientierte sich an eben jenen Kategorien und Klassifikationen, die von der Magazinpresse selbst entworfen oder perpetuiert worden waren. Die Kategorisierungen der Artikel stehen somit in einem abbildenden Verhältnis zu den Kategorisierungen im medialen Diskurs. Eine grobe Unterscheidung wurde zwischen solchen Presseartikeln, die sich mit sozialen Räumen und Milieus beschäftigen, und solchen, die subalterne Individuen oder Bevölkerungsgruppen in den Blick nahmen, getroffen. Ein weiterer Komplex von Quellen fügte sich zu der Kategorie Institutionen zusammen, die wiederum starke Überschneidungen mit den ersten beiden Gruppierungen aufweist, insofern es sich dabei beispielsweise um Komplexe wie Gefängnis und Haft handelte, die sowohl eigene soziale Milieus repräsentierten und zugleich als institutionelle Praxis auf die Konstituierung sozialer Marginalität von Subjekten und Gruppen ausgerichtet waren. Eine feinere Unterteilung gruppierte die Artikel entlang ihrer spezifischen Gegenstände: Unter soziale Räume fielen verschiedene informelle Ansiedlungen am Stadtrand, städtischen Brachen und Müllkippen als Lebensräume, ferner ‚die Straße‘ als Ort der Fluktuation, der provisorischen Zeitvertreibs und Gelderwerbs, durch Migration geprägte Stadtviertel, Hafenzonen und Vergnügungsmeilen wie der Paseo de Julio; Wohnräume wie das conventillo und das private Eigenheim. Unter subalterne Bevölkerung fielen Obdachlose, BettlerInnen, so genanne atorrantes, AussteigerInnen, Straßenkinder, Waisen, minderjährige DelinquentInnen, arbeitende Kinder, so genannte Tipos populares und curiosidades, verschiedene Einwanderergruppen, Kranke, Wahnsinnige, Hysterikerinnen und NeurasthenikerInnen, SelbstmörderInnen, Kriminelle, so genannte invertidos sexuales, SpielerInnen, BetrügerInnen, AlkoholikerInnen, Drogensüchtige, AfroargentinierInnen und Indigene. Unter die Kategorie von Institutionen fielen Gefängnisse, Schulen und Fördereinrichtungen, Psychiatrien, Krankenhäuser, Hygiene, Wohltätigkeitsorganisationen und schließlich der Staat.
81 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Surhkamp 1981, S. 164.
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Dabei wurden vor allem solche Kategorien ausgewählt, an denen biopolitische Strategien in Relation zu Aspekten von Klasse, raza, Gender, Alter und Nation besonders deutlich wurden. Die Quellenkategorien zu institutionellen Praktiken wurden nicht eigenständigen Betrachtungen unterzogen, sondern in die Analysen von Aussagen über subalterne Gruppen oder Räume wo möglich mit einbezogen. Die letztlich resultierenden Analysekapitel werden in der anschließenden Erläuterung zum Aufbau des Buchs vorgestellt. Eine zweifellos herausragende Bedeutung für die diskursanalytische Befassung mit der Magazinpresse nehmen Bilder und insbesondere Fotografien ein. Bilder sind, so formuliert es Rolf Reichardt in einem Einführungstext zur Bildund Mediengeschichte, „hervorragende Zeitzeugnisse für die Rekonstruktion historischer Sehweisen, für eine Geschichte kollektiver Wahrnehmungen, Sinnbildungsmuster und visueller Darstellungsformen, ihrer Strukturen und Veränderungen“.82 Der Kunsthistoriker John Tagg hat besonders deutlich darauf hingewiesen, dass fotografische Bilder Wahrheiten produzieren und Teil eines diskursiven Regimes sind, das von Macht durchzogen ist.83 Dies betrifft unterschiedliche Bildgenres: künstlerische und publizistische Fotografie, Porträtfotografie, wissenschaftliche Fotografie, Identifikationsfotografie, Bildpostkarten, ebenso wie bewegte Bilder in Fernsehen und Kino. Geht man von einer wirklichkeitskonstituierenden Macht von Bildern aus, hat das weit reichende Implikationen für die Quellenarbeit von HistorikerInnen. Eine diskursanalytische Betrachtung verortet Bilder demnach in ihrer historischen Funktion und untersucht, welche Bedeutung Bilder in bestimmten situativen und kommunikativen Kontexten erlangten und welche Wahrheiten sie produzierten, die in gesellschaftliche Zusammenhänge einwirkten. Bilder stehen in diesem Sinne nicht für sich und sind nicht aus sich selbst heraus erschließbar. „Bilder [...] müssen erst mit Zwecken und Bedeutungen versehen werden, die ihre konstitutive Multifunktionalität und Vieldeutigkeit reduzieren, die sie nützlich machen; vorher sind sie als Bilder nicht sichtbar.“84 Diese Funktionalität und ihre ikonografischen Mittel herauszustel-
82 Reichardt, Rolf: „Bild- und Mediengeschichte“, in: Eibach, Joachim; Lottes, Günther (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 219-230, S. 219. 83 Vgl. Tagg, John: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Basingstoke: Macmillan Education 1988; Tagg, John: The Disciplinary Frame. Photographic Truths and the Capture of Meaning, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 2009. 84 Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin: b_books 2008, S. 27.
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len, ist Aufgabe einer kulturhistorischen Diskursanalyse, die Bilder als Diskurselemente mit einschließt. Analog zur Sprechakttheorie in der Diskursanalyse kommt auch Bildern ein Akteurstatus zu, der sich in dem Begriff des „Bildakts“, den Horst Bredekamp vorschlägt, andeutet.85 Pressefotografien sind, betrachtet man die Magazinpresse des frühen 20. Jahrhunderts unter diesen Gesichtspunkten, als elementare und distinkte Bestandteile von Pressediskursen zu verstehen. Bildern ist immer wieder ein eigenartiges, den Text übersteigendes ‚Mehr‘ an Aussagekraft zugesprochen worden, das Gottfried Boehm als „ikonische Differenz“86 bezeichnet hat und Reichardt mit ihrem „auratische[n] Charakter“87 begründet. Sie produzieren einen Mehrwert, der historiographisch erschlossen werden kann. Es ist nicht zuletzt der Bedeutungsüberschuss eines jeden Bildes, der die intendierten Aussagen unterläuft und Bildproduktion und -rezeption als umkämpfte Bereiche zu konzeptualisieren erlaubt. Folglich ist die Auseinandersetzung mit Biopolitik und Visualität immer auch an die Frage nach dem Handlungsspielraum subalterner Akteure geknüpft. Aussagen und Wirkungen von Bildern funktionieren also anders als Texte – ein Umstand, dem eine Diskursanalyse der Magazinpresse gerecht werden muss. Nicht zuletzt erfordert die Analyse von „Bilddiskursen“ eine Aufmerksamkeit gegenüber ihren „technischen, politischen, ökonomischen, ästhetischen, diskursiven und sozialen Konstruktionsbedingungen“, wie es Philipp Sarasin einfordert.88 Bildanalysen erfordern daher ein eigenes methodisches Instrumentarium. Zugleich ist diese Arbeit stark daran interessiert, in den Fotografien mögliche Spuren der Selbstbehauptung und Gegenaneignung der abgebildeten Subalternen methodisch herauszuarbeiten und mit den Repräsentationsstrategien der Journalisten zu kontrastieren. Wie Sarasin betont, kannten auch die Objekte des Kamerablicks die Konventionen des Mediums und wussten diese für ihr Interesse einzusetzen. An dem „Bildakt“ von Fotografien haben demnach „alle mitgewirkt“, sie sind also „in jeder Hinsicht ‚konstruiert‘, und genau deshalb sind sie ‚wahr‘: Sie sind der präzise Ausdruck einer bestimmten historischen Situation“.89 Dem Widerspruch derjenigen, über die sich die journalistischen Diskurse entfalteten, soll daher gerade auch in den Bildern eine hohe Aufmerksamkeit zuteilwerden.
85 Vgl. Bredekamp, Horst: Theorie des Bildakts, Berlin: Suhrkamp 2010. 86 Zitiert in: Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main, New York: Campus 2008, S. 58. 87 Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, 2002, S. 227. 88 Sarasin, Philipp: „Bilder und Texte. Ein Kommentar“, in: Werkstatt Geschichte, 16, 47, 2007, S. 75-80, S. 77. 89 Ebd., S. 78.
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Die biopolitischen Mechanismen der Magazinpresse stellen in diesem Sinne den Ausdruck eines Kräfteverhältnisses dar, dessen Kompromiss sich schließlich in den gouvernementalen Techniken materialisieren sollte.
Z UR S TRUKTUR
DES
B UCHS
Die Untersuchung der biopolitischen Wirkungsmacht des Magazinjournalismus erfordert zunächst eine Kontextualisierung ihrer institutionellen und sozialen Zusammenhänge, die das nachfolgende Kapitel Das Neuste vom Neuen vornimmt. Da die Intentionen und Ansichten der Journalisten selbst für die Diskursanalyse keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen, ist es an dieser Stelle von Bedeutung, das institutionelle und mediale Umfeld, in dem die Aussagen gemacht wurden, herauszustellen. 90 Zu diesem Zweck werden zunächst die transnationalen und lokalen Entwicklungen in der Presse skizziert, aus denen die Magazinpresse als modernes Massenmedium entstanden ist. Die Spezifika der Magazinkultur werden im Weiteren hinsichtlich ihres Themenspektrums, Genres und der Bedeutung der Fotografie erläutert. Die soziale Zusammensetzung der Leserschaft und die Praxis des Zeitschriftenlesens werden für die Frage des Wirkungsfelds von journalistischen Diskursen der Magazinpresse untersucht. Auch die berufliche Professionalisierung im Journalismus und der daraus resultierende Beruf des Reporters werden für ein Verständnis des medialen Settings zur Erklärung herangezogen. Schließlich skizziert das Kapitel die journalistischen Praktiken der Reporter im Stadtraum, die nicht nur ein Charakteristikum des modernen Journalismus darstellten, sondern selbst biopolitische Interventionen bedeuteten, die sich in den Bildern und Texten wiederfanden. Die anschließenden Kapitel widmen sich der Analyse der journalistischen Diskurse über subalternes Leben in den argentinischen Städten. Sie sind entlang derjenigen Bereiche und Kategorien strukturiert, die – wie bereits im Methodenteil erläutert – induktiv aus dem gesichteten Quellenkorpus abgeleitet worden sind. Die ersten beiden Analysekapitel untersuchen dabei stärker die räumlichen Konstruktionen sozialer Marginalität, während die folgenden drei Kapitel sich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen konzentrieren und deren Kategorisierungen durch die Magazinpresse untersuchen. Die Grenze zwischen subalternen Räumen und Subjekten ist dabei nicht trennscharf, orientiert sich aber an den Schwerpunktsetzungen in den journalistischen Repräsentationen.
90 Vgl. Landwehr, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen: Ed. Diskord 2004, S. 78 f.
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Das Kapitel Die Erforschung der städtischen Ränder beschäftigt sich mit solchen urbanen Räumen, die nicht nur als geografische Randzonen, sondern auch als marginale, schädliche und liminale soziale Milieus beschrieben und gezeigt wurden. Dazu zählten die Uferzonen des Río de la Plata und kleinerer Flüsse in Buenos Aires ebenso wie die Elendssiedlungen am Rande der offenen Müllverbrennungsanlagen (im Folgenden auch als quema bezeichnet) in Buenos Aires und Rosario. Das folgende Proletarische Wohnverhältnisse behandelt die Problematisierung der urbanen Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse, die sich maßgeblich auf die kollektiven Wohnformen in den conventillos richtete. Zwischen 1900 und 1920 geriet die Idee des privaten Eigenheims für die Familien der Arbeiterklasse ebenfalls auf die Agenda der Magazinpresse und wird auf die darin entwickelten gesellschaftlichen Utopien hin untersucht. Im Kapitel Die curiosidades der modernen Stadt gilt die Analyse der Porträtierung sogenannter tipos populares und curiosidades durch die Magazinpresse. Dabei handelte es sich um fliegende HänderInnen und andere originelle ‚Typen‘ des Straßenlebens in verschiedenen Städten und kleineren Orten, ebenso wie um körperlich, psychisch oder geschlechtlich ‚ungewöhnliche‘ Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen. Die Darstellung von sogenannten invertidos sexuales, die aufgrun ihrer Transgressionen von geschlechtlichen Normen in den Fokus rückten, wird in einem zweiten Teil diskursanalytisch untersucht. Das Kapitel Armut als soziales Risiko widmet sich der Repräsentation von Armut und beschäftigt sich dabei insbesondere mit der Kategorisierung bestimmter Typen von Prekarisierten als ‚professionelle BettlerInnen‘ und als atorrantes, die als typische Gestalten des städtischen Armutsphänomens besprochen und visualisiert wurden. Das letzte Analysekapitel „La fuerza viva de la nación“ - Gefährliche Kinder und gefährdete Kindheit besitzt einen zentralen Stellenwert in der Analyse einer biopolitischen Intervention seitens der Magazinpresse: Die Repräsentationen von gefährdeten und von gefährlichen Kindern standen besonders weit oben auf der Agenda der Journalisten. An dieser Stelle werden Artikel herangezogen, die von der Vernachlässigung von Kindern, von kriminellen Minderjährigen und von einer für die damalige Welt der Presse wichtige und symbolische Gruppe von Kindern handeln, nämlich den als canillitas bezeichneten ZeitungsverkäuferInnen. Die einzelnen Analysekapitel bilden ein Gerüst biopolitischer Diskurse in der argentinischen Magazinpresse, das nur in dieser mikroskopisch feinen Analyse der einzelnen Darstellungen und journalistischen Praktiken in seinen Funktionsweisen erkannt werden kann. Das Schlusskapitel synthetisiert diese mannigfaltigen Weisen, das subalterne Leben zu fokussieren, und zeigt ihre verbinden-
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den Stränge als Teile eines biopolitischen Diskurses über die Beschaffenheit und die Zukunft der argentinischen Nation auf.
Das Neuste vom Neuen: Magazinpresse in Argentinien
Die Zeit um 1900 ist nicht nur für Argentinien, sondern weltweit als Epoche der „Medialisierung der Gesellschaft“ 1 und der „massenmedialen Sattelzeit“ 2 beschrieben worden. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fand ein tiefgehender Wandel in der Presselandschaft, in der journalistischen Arbeit und im Konsum von Printmedien statt, dessen lateinamerikanische Zentren in Mexiko-Stadt, São Paulo, Montevideo und Buenos Aires lagen. Der Zeitungsund Zeitschriftenmarkt expandierte auf ein Vielfaches; neue Formate, Stile und Inhalte setzten sich durch und das Verhältnis zwischen einem sich kommerzialisierenden Medienapparat und einer sich diversifizierenden Leserschaft veränderte sich nachhaltig. Die Zeitschrift beziehungsweise das Magazin wurde zum Medium der Moderne schlechthin: Über ihre Sprache, Gestaltung und den Einsatz von Fotografien schrieben sie sich scheinbar leichtfüßig in das Denken und die Kultur ihrer Zeit ein.3 Die Forschungsarbeiten zur Geschichte des Journalismus sind sich in der Bedeutung dieser richtungsweisenden Veränderungen einig: Eduardo Romano spricht von einer „revolución en la lectura“,4 die mit dem Auf1
Bösch, Frank: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt am Main: Campus 2011, S. 109.
2
Knoch, Habbo; Morat, Daniel: „Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960. Zur historischen Kommunikologie der massenmedialen Sattelzeit“, in: Dies. (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München: Fink 2003, S. 9-33, S. 19.
3
Vgl. Zimmermann, Clemens: „Die Zeitschrift – Medium der Moderne. Publikumszeitschriften im 20. Jahrhundert“, in: Ders.; Schmeling, Manfred (Hg.): Die Zeitschrift, Medium der Moderne. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Bielefeld: transcript 2006, S. 15-42, hier S. 17-19.
4
Vgl. Romano, Revolución en la lectura, 2004.
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kommen der neuen populären Bildpresse stattfand, und Jorge Rivera markiert die Jahrhundertwende als endgültigen Durchbruch einer „industria cultural“5 in Argentinien, die sich durch die Professionalisierung und Kommerzialisierung des Verlagswesens und der journalistischen Arbeit auszeichnete. Der Journalismus stellte eine bedeutende Schnittstelle für die zuvor geschilderten biopolitischen Zugriffe auf die Bevölkerung dar. Während medizinische, sozialhygienische und kriminologische Fachdiskurse oftmals nur einem limitierten Kreis von SpezialistInnen und gegebenenfalls ReformerInnen und PolitikerInnen vorbehalten blieben, erreichten diese Spezialdiskurse über die Massenmedien ein breites Lesepublikum mit unterschiedlichen Bildungshintergründen. Gleichzeitig bedeutete die neuartige journalistische Herangehensweise eine durch eigene Praktiken und Interventionen realisierte Umsetzung dieser biopolitischen Diskurse. Dadurch trug die Magazinpresse wesentlich zur Erschaffung der Figur des Bevölkerungskörpers bei, generierte soziale Bedeutungen und Identifikationen und griff konkret in die sozialen Verhältnisse ein. Im Folgenden werden die historischen Veränderungen von journalistischer Produktion, Programmatik, Arbeit, Rezeption und Intervention im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dargestellt, die zur Genese des spezifisch modernen Bildjournalismus in Argentinien beigetragen haben.
M ARKT , M ASSE
UND
M ODERNISIERUNG
Die argentinische Presse hatte bereits im 19. Jahrhundert bedeutende Entwicklungen durchlebt, noch bevor Anfang des 20. Jahrhunderts die Wende zur Epoche der Massenmedien eintrat. Als erste Printmedien in Buenos Aires erschienen in den 1760er Jahren sogenannte gacetas oder gazetas in unregelmäßigen Abständen. Es handelte sich dabei um einseitig bedruckte Blätter von etwa 25 mal 15 Zentimetern, welche die Nachrichten der europäischen Zeitungen, die mit den Schiffen im Hafen eintrafen, wiedergaben und darüber hinaus auch lokale Themen aus den Bereichen Handel, Administration, Religion und Militär zum Inhalt hatten.6 Die erste reguläre Zeitung war El Telégrafo Mercantil, Rural, Político,
5
Vgl. Rivera Jorge B.: El escritor y la industria cultural. El camino hacia la profesionalización (1810-1900), Buenos Aires: Centro Editor de America Latina 1980, S. iv.
6
Vgl. Ulanovsky, Paren las rotativas, 1997, S. 13 f. La Gazeta de México wurde bereits ab 1722, La Gazeta de Guatemala ab 1729, La Gazeta de Lima ab 1743 und La Gazeta de La Habana ab 1764 regelmäßig publiziert.
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Económico e Historiográfico, der seit 1801 zweimal pro Woche auf acht Seiten erschien und von der Imprenta de Los Niños Expósitos gedruckt wurde.7 Mit der Unabhängigkeitsbewegung vervielfältigten sich die Presseorgane: Estrella del Sud, El Correo del Comercio, El Semanario de Agricultura und La Gaceta de Buenos Aires wurden um 1810 gegründet und fungierten, ebenso wie Flugblätter und Pamphlete, als Sprachrohre für die revolutionären Ideen der Unabhängigkeitsbewegung und ihrer Protagonisten: Sie propagierten Souveränität, Gleichheit und Handelsfreiheit.8 Die Orientierung entlang politischer Leitlinien, die oftmals mit ökonomischen Interessen einhergingen, war für das argentinische Zeitungswesen des gesamten 19. Jahrhunderts charakteristisch. Carlos Ulanovsky bezeichnet die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aufkommenden gran diarios in seinem Überblick über die Geschichte des Journalismus in Argentinien als „vehículos de ideas, instrumentos de militancia y hasta puestos de combate“.9 Der 1897 publizier-
7
Vgl. Bonardi, Laurent: „Le Telégrafo mercantil, rural, político-económico e historiográfico del Río de la Plata (1801-1802)“, in: El Argonauta español, 3, 2006, Website von El Argonauto español: http://argonauta.revues.org/1070?lang=es [10.2.2015]. Zur Geschichte der ersten Pressepublikationen am Río de la Plata siehe auch: Furlong, Guillermo: Historia y bibliografía de las primeras imprentas rioplatenses, Buenos Aires: Librería del Plata 1995.
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La Gaceta de Buenos Aires wurde von einer der führenden Persönlichkeiten der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung, Mariano Moreno, gegründet und diente in der Folgezeit zur Kommunikation der rechtlichen und politischen Grundlagen der Primera Junta. Vgl. Navarro Viola, Jorge (Hg.): Anuario de la prensa argentina 1896, Buenos Aires: Pablo E. Coni e hijos 1897, S. 30. Zur Bedeutung von Pamphleten und Flugschriften für die Gründungszeit der unabhängigen Republiken in Lateinamerika siehe: Rocafuerte, Vincente: „Los panfletos y la invención de la república hispanoamericana, 1821-1823“, in: Alonso, Paula (Hg.): Construcciones impresas. Panfletos, diarios y revistas en la formación de los Estados nacionales en América Latina, 1820-1920, México, D.F.: Fondo de Cultura Económica 2004, S. 13-38.
9
Ulanovsky, Paren las rotativas, 1997, S. 16. So waren beispielsweise El Nacional, noch vor dem Fall von Rosas 1852 gegründet, und La Tribuna, die nach der Schlacht von Caseros ins Leben gerufen wurde, Bollwerke gegen den rosismo, die von neuen politischen Führungskräften wie Juan Bautista Alberdi und Domingo Faustino Sarmiento dominiert wurden. Vgl. ebd., S. 20. Einen klaren politischen Auftrag hatte auch El Capital, die für die Einrichtung der argentinischen Hauptstadt in Rosario eintrat, wo sie 1867 auch gegründet worden war. Die moderate La Libertad (1874-1886) propagierte nachhaltig eine friedliche Lösung des Grenzkonflikts mit Chile; und La
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te Anuario de la prensa argentina 1896, an dem neben dem Herausgeber Jorge Navarro Viola bekannte Literaten und Journalisten wie Roberto Payró und Eduardo Holmberg mitgearbeitet hatten, gibt Aufschluss über die zeitgenössische Wahrnehmung der Veränderungen des Pressewesens im ausklingenden 19. Jahrhundert. Aus dieser zeitgenössischen Perspektive wurden die Entwicklungen der Presse hinsichtlich ihrer Modernisierung bemessen beziehungsweise als Kritik an einem überkommenen traditionellen Zeitungswesen formuliert, das sich im Angesicht eines modernen Journalismus aufzulösen wähnte.10 Der Anuario urteilte über die ‚traditionellen‘ Zeitungen, sie seien ausschließlich Organe politischer oder religiöser Prinzipien, und ihre Artikel doktrinärer oder polemischer Natur.11 El Nacional, der 1893 bankrottging, wurde etwa als ein „diario típico del sistema antiguo que no evulocionó“12 bezeichnet, der mit den modernen Entwicklungen nicht mehr mithalten konnte. Die Gründe für die wesentliche Beschränkung und den Untergang der ‚traditionellen‘ Zeitungen bezeichnete der Anuario wie folgt: „Tales eran los principales diarios del año 1878, cuya circulación se veía grandemente restringida por dos causas principales: la ignorancia de las bajas esferas sociales, y la división de los partidos, que hacía que nadie leyera sino el periódico destinado á la defensa de sus propias ideas políticas.“13
Die Neuordnung im Pressewesen und seine Zukunftsperspektiven, die der Anuario bereits 1897 konstatierte, richteten sich insbesondere auf eine (graduelle)
Unión (1882-1890) war eine einflussreiche Zeitung, die gegen Julio A. Roca und seine liberale und auf die Interessen der Hauptstadt bezogene Politik kämpfte. Die Abendzeitung Tribuna, die seit 1891 erschien, positionierte sich dagegen entlang der Meinungen und Ideen des roquismo der 1890er Jahre. Vgl. Ángel Marco, Historia del periodismo argentino, 2006, S. 438. 10 Neben verschiedenen chronologischen Entwicklungen der Presse betrachtet der Anuario querschnittsmäßig das Jahr 1876 als Vergleichsjahr, das zur Gegenüberstellung aktueller Entwicklungen herangezogen wurde. Vgl. Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897. 11 Ebd., S. 5. 12 Ebd., S. 14. Die Zeitung war 1853 von dem liberalen Politiker Dalmacio Vélez Sarsfield gegründet worden, die Redaktion oblag in den folgenden Jahrzehnten unter anderem führenden Politikern wie Domingo Faustino Sarmiento und Nicolás Avellaneda. 13 Ebd., S. 14.
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Verschiebung von parteigebundenem Meinungsjournalismus hin zu einem auf ein Massenpublikum ausgerichteten informativen Journalismus. Der im 19. Jahrhundert in Argentinien dominierende Meinungsjournalismus war stark an französischen Vorbildern ausgerichtet und fast durchgängig von politischen Parteien und Gruppierungen abhängig, insofern bereits die Finanzierung der Zeitungen im Regelfall durch politische Interessenverbände oder durch Einzelpersonen geschah. Der Informationsjournalismus nach dem angelsächsischen Modell war hingegen weniger an parteilichen Interessen, sondern zunehmend an marktwirtschaftlichen Kriterien und einer inhaltlichen Ausrichtung auf ein breites Lesepublikum ausgerichtet: Sie entwickelten sich zu „verdaderas enciclopedias constantemente renovadas“.14 Der Anuario de prensa malte auch eine Zukunftsvision eines an US-amerikanischem Vorbild orientierten Zeitungsorgans aus: „Entonces, el gran edificio, en cuya planta baja funcionen sin cesar las colosales rotativas, presentará un aspecto solitario en su piso de redacción, ocupado úbicamente por el director, que no escribe, sino que lee y corrige lo que otros hacen, y unos pocos reporters, que redactan febrilmente las últimas noticias transmitidas por el telégrafo ó teléfono; mientras el numeroso personal de redacción, reculutando en todas las clases sociales, compuesto de hombres y mujeres, recorre las calles, se introduce en las oficinas públicas ó en las casas de las notabilidades del día, á pesca de informaciones. Es el sistema de los diarios yankees, y es el camino que parecen querer tomar los nuestros.“15
Einige der beschriebenen – und sicherlich verkürzten – Eigenarten des USamerikanischen Modells zeigten sich in den folgenden Jahren in der argentinischen Presse und sollten insbesondere für die Magazinpresse typisch werden: insbesondere die transatlantische Kommunikation und die Straße als Arbeitsort der Reporter. Die Tätigkeit von Frauen im argentinischen Massenjournalismus war jedoch bis in die 1920er Jahre hinein nicht üblich. Im Gegensatz dazu waren Frauen in politischen Bewegungen, etwa in der anarcho-feministischen Zeitung La Voz de la Mujer, die 1896 bis 1897 in Buenos Aires und 1899 von Virginia Bolten in Rosario herausgegeben wurde, journalistisch tätig und konnten ihre Erfahrungen mitunter später auch im Massenjournalismus einbringen. Dies zeigt etwa das Beispiel der Anarchistin Salvadora Medina Onrubia (1894-1972), die
14 Vgl. Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897, S. 25. Für eine transnationale Perspektive auf die Neuorientierung hin zum angelsächsischen Informationsjournalismus siehe einführend auch: Bösch, Mediengeschichte, 2011, S. 114. 15 Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897, S. 25 f.
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ab den 1920er Jahren für La Nación, El Hogar und Caras y Caretas journalistische und literarische Texte zu schreiben begann und nach dem Tod ihres Ehemanns Natalio Botana, dem Gründer und Verleger der stark am USamerikanischen Modell orientierten Zeitung Crítica, zwischen 1946 und 1951 die Geschäftsführung der Zeitung übernahm.16 Sowohl der französisch geprägte Meinungsjournalismus als auch der US-geprägte Informationsjournalismus bestanden im argentinischen Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus jedoch fort und gingen vor allem in inhaltlicher und stilistischer Hinsicht weitgehende Verbindungen miteinander ein. Das neue Medienzeitalter kündigte sich nicht zuletzt durch seine quantitative Dimension an: Bereits zu Beginn der 1880er Jahre wurden in Argentinien 148 Zeitungen publiziert, zwei Drittel davon in Buenos Aires.17 Dieser Boom wurde auch als diarismo bezeichnet, der um die Jahrhundertwende ein Zeitungsaufkommen von über 200.000 Exemplaren pro Tag in ganz Argentinien aufwies.18 Die größten Tageszeitungen waren zur Jahrhundertwende La Nación, die 1870 aus ihrem 1862 gegründeten Vorgänger La Nación Argentina hervorgegangen war, und die 1868 gegründete La Prensa. Beide waren paradigmatisch für den Wandel der Zeitungskultur. La Nación wurde als Aktiengesellschaft verschiedener prestigeträchtiger Persönlichkeiten gegründet, nach wenigen Jahren aber ausschließlich von Bartolomé Mitre finanziert. Mitre war zwischen 1862 und 1868 der erste Präsident der politisch vereinten Republik Argentinien und brachte der Zeitung als Staatsmann, Militär und Autor ein hohes Prestige ein.19 Die politische Handschrift des Herausgebers prägte die Tageszeitung maßgeblich. La Nación wurde damit zum Sprachrohr seiner Interessen und Haltungen in bestimmten politischen Konstellationen. Gleichzeitig war La Nación Sinnbild für urbane Modernisierung und technischen Fortschritt. Sie verfügte bereits früh
16 Vgl. Guzzo, Cristina: „Luisa Capetillo y Salvadora medina Onrubia de Botana. Dos íconos anarquistas“, in: Alpha, 20, 2004, S. 165-180. In der US-amerikanischen Presse gab es bereits in den 1880er Jahren eine Minderheit von bekannten Journalistinnen. Elizabeth Jane Cochran alias Nellie Bly war beispielsweise Reporterin für The New York World und publizierte eine Reihe von Enthüllungs- und Reisereportagen, die hohen Bekanntheitsgrad erlangten. 17 Vgl. Cibotti, La condición del inmigrante, 2000, S. 379. 18 Vgl. Prieto, Adolfo: El discurso criollista en la formación de la Argentina moderna, Buenos Aires: Siglo Veintiuno 2006, S. 48. Zeitschriften waren in diese Rechnung nicht eingeschlossen. 19 La Nación wurde 1908 in eine Sociedad Anónima umgewandelt, die Geschäftsführung der Zeitung verblieb jedoch bis heute in der Familie Mitre.
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über ein internationales Korrespondentennetz und orientierte sich auch inhaltlich an dem Diskurs der Modernisierung.20 Neben meinungsbildenden Artikeln bezog La Nación zunehmend informative und unterhaltende Rubriken ein, die sich vom alten parteiischen Journalismus abgrenzten und einen Übergang vom französisch geprägten Modell des Meinungsjournalismus hin zu einem angelsächsisch orientierten informationszentrierten Modell andeuteten.21 Die Tageszeitung La Prensa orientierte sich stärker an einer heterogenen Leserschaft, indem sie sich vornahm, der öffentlichen Meinung zu folgen und diese als Vorbild für die Berichterstattung zu nehmen, statt den Anspruch zu verfolgen, diese zu formen.22 Ihr Erfolg zeigte sich in den steigenden Auflagenzahlen: In den ersten Jahren wurden etwa 25.000 Exemplare gedruckt, Ende des Jahrhunderts bereits die dreifache Anzahl; Anfang des 20. Jahrhunderts überschritt La Prensa schließlich die Grenze von 100.000 Exemplaren.23 Zu den gran diarios der Epoche zählten darüber hinaus die 1880 gegründeten El Diario, El Tiempo und die zwischen 1868 und 1881 erschienene La República. Letztere initiierte den bedeutenden Umschwung in den Vermarktungsstrategien der Zeitungen, indem sie erstmals den Straßenverkauf von Einzelausgaben in Auftrag gab und damit zunächst für Kritik sorgte.24 Neben den großen Tageszeitungen gab es vor allem in Buenos Aires verschiedene weitere Pressesegmente: die katholische Presse,25 die Einwandererbeziehungsweise nationalitätenspezifische Presse und die Arbeiterpresse. Seit
20 Zur Geschichte und Bedeutung von La Nación im Kontext der Modernisierung der Presselandschaft siehe: Ángel Marco, Historia del periodismo argentino, 2006, S. 301-336; Ulanovsky, Paren las rotativas, 1997, S. 19-22. 21 Vgl. Ramos, Julio: Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y politica en el siglo XIX, Providencia; Santiago de Chile: Ed. Cuarto Propio 2003, S. 130 f. 22 Dass dieser Anspruch nur bedingt umgesetzt wurde und parteipolitische Positionierungen an der Tagesordnung waren, zeigte sich etwa in der Kampagne gegen den zwischen 1874 und 1880 amtierenden Präsidenten Nicolás Avellaneda des Partido Autonomista Nacional. Vgl. Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897, S. 11. 23 Vgl. Ulanovsky, Paren las rotativas, 1997, S. 18. 24 Vgl. Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897, S. 12. 25 Die katholische La América del Sud, publiziert zwischen 1876 und 1880, vertrat neben religiösen Werten eine oppositionelle Politik gegen den Präsidenten Nicolás Avellaneda und jene liberale Ideen, die mit der Einführung der Zivilehe und eines säkularisierten Bildungswesens einhergingen. Die einzige katholische Tageszeitung am Ende des Jahrhunderts war La Voz de la Iglesia.
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Beginn des 19. Jahrhunderts waren spanische, italienische, französische, englische, deutsche und arabische Pressepublikationen verbreitet. Unter der Vielzahl von Publikationen mit meist sehr geringen Auflagen erreichten El Correo Español, Le Courrier de la Plata, L’Operario Italiano, La Patria degli Italiani, The Buenos Aires Herald und The Standard die stärkste Verbreitung und verbanden den Bezug zum Herkunftsland mit einem starken Interesse an argentinischen Ereignissen und Entwicklungen.26 Die Arbeiterpresse war für die sozialistischen und anarchistischen Bewegungen in Argentinien um die Jahrhundertwende ein wichtiges Mittel der Mobilisierung. Die ersten sozialistischen Zeitungen erschienen in den 1880er Jahren und wurden von europäischen Einwanderern herausgegeben und verfasst. 1883 wurde die französischsprachige Le Proletaire, 1885 die auf Italienisch und Spanisch von dem italienischen Anarchisten Errico Malatesta herausgegebene La Questione Sociale27 und 1886 erstmals die deutsche Arbeiterzeitung Vorwärts in Buenos Aires gegründet.28 Die größte Verbreitung erlangte die sozialistische La Vanguardia, die 1894 von dem späteren Vorsitzenden der Sozialistischen Partei (Partido Socialista) Juan B. Justo gegründet
26 Die genannten bekannteren Beispiele lassen sich um eine lange Liste ergänzen. Die ersten ausländischen Pressepublikationen waren El Diario de la Coruña von 1808, L’indépendent du Sud von 1810, The Cosmopolite von 1826 und El Italiano von 1854. Die wichtigsten deutschsprachigen Pressepublikationen waren die 1868 gegründete Deutsche La Plata Zeitung und das seit 1888 existierende Argentinische Tageblatt. Vgl. Barros-Lémez, Alvaro: „Ciudad, prensa y literatura en el 900 rioplatense“, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana, 11, 21/22, 1985, S. 137-149. 27 La Questione Sociale orientierte sich an der gleichnamigen zwischen 1884 und 1885 in Florenz erschienenen Arbeiterzeitung sozialistischer Prägung und bemühte sich gleichzeitig um eine nationalitätenübergreifende Leserschaft, vgl. Cúneo, Dardo: El periodismo de la disidencia social, 1858-1900, Buenos Aires: Centro Editor de América Latina 1994, S. 35. 28 Bereits 1881 war der deutsche sozialistische Club Vorwärts in Buenos Aires gegründet worden, aus dessen Reihen die Initiatoren der gleichnamigen Zeitung stammten (im Original war sie 1876 als Zentralorgan der SPD gegründet worden). Die zweisprachige Anthologie des Vorwärts mit einer historischen Einführung liefert einen guten Einblick in die Zeitung und ihren Kontext zwischen 1886 bis 1901: Carreras, Sandra; Tarcus, Horacio; Zeller, Jessica: Los socialistas alemanes y la formación del movimiento obrero argentino. Antología del Vorwärts, 1886-1901, Buenos Aires: Buenos Libros; IAIPK, CeDinCi Editores 2008.
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wurde, zunächst wöchentlich und seit 1905 als Tageszeitung erschien.29 Nach der Gründung des Partido Socialista 1896 wurde die Zeitung zu einem Sprachrohr der neuen politischen Gruppierung. Die wichtigsten Publikationen der anarchistischen Presse waren El Perseguido, der seit 1890 auf Französisch, Spanisch und Italienisch erschien; die zwischen 1896 und 1897 erschienene anarchofeministische Zeitung La Voz de la Mujer, und die 1897 gegründete La Protesta Humana, die zunächst 14-tägig, dann wöchentlich und seit 1904 täglich unter dem verkürzten Titel La Protesta erschien.30 Neben den aufgezählten Zeitungspublikationen existierten zahlreiche kleinere und meist über kurze Zeiträume erschienene Zeitschriften und Zeitungen sozialistischer oder anarchistischer Couleur, die sich mit der Notwendigkeit von sozialen Reformen und politischer Revolution auseinandersetzten. Ein großer Teil dieser Publikationen war nicht spanischsprachig und stark durch die europäische Einwanderung beeinflusst. Ebenso wie die Arbeitskämpfe und sozialen Bewegungen der Epoche maßgeblich durch die MigrantInnen geführt wurden, waren auch ihre Presseorgane von ihren journalistischen Erfahrungen, ihrem technischen Fachwissen und ihren Kämpfen geprägt. Die starke nationale und politische Diversifizierung der Presse in Argentinien war ein bedeutendes Charakteristikum für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts: Dem Zensus von 1887 zufolge war statistisch jede siebte in Buenos Aires herausgegebene Zeitung in italienischer Sprache verfasst. Bereits 1895 ließ sich ein Rückgang der Einwandererpresse feststellen; 1914 waren es lediglich noch 20 nicht-spanischsprachige Zeitungen von insgesamt circa 500, die in Argentinien herausgegeben wurden.31 Das Ergebnis war eine Nationalisierung der Presse-
29 Unter den Redakteuren, die mehrheitlich einen moderaten Marxismus vertraten, befanden sich Enrique del Valle Ibarlucea, Antonio Zaccagnini, José Ingenieros, Leopoldo Lugones und Alberto Ghiraldo, die später auch für die Massenpresse schreiben sollten. 30 Zur frühen Entwicklung der Arbeiter- und Protestpresse siehe: Cúneo, El periodismo de la disidencia, 1994. Die von Cúneo erarbeiteten Pressebestände aus der Biblioteca Nacional und der Biblioteca Obrera Juan B. Justo in Argentinien, sowie dem International Institute of Social History in Amsterdam bilden in chronologischer Aufstellung einen umfassenden, jedoch darüber hinaus unübersichtlichen und schwach interpretierten Fundus ab. Einen guten Einblick in die Arbeiterpresse liefert: Lobato, Mirta Zaida: La prensa obrera. Buenos Aires y Montevideo, 1890-1958, Buenos Aires: Edhasa 2009. 31 Vgl. Cibotti, Del habitante al ciudadano, 2000, S. 380 f. Die Dezimierung der (fremdsprachigen) Arbeiterpresse fand im gleichen Zeitraum statt. Der Niedergang der anarchistischen Presse hing stark mit der repressiven Politik zusammen, die spätestens seit
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landschaft, die gleichzeitig von starken transnationalen Entwicklungen geprägt war. Zu den Voraussetzungen für die Entstehung von Massenmedien gehörten technische Neuerungen sowie der Ausbau einer nationalen Vermarktung und eines internationalen Informationsnetzes. Die serielle Reproduzierbarkeit von Zeitungen wurde durch die Einführung der Rotationspresse seit den 1870er Jahren massiv erleichtert und vergünstigt. Die Einführung der Linotype-Setzmaschine, die erstmals 1897 in Argentinien eingesetzt wurde, verbesserte zudem die typografische Qualität, indem die Buchstaben nun nicht mehr einzeln gesetzt werden mussten, sondern über eine Tastatur eingegeben wurden.32 Zu den modernsten Verlagen Lateinamerikas, die diese technischen Neuerungen in Argentinien einführten, gehörten Guillermo Kraft, die Librería Nueva de Jacobo Peuser und die Imprenta Americana. Im Bereich der Zeitschriften wurde die Editorial Haynes zu einem Erfolgsmodell.33 Damit waren erstmals hohe Druckauflagen bei niedrigen Stückkosten möglich und auch ökonomisch notwendig geworden, da die hohen Anschaffungspreise der Maschinen gedeckt werden mussten. Auch die Pressedistribution wurde durch technische Innovationen erleichtert: Eisenbahn und Dampfschiffe sorgten für eine schnellere überregionale Verbreitung; die neuen Kommunikationstechnologien des Telegrafen und des Telefons beschleunigten die Nachrichtenübermittlung enorm.34 Susana Rotker beschreibt die „sensación de instantaneidad“, welche die Telegrafie hervorrief, als Streben nach Moderni-
der Bombenlegung im Teatro Colón 1910 forciert wurde und von der sich die Bewegung nie erholte. 32 Vgl. Ángel Marco, Historia del periodismo argentino, 2006, S. 452. Mit der Bedienung der Linotypie-Setzmaschinen wurden für gewöhnlich Frauen betraut, so dass der Beruf der Setzerin ebenso wie jener der Telefonistinnen und Telegrafistinnen zu einem der typischen Frauenberufe in Lohnarbeitsverhältnissen Anfang des 20. Jahrhunderts wurde. 33 Alberto M. Haynes verlegte neben den in dieser Arbeit untersuchten Magazinen PBT und Mundo Argentino die Zeitschriften El Hogar, Mundo Deportivo, Mundo Agrario und Mundo Infantil. Zur Geschichte des Druck- und Verlagswesens in Buenos Aires siehe auch: Buonocore, Domingo: Libreros, editores e impresores de Buenos Aires. Esbozo para una historia del libro argentino, Buenos Aires: Bowker 1974. 34 Zu den transatlantischen Produktions- und Distributionsbedingungen von Medien und Kommunikationstechnologien zwischen Europa und Nord- sowie Südamerika siehe: Winseck, Dwayne R.; Pike, Robert M.: Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860-1930, London: Durham 2007.
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tät und Internationalität, die dem neuen Journalismus innewohnte.35 Insbesondere die beiden Konkurrenten La Prensa und La Nación waren Erfolgsmodelle, die sich durch ihre technischen Innovationen, ihre internationale Vernetzung und ihre Langlebigkeit auszeichneten. Sie konnten als erste argentinische Zeitungen 1874 beziehungsweise 1877 mit transatlantischen Telegrafenverbindungen aufwarten, dank derer die Kommunikation von Nachrichten mit europäischen Korrespondenten und Nachrichtenagenturen revolutioniert wurde.36 Zuvor erreichten Nachrichten aus Europa die Region entsprechend der Dauer einer Schiffsüberfahrt mit etwa einem Monat Verspätung; durch die Telegrafie beschleunigte sich die Übermittlung hin zur Unmittelbarkeit. Die bedeutendste technische Innovation, die es rechtfertigt, von einer neuen Epoche des Journalismus zu sprechen, lag in der seriellen Reproduzierbarkeit von Bildern. In Argentinien war im 19. Jahrhundert beinahe ausschließlich die Lithografie als Bildreproduktionstechnik verbreitet. Diese hatte allerdings den Nachteil, dass sie auf getrennten Seiten zum typografisch reproduzierten Text erschien. Dies änderte sich vor allem mit dem Impuls durch Caras y Caretas im Jahr 1898. Mit dem neuen Verfahren der Autotypie leitete sie das neue Genre der mit fotografischen Abbildungen arbeitenden Magazinpresse ein.37 Dem großen Erfolg von Caras y Caretas schlossen sich viele weitere an: Neue Magazine wurden gegründet und bereits bestehende in neuem Layout gestaltet; die Zeitungen versuchten mit illustrierten Beilagen zu konkurrieren, bis schließlich das fotografische Bild die Zeitungsseiten selbst durchsetzte. Der Boom der neuen Zeitschriftenpresse, so Eduardo Romano, kann als signifikanter Einschnitt in die Veränderung der medialen Welt und der gesamten Kultur für das 20. Jahrhundert betrachtet werden:
35 Rotker, Susana: La invención de la crónica, México D.F.: Fonde de Cultura Económica 2005, S. 95. 36 Die wichtigsten Nachrichtenagenturen für die argentinischen Tageszeitungen des 19. Jahrhunderts waren die französische Havas, die englische Reuter, die deutsche Wolf und die US-amerikanische Associated Press. 1900 wurde die erste argentinische Nachrichtenagentur mit dem Namen Saporiti gegründet. Vgl. Barros-Lémez, Ciudad, prensa y literatura, 1985, S. 139. 37 Zu den technischen Entwicklungen in der Reproduktion von Bildern siehe: Tell, Verónica: „Reproducción fotográfica e impresión fotomecánica. Materialidad y apropiación de imágenes a fines del siglo XIX“, in: Malosetti Costa, Laura; Gené, Marcela M. (Hg.): Impresiones porteñas. Imagen y palabra en la historia cultural de Buenos Aires, Buenos Aires: Edhasa 2009, S. 141-164.
58 | W IE DIE A NDEREN LEBEN „...la irrupción del periodismo ilustrado permitía asomarse a algo distinto; al momento de convergencia entre palabras e imágenes que iba a distinguir, en cierto modo, toda la cultura del siglo XX.“38
Das Aufkommen der modernen Bildpresse koinzidierte mit dem Erscheinen weiterer neuer visueller Medien: In der Verbreitung der Bildpostkarte Ende des 19. Jahrhunderts spielte Lateinamerika eine wichtige Rolle;39 ebenso ist der Durchbruch des bewegten Bildes, das mit der ersten Kinovorführung 1895 in Paris durch die Brüder Lumière sein Debüt hatte,40 als wichtige Zäsur für das Aufkommen der visuell geprägten Massenmedien zu nennen. Bildliche Darstellungen in der Presse und insbesondere in Zeitschriften waren an sich nicht neu. In verschiedenen europäischen Großstädten wurden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts illustrierte Zeitschriften herausgegeben. Das Londoner Penny Magazine von 1832, die Illustrated London News von 1842, die Pariser L’Illustration von 1843 und die Leipziger Illustrirte Zeitung von 1843 sind einige Beispiele, die mit lithografischen Verfahren Bilder reproduzierten und zur Illustration ihrer Publikationen nutzten.41 Auch am Río de la Plata setzte sich insbesondere ab den 1880er und 1890er Jahren ein Markt für illustrierte Zeitschriften durch: Dazu gehörten die bereits 1853 erstmals kurzzeitig erschienene und 1881 neu gegründete La Ilustración Argentina, die La Ilustración Sudamericana, die 1892 erstmals herausgegeben wurde, der Buenos Aires
38 Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 15. 39 Zur Verbreitung des Mediums der Bildpostkarte in Südamerika siehe: Onken, Hinnerk: „Visiones y visualizaciones. La nación en tarjetas postales sudamericanas a fines del siglo xix y comienzos del siglo xx“, in: Iberoamericana, 14, 56, 2014, S. 4769; Masotta, Carlos: „Representaciones e iconografía de dos tipos nacionales. El caso de las postales etnográficas en Argentina 1900-1930“, in: Penhos, Marta Noemí (Hg.): Arte y antropología en la Argentina, Buenos Aires: Fund. Espigas 2005, S. 65-114. Zur Bedeutung der Bildpostkarte als Massenmedium im globalen Kontext um 1900 siehe: Holzheid, Anett: Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie, Berlin: Erich Schmidt 2011; Milne, Esther: Technologies of Presence, London: Routledge 2010; Kusser, Astrid: „Bildpostkarten in der visuellen Ökonomie des Black Atlantic um 1900. Kontrast, Bewegung, Migration“, in: FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, 51, 2011, S. 42-52. 40 Zur Geschichte des frühen argentinischen Kinos siehe: Caneto, Guillermo: Historia de los primeros años del cine en la Argentina. 1895-1910, Buenos Aires: Fundación Cinematica Argentina 1996. 41 Vgl. Bösch, Mediengeschichte, 2011, S. 111.
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Ilustrado, der ab 1894 monatlich erschien, sowie die Wochenzeitschrift Buenos Aires, die 1895 ihr Debüt gab. Sie sprachen ein eher wohlhabendes und gebildetes Publikum an.42 Zeichnungen und Daguerreotypien wurden mit Hilfe eines Ensembles von Drucktechniken wie der Lithografie und dem Lichtdruck in die Zeitschriften integriert.43 Die Motive stammten aus dem Bereich der Bildenden Künste, umfassten weiterhin Porträts bekannter Persönlichkeiten, Stadtansichten, Architektur sowie kostumbristische Darstellungen ländlicher oder städtischer ‚Typen‘.44 Die Zeitschriften bewarben ihr Bildmaterial als besonderen Sammlerwert; so kommentierte La Ilustración Argentina in ihrer ersten Neuauflage auf der Titelseite eine nationalikonografische Zeichnung von Augusto Ballerini (Abbildung 2.1) folgendermaßen: „Nuestros lectores pueden decir con verdad: poséemos la copia de un cuadro de Ballerini; algo mas: poséemos un magnífico dibujo ejecutado por su mano. Créemos que se sabrá comprender el valioso mérito de esta lámina.“45 Der Begleittext beschrieb den Bildinhalt und erläuterte dessen künstlerische Bedeutung. Zwischen Text und Bild herrschte in den elitär ausgerichteten Zeit-
42 Vgl. Szir, Sandra M.: „De la cultura impresa a la cultura de lo visible. Las publicaciones periódicas ilustradas en Buenos Aires en el Siglo XIX“, in: Garabedian, Marcelo H.; Szir, Sandra M; Lida, Miranda (Hg.): Prensa argentina siglo XIX. Imágenes, textos y contextos, Buenos Aires: Teseo 2009, S. 53-83, S. 58. 43 Daguerreotypien resultierten aus einem in den 1830er Jahren entwickeltes FotografieVerfahren, das einen bereits sehr hohen Standard setzte und über die Mitte des Jahrhunderts hinaus vorherrschend war. Die Lithografie war ein bereits 1798 entwickeltes Flachdruckverfahren, das mit einer Steindruckpresse arbeitete und als erstes Verfahren Farbdrucke in höheren Auflagen ermöglichte. Beim Lichtdruck (fototipia) handelte es sich um ein fotomechanisches Druckverfahren, das erstmals 1856 entwickelt worden war und Drucksätze mit bis zu 500 Exemplaren bebildern konnte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde es vor allem für den Druck von Postkarten verwendet. Siehe dazu: Tell, Reproducción fotográfica, 2009, S. 143. 44 Kostumbrismus oder costumbrismo geht auf das Siglo de Oro in der spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts zurück und verbreitete sich in Literatur und Kunst vor allem im 19. Jahrhundert in Lateinamerika. Charakteristisch waren die Darstellung alltäglicher Praktiken und Bräuche in bestimmten sozialen oder provinziellen Milieus. Vgl. Enciclopaedia
Britannica:
„Costumbrismo“,
online:
http://www.britannica.com/
EBchecked/topic/139619/costumbrismo, [09.07.2015]. 45 „Ilustraciones: Portada. Dubujo a pluma de Ballerini“, in: La Ilustración Argentina, 1, 1, 10.06.1881, S. 2.
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schriften des 19. Jahrhunderts ein emblematisches Verhältnis, indem der Text für gewöhnlich die bildliche Darstellung erläuterte und ihre Lesart vorgab. Umgekehrt wurden Bilder als Illustrationen des Geschriebenen verwendet. Zweifellos produzierten auch diese Bilder einen Bedeutungsüberschuss, der über die Beschreibungen in den Texten hinausging. Die journalistischen Strategien in der Verwendung von Bildern unterschieden sich jedoch stark von ihren Nachfolgern im 20. Jahrhundert: Sie hatten vor allem illustrativen und emblematischen Charakter, während sie noch nicht als eigenständige Träger von Informationen oder als Mittel der Überzeugung und Authentifizierung eingesetzt wurden.46 Abbildung 2.1
Quelle: La Ilustración Argentina (1881)
Auch satirische Zeitschriften arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts mit Illustrationen, und zwar in erster Linie mit Karikaturen, die mit lithografischen Techniken reproduziert wurden. Eine der bedeutendsten Satirezeitschriften war El Mosquito, die sich selbst als „satírico-burlesco con caricaturas“ bezeichnete, von 46 Das emblematische und explikative Text-Bild-Verhältnis vollzieht Sandra Szir auch für die Rubrik „Nuestros grabados“ in La Ilustración Sudamericana nach. Vgl. Szir, De la cultura impresa, 2009, S. 80.
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1863 bis 1893 erschien und von dem französischen Zeichner und Lithografen Henry Meyer herausgegeben wurde. Sie orientierte sich an europäischen Vorbildern wie den französischen La Caricature und Le Charivari sowie dem englischen Punch, und wurde gleichzeitig stilprägend für die erfolgreiche Don Quijote, die ab 1884 in Buenos Aires erschien.47 Die Karikaturen der Zeitschriften parodierten zumeist Politiker und Personen des öffentlichen Lebens und generierten so eine eigene Bildsprache mit visuellen Codices, die eine hohe Bekanntheit und Popularität erlangten.48 Während El Mosquito zwar parodisierend, aber nicht kritisch auf Regierende und Autoritäten abzielte, fanden bei Don Quijote durchaus herrschaftskritische Elemente Eingang in den visuellen Diskurs.49 Die visuellen Praktiken der Satirezeitschriften wurden auch von den neuen Magazinen Caras y Caretas, Fray Mocho und PBT adaptiert. So illustrierten diese ihre Titelseiten mit politischen Karikaturen und verwendeten auch in verschiedenen Rubriken humoristische visuelle Elemente. Die Kontinuität zu den Satirezeitschriften des 19. Jahrhunderts lässt sich auch auf personeller Ebene feststellen: Sowohl die Zeichner Manuel Mayol und José María Cao, als auch José Álvarez, der unter dem Pseudonym Fray Mocho bekannt gewordene Journalist und Schriftsteller, arbeiteten erst bei Don Quijote und später bei Caras y Caretas, bei der José Álvarez als Herausgeber tätig wurde. Der Erfolg der Satirezeitschriften deutete ebenfalls auf den Wandel in Lesegewohnheiten, Geschmack und Zusammensetzung der Leserschaft hin. Ihr handlicheres Format,
47 Die Wochenzeitschrift Don Quijote erreichte in den 1880er Jahren ähnlich hohe Auflagen wie die Tageszeitung La Nación und versuchte mit technischen Innovationen und der Edition von Sonderausgaben mit ihr zu konkurrieren. Die Sonderhefte beider Publikationen von 1888 beziehungsweise von 1890 erreichten Verkaufszahlen von über 60.000 Stück. Vgl. Prieto, El discurso criollista, 2006, S. 38. In Montevideo wurde zwischen 1876 und 1901 die Satirezeitschrift El negro Timoteo von W.P. Bermúdez herausgegeben, die mit ähnlichen Mitteln wie El Mosquito arbeitete. Weitere Satirezeitschriften verbreiteten sich in den 1890ern: Bric-a-Brac, Falstaff, La caricatura, El cachafaz wurden populär, waren aber nur von kurzer Dauer. Vgl. Szir, De la cultura impresa, 2009, S. 68-75. 48 Juárez Celman wurde in Don Quijote durch die Figur des Esels, Luis Sáenz Peña durch einen Truthahn, Julio A. Roca durch einen Fuchs und Carlos Pellegrini durch die Giraffe symbolisiert. Vgl. ebd., S. 76. 49 Don Quijote trieb beispielsweise während der Revolución del Parque 1890 mit ihren Darstellungen den Rücktritt Juárez Celmans voran. Ihrer Kritik an polizeilicher Repression, parlamentarischen Fehlschlägen und Korruption wurde mit einer Beschlagnahmung der Zeitschrift begegnet. Vgl. Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 86.
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der geringere Gesamtumfang sowie kürzere Textformate, der Wert der Unterhaltung und Belustigung und nicht zuletzt die visuelle Stimulation verkörperten bereits einige Elemente einer als modern verstandenen Magazinpresse des beginnenden 20. Jahrhunderts.50 Der neuartige Charakter jener Medien ab 1900, die hier als moderne Zeitschriftenpresse oder als Magazinpresse bezeichnet werden, basierte, darauf machte schon Walter Benjamin 1935 aufmerksam, auf der technischen Reproduzierbarkeit und der umfassenden Verwendung der Fotografie, die den „Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt[e], daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte“.51 Das neue Format des fotografisch illustrierten Magazins wurde zu einem Erfolgsmodell, dessen Rezept sich als eine Mischung aus Unterhaltungswert, Informationsvermittlung und Freizeitgestaltung zusammenfassen lässt, bei dem die Verbindung von Text und Fotografien eine wesentliche Rolle spielte. Fotografische Bilder erregten das Interesse, veranschaulichten das Geschriebene, dokumentierten die Geschehnisse und ermöglichten ein abwechslungsreiches Leseerlebnis ohne die Notwendigkeit einer intellektuellen Vertiefung in einen Text.52 Die technische Reproduzierbarkeit von Bildern veränderte die Presselandschaft grundlegend und stellte die Hegemonie des Textes in Frage.53 Der Durchbruch der neuen illustrierten Massenpresse war gleichzeitig Teil eines gesellschaftlichen Wandels, der sich selbst den Namen Modernisierung gab und in dieser Arbeit in Bezug auf die wechselseitigen Transformationen des Medialen und des Sozialen untersucht wird. Der große Erfolg der Magazinkultur stellte auch die Tagespresse unter den Druck, ihre Formate und grafischen Ansprüche dem neuen Publikumsgeschmack anzupassen. Als erste kreierten 1902 El Diario und La Nación fotografisch illustrierte Beilagen, die in den Wochenendausgaben der Zeitungen erhältlich waren.54 La Nación kündigte die erste Ausgabe der Beilage wie folgt an: „...la nota ilustrada correrá al par, puede decirse, de la palabra impresa, dando las artes
50 Eduardo Romano fügt zu diesen Charakteristika ebenfalls eine durch Unterbrechungen und Fragmentierung gekennzeichnete Art der Lektüre hinzu. Vgl. ebd., S. 83. 51 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. [1936]“, in: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 431-469, S. 436. 52 Vgl. Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 11. 53 Vgl. Szir, De la cultura impresa, 2009, S. 53. 54 Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 48.
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gráficas forma nueva y más perfecta a la acción del periodismo, en su constante batallar por la difusión de las ideas y de las informaciones.“55 Ähnlich feierte sich die Tageszeitung El Diario 1902 in der ersten Auflage ihrer fotografisch illustrierten Sonntagsbeilage als „transformado, rejuvenecido, modernizado [...que] llega sonriente, vestido de colores, á hablarnos de todo lo que alegra, de todo lo que interesa, de todo lo que ilustra“56. Damit wollte sie, so die Aussage der Redaktion, es den US-amerikanischen Tageszeitungen New York Herald, Journal und World gleichtun, die an der weltweiten Spitze des Journalismus stünden.57 Seit 1904 integrierten La Nación und wenig später auch El Diario und die 1905 neu gegründete La Razón Fotografien mithilfe der neuen Produktionstechniken in ihre Seiten. Das herausragendste Novum innerhalb der Tagespresse entstand jedoch in der Gründung von Crítica, die sich als „contestario y popular“ bezeichnete und teils als kritische Informationsinstanz für die Öffentlichkeit, teils als reines Sensationsblatt und schwarzes Schaf des Journalismus wahrgenommen wurde.58 Die Tageszeitung war durchzogen von Fotografien und anderen Illustrationen und arbeitete mit auffälligen Schlagzeilen und anderem typografischem Dekor. Zweifelsohne handelte es sich bei der von Natalio Botana herausgegebenen Crítica um eines der sowohl ambitioniertesten als auch erfolgreichsten Presseorgane der neuen Massenkultur. Zu ihren Höchstzeiten erreichte sie Auflagen von über 800.000 Exemplaren.59 Silvia Saítta begründet den Erfolg und die Besonderheit von Crítica mit der extremen Anziehungskraft, die das neue journalistische Modell mit seinem Gemisch aus Nachrichten, Reportagen, Chroniken, speziellen Rubriken, Zeichnungen, Fotografien, Polemiken und Kampagnen hervorbrachte.60 Einen besonderen Stellenwert hatte die Verbrechenschronik, in der Morde aus Leidenschaft und andere spektakuläre Fälle behandelt wurden. Neben der Innovationskraft in Bezug auf neue Formate und Genres lag die Stärke von Crítica vor allem in der Selbstinszenierung als soziale Akteurin, die in die politi-
55 La Nación vom 03.09.1902, zitiert in: La Nación: Un siglo en sus columnas, Buenos Aires: La Nación 1970, S. 87. 56 „El Diario“, in: El Diario. Suplemento ilustrado, 1, 1, 12.01.1902, S. 1. 57 Ebd. 58 Vgl. Saítta, Sylvia: Regueros de tinta. El diario Crítica en la década de 1920, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1998, S. 11. 59 Ebd., S. 14. 60 Ebd., S. 23.
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schen und gesellschaftlichen Verhältnisse eingriff und die kulturelle Sphäre aktiv mitgestaltete.61
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61 Ebd., S. 18 f. In den nachfolgenden Jahrzehnten attackierte Crítica insbesondere den italienischen und deutschen Faschismus und auch den US-amerikanischen Imperialismus. 62 Szir, De la cultura impresa, 2009, S. 72. 63 Literarische Kurzformen, eine herausgeberische Note mit dem Titel „Zig zag“, Sport, Theater, die Rubrik „Para ellas“ und eine Seite mit Werbeanzeigen bildeten ihr regelmäßiges Repertoire. 64 Vgl. Mitre y Vedia, Bartolomé: „Sin Careta“, in: Caras y Caretas, 1, 08.10.1898, S. 11. 65 Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind mehrere Biografien und Werksammlungen zu José Álvarez erschienen. Siehe: Vogelius, Federico: Fundadores de la cultura porteña. Fray Mocho, Félix Lima, Nemesio Trejo, Buenos Aires: Crisis 1976; Ara, Guillermo: Fray Mocho. Estudio y antología, Buenos Aires: Estudios Culturales Argentinas 1963; Morales, Ernesto: Fray Mocho, Buenos Aires: Emecé 1948.
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Auf einem vierseitigen Flugblatt, das im August das baldige Erscheinen des neuen Magazins bekanntgab, verkündete die Redaktion, dass es mit Caras y Caretas eine neue Zeitschrift geben werde, die keiner anderen aus der langen Liste bereits existierender Medien ähnelte und nicht nur eine, sondern gleich eine ganze Reihe von Lücken in der Presselandschaft füllen werde.66 Eine Kombination aus einem humoristischen, künstlerischen, literarischen und zugleich informativen Ansatz zu einem erschwinglichen Preis war in der Tat ein Novum für die argentinische Presselandschaft. Die Redaktion betonte jedoch, dass Caras y Caretas in erster Linie kultiviert und erst nachrangig unterhaltsam-jovial sei.67 Während die ersten Ausgaben noch 25 Centavos pro Stück kosteten und die Werbeanzeigen auf maximal 20 Prozent beschränkt wurden,68 sank der Preis innerhalb weniger Jahre auf 20 Centavos;69 die Werbeanzeigen füllten fortan bis zur Hälfte des Magazins. Die Auflage der Zeitschrift überstieg 1907 die Marke von 100.000 Exemplaren und hielt sich auch während der 1910er Jahre relativ konstant auf diesem Niveau. Caras y Caretas wurde schnell zum Vorbild für weitere Magazine, die ebenfalls kleinformatig, mit farbigem Deckblatt, hohem Bildanteil und einem breiten Panorama von Themen und Genres editiert wurden. Insbesondere das Magazin PBT mit dem Untertitel Semanario Infantil Ilustrado (Para niños de 6 à 80 años) und die Zeitschrift Fray Mocho standen in direkter Tradition ihres Vorgängers.70 Beide wurden von früheren Mitarbeitern von Caras y Caretas gegründet, die mit der Linie der Zeitschrift nach dem Tod von José Álvarez 1903 nicht mehr einverstanden waren.71 Der frühere Redakteur Eustaquio Pellicer gründete PBT 1904, und der Illustrator José María Cao rief zusammen mit weiteren Mit-
66 Vgl. „Eramos pocos…“, in: Caras y Caretas, 1, 1, 08.10.1898, S. 2. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd., S. 3. Die Preise für Werbeanzeigen wurden ebenfalls in der ersten Ausgabe bekannt gegeben und prominent im Einführungsteil platziert: Sie kosteten pro Zentimeter in einer Spalte 50 Centavos, pro Viertelseite 10 Pesos, pro halbe Seite 16 Pesos, und pro ganze Seite 30 Pesos. 69 Vgl. Administración: „Precios de subscripción“, in: Caras y Caretas, 8, 374, 02.12.1905, S. 90. 70 Bei dem Namen PBT handelt es sich nicht um eine Abkürzung, sondern um ein Wortspiel mit dem gleich klingenden Begriff pebete, der übersetzt ‚Knirps‘ oder ‚Winzling‘ bedeutet. 71 Vgl. Piñeiro, Patricia; Sotolano, Gustavo: „El Semanario Fray Mocho y lo popular“, in: Asociación Argentina de Editores de Revistas (Hg.), Historia de Revistas Argentinas, Tomo IV, Buenos Aires: AAER 2001, S. 265 f.
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arbeitern 1912 das Magazin Fray Mocho ins Leben, welches bereits namentlich eine Hommage an den früheren Herausgeber und Journalisten von Caras y Caretas darstellte. Beide neuen Magazine hielten an der hybriden Zusammenstellung von Inhalten und Genres fest, die das Erfolgsrezept ihres Vorgängers ausmachten. Vor allem PBT orientierte sich stilistisch wieder stärker an humoristischen und kostumbristischen Elementen sowie visuell an Karikaturen, Bildergeschichten und Zeichnungen, die in Caras y Caretas einem vermehrt informativen Stil gewichen waren, der sich grafisch hauptsächlich des Mittels der Fotografie bediente.72 Die Fotografie spielte jedoch bei allen neuen Zeitschriften eine zentrale Rolle und wurde zum Charakteristikum der neuen Magazinkultur: als integraler Bestandteil in Reportagen bis hin zu reinen Porträts, Landschafts- und Stadtaufnahmen, die kaum von Text begleitet waren. In der seit 1907 erschienenen La Vida Moderna. Semanario-Magazine Argentino, in der ab 1911 publizierten Mundo Argentino. Semanario Popular Ilustrado und der seit 1917 erschienenen Revista Popular ersetzte die Fotografie sogar fast vollständig andere Formen von Illustrationen. Während die genannten Zeitschriften jedoch allesamt an einem mit einer politischen Karikatur versehenen farbigen Deckblatt festhielten, veröffentlichte Mundo Argentino bereits nach kurzem Erscheinen ganzseitige Fotografien auf den Titelseiten ihrer Ausgaben. Dabei handelte es sich zunächst um in einen ovalen Rahmen eingefasste fotografische Studioporträts internationaler KünstlerInnen, Staatsmänner oder anderweitig bekannt gewordener Persönlichkeiten. Um 1913 änderte die Zeitschrift die Gestaltung ihres Titelblatts erneut und wählte hauptsächlich urbane Szenen oder einfache Menschen in ihrer Umgebung als Motive, die auf eine soziale Problematik hinwiesen, so etwa die fotografische Abbildung von Straßenkindern in Buenos Aires vom 27. Mai 1914 (Abbildung 2.2).73 Das Titelfoto verwies auf einen im Mittelteil der Zeitung folgenden, meist sozialkritischen Bericht zu dem jeweiligen Thema, der die spezifische Thematik erläuterte. Die Fotografien in Mundo Argentino hatten einen stark appellativen Charakter, der auf die Erweckung bestimmter Affekte bei den LeserInnen ausgerichtet war. Mundo Argentino zielte dabei maßgeblich auf Mitgefühl und Sym-
72 Das Magazin bezeichnete sich als „semanario humorístico, noticioso, instructivo“ und wurde in der Einzelausgabe zu 20 Centavos verkauft. Vgl. El administrador: „Precios de subscripción“, in: PBT, 1, 2, 01.10.1904, S. 89. 73 „La infancia abandonada. Cómo pasan la noche centenares de niños abandonados“, in: Mundo Argentino, 4, 177, 27.05.1914, S. 1.
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pathisierung mit Menschen in Armutsverhältnissen; andere Magazine arbeiteten stärker auf Affekte wie Abscheu und Befremdung hin. Abbildung 2.2
Quelle: Mundo Argentino (1914)
Die wichtigste Funktion der Pressefotografie war jedoch ihr dokumentarischer Charakter. Magazine benutzten fotografische Bilder, um zu demonstrieren, was wirklich geschehen war. Das Dokumentarische entsprang dem Glauben an die Abbildbarkeit der Realität und umgekehrt an die Authentizität des fotografisch Abgebildeten – das Visuelle wurde zu der entscheidenden Referenz von Wahrheit. Das Aufkommen der dokumentarischen Fotografie ist etwa von Martha Rosler als machtvolles Instrument in der Herausbildung von Identitäten und zur Festigung von Machtverhältnissen bezeichnet worden: „Documentary, as we know it, carries [...] information about a group of powerless people to another group addressed as socially powerful.“74 Sozialdokumentarische Fotografie war 74 Rosler, Martha: „In, Around, and Afterthoughts (on Documentary Photography)“, in: Dies.: 3 Works, Halifax: Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1981, S.
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mithin zentraler Bestandteil der Magazinpresse seit ihrem Beginn. International fanden sich die Pioniere der sozialdokumentarischen Pressefotografie unter den US-amerikanischen JournalistInnen, die als muckraker bekannt wurden. So war die bekannteste fotografische Dokumentation How the Other Half Lives von Jacob Riis über die Wohnverhältnisse der Armen in New York City 1889 in Scribner’s Magazine veröffentlicht worden und erschien im Jahr darauf in erweiterter Buchfassung.75 Die argentinische Magazinpresse arbeitete ebenfalls mit Sozialreportagen, die bestimmte Milieus und soziale Probleme fotografisch dokumentierten und mit Handlungsmaximen für Politik und BürgerInnen verbanden. Fotografien hatten unter Betonung ihres dokumentarischen Charakters eine wichtige Funktion für soziale In- und Exklusionsprozesse in der Magazinpresse, wie diese Arbeit in Bezug auf bestimmte subalterne Gruppen zeigen wird. Pressefotografien waren darüber hinaus auch mit narrativen Funktionen ausgestattet, die den Text oftmals bis auf die Bildüber- oder -unterschrift vollständig ersetzten. Rubriken, die einzelne Bilder oder eine serielle Abfolge von Fotografien zur Darstellung politischer Ereignisse, sozialer Missstände und kultureller Veranstaltungen benutzten, wurden zu einer üblichen Repräsentationsform, die sich auf die Erfahrung ihres Publikums in der Deutung von Bildern und sein Vermögen zur Kontextualisierung verlassen konnten. So veröffentlichte PBT ab
61-91, S. 64. Ebenso wie Rosler arbeitet auch John Tagg die Macht von Fotografien für die Epoche des US-amerikanischen New Deal heraus, der die Hochphase der dokumentarischen Fotografie in den USA einleitete. Im New Deal wurden seitens des Staates Auftragsarbeiten an FotografInnen vergeben, um soziale Probleme zu dokumentieren. Das bekannteste Beispiel sind die fotografischen Dokumentationen der verarmten Landbevölkerung für die Farm Security Administration (FSA) von 1935 bis 1944, die unter anderem von Walker Evans, Dorothea Lange und Gordon Parks angefertigt wurden. Diese Fotografien wurden wiederum benutzt, um öffentlich die Notwendigkeit und Dringlichkeit von sozialen Reformen zu verdeutlichen. Die dokumentarische Fotografie stellte demnach eine spezifische Repräsentationspraxis von gesellschaftlichen Zusammenhängen dar, die eine Regierung des Sozialen im Sinn habe. Vgl. Tagg, The Disciplinary Frame, 2009, S. 32. 75 Siehe: Riis, Jacob A.: How the Other Half Lives. Studies Among the Tenements of New York, New York: Charles Scribner’s Sons 1890. Zur Geschichte des muckraking in den USA siehe weiterhin: Chalmers, David Mark: The Social and Political Ideas of the Muckrakers, New York: Books for Libraries Press 1970; Tichi, Cecelia: Exposés and Excess. Muckraking in America, 1900/2000, Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press 2004; O’Donnell, Edward T.: „Pictures vs. Words? Public History, Tolerance, and the Challenge of Jacob Riis“, in: The Public Historian, 26, 3, 2004, S. 7-26.
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1904 die Rubrik „La semana a través del objetivo“, die auf mehreren Seiten die aktuellen Ereignisse der Woche in Buenos Aires und Umgebung wiedergab, deren Einordnung durch Überschriften und manchmal auch kurze Textpassagen ermöglicht wurde.76 Die Rubrik „Actualidades Gráficas“ in Mundo Argentino ist ein weiteres Beispiel für ein visuelles Nachrichtennarrativ, das bis auf die Bildunterschriften sogar komplett textunabhängig funktionierte.77 Große Bedeutung hatte die polizeiliche Identifikationsfotografie in der Magazinpresse. Seit 1880 wurden von der Polizei in Buenos Aires systematisch Porträtfotografien von VerbrecherInnen angefertigt, die sich von anderen Porträtfotografien kaum unterschieden, und ab 1889 eine Standardisierung nach dem Bertillon-System implementiert, das Frontal- und Profilfotografien des Kopfes verwendete.78 Beide Bildtraditionen wurden auf den Seiten der Magazinpresse perpetuiert. Diese Fotografien dienten in der Presse weniger der individuellen Identifikation von VerbrecherInnen, sondern galten in erster Linie ihrer sozialen Kategorisierung. An der Person des Chefredakteurs von Caras y Caretas, José Álvarez alias Fray Mocho, wird die Überschneidung von Polizei- und Pressefotografie besonders deutlich: Álvarez war zwischen 1886 und 1887 als ermittelnder Kommissar bei der Polizei in Buenos Aires beschäftigt und widmete sich in dieser Zeit der Erstellung einer so genannten Galería de ladrones de la Capital, die 1887 unter dem gleichen Namen in Buchform veröffentlicht wurde.79 Diese
76 Vgl. beispielsweise: „La semana a través del objetivo“, in: PBT, 1, 13, 17.12.1904. Die dort präsentierten Ereignisse – eine katholische Prozession zu Ehren der Jungfrau Maria, die Gartenparty einer Gruppe von Pädagogen, die Feier eines Fußballvereins und die Einrichtung von Milchausgaben für Kinder gegen die Verbreitung der Tuberkulose – wurden jeweils durch einer Folge von mehreren Bildern zu einem visuellen Narrativ komponiert. 77 Vgl. beispielsweise: „Actualidades gráficas. Aspecto doloroso de la gran ciudad. La vivienda obrera“, in: Mundo Argentino, 4, 158, 14.01.1914, S.11. 78 1880 wurde in Buenos Aires das erste Fotostudio der Polizei eingerichtet und eine systematische Identifikation von VerbrecherInnen über fotografische Karteikarten begonnen. Zur Geschichte der Polizeifotografie in Argentinien siehe: García Ferrari, Mercedes: Ladrones conocidos, sospechosos reservados. Identificación policial en Buenos Aires, 1880-1905, Buenos Aires: Prometeo Libros 2010, S. 55-78. Für eine transnationale Perspektive auf die Geschichte von polizeilichen Identifikationsstrategien siehe: Cole, Simon A.: Suspect identities. A history of fingerprinting and criminal identification, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 2001. 79 Vgl. Fray Mocho: Galería de ladrones de la capital, 1880-1887, Buenos Aires: Tantalia 2006 [1887]. Siehe dazu auch folgenden Sammelband: Rogers, Geraldine (Hg.):
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Veröffentlichung trägt Charakteristika, die sich in der späteren Magazinpresse wiederspiegeln: Die Fotografien wurden mit Angaben über Namen, Nationalität, Alter, Familienstand, Angaben zum Aussehen, körperlichen Besonderheiten, Alphabetisierungsgrad und Dauer des Aufenthalts in Argentinien kontextualisiert; darüber hinaus wurden die Straftaten und Verurteilungen im Detail aufgelistet und in einem kurzen Begleittext eine Charakterisierung des Delinquenten (es handelte sich hier ausschließlich um Männer) und seiner Gefahr für die Gesellschaft unternommen. Ähnliche soziale Klassifizierungsstrategien, die Strafdelikte mit körperlichen und psychosozialen Eigenschaften verbanden und darüber hinaus stark mit Fragen von Einwanderung und Nationalität in Verbindung brachten, finden sich auch in der Magazinpresse. Neben polizeilicher Fotografie wurden vielfach auch klinische Fotografien in Reportagen über Epidemien, Krankheiten, Geisteskrankheiten und Hygiene abgedruckt, die aus wissenschaftlichen Studien oder medizinischen Archiven stammten. Die Verwendung solcher Fotografien in der Presse diente weniger dokumentarischen Zwecken als der Untermauerung von wissenschaftlichen Ansprüchen, die sie mitunter auch parodierten.80 Die neue Magazinkultur charakterisierte sich auch über ihre Vielfalt an Themen und Genres: Sie komponierte triviale und weltpolitische Nachrichten, historische und aktuelle Entwicklungen sowie Geschichten von einfachen Leuten und Berühmtheiten. Die Ausgabe von Caras y Caretas vom 24. Mai 1902 vereinte etwa einen Bericht über das Adelsgeschlecht Waldeck in Europa, die Ermordung des russischen Innenministers, die Revolten für ein allgemeines Wahlrecht in Belgien, die Feierlichkeiten der spanischen Gemeinde in Buenos Aires zugunsten der Krönung von Alfonso XIII., die Errichtung neuer Schulgebäude in der Provinz Buenos Aires, eine katholische Messe in der nationalen Haftanstalt von Buenos Aires, einen historischen Bericht über die Anfangszeiten der argentinischen Flotte, eine Doppelseite mit Fotografien der wichtigsten Militärs des Tripelallianzkriegs in Paraguay, den Aufbruch von burischen Siedlern an die patagonische Küste von Chubut, Porträts von Opern- und Theaterstars, die Lithografie zweier Gauchos in den Bergen, eine Seite mit kuriosen Möbeln und Gegenständen aus aller Welt, einen Bericht über die neue Regierung der Provinz San Juan, den chirurgischen Eingriff eines mit Morphium betäubten Elefanten in Prag, Rätsel, sowie eine breite Palette an Werbeanzeigen für Verdauungsmittel
La Galería de ladrones de la Capital de José S. Álvarez, 1880-1997, La Plata: Biblioteca Orbis Tertius 2009. 80 Vgl. Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main, New York: Campus 2009, S. 68.
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und andere Medikamente, Zigaretten und Alkohol, Kleidung, Schmuck und vieles mehr.81 Die scheinbar wahllos zusammengewürfelten Artikel bedienten sich verschiedener journalistischer Mittel, die in genauerer Betrachtung als Instrumente der Identitätsstiftung für die entstehenden argentinischen Mittelschichten, für die nationale Identitätsbildung und eine ordnungsstiftende soziale Staatlichkeit untersucht werden können. Eine extensive Auslandsberichterstattung, wie sie etwa bei Caras y Caretas und in La Vida Moderna geführt wurde, demonstrierte die internationale Orientierung der Magazinpresse. Der Zweite Burenkrieg in Südafrika zwischen 1899 und 1902 ebenso wie der Russisch-Japanische Krieg von 1904/05 waren Teil der Kriegsberichtserstattung auf den ersten Seiten in beinahe jeder Ausgabe von Caras y Caretas; seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nahmen die Informationen über Truppenbewegungen, politische Hintergründe, Anekdoten aus dem Krieg und Interviews mit Militärs in den Magazinen einen bedeutenden Raum ein. Gleichermaßen waren europäische Königshäuser und Adelsfamilien, USamerikanische Präsidenten, politische und soziale Umwälzungen in verschiedenen Ländern, das Großstadtleben in Montevideo, New York, Chicago, Rio de Janeiro und Paris, sowie die neuesten Erfindungen und Symbole des modernen Fortschritts Themen des Magazinjournalismus, über die sich die argentinische Leserschaft beim Durchblättern der Zeitschriften das Weltgeschehen gewissermaßen ins Haus holte. Sie dienten dabei oftmals als Vergleich mit den argentinischen Begebenheiten oder als Orientierungspunkt für die Modernisierung des Landes. So wurden in PBT im Kontext der Debatten um die gesetzliche Einrichtung von Blindenschulen in Argentinien Reportagen über beispielhafte Modelle in den USA publiziert, die etwa die Bedeutung von Sport für blinde Kinder oder die institutionelle Betreuung ab dem frühen Kindesalter als vorbildlich für die argentinische Einrichtung ähnlicher Anstalten herausstellten: „Los norteamericanos, prácticos en todo, saben dirigir todos los esfuerzos al fin que persiguen, siendo esta la base del éxito que corona las obras de su actividad.“82 Das Erfolgsmodell USA wurde immer wieder als Vorbild für individuelle Leistungsstärke und nationale Modernisierung proklamiert.83
81 Die Beispiele stammen aus: Caras y Caretas, 5, 190, 24.05.1902. 82 „Escuela de niños ciegos“, in: PBT, 7, 315, 10.12.1910, S. 41. Die Reportage behandelte die New Yorker Blindeninstitution Sunshine, nach deren Vorbild bereits in Mexiko, Kuba, Zentralamerika, England, Frankreich, Australien und Japan weitere Einrichtungen gegründet wurden. 83 Zur Repräsentation der USA in Caras y Caretas siehe: Moraña, Ana: „Argentina y Estados Unidos. ¿Defensa ante la amenaza o sueño de hegemonía? ‚Caras y caretas‘,
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Den breitesten Raum in den untersuchten Magazinen nahm das städtische Geschehen der Metropole Buenos Aires ein. Die regelmäßig in Caras y Caretas erschienene Rubrik „Paseos fotográficos por la ciudad“ gab in Wort und Bild einen Eindruck vom Straßengeschehen in verschiedenen Vierteln wieder; „De nuestro mundo social“ rekurrierte in PBT auf Veranstaltungen von Vereinen und elitäre Zusammenkünfte in der Hauptstadt, während „Buenos Aires arrabalesco“ im gleichen Magazin die Milieus der ‚gefährlichen Klassen‘ auskundschaftete. Das facettenreiche Spektrum an Impressionen und Informationen über das moderne Großstadtleben in Buenos Aires gestaltete Geraldine Rogers zufolge das Bild einer „ciudad miscelánea“.84 In Bezug auf die hohe Dichte von Schlagzeilen über das Verbrechen zur Jahrhundertwende schlussfolgert Lila Caimari, dass diese Lektüre die Vorstellung von der Großstadt wesentlich geprägt habe.85 Speziell seit den 1910er Jahren stiegen auch die argentinischen Provinzen und die Territorios Nacionales86 zu festen Themenbereichen der Magazine auf, denen eigene Rubriken gewidmet wurden, in denen politische Entwicklungen, die Einrichtung von Institutionen, kulturelle Besonderheiten und das Alltagsleben in ländlichen Gebieten und in von Buenos Aires weiter entfernten Städten thematisiert wurden. In Fray Mocho erschienen in der Rubrik „De las provincias“ regelmäßig fotografisch illustrierte Berichte über Fortschritt und Modernität in institutionellen oder anderen Bereichen. Die Einbeziehung der Provinzen entsprach einerseits der zunehmenden Verbreitung der Magazine in ganz Argen-
1898-1910“, in: Hispamérica, 35, 105, 2006, S. 31-44. Moraña betont in erster Linie den antiimperialistischen Charakter, den die Zeitschrift in Bezug auf die USA vertreten und der sich zwischen 1898 und 1910 verstärkt habe. Sie bezieht sich dabei aber fast ausschließlich auf (welt)politische Ereignisse und lässt den beschriebenen Aspekt der Modernisierung auf verschiedenen Ebenen außen vor. Zur Repräsentation der USA in Lateinamerika im 20. Jahrhundert siehe außerdem: Salvatore, Ricardo Donato: Imágenes de un imperio. Estados Unidos y las formas de representación de América Latina, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 2006. 84 Vgl. Rogers, Geraldine: „Caras y Caretas en la ciudad miscelánea de 1900. Afinidades de un semanario popular con el espacio urbano de Buenos Aires“, in: Iberoamericana, 4, 14, 2004, S. 29-45, S. 37. 85 Vgl. Caimari, Lila: Apenas un delincuente. Crimen, castigo y cultura en la Argentina, 1880-1955, Buenos Aires: Siglo Veintiuno Ed. Argentina 2004, S. 171. 86 Die Territorios Nacionales bezeichneten die Gebiete, die erst nach der Kolonialzeit zum verwalteten Staatsgebiet Argentiniens hinzugekommen waren, im Falle des Chaco und der patagonischen Gebiete durch die militärische Eroberung indigener Territorien. Sie unterstanden administrativ bis 1950 der argentinischen Zentralregierung.
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tinien, gleichzeitig sorgten die Berichte und Repräsentationen für eine räumliche Vorstellung vom Nationalstaat, an der die hauptsächlich in der Hauptstadt lebenden Leser und Leserinnen teilhaben konnten. Ein besonders großes Interesse galt in allen Magazinen berühmten Persönlichkeiten insbesondere aus dem künstlerischen und politischen Bereich, deren öffentliches Auftreten ebenso wie ihr Privatleben ausgekundschaftet wurden. Das Genre des Interviews erlebte besonders in diesem Bereich einen Durchbruch, beispielsweise in der Rubrik „Mi début“ in PBT, in der Interviews mit bekannten Persönlichkeiten veröffentlicht wurden. Wie Richard Ohmann in seiner Untersuchung der US-amerikanischen Magazine zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausstellt, wurden celebrities zu neuen HeldInnen der Familienmagazine, die vor allem über ihren sozialen Status, durch Reichtum und ihren erfolgreichen Aufstieg charakterisiert wurden.87 Der spezielle Zugang zu den Kreisen der Reichen und Schönen über das Massenmedium Zeitschrift erlaubte eine soziale Orientierung nach ‚oben‘, die auch Teil des Selbstverständnisses der neuen argentinischen Mittelschichten war. Am anderen Ende der sozialen Skala wurden diejenigen in der Magazinpresse repräsentiert, die durch ihre Abnormität und ihre Devianz nach ‚unten‘ hin differenziert wurden. Die Darstellungen der neuen Magazinpresse hielten damit ein umfassendes Identifikations- und Abgrenzungspotenzial bereit für eine Leserschaft, die sich als modern, argentinisch und im sozialen Aufstieg begriff.
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Für eine Untersuchung der Presse, die sich als Kulturgeschichte des Sozialen versteht, ist die Frage nach dem Subjekt des Lesers und der Leserin von größter Bedeutung: Wer las welche Zeitungen und Magazine, wo und in welchen sozialen Zusammenhängen wurde gelesen und welche kollektiven Identitäten bildeten sich bei der Leserschaft heraus? Die Praxis des Lesens hat in kulturwissenschaftlichen und historischen Arbeiten in neuerer Zeit größere Aufmerksamkeit erfahren. Michel de Certeau argumentiert, dass gerade in der Alltagspraxis des Lesens keine passive oder rein voyeuristische Situation des Lesers oder der Leserin zu vermuten ist, sondern die Praxis des Lesens selbst Teil der Generierung von so-
87 Vgl. Ohmann, Richard M.: Selling Culture. Magazines, Markets, and Class at the Turn of the Century, London, New York: Verso 1996, S. 239 f. Ohmann verwendet den Begriff celebrity wohlwissend als Anachronismus, benutzt ihn aber nichtsdestotrotz als terminologische Kategorie für diese Art von Repräsentationen.
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zialen Bedeutungen ist. Er plädiert daher für eine Aufhebung der Dichotomie zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen.88 Die Alltagspraxis des Lesens war bereits im 19. Jahrhundert, so hat William Acree für die Printkultur am Río de la Plata gezeigt, keinesfalls den oberen Gesellschaftsschichten vorbehalten und beschränkte sich nicht auf jene für intellektuelle Kreise bestimmte Textproduktionen, denen der Begriff der Literatur zugedacht wurde. Lesen war vielmehr eine soziale Praxis, die in ländlichen Zusammenkünften, in Bars und Cafés, im häuslichen Rahmen der Familie, in der Schule, auf öffentlichen Plätzen in der Stadt und an den Aushängen der Zeitungsverlage maßgeblich in kollektiven Zusammenhängen stattfand.89 Wie der Literaturwissenschaftler Adolfo Prieto verdeutlicht, bestand die besondere Rolle der aufkommenden Massenpresse darin, dass sie für große Bevölkerungsteile einen Einstieg in die Praxis des Lesens bedeutete.90 Der große Erfolg der Presseorgane hing unmittelbar mit dem Wachstum eines alphabetisierten Lesepublikums zusammen.91 Die Voraussetzung einer lesefähigen Klientel schufen Bildungsreformen, die im 19. Jahrhundert in verschiedenen Ländern zu einem starken Anstieg der klassenübergreifenden Alphabetisierung geführt hatten. In Argentinien wurde 1884 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die auf einen Gesetzesentwurf von Domingo Faustino Sarmiento zurückging und Bildung als eine Waffe zur Bekämpfung der ‚Barbarei‘ beziehungsweise als Mittel der Erziehung zu zivilisierten argentinischen Staatsbürgern verstand: „Enseñemos a leer, a leer bajo todas sus faces, [...] i cambiaremos los destinos del pais, sostituyendo al pueblo que han dejado promaucaes, españoles i araucanos, inepto para el
88 Vgl. Certeau, Michel de: The Practice of Everyday Life, Berkeley: Univ of California Press 2011, S. xxi. 89 Vgl. Acree, William G.: Everyday Reading. Print Culture and Collective Identity in the Río de la Plata, 1780-1910, Nashville: Vanderbilt Univ. Press 2011. Acree untersucht ein breites Spektrum von Printkultur, das jenseits eines konventionellen Literaturbegriffs funktioniert: Revolutionäre Zeitungen und Flugblätter, gaucheske Literatur zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition, Schulbücher, folletines, Postkarten, Briefmarken und Geldscheine. 90 Vgl. Prieto, El discurso criollista, 2006, S. 14. 91 Acree betont, dass AnalphabetInnen ebenfalls bedeutende KonsumentInnen von Printmedien wie zum Beispiel illustrierten Zeitschriften waren und durch kollektives Vorlesen beispielsweise auch die Texte der Tagespresse rezipierten. Vgl. Acree, Everyday Reading, 2011, S. 3. Siehe auch: Ohmann, Selling Culture, 1996, S. 35.
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progreso, un pueblo capaz de seguir al mundo industrial moderno en la rápida marcha que lleva.“92
Die Einführung der „enseñanza primaria, gratuita, obligatoria, gradual y laica“ führte zur fortschreitenden Alphabetisierung großer Teile der Bevölkerung in Argentinien und trug damit zur Entstehung eines „público consumidor de lecturas populares“ bei.93 Vor allem die neue Magazinpresse warb um die neuen Leserschaften und versuchte gezielt, die heterogenen Gruppen anzusprechen, unabhängig von Klasse, Nationalität, Geschlecht und Alter. So formulierte der Herausgeber von Caras y Caretas, Eustaquio Pellicer, im Oktober 1899 zum einjährigen Jubiläum der Zeitschrift den Anspruch, „de que cualquiera persona que nos lea [...] goce con el periódico á su gusto“. 94 Der erzieherischzivilisatorische Anspruch, den die großen argentinischen Zeitungen der 1880er Jahre noch pflegten, und ihre meinungsbildende Funktion wichen damit einem Mandat der Leserschaft, die zwar diffus und anonym war, aber deren Geschmack und Wünsche interpretiert werden mussten. „Lo importante no era edu-
92 Sarmiento, Domingo Faustino: „Los maestros de la escuela“, in: El Monitor de la Educación Primaria, 3, 1, 1852, S. 70-71. Die Ley 1420 de educación común wurde auf Basis eines Gesetzesentwurfs von Domingo Faustino Sarmiento während der Präsidentschaft Julio Argentino Rocas ins Leben gerufen. Sarmiento war zu diesem Zeitpunkt Direktor des Consejo Nacional de Educación. Das Gesetz etablierte die „enseñanza primaria, gratuita, obligatoria, gradual y laica“. Zur Pädagogik als umkämpftes Feld der nationalen Identitätsbildung siehe auch: Tedesco, Juan Carlos: Educación y sociedad en la Argentina (1880-1945), Buenos Aires: Siglo Veintiuno 2003; Carli, Sandra: Niñez, pedagogía y política. Transformaciones de los discursos acerca de la infancia en la historia de la educación argentina entre 1880 y 1955, Buenos Aires: Miño y Dávila 2002; Narodowski, Mariano: Infancia y poder. La conformación de la pedagogía moderna, Buenos Aires: Aique 1994. 93 Eujanian, Historia de revistas argentinas, 1999, S. 18 f. Eujanian betont auch die Bedeutung der Ley Láinez von 1906, welche den Haushalt zum Ausbau von Schulen aufstockte und zur Gründung von über 700 neuen Schulen führte, vgl. ebd. Susana Rotker bemerkt hingegen, dass die für Argentinien berühmten hohen Alphabetisierungsraten nur eingeschränkt zutrafen, da der vorzeitige Schulabbruch 90 bis 97 Prozent betrug und viele Kinder die Schule nur ein bis zwei Jahre besuchten. Vgl. Rotker, La invención de la crónica, 2005, S. 105. 94 Pellicer, Eustaquio: „Caras y Caretas. 1898 – octubre – 1899“, in: Caras y Caretas, 2, 53, 07.10.1899, S. 16.
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car el gusto pervertido, sino complacerlo“, so formuliert es Susana Rotker.95 Diese neue Offenheit bewirkte ein Experimentieren der modernen Presse mit neuen Formen, Inhalten und Genres, dessen Grenzen sich nicht an moralischintellektuellen Maßstäben der Herausgeber, sondern dynamisch an jene des Publikums anpassen sollten. Die Heterogenität der Leserschaft wurde von den Magazinen selbst immer wieder betont. So veröffentlichte beispielsweise Mundo Argentino 1911 einen Beitrag mit dem Titel „Lectores modestos de Mundo Argentino“, der Fotografien dreier einfach gekleideter älterer Männer und Frauen zeigte, die auf Parkbänken im Freien die Zeitschrift lasen. Der Autor betont darin, dass es sich um keine inszenierten Bilder handele, sondern um überraschende Momentaufnahmen von Menschen unterschiedlichen sozialen Hintergrunds und Alters. „Entre esas instantáneas, nos han impresionado tres ancianos de humilde esfera social, que aprovechando algún rato de descanso en sitios públicos se entretenían en leer este periódico. Y hemos querido hacer partícipes del hallazgo á nuestros lectores, no sólo porque lo que respecta a Mundo Argentino, sino como una demostración de que en Buenos Aires se lee, y se lee mucho, hasta por la gente á quien no se atribuye la afición literararia.“96
Die artikulierte Überraschung und Begeisterung über das Phänomen der altersund klassenübergreifenden Lesegewohnheiten im öffentlichen Raum war nicht nur die zufällige Notiz eines Reporters, sondern demonstrierte das genuine Selbstbild der Zeitschriften als fortschrittliche, expandierende Medien. Die Botschaft an die Leser und Leserinnen bestand in der Affirmation ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von KonsumentInnen und BürgerInnen, die eine zwar heterogene, aber dennoch gleichgesinnte Öffentlichkeit bildeten. Dem offensichtlichen Widerspruch zu den sozialen Spannungen der gesellschaftlichen Realität wurde darin das Bild einer bürgerlich-integrativen Gemeinschaft entgegengesetzt. Die Magazine inszenierten ihr Verhältnis zur Leserschaft auch als Mittel der Integration und als pädagogisches Konzept. 1913 veröffentlichte Fray Mocho eine Reportage über einen ehemaligen Lehrer mit dem Namen Esteban Russi, der sich selbst als Idealisten bezeichnete und auf einem brachen Gelände am Stadtrand in einem „artístico palacio de latas y basuras“ lebte.97 Dort versammel-
95 Rotker, La invención de la crónica, 2005, S. 104. 96 „Lectores modestos de Mundo Argentino“, in: Mundo Argentino, 1, 4, 28.01.1911, S. 13. 97 „‚Fray Mocho. Libro de lecturas“, in: Fray Mocho, 2, 64, 18.07.1913, S. 8.
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te er obdachlose und elternlose Kinder um sich, um ihnen mit Hilfe der Zeitschrift Fray Mocho Lesen und Schreiben beizubringen, wie Abbildung 2.3 zeigt. Die Zeitschrift schrieb sich damit selbst eine Bildungsfunktion mit der Perspektive auf gesellschaftliche Integration von Kindern aus Armutsverhältnissen zu. Sie hob damit gleichzeitig Vorstellungen von Exklusivität ihrer Leserschaft hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit auf. Abbildung 2.3
Quelle: Fray Mocho (1913)
Insbesondere in dieser Frage rief der moderne Journalismus auch kritische Stimmen hervor, wie jene des Arztes und Politikers José María Ramos Mejia, der die Hinwendung zum Oberflächlichen und zur Täuschung durch die moderne Presse beklagte und sich nach dem „grave y tranquilo lector de otros tiempos“ zurücksehnte, jene Zeiten vor der massiven Alphabetisierung der Bevölkerung, welche die Qualität des journalistischen Angebots dermaßen habe verkümmern lassen.98 Die Angst vor einer Trivialisierung der Kultur ging mit Widerständen der Eliten gegen die Bedrohung der hegemonialen Ordnung einher, die speziell in der wachsenden Metropole Buenos Aires in Zeiten von Masseneinwanderung, Industrialisierung und Arbeitskämpfen in Frage gestellt wurde. Der drohende Verlust der elitären Deutungsmacht in der Medienproduktion und -rezeption kann als kulturelle Demokratisierung verstanden werden. Damit soll nicht behauptet werden, dass die moderne Massenpresse sich von Machteffekten befreit 98 Zitiert in: Terán, Oscar: „El pensamiento finisecular (1880-1916)“, in: Lobato, El progreso, 2000, S. 327-363, S. 126.
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habe – im Gegenteil: Während große Teile der Presse des 19. Jahrhunderts sich als Sprachrohr für bestimmte Parteien, Gruppen oder Meinungen verstand, und aus ebendiesen Kanälen sowohl finanziert, produziert als auch gelesen wurde, barg die demokratische Öffnung der Medien entlang kommerzieller Kriterien eine völlig neue und breite Interventionsfläche auf die Vorstellungen und Meinungen einer ganzen Nation. Die Repräsentationen der Presse in Wort und Bild entzogen sich einer exklusiven Kontrolle und müssen als Schnittpunkte multipler Machtmechanismen von unten und von oben betrachtet werden. Thomas Reese verdeutlichte in seiner Studie zur identitätsbildenden Wirkung von Repräsentationen in Buenos Aires um 1910, dass diese funktionierten wie „instrumentos sumamente mediatizados de poder, poder ejercido por aquellos que los encargaron, ejecutaron, publicaron, exhibieron, vendieron, trajeron al mercado, consumieron, observaron, criticaron, y hasta los rescataron y reutilizaron.“99 Diese Vielzahl an Menschen, die auf den Erfolg, die Inhalte und die Lesarten von Pressemedien Einfluss ausübten, machte die besondere Dynamik des modernen Journalismus aus, dessen Grenzen des Sag- und Zeigbaren immer wieder neu in Frage gestellt und ausgehandelt wurden. Das moderne Lesepublikum war insbesondere ein Produkt der Urbanisierung. Die aufsteigenden Metropolen waren die zentralen Produktionsstätten, die wichtigsten Absatzmärkte und gleichzeitig die eigenen Anschauungsobjekte der neuen Massenmedien. Sowohl Joseph Pulitzers New York World, das Petit Journal in Paris als auch El Mundo Ilustrado in Mexiko-Stadt waren Teile der urbanen Kultur, die zugleich lokal an städtischen Veranstaltungen und Ereignissen, als auch global am politischen und kulturellen Weltgeschehen orientiert waren. Die wachsenden Metropolen bargen eine Vielzahl potenzieller Leser und Leserinnen, die über neue Distributionsformen im urbanen Raum erreicht werden konnten. Der Bezug von Zeitungen und Zeitschriften geschah im 19. Jahrhundert in Buenos Aires fast ausschließlich über Abonnements, bis zwei neue Verkaufsformen sich etablierten: Die Zeitungskiosks, welche an zentralen Knotenpunkten von Geschäftsstraßen, Verkehrswegen und Wohngegenden aufgestellt wurden, und der Vertrieb durch mobile ZeitungsverkäuferInnen, so genannte canillitas, die sich als wichtigste Vertreiber von Presseerscheinungen in der Stadt durchsetzten und auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants und Lokalen ihre Ware anboten.100 Die auf Unterhaltung der LeserInnen ausgerichte-
99 Reese, Buenos Aires 1910, 1999, S. 29. 100 Vgl. Eujanian, Historia de revistas argentinas, 1999, S. 36-41. Die canillitas nehmen für die Untersuchung des neuen Journalismus eine besonders interessante Position ein: Sie waren als VerteilerInnen und VerkäuferInnen gleichzeitig elementarer Be-
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ten modernen Zeitschriften waren auch Teil neuer Lesepraktiken. Sie wurden unterwegs in öffentlichen Verkehrsmitteln und zum Freizeitvergnügen gelesen, oftmals aufbewahrt, gesammelt und insbesondere im sozialen Umfeld weitergereicht.101 Alejandro Eujanian betont die bedeutende Funktion der sozialen Vernetzung durch die Magazine und bezeichnet sie als „mediadores de toda una red de relaciones sociales“.102 Ein wesentliches Charakteristikum der modernen Massenpresse war ihre kommerzielle Ausrichtung. Die technische Hochrüstung der Verlage und die hohen Auflagen bei gleichzeitig sinkenden Preisen, die sich auch ein einkommensschwaches Publikum leisten konnte, konnten nicht mehr über Subventionen oder über den Verkauf allein finanziert werden. Der US-amerikanische Zeitschriftenjournalismus nahm eine Vorreiterrolle in der Etablierung von kostengünstigen Zeitschriften ein, welche von da an beinahe ausschließlich über Werbeeinnahmen finanziert wurden. Der wirtschaftliche Erfolg von US-Wochenzeitschriften wie Munsey’s, McClure’s, Cosmopolitan, Harper’s Weekly, Leslie’s, Puck, Life, Judge und New York World wurde seit den 1890er Jahren über die USA hinaus bekannt und wurde auch in Argentinien wahrgenommen und genau beobachtet.103 Auch die modernen illustrierten Zeitschriften in Argentinien adaptierten das Modell des anzeigenfinanzierten Magazins. Der Anzeigenteil in den Magazinen nahm bis zur Hälfte ihrer Seiten ein und wurde zunehmend in die journalistischen Parts integriert, indem die Werbung nicht mehr auf einzelnen Seiten getrennt, sondern vermehrt auf geteilten Seiten oder neben den Artikeln erschien, sodass sie eine erhöhte Aufmerksamkeit erreichen konnte. Abgesehen von ihrer Aussagekraft über die Kommerzialisierung des Zeitschriftenmarktes können über die Betrachtung der Werbeanzeigen auch Rückschlüsse auf die Produktpalette der argentinischen Konsumindustrie, auf Importgüter und vor allem auf die darüber transportierten Vorstellungen von Modernität, Geschlechterverhältnis-
standteil des Medienapparats, standen in Kontakt mit Verlagen und LeserInnen, und waren darüber hinaus selbst Gegenstand zahlreicher Reportagen und Artikel, die sich mit ihrer Lebenssituation beschäftigten. Siehe dazu ausführlich Kapitel 9.3. 101 Die Zirkulation von Zeitschriften durch Weiterreichen relativiert auch das Verhältnis von Auflagezahlen der Zeitschriften und tatsächlicher Leserschaft. 102 Ebd., S. 34. 103 Vgl. Rogers, Geraldine: Caras y Caretas. Cultura, política y espectáculo en los inicios del siglo XX argentino, La Plata: Editorial de la Univ. Nacional de La Plata 2008, S. 62.
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sen und nationaler Identität gezogen werden.104 Dies gilt beispielsweise für die Porträtierung von bürgerlicher Weiblichkeit in den Anzeigen der Kosmetikindustrie, für die Produktwerbung einer sich auf die Verbesserung der Volksgesundheit berufenden Pharmaindustrie und für die zahlreichen Mode- und Konsumgüter, die über ihre kosmopolitische und moderne Qualität beworben wurden und sozialen Aufstieg zu versprechen schienen (siehe Abbildung 2.4).105 Abbildung 2.4
Quelle: Caras y Caretas (1922)
Der Magazinjournalismus entdeckte sein Lesepublikum folglich nicht allein als KonsumentInnen (der Zeitschriften selbst sowie der darin beworbenen Produkte), sondern trat mit seiner Leserschaft in einen Dialog über ihre eigene Lebensqualität in einer modernen Welt mitsamt ihrer Schattenseiten. In der Werbung ebenso wie in den Sozialreportagen wurden kollektive Identitäten – etwa als Na-
104 Zur Entstehung der argentinischen Konsumgesellschaft unter ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten siehe: Rocchi, Fernando: „Consumir es un placer: La industria y la expansión de la demanda en Buenos Aires a la vuelta del siglo pasado“, in: Desarrollo Económico, 37, 148, 1998, S. 533-558. 105 Vgl. beispielsweise folgende Werbung für Seife und Haarentfernungsmittel: La Farmaco Argentina: „Depilatorio Martins; Jabón Tinkal“, in: Caras y Caretas, 25, 1237, 17.06.1922, S. 14. Die Betrachtung von Werbeanzeigen steht nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit; sie werden jedoch in Einzelfällen in die Analyse mit einbezogen.
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tion oder als Frau/Mann – generiert und damit zusammenhängend Vorstellungen von gesellschaftlicher Normalität entwickelt. Bereits Benedict Anderson hat auf die bedeutende Rolle der Printmedien für die Herausbildung von imagined communities hingewiesen; der Journalismus ist in Anlehnung daran als „dispositivo pedagógico fundamental para la formación de la ciudadanía“ begriffen worden.106 Mehr jedoch als eine politische oder pädagogische Strategie der Volkserziehung möchte diese Arbeit die Entstehung biopolitischer Diskurse über soziale Normalität und nationale Identität als wechselseitiges produktives Verhältnis zwischen LeserInnen, Subalternen und Journalisten verstehen.
B ERUF : R EPORTER Der neue Journalismus, dessen paradigmatisches Phänomen die Magazinkultur war, brachte eine Veränderung der journalistischen Arbeit mit sich. Die Ausrichtung auf innovative Formate, informative Inhalte und investigative Vorgehensweisen weiteten das Tätigkeitsfeld der Journalisten aus und förderten gleichzeitig die Professionalisierung journalistischer Arbeit. Als Spezialisierung im journalistischen Betrieb entstand der Beruf des Reporters, dessen Tätigkeitsfeld sich maßgeblich auf Menschen und Orte jenseits der Redaktionen ausweitete und der sich auf ein Set von Praktiken journalistischer Raffinesse verstand. Daher wird im Folgenden die berufliche Professionalisierung der Journalisten erläutert und damit einhergehend ihre Differenzierung von Schriftstellern sowie ihrem Selbstverständnis und ihre Organisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit der Transformation des Journalismus und der Wende von einer meinungsbildenden Instanz hin zu einer informationszentrierten Agenda entstand eine neue Klasse von Journalisten mit spezifischen Tätigkeitsfeldern und Arbeitsverhältnissen. Noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert galt der Journalismus als schriftstellerische Tätigkeit, die sich durch Prestige und politischen Erfolg auszahlte. So fanden sich unter den Journalisten der großen Zeitungen und Zeitschriften größtenteils Politiker und Staatsmänner, Militärs, Juristen, Mediziner oder andere namhafte Intellektuelle, die das Schreiben als sekundäre Tätigkeit betrieben.107 Der Anuario de Prensa von 1897 behauptete sogar: „no había
106 Ramos, Desencuentros de la modernidad, 2003, S. 93. Siehe auch: Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York, London: Verso 1983. 107 Dazu zählten beispielsweise Domingo Faustino Sarmiento, Adolfo Alsina, Lucio V. Mansilla, Bartolomé Mitre und Dalmacio Vélez Sarsfield.
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un solo hombre notable que no fuese periodista”.108 Die Presse diente der Oberschicht als Prestigeobjekt und als politisches Sprachrohr. Gleichzeitig wurde die journalistische Tätigkeit auch als besonders verantwortungsvolle Aufgabe der Erziehung und Zivilisierung angesehen. Schreiben galt damit der Vermittlung von Werten und von Wissen, die in der Formierung der jungen Nation Argentiniens quasi sakrale Bedeutungszuschreibungen erhielt. So beschrieb La Ilustración Argentina die Aufgaben des Journalisten 1885 wie folgt: „Los periodistas tienen sagrados deberes y grandes responsabilidades, para con los ciudadanos, la patria y la posteridad. Sus concepciones deben nacer de su ruda franqueza, de la honradez y de las inspiraciones de la verdad y la justicia; [...] Esto debe ser el periodista.“109
Erst mit der Kommerzialisierung von Presseorganen, die nach marktwirtschaftlichen Prinzipien arbeiteten und auf ein Massenpublikum abzielten, wurden die „escritores gentlemen del 80“110 von einer neuen Generation von Journalisten abgelöst, welche die neuen technischen und inhaltlichen Anforderungen beherrschten und als Lohnarbeit begriffen. Innerhalb der modernen Medienbetriebe fand eine Professionalisierung der journalistischen Tätigkeit statt, die ein neues Berufsbild hervorbrachte: Eines nach betriebswirtschaftlichen Kriterien arbeitenden Journalisten, der in erster Linie nicht für ‚höhere‘ politische oder moralische Zwecke, sondern für ein – oftmals unsicheres und geringes – Honorar arbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.111 Während der Wandel des Journalismus infolge des Pressebooms von einer Prestigetätigkeit zur Lohnarbeit einen rapiden Verlauf nahm, geschah die institutionelle Formierung einer professionellen Ausbildung sehr zögerlich. Die erste Journalistenschule wurde 1909 in Buenos Aires von der Zeitung Última Hora gegründet, um den eigenen Nachwuchs zu fördern. In einer Ankündigung der Einschreibungsmöglichkeiten warb die Zeitung mit einer kostenfreien Ausbildung zum Beruf des Reporters, für die lediglich ein leichter Einstiegstest absolviert werden müsse. Darin sollten ungefähre Kenntnisse der Topografie von Buenos Aires, des aktuellen politischen Geschehens, der argentinischen Geografie, der Nationalgeschichte und der spanischen Grammatik abgeprüft werden; wichtiger sei aber ein Talent zum Re-
108 Navarro Viola, Anuario de la prensa argentina, 1897, S. 5. 109 „El periodista“, in: La Ilustración Argentina, 23, 20.08.1885, S. 182. 110 Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 50. 111 Vgl. Rivera, Jorge B.: La forja del escritor profesional. 1900-1930, Buenos Aires: Centro Editor de America Latina 1980, S. 367.
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porter, das eine „brillante carrera“ im Journalismus bedeuten könnte.112 Bis sich an Universitäten und anderen Ausbildungsstätten das Fach Journalismus etablierte, war der Beruf des Reporters keinen formalen Zugangsbeschränkungen unterworfen, sondern für die unterschiedlichsten beruflichen Biografien offen. Der Beruf des Reporters entwickelte sich als eigene Spezialisierung im journalistischen Betrieb, die ihn vom Beruf des Redakteurs unterschied. In der Reportage „Un diario por dentro“, die 1912 in PBT veröffentlicht wurde, schildert Natalio Botana, Gründer der Tageszeitung Crítica, die Organisation und Zusammensetzung einer modernen Zeitungsredaktion, die jene Differenzierung deutlich macht. Der Artikel sollte dem Mythos jener „entidad serena, grave, respetable“, wie ihn eine Zeitung darstellte, einige alltägliche und humorvolle Eindrücke und Bilder der Arbeitsroutine entgegensetzen.113 Botana unterschied zwischen drei Bereichen des Zeitungsbetriebs: der Administration, den Werkstätten und der Redaktion als Gehirn und kreativem Zentrum der Zeitung. Innerhalb der Redaktion charakterisierte er die verschiedenen Berufsgruppen und Spezialisierungen. Redakteure zeichneten sich demnach durch ein breites Wissen und besondere intellektuelle Fähigkeiten aus. Daneben mussten die Kritiker sich als Spezialisten für bestimmte Bereiche, wie zum Beispiel Theater, Literatur, Soziales und Sport behaupten.114 Reporter wurden hingegen durch ihre Umtriebigkeit, mit der sie sich in den Straßen der Stadt bewegten, charakterisiert: Der gewöhnliche Straßenreporter müsse etwa über die genaue Ankunft aller Gouverneure aus der Provinz Bescheid wissen, nachts die „music-halls“ frequentieren und im Idealfall auch Guaraní und Quechua beherrschen. Der ‚Polizei-Reporter‘ sollte ein wenig Lunfardo können, die anthropometrischen Methoden von Alphonse Bertillon und die kriminologischen Konzepte von José Ingenieros kennen, gute Kontakte zur Polizei pflegen und mit der urbanen Unterwelt vertraut sein.115 Botanas Reportage vermittelte so auf humorvolle Weise das neue Konzept einer auf die praktischen Anforderungen und die sozia-
112 „Escuela de reporteros“, in: Última Hora, 03.11.1909, zitiert in: Saítta, Regueros de tinta, 1998, S. 37. 113 Botana, Natalio: „Un diario por dentro“, in: PBT, 9, 399, 20.07.1912. S. 24-27. 114 Ebd., S. 26 f. Rubriken wie „Mundo social“ oder „Sociedad“ bezogen sich beispielsweise auf gesellschaftliche Anlässe der oberen sozialen Schichten, z.B. Benefizveranstaltungen, Vereinsfeiern, Hochzeiten oder staatliche Festakte. Die Fotografien in dem genannten Artikel zeigten weitere Berufsfelder außerhalb der Redaktion, zum Beispiel diejenigen der Drucker und Setzer, sowie der so genannten „porriños“, die als Laufburschen zwischen Redaktion und Druckerei fungierten. 115 Vgl. Ebd., S. 27.
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len Zusammenhänge ausgerichteten journalistischen Tätigkeit. Das abschließende Foto auf der letzten Seite der Reportage zeigt die Auszahlung mehrerer Journalisten am Ende des Monats – und betont damit erneut das Lohnarbeitsverhältnis als modernes Element eines professionalisierten journalistischen Betriebs (Abbildung 2.5). Abbildung 2.5
Quelle: PBT (1912)
Das Aufkommen des Berufs des Reporters war von besonderer Bedeutung für den Pressebetrieb: Das Interesse am urbanen Leben und die Möglichkeit, dieses auch fotografisch festzuhalten, machten die Arbeit der Reporter fernab des sicheren Schreibtischs notwendig. Ihr Arbeitsplatz waren in erster Linie die öffentlichen und privaten Räume des großstädtischen Lebens, wo sie teilweise selbst fotografierten, meistens aber zusammen mit Fotografen arbeiteten. Ihre Arbeit ließ sie in verschiedene soziale Milieus vordringen, wo sie Bewohner und Bewohnerinnen interviewten, populäre Persönlichkeiten aufspürten und bei Skandalen und Verbrechen vor Ort waren. Die Reporter waren dabei nicht notwendigerweise auch mit dem Schreiben der Artikel betraut, sondern in erster Linie mit der Beschaffung von Informationen und fotografischem Material. Sie gehörten mehrheitlich zu jener anonymen Masse an Journalisten, deren Name in den Zeitungen und Zeitschriften keine Erwähnung fand. Nur wenige, die einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen konnten, erschienen namentlich unter den Artikeln.
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Die Reporter waren Teil der entstehenden Mittelschichten, die intellektuelle und kreative Lohnarbeit betrieben. Oftmals handelte es sich um Einwanderer der ersten oder zweiten Generation, die einen sozialen Aufstieg beabsichtigten.116 Der autobiografische Roman von Roberto Tálice, der 1923 von Montevideo nach Buenos Aires gekommen war, um in der Redaktion von Crítica zu arbeiten, ist aufschlussreich für die (retrospektive) Wahrnehmung des journalistischen Berufs in dieser Zeit. Tálice beschreibt darin seine enorme Faszination für den modernen Journalismus, die ihn als jungen Mann dazu trieb, alles daran zu setzen, für die von ihm bewunderte Zeitung Crítica von Natalio Botana zu arbeiten: „En largo tiempo he preparado ánimo y voluntad para afrontar el destino elegido. No sé lo que me deparará la suerte. Pero estoy jugado. No puedo ni debo retroceder. [...] Aunque fracase. Por más que la vida me niegue lo que en ella he buscado hasta hoy inútilmente: ser y vivir como mi vocación lo ha dispuesto.“117
Der Journalismus wird hier als Berufung und verheißungsvolle Möglichkeit der Selbstverwirklichung für den jungen abenteuerlustigen Mann heraufbeschworen. Die Presse als „road to fortune“118 bedeutete für viele eine ungesicherte aber vielversprechende Karrieremöglichkeit. Damit weitete sich nicht nur die Leserschaft, sondern auch die Riege der Schreibenden im 20. Jahrhundert von den elitären Kreisen auf die Mittel- und Unterschichten aus. Das moderne journalistische Arbeiten wurde auch zu einem Gegenstand von Kritik, die sich gegen die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Presseorgane und die damit verbundene Rolle der Journalisten richtete. So widmete sich ein Artikel aus der Reihe „Tipos de la ciudad“ des Magazins Mundo Argentino dem Typus des Journalisten und kritisierte, dass dieser seine politischen und moralischen Überzeugungen und sein Gewissen zugunsten seines Berufs und den Vorstellungen seines Arbeitgebers aufgeben müsse. In den profitorientierten Betrieben, wie sie die modernen Verlage darstellten, sei die Persönlichkeit des wahrhaftigen Journalisten ausgemerzt worden und durch ein ‚intellektuelles Proletariat‘ ersetzt worden, das fremden Ideen dienen müsse, um sich vor dem Verhun-
116 Eujanian, Historia de revistas argentinas, 1999, S. 43. Siehe auch: Rama, The Lettered City, 1996, S. 53. 117 Tálice, Roberto A.: 100.000 ejemplares por hora. Memorias de un redactor de Crítica el diario de Botana, Buenos Aires: Corregidor 1989 [1977], S. 10. 118 Barth, City People, 1980, S. 59.
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gern zu retten.119 Im Gegensatz zu jener These der marktbestimmten und gewissenlosen Transformierung der Journalisten, wie sie auch Jorge Rivera vertritt,120 spricht Eduardo Romano von einer Polyphonie, die durch die Pluralität von Mitarbeitern und Meinungen in die Redaktionen eintrat und sich letztlich in die Zeitungen und Zeitschriften einschrieb: „Esas diferentes voces vehiculizan, por lo común, puntos de vista, posiciones opuestas o por lo menos no coincidentes.“121 Die an einem möglichst breiten Lesepublikum interessierten Magazine verfolgten generell den Weg der politischen Offenheit und ließen durchaus voneinander divergierende Standpunkte zu. Damit tendierten sie dazu, in keine Richtung feste politische Positionen zu beziehen und sich auf humorvolle oder ironisierende Weise den Ereignissen anzunähern. Die Vorstellungen von der Autorität und der moralischen Integrität des Autors verloren hingegen in der Magazinpresse an Bedeutung. Auch das literarische Können trat neben Qualitäten der Originalität, der Realitätsnähe und der Beschaffung von sensationellen Nachrichten zurück. Die literarische Strömung des Modernismo, die eine eigene Zeitschriftenpresse hervorbrachte und sich als Avantgarde neuer ästhetischer Werte verstand, polarisierte zwischen den „zonas antiestéticas“ der Massenkultur und einer Literatur, die in der Poesie ihre künstlerische Reinform verkörperte.122 Die Verteidigung der ästhetischen Werte des künstlerischen Schreibens gegen die als minderwertig betrachteten Schreibproduktionen der Massenpresse können gleichzeitig als fruchtbarer und stimulierender „evolving dialogue between literature and mass media” betrachtet werden: Viele SchriftstellerInnen wurden in den kommenden Jahrzehnten von Journalismus ebenso wie von Film und Fotografie inspiriert und ließen dies in ihre narrativen Techniken einfließen.123 Noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert genossen die schriftstellerische beziehungsweise literarische und die journalistische Tätigkeit einen ähnlichen Stellenwert, wurden oftmals von den gleichen Autoren praktiziert und fanden unter vergleichbaren sozioökonomischen Bedingungen statt. So unterscheidet auch Jorge Rivera in seinem kanonischen Essay über die Professionalisierung des Autors in der aufkommenden Kulturindustrie nicht zwischen dem Schriftsteller und
119 Vgl. Gnomo: „Tipos de la ciudad. El periodista“, in: Mundo Argentino, 1, 16, 26.04.1911, S. 3. 120 Vgl. Rivera, La forja del escritor profesional, 1980. 121 Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 18 f. 122 Ramos, Desencuentros de la modernidad, 2003, S. 124. 123 Paz-Soldán, Edmundo; Castillo, Debra A.: „Introduction. Beyond the Lettered City“, in: Paz Soldán, Edmundo; Castillo, Debra A. (Hg.): Latin American Literature and Mass Media, New York: Garland Pub. 2001, S. 6.
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dem Journalisten, sondern untersucht die Produktionsbedingungen des Schreibens für jene Autoren, die sich scheinbar problemlos zwischen den Medien Buch, Zeitung und Zeitschrift hin und her bewegten.124 Sowohl für journalistische als auch literarische Publikationen galt bislang, dass sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts dienen konnten, sondern größtenteils als Nebenbeschäftigung finanziell begüterter Personen praktiziert wurden.125 Die aufkommenden Massenmedien bedeuteten sowohl für die journalistische als auch für die literarische Tätigkeit eine neue Einkommensquelle. Die großen Tageszeitungen und die Zeitschriften druckten literarische Beiträge, oftmals in Form von Fortsetzungsgeschichten (folletines), mehr oder weniger namhafter AutorInnen ab und begannen, diese auch finanziell zu honorieren. 126 Vor allem die sich als avantgardistisch verstehenden AutorInnen des Modernismo, der sich in Argentinien in künstlerisch-intellektuellen Kreisen verbreitete, nutzten diese neuen Kommunikations- und Verdienstmöglichkeiten, die sich über die Massenpresse erschlossen. Ruben Darío veröffentlichte beispielsweise ein breites Repertoire an Texten in Zeitungen, die von der konservativen La Nación bis hin zu den anarchistischen Publikationen von Alberto Ghirardo reichten.127 Neben den Tageszeitungen publizierten vor allem Caras y Caretas und das Suplemento de La Nación Fortsetzungsromane und Erzählungen; in Caras y Caretas veröffentlichten beispielsweise populäre Schriftsteller wie Francisco Grandmontagne, Ernesto Quesada, Roberto Payró und Leopoldo Lugones regelmäßig belletristische Literatur. Gleichzeitig begannen sich deutlichere Trennlinien zwischen der Betätigung als Schriftsteller und dem Beruf des Journalisten herauszubilden, da neben den literarischen Rubriken ein massiver Bedarf an informativer Berichterstattung entstand, für die die stilistische Komponente und das literarische Können nur noch von geringer Bedeutung waren.128 Im modernen Medienbetrieb galt es, unter zeitlichem Druck an der Erstellung von Berichten und Reportagen zu arbeiten, deren sprachlicher Stil durch das Genre, und weniger durch das Genie des
124 Vgl. Rivera, El escritor y la industria, 1980. 125 Die Veröffentlichung von Büchern war in der Regel nur als edición del autor möglich, die auf Kosten und auf Risiko des Autors geschah. 126 Siehe: Sarlo, Beatriz: El imperio de los sentimientos. Narraciones de circulación periódica en la Argentina (1917-1927), Buenos Aires: Siglo Veintiuno 2011. 127 Romano, Revolución en la lectura, 2004, S. 50. Zur Verschränkung von literarischen und journalistischen Publikationsformen siehe weiterhin: Ramos, Desencuentros de la modernidad, 2003, S. 113-148. 128 Vgl. Rotker, La invención de la crónica, 2005, S. 106.
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Verfassers gegeben war. Die zeitgenössische Kritik klagte über den Verlust des künstlerischen Ausdrucks der Journalisten, die ihre Texte nun mehr nach Quantität statt nach Qualität fabrizierten.129 Unabhängig von der fortdauernden Überschneidung von Literatur und Journalismus und der Belebung der argentinischen Literatur durch die Presse entstand mit den Transformationen des Journalismus ein Selbst- und Fremdbild der Journalisten als Berufsgruppe und öffentlich wirkenden Akteuren, die nicht mehr als künstlerische und politische Subjekte, sondern als professionelle Akteure auftraten. Die Klasse der neuen Journalisten verkörperte die Ambivalenzen der Moderne: Sie bewegten sich in einem Spannungsfeld zwischen sozialem Aufstieg und ungesicherter Existenz, sowie zwischen elitärem Bewusstsein und einer klassenübergreifenden Massenkultur. Im Kontext der erstarkenden Arbeiterbewegung, deren gewerkschaftliche Organisierung und deren Kampf für bessere Arbeitsbedingungen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichte, entschlossen sich auch Journalisten zu einem Engagement für bessere Arbeitsbedingungen und zu Zusammenschlüssen in Form von Interessenvertretungen. „Desde los primeros años del siglo se produjo una transformación en la figura del escritor, conciente de su función social y de los derechos que le asistían o debía reclamar.“130 1911 publizierte Mundo Argentino einen Artikel über die ersten Versuche von Schriftstellern, Lehrern und Journalisten, sich zu solidarisieren und für gerechtere Löhne einzutreten.131 Sie wurden darin als „proletariado intelectual“ bezeichnet und
129 Vgl. ebd., S. 117. Für diese Position stand Rotker zufolge beispielsweise Joaquín V. González, der 1888 den aufkommenden Massenjournalismus als „monstruo que devora en un día enormes cantidades de ideas“ bezeichnete und mit einer fabrikartigen Maschinerie verglich. Schuld sei der Konsummarkt, der alles in eine Ware verwandle, und speziell die Schnelligkeit des Schreibens fordere. Reportagen bezeichnete er als „literatura bajo presión“. Als Gegenstimme zu dieser Meinung zitiert Rotker für den lateinamerikanischen Gesamtkontext José Martí, der den modernen Journalismus dahingehend befürwortete, als dass er den Schriftstellern einen Zugang zu einem größeren Lesepublikum gewährte und eine Demokratisierung des Schreibens ermöglichte. 130 Eujanian, Historia de revistas argentinas, 1999, S. 50. 131 Vgl. Barcos, Julio R.: „El proletariado intelectual en Buenos Aires. Autores, maestros y periodistas“, in: Mundo Argentino, I, 32, 16.08.1911. Der erste assoziative Zusammenschluss war kurz zuvor mit der Asociación de Reporters erfolgt. Bereits 1890 hatten sich José Álvarez/Fray Mocho und einige seiner Kollegen in der Organisation Centro de Cronistas gegen die prekäre Arbeitssituation als „trabajadores de la cultura“ aufgelehnt. Vgl. Vogelius, Fundadores de la cultura porteña, 1976, S. 9.
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damit als Teil der Arbeiterbewegung verstanden. Auf der anderen Seite unterschied der Artikel die Arbeiterschaft im Allgemeinen zwischen jenen „obreros de la inteligencia“ und den „trabajadores del músculo“, die sich durch die Art ihrer Arbeit voneinander abhoben. Die ‚Kopfarbeiter‘ verfolgten demnach höhere Ziele: die nationale Kunst, die Bildung und der argentinische Journalismus dürften daher nicht unter Misere und Ausbeutung leiden. Die Frage nach der Natur und Einordnung des journalistischen Berufs in die Welt der Arbeit beziehungsweise ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft war jedoch durchaus kontrovers. Während Mundo Argentino für einen Schulterschluss mit den ArbeiterInnen eintrat, gab es innerhalb der journalistischen Branche kritische Stimmen, die ihre soziale Stellung und ihre Arbeit von derjenigen der Arbeiterschaft differenziert sehen wollten. Als 1919 die Gewerkschaft Sindicato de Periodistas y Afines gegründet und das Ziel der ökonomischen, moralischen und intellektuellen Verbesserung mit einer Terminologie des Klassenkampfs verband, lehnte sich beispielsweise die offizielle Leitung der Tageszeitung La Prensa im Namen des ökonomischen Liberalismus gegen die sozialen Forderungen auf.132 Auch Journalisten von Caras y Caretas wehrten sich gegen eine Proletarisierung des Journalismus und betonten die sozial und moralisch herausgehobene Stellung der Journalisten. Die durchaus ähnlich ausgerichteten sozialpolitischen Forderungen der Journalisten gelte es jedoch auf andere Weise zu verteidigen: „No parece fácil, en efecto, por muchas razones, que los periodistas lleguen a identificar su situación y sus intereses económicos con los de los obreros; y por eso ha sido menester pensar en que los periodistas obtengan por otras vias condiciones tranquilizadoras para su porvenir y el de los suyos en forma de garantías de estabilidad, jubilaciones, pensiones.“133
In der Frage um die Zugehörigkeit der Journalisten zur Arbeiterklasse oder zur intellektuellen Elite des Landes zeigte sich die Suche jener bedeutender werdenden Akteure des öffentlichen Lebens nach Identität und Selbstverständnis zwischen zunehmender Prekarisierung und sozialem Aufstieg. Erst im Peronismus
132 Mannocchi, Cintia M.: „Periodistas en huelga (1919). Sindicato versus principios periodísticos“, in: Question, 1, 30, 2011, S. 1-9, S. 3. Der Direktor von La Prensa, Ezequiel Paz, ging mit Entlassungen gegen die bei ihm angestellten Journalisten vor, die sich der Gewerkschaft angeschlossen hatten. 133 „La semana al día“, in: Caras y Caretas, 23, 1141, 14.08.1920, S. 58.
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sollte sich ein breiteres Bekenntnis der Journalisten zur Arbeiterklasse etablieren.134
J OURNALISTISCHE P RAKTIKEN Der Beruf des Reporters kennzeichnete sich insbesondere durch soziale Interaktionen im urbanen Raum. Das hauptsächliche Arbeitsumfeld der argentinischen Magazinreporter war Buenos Aires, nicht zuletzt da dort die meisten Presseorgane angesiedelt waren. In der Hauptstadt waren auch die stärksten sozialen und politischen Transformationen zu verzeichnen: Monatlich trafen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts mehrere Tausend Menschen mit dem Schiff aus Übersee oder über Land aus den Provinzen ein, um sich ein neues Leben aufzubauen; die Stadtteile veränderten sich rasant; Prachtbauten und Elendsviertel schossen gleichermaßen aus dem Boden; die Fabriken und Straßen wurden zu Austragungsstätten von politischen Konflikten. Die urbane Umwelt lieferte ausreichend Themen und Material für sozialkritische oder unterhaltungsorientierte Pressebeiträge. Das praktische Vorgehen der Reporter konnte unterschiedlicher Natur sein. Im Folgenden sollen einige strategische Momente in der Praxis der Journalisten nachgezeichnet und in ihrem Charakter als Interventionen und als Subjektivierungsangebote besprochen werden. Als erstes Moment soll der explorative Charakter der Reportagen bezeichnet werden. Reporter und Fotografen unternahmen Streifzüge und Expeditionen in Bereiche der Metropole, die aufgrund ihres ständigen Wachstums und der in ihr stattfindenden Transformationen für die LeserInnen selbst nicht in ihrer Gesamtheit erfassbar waren. Virtuell luden sie ihre Leserschaft zu Erkundungstouren in die „territorios desconocidos“ ein und ersparten ihr dabei gleichzeitig das Risiko und die Unannehmlichkeiten eines tatsächlichen Kontakts.135 Das erstmalige Erscheinen der Reihe „Buenos Aires arrabalesco“ beschrieb das Unternehmen der Reporter in diesem Sinne folgendermaßen: „Nos proponemos, en estas crónicas ligeras y periódicas, presentar una nota cinematográfica del Buenos Aires arrabalesco. Ellas serán á la manera de un desfile animado y fugitivo del suburbio con su ambiente, su color, sus tipos y sus particularidades genuinos,
134 Zur Entwicklung der Presse im Peronismus siehe: Cane, James: The Fourth Enemy. Journalism and Power in the Making of Peronist Argentina, 1930-1955, University Park: The Pennsylvania State Univ. Press 2012. 135 Rogers, Caras y Caretas, 2008, S. 171.
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curiosos unas veces, exóticos otras, ya alegres, ya tristes, pero siempre pintorescos, siempre interesantes.“136
In der Fotostrecke „Nueva York en Buenos Aires“, die das Magazin Fray Mocho 1916 veröffentlichte, wurden nicht nur Fotos aus schwindelerregender Höhe vom 60 Meter hohen in Konstruktion befindlichen Palacio de Correos abgebildet, sondern vor allem die gefährlichen Positionen, in die sich die Fotografen für 137 diese Mission begaben (Abbildung 2.6). Die Erfassung der Stadt bis hin zu ihren extremsten, entlegensten oder gefährlichsten Winkeln wurde zur selbsternannten Mission der Magazinreporter. Verschiedene Rubriken stellten das explorative Vorgehen der Reporter in den Mittelpunkt: Die Rubrik „Films metropolitanos“ in PBT griff verschiedene Aspekte des großstädtischen Lebens auf und entwarf in einer verdichteten Beschreibung aus Sicht der Reporter Szenerien und Situationen, deren ‚filmischer‘ Charakter zugleich Realitätsnähe als auch fiktives Potenzial versprach. Im August 1912 erschien in der Rubrik eine Reportage mit dem Titel „Por aquellos barrios“, die detailliert schilderte, wie ein Reporterteam sich auf die für ihr kosmopolitisches Flair bekannte Vergnügungs- und Flaniermeile Paseo de Julio 138 unweit des Hotel de Inmigrantes in Buenos Aires begab. Der Reportage zufolge verkleideten sich die Reporter als als „gente del barrio“, um nicht nur ihre Identität als Reporter und ihr Anliegen einer journalistischen Recherche zu tarnen, sondern auch um eine angenommene soziale und kulturelle Differenz zwischen den als criollos bezeichneten Reportern und den im Straßenbild vorherrschenden MigrantInnen zu verschleiern. Die anschließende Exploration durch das Viertel funktionierte als Dokumentation über jene ‚exotischen‘ Orte, Personen und Versuchungen, die den Reportern begegneten. Ihr Vorgehen erfolgte scheinbar ziellos; flanierend bewegen sie sich von den umliegenden Straßen auf den Paseo de Julio zu, um schließlich die Etablissements, zum Beispiel Bars und ein Kuriositätenkabinett, in den Bogengängen der Straße von innen zu erkunden.139
136 Ortiz, R. I.: „Buenos Aires arrabalesco. La quema“, in: PBT, 3, 109, 15.12.1906, S. 95. 137 Vgl. „Nueva York en Buenos Aires“, in: Fray Mocho, 234, 20.10.1916. 138 Vgl. Vaccari, A.: „Films metropolitanos. Por aquellos barrios“, in: PBT, 9, 403, 17.08.1912, S. 29-32. 139 In ähnlicher Weise verfuhren auch die Reportagen in den Rubriken „Buenos Aires arrabalesco“ in PBT, „Buenos Aires desconocido“ in Vida Moderna und „Paseos fo-
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Abbildung 2.6
Quelle: Fray Mocho (1916)
Die physische Erfahrung wurde darin zur Aufgabe und gleichzeitig zur Legitimation der Journalisten, die sich mit bestimmten Orten der Stadt auseinandersetzten. Diese explorative Praxis brachte Vorstellungen von marginalisierten Zonen hervor, indem sie Grenzüberschreitungen inszenierten und von jenen ‚anderen Orten‘ aus ihre Erzählung an ein – ebenfalls in diesem Zuge imaginär konstituiertes – gesellschaftliches Zentrum richteten. Die biopolitische Strategie des Journalismus bestand hier in der Sichtbarmachung jener versteckten Bereiche und ihrer gleichzeitigen Resignifizierung als exotisch, ungeordnet oder bedrohlich. In der Rubrik „Paseos fotográficos por el municipio“, die in ihren Anfangsjahren wöchentlich in Caras y Caretas erschien, wurden die Spaziergänge eines
tográficos por el municipio“ in Caras y Caretas, ebenso wie zahlreiche Reportagen in den untersuchten Magazinen, die nicht im Rahmen einer Reihe erschienen.
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Reporters durch die Straßen von Buenos Aires in Szene gesetzt.140 Dieser hielt bemerkenswerte Vorgänge fotografisch fest, befragte PassantInnen und AnwohnerInnen und beschrieb das Gesehene auf ein bis zwei Seiten, die zusammen mit den Fotografien einen Einblick in bestimmte Gegenden der Stadt gaben. Die Reportagen vermittelten beispielsweise nachbarschaftliche Beschwerden, die als direkte Zitate eingefasst wurden, um hygienische Missstände oder andere Probleme im öffentlichen Raum anzuprangern. Die Fotografien konstatierten diese Probleme im dokumentarischen Stil und ermutigten die LeserInnen, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden. Die Reporter erschienen somit in einer Vermittlerposition zwischen problematisierten Orten und Menschen, einer besorgten bürgerlichen Gesellschaft und munizipalen beziehungsweise staatlichen Regierungsautoritäten. Die journalistische Erschließung marginaler Räume und subalterner Milieus erfolgte dabei oftmals über ein Narrativ, in dem der Reporter die Rolle eines Flaneurs einnahm, der als philosophierender Spaziergänger Impressionen aus dem metropolitanen Leben sammelte und reflektierte. Der Blick des Flaneurs war dabei sowohl durch seine privilegierte soziale Schicht als auch durch sein Geschlecht geprägt, wie Judith Walkowitz verdeutlicht: „The fact and fantasy of urban exploration had long been an informing feature of nineteenth-century bourgeois male subjectivity.“141 Wie Rolf Lindner mit Verweis auf Walter Benjamin für die MilieuReportagen der Jahrhundertwende in den USA zeigen konnte, wurde der Reporter zu einem „Jäger nach dem Authentischen“,142 der die Vielfalt und das Straßenleben der Einwanderungsgesellschaft weniger aus Reformattitüde, sondern als Faszinosum der Moderne entdecken wollte. Ähnlich bewertet auch Rogers die Repräsentation von ImmigrantInnen und ihren Stadtvierteln in Caras y Caretas als Bekenntnis zu einer kosmopolitischen Vielfalt.143 Für einen positiven Rückbezug auf die Einwanderungsgesellschaft gibt es – wie noch zu zeigen sein wird – in allen untersuchten Magazinen zahlreiche Beispiele. Gleichzeitig wurde
140 Als Verfasser der Rubrik war Sargento Pita angegeben, wobei es sich nach Einschätzung von Guillermo Ara vermutlich um ein Pseudonym von José Álvarez handelte. Vgl. Ara, Fray Mocho, 1963, S. 10. 141 Walkowitz, Judith: „Urban Spectatorship“, in: Schwartz, Vanessa R.; Przyblyski, Jeannene M. (Hg.): The Nineteenth-Century Visual Culture Reader, New York, NY: Routledge 2009, S. 205-210, S. 205 f. 142 Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 36. 143 Vgl. Rogers, Caras y Caretas, 2008, S. 212 f.
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über die Praxis der Offenlegung und Sichtbarmachung migrantisch geprägter Räume die dynamische Grenze zwischen gesellschaftlicher Zugehörigkeit auf der einen und sozialer Gefahr auf der anderen Seite durch die Presse immer wieder genau verhandelt. Migration und nationale Zugehörigkeit waren dabei nicht die einzigen Augenmerke, anhand derer die Reporter bei ihrer ‚Jagd‘ nach kleinen und großen Geschichten ihre Umgebung analysierten. Ebenso wurden Geschlecht, sozialer Status, Alter sowie die Beschaffenheit von Körper und Geistesverfassung zu Schablonen für die Interpretation gesellschaftlichen Nutzens und Schadens. Neben der Offenlegung räumlich-sozialer Milieu-Verhältnisse durch die Praxis des Flanierens und der teilnehmenden Beobachtung wurden auch individuelle Lebensgeschichten zu Betrachtungsgegenständen von Reportern. In dieser Form der Reportage wurden Einzelpersonen gezielt aufgesucht, die zuvor durch bestimmte Eigenschaften oder Handlungen auffällig geworden waren und das publizistische Interesse der Journalisten erregt hatten. In einem individuellen Porträt wurden diese Besonderheiten sowie die Gewohnheiten, die sozioökonomischen Verhältnisse, die äußere Erscheinung sowie die Meinungen, Wünsche und Hoffnungen der Personen aufgezeigt. Für die zeitgleich in der USamerikanischen Presse aufkommenden verwandten Individualporträts hat sich im angelsächsischen Sprachraum der Begriff der human interest stories eingebürgert, die Berichte über Menschen, die sich durch Unerhörtes oder Unbekanntes auszeichneten, darstellten.144 In der argentinischen Magazinpresse erlangten hingegen vor allem solche Individualporträts Verbreitung, die sich mit sozial marginalisierten Personen beschäftigten. Eine Spezialisierung der journalistischen Praxis bestand im investigativen Vorgehen der Reporter. Im Kontrast zum flanierenden Beobachter und zum aufsuchenden Reporter handelte es sich bei der investigativen Praxis um eine gezielte Recherche mit dem Ziel der Aufdeckung von Missständen, Skandalen oder Verbrechen. Die Bezeichnung ‚investigativer Journalismus‘ etablierte sich im deutschen Sprachgebrauch erst in den 1980er Jahren, als eine Reihe von politischen und wirtschaftlichen Skandalen von der Presse aufgedeckt wurden und die Öffentlichkeit erschütterten. In den USA hat das investigative reporting hingegen eine lange Tradition, die auf die spektakulären Aufdeckungskampagnen sozialer Missstände ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch die sogenannten muckraker zurückgeht und langfristig ein journalistisches Ethos geprägt hat.145
144 Vgl. Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur, 1990, S. 20. 145 Zur Geschichte des Begriffs und zur unterschiedlichen Ethik des Recherchierens in den USA und Deutschland im Vergleich siehe: Redelfs, Manfred: „Recherche mit
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Auch in Deutschland, den Niederlanden und Russland begannen Reporter Anfang des 20. Jahrhunderts, an die Orte des Geschehens zu reisen und eigene kritische Recherchen anzustellen.146 Die Praxis des Recherchierens vor Ort wurde auch im argentinischen Zeitungs- und Magazinjournalismus zu einer Interventionsstrategie, die durch die starke Betonung auf die Methoden des Nachforschens, Interviewens und des Dokumentierens zu einem Leitliniengeber des neuen Journalismus wurde und unmittelbare politische Konsequenzen nach sich ziehen konnte, wie das folgende Beispiel verdeutlicht. Zu einem breit diskutierten und schließlich vor Gericht verhandelten Fall wurden die Recherchen von Juan José Soiza Reilly, der in der Revista Popular die erbärmlichen Zustände in der von der Wohltätigkeitsorganisation Sociedad de Beneficencia betriebenen psychiatrischen Verwahrungsanstalt für Frauen in Buenos Aires anprangerte.147 Wie seine Reportage von August 1918 wiedergibt, wollte er den Aussagen eines dort tätigen Arztes nachgehen und begab sich so als Besucher in die Anstalt, um sich die Verhältnisse mit eigenen Augen anzusehen. Was sich ihm darbot, beschrieb er als „vergüenza nacional“: Die Patientinnen müssten zu großen Teilen dicht gedrängt auf dem Boden schlafen und unter mangelhaften hygienischen Bedingungen und unzureichender Versorgung mit Lebensmitteln leiden. Der Fall einer zuvor verstorbenen Patientin, deren Leiche nach Aussagen des Ehemannes nicht nur Parasiten und Bisswunden, sondern auch – so deutet der Autor es indirekt an – Spuren von sexuellem Missbrauch trug, zeige die unmittelbare Notwendigkeit einer Intervention. Die Kritik richtete sich konkret gegen die Leitung der Psychiatrie; die politische Forderung lag darüber hinaus in der Überantwortung der von der aristokratisch geprägten Sociedad de Beneficencia geführten Fürsorgeinstitutionen in die Hände des Staates. Die Sociedad de Beneficencia reagierte auf die Vorwürfe, die außerdem in der Tageszeitung La Prensa publiziert worden waren, mit der Einsetzung einer Untersuchungskommission, während der Direktor der Anstalt, José A. Esteves, Anzeige wegen Verleumdung gegen Soiza Reilly erstattete. Infolgedessen erweiterte die Revista Popular ihre Forderung zu einer „honrosa campaña“ gegen die
Hindernissen. Investigativer Journalismus in Deutschland und den USA“, in: Langenbucher, Wolfgang Rudolf (Hg.): Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. Die demokratischen Funktionen eines Grundrechts, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 2003, S. 208-238. 146 Vgl. Bösch, Mediengeschichte, 2011, S. 115. 147 Vgl. Soiza Reilly, Juan José: „Muerte misteriosa de una señora. Los dramas secretos del asilo de alienadas“, in: Revista Popular, 2, 29, 05.08.1918, S. 244.
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Institution, ihren Direktor und das bestehende psychiatrische System.148 Im Zuge dessen legte Soiza Reilly nach weiteren Recherchen die Jahresbilanzen der Sociedad de Beneficencia offen und prangerte die dort verzeichneten Ausgaben der Fürsorgeinstitution an, die für ihre eigenen Treffen und Feiern, ihre Automobile und Konsumwaren einen unverhältnismäßig hohen Anteil im Vergleich zu den notwendigen Investitionen für Bedürftige und Kranke in den insgesamt sechs von ihnen verwalteten Kliniken ausgaben.149 Verglichen mit der staatlichen Einrichtung der Asistencia Pública wurde damit die privat geleitete Fürsorgeorganisation als für das nationale Wohlergehen unzuträgliche, für die arme Bevölkerung schädliche und für die wissenschaftliche Forschung und Ausbildung inkompatible Einrichtung kritisiert. Im Mai 1919 fand das Gerichtsverfahren wegen Verleumdung statt, in dem der Angeklagte Soiza Reilly von einem der bekanntesten Anwälte und Kriminologen seiner Zeit, Eusebio Gómez, vertreten wurde. Soiza Reilly wurde freigesprochen und die Gerichtskosten dem Kläger José A. Esteves auferlegt. 150 Die Revista Popular feierte den Gerichtsentscheid als „brillante pieza llena de alta justicia y sólida doctrina, estableciendo que las denuncias de los periodistas no pueden considerarse calumniosas“.151 An diesem Beispiel zeigt sich, wie sich das Selbstverständnis der Zeitschrift als kritische Stimme und gesellschaftliches Korrektiv über die investigative Praxis ausprägte. Nicht alle investigativen Artikel galten jedoch der Anprangerung von Institutionen oder Autoritäten. In solchen Reportagen, die Kriminalfälle
148 „Los dramas secretos del Asilo de Alienadas. Intervención de la justicia del crimen. La honrosa campaña de ‚Revista Popular‘“, in: Revista Popular, 2, 30, 19.08.18, S.26. Weitere Aufdeckungen betrafen den als menschenunwürdig beschriebenen Leichentransport und die Art der Bestattung im von der Sociedad de Beneficencia betriebenen Kinderkrankenhaus, in der Frauenpsychiatrie, dem Waisenheim und den anderen Krankenhäusern. Vgl. „Los abusos de la Sociedad de Beneficencia. Cómo se entierra a los niños y a los locos“, in: Revista Popular, 2, 47, 14.4.1919, S. 37. 149 Vgl. Soiza Reilly, Juan José: „Los misterios de la Sociedad de Beneficencia. El dinero de los pobres“, in: Revista Popular, 2, 31, 02.09.1918, S. 28. 150 Die Verschränkung von sensationellen Meldungen und stichhaltiger Recherche prägte auch die Vorgehensweise der US-amerikanischen muckraker, von denen David Chalmers zufolge trotz zahlreicher Anzeigen und Gerichtsverfahren niemals jemand wegen unwahrheitsgemäßer Berichterstattung verurteilt wurde. Vgl. Chalmers, The Social and Political Ideas, 1970, S. 14. 151 „Triunfo de ‚Revista Popular‘ en el asunto del asilo de alienadas. Condena del Dr. Esteves, acusador de Soiza Reilly“, in: Revista Popular, 3, 50, 26.5.1919, S. 48.
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thematisierten (crónicas policiales), ahmten die Reporter oftmals polizeiliche Recherchemethoden nach und kooperierten mit der Institution, um deren Beweise und Resultate zu veröffentlichen. Lila Caimari bezeichnet die Reporter des Verbrechens auch als „criminólogos free-lance“,152 die eigenhändig ZeugInnen befragten, die Geschehnisse rekonstruierten und neben dem unmittelbaren Tathergang das soziale Umfeld der TäterInnen untersuchten. Explorative und investigative Praktiken setzten ein empirisches Vorgehen voraus, das – wie auch das zufällige Flanieren – an der Entdeckung und Erforschung der sozialen Realität interessiert war. Die Darstellung der eigenen Involvierung vor Ort und der sozialen Interaktion mit dem Umfeld generierten eine hohe Glaubwürdigkeit der Reporter. Die umfangreiche Verwendung von Fotografien und wissenschaftlichen Referenzen trugen zur Authentifizierung des journalistischen Narrativs entscheidend bei. Magazine dienten auch als Ratgeberlektüre mit praktischer Anwendbarkeit für ihre LeserInnen. Insbesondere im Bereich Gesundheit informierten die Zeitschriften über das richtige Verhalten in Fragen von Ernährung und Hygiene; weiterhin war die Kindeserziehung ein wichtiger Bereich der Ratgebersparten. Die Rubrik „Para los niños y los grandes“, welche seit 1918 Jahren in Fray Mocho veröffentlicht wurde, gab etwa Ratschläge zur Wichtigkeit von Luft und Licht im Wohnraum,153 warnte vor dem schädlichen Konsum von Alkohol und Tabak 154 und empfahl Hygienemaßnahmen zur Bekämpfung der „invisibles enemigos“,155 also den der moderne Hygiene Sorgen bereitenden Bakterien. Ab 1923 veröffentlicht auch Crítica eine regelmäßige Sektion mit dem Titel „Vulgarización científica: Medicina infantil“, in der Dr. Pou medizinische Ratschläge an Mütter zur Versorgung von Kinderkrankheiten und zur Prävention tödlicher Infektionskrankheiten wie der Tuberkulose gab.156 Die Ratschläge und Anweisungen zielten auf die Eigenverantwortung ihrer LeserInnen, die sich und andere
152 Caimari, Apenas un delincuente, 2004, S. 173. 153 Vgl. „Para los niños y los grandes. La casa en que vivimos y la salud“, in: Fray Mocho, 9, 301, 31.01.1918, S. 4. 154 Vgl. „Para los niños y los grandes. Un terrible enemigo de la humanidad. El alcool“, in: Fray Mocho, 9, 303, 14.02.1918, S. 22 f.; „Para los niños y los grandes. ¿No crees que el tabaco es un veneno? Lee“, in: Fray Mocho, 9, 305, 28.02.1918, S. 8. 155 Vgl. Pizzurno, Pablo A.: „Para los niños y los grandes. Los invisibles enemigos de la salud“, in: Fray Mocho, 9, 306, 07.03.1918, S. 24. 156 Zu den öffentlichen Kampagnen gegen die Tuberkulose, die 1935 ihren Höhepunkt nahmen, siehe: Armus, Diego: La ciudad impura. Salud, tuberculosis y cultura en Buenos Aires, 1870-1950, Buenos Aires: Edhasa 2007, S. 290-292.
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insbesondere durch präventive Maßnahmen schützen sollten. In Fragen der Körperpflege und -beherrschung handelte es sich um eine Strategie der bürgerlichen Subjektivierung zum ‚homo hygienicus‘, der für seinen Körper und seine Gesundheit selbst Verantwortung trägt.157 Die Ratgeberfunktion der Magazinpresse stand damit ganz im Zeichen einer Gouvernementalisierung, die die LeserInnen an ihre eigenverantwortliche Selbstführung erinnerte. Über ihre Ratgeberfunktion hinaus engagierten sich Magazine und Zeitungen in einzelnen Fällen auch in direkter Weise in der Bekämpfung von sozialen Missständen. Aus einer Kritik an Defiziten der privaten oder staatlichen Fürsorge und sozialen Versorgung heraus unternahmen sie Kampagnen und soziale Interventionen, insbesondere im Bereich der Armutsbekämpfung. Das Selbstverständnis verschiedener Presseorgane beruhte damit nicht mehr allein auf ihrer Funktion von Kritik und Appell, sondern berief sich zunehmend auch auf eine Selbstwahrnehmung als sozialem Akteur, der aktiv in die Verhältnisse eingreift. Besonders typisch und häufig waren Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten von Bedürftigen und insbesondere armen Kindern, welche von einzelnen Presseorganen organisiert wurden, beispielsweise die Verteilung von Geschenken an Kinder zum Feiertag der Heiligen Drei Könige. Im Zuge der sich verschlechternden Versorgungslage durch den Eintritt des Ersten Weltkriegs und der hohen Abhängigkeit Argentiniens von europäischen Importgütern verdichteten sich auch die alarmierenden Berichte über Armut und Hunger insbesondere von Teilen der städtischen Bevölkerung in Argentinien. Caras y Caretas und Fray Mocho finanzierten infolgedessen karitative Projekte zur Essensausgabe für Bedürftige, sogenannte ollas populares, und berichteten zugleich darüber. Fray Mocho beschrieb eindringlich Szenen von Not und Hunger leidenden Menschen und zeigte als EmpfängerInnen vornehmlich hilfsbedürftige und unschuldige Kinder oder alte Menschen.158 In einer abschließenden Absichtsbekundung gab Fray Mocho darüber hinaus die ordnungspolitische Notwendigkeit für ein karitatives Eingreifen bekannt: „Y la pobre gente sin trabajo, se ve bajo los rigores del frío y del hambre. Es esto una amenaza hasta para los pudientes. La miseria fué siempre una escuela de vicio y de de-
157 Vgl. Labisch, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt am Main, New York: Campus 1992, S. 132. 158 Vgl. „La miseria en Buenos Aires. La olla de ‚Fray Mocho‘“, in: Fray Mocho, 3, 124, 11.09.1914, S. 3 f.
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lincuencia a la que debemos oponernos de la única manera eficaz, socorriendo a los menesterosos.“159
Der soziale Sicherungsgedanke galt hier, so zeigt es der Artikel unmissverständlich, insbesondere dem Schutz der besitzenden Schichten vor dem Unmut und der drohenden Kriminalisierung der Unterschichten. Das soziale Engagement erfolgte aus einer hierarchisch positionierten, ordnungspolitischen Vorstellung der sozialen Unterstützung, mittels derer die herrschenden Besitzverhältnisse geschützt werden sollten. Crítica rühmte sich vor allem seit den 1920er Jahren verschiedener sozialer Initiativen und begründete diese hingegen in einer solidarischen Rhetorik. 1923 wurde eine medizinische Beratungsstelle im Redaktionsgebäude der Zeitung eingerichtet, die einen kostenfreien Zugang zu medizinischer Erstversorgung für bedürftige BewohnerInnen von Buenos Aires ermöglichen sollte. In der Vorankündigung argumentierte die Redaktion mit der Schuld gegenüber der städtischen Öffentlichkeit, derer sie ihre Existenz als Massenzeitung verdanke: „Ese apoyo del pueblo porteño con el que en verdad contamos, nos pone en situación de demostrar prácticamente, en cuantas ocasiones nos sea posible, que correspondemos al afecto con afecto, y que no olvidamos cuánto le debemos. A ese sentimiento responden las continuas innovaciones periodísticas que en Crítica se realizan, con el fin de ofrecer al público un diario que constantemente se está superando a sí mismo, y también las iniciativas de otro orden con que queremos beneficiar, no ya únicamente a nuestros lectores, sino a todos los que de ella puedan tener necesidad. Así, la creación de un Consultorio Médico Gratuito, instalado ya en el piso tercero de nuestro edificio, Sarmiento 1546, que desde mañana abrirá sus puertas al público.“160
Crítica entwickelte sich mit solchen Maßnahmen in den 1920er Jahren zunehmend zu einer sozialpolitischen Akteurin, die nicht nur für einen Ausbau staatlicher Sozialleistungen eintrat, sondern in öffentlichen Anliegen der Gesundheitsvorsorge und der Armenfürsorge Verantwortung als öffentliche Institution und als Vermittlerin zwischen Bevölkerung und Politik demonstrierte.161
159 Ebd., S. 4. 160 „Mañana será inaugurado el consultorio médico“, in: Crítica, 01.06.1923. Zitiert in: Saítta, Regueros de tinta, 1998, S. 129. 161 Der Consultorio Médico Gratuito wurde in der Folgezeit weiter ausgebaut und diente 1926 bereits der Behandlung von über 8000 PatientInnen. Vgl. Saítta, Regueros de tinta, 1998, S. 129.
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Die Magazinpresse verdichtete somit nicht nur verschiedene Diskurse der Moderne, etwa zu Delinquenz, Hygiene, Pädagogik, Rassismus, Sozialstaatlichkeit oder Demokratie. Vielmehr verkörperten sie auch die verschiedenen Akteure, wie die Polizei, den Forscher, den bürgerlichen Flaneur, aber auch den Einwanderer, den Bettler oder andere Subalterne. Dieses Ensemble von Diskursverdichtung, Visualisierungstechniken und polymorphen Verkörperungen stellte ein Kaleidoskop der sich im Übergang befindlichen, äußerst umkämpften gesellschaftlichen Verhältnisse dar. Die nun folgenden Analysen sollen diese verwirrende Vielgestaltigkeit sortieren und ihre historische Relevanz für die Herausbildung der modernen argentinischen Nation deutlich machen.
Die Erforschung der städtischen Ränder
Das Terrain, auf dem sich die neuen Reporter und Fotografen der argentinischen Magazinpresse auf der Suche nach Material für ihre Sozialreportagen bewegten, war primär die Großstadt mit ihren verschiedenen Vierteln, Vergnügungsmeilen, ihrem Straßenleben, verrufenen Orten, öffentlichen Plätzen und den Wohnräumen und Arbeitsplätzen der Stadtbevölkerung. Diese vielschichtigen urbanen Räume boten den Journalisten schier unendliche Blickwinkel auf das städtische Leben, das sie zu erfassen und zu repräsentieren suchten. Da der Großteil der argentinischen Printmedien und Verlage in Buenos Aires angesiedelt war, lag die dominierende Beschäftigung mit der Hauptstadt bereits schon aus praktischen Gründen nahe.1 Buenos Aires stand zudem als Sinnbild der modernen Stadt und als Projektionsfläche urbaner Zukunftsvisionen im Fokus – nicht nur im argentinischen, sondern im gesamten lateinamerikanischen Kontext.2 Die Repräsentation des städtischen Raums geschah über die Einteilung in Zonen der Marginalität und des Zentrums, der Moderne und der Rückständigkeit, des Privaten und des Öffentlichen. Die räumliche Erfassung der Stadt und ihrer inneren Schichten, Enklaven, Ränder und Grenzen war Teil der bio-
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Neben Buenos Aires waren, bedingt durch die geringe geografische Distanz, vor allem Rosario und die auf der anderen Seite des Río de la Plata gelegene uruguayische Hauptstadt Montevideo, ferner etwa auch Córdoba, Mendoza und Tucumán Ziele von Reportern, die das städtische Leben im Hinblick auf seine sozialen Problematiken ins Visier nehmen wollten. Europäische und US-amerikanische Großstädte waren ebenfalls Gegenstand zahlreicher Reportagen und dienten oftmals dem Vergleich mit den nationalen Verhältnissen.
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Margarita Gutman unternimmt eine kultur- und mediengeschichtliche Betrachtung der Vorstellungen zu Buenos Aires als „ciudad del porvenir“, die zur Zeit des Centenario kursierten. Vgl. Gutman, Margarita: „Espejos en el tiempo. Imágenes del futuro“, in: Dies. & Reese, Buenos Aires 1910, 1999, S. 31-38.
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politischen Repräsentationsstrategien und journalistischen Praktiken, die sich der Erforschung urbaner Milieus widmeten. Damit wurde die Stadt – so formuliert es Geraldine Rogers – „inseparable del orden simbólico construido por su prensa“.3 Der Versuch einer möglichst detaillierten Erfassung der als chaotisch empfundenen Großstadt und ihren sozial und geografisch marginalen Gebieten diente anders gesagt der Entschlüsselung in einen „social text that was integrated, knowable and ordered“.4 Spätestens mit dem spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften wurde Raum zu einem relationalen Begriff und einer kritischen Analysekategorie.5 Das Augenmerk liegt dabei auf der sozialen Produktion von Raum als einem komplexen gesellschaftlichen Prozess, einer spezifischen Verortung kultureller Praktiken und einer Dynamik sozialer Beziehungen.6 Die Interventionen und Repräsentationen der Presse trugen in diesem Sinne zur Erschaffung einer imaginären Vorstellung und eines Ordnungsmusters des städtischen Raums bei. Dieser Prozess ist auch als cognitive mapping bezeichnet worden: Erst über die Repräsentationen ihrer Fragmente und der Zusammensetzung zu sozialtopografischen Zusammenhängen fügte sich eine mentale Karte des (Stadt-)Raums Bue-
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Rogers, Caras y Carestas, 2004, S. 29. Zur Idee der symbiotischen Verbindung von Großstadt und Presse siehe auch: Barth, Gunter Paul: City People. The Rise of Modern City Culture in Nineteenth-Century America, New York, Oxford: Oxford Univ. Press 1980. Siehe weiterhin: Fritzsche, Peter: Als Berlin zur Weltstadt wurde. Presse, Leser und die Inszenierung des Lebens, Berlin: Osburg 2008.
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Walkowitz, Urban Spectatorship, 2009, S. 207.
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Zur historiografischen Einordnung des spatial turn siehe: Bachmann-Medick, Cultural Turns, 2006, S. 284-329, S. 289. Zum interdisziplinären Charakter des Raumkonzepts siehe: Crouch, David; Nieuwenhuis, Marijn (Hg.): The Question of Space: Interrogating the Spatial Turn Between Disciplines, London: Rowman and Littlefield International 2017; Rau, Susanne: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt am Main, New York: Campus 2013. Siehe auch: Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Im Kontext der postkolonialen Raumkonzeptionen siehe: Soja, Edward W.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London: Verso 2011; Ders.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places, Cambridge, Mass: Blackwell 1996.
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Die begriffliche Unterscheidung von Raum und Ort wird hier analog zu space und place in den englischsprachigen Theorien verwendet. Während der Ort konkrete, lokalisierbare Bereiche meint, werden Räume durch soziale Handlungen, Deutungen und Normen hervorgebracht, die mit bestimmten Orten verbunden sein können.
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Der Begriff des cognitive mapping geht auf den marxistischen Theoretiker und Litera-
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nos Aires zusammen, die mehr Sinn machte und Wissen erzeugte als die ‚exakten‘ Vermessungen und Kartierungen der Stadt.7 In den Reportagen über die verborgenen, verstreuten und geheimnisvollen ‚anderen Orte‘ wurde die moderne Großstadt für die Leserschaft intelligibel. Im Folgenden wird analysiert, wie sich ein Diskurs über die sozialen Ränder der Stadt in den Pressedarstellungen herausgebildet hat, der nicht nur für die Konstituierung eines soziotopografischen Wissens der Stadt, sondern auch der Nation bedeutungstragend wurde. Der Vorstellung einer Nation als imagined community ging die Vorstellung der Stadt und ihrer imaginären Bevölkerung voraus, die sich aus der diskursiven Verknüpfung ihrer disparaten Ränder zusammensetzte. Dieses Kapitel beschäftigt sich demnach nicht, um das Vokabular von Henri Lefebvre zu benutzen, mit den „spaces of representation“ im Sinne der tatsächlichen, physischen Räume der Stadt, die Schauplätze bestimmter Entwicklungen und Handlungen waren. Es untersucht vielmehr die „representation of space“ im Sinne einer sozialen Konstruktion und Perzeption von Raum im Feld von Machtverhältnissen und sozialen Bedeutungen.8
K ONTAKTZONE U FER Buenos Aires ist eine Stadt, von der man sagt, sie wende dem Wasser den Rücken zu.9 Dieses Sprichwort ist bezeichnend dafür, dass die Flussufer des Riachuelo und des Río de la Plata, welche die städtischen Grenzen nach Süden und Osten darstellen, aus der öffentlichen Wahrnehmung des Stadtbilds weitgehend ausgeschlossen sind. Eine historische und medienanalytische Betrachtung dieser Uferräume zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild. So waren die Uferzonen von Buenos Aires im 20. Jahrhundert immer wieder im Mittelpunkt von Aushandlungsprozessen über gesellschaftlichen Nutzen und Schaden, über Modernität und Rückständigkeit sowie über die Bedeutung von öffentlichem Raum in
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Der Begriff des cognitive mapping geht auf den marxistischen Theoretiker und Literaturkritiker Fredric Jameson zurück. Vgl. Jameson, Fredric: „Cognitive Mapping“, in: Nelson, Cary; Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana: Univ. of Illinois Press 1988, S. 247-257.
8
Vgl. Lefebvre, Henri: The Production of Space, Malden, Mass: Blackwell 2011. Lefebvre spricht in Bezug auf Machtverhältnisse von Ideologie und Hegemonie, die nicht denkbar sind ohne einen Raum, der sie ermöglicht und der durch sie ermöglicht wird.
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Zur Verwendung dieser Redensart vgl. beispielsweise folgenden Meinungsbeitrag: Editorial: „Una ciudad de espaldas al Río“, in: El Clarín, 19.01.2009.
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städtebaulicher sowie in sozialer Hinsicht.10 Zu diesen contested spaces11 gehörten die Flüsse Río de la Plata und Riachuelo, ebenso wie kleinere Flussläufe im Stadtgebiet von Buenos Aires. Das Uferareal von Buenos Aires ist, so die Stadthistorikerin Alicia Novick, „un espacio que resume [...] la historia de la ciudad“.12 In der Phase der massiven Urbanisierung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erlangten die Uferzonen von Buenos Aires erstmals größere Bedeutung im Sinne einer primär an Modernisierung interessierten, aber auch sozial orientierten Stadtplanung. In der Magazinpresse, ihrerseits eingebettet in Modernisierungsdiskurse, wurde eingehend über die Bauprojekte ebenso wie über die subalterne Besiedlung und Nutzung der Uferareale berichtet. Bauprojekte am Río de la Plata Die urbanistische Erschließung des Ufers des Río de la Plata innerhalb von Buenos Aires liest sich als Geschichte einer immer breiter und größer werdenden materiellen Barriere zwischen der Stadt und ihrer Küste. Die infrastrukturellen Großprojekte des 20. Jahrhunderts verschlossen buchstäblich die Sicht auf die Küste und machten sie für die StadtbewohnerInnen mehr und mehr unzugänglich. An der südlichen Küstenlinie wurde in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum 1897 der Binnenhafen Puerto Madero fertiggestellt, der nach weniger als zehn Jahren Betriebszeit nicht mehr auf die Dimensionen der zunehmend schwereren und tiefer gelegenen Frachtschiffe abgestimmt war. Bereits 1902 erschien eine bebilderte Reportage im Suplemento de La Nación, welche die Geschichte des Hafens von Buenos Aires seit der Stadtgründung als eine Geschichte des Fortschritts schilderte, der sich über die Verbindung zu Europa und dem Anschluss zum Welthandel konstituierte. Puerto Madero habe in dieser Entwicklung einen wahren Modernisierungsschub bedeutet, der die Konkurrenzfähigkeit
10 Für einen Überblick zu den städtebaulichen Initiativen und damit einhergehenden Konfliktlinien zur Küstenbebauung von Buenos Aires im 20. Jahrhundert siehe: Martire, Agustina: „Waterfront Retrieved. Buenos Aires’ Contrasting Leisure Experience“, in: Maciocco, Giovanni; Serreli, Silvia (Hg.): Enhancing the City. New Perspectives for Tourism and Leisure, Dordrecht, New York: Springer 2009, S. 245274. 11 Zur Bedeutung der contested spaces in Lateinamerika siehe: Jones, Gareth A.: „The Latin American City as Contested Space: A Manifesto“, in: Bulletin of Latin American Research, 13, 1, 1994, S. 1-12. 12 Novick, Alicia: „El espejo y la memoria. Un siglo de proyectos para la Costanera de Buenos Aires“, in: Seminario de Crítica, 116, 2001, S. 11.
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mit Montevideo ermöglicht habe. Weltweit gesehen sei er aber in Bezug auf Größe und Kapazitäten auf Rang 87 im globalen Vergleich und den großen Frachtern der Handelsmächte nicht mehr gewachsen, so dass die Anlage eines maritimen Tiefseehafens dringend notwendig geworden sei.13 Infolge dieses Modernisierungsdefizits wurden etwas nördlicher durch Landaufschüttung mehrere Straßenblocks hinzugewonnen, um zwischen 1911 und 1928 den seinerzeit größten Hafen der südlichen Hemisphäre, Puerto Nuevo, zu bauen. Zuvor hatte hier der Paseo de Julio, eine mit Alleen bestandene Promenade am Ufer des Río de la Plata, zum Spazieren und Flanieren eingeladen.14 Begleitet von Eisenbahnlinien und Bahnhöfen, industriellen Anlagen sowie Gasund Elektrizitätswerken war damit bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein großer Teil des Ufergebiets zugebaut.15 Die Uferzonen im Mündungsgebiet des Riachuelo waren hingegen vor allem industriell geprägt: Während seit dem frühen 19. Jahrhundert die saladeros (Pökelhäuser) und Schlachthöfe hier angesiedelt waren und den Fluss zur Ableitung ihrer Abfälle benutzten, waren es seit den 1870er Jahren zunehmend die frigoríficos (Kühlhäuser) der fleischverarbeitenden Industrie, sowie mittlere und kleinere Fabri-
13 Vgl. „El puerto de Buenos Aires“, in: Suplemento de La Nación, 1, 16, 18.12.1902, S. 19. 14 Die Uferpromenade trug zu Kolonialzeiten den Namen Paseo de Alameda und wurde 1848 in Paseo de Julio umbenannt. Wenige Jahre darauf wurde sie zu einem breiten Boulevard erweitert. 1919 wurde die mittlerweile aufgrund von Landaufschüttung und Hafenanlage innenstädtische Straße nach dem Begründer des Partido Radical Leandro Nicéforo Além in Avenida Além umbenannt. Zur Geschichte der Häfen vgl. Silvestri, Graciela: „La ciudad y el río. Un estudio de relaciones entre técnica y naturaleza a través del caso del puerto de Buenos Aires“, in: Liernur & Silvestri, El umbral de la metrópolis, 1993; Rocca, Edgardo Jose: El puerto de Buenos Aires en la historia II, Buenos Aires: Dunken 2005. 15 In den 1970er Jahren wurden unter der argentinischen Militärregierung weitere Küstenbebauungen durchgesetzt: Im nördlichen Küstenbereich des Río de la Plata wurden Landaufschüttungen zur weiteren Anlage von öffentlichen Parks durchgeführt, die letztlich aber für den Stadtflughafen Aeroparque Jorge Newberry genutzt wurden. An der Costanera Sur wurde mit dem Bauschutt der für die zeitgleich angelegte Stadtautobahn enteigneten und abgerissenen Gebäude ebenfalls eine Landaufschüttung vollführt, um ein neues Verwaltungszentrum zu schaffen. Das Projekt wurde suspendiert, woraufhin sich auf der Landzunge eine artenreiche Vegetation ausbreitete und das Areal 1986 zum Parque Natural y Zona de Reserva Ecológica Costanera Sur erklärt wurde. Vgl. Martire, Waterfront Retrieved, 2009, S. 265 f.
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ken, darunter vor allem der Metallindustrie, welche sich am Riachuelo ansiedelten und seine Kanalisierung erforderten.16 Heterotopische Ufer Mit den modernen Infrastrukturprojekten koexistierten zu Beginn des Jahrhunderts unbebaute und unregulierte Ufergebiete, die von subalternen Bevölkerungsteilen bewohnt und genutzt wurden. Entgegen der Vorstellung von brach liegenden und bis dato nutzlosen Gebieten, wie sie auch die historische Stadtforschung oftmals annimmt, handelte es sich bei den Uferzonen der Hauptstadt durchaus um belebte und umkämpfte Räume.17 Hier befanden sich improvisierte Hütten aus Holz, Blech oder Industriematerialien, die als informelle und oftmals abgeschiedene Wohnräume konstruiert wurden; außerdem dienten diese Gebiete als Aufenthalts- und Versorgungsorte für verschiedene subalterne Gruppen. Die Unsichtbarkeit solcher Orte in Stadtplänen und Statistiken, ebenso wie ihr Charakter des Nomadischen, des Irregulären und Chaotischen wird mit dem Begriff der „ciudad efímera“, den Jorge Liernur geprägt hat, treffend wiedergegeben.18
16 1868 wurde ein erster Gesetzesentwurf zur Reformierung der saladeros verabschiedet, der im Namen der higiene pública die Gefahren durch die Krankheitsverbreitung über die entsorgten Tierleichen Rechnung tragen sollte. Das gesetzliche Vorgehen war aber nur eingeschränkt von Erfolg gekrönt, ebenso stellten die nachfolgenden Kühlhäuser oft kein geringeres Gesundheitsrisiko dar als ihre Vorgänger. Vgl. dazu: Silvestri, Graciela: El color del río. Historia cultural del paisaje del Riachuelo, Buenos Aires: Universidad Nacional de Quilmes 2003, S. 155-173. Die Verschmutzung des Flusses und das damit zusammenhängende Image der Gegend sind bis heute negativ. So nannte die Umweltstiftung WWF den Riachuelo 2011 bei der Internationalen Wasserwoche in Stockholm eine „öffentliche Kloake“ und stellte ihn als abschreckendes Beispiel vor. Vgl. Burghardt, Peter: „Der wohl dreckigste Fluss der Welt“, in: Süddeutsche Zeitung, 06.12.2011. 17 Die Annahme, dass es sich um „barren land“ gehandelt habe, an dem bis dato keine Interessen bestanden hätten, teilt Martire, Waterfront Retrieved, 2009, S. 260. 18 Vgl. Liernur, Jorge Francisco: „La ciudad efímera“, in: Ders.; Silvestri, Graciela (Hg.): El umbral de la metrópolis. Transformaciones técnicas y cultura en la modernización de Buenos Aires (1870-1930), Buenos Aires: Editorial Sudamericana 1993, S. 177-222. Der Begriff der ciudad efímera, der wörtlich ‚flüchtige Stadt‘ bedeutet, bezieht sich auf solche Orte des Stadtgebiets, an denen insbesondere die ärmere Bevölkerung oft nur vorübergehende und informelle Siedlungen errichtete oder die sie auf andere Weise nutzte. Liernur setzt sich mit der Problematik auseinander, dass das ‚ephimere‘ Buenos Aires historiografisch nicht tradiert wurde und in den meisten
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Diese ‚flüchtigen‘ urbanen Räume wurden in der Magazinpresse als prekäre Zonen mit hygienischen Problemen und sozialen Gefahren diskursiviert und damit in die mental map der Großstadt aufgenommen. Diese Zonen können als heterotopische Orte beschrieben werden, die – mit Foucault gesprochen – als reale „Widerlager“ in den Nischen und Zwischenräumen moderner Ordnungen existierten und in denen andere, nicht-repräsentierbare Logiken des Zusammenlebens herrschten.19 Jenseits der Docks von Puerto Madero an der südlichen Küstenlinie des Río de la Plata befand sich eine Gegend, die als El Bajo bezeichnet wurde und deren informelle Besiedlung und Nutzung seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der Magazinreporter auf sich zog. Der Ort wurde ganzjährig von FischerInnen bewohnt und diente im Sommer gleichzeitig als Badestrand der ärmeren Bevölkerung. Bereits während der Kolonialzeit und darüber hinaus war der Küstenstreifen von SklavInnen zum Wäschewaschen im Fluss genutzt worden. Diese Tätigkeit war mit einer relativen Freiheit verbunden, da sie weitestgehend unbeaufsichtigt blieb und sich die SklavInnen eigene Zuverdienste verschaffen konnten, die nicht selten für ihren Freikauf oder den eines Familienmitglieds verwendet wurden.20 Diese frühere Nutzung des Flusses erklärte das Suplemento de La Nación zu einem „espectáculo indigno de una capital como la nuestra“, das dank der Modernisierungsbemühungen der Stadtverwaltung verboten worden und der Einrichtung moderner Waschküchen gewichen war. Weiterhin hieß es: „Qué lejos estamos de aquellos tiempos que las lavanderas se habían posesionado de aquella parte del río que da al Paseo Colón, para lavar las ropas de los habitantes del municipio; el progreso con ímpetu avasallador los desalojó del bajo, donde desde los tiempos coloniales habían estado á orearse las prendas de todos los porteños.“21
Quellen unsichtbar bleibt. Er benutzt daher die Methode der fotografischen Evidenz, indem er Fotografien und Daguerreotypien insbesondere der 1880er Jahre heranzieht, um darauf informelle Bauten auszumachen. 19 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 20. Eine ausführlichere Betrachtung stellt Foucault an in: Foucault, Michel: Die Heterotopien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. 20 Vgl. Sweeney, Judith L.: „Las lavanderas de Buenos Aires en la segunda mitad del siglo XIX“, in: Todo es historia, 27, 314, 1993, S. 46-48, S. 47. 21 „Un lavadero público“, in: Suplemento de La Nación, 16, 18.12.1902, S. 23.
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Das Gebiet des bajo wurde jedoch auch darüber hinaus, ebenso wie andere Gebiete des Stadtrands, im medialen Diskurs als soziales und symbolisches ‚Niemandsland‘ dargestellt und für urbanistischen Reformbedarf geltend gemacht. Eine weitere Gegend mit Anschluss zum Ufer des Río de la Plata, über die berichtet wurde, lag im nördlichen Stadtteil Palermo in der Umgebung der nationalen Haftanstalt Penitenciaria Nacional und wurde umgangssprachlich in Anlehnung an das berüchtigte Gefängnis in Ushuaia Tierra del Fuego genannt.22 Die Ufer des Riachuelo, der die städtische Grenze zum angrenzenden Avellaneda bildete, waren ebenfalls im Fokus der Journalisten, die auf der einen Flussseite die Ufergebiete nahe der Stadtviertel La Boca und Barracas und auf der anderen Seite die informelle Siedlung Isla Maciel erkundeten.23 Diese Ufergebiete standen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Spannungsfeld von subalternen Lebensweisen auf der einen und Modernisierungsbestrebungen und Forderungen nach einem ordnungspolitisch regulierten öffentlichen Raum auf der anderen Seite, welche vor allem von liberalen bürgerlichen Kräften befürwortet wurden. Die Magazinpresse unternahm in diesem Feld eine vermittelnde und zugleich eine produktive Funktion: Sie suchte die irregulären Uferzonen auf, entfaltete eine Bild- und Textsprache über sie und speiste diese in einen Diskurs über die Marginalität dieser belebten Räume und ihrer BewohnerInnen ein. Damit lieferte sie die biopolitischen Argumente nicht nur für konkrete Pläne zur städteplanerischen Intervention in jene Räume, sondern auch jene für eine gesellschaftliche Stratifizierung, die in der Vorstellung äußerer Ränder und Grenzen ein identitäres Moment einer sozialen Selbstvergewisserung im Rahmen einer hierarchischen Ordnung herzustellen vermochte. Journalistische Expeditionen Das Flussufer wurde zu einem wiederkehrenden Interventionsraum der explorativen Praxis der Reporter, die über die Lebensverhältnisse von FischerInnen und anderen UferbewohnerInnen, über die Vergnügungszonen der Armen und über
22 Vgl. den Eintrag zu „Tierra del Fuego“, in: Gobello, José; Oliveri, Marcelo Héctor: Novísimo diccionario lunfardo, Buenos Aires: Corregidor 2009, S. 306. 23 Isla Maciel befindet sich außerhalb der Stadt Buenos Aires am gegenüber liegenden Ufer des Riachuelo und gehört zum Stadtgebiet von Avellaneda. Es handelt sich streng genommen um keine Insel, wurde aber aufgrund der Begrenzung durch den Riachuelo auf der einen und den Arroyo Maciel auf der anderen Seite (heute kanalisiert) und die daraus folgende Abgeschnittenheit als solche bezeichnet. Der Ort war um die Jahrhundertwende bekannt für sein Prostitutionsgewerbe und wurde von La Boca aus häufig von den Hauptstadtbewohnern frequentiert.
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die sozialen Interaktionen der dort angetroffenen Menschen berichteten. Die aufgesuchten Gebiete befanden sich meistens in geringer Distanz zum Zentrum und zu den Wohnvierteln der Stadt. Diese ‚ephimeren‘ Lebensräume an den ‚Ufern der Stadt‘ wurden jedoch über ihre räumlich-soziale Distanz betrachtet. Die journalistischen Expeditionen waren insbesondere durch die oft abenteuerliche Überwindung von scheinbar größeren Distanzen, Grenzen oder Hindernissen gekennzeichnet. Diese Widersprüchlichkeit erklärt sich mit den Eigenschaften heterotopischer Orte, von deren Anordnung keine Landkarte gezeichnet werden kann, da sich ihre „Verbindungen und Übergänge“ ständig verschieben, verschließen, verändern, vergrößern oder verkleinern, weshalb der Weg zu ihnen niemals auf derselben Route verlaufen kann, sondern jedes Mal neu entdeckt werden muss.24 So erforderte die Reportage über die Aufenthaltsorte sogenannter atorrantes von Buenos Aires für die Reporter von Caras y Caretas 1902 das Hinzuziehen eines ortskundigen Experten in Gestalt eines Zollbeamten, um die unwegsame Strecke in die Hafenmole des Bajo zurückzulegen und in das „curioso país de los atorrantes“ einzudringen.25 In der Reportage mit dem Titel „Una costa misteriosa“, die 1906 in Caras y Caretas veröffentlicht wurde, suchte der Reporter Juan José Soiza Reilly ein (nicht genau lokalisiertes) Flussufer auf, das er als geheimnisvolle und natürliche Lebenswelt der dort ansässigen Fischer beschrieb. Sein Vordringen schilderte er als journalistisches Abenteuer und zog Parallelen zu den Entdeckungsfahrten von Christoph Kolumbus: „Acabo de penetrar en la soledad de una selva que, envuelta en el misterio de su virginidad, ha envejecido junto al inmenso río de cóleras felinas y mansedumbres humanas. Avanzo... Y al avanzar, mis pasos tienen el prestigio de las carabelas de Colón... [...] no es extraño que el triste almirante de Isabel la Católica, con su sabia locura dentro del cerebro, haya sentido al descubrir la América lo que yo siento al penetrar aquí... Vagar por una tierra de arcanos, de delitos, de sombras, en donde el espíritu de las viejas leyendas flota como un ensueño [...]“26
Der Raum, in den der Reporter eindrang, wurde dabei wortreich als jungfräuliches, geheimnisvolles und gleichzeitig dunkles und verbrecherisches Terrain
24 Vgl. Serres, Michel: Hermes V., Berlin: Merve 1994, S. 15 f. 25 Sargento Pita: „Paseos fotográficos por el municipio. La atorrantocracia“, in: Caras y Caretas, 5, 201, 09.08.1902, S. 32. 26 Soiza Reilly, Juan José: „Una costa misteriosa“, in: Caras y Caretas, 9, 385, 17.02.1906, S. 42 f.
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heraufbeschworen, das gleichermaßen schwierig zu erreichen als auch eine begehrenswerte Entdeckung war. Die Darstellung der journalistischen Erkundung als conquista verortete das Flussufer zugleich als extraterritorialen Raum, den es noch zu erobern beziehungsweise zu nationalisieren galt. In diesem als Naturraum konfigurierten Außen findet der Reporter, so das Narrativ der Reportage, einen Mann vor, den er als „viejo selvático“ beschreibt und der sich als Fischer seine Existenz sichert. Dieser zeigt sich verärgert über das Erscheinen des Reporters und beschimpft ihn, da er selbst der König dieser Küste sei und sich den unerlaubten Zutritt verbitte.27 Das Flussufer wurde hier als eine fremd regierte, vordemokratische Enklave der argentinischen Gesellschaft und Nation charakterisiert. Abbildung 3.1
Quelle: Caras y Caretas (1904)
Mit einer vergleichbaren Rhetorik, die sich eines Vokabulars von Eroberung und territorialer Herrschaft bediente, schilderte eine Reportage der gleichen Zeitschrift die selbst gewählte Exklusion eines „pueblo desconocido“, das sich, abgeschirmt von den Unannehmlichkeiten der Großstadt, die Uferzone jenseits der Docks von Puerto Madero ‚erobert‘ habe. In der „plácida tranquilidad del ambiente“ genieße diese „mezcla curiosa de individuos“, die sich hauptsächlich aus Fischern und Dieben zusammensetze, eine totale Freiheit, Sorglosigkeit und eine Existenz des dolce far niente.28 Eine der fotografischen Abbildungen zeigt eine Gruppe von Männern, die ausgestreckt in der Sonne auf der Mole liegen und unterstreicht damit auch bildlich die Kritik am Müßiggang der dargestellten Personen (Abbildung 3.1). Gerade der Müßiggang war ein wiederkehrendes Motiv zur Begründung sozialer Marginalität. Orte des Nichtstuns wurden außerhalb der Gesellschaft lokalisiert und mit Gesetzeslosigkeit und kultureller Alterität assoziiert, während die moderne Großstadt vor allem über den Begriff der produkti27 Ebd., S. 43. 28 Blanco, Mirlo: „Dolce far niente“, in: Caras y Caretas, 321, 25.11.1904, S. 41.
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ven wie rationalen Arbeit beschrieben wurde. Die Verwendung der italienischen Redensart des dolce far niente, die als Titel der Reportage fungiert, implizierte dabei eine spezifische Art des Müßiggangs und des mangelnden Arbeitswillens, den die Presse als typische Eigenschaft der südeuropäischen MigrantInnen charakterisierte.29 Müßiggang, unter der Verwendung des Terminus ocio, galt um die Jahrhundertwende ebenfalls als Statussymbol der Oberschichten. Insbesondere um sich von der ‚neuen Bourgeoisie‘ der sozial aufgestiegenen Einwanderer- und Unternehmerfamilien abzuheben, die sich ihren Reichtum durch Arbeit erschaffen hatte, betonten die alten oligarchischen Familien in Buenos Aires eine Tradition des Müßiggangs, der sich in einer Verachtung gegenüber den produktiven Tätigkeiten ausdrückte.30 Ihr Status kennzeichnete sich gerade durch die fehlende Notwendigkeit, arbeiten zu müssen und in der Zurschaustellung eines nichtproduktiven Zeitvertreibs, der etwa im Betreiben exklusiver Sportarten, an der Teilnahme bei Benefizveranstaltungen oder in Reisen nach Europa bestand.31 Der Müßiggang der Oberschichten wurde einerseits ständig von den Magazinen thematisiert, indem Lebensgewohnheiten und Freizeitvergnügen der Eliten raumgreifend repräsentiert wurden. Gleichzeitig wurde die mangelnde Produktivität der Oberschichten in der Magazinpresse immer wieder angeprangert, da sie einem bürgerlichen Ethos und seinen Werten von Arbeit und Fleiß als Motoren der modernen Gesellschaft widersprach. Die Kritik am Müßiggang galt also sowohl den ‚oberen‘ sowie den ‚unteren‘ Rändern der Gesellschaft. Auch die Ansiedlungen in der sogenannten Tierra del Fuego wurden als Orte des Müßiggangs charakterisiert. So veröffentlichte etwa das Suplemento de La Nación 1903 eine Fotoreportage über den Ort, die verschiedene Szenen sozialer Zusammenkünfte von Männern und Jungen zeigte: gemeinsames Umhersitzen und Musizieren unter den Bäumen, Schwimmen und Angeln am Fluss, Verzehren von Fleisch, Wein und Mate, ebenso wie das Abhalten der Siesta.32 Diese real-utopischen – also heterotopischen –, von Heiterkeit und Vergnügen gekennzeichneten sozialen Situationen ordneten sich in einen Diskurs über die Laster
29 Zur begrifflichen Verwendung des dolce far niente siehe beispielsweise auch folgende Reportage über die Schiffspassage spanischer Einwanderer nach Argentinien: „De España. Emigrantes para América del Sud“, in: PBT, 40, 24.06.1905, S.11. 30 Sebreli, Juan José: Buenos Aires, vida cotidiana y alienación. Seguido de, Buenos Aires, ciudad en crisis, Buenos Aires: Sudamericana 2003, S. 63 f. 31 Ebd., S. 64. 32 Vgl. „Una mañana por la Tierra del Fuego. En el Bosque de Palermo“, in: Suplemento de La Nación, 2, 24, 12.02.1903, S. 15.
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und den mangelnden Arbeitswillen der mittellosen Bevölkerung ein, der implizit mit dem Leser oder der Leserin als modernes Arbeitssubjekt kontrastiert wurde. Dabei wurde die offensichtliche Armutssituation der repräsentierten Personen und ihres Umfelds komplett ignoriert zugunsten der Darstellung eines selbstbestimmten und unbeschwerten Lebensstils. Abbildung 3.2
Quelle: Fray Mocho (1918)
Frauen wurden in den Textbeiträgen der Reporter über jene Ansiedlungen weitestgehend ausgespart. Ihre Präsenz ist jedoch auf Fotografien verschiedener Reportagen evident. So zeigen die Abbildungen der bereits angeführten Reportage von Soiza Reilly über den „rey de la costa“ im Gegensatz zum Text keinen einsamen Mann, sondern mehrere Männer, Frauen und Kinder bei alltäglichen Tätigkeiten wie Waschen und bei der Essenszubereitung, die auf die Sozialstruktur einer Familie oder einer kleineren Gemeinschaft hindeuten.33 Die meisten Berichte zeigten auf textueller und auch auf bildlicher Ebene jedoch fast ausschließlich Gemeinschaften von Männern oder männliche Einzelpersonen. Ihre Männlichkeit wurde jedoch wiederholt als defizitär und geschädigt herausgestellt. Das Flussufer wurde zu einem Raum männlichen Scheiterns und Verweigerns hinsichtlich bürgerlicher Vorstellungen von Arbeit und Familienleben. So
33 Vgl. Soiza Reilly, Una costa misteriosa, 17.02.1906, S. 42 f.
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porträtierte Fray Mocho einen Aussteiger namens Don Juan Cogote, der sich 22 Jahre zuvor am Flussufer des Riachuelo in Isla Maciel niedergelassen hatte und zum Zeitpunkt der Reportage mit zwei weiteren Fischern dort lebte.34 Die kleine Gemeinschaft der drei Männer hatte sich der Reportage zufolge an einem versteckten Ort angesiedelt, den die Reporter nur mit Mühe inmitten der Vegetation des Flussufers aufspüren konnten. Sie lebten von der Fischerei und hielten in der kleinen, von ihnen bewohnten Uferzone eine eigene ökonomische und soziale Ordnung aufrecht, die sie nach eigener Aussage gelegentlich gegen Diebe oder die Marineautoritäten verteidigen mussten.35 Don Juan Cogote war jedoch kein Held; sein einsames Leben ohne Familie, seine Misanthropie und seinen Alkoholismus zeichnete die Reportage als bemitleidens- und verabscheuenswerte Existenz eines einsamen Mannes. Gleichzeitig, und darin zeigt sich ein gegenläufiger Männlichkeitsdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts, verdeutlichte die Reportage mit dem Interviewpart, dass der Mann diesen Lebensstil selbstbestimmt und freiwillig gewählt hatte: „…aventuramos, antes de su partida, nuestra última pregunta: - ¿No tiene usted familia, Don Juan? - ¡Oh!, la familia: no me la nombre siquiera. Estoy muy bien solo, y no quiero más compañía, ni más cariño que el de mis caballos y el de mis perros. Créame: la vida es un ‘trago’ amargo, y lo mejor es pasarla lejos de la gente.“36
Eine der Fotografien zeigt ihn mit gesenktem Blick vor einer brüchigen Hütte, welche die Bildunterschrift als seine Unterkunft ausgibt (Abbildung 3.2). Seine „mísera vida“,37 von der die Bildunterschrift weiterhin spricht, wird in einem Raum materieller, sozialer und emotionaler Entbehrung angesiedelt und auf seine Lebensweise in Abgeschiedenheit und Alkoholismus zurückgeführt. Gleichzeitig beherrscht er in kolonialer Weise den weiblich konnotierten unkartografierten und asymmetrischen Naturraum des hohen Schilfs und des fließenden Wassers, was ihm im Gegensatz zu den fremdbestimmten Massenarbeitern der städtischen, nervösen Industrie die Aura männlicher Autonomie verleiht. Artikel wie dieser spielten mit der doppelten Botschaft von gescheiterter Männlichkeit und männlicher Naturbeherrschung, deren Konsum dem vor allem männlichen Leser in der Metropole in gewisser Weise eine Renaturalisierung und Rekonsti-
34 Vgl. Proteo: „En los dominios ribereños de ‚Don Juan Cogote‘“, in: Fray Mocho, 7, 316, 16.05.1918, S. 14 f. 35 Vgl. ebd., S. 15. 36 Proteo, En los dominios ribereños, 16.05.1918, S. 15. 37 Ebd.
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tuierung seiner Männlichkeit ermöglichen konnte.38 Das moderne, männliche, bürgerliche Subjekt verkörperte beide Qualitäten, die des rationalen, modernen Arbeiters und die des nostalgischen, naturhaften Rebellen. Die soziotopografische Marginalisierung funktionierte mit dieser doppelten Figur ebenfalls über die Identifikation räumlicher Abgeschiedenheit als Rebellion. Mit dem Titel „De contrapunto a la crisis“ berichtete Caras y Caretas 1916 von einer Gruppe männlicher Bewohner der Tierra del Fuego, die sich in dieser Zone des „pícaro mundo“ niedergelassen und sich mit spöttischer Überlegenheit den gesellschaftlichen Problemen entzogen hätten: „Los muros del ferrocarril, entre Palermo y el río, forman una frontera para esos estoicos que han dejado atrás el mundanal ruido. Junto a los juncales y sobre el mullido césped (sic), han edificado su población que ostenta los grises gallardetes de la rebelión de unos hombres que protestan de lo que hemos dado en llamar mala situación. Viven libres. Comen cuando pueden. No sienten los odios que envenenan a los hombres arrastrados por ingentes egoismos. Para ellos la Constitución es amplia. Y el Derecho importa lo que puede importar la voluntad individual de cada uno de ellos...“39
Ihre prekären Verhältnisse wurden primär unter den Aspekten von Gesetzlosigkeit und resilientem Verhalten verhandelt. Auch dieser Ausdruck sozialer Marginalisierung wurde über eine Repräsentation räumlicher Abgrenzung erreicht: So wurde die Eisenbahnlinie, die parallel zur Küste die nördlichen und südlichen Stadtteile miteinander verband, als Grenze zum Gebiet der rebellischen KüstenbewohnerInnen markiert. Sie unterteilt in dieser Repräsentation zwei gänzlich voneinander getrennte Räume: ein metropolitanes, lärmendes und modernes Zentrum und eine unregulierte, gesellschaftsferne Peripherie. Sarmientos Motiv der civilización y barbarie, das eine Identifikation mit dem europäisch geprägten, städtischen, ‚zivilisierten‘ Raum gegen die Vorstellung des ‚barbarischen‘ ländlichen Raums anbietet, fand hier eine neue Anwendung auf die räumliche Dimension von Stadt und Stadtrand.
38 Zur identitätsbildenden Bedeutung von Wildnis und Natur im US-amerikanischen Kontext siehe: Nash, Roderick: Wilderness and the American Mind, New Haven, Conn: Yale Univ. Press 2014; Bederman, Gail: Manliness and civilization. A cultural history of gender and race in the United States, 1880-1917, Chicago: Univ. of Chicago Press 1995; Kimmel, Michael S.: Manhood in America. A cultural history, New York: Oxford Univ. Press 2012. 39 „Del contrapunto con la crisis. Tipos del arrabal“, in: Caras y Caretas, 19, 910, 11.03.1916, S. 9.
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Die ephimeren Lebensräume in den Ufergebieten unterliefen die Vorstellung der modernen, aufstrebenden Großstadt Buenos Aires und setzten ihr autonome und chaotische Verhältnisse entgegen, die sich in den nomadischen und improvisierten Lebens-, Wohn- und Versorgungsformen äußerten. Allerdings wurden diese Ränder nicht einfach abgespalten, sondern als nostalgisches Bild konsumiert und damit in das nationale Narrativ inkorporiert. Die vormoderne Wildnis wurde somit zu einem symbolischen Fluchtpunkt für das Streben nach einer modernen Zivilisation; sie musste einerseits überwunden werden, gleichzeitig wurde sie begehrt und als Bild bewahrt. Die besprochenen Quellen veranschaulichen diese Entwicklung in ihren scheinbaren Widersprüchen: Auf der einen Seite fand eine dezidiert negative Berichterstattung über informelle Ansiedlungen an den Flussufern am Stadtrand von Buenos Aires statt, welche die Uferzonen als Räume sozialer Transgression diskursivierte. Dabei handelte es sich – wie im Folgenden behandelt wird – um Gebiete, die für Planungen von städtischen Erholungs- und Freizeitorten unmittelbare Bedeutung gewannen. Auf der anderen Seite ist in der Magazinpresse, insbesondere seit den 1910er Jahren, infolge der zunehmenden Bebauung der städtischen Ufer des Río de la Plata, der Kanalisierung des Riachuelo und des faktischen Verschwindens von Ansiedlungen und Kleinfischerei eine Romantisierung von Ufergebieten bemerkbar. Die Lebensräume der Subalternen wurden im Zuge ihres Verschwindens zu medial konstruierten Erinnerungsorten des ‚alten Buenos Aires‘, der gran aldea, wie sie nachträglich für die Zeit vor der Masseneinwanderung imaginiert wurden.40 Der Übergang von der ‚Entdeckung‘ und Öffnung heterotopischer Orte an den Ufern der Stadt, ihre mythologisierende Diskursivierung und Medialisierung und schließlich die daraus entstandene Möglichkeit ihre biopolitischen Regulierung zeigt sich in der Etablierung ordentlicher Badeanstalten besonders prägnant.
40 Die mythische Stilisierung von FischerInnen und städtischen Ufergebieten äußerte sich in den 1920er Jahren und darüber hinaus ebenfalls in anderen kulturellen Kontexten, wie zum Beispiel in der Tangolyrik von Horacio Ferrer (Los pescadores del misterio), Francisco Marino (El viejo pescador) und Enrique Cadícamo (Niebla del Riachuelo, 1937) ebenso wie in der Malerei von Benito Quinquela Martín, der für seine Bilder des Hafens von La Boca und des Riachuelo in den 1920er Jahren berühmt wurde. Zur Malerei des Riachuelo siehe: Silvestri, El color del río, 2003, S. 273-324.
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B ADEANSTALTEN – L ICHT UND L UFT FÜR
DIE
M ASSEN
Der zunehmenden Bebauung der Küste durch große Infrastrukturanlagen und privatisierte Grundstücke standen Forderungen nach einem Ausbau des öffentlichen Raums und seiner ordnungspolitischen Regulierung entgegen. Ganz im Zeitgeist des centenario befürworteten verschiedene StadtplanerInnen die Vermehrung von öffentlich nutzbarem Raum mit dem dreifachen Ziel, Orte des Prestiges zu schaffen, die Immobilienwerte zu steigern und die Gesellschaft positiv zu beeinflussen.41 Für das Ufer des Río de la Plata wurden 1895 und erneut 1909 Pläne zur Anlage einer Uferpromenade an der Costanera Sur, dem südlichen Teil der Küste in Buenos Aires, entworfen. Diese sollte zunächst in zentraler Lage zwischen dem Puerto Madero und der Avenida Sarmiento verlaufen, und in erweiterter Fassung entlang des gesamten Ufers vom Stadtzentrum bis über die nördliche Stadtgrenze in die angrenzenden Orte hinaus.42 Während diese Projektentwürfe für eine Uferpromenade letztlich scheiterten, wurde die öffentliche Nutzung des Uferareals weiter debattiert. 1916 legte der Ingenieur und Agronom Benito Javier Carrasco, der zwischen 1914 und 1919 als Director de Parques y Paseos en la ciudad de Buenos Aires amtierte, einen Projektentwurf für die Einrichtung einer öffentlichen Badeanstalt in der Gegend des bajo, also auf dem Terrain hinter den Hafendocks von Puerto Madero, vor.43 Ebenso wie die Befürwortung von Grünanlagen in der dicht besiedelten Stadt stand auch die Idee einer Badeanstalt ganz im Zeichen der zeitgenössischen Hygienediskurse, die Luft, Licht und Bewegungsmöglichkeiten als Mittel zur physischen und psychischen Gesundheit der städtischen Bevölkerung befürworteten.44 So Carrasco: „A piece of culture, driving away and separating bad habits, forbidden games to a great amount of children that until a short time ago
41 Vgl. Novick, El espejo y la memoria, 2001, S. 14. 42 Vgl. ebd., S. 12 f. 43 Vgl. Martire, Agustina : The Process of ‚Translation‘ on the Urban Waterfront Projects of Buenos Aires, Vortrag bei: PhD Seminar: The European Tradition in Urbanism – and its Future, Delft, 01.10.2007, Web: https://bit.ly/2tAeAUq [03.05.2018], S. 5. 44 Zu Stadtplanung und öffentlichem Raum in Verbindung mit Diskursen zu Modernität und Hygiene in Buenos Aires zwischen 1887 und 1936 siehe auch: Gorelik, Adrián: La grilla y el parque. Espacio público y cultura urbana en Buenos Aires, 1887 - 1936, Buenos Aires: Univ. Nacional de Quilmes 2004.
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did not know the benefits nor the joy of the healthy practices.“45 Die geplante Badeanstalt hatte somit in erster Linie eine sozialhygienische Funktion, die sich sowohl präventiv als auch therapeutisch auf die Gesundheit und auf das Verhalten insbesondere von Kindern auswirken sollte. Sport und Bewegungskultur hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen „zentralen Stellenwert im Projekt der Moderne“.46 Dieser zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass im biopolitischen Sinn leistungs- und reproduktionsfähige Individualkörper gefördert werden und zu einem gesunden und starken Kollektivkörper verschmelzen sollten.47 Die Badeanstalt sollte im Gegensatz zum modernen Strandbad von Mar del Plata kein exklusives Ziel der Reichen sein, sondern war als Ort für die Massen der städtischen Bevölkerung konzipiert.48 El balneario de los pobres Das von Carrasco vorgesehene Gelände für die Badeanlage hinter dem Puerto Madero war bereits vor seiner Umsetzung durch die städtischen Behörden im Jahr 1918 als Badeort der ärmeren Bevölkerung bekannt. Carlos Zúpay berichtete 1914 für Caras y Caretas über diesen als abgeschieden und schwer erreichbar gekennzeichneten Ort, dessen BesucherInnen er als „público digno de observación“ einstufte und deren Eigentümlichkeit man, wie er sagt, wie in einem Schaufenster exponiert studieren könne.49 Die Reportage demonstrierte ein besonderes Interesse für die Andersartigkeit des Ortes und seines Publikums und stellte darüber ein Gefälle zwischen beobach-
45 Carrasco, Benito Javier, La Memoria de los trabajos realizados en los Parques y Paseos Públicos de la Ciudad de Buenos Aires, Buenos Aires: Talleres Gráficos Weiss y Reusche 1916, S. 91. Zitiert und übersetzt in: Martire, Waterfront Retrieved, 2009, S. 261. 46 Fenske, Uta; Stieglitz, Olaf: „Sport treiben“, in: Netzwerk Körper (Hg.): What can a body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, New York: Campus 2012, S. 111-126, S. 113. 47 Vgl. ebd., S. 114. Verschiedene historische Beispiele für die Einführung von Sport und Bewegung in Lateinamerika und damit zusammenhängender Diskurse zu Körpern, Leistung und Reproduktivität liefert der Sammelband: Scharagrodsky, Gobernar es ejercitar, 2008. Zur historischen Genese des Konzepts ‚Freizeit‘ siehe auch den sozialhistorischen Überblick von Cross, Gary S.: A social history of leisure since 1600, State College, PA: Venture Pub. 1990. 48 Vgl. Martire, Waterfront Retrieved, 2009, S.264. 49 Zúpay, Carlos: „El balneario de los pobres“, in: Caras y Caretas, 16, 804, 28.02.1914, S. 63.
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tendem Subjekt – dem Reporter und den LeserInnen – und den Beobachteten her. Die Menschen, die dort badeten, fischten oder sich am Strand aufhielten, wurden mit Armut, mangelnder Hygiene, moralischer Unanständigkeit und Kriminalität in Verbindung gebracht. So seien Strand und Wasser stark verschmutzt, viele Badende bewahrten keine Diskretion in Bezug auf ihre (ungenügende) Badekleidung und es versammelten sich zwielichtige Gestalten an diesem Ort: „Júntanse en aquellos lugares, personajes de todas las categorías del bajo fondo: desde el ‚canillita‘ chacotón y atrevido, al grave lunfardo de tacón aguja; y en la comparsa, van mezclados, el gringo solitario, el pardo dicharachero como un Sancho, el italiano compadre y la dama criolla, flor del arrabal...“50
Abbildung 3.3
Quelle: Caras y Caretas (1914)
Die Fotografien zeigten hingegen hauptsächlich Familien und Fischer, die den Uferstreifen nutzen (Abbildung 3.3). Ebenso verfuhr eine Fotoreportage von La Vida Moderna aus dem Jahr 1012: Sie bezeichnete den von vielen genutzten Badeort als „balneario de los canillitas“ und bezog damit den Diskurs über familiäre Vernachlässigung, Obdachlosigkeit und Kinderarbeit, der den canillitas an50 Ebd.
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haftete, mit in die Repräsentation des subalternen Ortes mit ein.51 Die Reportagen kreierten auf diese Weise einerseits einen identitär aufgeladenen Raum, der den Mythos des alten Buenos Aires und seiner halbseidenen Figuren aus der Welt des Tango, der migrantisch geprägten Viertel und der kriminellen Milieus speiste. Gleichzeitig meldeten sie Reformbedarf an, um den Badeort zu einem sicheren und anständigen Vergnügungsort der urbanen Bevölkerungsmassen zu machen, etwa durch eine stärkere Regulierung durch städtische Autoritäten und die Errichtung von Umkleidekabinen zur Wahrung der Diskretion. Abbildung 3.4
Quelle: Caras y Caretas (1908)
Die Magazinpresse hatte bereits in den Jahren vor Carrascos Projektentwurf über moderne Badeanstalten in anderen Ländern und Städten berichtet: Die Strandbäder von Coney Island in New York, von Montevideo, Valparaíso und anderen Orten weltweit dienten dabei als Vorbilder für ein entsprechendes Projekt in Buenos Aires – weniger in urbanistisch-architektonischer Hinsicht, sondern insbesondere hinsichtlich ihrer sozialhygienischen Funktionen. Sport und Freizeit standen dabei im Zentrum einer Betrachtungsweise von öffentlichen Strandbädern, die für die breiten Massen und insbesondere für die ärmeren Bevölkerungsschichten im biopolitischen Sinne körperliche Stärkung und Regeneration herbeiführen sollten. So schilderte eine Reportage über Badeanlagen in England und den USA von 1908 die Vor- und Nachteile dieser Orte. Demnach handelte es sich um Orte des modernen Freizeitvergnügens, die der Reportage zufolge von Geschäftsleuten und Angestellten zur Erholung in Anspruch genommen 51 Vgl.: „Liquidación total“, in: La Vida Moderna, 7, 253, 14.02.1912.
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wurden, wenn sie nach getaner Arbeit in der Stadt mit ihren Familien die nahe gelegenen Strandbäder aufsuchten. Die „excelentes resultados que reporta á la salud la vida cerca del mar“ seien dabei unbestritten.52 Insbesondere die fotografischen Abbildungen transportierten hier zeitgenössische Diskurse zu Freizeit und Sport. Neben verschiedenen Fotos dieser Reportage, die allgemeines Freizeitvergnügen und die Darbietung von Saltos und Sprüngen ins Wasser zeigen, zeigt ein Bild eine circa 50-köpfige Gruppe von Jungen, die allesamt auf dem Rücken im Wasser liegend mit ausgestreckten Beinen und anliegenden Armen in Richtung der Kamera formiert sind (Abbildung 3.4). Diese disziplinierte Formation und damit einhergehende Repräsentation von jungen trainierten Körpern zeigt ein Verständnis von Sport, das als massenkonstituierendes Mittel zur Förderung von Gesundheit und Erholung ein wichtiges Argument für moderne Badeanlagen lieferte. Auf der anderen Seite demonstrierte der Autor auf ironische Weise die mangelnde Moral der Badeanlagen: So sei der Strand in erster Linie ein Heiratsmarkt, übertriebene Freizügigkeit sei an der Tagesordnung und Alkoholismus greife um sich.53 Insbesondere die Badeanlagen von Montevideo wurden zum Betrachtungsgegenstand der Bildpresse, an dem sich biopolitische Diskurse abbildeten. Der Strand im Viertel Pocitos hatte sich zur Jahrhundertwende zu einem Badeort der uruguayischen und auch argentinischen Mittel- und Oberschichten entwickelt. Das Magazin PBT berichtete zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung für oder gegen die Einrichtung der Badeanlage in Buenos Aires aktuell zur Diskussion stand, von dem lebendigen Treiben an diesem Ort.54 Ihr Interesse galt insbesondere der „gente menuda“ – gemeint waren die Kinder – und ihren Aktivitäten am Strand. Sport und Spiel in Kombination mit dem Aufenthalt im Wasser und an der frischen Luft wurden dabei lobend für ihre körperliche Entwicklung herausgestellt. Eine weitere Reportage, die in der darauf folgenden Ausgabe von PBT publiziert wurde, befasste sich mit einem anderen Badestrand in Montevideo, der in der Hafenbucht gelegen war und als „baño de los pobres“ betitelt wurde. Der ‚Strand der Armen‘ wurde im Vergleich zu seinem elitären Pendant als Raum dargestellt, der von großer Popularität, Lebendigkeit und Freude geprägt war und einen „carácter democrático“ bewies: „Al lado de las aristocráticas playas [...] concurre la gente trabajadora o los que están reñidos con las tiranías
52 „Los placeres del verano en la playa“, in: Caras y Caretas, 10, 487, 01.02.1908,
S.
41. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. „Notas de Montevideo. Por las playas. La gente menuda“, in: PBT, 14, 635, 27.01.1917, S. 48.
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de la moda y las exigencias sociales. Pero la falta de confort no implica falta de animación. Es en los baños populares donde reina más alegría y más bullicio.“55 Abbildung 3.5
Quelle: Caras y Caretas (1912)
Fotografisch wiesen die ‚Strände der Armen‘, die wiederholt in Panoramaperspektive auf den Seiten der Zeitschriften dargestellt wurden, insbesondere Züge des Irregulären, Chaotischen und Massenhaften auf. In der Fotografie des „balneario de los pobres“ von Montevideo, abgedruckt in Caras y Caretas, zeigt sich dieses Bild: Eine heterogene Menschenmenge von Erwachsenen und Kindern beiderlei Geschlechts bevölkerte den Küstenstreifen sowohl am Strand als auch im Wasser. Die Lebhaftigkeit des Strandvergnügens war jedoch durch die Abwesenheit von sportlichen Aktivitäten oder Vorrichtungen gekennzeichnet, die das Badeerlebnis strukturierten – einzig eine provisorische Umkleidekabine bildete ein ordnendes Element (Abbildung 3.5). Körperkultur Dem gegenüber berichtete Caras y Caretas 1919 von den Fortschritten im Bereich der cultura física, die sich an der Küste Montevideos zeigten. Die uruguayische Comisión Nacional de Educación Física hatte demzufolge wenige Jahre zuvor eine Schwimmschule eingerichtet, die den Schwimmsport innerhalb kürzester Zeit zu einem populären Hobby gemacht habe, so dass nicht mehr alleine die Mitglieder von exquisiten Wassersportclubs das Schwimmen im Meer be55 „Desde Montevideo. El baño de los pobres“, in: PBT, 14, 636, 03.02.1917, S. 38.
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herrschten. Infolgedessen habe sich zum einen die Zahl der Todesopfer durch Ertrinken an der Küste enorm verringert und zum anderen habe der Sport bewunderungswürdige athletische, männliche Körper hervorgebracht. Diese zeigt und kommentiert die Reportage ausgiebig: „Las fotografías que presentamos son interesantes y dan una idea acabada de la afición que por el deporte siente el público uruguayo. De repente, en una de las playas frecuentadas, los paseantes ven erguirse una alta columna humana. ¡Deben ser gimnastas! – dice un extranjero. Y son muchachos distinguidos que se divierten en esa forma varonil: haciendo atletismo. La gente les rodea curiosa y ellos sienten la satisfacción de mostrar sus habilidades... y sus músculos. Reaccionan contra la tendencia al afeminamiento demostrado por otros muchachos – quizá parientes suyos – que dan la sensación de llevar el talle oprimido por un corsé.“56
Der athletische Körper wurde hier als Gegenbild des ‚verweiblichten‘ Mannes präsentiert – neben der Muskulösität beeindruckten die Bilder mit der kunstvollen Ausführung von Sprüngen und anderen Figuren (siehe Abbildung 3.6). Der sommerliche Schwimmsport wurde unter dem sozialhygienischen Motto „Mens sana in corpore sano“ gestellt und im Hinblick auf eine Stärkung der ‚raza‘ bewertet: „La raza se vigoriza. [...] Es la afición a los deportes que vigoriza y perfecciona la raza.“ Der Blick auf die biosoziale Konstitution der nationalen Bevölkerung äußerte sich abschließend in der Zukunftserwartung für die argentinische Nation: „Es de esperar que aquí dé buenos resultados la propagación de los ejercicios físicos y que nuestros ciudadanos sean fuertes y robustos.“57 Die Magazinpresse wirkte nicht nur mit internationalen Beispielen, sondern auch mit konkreten Ratschlägen zu sportlichen Übungen auf ihre Leserschaft ein. So präsentierte Caras y Caretas 1909 einen umfangreichen Artikel, der Sonnenbaden, Schwimmen und tägliche Gymnastik an der frischen Luft als wichtiges Mittel für die „salud del cuerpo y del espíritu“ herausstellte. Mittels Bildern und einer detaillierten Bewegungsanleitungen erklärte der Artikel eine Abfolge von 18 Übungen entlang des „sistema Müller“, die für jeden und jede einfach zu erlernen seien und idealerweise in Abwechslung mit Bädern ange-
56 Danubio: „El verano y la cultura física. Notas uruguayas“, in: Caras y Caretas, 22, 1067, 15.03.1919, S. 58 f. 57 Ebd.
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wandt werden sollten.58 Diese gymnastischen Leibesübungen waren um 1900 ein neues und weltweit populäres Phänomen. Wie Maren Möhring in ihrer Untersuchung zur Nacktgymnastikkultur im Deutschen Kaiserreich herausgearbeitet hat, „stellt die Zeit um 1900 auf die Disziplinartechniken bezogen sowohl einen Kulminations- als auch einen Wendepunkt dar“, in der nun Selbstdisziplin den Drill der Institutionen wie dem Militär ablöste und auf Selbstführung der Trainierenden setzte. Die Übungen in „Licht und Luft“ versteht Möhring dabei als eine gouvernementale Machtausübung auf und durch den Körper und damit als grundlegenden Mechanismus der modernen Biomacht.59 Der dänische Leutnant J.P. Müller hatte 1904 sein eigenes Gymnastikprogramm entwickelt, das 1906 bereits eine Auflage von 300.000 Exemplaren in diversen Sprachen verzeichnen konnte und das Müller konzipiert hatte, „um diejenigen fit zu halten, die gesund sind und ein einigermaßen hygienisches Leben führen“. 60 Die biopolitische Agenda von sportlicher Selbstführung war also ein transnationales Phänomen, das auch die Strände von Buenos Aires erfasst hatte. Die Realisierung einer städtischen Badeanstalt in Buenos Aires stellte mithin den Raum dieses biopolitischen Projekts und seiner modernen Subjekte dar. Sie wurde 1917 genehmigt und ein Jahr später eröffnet. Zusammen mit Sport- und Gartenanlagen, Pavillons und Kabinen wurde ein Vergnügungspier installiert, der 180 Meter in den Río de la Plata hineinragte und über Treppen den Einstieg ins Wasser erleichtern sollte. Caras y Caretas bezeichnete die Anlage als „obra de utilidad pública“ und gleichzeitig als „obra de belleza“, durch die der Stadt der Charme des Río de la Plata zurückgegeben wurde.61 Der neue Freizeitort erfreute sich in den Folgejahren größter Beliebtheit, die allerdings von relativ kurzer Dauer war. Mit der Fertigstellung des Puerto Nuevo 1926 wurde der Hafen Puerto Madero, welcher der Badeanstalt vorgelagert war, zunächst nur noch für zweitrangige Aufgaben in Betrieb genommen und wurde allmählich komplett obsolet. Die Hafengegend mit ihren Lagerhäusern und dem umliegenden Gelän-
58 Vgl. Homais: „Aire, sol, gimnasia y agua“, in: Caras y Caretas, 12, 569, 28.08.1909, S. 28. 59 Vgl. Möhring, Maren: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930), Köln: Böhlau 2004, S. 26-28. 60 Ebd., S. 65. Müllers Bücher Mein System. 15 Minuten tägliche Arbeit für die Gesundheit und Die täglichen fünf Minuten. Gymnastische Übungen zur Erzielung und Erhaltung körperlicher Leistungsfähigkeit erreichten bis 1930 eine Auflage von 1,5 Millionen und erschienen in 26 Sprachen. 61 „El balneario municipal“, in: Caras y Caretas, 21, 1050, 16.11.1918, S. 40.
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de verfiel und der Zugang zur Badeanstalt durch das Hafengelände wurde zunächst restringiert und schließlich komplett geschlossen.62 Abbildung 3.6
Quelle: Caras y Caretas (1919)
Die Repräsentationen der Badestrände in der Magazinpresse folgten einem biopolitischen Diskurs, der solche subalternen und heterotopischen Orte kennzeichnete und visualisierte, deren Nutzung zum Schwimmen, Baden, Fischen und Amüsieren außerhalb ordnungspolitischer Vorstellungen stand. Die Forderung nach und die Planung von Badeanstalten für die breite Bevölkerung standen hingegen ganz im Zeichen von urbanistischer Modernisierung und Sozialhygiene, die auf die individuellen Körper und auf den nationalen Gesellschaftskörper im Sinne einer Stärkung der raza abzielten. Öffentlicher Raum wurde somit als biopolitisches Anliegen mit sozialer Ordnungsfunktion und sozialhygienischem Impetus konzipiert und sollte der städtischen Steuerung unterworfen werden. Der ordnungspolitische Versuch, die marginalen Räume einer gesellschaftlich verwertbaren Funktion zuzuführen, scheiterte jedoch in Anbetracht der Permanenz von unregulierten Gebieten in den Städten. Diese Orte traten dabei auch als contested spaces zwischen einer bürgerlichen, modernen Ordnung auf der einen und einer subalternen Nutzung auf der anderen Seite hervor. Im Aufkommen von Elendssiedlungen, wie im Folgenden für das Beispiel der quema de basuras von Buenos Aires gezeigt wird, wird dieser Konflikt besonders deutlich sichtbar. 62 Vgl. Martire, Waterfront Retrieved, 2009, S. 260-263.
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„L OS
RESIDUOS HUMANOS “
– L EBEN
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AUF DER QUEMA
Im Januar 1899 berichtete Caras y Caretas in einer zweiseitigen Reportage erstmals über das alarmierende Problem der Anhäufung von Müll in der städtischen Müllverbrennungsanlage (quema de basuras) im äußersten Südwesten der Stadt, die eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung darstelle. Reporter der Zeitschrift hatten sich der Beschreibung zufolge in die Zone der offenen Müllverbrennungsanlage – kurz quema genannt – begeben, um die Zustände vor Ort zu recherchieren und ihren LeserInnen einen Eindruck von dem sich bietenden Anblick zu geben. Sie berichteten von unzähligen verschiedenen Objekten und Materialien, welche die enormen Müllberge ausmachten, die Hunderttausende von StadtbewohnerInnen täglich produzierten. Das größere Interesse galt jedoch den in unmittelbarer Nähe zur Anlage im so genannten Barrio de las Ranas lebenden Menschen, die in und von den Abfällen lebten: „Visitamos los contornos de la quema. Entre la humareada perpetua que allí reina, rodeando á gentes y cosas de una especie de nimbo y haciéndolas surgir de pronto ante los ojos como evocaciones fantásticas, hay esparcido todo un original caserío, donde las criaturas se multiplican en un procreo pululante, y galopan por las parvas dejándose rolar por sus taludes, entreterrándose en la basura para jugar al escondite, contentas, llenas de una vida inquieta y sanguínea, gordas y relucientes.“63
Abbildung 3.7
Quelle: Caras y Caretas (1899)
63 Bernárdez, M.: „La quema de las basuras“, in: Caras y Caretas, 2, 18, 21.01.1899, S. 18 f.
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Der Text und die Fotografien evozieren eine fremde und sogar fantastisch anmutende Welt, in der es von Kindern und Erwachsenen in den dampfenden Müllbergen nur so wimmelt und wo eine äußerst lebendige und gleichzeitig menschenfeindliche, morbide Atmosphäre herrscht (Abbildung 3.7). Die Menschen auf der quema wurden in den folgenden Jahren bis zur Schließung der Müllverbrennungsanlage 1911 immer wieder Gegenstand von Presseberichten, literarischen Werken, polizeilichen Inspektionen und politischen Interventionen, die den Ort und die dort lebenden Menschen in den Blick nahmen und problematisierten. Nach Einschätzung Celia Guevaras handelte es sich bei der Siedlung um das erste informelle Elendsviertel der Stadt Buenos Aires und damit um einen Vorläufer der heute in starkem Wachstum begriffenen so genannten villas miseria der Hauptstadt.64 Diese Einschätzung muss allerdings in Anbetracht der bereits besprochenen informellen, mehr oder weniger zerstreuten Ansiedlungen an den Ufergebieten des Río de la Plata sowie mit Bezug auf weitere von Liernur aufgezeigte informelle Siedlungen in Buenos Aires relativiert werden.65 Zweifellos war es jedoch die am äußersten Stadtrand unweit des Flusses Riachuelo gelegene quema und ihre Siedlung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Objekt sozialer Marginalisierung und zum Symbol von ‚schädlichem‘ und ‚gefährlichen Leben‘ schlechthin wurde. Barrio de las ranas Die Geschichte der quema und des barrio de las ranas ist in einigen wenigen Forschungsarbeiten zur Stadtentwicklung untersucht worden, die sich mit den institutionellen Praktiken der Müllentsorgung, der formellen und informellen Arbeit des so genannten cirujeo, der Formierung und demografischen Zusammensetzung der Siedlung sowie der Lebens- und Arbeitsweise der Müllsammle-
64 Vgl. Guevara, Celia: „Pobreza y marginación. El barrio de las ranas, 1887-1917“, in: Gutman; Reese, Buenos Aires 1910, 1999, S. 281-293, S. 281. Der Begriff villa miseria wurde 1953 von dem Schriftsteller und Journalisten Bernardo Verbitsky in einer Artikelserie, die er für die Tageszeitung Noticias Gráficas schrieb, geprägt und war in den folgenden Jahren Gegenstand journalistischer Debatten über den Charakter dieser städtischen Ansiedlungen. Vgl. Liernur, Jorge Francisco: „De las ‚nuevas tolderías‘ a la ciudad sin hombres. La emergencia de la ‚villa miseria‘ en la opinión pública (1955-62)“, in: Registros, 6, 6, 2009, S. 7-24. Zur Geschichte der villas miseria siehe auch: La Torre, Lidia de: Buenos Aires: Del conventillo a la villa miseria (18691989), Buenos Aires: Educa, Editorial de la Univ. Católica Argentina 2008. 65 Vgl. Liernur, La ciudad efímera, 1993.
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rInnen befasst haben.66 Diese Arbeiten zeigen die enge Verflechtung von Urbanisierung und Entstehung einer städtischen Konsumgesellschaft, von institutioneller und technischer Regulierung der Müllmassen und der sozialen Marginalisierung der mit der Abfallentsorgung und -verwertung befassten Menschen. Die Ebene der Repräsentation und die Rolle der Presse sind indes nur unzureichend untersucht worden. Vielmehr sind Presseartikel lediglich in Ermangelung anderer Quellen zur Erklärung sozialgeschichtlicher Zusammenhänge herangezogen worden. Im Folgenden soll hingegen die mediale Repräsentation des sozialen Raums der quema und des barrio de las ranas als eigene kulturgeschichtliche Analyse über die Bedeutung von Elendssiedlungen in Buenos Aires zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen werden. Im Zuge der rapide wachsenden städtischen Bevölkerung von Buenos Aires hatte das bis ins späte 19. Jahrhundert funktionierende System der Entsorgung über Müllgruben, in denen die Haushaltsabfälle versenkt und natürlichen Verfallsprozessen anheim gegeben wurden, ausgedient. Im neuen System, das die Stadtverwaltung ab 1861 in Kooperation mit Privatunternehmen initialisierte, wurde der Hausmüll beinahe flächendeckend in der Stadt abgeholt, zu einer zentralen Sammelstelle in der unweit des Regierungsviertels gelegenen heutigen Calle Agüero gebracht, und von dort aus seit 1873 mit einer eigens erweiterten Eisenbahnlinie, die als tren de la basura bekannt wurde, zur quema transportiert. Dort wurden die Abfälle auf eine Halde gekippt und die verwertbaren Elemente wie Stoff, Papier und Glas ebenso wie verwendbare Gegenstände von angestell-
66 Den umfassendsten Überblick zur Geschichte der Müllentsorgung in Buenos Aires von 1580 bis 1980 in stadtgeschichtlicher und in geringem Maß auch sozialgeschichtlicher Betrachtung bietet Prignano, Ángel O.: Crónica de la basura porteña. Del fogón indígena al cinturón ecológico, Buenos Aires: Junta de Estudios Históricos de San José de Flores 1998. Zur urbanistischen Forschung der Geschichte der Müllentsorgung siehe weiterhin Paiva, Verónica: „De los ‚Huecos‘ al ‚Relleno Sanitario‘. Breve historia de la gestión de residuos en Buenos Aires“, in: Revista Científica de UCES, 10, 1, 2006, S. 112-134; Perelman, Mariano; Paiva, Verónica: „Aproximación histórica a la recolección formal e informal en la ciudad de Buenos Aires. La ‚quema‘ de Parque Patricios (1860-1917) y la del Bajo Flores (1920-1977)“, in: Revista Theomai, 21, 2010, S. 134-149. Sozialgeschichtliche Studien des cirujeo bieten Tomasz, Ana Gretel: „Transformaciones urbanas en el sector sur del barrio porteño de Parque de Patricios. De espacio vacío a recurso“, in: AIBR. Revista de Antropología Iberoamericana, 3, 3, 2008, S. 332-365; Guevara, Pobreza y marginación, 1999.
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ten SortiererInnen ausgesondert. Der unbrauchbare Rest wurde zunächst in einem Ofensystem und ab 1873 unter freiem Himmel verbrannt.67 Der barrio de las ranas war als informelle Siedlung um 1885 entstanden und wurde auch barrio de las latas genannt. Der Begriff barrio de las latas dürfte als Fremdbezeichnung eingeführt worden sein, die sich auf die Architektur der selbstgebauten Hütten aus alten Ölfässern bezog, welche mit Lehm gefüllt zu Wänden konstruiert wurden. Die Bezeichnung des barrio de las ranas leitete sich von der starken Verbreitung von Fröschen in der angrenzenden Lagune ab; daran lehnte sich der Name raneros/raneras für die BewohnerInnen an. Der frühe Eingang des Begriffs ranero/ranera beziehungsweise ranún und ranoide in den Wortschatz des Lunfardo lässt laut Guevara auf die Verwendung des Namens als Eigenbezeichnung schließen, die keinen pejorativen Beigeschmack trugen.68 Spätere Begriffsverwendungen in der Tangolyrik und anderen populärkulturellen Quellen ab den 1910er Jahren verwendeten ranero jedoch im Sinne von „individuo que vive al margen de la ley“ und die weibliche Form ranera als „vagabunda, prostituta de baja condición“.69 Der Begriffswandel zeugt von einem Prozess der sozialen Marginalisierung und Diffamierung der BewohnerInnen der Ansiedlung, der sich um die Jahrhundertwende ausprägte. Die Müllanlage und die Siedlung wurden zum Ende der 1890er Jahre Gegenstand hygienisch-medizinischer Betrachtung. Zwischen 1898 und 1899 verfasste Felix Silvera, ein am nahe gelegenen Hospital de los Corrales arbeitender Mediziner, eine Doktorarbeit über die Ätiologie des Tetanus und untersuchte dafür 48 im Bereich der quema lebende Kinder, die unter der Krankheit litten. Er stellte dabei die Schädlichkeit des Konsums von verdorbenen Lebensmitteln und die hygienischen Bedingungen des Lebens in und mit den Abfällen als Faktoren für die Entstehung der Krankheit heraus. Die empirische Untersuchung der Zustände vor Ort proklamierte er dabei als grundlegende Notwendigkeit für die Ableitung weiterer Maßnahmen: „Es necesario entrar en estas viviendas para tener una idea del desaseo y de las acumulaciones de inmundicias que en ellas se hacen.”70 Die quema geriet als Krankheitsherd, wegen Geruchsbelästigung sowie aufgrund der mit der fortschreitenden Urbanisierung steigenden Massen an Abfällen auf die Reform-agenda der Stadtverwaltung. 1899 wurde eine Untersu-
67 Vgl. Perelman/Paiva, Aproximación histórica a la recolección, 2010, S.116 f. 68 Vgl. Guevara, Pobreza y Marginación, 1999, S. 292. 69 Vgl. Gobello/Oliveri, Novísimo diccionario lunfardo, 2009, S. 267. 70 Intendencia Municipal de Buenos Aires, Eliminación y Tratamiento de las Basuras, Buenos Aires: Imprenta de M. Biedma e hijo 1899, zitiert in: Prignano, Crónica de la basura porteña, 1998, S. 203.
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chungskommission durch den Bürgermeister von Buenos Aires, Adolfo Bullrich, ins Leben gerufen, die eine Lösung des Müllproblems auf Basis internationaler Vergleiche anstreben sollte. Im daraus resultierenden so genannten Informe Bullrich wurde ein Abfallentsorgungssystem mit Verbrennungsöfen und damit eine Schließung der bestehenden Anlage favorisiert. Der Bericht zeugt daneben auch von einer intensiven Befassung mit den hygienischen Konditionen der Siedlung und der sozialen Situation ihrer BewohnerInnen, welche die Notwendigkeit einer Reform unterstrichen.71 Während die Maßnahmen zur Modernisierung der Abfallentsorgung in Buenos Aires allerdings sehr schleppend verliefen und noch über ein Jahrzehnt keine Erfolge zeitigen sollten, widmete sich die Magazinpresse intensiv diesem Thema und forderte im Namen der Gesamtbevölkerung städtische Reformen ein. Unter der Überschrift „El malón de los microbios“ berichtete Caras y Caretas 1908 von desaströsen Zuständen auf der quema und erläuterte dies auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Mikrobiologie: Zahlreiche Bakterien, darunter die in mikroskopischer Vergrößerung illustrierten Tetanus-, Diphterie- und Typhuserreger, verrichteten hier ihre „obra de exterminio“.72 Die eigene journalistische Mission wurde hier als riskante Operation dargestellt, derer sich die Reporter aussetzten, um eigene Beobachtungen anstellen und politische Forderungen ableiten zu können. „El horror nos dejó paralizados ante aquel sombrío espectáculo, en el que veíamos triunfante el genio del mal encarnado en aquella diversidad de microorganismos; triunfo que debía, no tanto á su fuerza como á la incuria de los obligados á combatirla con las únicas armas que la pueden contrarrestar: las de la higiene. Y la infinita lástima, la compasión infinita que se despertó en nuestra alma hacia los pobres víctimas de tantos y tan formidables enemigos, y el deber al propio tiempo de dar voz de alarma sobre el inmenso peligro que á la población entera amenaza, si no se acude con presteza á cortar el paso victorioso á esas legiones del mal, nos dió alas para volver al centro de la ciudad, donde contábamos referir lo que habíamos visto y apresurar con nuestro testimonio, las obras de defensa.“73
Unter Bezugnahme auf medizinisches Expertenwissen formulierte die Reportage ein Gefahrenszenario für die (städtische) Gesamtbevölkerung, die von den Krankheitsherden auf der quema bedroht würde und mittels hygienischer Maßnahmen verteidigt werden müsse. Die Schließung der quema im Zusammenhang
71 Vgl. Prignano, Crónica de la basura porteña, 1998, S. 213-217. 72 Retorta: „El malón de los microbios“, in: Caras y Caretas, 11, 504, 30.05.1908, 72. 73 Ebd.
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mit der Eröffnung einer provisorischen Verbrennungsanlage im Stadtteil Nueva Pompeya erfolgte jedoch erst 1911; die Polizei demolierte im Zuge dessen die Siedlung der und sorgte für die Vertreibung ihrer BewohnerInnen. Ein Teil von ihnen kehrte jedoch wieder zurück und lebte im barrio de las ranas bis zu seiner endgültigen Zerstörung und Eliminierung im Jahr 1917.74 Die Geschichte des zeitweise erfolgreichen Widerstands der raneros und raneras gegen die Vertreibung durch die städtischen Behörden und Sicherheitskräfte ist in deren Akten nur indirekt dokumentiert, deutet aber auf die enge Verschränkung von der aufkommenden Bedeutung und Gestaltung städtischen Raums auf der einen Seite und sozialem Protest auf der anderen Seite hin, wie sie Anton Rosenthal für die Formierung der modernen lateinamerikanischen Stadt zur Jahrhundertwende aufzeigt.75 Die politisch verordneten Maßnahmen zur quema und zum barrio de las ranas folgten einer wissenschaftlichen Argumentationslinie, in der sich Diskurse der öffentlichen Hygiene zur Eindämmung gesundheitsgefährdender Substanzen und Materialien und sozialhygienische Argumente, die den menschlichen Körper und soziale Milieus fokussierten, miteinander verschränkten. Der barrio de las ranas war das bekannteste und am stärksten repräsentierte Elendsviertel seiner Art – vereinzelt berichtete die Magazinpresse aber auch von ähnlichen Ansiedlungen auf den Müllverbrennungsanlagen von Rosario und Avellaneda, ebenso wie auf den zeitweise wieder neu entstehenden offenen Müllkippen, da infolge mangelnder Investitionen die modernen Verbrennungsöfen mitunter versagten. Damit einher gingen eine öffentliche, als Spektakel entworfene Problematisierung der Ansiedlungen und der cirujas, die von der Presse vorangetrieben wurde. Der Magazinpresse kam in der Sichtbarmachung und Popularisierung der quema als schädlichem und marginalem, gleichsam faszinierenden Sozialraum eine bedeutende Rolle zu, wie im Folgenden gezeigt wird. Expeditionen zur quema de basuras Die genaue Lage und Ausbreitung der Siedlung differieren in verschiedenen Quellen und sind in der Forschung umstritten.76 Entscheidend für die Reportagen war jedoch weniger ihre exakte Lokalisierung, sondern die Repräsentation ihrer
74 Vgl. Guevara, Pobreza y marginación, 1999, S. 291. 75 Vgl. Rosenthal, Anton: „Spectacle, Fear, and Protest. A Guide to the History of Urban Public Space in Latin America“, in: Social Science History, 24, 1, 2000, S. 33-73. 76 Guevara lokalisiert den Barrio grob zwischen der südlichen Eisenbahnlinie von Buenos Aires, der Calle de las Cina-Cinas genannten Avenida Amancio Alcorta und dem Riachuelo. Vgl. Guevara, Pobreza y marginación, 1999, S. 285.
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soziotopografischen Entfernung in Relation zu einer mit dem städtischen Zentrum assoziierten gesellschaftlichen Mitte. So beschrieb Juan José Soiza Reilly den Ort 1905 folgendermaßen: „Radicado en la quema de las basuras, detrás de los antiguos corrales de abasto, muy lejos de las calles sonoras y de los frontispicios luminosos, este pueblo, lleno de misterio, tiene en su aspecto la tristeza de una ciudad que durmiera en brazos de la muerte.“77 Die Stadt mit ihrer elektrischen Beleuchtung und den belebten Straßen wurde als modern und lebendig repräsentiert, während der „pueblo de las ranas“ als sozial und politisch aus der Zeit gefallen und als morbide in Kontrast gesetzt wurde. Die Distanz zwischen den Polen des Modernen und des Archaischen wurde 1903 auch im Suplemento de La Nación räumlich durch eine ‚leere‘ Zwischenzone, das Gebiet der Viehgehege der Stadt, heraufbeschworen. Die journalistische Aufgabe bestand hier in der Überschreitung dieser Grenzzone und der Überwindung der räumlichen Distanz, hinter der sich jenes „espectáculo extraordinario“ versteckt hielt, das es für die Leserinnen und Leser zu entdecken und zu vermitteln galt. In dieser Reportage wurde die Beschwerlichkeit dieser Passage beschrieben: Verlasse man die letzte Eisenbahnstation Barracas del Sur, müsse man den nicht enden wollenden Windungen des Riachuelo flussaufwärts folgen, bis man die Rauchsäulen der kraterartigen Müllanlage vor sich aufragen sehe, und schließlich noch ein brach liegendes, mit verrosteten Drähten schlecht eingezäuntes Gelände voller hungriger Straßenhunde überqueren.78 In einer Reportage des Magazins PBT wurde die Erkundung des Viertels sogar von einem Polizeibeamten begleitet, der den Reportern bei der Orientierung und zum Schutz behilflich sein sollte.79 Guevara verdeutlicht jedoch, dass die räumliche und soziale Unbestimmtheit des barrio de las ranas aus umgekehrter, also subalterner Perspektive, nicht bestanden hat. Die Eisenbahnstrecke des tren de la basura verband die Ansiedlung mit den Stadtvierteln Barracas, La Boca, Once, San Fernando und Recoleta und ermöglichte den BewohnerInnen, in oder auf den Güterwaggons ganz einfach fast die gesamte Stadt zu erreichen.80 Über diese und andere Verbindungswege fand auch ein reger Austausch und häufige Wohnortswechsel von BewohnerIn-
77 Soiza Reilly, Juan José: „Un pueblo misterioso“, in: Caras y Caretas, 8, 370, 04.11.1905, S. 60. 78 „Quema de basuras“, in: Suplemento de La Nación, 2, 26, 15.01.1903, S. 5 f. 79 Vgl. Ortiz, R. I.: „Buenos Aires arrabalesco. El barrio de las ranas“, in: PBT, 4, 114, 19.01.1907, S. 95. 80 Vgl. Guevara, Pobreza y marginación, 1999, S. 284.
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nen unterschiedlicher Armutsviertel in Buenos Aires statt.81 Ebenso ist von einer sozialen Anbindung der Siedlung an die Bewohnerschaft der Wohnviertel der umliegenden corrales auszugehen, so dass weder von einer versteckten Lage des barrios noch von seiner Isolation die Rede sein kann. Dennoch wurde hier von den Reportern, wie schon bei den Flussufern, ein heterotopischer Ort wahrgenommen, den zu finden und zu betreten nicht einfach war und wo ein Zugang stets aufs Neue ‚entdeckt‘ werden musste. Aus der Sicht der Presse wurden die Elendsviertel der Müllhalden zu randständigen Kontrastzonen, gleichzeitig jedoch über die Reportagen zu integralen Bestandteilen der Stadt, die das Interesse des städtischen Lesepublikums erregen sollten. Bereits in der ersten Ausgabe der Rubrik „Buenos Aires arrabalesco“ im Magazin PBT, die sich dem ‚bunten Leben‘ in den ärmeren Vororten widmete, stand die quema von Buenos Aires im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Reportage bemühte sich wiederum um eine Schilderung der extremen Kontraste zwischen dem randständigen und verkommenen barrio de las ranas und den modernen attraktiven Teilen der Stadt, insbesondere des reichen Stadtteils Palermo, betont jedoch, dass auch der arrabal82 zur ‚Physiognomie‘ der Stadt gehöre: „Son los gestos diversos de la gran metrópolis, los rasgos múltiples y pintorescos de su fisonomía; y unos y otros, amables o feos, hermosos o tristes, forman ese panorama inmenso, burbujeante, poliforme, llamado ciudad de Buenos Aires.“83 Auch die Müllverbrennungsanlage der ebenfalls im Aufschwung begriffenen Stadt Rosario wurde 1911 Gegenstand einer Reportage, die sie als Grenzort des modernen städtischen Lebens repräsentierte. Reporter der Zeitschrift Caras y Caretas näherten sich darin der zwischen dem Flussufer des Paraná, den Schlachthöfen und dem Waisenhaus gelegenen Müllverbrennungsanlage, neben der sich ebenfalls eine Siedlung von cirujas befand. Diese liege dort, „por donde la ciudad tiende sus líneas de ataque á la campaña y al baldío“ und stelle einen
81 Vgl. ebd., S. 283 f. Guevara geht davon aus, dass infolge eines stadtplanerischen Projekts unter dem Bürgermeister Torquato de Alvear für eine Promenade am Río de la Plata im Bereich des Stadtteils Recoleta, die zwischen 1885 und 1887 gebaut wurde, ein Exodus der dortigen in Armutsverhältnissen lebenden Bevölkerung zum barrio de las ranas stattgefunden hat. 82 Mit arrabal wurden jene äußeren Stadtteile von Buenos Aires bezeichnet, die stark migrantisch und proletarisch geprägt waren. 83 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 15.12.1906, S. 95 f.
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außerordentlichen Kontrast zum Rest der Stadt dar, die hingegen einen „aspecto de limpieza característico de las modernas ciudades americanas“ trage.84 Abbildung 3.8
Quelle: Caras y Caretas (1911)
Die Repräsentation von räumlich-sozialer Marginalität fand auch über die Bildsprache der verwendeten Fotografien statt. Das Bild der Siedlung in Rosario (Abbildung 3.8) ist von einem Zaun durchzogen, der die Landschaft in zwei Teile unterteilt: Im Inneren des Zauns befindet sich eine bewohnte, chaotische Zone, die Spuren des (baulichen) Verfalls trägt; auf der anderen Seite, von der aus das Foto aufgenommen wurde, ist nur der sandige mit spärlichen Pflanzen übersäte Untergrund zu erkennen. Der Zaun markiert die physische Grenze der Stadt als fragile, überwindbare Abgrenzung zu einem leeren, wilden Außen. Der städtische Rand wurde darin mit dem ‚Barbarischen‘ der Pampa identifiziert, und durch seine Lokalisierung innerhalb der Stadtgrenzen (ikonografisch des Zauns) zu einem urbanen Problem erkoren. Der Gegensatz wurde auch in architektonischer Hinsicht in der Reportage von 1907 in PBT für das barrio de las ranas in Buenos Aires herangezogen: In Kontrast zur modernen städtischen Architektur beschrieb der Journalist R.I. Ortiz den Ort als ungeordnete barbarische Topografie: „Dos ó tres manzanas cuadradas forman el radio ranero, y el caserío, - si tal puede llamarse á una agrupación grotesca de barracas y cuevas inverosímiles - se extiende irregularmente en quebrados zigzags. El hacinamiento se vuelve bárbaro en ciertos trechos.“85 Diese Darstellungen der Magazinpresse perpetuierten den Topos der civilización y barbarie und projizierten ihn auf die Elendssiedlungen der Müllverbrennungsanlagen in Abgrenzung zu einer als zentral und fortschrittlich gedachten städti84 „La quema rosarina“, in: Caras y Caretas, 14, 642, 21.01.1911, S. 71 f. 85 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 19.01.1907, S. 93.
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schen Gemeinschaft. Das Umfeld der quema wurde dabei als frontera und damit als Grenzraum zwischen zivilisierter und barbarischer Welt symbolisiert. Damit wurde bis zur sogenannten conquista del desierto die Grenzzone zwischen indigenem und argentinischem beziehungsweise vormals kolonialstaatlichem Gebiet bezeichnet. Aus kolonialer und nationalstaatlicher Perspektive war die frontera ein „sozio-kultureller Raum, in dem sich allenfalls rudimentäre, ständig bedrohte soziale Verhältnisse und politische Strukturen ausbildeten und in dem Aufsässigkeit, Rechtlosigkeit oder körperliche Gewalttat vorherrschten".86 Die Gefahrenwahrnehmung galt dabei sowohl den Grenzgesellschaften ‚diesseits‘ der frontera als auch den Indigenen ‚jenseits‘ der Grenze, die in Form von so genannten malones Dörfer und Viehbestände überfielen, plünderten und Gefangene nahmen.87 Neben den bereits aufgezeigten räumlichen Allegorien des Grenzraums fand auch die Metapher des malón Eingang in die Darstellungen der quema. In mehreren Reportagen wurde das dortige Eintreffen der Lastwagen, welche die Abfälle aus den verschiedenen Stadtgebieten transportierten, als Situation geschildert, in der die cirujas überfallartig über die noch geladenen Müllmassen herfielen. Über die Bezeichnungen als „asalto“88 und als „malón“89 wurde die Metapher
86 Riekenberg, Michael: „Staatsbildung von der Grenze her? Zur Entwicklung der indianischen Grenze und politischen Rolle der Grenzgesellschaften im südlichen Hispanoamerika (1776-1829)“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 41, 7, 1993, S. 716729, S. 717. Sozialgeschichtliche Forschungen zur frontera betonen insbesondere den interethnischen und durchlässigen Charakter des Grenzraums. Siehe dazu: Quijada, Mónica: „Repensando la frontera sur argentina. Concepto, contenido, continzuidades y discontinuidades de una realidad espacial y etnica“, in: Revista de Indias, LXII, 224, 2002, S. 103-142; Ortelli, Sara: „Marginalismo y relaciones interétnicas. Blancos e indios en la frontera rioplatense en el siglo XIX“, in: Revista Complutense de Historia de América, 26, 2000, S. 181-198. 87 Zur soziokulturellen Bedeutung der malones und insbesondere des Topos der cautiva – der weißen Frau als Gefangene der Indigenen, siehe auch: Rotker, Susana: Captive Women. Oblivion and Memory in Argentina, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 2002. 88 Proteo: „Lacras de la gran metropoli. Residuos orgánicos y residuos sociales“, in: Fray Mocho, 7, 318, 30.05.1918, S. 14. 89 Die Metapher des malón wurde in dieser Reportage gleich doppelt verwendet: Sowohl für die Mikroben, die sich millionenfach über die Abfälle hermachten; ebenso wie für die „centenares de hombres, mujeres y niños“, die mit ihnen parallelisiert wurden. Retorta, El malón de los microbios, 30.05.1908, S. 71.
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der indigenen Attacken heraufbeschworen und in ein zeitgenössisches Bild der ‚barbarischen Bedrohung‘ überführt. Das Bild der Plünderung fand auch visuelle Entsprechungen. So zeigt Abbildung 3.9, die Teil einer Reportage in Fray Mocho von 1918 war, das Eintreffen eines von Pferden gezogenen Abfallwagens, der von allen Seiten von Kindern und Frauen umringt wird, während mehrere Männer den Wagen bereits bestiegen haben und an seiner Ladung zerren.90 Die cirujas fungierten in diesem Bild als das dialektische Gegenüber einer modernen Konsumgesellschaft. Abbildung 3.9
Quelle: Fray Mocho (1918)
Die gefährlichen Klassen des barrio In den Betrachtungen, welche die Magazine hinsichtlich der Bewohner und Bewohnerinnen des barrio de las ranas machten, formierte sich ein Sozialraum der mala vida, der hygienische und sozialmedizinische Problematisierungen aufnahm und darüber hinaus Aspekte von Delinquenz, Promiskuität und Degeneration zentral stellte. Die sozialen Charakteristika wurden von Juan José Soiza Reilly folgendermaßen hergeleitet: „Todos viven unidos. Los une la confraternidad de la miseria y del vicio; del amor y del odio.“ Kernelement des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der raneros seien der kriminelle Instinkt ihrer Mitglieder, der Alkoholkonsum und die Gewalttätigkeit der Männer, die Schamlosigkeit und Promiskuität der Frauen, sowie die Weitergabe dieser Eigenschaften an die Kinder. Gegen diese kriminelle Gesellschaft sei die Polizei
90 Vgl. Proteo, Lacras de la gran metropoli, S. 14.
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komplett machtlos.91 Als größtes Übel machte Ortiz in PBT 1907 die Prostitution aus, der sich 50 bis 60 so genannte turras, Lunfardo für Prostitutierte, verschrieben hätten, während etwa doppelt so viele canflinfleros, Lunfardo für Zuhälter, in der Siedlung ansässig seien. Der barrio de las ranas würde an bestimmten Tagen zu einem Anziehungspunkt von Männern aus den schlechten Vierteln der ganzen Stadt und die gesamte Siedlung verwandle sich in eine „feria de la crápula“.92 Die Magazinpresse hatte den barrio de las ranas im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Darstellungen sensationalisiert und Vorstellungen eines sozialen Milieus hervorgebracht, die auch in populärkulturelle Werke einflossen, so etwa in das 1910 von Enrique García Velloso uraufgeführte Theaterstück En el barrio de las ranas, in dem die Siedlung als Schauplatz für kaltblütige Verbrechen und leidenschaftliche Auseinandersetzungen zwischen ihren BewohnerInnen inszeniert wurde, die sich am Rande der Stadt, am Rande des Gesetzes und am Rande des Überlebens bewegten.93 Die Hauptfiguren in García Vellosos Drama waren Teil einer Gemeinschaft von Gelegenheitsdieben, Prostituierten, einer Wahrsagerin, von so genannten malevos, Bettlern und MüllsammlerInnen, die in elenden Verhältnissen und im Müßiggang lebten.94 Sie wurden als ungebildet, alkoholabhängig, abergläubisch, promiskuitiv und skrupellos dargestellt. Wie sehr das Thema den Nerv der Zeit traf, verdeutlichte der große Erfolg des Stücks: Bereits bei der Premiere drängten sich Menschenmassen an die Theaterkasse und versuchten sich Einlass zu verschaffen, bis Polizei und Feuerwehr eingriffen, um für Ordnung zu sorgen.95 Die Theaterkritiken feierten García Vellosos Stück. Die Tageszeitung La Nación bemerkte, dass die Hand-
91 Soiza Reilly, Un pueblo misterioso, 04.11.1905, S. 60. 92 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 19.01.1907, S. 93. 93 Siehe: García Velloso, Enrique: En el barrio de las ranas, Buenos Aires: Univ. de Buenos Aires 1985 [1910]. 94 Der malevo ist eine typische Figur der frühen Tangoliteratur und des Dramas der Jahrhundertwende. Donald S. Castro analysiert den literarischen Stereotyp des malevo als kaltblütigen, kreolischen und entfremdeten Städter, der oftmals, aber nicht notwendigerweise in die kriminelle Unterwelt verwickelt ist. Er kann zeigen, wie sich der negative Stereotyp des gefährlichen Mannes der Unterschicht ab den 1920er Jahren zu einem Symbol argentinischer Männlichkeit wandelt und positiv besetzt wird. Vgl. Castro, Donald S.: „The Image of the Creole Criminal in Argentine Popular Culture: 1880-1930“, in: Studies in Latin American Popular Culture, 2006, S. 95-117, S. 112 f. 95 Vgl. ebd., S. 109. Castro bezieht sich auf eine Theaterrezension aus der Tageszeitung La Nación vom 04. November 1910.
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lung des Dramas aus dem täglichen Polizeibericht hätte stammen können,96 was nicht abwegig war, denn der Autor hatte sich offenbar von den in der Verbrechenschronik der Zeitungen verbreiteten Mordfällen eines Händlers und eines Gaunerpärchens inspirieren lassen.97 Daran wird deutlich, dass die Repräsentationen des Lebens der cirujas auch intertextuell als wechselseitiges Zitat zwischen Presse und literarischen Produktionen funktionierten, das zum Zeitpunkt der Aufführung 1910 bereits eingespielt war und von den begeisterten Zuschauern und Zuschauerinnen problemlos verstanden wurde.98 Die gesellschaftsschädigende Bedrohung durch die Siedlung bestätigte sich in der Presse nicht allein durch Kriminalität und Prostitution, sondern wurde auch hinsichtlich der dortigen Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse problematisiert. So wurden die BewohnerInnen des barrio de las ranas in einer Reportage im Suplemento de La Nación 1903 als Menschen „sin familia y sin apellido“ charakterisiert. Überall liefen demzufolge nackte Kinder umher, die sich im Dreck suhlten und deren Haut von Schmutz verkrustet sei.99 In den Ausführungen von Soiza Reilly in Caras y Caretas hieß es wiederum, dass die vielen Kinder der Siedlung nicht einmal wüssten, wer ihre Eltern seien.100 Zum Fehlen familiärer Strukturen und einer daraus resultierenden Vernachlässigung von Kindern fügten sich auch Repräsentationen von maskulinisierten Frauen: Ortiz berichtet in seiner ersten von zwei Reportagen über die quema für
96 Vgl. ebd. Castros Referenz gilt hier einem Artikel, der eine Woche später in La Nación erschien (11. November 1910). 97 Vgl. Castagnino, Raúl Héctor: „Nota preliminar”, in: García Velloso, En el barrio de las ranas, 1985 [1910], S. 19. So lobte auch der Literaturwissenschaftler und Theaterexperte Casadevall den Verfasser des Stücks vor allem aufgrund seiner Gabe, das Publikum mit Episoden und Figuren ‚aus dem wirklichen Leben‘ zu unterhalten und das düstere Ambiente und die ‚brodelnden Passionen der mala vida‘ ins Dramaturgische zu übersetzen. Vgl. Casadevall, Domingo F.: El tema de la mala vida en el Teatro Nacional, Buenos Aires: Kraft 1957, S. 94. In En el Barrio de las Ranas von García Velloso taucht auch die Figur des Journalisten auf, der zusammen mit einem Künstler aus der Perspektive des städtischen Zentrums über die quema spricht, sie und die dort lebenden Menschen aufsucht und über sie berichtet. 98 Andere literarische Werke, in denen die quema als Raum für Verbrechen und menschliche Dramen dient, sind beispielsweise die Kurzgeschichte Con los nueve (Algunas crónicas policiales) von Félix Lima (1908) und Del mismo barro von Pedro Pico (1910). 99 Quema de basuras, 15.01.1903, S. 6. 100 Vgl. Soiza Reilly, Un pueblo misterioso, 04.11.1905, S. 61.
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PBT von einer „mujer vestida de hombre, cuya identidad sexual hubiera resultado dificilísima para el mismo jefe de la comisería de pesquisas“.101 In seiner zweiten Reportage beschrieb er eine Bewohnerin als „especie de marimacho roñoso y ebrio... Se la conoce por el nombre de la china Barrea, y es uno de esos tipos que sugieren las más graves dudas acerca de la existencia de un sexo bello por antonomasía“.102 Auf der fotografischen Abbildung wird die beschriebene Frau in militärischer Pose des Salutierens präsentiert und in der Bildunterschrift auch als „Sargento Barrea“ bezeichnet. Der militärische Habitus fungiert hier als symbolisches Element der Maskulinisierung. „La china Barrea“ steht dabei stellvertretend für den Frauentyp der chinas, die hier beschrieben werden als „tipos bajos, regordetones, innobles, del belfo bravo y obsceno y de ojos en los cuales la crápula ha encendido resplandores lívidos de alcohol y de vicio“.103 Bei der Figur der china handelte es sich um ein Stereotyp, das sich analog zu dem des männlichen Gaucho im 19. Jahrhundert auf die Frauen in den Grenzzonen der argentinischen Pampa bezog. In ihrer sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchung zu den argentinischen chinas stellte Diana Marre sie als subalterne soziale Akteurinnen heraus, die als Bewohnerinnen der frontera Teil einer hybriden Kultur indigener und hispanisch-kreolischer Prägung waren. In Reiseberichten, literarischen und anderen Quellen wurden chinas mangelnde Häuslichkeit, Ungepflegtheit und unkontrollierte Sexualität zugeschrieben.104 Die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit und der Herkunft der BewohnerInnen des barrio de las ranas wurde in der Magazinpresse nicht expliziert; dennoch vermittelten die Repräsentationen von Raum und Bevölkerung das Bild eines ethnisch differenten, ‚nicht-weißen‘ Raums. Ebenso wie das indigene Element in der Bezeichnung der chinas und in der Metaphorik der frontera mitschwang, wurde auch das Afroargentinische unterschwellig in Wort und Bild dargestellt. So handelte es sich bei einem Interviewpartner auf der quema um eine „especie de mulato“,105 eine andere Reportage sprach von einem „negro formidable y ya viejo, alto, recio, horrible“,106 und mehrere Reportagen veröffentlichten Fotos von afroargentinischen Frauen und Männern, die in den bespro-
101 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 15.12.1906, S. 97. 102 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 19.01.1907, S. 94. 103 Ebd., S. 93. 104 Vgl. Marre, Diana: Mujeres argentinas: Las chinas. Representación, territorio, género y nación, Barcelona: Universidad de Barcelona 2003, S. 263. 105 „Un millonario teórico. Reportajes fotograficos“, in: Caras y Caretas, 4, 137, 18.05.1901, S. 44. 106 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 15.12.1906, S. 97.
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chenen Elendsvierteln lebten, so beispielsweise jenes der „negra Filomena“ in der Reportage von Caras y Caretas über die Müllhalde von Rosario107 und des „negro Pantaleón“ in Fray Mocho (Abbildung 3.10).108 Abbildung 3.10
Quelle: Fray Mocho (1923)
In der Forschung werden verschiedene Hinweise auf die Herkunft der BewohnerInnen des barrio de las ranas gegeben, die auf eine heterogene ethnische Gemeinschaft hinweisen. Die Stadtverwaltung wollte in den 1870er Jahren eine Gruppe indigener ArbeiterInnen als MüllsortiererInnen unter Vertrag nehmen, die zur Gemeinde des Kaziken Cipriano Catriel gehört hatten. Diese waren nach der Eroberung ihrer Gebiete in eine provisorische Unterkunft in Mataderos gebracht worden und hatten daraufhin bei der Stadt Buenos Aires um eine Zuweisung von Land für ihre Familien gebeten.109 Prignano weist zudem darauf hin, dass sich die VertragsnehmerInnen auf der quema außerdem aus BinnenmigrantInnen aus den Provinzen konstituiert hätten, die zuvor auf der Suche nach bes107 Vgl. La quema rosarina, 21.01.1911, S. 72. 108 Vgl. Cobianchi: „Personajes de ‚Latápolis‘. El negro Pantaleón“, in: Fray Mocho, 10, 502, 06.12.1921, S. 14. 109 Vgl. Prignano, Crónica de la basura porteña, 1998, S. 133.
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seren Lebensbedingungen nach Buenos Aires gekommen waren.110 Guevara betont zudem die Wahrscheinlichkeit einer hauptsächlich ortsansässigen Bevölkerung durch den konstanten Austausch mit den Corrales, die aus Zensusdaten hervorging.111 Zudem ist von einem Anteil von Veteranen des Tripelallianzkriegs in Paraguay auszugehen sowie von vereinzelten Veteranen der Unabhängigkeitskriege, die in den Presseschilderungen als authentische personalidades herausgestellt wurden. Es kann also von einer ethnisch gemischten Bewohnerschaft des barrio de las ranas ausgegangen werden, die sich als Resultat von Migrationsprozessen aus unterschiedlichen sozioökonomischen Motiven gebildet hatte. Die Herausstellung ‚ethnischer Abweichung‘ von Teilen der cirujas gegenüber der als weiß imaginierten Nation war Teil eines Marginalisierungsdiskurses über biologische und soziale Merkmale, den die Magazinpresse vermittelte. Weiterhin finden sich Bezüge zu Degenerationstheorien in den Repräsentationen der raneros und raneras, die rhetorisch mit Tiermetaphern einhergingen. So beschreibt Ortiz den Arbeitsablauf der cirujas folgendermaßen: „A la hora del ‚trabajo‘, entre 1 y 3 de la tarde, toda aquella porción degenerada de humanidad, toda aquella recua de desgraciados se dirige en mesnada al sitio donde los carros municipales depositan su carga de basura, y de entonces comienza el asalto cotidiano. Armado los unos de horquillas, otros de palos y muchos de las propias uñas, todos se largan en avalancha sobre los inundicias, las que escarban, desmenuzan, olfatean ó devoran, deslizándose y ondulando por en medio del humo y la basura, como renacuajos en el fango, como reptiles en la maleza, olvidados é inconscientes de todo, hambrientos, gruñentes, asquerosos...“112
Die Metaphern der Animalisierung betonten das Naturgemäße gegenüber dem Kulturellen und das Kollektive gegenüber dem Individuellen: etwa in den bereits angeführten Darstellungen als ‚Meute‘ oder ‚Horde‘ in ihrer Arbeitstätigkeit, in der kollektiven Bewegung eines „hormiguear incesante de gusanos y ratones“113 und einer gemeinsamen „voluptuosa filosofía de los cerdos“.114 An anderen Stellen wurde gar ihre Entmenschlichung formuliert: Eine Bildunterschrift beschreibt die Fotografie eines greisen ciruja als „imagen de un residuo humano“,
110 Vgl. ebd. 111 Vgl. Guevara, Pobreza y marginación, 1999, S. 284. 112 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 15.12.1906, S. 96 f. 113 Quema de basuras, 15.01.1903, S. 6. 114 Soiza Reilly, Un pueblo misterioso, 04.11.1905, S. 60.
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auf dessen Gesicht sich der leidende Ausdruck der „ex-hombres“ zeige.115 Auch das Fehlen einer Seele wurde zur Entmenschlichung und Tierwerdung der cirujas herangezogen: „Abordamos á algunos de aquelos desgraciados, y nos convencimos de que en ellos el alma no está ausente, como en el criminal, ni dormida, como en el degenerado; en ellos el alma está sencillamente muerta, como en la bestia.“116
Das aufgerufene und medialisierte Bild des Tieres als dem ultimativen Gegensatz menschlicher Subjekthaftigkeit zeugt nicht nur von einer Strategie der Skandalisierung der Subalternen, sondern auch von einer Ratlosigkeit in der Beschreibung heterotopischer Lebensweisen. Deren Verweigerung von geordneter Sesshaftigkeit, hygienischer Sorge, geschlechtlicher Eindeutigkeit, ‚rassischer‘ Zugehörigkeit, familiärer Ordnung oder geregelter Lohnarbeit versteht diese Arbeit auch als widerständige Praxis gegenüber einer Politik der bürgerlichen Einhegung: Mit diesen Menschen war kein Staat zu machen.
115 Proteo, Lacras de la gran metropoli, 30.05.1918, S. 15. 116 Ortiz, Buenos Aires arrabalesco, 15.12.1906, S. 97.
Proletarische Wohnverhältnisse
Die Wohnverhältnisse der Stadtbevölkerung gehören zu den am häufigsten besprochenen und dargestellten sozialen Themen in der Magazinpresse nach der Jahrhundertwende. Der Wohnraum der Arbeiterklasse wurde im Hinblick auf die hygienischen Zustände und daraus resultierende Gefahren für die Stadtbevölkerung in Buenos Aires und anderen Großstädten in Argentinien von medizinischen ExpertInnen, StadtplanerInnen und PolitikerInnen problematisiert. Besondere Beachtung fanden dabei die conventillos – jene großen Mietshäuser in den zentralen Stadtvierteln von Buenos Aires, in denen Familien und Alleinstehende, insbesondere junge Männer, der Arbeiterklasse lebten. In den conventillos wurden einfache Zimmer vermietet und sie verfügten in der Regel über einen kollektiv genutzten Innenhof oder Gang sowie gemeinschaftliche Nutzräume wie Waschräume und Küchen. Einige conventillos befanden sich in alten Villen jener Familien der Oberschichten, die seit den 1870er Jahren vermehrt in die nördlichen Stadtviertel gezogen waren; die große Mehrheit wurde jedoch in der Folgezeit neu gebaut. Generell teilten sich Familien oder Gruppen von ArbeiterInnen die Zimmer, so dass die conventillos eine hohe Bewohnerdichte aufwiesen und nicht selten einige hundert Menschen unter ihrem Dach versammelten.1 Diese Wohnform stand im Zentrum der Diskreditierung durch die Magazinpresse. Aber auch aus den Reihen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner kam Protest auf – allerdings weniger aufgrund von Hygienemängeln als gegen Mietwucher und Zwangsräumungen. Der Höhepunkt dieses Protests ereignete sich im Mietstreik von 1907, der über drei Monate dauerte und sich von Buenos Aires auf Rosario, Avellaneda, La Plata und Bahía Blanca ausbreitete.
1
Vgl. Aguilar, Paula Lucía: „Gobernar el hogar. La domesticidad y su problematización en los debates de la cuestión social en la Argentina (1890-1940)“, in: Ciencias Sociales, 135-136, 2012, S. 97-111, S. 100.
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Insbesondere seit den 1970er Jahren gibt es eine intensive sozialgeschichtliche Befassung mit dem Thema Wohnraum, die zugleich interdisziplinäre Anleihen macht: Neben der Geschichtswissenschaft beschäftigen sich die Soziologie, Anthropologie, Urbanistik, Architektur und Literaturkritik mit der Frage, wie die Wohnverhältnisse der clases populares aussahen.2 Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den conventillos um den Wohnraum par excellence der Arbeiterklasse gehandelt habe, gibt es kritische Einwände. Quantitativ variieren die Angaben über die Bewohner und Bewohnerinnen in conventillos etwa zwischen einem Viertel und einem Drittel der städtischen Gesamtbevölkerung. Aufgrund dieser Relationen sprechen sich Diego Armus und Juan Suriano gegen das ‚exzessive Gewicht‘, das den conventillos in der Frage des proletarischen Wohnraums beigemessen werde, aus und weisen auf die Bedeutung anderer Wohnverhältnisse der Unterschichten hin, wie zum Beispiel in eigenen Häusern oder Hütten, in kleinen Hotels und Pensionen, in Ladenlokalen, in Dienstmädchenzimmern und anderen, oftmals temporären Unterkünften.3 Der Diskurs über die proletarischen Wohnverhältnisse in der Magazinpresse durchlief mehrere Phasen, in denen die conventillos aus unterschiedlichen Perspektiven problematisiert wurden. Während sie in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in Bezug auf mangelnde Hygiene und als Keimherd für Epidemien ins Licht der Aufmerksamkeit rückten, widmete sich die Berichterstattung 1907 den Mietstreiks und damit verbundenen Protesten gegen Mietwucher und Zwangsräumungen. In den Jahren nach den Streiks wurden neben hygienischen Fragen zunehmend soziale Debatten um die Familienstrukturen, Vernachlässigung von Kindern, Geschlechterverhältnisse und Moral im Zusammenhang mit den conventillos geführt. In diesen Problematisierungszyklen wurden die conventillos zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses, der eine Lösung
2
Vgl. dazu den bibliografischen Essay von Diego Armus und Juan Suriano: Dies.: „The Housing Issue in the Historiography of Turn-of-the-Century Buenos Aires“, in: Journal of Urban History, 24, 3, 1998, S. 416-428. Zu den wichtigsten historischen Arbeiten über den Wohnraum in Buenos Aires gehören: Yujnovsky, Oscar: „Políticas de vivienda en la ciudad de Buenos Aires. 1880-1914“, in: Desarrollo Económico, 14, 54, 1974, S. 327-372; Scobie, James R.: Buenos Aires. From Plaza to Suburb, New York: Oxford Univ. Press 1974; Lecuona, Diego: Orígenes del problema de la vivienda, Buenos Aires: Centro Editor de América Latina 1993; Suriano, Juan: „Vivir y sobrevivir en la Gran Ciudad. Habitat popular en la ciudad de Buenos Aires a comienzos de siglo“, in: Estudios sociales. Revista universitaria semestral, 7, 1, 2005, S. 4968.
3
Vgl. Armus; Suriano, The Housing Issue, 1998, S. 424.
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für das unerwünschte Phänomen des geballten Wohnraums notwendig erscheinen ließ. Das conventillo wurde dabei als Bedrohung für den modernen Gesellschaftskörper an sich stilisiert, die einen biopolitischen Blick der Journalisten und LeserInnen in die Wohn- und Lebensverhältnisse der Menschen begründete. Am Horizont der ModernisierungsbefürworterInnen stand letztendlich das private Eigenheim und damit verbunden das Wachstum von Arbeitervorstädten als Lösung der Wohnraumfrage. Diese Entwicklungen waren von wissenschaftlichen Diskursen, politischen Auseinandersetzungen und sozialen Kämpfen geprägt und stellten keinen Determinismus der Modernisierung dar, sondern waren – wie die Untersuchung der Diskurse in der Magazinpresse zeigt – ein auch im Ergebnis offener Aushandlungsprozess verschiedener Akteure und Akteurinnen.
D AS
CONVENTILLO ALS
H YGIENEPROBLEM
Der Wohnraum der clases populares wurde bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung und der behördlichen Kontrolle und Intervention. Die Akademisierung und Institutionalisierung der higiene pública setzte bereits drei Jahrzehnte vor dem Aufkommen der Magazinpresse ein: Infolge der Cholera- und Gelbfieber-Epidemien der Jahre 1870 und 1871 wurden erste Regelungen zur materiellen Beschaffenheit und institutionellen Kontrolle von (kollektiven) Wohnräumen erlassen. Das conventillo wurde im Zuge dessen zum Inbegriff nicht nur der hygienischen, sondern auch der sozialen Missstände, die es zu bekämpfen galt. Guillermo Rawson, der sich mit der Bekämpfung der Epidemien einen Namen gemacht hatte und zu den bekanntesten médicos-políticos seiner Zeit gehörte, veröffentlichte 1883 eine Studie über die Mietshäuser von Buenos Aires, in der er ihr Gefahrenpotenzial folgendermaßen beschrieb: „Pensamos en aquella acumulación de centenares de personas, de todas edades y condiciones, amontonadas en el recinto malsano de sus habitaciones; recordemos que allí se desenvuelven y se reproducen por millares, bajo aquellas mortíferas influencias, los gérmenes eficaces para producir las infecciones, y que ese aire envenenado se escapa lentamente con su carga de muerte, se difunde en las calles, penetra sin ser visto en las casas, aun en las mejor dispuestas [...].“4
4
Rawson, Guillermo: „Estudio sobre las casas de inquilinato de Buenos Aires [1883]“, in: Martínez, Alberto B. (Hg.): Escritos y discursos del Doctor Guillermo Rawson, Buenos Aires: Comp. Sud-Americana de Billetes de Banco 1891, S. 105-177, S. 109.
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Die Wohnsituation der ArbeiterInnen beherbergte laut Rawson neben der Gefahr einer Ausbreitung von Epidemien auch jene des moralischen Verfalls: Sie führten zu Alkoholismus und rebellischem Verhalten selbst der aufrechten (männlichen) Arbeiter und im Fall der Kinder zu Nervosität und Krankheiten.5 Rawsons Analyse und Forderungen waren von Grund auf biopolitischer Natur: Er lokalisierte die schädlichen Orte als Gefahren für die Gesamtbevölkerung und leitete daraus die Notwendigkeit institutioneller Kontrolle und hygienischer Interventionen ab. Abbildung 4.1
Quelle: Mundo Argentino (1914)
Die Wahrnehmung des conventillo als Bedrohung von Hygiene und Moral zog sich unvermindert durch die Repräsentationen der Magazinpresse in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die 1915 in Mundo Argentino abgedruckte Fotografie eines conventillo ist eines von vielen Beispielen für die typische visuelle Repräsentation proletarischer Wohnverhältnisse: Das Bild zeigt einen Innenhof, um den sich die zweistöckigen Gebäude gruppieren und der von Wäscheleinen überspannt ist. Vom Hof und von der Balustrade aus gehen Türen und Fenster zu den einzelnen Zimmern ab, die mehrheitlich offen stehen, da sie die einzige Lüftungsmöglichkeit darstellen. Auf dem Hof sind Gruppen von
5
Vgl. ebd., S. 111 f.
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MieterInnen versammelt, darunter viele Kinder, die für die Kamera posieren (Abbildung 4.1). Die Problematisierung dieser Wohnverhältnisse in der Bildunterschrift zielte vornehmlich auf die stickige und übel riechende Atmosphäre und äußerte insbesondere hinsichtlich der großen Kinderscharen, die dort aufwuchsen, düstere Zukunftsperspektiven: „Ayachucho 1665, una de las madrigueras húmedas, pestilentes y asfixiantes de esta capital, donde viven amontonados en cuartuchos sin luz y sin aire 500 personas, entre ellas, centenares de criaturas destinadas a proyectar esta sombría visión en lo porvenir“.6 . Die Bekämpfung der ‚Keimherde‘ Die Intervention in den Wohnraum der Unterschichten erfuhr eine steigende Intensität und wachsende institutionelle Verankerung von den 1870er Jahren bis in die 1920er Jahre, wie Sandra Inés Sanchez in ihrer Untersuchung der gesetzlichen Einflussnahme auf den Wohnraum in Buenos Aires darstellt. Als Reaktion auf die Gelbfieberepidemie wurden in den 1870er Jahren erste munizipale Dekrete zur Regelung der räumlichen und materiellen Beschaffenheit des Wohnraums erlassen: Diese betrafen zunächst die bauliche Substanz von Wänden, Dächern und Böden, weiterhin die Anzahl der BewohnerInnen pro Zimmer und die räumliche Trennung von Küche und Latrinen.7 Die 1880er Jahre sahen eine neue Phase der institutionellen Kontrolle während der großen urbanistischen Reformen unter Bürgermeister Torcuato de Alvear. 1883 wurde in Buenos Aires die Asistencia Pública gegründet, ebenso der Cuerpo de Desinfectadores Públicos und die Oficina de Registro de Vecindad, die zu regelmäßigen Kontrollen und direkten Interventionsmaßnahmen legitimiert waren. Alle Gebäude, die von mehr als einer Familie bewohnt wurden, galten für die Hygienebehörden fortan als „casas […] ‚de trato público‘“.8 Zur Kontrolle der hygienischen Wohnverhältnisse setzten die Behörden so genannte visitadores domiciliarios als Personal ein, die vor Ort Krankheitsfälle, Sauberkeit und sanitäre Installationen registrieren und Befragungen der BewohnerInnen vornehmen sollten. Diese Besuche hatten auch einen erzieherischen Zweck, insofern die MieterInnen der conventillos mit hygienischen und moralischen Ratschlägen bedacht wurden. Ihre Emp-
6
„En la opulenta nación de 295 millones de hectares cuadradas en la que correspondería más que 4 hectares cuadradas a cada habitante, grande o chico“, in: Mundo Argentino, 4, 163, 18.02.1914, S. 12.
7
Vgl. Sánchez, Sandra Inés: „La vivienda en la normativa urbana de Buenos Aires entre 1872 y 1930. Desarollo institucional, tipologías, modelos e imaginarios“, in: Estudios del Habitat, 2, 8, 2005. S. 49-60, S. 52 f.
8
Sánchez, La vivienda en la normativa, 2000, S. 59.
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fehlungen legitimierten auf der anderen Seite auch die mitunter gewaltsame Inspektion, Desinfizierung, Räumung oder Zerstörung von Einrichtungen bis hin zu ganzen Gebäuden.9 Der Wohnraum der Arbeiterklassen wurde zunehmend zu einer behördlichen Angelegenheit, insofern er und seine BewohnerInnen im Namen des Allgemeinwohls unter biopolitischen Zugriff gestellt wurden. Mit der Darlegung und Visualisierung von hygienischen und sozialen Missständen in der Magazinpresse wurde das conventillo zu einem semi-öffentlichen Raum, dessen Sichtbarmachung und Reformierung aus Gründen des gesellschaftlichen Interesses legitimiert wurde. Die Magazinpresse berichtete in den Jahren um die Jahrhundertwende wiederholt von der Notwendigkeit eines Einschreitens der städtischen Behörden im Bereich der öffentlichen Hygiene. Sie transportierte darin im Wesentlichen die Hygienediskurse der medizinischen Eliten, indem sie die Notwendigkeit der Intervention für das Allgemeinwohl herausstellte und die Hygienemaßnahmen als Erfolgsgeschichte der urbanen Modernisierung feierte. Darüber hinaus nahm sie eine Vermittlerfunktion wahr, indem sie zum einen hygienische Missstände anprangerte und entsprechende Maßnahmen von den städtischen Behörden forderte. Zum anderen richtete sie sich auch unmittelbar an ihre Leserinnen und Leser, um diese von den hygienischen Interventionen zu überzeugen und gegen die Widerstände, die sich von Seiten der Betroffenen gegen die Maßnahmen regten, anzuschreiben. In der Reihe „Paseos fotográficos por el municipio“, die Caras y Caretas ab 1902 veröffentlichte, wurden immer wieder hygienische Missstände im öffentlichen Raum angeprangert. Sargento Pita, Autor der Reihe, zitierte darin vornehmlich empörte Bürger und Bürgerinnen, die sich über sanitäre und infrastrukturelle Missstände empörten. So beschwerte sich beispielsweise ein Ladenbesitzer über einen „foco de infección“, den ein verlassenes Gelände an der Kreuzung der Straßen Piedras und México darstelle,10 ein anderer über eine Straße in La Boca, die sich infolge eines Rohrbruchs in einen Sumpf verwandelt habe. 11 Die beanstandeten Orte wurden in den Reportagen fotografisch dokumentiert und unter Angabe der Straßenecke oder der Adresse genau lokalisiert.
9
Vgl. Caponi, Sandra: „Miasmas, microbios y conventillos“, in: Asclepio, 54, 1, 2002, S. 155-182, S. 171 f.
10 Sargento Pita: „Paseos fotográficos por el municipio“, in: Caras y Caretas, 5, 185, 19.04.1902, S. 28. 11 Sargento Pita: „Paseos fotográficos por el municipio“, in: Caras y Caretas, 5, 221, 27.12.1902, S. 35.
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Während in den Paseos der hygienisch informierte Blick der Reporter der Straße galt, wandte sich die Magazinpresse ebenfalls maßgeblich den hygienischen Missständen innerhalb der conventillos zu. 1899 veröffentlichte Caras y Caretas eine Reportage über die Hygienemaßnahmen der Asistencia Pública, deren Ziel vor allem die dicht bewohnten conventillos waren. Die Reportage schilderte und illustrierte auf drei Seiten zunächst die technischen und chemischen Fortschritte zur besseren Desinfektion des häuslichen Bereichs, die erfolgversprechende Maßnahmen für die salud pública – so das Schlagwort der higienistas – versprachen. Von drei für die Desinfektion geeigneten Chemikalien verwendete die Asistencia Pública der Reportage zufolge Quecksilber-Bichlorid, das im Gegensatz zu den beiden anderen gesundheitsschädlich, dafür aber günstiger sei.12 Die durchgeführten Desinfektionsmaßnahmen der visitadores domiciliarios und die dazu verwendeten Apparaturen wurden mit neun Fotografien als modernes Instrumentarium der öffentlichen Hygiene präsentiert. Dem durchdringenden Erfolg dieser Hygienemaßnahmen stünde einzig der Widerstand der Bewohnerinnen und Bewohner im Wege, die sich gegen die Asistencia Pública zur Wehr setzten: „Con los elementos de que hoy dispone la Asistencia Pública, la desinfección domiciliaria podría hacerse casi perfecta si no tropezara á cada paso con la mala voluntad de las familias á que, por lo general, son más retrógradas cuanto más inferior es su condición social. En los conventillos, sobre todo, la presencia de las cuadrillas desinfectadoras es invariablemente saludada con gritos de protesta, con recriminaciones de todo género y no pocas veces con insultos y agresiones á que tiene que poner coto la policía, y ha sucedido que los mismos agentes del orden público han sido blanco de los desmanes de las gentes que consideran la desinfección como un azote y la presencia de los inspectores de higiene como una calamidad.“13
Das Suplemento de La Nación schrieb über die Desinfektionsmaßnahmen der Asistencia Pública 1903: „Es indudablemente una de las mejoras que más han contribuido á modificar las condiciones higiénicas de Buenos Aires.“ Laut Statistik habe sich die Mortalitätsrate allein in den letzten sechs Jahren um rund ein Drittel reduziert und Buenos Aires gehöre nun zu den gesündesten Städten des Erdballs. Anschließend beschrieb und illustrierte die Reportage die technische
12 Vgl. Monzon, I.: „Las desinfecciones domiciliarias“, in: Caras y Caretas, 2, 57, 04.11.1899, S. 29. 13 Ebd., S. 31.
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und praktische Umsetzung der Desinfektionen im häuslichen Bereich und rechtfertigte deren Notwendigkeit zur Eindämmung von ansteckenden Infektionskrankheiten für das Allgemeinwohl. Sie berichtete auch von Fällen, in denen die Bewohner und Bewohnerinnen Widerstand geleistet hatten, und führte diesen zurück auf deren Aberglauben einer schädlichen Wirkung der Desinfektionen. Auch die Ratschläge der Liga contra la Tuberculosis, einer sehr einflussreichen Organisation, die sich für die öffentliche Hygiene einsetzte, würden nur unzureichend akzeptiert.14 Higienistas in Aktion Im März 1900 berichtete Caras y Caretas über das Vorgehen der Behörden gegen die Epidemie der Beulenpest. Das Departamento Nacional de Higiene und die Stadtverwaltung hätten sich auf ein energisches Vorgehen geeinigt, das der Ausbreitung der Krankheit entgegenwirken sollte. Das Magazin kommentierte und illustrierte besonders drastische Maßnahmen, die zur Prävention der Krankheitsausbreitung getroffen wurden. Die Reportage schilderte unter anderem das Schicksal eines Wohnhauses, das beschrieben wurde als „una de esas colmenas humanas, llamadas conventillos, en los que, generalmente, toda suciedad tiene su aposento.“15 Die Reportage berichtete über die Räumung und Niederbrennung des Hauses infolge mehrerer Krankheitsfälle. Sie zeigte weiterhin den Abtransport der MieterInnen zu einem Lazarett in Rosario, wo diese unbestimmte Zeit in Quarantäne verbringen sollten, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Von Seiten der Betroffenen habe es vergeblichen Protest gegeben, als sie von den Wagen der Asistencia Pública abgeholt wurden. Die militärische Einrichtung für die BewohnerInnen in Quarantäne wurde lobend herausgestellt: Es erfülle alle gängigen Standards von Hygiene und Komfort, sei weitläufig und geräumig und von Licht und Luft durchflutet.16 Von den insgesamt 22 Fotografien, welche die vierseitige Reportage illustrierten, zeigte die Mehrzahl neben den dargestellten Maßnahmen am Gebäude die politischen und wissenschaftlichen Autoritäten, die für die Intervention verantwortlich waren: die Experten der Asistencia Pública, den Bürgermeister, die Nachbarschaftskommission, den Hygieneinspektor und die Mediziner des Lazaretts. Demgegenüber befanden sich die Betroffenen der Maßnahmen in keiner der Fotografien im Mittelpunkt, sondern tauchten ledig14 Vgl. „La desinfección en la Capital“, in: Suplemento de La Nación, 23, 05.02.1903, S. 15 f. 15 „Contra la bubónica. Aislamiento de families e higienización de viviendas“, in: Caras y Caretas, 3, 77, 24.03.1900, S. 23-26, S. 24. 16 Vgl. ebd., S. 24 f.
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lich im Randbereich oder im Hintergrund der Fotografien auf. Stets der Kamera abgewandt bildeten sie allenfalls einen passiven und machtlosen Teil des Szenarios. Abbildung 4.2
Quelle: Caras y Caretas (1900)
Die Ärzte des Lazaretts von Rosario posierten auf einem der Bilder für die Kamera und hatten dafür eigens in eine sitzende und eine stehende Reihe gebildet (Abbildung 4.2). Die Fotografie betont durch die Geschlossenheit der Gruppe, die Körperhaltung und die Kleidung den Expertencharakter der Dargestellten. Die Demonstration von Professionalität untermauerte die Legitimität der Intervention. Das widerständige Element fand hingegen keine entsprechende visuelle Darstellung, sondern wurde lediglich im Text erwähnt. Der Widerstand gegen die sozialhygienischen Maßnahmen der neuen staatlichen Institutionen ist bislang kaum untersucht worden.17 Die häuslichen Inspek17 Folgende Arbeiten bearbeiten diese Forschungslücke für den klinischen Bereich: Pita, Valeria: „De las certezas científicas a la negociación en la clínica. Encuentros y desencuentros entre médicos y mujeres trabajadoras: Buenos Aires (1880-1900)“, in: Carbonetti, Adrián; González, Ricardo (Hg.): Historias de salud y enfermedad en América Latina, Córdoba: Universidad Nacional de Córdoba 2008, S. 51-71; Armus,
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tionen und Desinfektionen, die Zwangsräumungen ebenso wie die Einführung der gesetzlichen Impfpflicht gegen bestimmte Krankheiten von 1903 (Ley de vacunación y revacunación) schürten jedoch nachweislich individuellen und kollektiven Protest seitens derjenigen, deren Körper und Wohnräume Gegenstand staatlicher Eingriffe wurden.18 Das Magazin Caras y Caretas schilderte die widerständigen Reaktionen auf die Hygieneinterventionen als störendes Element in einer modernen, erfolgversprechenden städtischen Hygienepraxis und wirkte gleichzeitig in ratgebender Funktion auf ihre Leserinnen und Leser ein. Die Schilderung einer Impfkampagne gegen die Pocken, 1904 von der Asistencia Pública durchgeführt, wurde in einer Reportage ausführlich erklärt und als erfolgreiche Eindämmung der grassierenden Krankheit bestätigt: „Gracias a la oportuna intervención de la Asistencia Pública, el mal ha sido atajado en un principio, no llegando a revestir el serio peligro que se le auguraba.“ Anschließend wurden die Vorkehrungen der Hygienebehörden für die Haushalte, in denen sich Pocken-Infizierte befanden, in allen Einzelheiten von körperhygienischen Tipps bis zu Putzanweisungen weitergegeben, „que aún es de oportunidad dar á conocer á nuestros lectores“.19 Die fotografische Abbildung zeigte zwei Mediziner bei der Durchführung der Impfkampagne in einem conventillo (Abbildung 4.3). Sie hält den Moment fest, in dem einer der beiden Ärzte einem Kind die Injektion setzt, das auf dem Schoß seiner Mutter oder einer älteren Verwandten sitzt. Dabei sind sie umringt
Diego: „Cuando los enfermos hacen huelga. Argentina, 1900-1940“, in: Estudios sociales. Revista universitaria semestral, 11, 20, 2001, S. 53-80; ders., La ciudad impura, 2007. Armus untersucht in beiden Publikationen individuelle und kollektive Konfliktsituationen zwischen Tuberkulose-PatientInnen und MedizinerInnen im Zeitraum von 1910 bis 1940, in denen die Kranken sich Handlungsspielräume schufen und Proteste artikulierten. 18 Die Desinfektionen und Zwangsräumungen wurden von MieterInnen und auch von VermieterInnen oftmals schlicht vermieden, indem sie Krankheitsfälle nicht meldeten und verheimlichten. Kollektiver Protest ereignete sich beispielsweise 1900 im Stadtviertel Refinería von Rosario und 1903 in einem Außenbezirk von Buenos Aires. Vgl. Armus, Diego: „El descubrimiento de la enfermedad como problema social“, in: Lobato, Mirta Zaida (Hg.): El progreso, la modernización y sus límites (1880-1916), Buenos Aires: Ed. Sudamericana 2000, S. 507-551, S. 537. Der Widerstand gegen die Impfungen war aus Sicht der Eliten ebenfalls ein großes Problem, das diese mit der Unwissenheit und der Armut der Menschen begründeten. Vgl. ebd., S. 541. 19 „La epidemia variolosa. Vacunación domicilaria“, in: Caras y Caretas, 4, 134, 27.04.1901, S. 29 f.
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von weiteren Kindern unterschiedlichen Alters, die größtenteils interessiert zuschauen. Die Szene zeigt kein Moment des Widerstands, der Angst oder des Misstrauens. Der elegant gekleidete Mediziner in der Mitte des Bildes kümmert sich in fürsorglicher Pose um seine kleinen PatientInnen. Das Bild zeugt von einem vertrauenserweckenden Vorgehen und lässt sich als aufklärerische Propaganda für die Impfkampagnen interpretieren. Abbildung 4.3
Quelle: Caras y Caretas (1901)
In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war in der Magazinpresse ein deutliches Bekenntnis zu einer Hygienepolitik spürbar, deren Fokus auf den conventillos und ihren BewohnerInnen lag und in Tradition der öffentlichen Hygienebestrebungen des 19. Jahrhunderts stand. Die Interventionsmaßnahmen der Asistencia Pública wurden in Caras y Caretas als fortschrittliches Projekt der Modernisierung gepriesen. Dagegen machten sich in den Beschreibungen der Reporter die Widerstände seitens derjenigen bemerkbar, die sich gegen die Zwangsmaßnahmen zur Wehr setzten. Während der Wohnraum in diesen Jahren zu einem öffentlichen Problem auserkoren wurde, das Interventionen durch in-
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stitutionelle Akteure rechtfertigte, wurde in der Folgezeit verstärkt an die Eigenverantwortung der Bevölkerung in Hygienefragen appelliert.20
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Die Wohnverhältnisse der clases populares wurden 1907 zum Gegenstand einer massiven Protestbewegung seitens der Bewohner und Bewohnerinnen der Mietshäuser und conventillos, die gegen Mietwucher protestierten. Dieser Protest, so zeigt dieses Kapitel, veränderte die Berichterstattung und die Art der Visualisierung der Wohnverhältnisse seitens der Magazinpresse langfristig. Der Wohnraum der Arbeiterklasse wurde infolge der Proteste nur noch sekundär als hygienisches Problem und Keimzelle von Krankheiten und sozialen Übeln behandelt, sondern fortan primär als Raum des sozialen Elends und der alltäglichen Misere gefasst, der eine politische Lösung verlangte. Im September 1907 begann im conventillo in der Calle Ituzaingó 279 die anarchistisch geprägte Protestbewegung, die sich gegen eine Mietpreiserhöhung von 47 Prozent auflehnte und einen Streik und die Einstellung der Mietzahlungen ausrief. Bis zum Ende des Jahres hatte sich knapp ein Zehntel der Bevölkerung von Buenos Aires sowie auch große Bevölkerungsteile anderer Städte in Streikkomitees zusammengeschlossen und fast 2000 conventillos hatten den kollektiven Protest gegen die Mietverhältnisse erklärt. James A. Baer bezeichnet diesen Protest als „one of the largest and most unusual forms of working-class collective action in early twentieth-century Argentina“.21 Die Exzeptionalität dieses Streiks basierte darauf, dass sich die Bewegung nicht gegen das Fabrikregime und seine Arbeitsbedingungen richtete, sondern den Klassenkampf auf die Ausbeutungsverhältnisse in den alltäglichen Lebens- und Wohnverhältnissen bezog.22 20 Vgl. dazu beispielsweise: Pizzurno, Pablo A.: „Para los niños y los grandes. Los invisibles enemigos de la salud“, in: Fray Mocho, 9, 306, 07.03.1918, S. 24. Der Artikel fungierte als Ratgeber in Fragen der Wohnraum- und Körperhygiene, der in Form eines Dialogs zwischen einem wissbegierigen Kind und seinem Vater organisiert ist. 21 Baer, James A.: „Tenant Mobilization and the 1907 Rent Strike in Buenos Aires“, in: The Americas, 49, 3, 1993, S. 343-368, S. 343. Baer betont gleichzeitig, dass es sich um eine transnationale Protestbewegung handelte, denn auch in Barcelona (1905) und New York City (1907) hatte es vergleichbare Streiks gegeben. 22 Siehe dazu neben Baer (ebd.) auch: Suriano, Juan: La huelga de inquilinos de 1907, Buenos Aires: Centro Editor de América Latina 1983; Lobato, Mirta Zaida: „De las
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Frauen im Streik In den Magazinen Caras y Caretas und La Vida Moderna wurden die Mietstreiks in Buenos Aires ausführlich kommentiert und fotografisch dokumentiert. Die Fotografie spielte nicht nur eine wichtige Rolle in der Popularisierung der Streiks, sondern auch in die Sichtbarmachung eines neuen Protagonismus von Frauen sowie von Kindern. Die Partizipation und Führungsrolle von Frauen in den Protesten wurde von Juan Suriano in seiner Monografie über die Streikbewegung untersucht. Er begreift ihr kollektives Handeln in der Mietfrage als erfolgreiche Taktik, den ihnen als Frauen zugewiesenen häuslichen Bereich in einen politischen Raum zu verwandeln, in dem sie tonangebend waren.23 Baer weist auch auf die Nutzung von geschlechterspezifischen Netzwerken hin, über die Frauen verfügten, welche in der Organisierung des Streiks neben bestehenden Netzwerken von Arbeiterorganisationen, Nachbarschaft und nationalitätenspezifischen Verbindungen grundlegend waren.24 Abbildung 4.4
Quelle: La Vida Moderna (1907)
huelgas a los cortes de ruta. La historiografía sobre la protesta social en Argentina“, in: Anuario de Estudios Americanos, 60, 1, 2003, S. 277-305. 23 Vgl. Suriano, La huelga de inquilinos, 1983, S. 61. 24 Baer, Tenant Mobilization, 1993, S. 367.
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Protestführerinnen wurden in den Berichten über den Streik regelmäßig fotografisch abgebildet und so auch medial zu Subjekten des Protests. Die in La Vida Moderna abgebildete Fotografie des Streiks zeigt eine seiner Anführerinnen, die sich, umgeben von Fahnen und einem Transparent und umringt von anderen Streikenden und Pressevertretern, von einem Podest aus über die Anwesenden erhebt und in einer kämpferischen Pose eine Rede hält (Abbildung 4.4).25 Die Streikführerinnen traten namentlich und im Bild immer wieder hervor; die Beteiligung von Männern war auf vielen Bildern zwar evident, allerdings nicht als Protagonisten der Bewegung.26 Auch Kinder gerieten als AktivistInnen der Bewegung in den Fokus der Reporter. Wie eine Reportage von Caras y Caretas über das Geschehen in verschiedenen conventillos im Süden der Stadt im September 1907 beschreibt, erfasste die Kamera ihre Präsenz und Relevanz gewissermaßen unwillkürlich: „Habiendo ido nuestros representantes á buscar la prueba fotográfica del movimiento, quedaron sorprendidos por la unanimidad de la protesta. Hasta los muchachos toman participación activa en la guerra al alquiler. Frente á los objetivos de nuestras máquinas, desfilaron cerca de trescientos niños y niñas de todas las edades, que recorrían las calles de la Boca en manifestación, levantando escobas ‚para barrer a los caseros‘.“27
Abbildung 4.5
Quelle: Caras y Caretas (1907)
25 Vgl. „La protesta callejera contra los alquileres“, in: La Vida Moderna, 1, 29, 31.10.1907, S. 20. 26 Deutlich zeigt sich dies bereits im ersten Artikel zum Thema von La Vida Moderna:. „El ‚no pago‘ de los conventillos“, in: La Vida Moderna, 1, 25, 03.10.1907, S. 7. 27 „La guerra de los inquilinatos“, in: Caras y Caretas, 9, 468, 21.09.1907, S. 47 f.
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Das Ausschwärmen der Reporter zu den Orten des Aufbegehrens wurde hier mit Fotografien von fünf verschiedenen conventillos, in deren Innenhöfen die Streikenden sich zu diesem Zweck gruppierten, abgebildet. Die Gruppen bestehen jeweils aus mehreren Dutzend Streikenden, im Falle des „conventillo revolucionario“ der Calle Ituzaingó 279, von dem der Streik ausgegangen war, sogar von mehr als hundert Personen. Die Fotografien zeigten hauptsächlich Kinder, die sich, wie auch im Text hervorgehoben wurde, erheblich an den Protesten und auf Demonstrationszügen beteiligten (Abbildung 4.5). Die Porträtierung von Kindern und Frauen im Mietstreik funktionierte sowohl auf visueller als auch auf textueller Ebene selektiv, insofern sie als ‚besondere‘ individuelle oder kollektive Streikende inszeniert wurden. Nur wenige Fotografien zeigten gemischtgeschlechtliche Gruppen, stattdessen betonten sie den eindeutigen Geschlechtscharakter dieser Kämpfe. Die Herausstellung von Frauen sowie von Kindern war allerdings nicht allein eine (Vermarktungs-)Strategie der Magazinpresse, sondern kann ebenfalls als Aneignungstaktik durch die Streikenden betrachtet werden. Die Frauen posierten für die Kameras der Journalisten und inszenierten sich darüber als kämpferische solidarische Gruppe. Mit dem Wissen um Bildwirkungen auf Seiten der Fotografierten forderten diese eine Sichtbarkeit als proletarische Aktivistinnen ein. Die Verbindung von den Interessen der Streikenden und der Presse wurde auch in der gleichen Reportage thematisiert: Der Reporter berichtete von einer Auseinandersetzung mit dem Hausverwalter eines der im Streik befindlichen conventillos in der Calle Uspallata 449, der sich an einen Polizisten wandte, um sowohl die Demonstrierenden als auch die Reporter herauswerfen zu lassen: „Vea – le dijo – la plebe y la fotografía me han violado el conventillo“.28 Der Mietstreik kann in Bezug auf die unerfüllten Forderungen seitens der Streikenden als Niederlage gelten: Polizei und Behörden unterdrückten die Proteste entschieden und führten in vielen Fällen Zwangsräumungen bei jenen MieterInnen durch, die sich weigerten, die Mieten zu zahlen. Die Haltung der städtischen und staatlichen Autoritäten war zwiespältig: Einerseits erkannten sie die Forderungen der Mieter und Mieterinnen als legitim an, andererseits schützten sie die Rechte der EigentümerInnen und gingen zum Erhalt der bestehenden Ordnung rigoros gegen die Streikenden vor. Gewalteskalationen zwischen Polizei und Streikenden hatten Verletzte und einen Toten, Miguel Pepe, zum Ergebnis.29 Die Wirkung des Streiks war jedoch durchaus nachhaltig: Die prekäre
28 Ebd., S. 48. 29 Zum repressiven Vorgehen der Sicherheitsbehörden siehe Girbal Blacha, Noemi M.: „La huelga de inquilinos de 1907 en Buenos Aires“, in: Historias de la ciudad – Una
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Wohnsituation hatte seitens breiter und heterogener Zusammenschlüsse eine Mobilisierung und Politisierung bewirkt, die auch in der Folgezeit, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, zum Ausgangspunkt neuer Proteste und Taktiken wurde. Bereits 1908 formierte sich eine neue Protestwelle; der nächste deklarierte Mietstreik größeren Ausmaßes fand jedoch erst 1922 infolge einer zunehmenden Prekarisierung der Wohnverhältnisse statt. Die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, und insbesondere der Wohnraum, waren zwar nicht erst seit dem Mietstreik von 1907 Gegenstand der Arbeiterbewegung – bereits in den 1890er Jahren hatten sich erste Initiativen gebildet–, hatten aber seit 1907 eine starke mediale Präsenz gewonnen.30 Mit dem Mietstreik hatte sich eine neue Perspektive in den Repräsentationen des Wohnraums durch die Magazinpresse aufgetan: Die Bewohner und Bewohnerinnen waren anstelle der Wohnverhältnisse in den conventillos in den Fokus der Betrachtung gerückt. Gleichzeitig begann sich die Magazinpresse selbst als kritisches Organ gegenüber der Vermietungspraxis und -politik zu positionieren. In der Folgezeit nach dem Streik zeigte sich jedoch ein Bruch in den Darstellun-
revista de Buenos Aires, 5, 2000, S. 1-5, S. 4. Der Bürgermeister von Buenos Aires, Alvear, nahm eine vermittelnde Position ein – sein Angebot einer vorübergehenden Unterbringung der obdachlos gewordenen MieterInnen wurde jedoch vom Innenminister nicht in die Tat umgesetzt, vgl. ebd. Der Tod von Miguel Pepe bewirkte eine große Protestwelle, die von Caras y Caretas und La Vida Moderna dokumentiert wurde. Anlässlich der Beerdigung am 24.10.1907 zeigte La Vida Moderna das Foto des Trauerzugs: Der Sarg wurde von den Streikführerinnen getragen; ihnen folgte eine große Menschenmasse durch die Straßen von Buenos Aires. Vgl. „El entierro de Miguel Pepe“, in: La Vida Moderna, 1, 29, 31.10.1907, S. 20. 30 1890 hatte sich in Buenos Aires ein erstes Komitee gebildet, das sich kurz darauf auflöste. 1893 folgte die Gründung der ebenfalls kurzlebigen Liga Argentina Contra los Alquileres. 1895 verfasste ein Zusammenschluss von AnarchistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen ein Manifest, in dem ein Bündnis gegen die schlechten Lebensverhältnisse eingefordert wurde, das jedoch nicht zustande kam. Im gleichen Jahr formierten AnarchistInnen eine Liga Contra Alquileres e Impuestos, die gegen die steigenden Mieten und Steuern vorgehen wollte. 1905 gründete sich die Liga Contra los Alquileres unter der Schirmherrschaft der FORA (Federación Obrera Regional Argentina), der UGT (Unión General de Trabajadores) und des Partido Socialista. Der Mietstreik wird in der Forschungsliteratur jedoch als spontane Bewegung dargestellt, die von dem Conventillo der Calle Ituzaingó 279 ausging und innerhalb kürzester Zeit zur Gründung von Streikkomitees in anderen Stadtteilen und Städten führte. Vgl. Girbal Blacha, La huelga de inquilinos de, 2000, S. 2 f.
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gen der Subjekte und ihrer Agency. Die Magazinpresse behandelte das Thema der prekären Wohnverhältnisse fortan als Elendsdiskurs, der Bewohner und Bewohnerinnen von conventillos als Opfer kategorisierte, während ihre fortschreitenden Proteste und Taktiken nicht mehr Teil einer akteurszentrierten Berichterstattung waren. Das Leid der Anderen Susan Sontag analysiert in ihrem Essay Regarding the pain of others die Verwendung und Betrachtung von Kriegsfotografien. Darin zeigt sie, dass mit der Verbreitung von Massenmedien eine neue Intimität mit Tod und Zerstörung in das Leben der Menschen eingezogen ist, die mit einem voyeuristischen Blick einhergeht. Sie stellt die These auf, dass diesen Bildern des Leids eine bestimmte Bildsprache innewohne, die bei den BetrachterInnen konsensstiftende Wirkung erzeugt: „Photographs of the victims of war are themselves a species of rhetoric. They reiterate. They simplify. They agitate. They create the illusion of consensus.“31 Diese Konsens- und damit einhergehende gemeinschaftliche Identitätsbildung geht Sontag zufolge mit einer Distanzierung zu den dargestellten Opfern einher. Gleichzeitig wird die unmittelbarere Darstellung von Opfern, beispielsweise das Zeigen von Toten, dann kulturell akzeptabel, wenn es sich um Menschen handelt, die in geografisch oder kulturell großer Distanz gewähnt werden.32 Die fotografische Repräsentation elender Wohnverhältnisse in Buenos Aires in der Magazinpresse der 1910er und frühen 1920er Jahren kann ebenfalls als Teil einer visuellen Strategie gelesen werden, welche den BetrachterInnen Situationen vor Augen führte, die schockierten, Mitleid hervorriefen und gleichzeitig eine soziale und kulturelle Distanzierung evozierten. In Konsequenz waren die Fotografien des menschlichen Leids in den conventillos Appell und Handlungsanleitung, insofern sie zunehmend in die Argumentation für eine neue Wohnraumpolitik eingebunden wurden. Dahinter standen die Abschaffung des conventillo als fluktuierende und kollektive Wohnform und die Schaffung einer neuen Ordnung des Wohnraums, die an die neuen sozioökonomischen Verhältnisse angepasst war. Das 1911 gegründete Magazin Mundo Argentino skandalisierte die Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse am stärksten und perpetuierte dabei den Elendsdiskurs, in dem die MieterInnen primär als Opfer dargestellt wurden. Die Zeitschrift verwendete einen hohen Anteil an Fotografien, um soziale Probleme zu
31 Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others, New York: Picador 2004, S. 6. 32 Vgl. ebd., S. 72.
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konstatieren und an politische und zivilgesellschaftliche AkteurInnen zu appellieren. Während die Arbeiterproteste der 1910er Jahre hier kaum Niederschlag fanden, wurden soziale Probleme des häuslichen Alltags der Arbeiterfamilien umso stärker in den Blick genommen. Das Titelblatt vom 17. März 1915 zeigt etwa das Bild einer Familie, bestehend aus den Eltern und sechs Kindern, die zu einer offensichtlich spärlichen Mahlzeit am Küchentisch zusammengekommen sind, an dem sie kaum alle Platz finden (Abbildung 4.6).33 Drei der Kinder essen und füttern sich gegenseitig; ein Junge starrt ins Leere; der Vater schläft im Sitzen; die Mutter hält den Teller für das kleinste Kind. Das Bild transportiert die in der Bildunterschrift nochmals explizit formulierte Problematik: Der Vater ist überarbeitet wegen seines schlecht bezahlten Jobs als Hafenarbeiter, während seine Familie gezwungen ist, in extrem beengten räumlichen Verhältnissen und unter Entbehrungen zu leben. Abbildung 4.6
Quelle: Mundo Argentino (1915)
33 Vgl. Titelblatt: „Inquiedades de la organización social actual“, in: Mundo Argentino, 5, 219, 17.05.1915, S. 1.
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Als typisches Motiv von Armutsbildern und Wohnproblematik diente in erster Linie die dysfunktionale Familie, manchmal mit, in den meisten Fällen jedoch ohne Vater. Der Elendsdiskurs problematisierte damit zusammenhängend die Familienstrukturen selbst: die Pflege der Kinder, die Notwendigkeit, dass Frauen Lohnarbeit betrieben und die unzureichende ökonomische Sicherung durch den Familienvater. Der Wohnraum wurde somit als Ort defizitärer Häuslichkeit in seiner geschlechterspezifischen Zuordnung von Verantwortlichkeiten diskursiviert. Das Beklagen von Kinderschicksalen wurde zum journalistischen Topos in der Kritik an den Wohnverhältnissen der Arbeiterklasse schlechthin. Das Leben im conventillo wurde verantwortlich gemacht für die Vernachlässigung von Kindern, die sich aufgrund der beengten Wohnungen auf der Straße herumtrieben und die Schule versäumten.34 Kinder wurden im biopolitischen Diskurs über die Armutsverhältnisse in Argentinien als unschuldige Opfer falscher oder mangelnder Regierungsmaßnahmen stilisiert. Zum anderen waren sie für die nationale Identitätskonstruktion von Bedeutung: Kinder galten als zukünftige StaatsbürgerInnen und daher als besonders schützenswert für die Zukunft der Nation. Zwangsräumungen Die Praxis der Zwangsräumungen, die VermieterInnen gegen zahlungsunfähige MieterInnen juristisch durchsetzten, wurde in der Magazinpresse besonders stark skandalisiert. Sie erlebte ihren Höhepunkt während der Zeit des Ersten Weltkriegs und den unmittelbaren Jahren danach. Mundo Argentino informierte ausführlich über die Zwangsräumungen ganzer conventillos. So verdeutlichte eine illustrierte Themenseite von September 1914 auf insgesamt zehn Fotografien die von Hoffnungslosigkeit geprägte Situation infolge von Zwangsräumungen, von denen jeweils dutzende von Familien betroffen waren (einen Ausschnitt zeigt Abbildung 4.8).35 Neben der Räumung der Häuser waren hier Familien- und Kinderschicksale abgebildet, die mit ihren Möbeln und anderen Habseligkeiten buchstäblich auf der Straße saßen. Sie bildeten den Schreckmoment des sozialen Abstiegs ab, der das Thema emotionalisieren und Empathie jenseits politischer Solidarität erzeugen sollte.
34 Diese Argumentation verfolgt unter anderem: „Cómo vive el obrero en la moderna y lujosa Buenos Aires“, in: Mundo Argentino, 8, 387, 05.06.1918, S. 12 f. 35 Vgl. „En el país de la abundancia. Sin pan y sin hogar“, in: Mundo Argentino, 4, 195, 30.09.1914, S. 2.
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Abbildung 4.8
Quelle: Mundo Argentino (1914)
Die Bilderserie zeigte zudem die Aufnahme eines Demonstrationszuges gegen die Zwangsräumung einer Familie im Stadtviertel San Cristóbal, auf der Menschenmassen sichtbar waren, die vor dem conventillo protestierten und Zeitungen in die Kamera hielten. Diese Form der Selbstdarstellung hat Inés Yujnovski als Mittel der Aneignung medialer Strategien in den Arbeiterprotesten von Buenos Aires analysiert. Die Fotografierten zeigten hier eine „extraordinaria vocación de visibilidad“ und demonstrierten damit ein machtvolles Wissen um ihre mediale Sichtbarkeit.36 Dieser Protest war zu diesem Zeitpunkt allerdings nur mehr eine visuelle Randnotiz; die hier ersichtliche Fortführung von kollektivem Aufbegehren gegen die Mieterhöhungen und Repressionen war kaum mehr Gegenstand von medialen Repräsentationen der Magazinpresse. In den Zeitschriften fand eine zunehmende Entpolitisierung der Proteste statt, für die etwa die Abbildung aus Mundo Argentino über die Wohnverhältnisse in Buenos Aires von 1918 kennzeichnend war: Sie zeigt zwei erwachsene Männer und eine Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm hält. Die Personen verweilen vor dem Eingang ihres Hauses und trinken Mate (Abbildung 4.9). Das Bild signalisierte eine abwartende und passive Haltung dieser MieterInnen, denen der Bildunterschrift zufolge die Zwangsräumung unmittelbar bevorstehe. Der Grund liege in der Arbeitslosigkeit, die einen ‚Mietstreik wider Willen‘ und letztlich die Zwangsmaßnahme durch den Hausverwalter zur Folge habe.37 Eigene Taktiken im Umgang mit der Situation durch die Betroffenen werden in der 36 Vgl. Yujnovsky, Inés: „Una vista panorámica de huelgas, manifestaciones y mítines en Caras y Caretas. Prensa y fotografía a principios del siglo xx en Argentina“, in: América Latina en la Historia Económica, 22, 2004, S. 129-153, S. 132. 37 Vgl. Cómo vive el obrero, 05.06.1918, S. 12.
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medialen Darstellung nicht erkennbar. Die Opferperspektive auf die Mieterinnen und Mieter kaschierte deren Forderungen und Protestformen. Abbildung 4.9
Quelle: Mundo Argentino (1918)
Das Ausblenden politischen Handelns zugunsten einer Stilisierung von Familien- und Sozialdramen, in denen vor allem Mütter und Kinder als Leidtragende dargestellt wurden, prägte fortan das Bild der Wohnraumfrage. Die Revista Popular zeigte 1918 die Folgen der Zwangsräumung für eine Familie mit sieben Kindern, deren Eltern keine Arbeit hatten. Der Hausverwalter hatte ihr Zimmer mit Hilfe eines Justizvollzugsbeamten räumen lassen, so dass die Familie im Patio des conventillo samt ihrer Habseligkeiten campierte. Die Fotografien zeigten die Familie, wie sie unter freiem Himmel im Hof die Nacht verbrachte (Abbildung 4.10). Die Zeitschrift kommentierte das Elend wie folgt: „Esta nota no necesita comentarios. Las fotografías hablan por sí solas.“38 Während die Magazinpresse den Opferdiskurs der politischen Entmündigung perpetuierte, formulierte sie gleichzeitig eine Kritik in der politischen Debatte um eine staatliche Wohnpolitik. Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum und
38 „Cuadros de la miseria en Buenos Aires“, in: Revista Popular, 2, 31, 02.09.1918, S. 28.
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einer staatlichen Wohnungsbaupolitik, wie sie die organisierte Arbeiterschaft bereits in den 1890er Jahren vorgebracht hatte, wurden nun auch seitens der Journalisten laut. Der Bau von Arbeitervororten und privaten Eigenheimen gehörte zu den Forderungen, die seit den 1910er Jahren massiv von der Magazinpresse hervorgebracht wurden. Mit der Frage nach den Wohnverhältnissen der Arbeiterfamilien verbanden sich Vorstellungen sozialtopografischer Stratifizierung und heteronormativer Geschlechterverhältnisse, die eine biopolitischen Optimierung des modernen Gesellschaftskörpers anstrebten, wie im Folgenden gezeigt wird. Abbildung 4.10
Quelle: Revista Popular (1918)
D IE U TOPIE
DES PRIVATEN
E IGENHEIMS
Die Zeitschrift PBT berichtete 1908 über den Bau der ersten Einfamilienhäuser für Arbeiterfamilien, die in Montevideo unweit des Stadtzentrums errichtet worden waren. Es handelte sich laut der Reportage um 60 kleine Reihenhäuser, ausgestattet mit drei bis vier Zimmern, einem Bad, kleinem Garten, fließendem Wasser sowie stabiler und wetterbeständiger Bausubstanz. Für das Viertel würde darüber hinaus eine kostenlose Bibliothek eingerichtet. Gegen eine geringfügige monatliche Rate sollten die Häuser nach einer bestimmten Frist in das Eigentum der (mannlichen) Arbeiter übergehen, die ihrer Familie damit ein gesundes und angenehmes Leben bieten könnten. Bauherr sei ein privates Unternehmen, das 500.000 Goldpeso investiert habe; die Kredite erteile der Banco Obrero del Uru-
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guay. Das Projekt wurde als vielversprechender und beispielhafter Ausweg aus den beschworenen Elendsverhältnissen gelobt: „Así podrá tener el obrero una vivienda cómoda, sana y barata sin tener que sacrificar la mitad de sus ingresos y reducir á media ración á su familia y sin tener que habitar el inmundo conventillo, manantial de toda clase de infecciones é inmoralidades.“39 Abbildung 4.11
Quelle: PBT (1908)
Mehrere Fotografien zeigen die Bauphase und schließlich die fertiggestellten Reihenhäuser in der Außenansicht. Sie legten Wert auf die symmetrischen und wiederholten Formen in der Architektur, die ein geplantes und geregeltes Leben zu versprechen schienen (so auch in Abbildung 4.11). Der Diskurs über das Elend der Wohnverhältnisse der conventillos verband sich zusehends mit der Forderung nach günstigem Wohneigentum für die betroffenen Arbeiterfamilien. Das Modell der Arbeitervorstadt und des privaten Eigenheims wurde in der Magazinpresse als Utopie entworfen und in seinen konkreten Realisierungen in Buenos Aires und anderen Städten der Welt unter die Lupe genommen. Während die Magazinpresse in den 1900er Jahren noch nicht zwischen karitativen, privatwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Initiativen unterschied, richtete sie im darauf folgenden Jahrzehnt zunehmend eine Kritik an staatliche Institutionen, die für die Lösung der Wohnraumproblematik 39 „De Montevideo. Las primeras casas económicas para obreros“, in: PBT, 5, 189, 27.06.1908, S. 84.
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verantwortlich gezeichnet wurden. Bis 1915 gab es keine gesetzlichen Grundlagen für eine soziale Wohnraumpolitik, die über die zuvor geschilderten Hygienemaßnahmen hinausgingen. Die Magazinpresse entwickelte in der Wohnraumfrage immer stärker eine Appellfunktion, indem sie die elenden Verhältnisse aufzeigte und die Notwendigkeit von Regierungsmaßnahmen und entsprechenden Investitionen deutlich machte. Das Modell der Arbeitervorstadt, bestehend aus bezahlbaren privaten Eigenheimen, favorisierte sie dabei als Ausweg. Anders gesagt wurde über die Delegitimierung der kollektiven Wohnform des conventillo das Argument für die Förderung des privaten, familiären und dezentralen Wohneigentums geschaffen. In der Forschungsliteratur zur Wohnraumfrage existieren gegenläufige Interpretationen hinsichtlich der Frage, ob die Debatte zur Wohnungsbaupolitik von Seiten der Arbeiterschaft oder von Seiten der staatlichen Eliten angestoßen wurde. Als idealtypische Gegenpositionen lassen sich das Argument Yujnovskys, wonach die staatliche Intervention eine Reaktion auf den Druck der Protestbewegung gewesen sei, gegenüber Ana María Rigottis These, die den Impuls bei den staatlichen AkteurInnen verortet, heranziehen.40 Die Zusammenschlüsse von ArbeiterInnen zur Artikulation der Wohnraumproblematik fanden bereits ab 1890 auf organisierte Weise statt, während die staatliche Wohnraumpolitik erst in den 1910er Jahren institutionalisiert wurde. Gleichermaßen bestanden bereits seit der generación del 37 Vorstellungen über die Entstehung der Vorstadt in Buenos Aires, die utopischen Charakter hatten, wie Horacio Caride untersucht.41 Besonders der higienismo als dominante Strömung der intellektuellen Eliten des ausgehenden 19. Jahrhunderts prägte die sozialtopografischen Vorstellungen über den Wohnraum der ArbeiterInnen und EinwandererInnen in der Großstadt, welche für die städtische und staatliche Politik ebenfalls als handlungsanleitend begriffen werden können.
40 Vgl. Yujnovsky, Oscar: „Políticas de vivienda en la ciudad de Buenos Aires, 18801914“, in: Desarrollo Económico, 14, 54, 1974, S. 327-372; Rigotti, Ana María: „El reformismo oligárquico y las casas para obreros“, in: Estudios Sociales. Revista universitaria semestral, 1, 2, 1991, S. 5-27. Rigotti macht den utilitaristischen Charakter der Wohnpolitik stark, indem sie ökonomische gegenüber humanitären und moralischen Beweggründen als entscheidend für die Förderung des staatlichen Wohnungsbaus begreift, beispielsweise hinsichtlich des Immobilienmarktes und der Steigerung der Arbeitskraft der Bevölkerung. 41 Vgl. Caride, Horacio Eduardo: Visiones del suburbio. Utopía y realidad en los alrededores de Buenos Aires durante el siglo xix y principios del siglo xx, San Miguel: Univ. Nacional de General Sarmiento, Inst. de Conurbano 1999.
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Die Frage nach der Kausalität beziehungsweise der Urheberschaft dieser Prozesse verschließt sich jedoch einer Analyse von Machtverhältnissen, sofern man die hegemonialen Machtverhältnisse in einem Staat oder einer Gemeinschaft als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses von sozialen Gruppen und AkteurInnen versteht. Betrachtet man die Impulse, Pläne und Kämpfe in Wohnraumfragen der Jahrhundertwende in Buenos Aires als historischen Aushandlungsprozess, wird vor allem eines deutlich: Es handelte sich keinesfalls um die gleichen Vorstellungen und Forderungen, die seitens der Arbeiterschaft und seitens politisch-institutioneller Stellen vorgebracht wurden, wie die Forschungsliteratur fälschlicherweise immer wieder perpetuiert beziehungsweise unzulänglich differenziert. Die Kämpfe der Mieterinnen und Mieter in Buenos Aires, die 1907 ihren virulenten Höhepunkt hatten, richteten sich gegen den Mietwucher und galten der Stärkung ihrer Rechte gegenüber den VermieterInnen. Die bürgerlichen Reformprojekte, welche in der Magazinpresse popularisiert und ausdifferenziert wurden, eigneten sich diese Forderungen der ArbeiterInnen an, schrieben sie aber biopolitisch um: Sie wendeten sich gegen das Kollektive der Wohnformen, gegen epidemische Krankheiten, gegen virulente politische Ideen, gegen uneindeutige Geschlechterverhältnisse und gegen die unkalkulierbare Fluktuation der BewohnerInnen. Die Errichtung von Eigenheimen in Arbeitervororten war insofern eine Strategie, welche die Forderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen in den zeitgenössischen biopolitischen Diskurs einzuschreiben wusste. Die moderne Großstadt verlangte nach neuen Techniken des Regierens, die sich in der Vorstellung räumlicher Planbarkeit der Gesellschaft niederschlugen. Wie der Stadtforscher Boris Michel in Anlehnung an Foucault formuliert, zielte die gouvernementale Stadtplanung auf die „optimale Anordnung, Organisation, […] Verteilung und […] Zirkulation von Dingen und Menschen“.42 Dies galt der Stratifizierung der gefährlichen Klassen und damit ihrer Regierbarkeit, die vor allem auf die Selbstregierung der ArbeiterInnen in Bezug auf Arbeit, Erziehung, Geschlechterordnung, Hygiene und Triangulierung der Familienverhältnisse abzielte. Die Magazinpresse verknüpfte diese Diskurse und öffnete in der Repräsentation der Armutsquartiere den Raum für die gouvernementale Durchdringung der Gesellschaft. Die Reterritorialisierung der Arbeiterklasse hatte darin höchste Priorität.
42 Michel, Boris: „Städtisches Regieren. Anmerkungen zu Gouvernementalität und Stadt“, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, 31, 2008, S. 20-24, S. 20.
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Erste Prestigeobjekte Die Errichtung der ersten Arbeitersiedlungen in Buenos Aires wurde von der Magazinpresse als prestigereiches und populäres Projekt repräsentiert. Die erste Erwähnung eines Projekts zum Bau eines Arbeiterviertels findet sich 1903 in Caras y Caretas. Der kurze Beitrag berichtet von der Einweihung des Viertels, das hinter dem Friedhof von Chacarita durch die Kooperative La Paterna gegründet worden war. Dabei handelte es sich um die Zweigstelle einer Organisation, die bereits in Spanien und Italien tätig war, wie der Artikel berichtete, und ohne kommerzielle Interessen den Erwerb von Eigenheimen für die Arbeiterklasse ermöglichte. Die fotografische Abbildung zeigte die Gruppe der anwesenden Honoratioren der Veranstaltung; die Häuser bildeten den Hintergrund und wurden nicht weiter kommentiert.43 Abbildung 4.12
Quelle: Caras y Caretas (1907)
Caras y Caretas berichtete 1907 auch über die Feiern zur Grundsteinlegung einer Arbeitersiedlung in Nueva Pompeya, die als „fiesta verdaderamente simpática“ beschrieben wurde.44 Die abgebildeten Fotografien zeigten mehrfach die honorablen Gäste, die an der Veranstaltung teilnahmen, sowie in einem Fall auch das Bild einer großen Menschenmenge, die sich jenseits des durch einen Zaun abgetrennten Grundstücks versammelt hatte, um dem Ereignis beizuwohnen (siehe Abbildungen 4.12 und 4.13). Der Bau von 64 kleinen Einfamilienhäusern war durch die Spende des Grundstücks durch Azucena Buteler, die Mitglied der philanthropischen Organisation Sociedad Protectora del Obrero war, ermöglicht
43 Vgl. „Nuevo barrio obrero“, in: Caras y Caretas, 6, 232, 14.03.1903, S. 34. 44 „Las casas para obreros. Colocación de la piedra fundamental“, in: Caras y Caretas, 10, 481, 21.12.1907, S. 50.
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worden. Der Bau des Arbeiterviertels war infolge dessen der erste, der von staatlichen und munizipalen Behörden gemeinsam unternommen wurde.45 Unter den Gästen befanden sich der Präsident der Republik, der Bürgermeister sowie eine Reihe angesehener Damen und Herren. Diese – so beschreibt es der Bericht – saßen gemeinsam mit den ArbeiterInnen am Tisch und zeitigten Gesten der Verbrüderung: Bürgermeister Carlos de Alvear selbst servierte ihnen Sandwichs und der Präsident Figueroa Alcorta mischte sich unter die ArbeiterInnen und verlieh ihnen Gedenkmedaillen. Abbildung 4.13
Quelle: Caras y Caretas (1907)
1909 publizierte die Zeitschrift einen weiteren Bericht über Einweihungsfeierlichkeiten einer Arbeitersiedlung im Stadtteil Caballito, wo auf Betreiben der Kooperative Casa Popular Propia 200 Einfamilienhäuser errichtet worden waren. Ein großer Demonstrationszug durch die Stadt und die Feierlichkeiten vor Ort, an denen ArbeiterInnen und Autoritäten gleichermaßen teilnahmen, zeigten die Bedeutung des Ereignisses und der Initiative auf: „Antes que ésta ninguna otra institución del mismo género había producido un acontecimiento de tanta importancia y al que, en tan alto grado fuese asociada la ciudad.“46 Auf mehreren
45 Vgl. Mead, Karen: „Gender, Welfare and the Catholic Church in Argentina. Conferencias de Senoras de San Vicente de Paul, 1890-1816“, in: The Americas, 58, 1, 2001, S. 91-119, S. 105. 46 „La fiesta de la ‚Casa popular propia‘. Inauguración de 200 viviendas obreras“, in: Caras y Caretas, 7, 535, 02.01.1909, S. 236.
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Fotografien waren hier Menschenaufläufe zu erkennen, die sich zu dem Ereignis zusammengefunden hatten. Bei allen drei Artikeln, welche die Errichtung der ersten Arbeiterviertel in Buenos Aires thematisierten, zeigt sich ein sozialer Fortschrittsdiskurs, der die urbane Entwicklung als politisch prestigereiches und populäres Projekt verstand. Die Fokussierung auf die Feierlichkeiten und dabei anwesenden Persönlichkeiten der Oligarchie charakterisierte die Bauprojekte als elitäres Verdienst, ohne dabei zwischen karitativen, genossenschaftlichen und staatlichen oder städtischen Initiativen zu differenzieren. Eine klare Zuschreibung von Verantwortlichkeiten in der Frage der Wohnpolitik war also zu diesem Zeitpunkt nicht erkennbar. Die Beteiligung staatlicher und städtischer Behörden am Aufbau des so genannten Barrio Buteler 1907 stellte für die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Ausnahme dar: Häufiger waren es genossenschaftliche Initiativen oder karitative Organisationen, die entsprechende Bauprojekte planten und finanzierten. Karen Mead spricht sogar von einer Unwilligkeit seitens der Regierung, Wohnprojekte durchzuführen.47 Die Kooperativen waren oftmals sozialistischer Prägung und basierten auf einem gemeinsamen Kreditsystem, mit dem die Mitglieder den Bau von Arbeitervierteln finanzierten.48 Auch Wohlfahrtsorganisationen wie die katholische Sociedad de San Vincente de Paul finanzierten und verwalteten eigene Wohnprojekte für Arbeiterfamilien. 49 Die wichtigste sozialistische Kooperative zur Errichtung von Ein-familienhäusern für Arbeiterfamilien war El Hogar Obrero, der 1905 von Juan B. Justo gegründet
47 Vgl. Mead, Gender, Welfare, 2001, S. 105. 48 1905 wurde die sozialistische Kooperative El Hogar Obrero gegründet, 1906 La Casa Popular Propia, die 1914 über 1400 Mitglieder besaß, 1910 der Banco El Hogar Propio mit 1150 Mitgliedern (im Jahr 1914). Vgl. Plotinsky, Daniel: Introducción a la historia del cooperativismo argentino, Buenos Aires: Archivo Histórico del Cooperativismo de Crédito 2012, S. 11. 49 Die Organisation konzentrierte sich seit den 1890er Jahren auf so genannte Armenhäuser, die günstige Zimmer für Familien mit Frauen und Kindern zur Verfügung stellten. Die Entscheidung von 1906, den Bau eines Arbeiterviertels in Nueva Pompeya zu verwalten, stellte eine neue Ausrichtung der Organisation dar, die auf der Ebene von Familie und Wohnraum die Klassenkämpfe zu schlichten versuchte und zudem auf die Rolle von Frauen im häuslichen Bereich Einfluss nehmen wollte. Vgl. Mead, Gender, Welfare, 2001, S. 106. Die Sociedad de Beneficencia war als verstaatlichte Wohlfahrtsorganisation hingegen nicht in der Wohnraumfrage engagiert, vgl. ebd., S. 105.
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worden war. Die Kooperative, so zeigt es Anahí Ballent, war einerseits die sozialistische Antwort auf Mietwucher und profitorientierte Bauunternehmen und Banken, andererseits stand sie ihrerseits im Zeichen von modernistischhygienistischen Diskursen.50 Die kritische Instanz der Magazinpresse Die Magazinpresse begann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als die Streikwelle der MieterInnen ihren zweiten Höhepunkt erreichte, eine staatliche Sozialpolitik im Wohnungsbau einzufordern und eine Welle an kritischen Artikeln zu publizieren. Es hatte zwar mit der so genannten Ley Ignacio Irigoyen von 1905 bereits eine erste Steuererleichterung für sozialen Wohnungsbau gegeben; diese hatte aber kaum private Investitionen nach sich gezogen.51 Erst mit der so genannten Ley Cafferata von 1915 wurde eine staatliche Institution in Argentinien geschaffen, die sich mit der Frage des Wohnraums befassen sollte: Das Gesetz bestimmte die Gründung einer Kommission zur Schaffung von günstigem Wohnraum für Angestellte und ArbeiterInnen, die Comisión Nacional de Casas Baratas.52 Diese ersten staatlichen Initiativen wurden seitens der Magazinpresse als mangelhaft und ineffizient kritisiert. Fray Mocho widmete dieser Kritik seit 1919 regelmäßig einen Kommentar mit Appellcharakter auf Seite 3 des Magazins, so auch mit Hinblick auf eine anstehende Kommissionssitzung: „Mucho se ha declamado anteriormente acerca del inagotable tema. Las ordenanzas municipales se multiplicaron ex profeso para corregir con medidas conminatorias la mala salubridad de esas viviendas, y el Congreso y el gobierno anunciaron innúmeras veces proyectos de construcción de casas baratas, higiénicas y confortables, donde los más pobres no carecieran de ninguna ventaja primordial al respecto, y, sobre todo, no debieran pagar con el hambre o la angustia jamás aplacada, un alquiler insoportable. Pero de todas estas manifestaciones bien intencionadas, sólo qudaban de relieve algunas pilas de borroneado papel, que hasta los directamente interesados habían concluído por no leer.“53
50 El Hogar Obrero existierte bis 1955. Zu seiner Entwicklung und politischen Idee zwischen 1905 und 1911 siehe: Ballent, Anahí: „El habitar de los sectores populares. El caso del Hogar Obrero“, in: Seminario de Crítica, 4, 1988, S. 1-48. 51 Mead, Gender, Welfare, 2001, S. 105. 52 Acosta, María Cristina; Galli, Tomás Raspall: „La articulación de las cooperativas de vivienda con el Estado y otros actores sociales“, Buenos Aires: CESOT 2008. Website der UBA, Facultad de Ciencias Económicas: http://www.econ.uba.ar/cesot/docs/documento%2061.pdf [01.06.2015], S. 1-23, S. 5. 53 „El problema de la vivienda“, in: Fray Mocho, 9, 367, 06.05.1919, S. 3.
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Der Artikel äußerte insbesondere die philanthropisch inspirierte Maßgabe, sich von staatlicher Seite für die Ärmsten der Armen einzusetzen und kritisierte dahingehend die Untätigkeit und die leeren Versprechungen seitens der Politik. Fray Mocho verurteilte weiterhin den Mietwucher als „vampirismo del propietario“, dem die MieterInnen aufgrund des virulenten Wohnungsmangels ausgeliefert seien, ebenso wie die „impermeabilidad gubernativa a la crítica, el desprecio sistemático de las observaciones profanas“.54 Das Magazin profilierte sich damit als ernstzunehmende Stimme der Kritik, die sich in der Sozialen Frage Gehör verschaffen wollte. Mundo Argentino kritisierte ebenfalls den unzureichenden Bau von bezahlbaren Einfamilienhäusern durch die Comisión Nacional de Casas Baratas: Der Bau müsse kontinuierlich und proportional zu den neu geschlossenen Ehen und zugezogenen Familien fortgeführt werden, anstatt sich auf einzelne Prestigeprojekte zu beschränken. Gefordert wurde zudem die Einrichtung einer städtischen Bank, die für die Bebauung kleinerer Grundstücke Kredite an die neuen Eigentümer verleihen sollte.55 Die Revista Popular folgte dieser Linie: Sie attackierte die einzelnen Kommissionsvorsitzenden, die als Personen von hohem gesellschaftlichem Rang selbst herausragende finanzielle Einkünfte verzeichneten und gleichzeitig ihr Amt auf Kosten des Wohls der Arbeiterfamilien vernachlässigten. Diese Kritik zielte vor allem auf die Ignoranz der Reichen, die ihre Aufgaben zur Sicherung des Allgemeinwohls nicht wahrnahmen. Die abgedruckten Fotografien visualisierten diese soziale Diskrepanz: Hier waren auf der einen Seite die als schädlich, unhygienisch und erbärmlich beschriebenen conventillos zu sehen, auf der anderen die Wohnhäuser der Kommissionsbeauftragten.56 Die angeführten Quellenbeispiele zeigen eine Veränderung in der Selbstwahrnehmung und Funktion der Magazinpresse: Diese verstand sich als neue kritische Instanz in Regierungsfragen, die konstruktiv Einfluss auf politischer Ebene nehmen wollte und ein ‚gutes Regieren‘ einforderte.57 Der profane Blick
54 Ebd. 55 Vgl. „La semana. Casas baratas“, in: Mundo Argentino, 8, 397, 14.08.1918, S. 3. 56 Vgl. „Leyes que no se cumplen. ¿Dónde están las casas baratas para los obreros?“, in: Revista Popular, 2, 48, 28.04.1919, S. 39. Die Kritik richtete sich namentlich an Araoz Álfaro, den ersten Präsidenten der Kommission, seinen Nachfolger Demarchi und den amtierenden Vorsitzenden Dr. Coll. 57 Die begriffliche Verschiebung von Regierung auf Regieren beziehungsweise von government zu governance rekurriert auf Foucaults Beobachtung des liberalen Staates und seiner Gouvernementalität. Im Begriff des Regierens tritt die Form der spezifischen Organisation von Regierung zurück. Stattdessen werden vor allem unterschied-
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auf die Verhältnisse, der durch die Wahrnehmung und Analyse des Reporters sowie durch die fotografische Aufnahme erstellt wurde, verlangte in gouvernementaler Logik nach einem politischen Geltungsanspruch. Die Interviewkampagne von Mundo Argentino Über die informative und meinungsbildende Funktion der kritischen Berichterstattung hinaus eigneten sich Journalisten auch sozialwissenschaftliche Methoden an, mit denen sie eigene Daten erhoben. Mit dem so gewonnen Expertenwissen entwickelten sie Argumente für eine politische Lösung der Wohnraumfrage. Mundo Argentino startete im April 1919 eine Interviewreihe mit dem Titel „Cómo viven nuestros obreros - ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, die über ein halbes Jahr lang wöchentlich erschien. Darin wurden Arbeiter und Arbeiterinnen zu ihren Lebensverhältnissen in Bezug auf die Wohnsituation, Familienmitglieder, Ernährung und Gesundheit und damit zusammenhängend über das Verhältnis von Einkommen und Ausgaben befragt. Das Kriterium für die Auswahl der InterviewpartnerInnen legte die Zeitschrift folgendermaßen dar: „En nuestro deseo de dar una imagen exacta y fiel de cómo viven los trabajadores argentinos, hemos tomado a representantes de la mayor variedad posible de salarios: salarios altos, salarios medianos y salarios bajos.“58
Im Laufe der Reihe wurden zwei Mechaniker, ein Schuster, ein Straßenbahnfahrer, ein Fabrikarbeiter und dessen Frau, die in Heimarbeit als Näherin arbeitete, ein Angestellter im Einzelhandel, ein Bäcker, eine Maschinenschreiberin, eine Stickerin und viele mehr interviewt. Von Beginn an ging es darum nachzuweisen, dass selbst die im Verhältnis besser verdienenden Berufsgruppen, wie Angestellte oder Mechaniker, nicht ausreichend verdienten, um die Lebenshaltungskosten für sich und ihre Familie zu decken. Die Reihenfolge der Interviews – von besser- zu geringverdienenden Berufsgruppen – wurde als Steigerung an-
liche und disparate Praktiken angesprochen, die sowohl die öffentliche als auch die private Sphäre umfassen. Vgl. Bonnafous-Boucher, Maria: „From Government to Governance“, in: Ethical Perspectives. Journal of the European Ethics Network, 12, 4, 2005, S. 521-534. 58 „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 436, 14.05.1919, S. 17.
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gelegt, um rhetorisch und argumentativ eine Skandalisierung zu erzielen.59 Die Lebensumstände und Arbeitsbedingungen der geringverdienenden Gruppen wurden insbesondere bei Frauen stark skandalisiert. So wurde die Tätigkeit als Hausmädchen, welche die Ehefrau eines Straßenbahnfahrers aufgrund seines geringen Einkommens und der hohen Mieten annehmen musste, auch als grausamer Widerspruch zu ihrem weiblichen Wesen beschrieben: „La observamos. Sentimos cierta amargura íntima y apenas al contenernos un grito de protesta. Esa chica de ojos claros y suaves, de cara fresca y sonriente, delicadísima, no obstante el ambiente de angustia y miseria en que se desenvuelve, tiene cara de princesita y es verdaderamente cruel que deba oficiar de sirvienta.“60
Während sich in dieser Beschreibung eine geschlechternormative Kritik an der Frauenarbeit ablesen lässt, gab eine andere Interviewreportage der Artikelreihe eine feministische Kritik an den Arbeitsverhältnissen von Frauen wider. Mundo Argentino zitierte hier eine von zwei Schwestern, die als Maschinenschreiberinnen die Familie versorgten, wie folgt: „Las mujeres somos explotadas ignominiosamente; porque somos débiles, se desprecia o se menosprecia nuestro trabajo; en las fábricas y en el trabajo a domicilio se nos llena de pesadas exigencias y se nos paga con algunas monedas; en trabajos como el que ahora hacemos ganamos juntas las dos lo que se paga por el mismo trabajo a un sólo varón que escribe, se lo aseguro, menos rápido que nosotras y con más errores [...] Yo creo que esta injusticia tiene que desaparecer.“61
Die Forderung nach einer Angleichung der Löhne zwischen Männern und Frauen wurde hier also als Teil der Sozialen Frage verhandelt. Geschlechterverhältnisse waren, so zeigen es die Interviews, sowohl mit der Frage von kapitalisti-
59 Die erste Reportage rechtfertigt die Wahl des ersten Interviews mit einem Mechaniker folgendermaßen: „Nos resolvemos por los salarios que exceden a los del tipo medio de cuatro pesos, porque sabiendo cómo viven estos obreros ya se podrá ir deduciendo cómo viven los que perciben salarios inferiores, que son, desde luego, los más.“ Vgl. „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 430, 02.04.1919, S. 9. 60 „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 434, 30.04.1919, S. 16. 61 „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 453, 17.09.1919, S. 19.
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schen Ausbeutungsverhältnissen als auch mit neuen bürgerlichen Vorstellungen von Weiblichkeit verbunden. Die Glaubwürdigkeit der Interviews beziehungsweise der Befragten wurde bezeugt, indem ihnen die Charakterzüge bescheidener und moralischer ArbeiterInnen attestiert wurden, so auch im Falle des interviewten Schuhmachers: „Conocemos personalmente a este obrero; de su laboriosidad, inteligencia y prendas morales damos amplia fe.“62 Die Armutsverhältnisse am Wohnort wurden nicht nur anhand der Befragungen analysiert, sondern auch in einer Aufstellung über die Ausgaben eines Haushalts festgehalten und berechnet. Auf Basis der Daten aus den Interviews erhoben die Reporter die Einkommensverhältnisse und Lebenshaltungskosten der Befragten und tabellierten diese in ihren Reportagen (siehe Abbildung 4.14).63 Die Bilanzen jedes einzelnen Arbeiterhaushalts ergaben Defizite, welche sich den Befragten zufolge auf die Versorgung mit elementaren Lebensmitteln, Medizin und Kleidung sowie auf die Hygieneverhältnisse auswirkten. Die Bilanzierung diente der Objektivierung der individuellen Aussagen, wie die abschließende Reportage der Reihe resümierte: „Contra el riesgo de que hubiera alguna hipérbole o algún apasionamiento en las palabras sencillas de nuestros modestos interlocutores, hemos publicado el detalle del presupuesto doméstico de las familias, y vimos, con toda evidencia que la vida en la capital es, efectivamente, tan cara que nuestros obreros se ven precisados a reducirse más allá del limite prudencial y que el malestar obrero tiene una base real y seria, muy respetable y muy digna de tenerse en cuenta.“64
Sozialwissenschaftliche Methoden wie Umfragen, statistische Erhebungen oder teilnehmende Beobachtung gehörten zu den Techniken des modernen Journalismus, die der journalistischen Recherche einen wissenschaftlichen Wert und Authentizität verleihen sollten. 65 So betonte Mundo Argentino in der Vorankündigung zu der Interviewreihe den Ethos der journalistischen Recherche: „MUNDO ARGENTINO investiga imparcialmente en todas partes,
62 „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 432, 16.04.1919, S. 7. 63 Vgl. „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 442, 02.07.1919, S. 7. 64 „Cómo viven nuestros obreros. ¿Los salarios de los trabajadores están en relación con el costo de la vida?“, in: Mundo Argentino, 9, 460, 05.11.1919, S. 24. 65 Vgl. Doig, Stephen K.: „Reporting With the Tools of Social Science“, in: Nieman Reports, 62, 1, 2008, S. 47-49.
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respondiendo con el prestigio de sus muchos años de la recta intención de propósitos y de la veracidad de sus afirmaciones.66 Als zusätzliche objektive Referenz zogen die Reportagen der Interviewkampagne offizielle Statistiken über Einkommen und Wohnverhältnisse heran, jedoch ohne die Quellen genau zu benennen.67 Die Statistik war, so zeigt es ihr Stellenwert im Departamento Nacional de Trabajo und anderen staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen, zu einem bedeutenden Instrument für die Lösung der Sozialen Frage geworden. Die Reporter von Mundo Argentino und anderen Zeitschriften ähnelten eiferten dabei den sociógrafos nach und bezogen sich auf sie, wie etwa auf den Statistikprofessor und Reformer Alejandro Bunge.68 Durch die Ermittlung messbarer sozialer Parameter in den Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen der ArbeiterInnen versuchten sociógrafos wie Journalisten, politische Handlungsmaximen und konkrete Reformmaßnahmen auszuarbeiten. Neben den Umfragen und Bilanzen war die Beobachtung der Reporter die wichtigste Methode zur Analyse der Wohn- und Lebenssituation proletarischer Lebenswelten: Zum einen wurden körperliche Züge der BewohnerInnen genau beschrieben, zum anderen das Viertel und der Wohnort, an den sich die Reporter begaben. Falten, frühzeitige Alterung, Magerkeit und die kränklichen Körper der Kinder wurden als sichtbare Indikatoren für die prekären Verhältnisse der Arbeiterschaft beschrieben. Über die conventillos schilderten die Reporter ihre Eindrücke: „Todo respira pauperismo, miseria“; es zeigten sich Wasserschäden und
66 „Mundo Argentino y el problema actual“, in: Mundo Argentino, 9, 437, 21.05.1919, S. 3. 67 Eine Reportage nahm auf eine neue offizielle Statistik Bezug, um auf das durchschnittliche Einkommen einer Arbeiterfamilie in Buenos Aires von 94 Peso hinzuweisen. Vgl. Cómo viven nuestros obreros, 02.07.1919, S. 7. Die abschließende Reportage der Reihe verwies auf „las estadísticas“, die mit den Ergebnissen der Umfragen dahingehend übereinstimmten, dass neun Zehntel der Arbeiterfamilien nur ein einzelnes Zimmer gemeinsam bewohnten. Vgl. Cómo viven nuestros obreros, 05.11.1919, S. 24. 68 Die Bezeichnung sociógrafo stammt von: Núñez, Jorge A.: „Alejandro Bunge y el tema de la vivienda obrera en la República Argentina (1910-1915)“, in: HAOL, 21, 2010, S. 159-171, S. 160. Alejandro Bunge war Ökonom und Soziologe, politisch und religiös dem Catolicismo Social verschrieben. Er leitete seit 1910 die neu gegründete Abteilung für Statistik im Departamento Nacional de Trabajo und begründete parallel eine wissenschaftliche Karriere am Lehrstuhl für Statistik, wo er seit 1913 tätig war. Er war außerdem Herausgeber der 1907 gegründeten Zeitschrift Revista de Economía Argentina.
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mangelnde Elektrifizierung; extreme Beengtheit und mangelnde Luftzirkulation ebenso wie eine „horrible suciedad“.69 Die Reporter fungierten hier als glaubwürdige Augenzeugen, die ihre Recherchen in den Dienst des Allgemeinwohls stellten. Abbildung 4.14
Quelle: Mundo Argentino (1919)
Während die Befragten in den Interviews mitunter revolutionäre Ideen, sozialistische Haltungen oder feministische Standpunkte vertraten, positionierte sich Mundo Argentino in der eigenen politischen Stoßrichtung reformistisch. Die Zeitschrift forderte sozialstaatliche Interventionen und Investitionen ein und präsentierte sich selbst als sozial engagiertes Presseorgan. „El mal exige remedio. [...] Los políticos que nunca conocieron más que palacios deben ir como nosotros a los hogares obreros para ver cómo viven los pobres. Percibirían, entonces, que el dolor proletario no es fingido y que sus sufrimientos, muy hondos, son soportados con valentía y estoicismo. Recibirían allí estímulos para la acción; y concluirían, 69 Vgl. Cómo viven nuestros obreros, 30.04.1919, S. 15; Cómo viven nuestros obreros, 02.04.1919, S. 9;
Cómo viven nuestros obreros, 16.04.1919, S. 7; Cómo viven
nuestros obreros, 14.05.1919, S. 17.
178 | W IE DIE A NDEREN LEBEN con nosotros, que nada más sensato, más urgente y más necesario para la prosperidad del país que levantar de su afligente situación a las clases obreras, empezando por asegurarles un salario proporcional al costo de la vida y una legislación social previsora y completa. ¡Manos a la gran obra!“70
Die Pressekampagne zeigt deutlich, wie die Magazinpresse sich an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, aufstrebenden Mittelschichten und Arbeiterklasse positionierte und von diesem Punkt aus die Regulierung von Wohn-, Lebens- und Arbeitsverhältnissen einforderte. Proletarische Forderungen fusionierten in der Magazinpresse mit heteronormativen Konzepten vergeschlechteter Räume und schufen solchermaßen die diskursive Grundlage der Verstaatsbürgerlichung der Arbeiterklasse. Die Stadt der Zukunft Wie auch im einleitenden Beispiel über das entstehende Arbeiterviertel in Montevideo publizierten argentinische Magazine immer wieder Berichte über Entwürfe und bereits realisierte Projekte von Wohnquartieren im europäischen und amerikanischen Ausland und entwickelten darüber spezifische Lösungen für die lokale Situation in Buenos Aires. Über mögliche Lösungsmodelle zur Wohnraumfrage in demografisch stark konzentrierten und industriell geprägten Großstädten herrschte ein reger transnationaler Austausch von Ideen und Konzepten. Der Blick ins Ausland war sowohl in Expertendiskursen, als auch speziell in der Presse von Bedeutung. Der Stadtplaner Benito Carrasco, auf dessen Initiative – wie bereits ausgeführt – auch die Planungen einer Uferpromenade und des Strandbads für Buenos Aires zurückgingen, verfasste 1908 für Caras y Caretas eine programmatische Beschreibung der von ihm ersonnenen „ciudad del porvenir“.Darin propagierte er eine geregelte Dezentralisierung von Buenos Aires, die für eine moderne Stadtplanung anstelle des kostenaufwändigen Ausbaus des Stadtzentrums gefördert werden müsse: „La verdadera ciudad, la grandiosa ciudad del futuro no lejano, la ciudad que llenará de orgullo á la América y á la raza, tiene que desarrollarse de Callao y Entre Ríos al oeste, donde el trazado responde á las exigencias de las ciudades modernas, donde se abandona á la famosa disposición de ‚damero‘.“71
70 Cómo viven nuestros obreros, 05.11.1919, S. 24. 71 Carrasco, Benito: „La ciudad del porvenir“, in: Caras y Caretas, 11, 490, 22.02.1908, S. 73 f.
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Das Magazin druckte den von Carrasco entworfenen Stadtplan mit einem Zukunftsentwurf für das Stadtbild von Buenos Aires ab, der die Westexpansion der Stadt, ebenso wie vorgesehene Grünflächen, das Aufbrechen des schachbrettartigen Straßennetzes und ein neues Regierungsviertel vorsah (Abbildung 4.15).72 Abbildung 4.15
Quelle: Caras y Caretas (1908)
Carrascos Entwurf in Caras y Caretas verkörperte den Zeitgeist der urbanistischen Reformbestrebungen: Die Erschließung neuer unbebauter Gebiete in dezentralen Lagen der Stadt sollte nach Kriterien modernen Wohnens gestaltet werden. Die Vorstadt wurde damit als Zukunftsraum entworfen, der sich der ‚alten‘ Probleme von Arbeiterkämpfen, Gesundheitsrisiken und mangelnder Moral durch eine räumliche Neuordnung entledigte. Zu den einflussreichsten Vorbildern zählt Ebenizer Howards so genannte Gartenstadt, die der Engländer in seinem Buch Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform beschrieb, das 1898 erschien und vier Jahre später in überarbeiteter Form mit dem Titel Garden Cities of Tomorrow herausgegeben wurde und sich international stark verbreitete. Im Mittelpunkt von Howards Forderungen stand die Fusion von ländlichen und städtischen Wohnmilieus: „Town and country must be married, and out of this joyous union will spring a new hope, a new life, 72 Die mit Zahlen versehenen Straßen stellen die geplanten Boulevards dar; das Kreuz in der Mitte den Ort für das vorgesehene städtische Regierungszentrum und die schwarzen Punkte Grünflächen von je 30 bis 40 Hektar.
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a new civilization.“73 Auch in Carrascos Entwurf fand sich die Vorstellung eines weiten, ländlich geprägten, von Parks und Gärten durchsetzten Wohnviertels wieder, das die Vorteile des Landlebens mit der gleichzeitigen Anbindung an Stadtzentrum und industrielle Arbeitsstätten über ein modernes Transportnetz verband. Arturo Almandoz beschreibt die Gartenstadt als einen der Mythos der Stadtplanung des 20. Jahrhunderts, der sich in Lateinamerika im Sinne des ursprünglichen Modells kaum realisiert habe, aber in der urbanistischen Planung von Vorstädten in Ballungsräumen teils eine starke Wirkung entfalten konnte. Das Bild der Gartenstadt hat demnach in Lateinamerika vor allem als ‚GartenVorstadt‘ der Unter- und Mittelschichten Geltung erfahren.74 Abbildung 4.16
Quelle: Fray Mocho (1913)
Im Magazin Fray Mocho wurde 1913 die optimale Bauweise von Arbeiterwohnhäusern diskutiert. Als Ideal wurden etwa kostengünstige Landhäuser in England herangezogen (siehe Abbildung 4.16)75 Die besondere Herausforderung liege darin, so der Artikel, schöne und komfortable Bauarten, die bislang den Reichen vorbehalten waren, auch für Arbeiterfamilien aus bescheidenen Verhältnissen erschwinglich zu machen. Das Ideal des Landhauses resultierte zugleich aus einer Aufwertung des Ländlichen gegenüber der als nervös und ungesund verstandenen hektischen Großstadt: „Por todas partes se oye que hay
73 Howard, Ebenizer: The Garden Cities of Tomorrow, London: Swan Sonnenscheind & Co 1902, S. 18. 74 Vgl. Almandoz, Arturo: „The Garden City in Early Twentieth-Century Latin America“, in: Urban History, 31, 3, 2004, S. 437-452. Zur Bedeutung von Grünflächen in der Stadtplanung von Buenos Aires siehe auch: Gorelik, La grilla y el parque, 2004. 75 Vgl. „El problema de la tierra y la casa del obrero“, in: Fray Mocho, 2, 86, 19.12.1913.
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que volver a la naturaleza [...] La vida en la gran ciudad se hace muchas veces imposible y el campo es el refugio.”76 Bereits 1906 veröffentlichte Caras y Caretas eine Reportage über eine als vorbildlich beschriebene Arbeitersiedlung namens La Humanitá, die auf genossenschaftliche Initiative 1861 in einem Vorort von Mailand gebaut worden war. Das Ziel des Projekts bestand im Wesentlichen darin, Arbeiterfamilien eine würdige und gesunde Unterkunft zu bieten und eine moralische und hygienische Lösung des Wohnraumproblems. Insgesamt 410 Gebäude mit einzelnen Wohneinheiten von ein bis drei Zimmern könnten einzelne Familien beherbergen. Pro Gebäude gebe es darüber hinaus einen Erholungsort für Kinder, einen Waschraum und einen Bau mit warmen und kalten Duschen.77 Die soziale Aufgabe des Wohnungsbaus wurde deutlich mit gesellschaftlichen Reformansprüchen verbunden, die über den konkreten Mangel an Wohnraum hinausgingen. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, so Acosta und Galli in ihrer Studie über die Interaktion von Kooperativen und staatlichem Wohnungsbau, dass über die Ordnung des Wohnraums der soziale Habitus beeinflusst werden könne. Diese Vorstellung sei maßgeblich im ausgehenden 19. Jahrhundert geprägt worden: Während die Architektur im 18. Jahrhundert durch ihre Form bestimmte Vorstellungen ausdrücken sollte, wurde ihr im ausgehenden 19. Jahrhundert die Aufgabe zugesprochen zu moralisieren und die Gesellschaft zu reformieren.78 Der Entwurf für eine ideale argentinische Stadt, den der renommierte Hygieneprofessor Emilio Coni 1919 in seinem Artikel La Ciudad Argentina Ideal o del Porvenir veröffentlichte, beschreibt diesen Zusammenhang zwischen Wohnraumordnung und gesellschaftlicher Optimierung besonders deutlich. Die Stadt der Zukunft sehe demnach folgendermaßen aus: „[...] no conocerá conventillos, ni pensiones ruinosas ni ranchos. Los poderes públicos y las empresas construirán casas y barrios obreros de una dos y tres piezas, con servicios correspondientes. Entonces se habrá desterrado la contaminación física y moral en las viviendas de las casas trabajadoras. La profilaxis de las enfermedades contagiosas habrá alcanzado su máximo apogeo y en la educación de las masas populares se obtendrán ópti-
76 „El problema de la tierra y la casa del obrero“, in: Fray Mocho, 2, 86, 19.12.1913, S. 46-47, S. 46. 77 Vgl. „Casas para obreros“, in: Caras y Caretas, 9, 430, 29.12.1906, S. 40-42. 78 Vgl. Acosta; Galli, La articulación de las cooperativas, S. 3 f.
182 | W IE DIE A NDEREN LEBEN mos resultados.[ ...] La raza será mejorada física y moralmente y la habitación colectiva no quedará en la historia sino como un recuerdo vergonzoso [...]“79
Der Reformgedanke war nicht nur allein die Antwort auf den Mangel an bezahlbarem Wohnraum, sondern muss darüber hinaus auch als Strategie der Schlichtung von Arbeitskämpfen und gesellschaftlichen Unruhen verstanden werden, die um 1910 virulent wurden. Die Normalisierung der Arbeiterfamilie im bürgerlichen Eigenheim wurde auch in einer Reportage über die Arbeitersiedlung im Barrio Reus in Montevideo deutlich. Darin wurde das Viertel als materieller Ausdruck des gesunden Lebens beschrieben: Bei den dort lebenden Arbeiterfamilien sei Normalität in ihre Existenz eingekehrt, so dass sie die Tage und Monate in süßer Ruhe verbrachten, eine bessere Bildung genossen und ein besseres Leben führten. Das gesunde, ruhige und normale Leben, das diese Arbeitersiedlung mit Modellcharakter ausmache, resultierte aus der Neuerung, dass auch Arbeiterfamilien nun das bürgerliche Ideal von Häuslichkeit und Privatbesitz erreichen konnten. Diese Werte fasste die Reportage abschließend wie folgt zusammen: „Pues, lo que de más bello ofrece a la curiosidad la casa obrera es el secreto de la vida íntima.“ 80 Der private Wohnraum für die Arbeiterklasse hatte, das zeigt auch dieses Beispiel, eine wichtige biopolitische Funktion: Hier sollte die räumliche Fixierung der Arbeiterfamilien, die Domestizität von Frauen und damit verbunden die weibliche Reproduktionsleistung der männlichen Arbeitskraft im kapitalis-tischen System gewährleistet werden. Der Erwerb von Eigenheimen wurde auch mittels Annoncen in der Magazinpresse beworben. Die 1906 gegründete privatwirtschaftliche Bank El Banco del Bien Raíz gestaltete ihre Werbung teilweise mehrseitig in einer Form, die Elemente der Sozialreportage mit aufnahm. So warb sie wiederholt mit dem Foto eines Jungen, der sich in einer Szenerie kurz nach einer Wohnungsräumung zu befinden scheint: Umgeben von spärlichem Mobiliar sitzt er in verzweifelter Pose, den Kopf in die Hände gestützt, straßenseitig vor einer Hauswand auf einer Matratze (Abbildung 4.17). Im Begleittext wird aus der Sicht des Jungen das Versprechen der Bank verlautbart, nämlich die Möglichkeit, über einen Kredit für ein Eigenheim mit seiner Familie aus der Armut zu entkommen:
79 Coni, Emilio: „La ciudad argentina ideal o del Porvenir“, in: Semana Médica, 14, 03.04.1919, zitiert in: Armus, Diego: „Un médico higienista buscando ordenar el mundo urbano argentino de comienzos del siglo XX“, in: Salud Colectiva, 3, 1, 2007, S. 71-80, S. 74. 80 „La vida del obrero“, in: Caras y Caretas, 15, 723, 10.08.1912, S. 75.
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„Hay, sin embargo, en el rincón más mísero de la casa de vecindad un pequeño filósofo, un precoz amargado de la vida, tal vez por herencia, que piensa y sueña con tiempos mejores, con pantalones sin remendar, con botines sin bocas y con camisetas y medias de verdad. ¿Será cierto – se dice mientras contempla la vela como si ella debiera responderle, – que el Banco del Bien Raíz nos dará botines, pantalones, medias, camisetas y una camita macuca donde dormir? Y se conforma con sabor que el padre se lo ha asegurado. Tendrán una casita y ¡claro! No pagando alquiler... ahora lo comprende.“81
Abbildung 4.17
Quelle: Caras y Caretas (1907)
Auf der anderen Seite war die Werbebotschaft der Bank grafisch expliziter gestaltet, indem sie den Slogan „Comprad una casita” in fetten unterstrichenen Lettern prangen ließ und unter ein Bild setzte, das eine Vision dieses über einen Bankkredit erwerbbaren Eigenheims heraufbeschwor. Es zeigt eine Familie in einem großzügigen hellen Zimmer, in dem ein aufmerksamer Vater von seinen
81 Banco del Bien Raíz: „De la vida - El Hogar Feliz“, in: Caras y Caretas, 10, 438, 23.02.1907, S. 82 f.
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drei Kindern umringt am Tisch sitzt und aus einer Zeitschrift oder einem Buch vorliest, während die Großmutter und die gut frisierte Mutter mit Handarbeiten beschäftigt sind. Der Diskurs über das private Eigenheim funktionierte, so zeigen es die Werbeanzeigen deutlich, nicht allein als Appell an staatliche Institutionen, sondern involvierte gleichermaßen kooperative und privatwirtschaftliche AkteurInnen und vor allem die Arbeiterklasse selbst. Die neue proletarische Domestizität funktionierte unter der Bedingung des Sparens, und ging damit in der gouvernementalen Strategie von Eigenverantwortlichkeit und Vorausplanung für das eigene soziale Wohlergehen auf. Regieren meinte in diesem Sinne die produktive Verschränkung von staatlichen Politiken, behördlichen Regularien, wissenschaftlichen Techniken, privatwirtschaftli-chen Investitionen, biopolitischen Wissensvermittlungen und dem Selbstre-gieren der ArbeiterInnen in der vergeschlechteten Sphäre der Ökonomie, also der beruflichen wie privaten Haushaltsführung.
Die curiosidades der modernen Stadt
Neugier und Schaulust gehörten zu den Eigenschaften, welche die Redakteure der Magazinpresse von ihren modernen LeserInnen Anfang des 20. Jahrhunderts zweifellos antizipierten, wenn sie die Themen und Menschen auswählten, über die sie berichteten und die sie abbildeten. In Form von Typenporträtswurden solche Individuen dargestellt, die in ihrer körperlichen Erscheinung oder ihren Verhaltensweisen als originell, pittoresk, außergewöhnlich oder transgressiv charakterisiert wurden.1 Es handelte sich dabei um kleine Geschichten von so bezeichneten curiosidades, die meist in Kombination mit einer einzelnen Fotografie abgedruckt wurden. Sie waren einfach und unterhaltsam abgefasst und enthielten für gewöhnlich keine politische Kontextualisierung. In Form und Stil ähnelten die argentinischen Typenporträts dem Genre der so genannten human interest stories der US-amerikanischen Presse, die dort etwa zur gleichen Zeit aufkamen. Rolf Lindner beschreibt sie als „Berichte von Menschen, Einrichtungen und Ereignissen, die unbekannt und unerhört sind, die, gemessen an unseren Erfahrungen, Erwartungen und Vorstellungen, ungewöhnlich sind“ und erkennt darin eine neuen Charakter in der Massenpresse, den Durchbruch des „Klatsch“, der losgelöst von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen
1
Die Bezeichnung Typenporträt ist von der Autorin selbst gewählt. Der Begriff des Porträts begründet sich aus der Kürze der Darstellung, die meistens nicht über eine halbe Seite hinausging, aus der Fokussierung auf eine Einzelperson, die anhand einiger biografischer Daten und Besonderheiten umrissen wurde, sowie aus der Zentralität einer zumeist einzelnen fotografischen Porträtaufnahme, um die der Text gruppiert wurde. Bei dem Begriff der Typen hingegen handelt es sich im Spanischen um einen Quellenbegriff (tipos), der zur Stereotypisierung und Exzeptionalisierung bestimmter Menschen verwendet wurde und in Überschriften und Text oftmals als tipos populares, tipos callejeros, tipos característicos auftauchte.
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stehe.2 Das vermeintlich apolitische und oftmals in belustigendem Ton gehaltene Genre der argentinischen Typenporträts, so wird im Folgenden argumentiert, war allerdings durchaus produktiv für einen neuen Blick auf soziale Marginalität und stand damit in unmittelbarem Zusammenhang mit soziokulturellen Veränderungen der Zeit. Die Repräsentation so genannter tipos populares und exzeptioneller ZeitgenossInnen schrieb sich über unterhaltsame Anekdoten in biopolitische Diskurse zu Modernität, Urbanität und sozialen Fragen ein. In einem ersten Part werden solche Porträts untersucht, die unter dem Schlagwort der tipos populares Menschen als integralen Teil des urbanen Straßenbilds zeigten. Dabei lässt sich eine Entwicklung von kanonisierenden hin zu individualisierten und schließlich zu massifizierten Repräsentationen aufzeigen. Im zweiten Unterkapitel werden solche Typenporträts untersucht, die sich durch eine Transgression von Geschlechternormen auszeichneten.
D IE P ORTRÄTIERUNG
DER TIPOS POPULARES
Zu den am häufigsten wiederkehrenden Motiven der Magazinpresse zählten die so genannten tipos populares, denen im Unterhaltungsteil der Magazine – speziell bei Caras y Caretas und bereits in den 1880er Jahren bei La Ilustración Argentina – regelmäßige Abbildungen und anekdotenhafte Beschreibungen zuteilwurden. Dabei handelte es sich um Repräsentationen bestimmter sozialer ‚Typen‘, die sich zugleich durch ihre Exzeptionalität und durch ihr öffentlich bekanntes Erscheinungsbild auf den Straßen von Buenos Aires und anderen Städten auszeichneten. Hinter der Bezeichnung tipos populares verbargen sich jedoch zwei unterschiedliche Repräsentationsstrategien: Erstens galt ihre Darstellung der Stereotypisierung und Romantisierung verschiedener durch informelle Arbeit und Armutsverhältnisse geprägter Bevölkerungsgruppen im städtischen Straßenleben, darunter beispielsweise Schuhputzer, Bettlerinnen, Wasserträger, Streichholzverkäuferinnen, Korbmacher, Straßenkehrer, Gemüsehändlerinnen und Obstverkäufer.3 Zum anderen wurden mit dem Begriff tipos populares ‚außergewöhnliche‘ und ‚kuriose‘ Individuen porträtiert, die zumeist ebenfalls durch ihre Prekarität, vor allem aber durch physische oder psychische Abnormität gekennzeichnet wurden.
2
Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur, 1990, S. 20.
3
Die Beispiele stammen aus den beiden Reihen „Tipos populares“ und „Tipos y escenas de Buenos Aires“, die in La Ilustración Argentina seit 1882 erschienen.
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Kostumbristische Typenporträts Die Zeitschrift La Ilustración Argentina publizierte seit 1882 regelmäßig Lithografien von tipos populares, die Menschen der Straße in ihren informellen Arbeitssituationen repräsentierten. Die dargestellten Personen wurden darin primär über ihre Arbeitskleidung, ihre Arbeitswerkzeuge und ihre Waren, ihren Körperbau und weitere Attribute gekennzeichnet, die auf ihren Beruf und ihren sozialen Status hinwiesen.4 Es handelte sich ausschließlich um Studioaufnahmen, in denen die Darstellungen bewusst arrangiert wurden. Ein Orangenverkäufer wurde etwa beim Transport seiner Ware mittels zwei über ein Seil verbundene Körbe voller Früchte charakterisiert; ein Straßenkehrer über sein Arbeitswerkzeug – einen Besen über den Schultern und eine große Kanne in der Hand; und ein Besenverkäufer über die imposant über die Schulter geschwungenen Waren (Abbildung 5.1).5 Die Zeitschrift fügte den Illustrationen auf einer vorangehenden oder nachfolgenden Seite einen beschreibenden Text hinzu, der das visuelle Erscheinungsbild der tipos populares aufgriff und kommentierte. So liest sich die Beschreibung des Besenverkäufers aus Buenos Aires folgendermaßen: „He aquí uno de ellos, en su traje habitual y en su actitud típica: las escobas al hombro, los plumeros colgando del mango de estas; en la mano derecha un plumerillo, como emblema de su profesión.“6 Text und Bild unterstützten sich so gegenseitig in der Typisierung einer Berufsgruppe, die anhand äußerer Attribute kategorisierbar wurde. Darüber hinaus boten die Beschreibungen als Gruppenmerkmale vor allem Hinweise auf ihre Herkunft und Nationalität. So handelte es sich laut Beschreibung bei Staubwedelverkäufern typischerweise um italienische Einwanderer, welche die zu früheren Zeiten üblicherweise als StraßenhändlerInnen tätigen morenos abgelöst hätten; im Fall der Orangenverkäufer um Genovesen, bei Klempnern und Schustern um Napolitaner, bei Hotelpagen um Franzosen aus Paris, et cetera.7
4
Ethnografische Typenfotografien, die über ihren wissenschaftlichen Kontext hinaus auch im Genre der Bildpostkarte populäre Verbreitung fanden, verwendeten ähnliche Darstellungsformen. Vgl. Jäger, Jens: „Globalisierte Bilder - Postkarten und Fotografie. Überlegungen zur medialen Verklammerung von ‚Ost‘ und ‚West‘“, in: Zeitenblicke, 10, 2, 2011, S. 1-14, Abs. 29.
5
Vgl. „El naranjero. (Tipos populares)“, in: La Ilustración Argentina, 4, 29, 20.10.1884, S. 232; „El barrero municipal. (Tipos populares)“, in: La Ilustración Argentina, 5, 8, 20.03.1885, S. 61; El escobero. (Tipos populares)“, in: La Ilustración Argentina, 4, 25, 10.09.1884, S. 207 f.
6
Ebd., S. 207.
7
Vgl. Ebd.; El naranjero, 20.10.1884, S. 230.
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Abbildung 5.1
Quelle: La Ilustración Argentina (1884)
Die Typendarstellungen beriefen sich damit auf die soziale und nationale Vielfalt im gesellschaftlichen Panorama von Stadt und Nation. Dabei spielten MigrantInnen eine wesentliche Rolle. Gegenüber ländlichen Szenen und kreolischen Typen, die für kostumbristische Darstellungen oftmals verwendet und spätestens mit der nationalen Figur des Gaucho für die argentinische Nationalidentitätsbildung fundamental wurden, stellten die städtischen tipos populares zumeist migrantische Händlerlnnen, HandwerkerInnen und DienstleisterInnen dar und thematisierten deren Herkunft. Europäische MigrantInnen wurden im Kontext der beginnenden Masseneinwanderung in den 1880er Jahren somit bereits in ein nationales Typenrepertoire aufgenommen, das sich in das Bild einer kosmopolitischen Stadt einordnete, deren Bevölkerung perspektivisch zu einer homogenen argentinischen Nation verschmelzen sollte.8 Gleichzeitig fand bereits in den frü8
Bezeichnend für die nationale Identitätsbildung auf Basis einer positiven Referenz auf die Einwanderung wurde die Metapher der hijos de los barcos, welche für die Vorstellung steht, dass die argentinische Nation sich quasi vollständig aus den NachfahrInnen der MigrantInnen zusammengesetzt habe, die sich in der Phase der Massen-
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hen Darstellungen von tipos populares eine Exotisierung der Armut statt, die sich auch in ihrer Bezeichnung als pobres humildes ausdrückte. Die prekäre Situation ihrer Arbeitstätigkeit wurde dabei über ihre Verbindung zum Straßenleben, ihr pittoreskes Erscheinungsbild und ihre vermeintliche Bescheidenheit in sympathisierender Weise aufgewertet. Die Typenporträts der sogenannten pobres humildes stellten in den 1880er Jahren eine neue Kategorie urbanen gesellschaftlichen Lebens in der illustrierten Zeitschriftenkultur dar, deren wenige Illustrationen bis dahin ausgewählten Persönlichkeiten der nationalen und internationalen Eliten – inbesondere Staatsmännern und Wissenschaftlern – galten. Die Porträtierung von tipos populares war jedoch keine genuine Erfindung der Zeitschriftenpresse, sondern besaß eine lange ikonografische Tradition, die sich in europäischen und amerikanischen Bildkulturen zurückverfolgen lässt. Traditionslinien von Motiven und Stil jener Darstellungen der pobres humildes führen auf die Strömung des Kostumbrismus zurück, dessen Objekte alltägliche und ‚authentische‘ Szenen aus dem Leben in einfachen Verhältnissen waren und bereits in der flämischen und spanischen Malerei des ausgehenden Mittelalters entstand.9 Kostumbristische Typendarstellungen wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert auch im iberoamerikanischen Raum populär. In Argentinien und anderen südamerikanischen Ländern wurden kostumbristische Motive Anfang des 20. Jahrhunderts massenhaft auf Bildpostkarten verbreitet. Hinnerk Onken zeigt, dass sich dort universelle, kanonisierte Motive herausbildeten, die das Wesen der (jeweiligen) Nation repräsentieren sollten, etwa in romantisierenden Darstellungen des Landlebens, der ‚guten alten Zeiten‘ und bestimmten Facetten der cultura popular.10 Insbesondere ab den 1920er Jahren wurde der Gaucho zum „tipo social por excelencia en el imagina-
einwanderung von Europa nach Argentinien eingeschifft hatten. Siehe dazu: Quijada, Mónica: „‚Hijos de los barcos‘ o diversidad invisibilizada? La articulación de la población indígena en la construcción nacional argentina (siglo XIX)“, in: Historia Mexicana, 53, 2, 2003, S. 469-510. 9
Beispiele sind Rembrandt van Rijn, Pieter Brueghel, Diego Velázquez und Bartolomé Murillo, vgl. dazu Mraz, John: Looking for Mexico. Modern Visual Culture and National Identity, Durham: Duke Univ. Press 2009, S. 27. Mraz vermutet ebenfalls unmittelbarere ikonografische Vorbilder in den bekannten Serien von so genannten „street cries“ von StraßenhändlerInnen in Paris und London, die im 19. Jahrhundert kursierten.
10 Vgl. Onken, Visiones y visualizaciones, 2014, S. 59.
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rio argentino” und der ländliche Raum zu einem „simbolo de un nacionalismo natural“ und einem „ideal de unificación territorial“ in Argentinien.11 Doch nicht nur ländliche Motive, sondern insbesondere auch die urbane Typenfotografie stand in Lateinamerika in der kostumbristischen Tradition. Die tarjetas de visita, bei denen es sich um kleinformatige reproduzierbare Fotografien auf Sammelkarten handelte, weckten noch vor der Bildpostkarte die Sammelleidenschaft bürgerlicher Eliten. In Mexiko bildeten sie Ende des 19. Jahrhunderts erstmals massenhaft kostumbristische Einzel- und Gruppenporträts von StraßenverkäuferInnen und anderen pobres humildes ab, die als ‚tipos mexicanos‘ begriffen wurden und eine identitätsstiftende Wirkung erhielten.12 Fotografien von tipos populares im kostumbristischen Stil wurden ebenfalls als Kunstobjekte betrachtet und gehandelt: Die prestigereiche Galerie Witcomb auf der Calle Florida in Buenos Aires exponierte etwa die fotografische Kollektion „Tipos y costumbres“, welche stereotypisierte Szenen des Lebens der clases populares zeigten.13 Die visuelle Repräsentation von tipos populares in Lateinamerika war im ausgehenden 19. Jahrhundert im Wesentlichen Anschauungs- und Konsumobjekt der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten, die sich ihren Er-
11 Giordano, Mariana: „Nación e identidad en los imaginarios visuales en la Argentina. Siglos XIX y XX“, in: Arbor, 187, 740, 2009, S. 1283-1298, S. 1294. 12 Vgl. Mraz, Looking for Mexico, 2009, S. 24-28. Mraz bezieht sich auf die Reihe „Tipos mexicanos“, die von dem Fotostudio Cruces y Campa bereits in den 1870er Jahren produziert wurde. Die Fotografien stellten ein breites Repertoire an StraßenhändlerInnen dar, die einzig durch ihre Tätigkeit charakterisiert wurden. Dabei handelte es sich ausschließlich um Studioaufnahmen, in denen die Dargestellten mit entsprechenden Requisiten und teilweise vor einem inszenierten urbanen Hintergrund posierten. Die Inszenierung von Authentizität wird hier besonders deutlich. Castillo Troncoso betont, dass die tipos populares der tarjetas de visita in Mexiko ihren nationalidentitätsstiftenden Diskurs auf dem Prinzip der mestizaje ausrichteten, vgl. ders.: Conceptos, imágenes y representaciones de la niñez en la Ciudad de México (1880-1920), México, D.F.: El Colegio de México Centro de Estudios Históricos 2006, S. 43. 13 Siehe: Giglietti, Natalia: Las fotografías costumbristas en la Colección Witcomb, Vortrag bei: II. Congreso Iberoamericano de Investigación Artística y Proyectual y V. Jornada de Investigación en Disciplinas Artísticas y Proyectuales, La Plata, April 2010, auf Website: http://sedici.unlp.edu.ar/handle/10915/39378 [24.06.2015]. Giglietti stellt in ihrer Analyse kostumbristischer Fotografien des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Galerie Witcomb heraus, dass für die Bildung einer nationalen Identität gerade die visualisierte Differenz von hegemonialer gegenüber populärer Kultur von Bedeutung war.
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werb leisten konnten, entsprechende Kunstsalons und Galerien frequentierten oder die hochpreisigen illustrierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts bezogen. Die Romantisierung der Armut kann als ein Identifikationsangebot an die elitären Schichten gelesen werden, die über ihre Differenz zu einem ‚primitiven‘, ‚archaischen‘ Anderen eine bürgerliche, moderne Subjektivität ausbilden konnten. Die Alterisierung der tipos populares wird besonders anhand der stereotypen Darstellungen einsichtig, die zu den vielfältigen, oftmals weniger pittoresken Tätigkeiten und Lebensformen der prekären Masse der Bevölkerung in Zeiten von Industrialisierung und Masseneinwanderung im Kontrast standen. Die kostumbristischen Typendarstellungen entwarfen hingegen eingängige Stereotypen ohne Namen und eigene Geschichte, die einen Gegenentwurf zur modernen Metropole repräsentierten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es insbesondere die Magazine Caras y Caretas, Fray Mocho und PBT, die kostumbristische Bild- und Texttraditionen annahmen und in fotografischen Darstellungen weiterentwickelten. Bereits die ersten Ausgaben von Caras y Caretas zeigten Fotografien, die eine ikonografische Traditionslinie mit den Typendarstellungen des 19. Jahrhunderts aufwiesen (siehe Abbildung 5.2).14 Auch hier waren die Motive in erster Linie StraßenverkäuferInnen, die über die mitgeführten Waren, wie zum Beispiel Haushaltsgegenstände oder Lebensmittel, bildlich charakterisiert wurden. Wie die Artikel beschrieben, waren diese fester Bestandteil der städtischen Alltagskultur auf den Straßen von Buenos Aires, insofern sie ihre Waren auf den Straßen und von Tür zu Tür anpriesen. Caras y Caretas schrieb 1899 über den fotografisch abgebildeten Zwiebelverkäufer: „Es otro de los atormentadores matutinos y quizás el más característico de todos, [...] que á los ojos de las cocineras deben representar la nota más vibrante de la poesía callejera.”15 Im Unterschied zu den Studioaufnahmen der frühen Zeitschriftenpresse verwendeten die Magazine Fotografien, die im städtischen Raum aufgenommen worden waren. Der Zwiebelverkäufer wurde beispielsweise gehend auf der Straße gezeigt, so dass der Eindruck einer situativen Momentaufnahme der Lebens- und Arbeitspraxis der Person geweckt wurde. Die ‚Poesie der Straße‘ wurde auch im Suplemento de La Nación romantisiert. 1902 porträtierte das Magazin verschiedene Straßenverkäufer und -verkäuferinnen von Buenos Aires in einer Reportage und bebilderte diese fotografisch im kostumbristischen Stil. Das pittoreske Flair von kosmopolitischen
14 Neben den fotografischen Abbildungen wurden häufig ebenso Zeichnungen von tipos populares abgedruckt, die in kostumbristischer Tradition standen. 15 Figarillo: „El cebollero“, in: Caras y Caretas, 2, 16, 21.01.1899, S. 17.
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und kreolischen Elementen, das die StraßenverkäuferInnen der Stadt verliehen, sei insbesondere für diejenigen Argentinier, die sich im Ausland aufhielten, „una visión luminosa y nostálgica [del] recuerdo de la patria.”16 Den tipos populares wurde damit ein identitätsstiftendes Potenzial für die Bekräftigung der argentinidad beigemessen. Ihre vielzähligen, bei Caras y Caretas phasenweise wöchentlich erscheinenden Repräsentationen verdichteten sich zu einem Panorama von typischen Figuren des städtischen Alltags, die gleichzeitig anonym und wiedererkennbar, anders und doch zugehörig waren. Es handelte sich dabei um einen Blick auf die urbane migrantische Unterschicht, die als bescheidene, unermüdliche und originelle Figuren in das Sinnbild eines kosmopolitischen Argentiniens eingefügt wurden. Abbildung 5.2
Quelle: Caras y Caretas (1899)
Individuell und originell Neben den fotografischen Motiven der anonymen, stereotypen tipos callejeros in Tradition des 19. Jahrhunderts publizierte die Magazinpresse neue Rubriken, die – ebenfalls unter Titeln wie „Tipos populares de Buenos Aires“ oder „Tipos 16 „Los vendedores ambulantes de Buenos Aires“, in: Suplemento de La Nación, 1, 15, 11.12.1902, S. 6.
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populares de la república“ – Individuen wegen ihrer „genialidades, sus singulares medios de vida, sus ocurrencias y por su descaro á veces” 17 porträtierten. Die porträtierten Personen wurden beim Namen genannt und traten damit aus der Anonymität hervor, welche die Typendarstellungen bislang gekennzeichnet hatte. Es handelte sich um Porträts von einfachen und prekären StraßenhändlerInnen und Bedürftigen, die allerdings erst aufgrund ihrer individuellen ‚Genialität‘ zum Gegenstand von Interesse und Belustigung wurden. Das Adjektiv popular stand in der Typenbeschreibung somit gleichzeitig für den sozialen Status und für den Wortsinn ‚bekannt‘. Der Gebäckverkäufer Libre el masitero aus dem Stadtviertel San Telmo, dessen Name programmatisch für seinen freiheitlichen Lebensentwurf sprach, galt laut Caras y Caretas als „tipo más curioso de los vendedores ambulantes“ und bezog seine Sympathien insbesondere als „defensor de los debiles“ und als Kinderfreund.18 Der taube Musiker Muñoz Arareto, der an der Eisenbahnstation Pisco Jacú die ankommenden Passanten abpasste, vertrieb deren Langeweile mit seinem Tanzen und Musizieren; in Junín galt die Aufmerksamkeit einer kreolischen Straßenverkäuferin, die die besten Kuchen herstellte;19 und der ‚Veteran‘ unter den Zeitschriftenverkäufern, Rafael Mattano aus Avellaneda, wurde als sympathischer, beliebter und geschätzter Mann beschrieben mit einer „humilde y animosa tarea“.20 Die Beschreibungen der tipos populares beriefen sich nun auf solche Eigenschaften, die ihre Singularität und Alterität jenseits von nationaler, klassenspezifischer oder beruflicher Gruppenzugehörigkeit ausmachten. Neben der Individualisierung zog die moderne Repräsentationsstrategie der tipos populares auch eine veränderte visuelle Darstellung mit sich: Auf den Fotografien wurden sie in ihrem sozialen Umfeld gezeigt, während die Aufnahme gewöhnlich eine Verkaufs- oder andere Arbeitssituation nachvollzog (Abbildung 5.3).
17 „Tipos populares de provincias. Una pareja interesante“, in: Caras y Caretas, 4, 122, 02.02.1901, S. 43. 18 Riambau, Joaquín E.: „Libre el masitero del barrio San Telmo“, in: Caras y Caretas, 20, 962, 10.03.1917, S. 55. 19 Beide Personen wurden zusammen porträtiert in: „Tipos populares de la república“, in: Caras y Caretas, 22, 1060, 25.01.1919, S. 56. 20 „Tipos populares de la república. Rafael Mattano, de Avellaneda“, in: Caras y Caretas, 22, 1058, 11.01.1919, S. 60.
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Abbildung 5.3
Quelle: Caras y Caretas (1919)
Die ‚Heldentaten‘ eines weiteren tipo popular in Caras y Caretas, Pedro Pablo Pozo y Peña, bestanden darin, dass dieser in jungen Jahren als Musiker im Militär gedient hatte und seitdem mit seiner Flöte durchs Land zog und Schulkindern patriotische Lieder vorspielte, „inculcando, como él dice, ‚el entusiasmo y el amor a la patria sacrosanta‘“.21 Sein patriotischer Geist zeigte sich dem Bericht zufolge zusätzlich darin, dass er den Schulkindern auch Lektionen in Hygiene, Moral und Erziehung erteilte. Wie der Text weiterhin zu verstehen gibt, handelte es sich um einen extrem prekären Gelderwerb, insofern der Flötenspieler ausschließlich von den Almosen der AnwohnerInnen abhing, für die er musizierte. Auch hier wurde also eine ‚geniale‘ Persönlichkeit in der untersten sozialen Position zugleich parodiert und national integriert (siehe Abbildung 5.4).
21 „Tipos populares de la república. El andarín pozo y peña“, in: Caras y Caretas, 21, 1011, 16.02.1918, S. 40.
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Abbildung 5.4
Quelle: Caras y Caretas (1918)
Unwahrscheinliche Menschen Eine weitere Kategorisierung von tipos populares wurde weniger über bestimmte Tätigkeiten oder Fähigkeiten, sondern über physische oder psychische Abnormität begründet. Typenporträts dieser Art zeigten wiederkehrend Kleinwüchsige, Menschen mit körperlichen Deformationen, Greise in rekordverdächtig hohem Alter ebenso wie ‚Verrückte‘ und ‚SimulantInnen‘. Es handelte sich in diesen Darstellungen um die mediale Fortsetzung von Exhibitionsformen des ‚Anderen‘, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in Kuriositätenkabinetten und Freakshows von Jahrmärkten und Zirkussen ebenso wie auf Kolonialausstellungen und in wissenschaftlichen Untersuchungen in europäischen und nordeuropäischen Zentren als voyeuristisches Spektakel üblich waren. Sogenannte Freaks, so zeigt Birgit Stammberger in ihrer Wissens- und Körpergeschichte von ‚Monstuositäten‘, erlangten darin als Antithese kultureller Normalität ihre Bedeutung.22 In Lateinamerika wurden medizinische Fotografien von ‚Monstuosi22 Vgl. Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte aussergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2011, S. 19. Stammberger beschäftigt sich mit der Kommerzialisierung von ‚Monstern‘ in Freakshows und Kolonialausstellungen als Verkörperung von Seltenheit, Wildheit, Atavismus und Attraktion. Sie untersucht darüber hinaus, wie sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu Gegenständen wissenschaftlicher Untersuchung wurden, die sich mit den Unregelmäßigkeiten und Regularitäten der Natur befasste. Einen Bruch in der Vermark-
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täten‘ im Bereich der Teratologie, der Lehre von den ‚Missbildungen‘ von Lebewesen, seit den 1860er Jahren angefertigt. Sie fungierten als empirisches Mittel der Dokumentation und Klassifikation des Anormalen und Pathologischen, das jene ‚Kuriositäten‘ und ‚Monstruositäten‘ des menschlichen Lebens zu Gegenständen der Wissenschaft und – über Ausstellungen und Veröffentlichungen – zu Objekten der bürgerlichen Wahrnehmung machte.23 Mit der Möglichkeit der massenhaft reproduzierbaren Fotografie kehrten die Bilder des Abnormen auch in die Magazinpresse ein und wurden für eine unspezifische breite Leserschaft konsumierbar. Die ‚Kuriositäten‘ der Typenporträts der Magazinpresse wurden als journalistische Entdeckungen gefeiert und präsentiert. So publizierte Caras y Caretas 1901 in der Rubrik „Tipos populares de provincias“ das Porträt eines „curioso ejemplar de enano”, den ein Korrespondent der Zeitschrift bei seinen Exkursionen rund um Santa Fe aufgefunden und fotografiert habe.24 Der Mann namens Eduardo Ocampo sei extrem bekannt aufgrund seiner lebhaften Vergangenheit, in der es ihm trotz seiner geringen Größe an Liebesabenteuern und standhaften Duellen gegen andere Männer nicht gemangelt habe. Mittlerweile lebe er jedoch zurückgezogen in Mittellosigkeit und schwelge in seinen Erinnerungen und seiner Liebe zur Musik. Die soziale Isolation und seine Bedürftigkeit wurden als ‚natürliche‘ Konsequenzen seiner körperlichen Disposition erzählt. Die Anekdote über den ‚kuriosen‘ Außenseiter war die Geschichte eines zugleich tragischen und komischen Helden, dessen Schicksal zum Erstaunen und zur Belustigung des Lesepublikums diente und gleichzeitig eine sympathisierend-karitative Perspektive gewährte. Das Spektakel des Exzeptionellen und Kuriosen lebte in erster Linie von einer voyeuristischen Fotografie. So führte auch der Bericht über einen „hombre
tung des ‚Anderen‘ sieht die Autorin im Ersten Weltkrieg, der die Erfahrung von eigener Zerbrechlichkeit und Verstümmelung in den Alltag der Menschen brachte. 23 Vgl. Cuarterolo, Andrea: „Fotografía y teratología en América Latina. Una aproximación a la imagen del monstruo en la retratística de estudio del siglo XIX“, in: Contracorriente. Una revista de historia social y literatura de América Latina, 7, 1, 2009, S. 119-145, S. 129. Cuarterolo führt als ein Beispiel die fotografische Serie zu besonders ausgeprägten Fällen einer Krankheit der Lymphwege namens Elephantiasis auf, die der renommierte Fotograf Christiano Junior 1866 in Rio de Janeiro angefertigt hatte. Nach seiner Niederlassung in Buenos Aires wurden die Fotografien auf Ausstellungen der Sociedad Científica Argentina und des Club Industrial ausgestellt, mit verschiedenen Auszeichnungen prämiert und zirkulierten in Einzelfällen auch in medizinischen Fachzeitschriften. Vgl. ebd., S. 125 f. 24 Vgl. „Tipos populares de provincias. El enano de Santa Fe“, 4, 126, 02.03.1901, S. 39.
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inverosímil“ die Fotografien als journalistische Eroberung ein: „Pocas veces nos será dado presentar una fotografía más curiosa que aquella á la cual se refieren estas líneas...“25 Es handelte sich dabei um zwei Bilder eines Mannes, dessen Körper von starkem Muskelschwund geprägt zu sein schien (Abbildung 5.5). Die linke Fotografie zeigte den Mann entkleidet und gewährte einen medizinischen Blick auf den Körper des „hombre esqueleto“. Die rechte Fotografie zeigt ihn mit Hut, Anzug und Gitarre auf dem Boden sitzend. Diese Fotografie visualisierte den im Text beschriebenen Anblick des Mannes, wie er die Straßen der Stadt San Juan durchquerte, von Almosen und Kleiderspenden der Bevölkerung lebte und sein Gitarrenspiel und Gesang zum Besten gab. Auch in dieser Darstellung verbanden sich Sympathie und Wohlwollen mit sozialer Degradierung und körperlicher Altersierung des Mannes. Abbildung 5.5
Quelle: Caras y Caretas (1903)
Insbesondere der Geisteszustand verschiedener tipos populares bildete den Stoff für Geschichten und Anekdoten. So förderte Caras y Caretas etwa ein Typenporträt über den ‚Loco de los Sombreros‘ zutage, ein „tipo originalísimo”, der mit ganzen Stolz mehrere Hüte auf einmal in den Straßen von Catamarca zur 25 „Un hombre inverosímil“, in: Caras y Caretas, 6, 249, 11.07.1903, S. 39.
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Schau trug.26 Ein anderer verkörperte in seinem Wahn verschiedene Persönlichkeiten von unterschiedlichem sozialem Status: „Es plebeyo á ratos, proletario que suda sobre el yunque de la labor y sobre los pisos que lava (el hombre se ocupa de fregar pisos); burgués entregado al dandyismo otros ratos, y noble con título durante los días bullisiosos del carnaval...“.27 Die Belustigung über den „marqués de las cabriolas” speiste sich aus dessen Wechselspiel zwischen verschiedenen Klassenzugehörigkeiten und -identitäten. Die Rolle des eleganten Mannes erreichte in der Darstellung eine Komik, die durch den Kontrast zu seiner tatsächlichen Existenz als Arbeiter erreicht wurde. Die Ambitionen des sozialen Aufstiegs wurden im Jahr 1900 auch in dem Porträt des Marquesito parodiert, das in der Rubrik „Figuras que desaparecen” erschien. Der Marquesito simulierte demzufolge in seinem Auftreten und Kleidung einen Aristokraten und war damit zu einer „figura decorativa de la calle Florída” geworden, jener Straße, die das Herz des kulturellen Lebens in Buenos Aires darstellte.28 Seine Biografie endete mit der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt aufgrund der Diagnose geistiger Verwirrung, wo die Reporter der Zeitschrift ihn aufsuchten und sich mit ihm zusammen fotografieren ließen. Seine Geschichte ist die eines tipo popular der Straße, der in den modernen Sicherheitsmechanismen von Polizei, Medizin und Psychopathologie zum Behandlungsfall wird und in einer Anstalt endet. Zahlreiche weitere Beispiele von Typenporträts vermittelten ein voyeuristisches Spektakel, das über die Alterisierung körperlicher oder mentaler Eigenschaften ein Bild des Absurden und Kuriosen produzierte. Betrachtet man diese Alterisierungsstrategien in ihrer Funktion für die Ausbildung gesellschaftlicher Vorstellungen über Normalität, dann fungierten die ‚Kuriositäten der Magazinpresse nicht zuletzt als Antipoden von Modernität und sozialem Aufstieg. Die prekären Massen Während Buenos Aires sich mit Blick auf den Centenario als moderne Metropole neu erfand, beklagte die Magazinpresse zunehmend das Verschwinden der tipos populares aus dem Stadtbild. In Rubriken wie „Tipos populares que desaparecen“ in Caras y Caretas wurden Einzelschicksale von StraßenhändlerInnen und anderen informellen ArbeiterInnen bedauert, die Opfer der Moderni-
26 Vgl. „El loco de los sombreros“, in: Caras y Caretas, 20, 976, 16.06.1917, S. 44. 27 „El marqués de las cabriolas. Lanet en la nobleza. Un título de cascabeles“, in: Caras y Caretas, 11, 492, 07.03.1908, S. 71. 28 Vgl. „Figuras que desaparecen. El marquesito“, in: Caras y Caretas, 3, 111, 17.11.1900, S. 35.
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sierung geworden waren. Beispiele dieser aussterbenden tipos populares, die etwa wegen Elektrifizierung und Technisierung nicht mehr gebraucht wurden, waren die Porträts eines cambista, der per Hand die Weichen der Straßenbahnen umlegte, eines barítono, der bislang den Verkehr geregelt hatte und nun von Polizeibeamten ersetzt wurde und eines farolero, der die mit Kerosin gefüllten Straßenlaternen anzündete. An Darstellungen über die barrenderos, die als Straßenkehrer ebenfalls zum ‚alten‘ Buenos Aires gehörten, offenbart sich eine neue Differenzierung in der Repräsentation. Noch 1912 zeigte Fray Mocho die barrenderos in kostumbristischer Traditionslinie als sympathische Arbeiter, die sich mit ihren Uniformen und Handkarren in das Stadtbild einfügten.29 Infolge ihrer gewerkschaftlichen Organisierung, die sich 1917 zu einem Streik ausweitete, griff die Stadtregierung unter dem Bürgermeister Joaquín Llambías energisch durch und führte eine Massenentlassung zugunsten einer Einsetzung neuer städtischer Angestellter durch. Weitere Proteste und Auseinandersetzungen folgten. Indem die barrenderos aus ihrer pittoresken Rolle des bescheidenen Straßenkehrers heraustraten und sich politisierten, änderten sich auch ihre Darstellungen in der Presse. Sie wurden nunmehr als prekäre, proletarische Gruppe erfasst und vielfach als soziale Gefahr problematisiert. So beschrieb etwa Caras y Caretas die Streikenden als soziale Bedrohung, da sie die Gesundheit der Bevölkerung gefährdeten und die öffentliche Ordnung störten.30 Im Laufe der 1910er Jahre und insbesondere während der Zeit des Ersten Weltkriegs vermehrten sich die Repräsentationen von informeller Arbeit als einem bedrohlichen Massenphänomen, das seine pittoresken Züge verloren hatte. Die soziale Prekarität bestimmter Gruppen, die im Straßenbild besonders sichtbar waren, wurde zusehends als sozialer und moralischer Missstand angeprangert. Das Schicksal von Straßenverkäuferinnen in Buenos Aires war beispielsweise Gegenstand einer Reportage in PBT von 1917, welche die Arbeit dieser Frauen im höheren Alter skandalisierte. Insgesamt acht Fotografien zeigten sie an ihren typischen Verkaufsorten; die Bildunterschrift gab die genaue Adresse bekannt (siehe Abbildung 5.6). Der Artikel klassifizierte die Verkäuferinnen nicht über ihre Tätigkeit oder ihre Waren, wie es für die Porträts der tipos populares typisch war, sondern über ihre Eigenschaften als entwürdigte Mütter und degradierte Frauen. Die ökonomische Not und die defizitären sozialen Verhält-
29 Vgl. Rimac: „Los barrenderos“, in: Fray Mocho, 1, 14, 02.08.1912, S. 32 f. 30 Vgl. Riambau, Joaquín E.: „La huelga de los barrenderos“, in: Caras y Caretas, 20, 966, 07.04.1917, S. 32.
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nisse standen hier im Mittelpunkt, wobei die Skandalisierung von außerhäuslicher Arbeit von Frauen eine besondere Rolle spielte.31 Abbildung 5.6
Quelle: PBT (1917)
Die informelle Arbeit von StraßenhändlerInnen hatte in vielen Darstellungen ihre pittoresken Züge verloren. Sie wurde mitunter als ‚industrielle‘ Form des Straßenhandels bezeichnet, um ihre massenhafte Verbreitung in den Straßen von Buenos Aires hinzuweisen. So wiedmete sich ein Artikel in Caras y Caretas den flächendeckend organisierten und routinierten Tätigkeiten von Lumpen- und der PapiersammlerInnen, die in ihrem Ausmaß und Anblick ein neues und bedrohliches Phänomen darstellten. Die Problematisierung jener „modos de vivir que no dan para vivir“ richtete sich zum einen auf die wachsende Armut und ihre Sichtbarkeit im Stadtbild, zum anderen wurde ein massiver Alkoholmissbrauch im Zusamenhang mit diesen Tätigkeiten konstatiert und als größtes Übel angeprangert. Als Verursacherin der ‚industrialisierten‘ informellen Arbeit auf den Straßen von Buenos Aires wurde die durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufene 31 Vgl. López, Alberto Dardo: „¡Madres! Las vendedoras“, in: PBT, 14, 659, 14.07.1917, S. 23 f.
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wirtschaftliche Situation herangezogen.32 Die Konsequenzen aus einer Situation der Unterversorgung waren auch PBT zufolge anhand der alarmierenden Vermehrung von informeller Arbeit auf den Straßen von Rosario sichtbar: Eine „turba [...] de cuenteros“ sei in die Stadt eingefallen und widmeten sich, getarnt als StraßenhändlerInnen und BettlerInnen, dem Betrug und der Ausbeutung der Leichtgläubigen.33 Ihre Angebote bestünden aus „cosas insignificantes, baratijas inútiles, la suerte bajo múltiples aspectos, bailadores que representan costumbres criollas o extranjeras”. 34 Diese als fremd und betrügerisch agierenden HändlerInnen waren das Gegenbild zu den als tipos populares nostalgisierten Individuen, die mit ihrer klar zugeordneten Ware, Tätigkeit, Herkunft und originellem Charme ein Bild sozialer Integrität erzeugten. Informelle Arbeit auf den Straßen von Buenos Aires war zu einem konfliktbesetzten Thema auf der politischen und journalistischen Agenda geworden. Seit Beginn des Ersten Weltkriegs und der damit zusammenhängenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation vermehrten sich prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse vor allem in den Städten. Auch im Zuge der vermehrten Arbeitskämpfe wurden insbesondere jene, die sich organisierten, als soziale Gefahr und Ordnungsproblem erfasst. An den sich wandelnden Repräsentationen der StraßenhändlerInnen wird auch deutlich, wie Armutsdiskurse sich von einer individualisierbaren teils exotischen Sonderbarkeit hin zu einer Masse an sozialen Gefahren in den Städten wandelten. Auf munizipaler Ebene wurde das Thema der StraßenhändlerInnen im Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters 1915 als ordnungspolitisches Problem auf die Agenda gebracht: Der neu gewählte Bürgermeister Arturo Gramajo hatte Restriktionen für den informellen Straßenhandel in Buenos Aires versprochen, deren mangelnde Durchsetzung allerdings belustigt oder rügend kommentiert wurde: Fray Mocho titelte mit einer Parodie auf die Hartnäckigkeit der StraßenhändlerInnen, der mit politischen Maßnahmen nicht beizukommen sei.35 Die Revista Popular bezeichnete die zahlreichen existierenden städtischen Ver-
32 Vgl. Salaverría, José M.: „Modos de vivir que no dan para vivir. Los oficios menudos“, in: Caras y Caretas, 22, 1063, 15.02.1919, S. 33. 33 „PBT en el Rosario. Las invenciones del hambre. Una ciudad de tipos sueltos“, in: PBT, 14, 635, 27.01.1917, S. 38. Der Begriff des cuentero stammte aus der „habla delictiva“ und bezeichnete Kriminelle, die ihre Opfer mittels hinterlistigen Tricks und Geschichten täuschten und bestahlen. Vgl. „Cuento; Cuentero“, in: Gobello; Oliveri, Novísimo diccionario lunfardo, 2009, S. 106. 34 PBT en el Rosario, 27.01.1917, S. 38. 35 Vgl. „¿A ver quién se lo impide?“, in: Fray Mocho, 4, 165, 25.06.1915, S. 1.
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ordnungen 1918 als nutzlos gegenüber dem Monopol, das die StraßenhändlerInnen auf den Bürgersteigen von Buenos Aires genössen.36 Fray Mocho fasste die StraßenverkäuferInnen mit ihren Körben voller Fisch oder Früchte 1923 unter jene „plagas de la ciudad“, welche die BürgerInnen störten und von PolitikerInnen entgegen der städtischen Verordnungen ignoriert würden.37 Die romantisierende, kostumbristische Repräsentationsstrategie der tipos populares war dabei einem biopolitischen Blick auf das Leben und Arbeiten auf der Straße gewichen. Während die Typenporträts von Figuren der Straße eine Exzeptionalisierung insbesondere über die Kategorie der Klasse erreichten, soll im Folgenden die Exzeptionalisierung bestimmter tipos anhand geschlechtlicher und sexueller Aspekte am Beispiel solcher Porträts verdeutlicht werden, die eine Verkehrung von Sexualität und sozialem Geschlecht postulierten.
T RANSGRESSION
VON
G ESCHLECHTERNORMEN
1902 veröffentlichte Caras y Caretas einen halbseitigen Bericht über eine Entdeckung in Viedma, der Hauptstadt des in Nordpatagonien gelegenen Territorio Nacional Río Negro. Dabei handelte es sich um ein „sujeto indígena que vestía de mujer y servía como madrina en los bautismos”.38 Dieses Typenporträt eines invertido sexual, der sich als Frau kleidete und ‚weiblichen‘ Tätigkeiten nachging, war Teil eines Diskurses über sexuelle Devianz, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Magazinpresse sowie die wissenschaftliche Fachliteratur durchzog. Die Magazine berichteten von spektakulären Einzelfällen, welche die Zuordnungen von geschlechtlicher Eindeutigkeit in Frage zu stellen schienen: von ‚hombres-mujeres‘ und ‚mujeres-hombres‘, die über ihr ‚wahres‘ biologisches Geschlecht hinwegtäuschten, ebenso wie über Frauen, die sich in typischen Männerberufen bewegten, ‚männliches‘ Verhalten an den Tag legten oder schlicht Hosen trugen. Das wissenschaftliche Interesse an der Übertretung von geschlechtlichen und sexuellen Normen war in akademischen Kreisen in Europa und den Amerikas seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sehr groß. Der um die Jahrhundertwende im wissenschaftlichen Sprachgebrauch verwendete Begriff der inversión sexual
36 Vgl. Galán y Pérez, F.: „Aspectos nuevos de cosas viejas“, in: Revista Popular, 2, 15, 21.01.1918, S. 7. 37 „Plagas urbanas“, in: Fray Mocho, 12, 571, 03.04.1923, S. 3. 38 „El hombre-mujer descubierto en Viedma“, in: Caras y Caretas, 5, 189, 17.05.1902, S. 39.
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hatte eine umfassendere Bedeutung als die Bezeichnung Homosexualität, die sich wenig später durchzusetzen begann, wie George Chauncey medizingeschichtlich hergeleitet hat. So definiere Homosexualität sich über das Geschlecht der Person, auf die sich das sexuelle Begehren richtet. Sexuelle Inversion betreffe hingegen nicht nur das sexuelle Begehren, sondern jegliche Abweichungen von der sozialen Norm, die über das Geschlecht definiert wurde.39 Auch Jorge Salessi zeigt, dass der Begriff der Inversion einen weiten Bedeutungsspielraum für abweichendes soziales, sexuelles und geschlechtliches Verhalten umfasste.40 Diese Abweichungen und Überschreitungen von Normen auf der Ebene von Körperpraktiken und Körperfigurationen konstituierten andersartige soziale Beziehungen, welche die binäre Geschlechterordnung im biologischen und sozialen Sinne herausforderten. Wissenschaftliche Untersuchungen der 1900er Jahre in Argentinien über basierten ihre Fallstudien die inversión sexual auf Personen aus Subkulturen in Buenos Aires, die in der späteren Historiografie als homo- und transsexuell bezeichnet wurden. Der Kriminologe Francisco de Veyga publizierte zwischen 1902 und 1904 eine Reihe klinischer Fallstudien von invertidos sexuales in Buenos Aires, die über gemeinsame Gewohnheiten, Kleidungs- und Sprechweisen sowie über bestimmte Treffpunkte verfügten.41 Der Pädagoge Victor Mecante untersuchte 1905 die ‚epidemische Verbreitung‘ des ‚Uranismus‘ – dem zeitgenössischen Fachbegriff für gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität zwischen Frauen – und machte dabei insbesondere religiöse Privatschulen und Internate als gefährliche Orte der ‚Ansteckung‘ für Mädchen aus.42 Auch Eusebio Gómez
39 Vgl. Chauncey, George: „De la inversión sexual a la homosexualidad. La medicina y la evolución de la conceptualización de la desviación de la mujer“, in: Steiner, George (Hg.): Homosexualidad. Literatura y política, Madrid: Alianza 1985, S. 75-123, S. 78. 40 Vgl. Salessi, Jorge: „The Argentine Dissemination of Homosexuality, 1890-1914“, in: Journal of the History of Sexuality, 4, 3, 1994, S. 337-368, S. 348. 41 Mit den Fallstudien von Francisco de Veyga haben sich verschiedene Autoren ausführlich beschäftigt, siehe: Ebd.; Bao, Daniel: „Invertidos Sexuales, Tortilleras, and Maricas Machos. The construction of homosexuality in Buenos Aires, Argentina, 1900-1950“, in: Cecco, John P. de; Elia, John P. (Hg.): If You Seduce a Straight Person, Can You Make Them Gay? Issues in Biological Essentialism Versus Social Constructionism in Gay and Lesbian Identities, New York: Haworth Press 1993, S. 183220. 42 Vgl. Salessi, The Argentine Dissemination of Homosexuality, 1994, S. 341-345. Der Begriff des Uranismus geht auf den deutschen Sexualwissenschaftler Karl Heinrich Ulrichs zurück, der darunter gleichgeschlechtliche Liebes- und Sexualbeziehungen
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widmete den invertidos sexuales 1908 ein Kapitel in seiner kriminologischen Taxonomie der mala vida, in dem er zeitgenössische Theorien zu den Ursachen von Homosexualität anführte. Basierend auf de Veygas Fallstudien beabsichtigte er, die psychologischen Charakteristika der Homosexuellen von Buenos Aires herauszustellen.43 José Ingenieros publizierte 1910 eine Studie mit dem Titel „Patología de las funciones psicosexuales“, in der er ‚sexuelle Abweichungen‘ unter den Begriffen Homosexualität und sexuelle Inversion als psychische Krankheiten definierte.44 Die wissenschaftlichen Studien unterschieden, wie schon bei den Armen und Kriminellen, auch im Bereich der Sexualität zwischen angeborenen und erworbenen Formen von Devianz. In Tradition der Degenerationstheorien wurde sexuelle Abweichung als Problem der Vererbung kategorisiert; weitaus größere Resonanz hatten allerdings Annahmen über die erworbene sexuelle Inversion, der zufolge diese als ‚soziales Übel‘ im Zusammenhang mit demografischen, politischen und sexuell fluktuierenden urbanen Milieus untersucht wurde und demnach auch regulierend beeinflusst werden konnte.45 Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhundert erlebte, so Cristián Berco, das Aufleben eines öffentlichen Interesses über homosexuelle Aktivitäten, Salessi spricht sogar von einer „homosexual panic“, die sich im Kontext einer allgegenwärtigen kulturellen, sozialen und politischen Verunsicherung während der Zeit von Masseneinwanderung und Modernisierung ausbreitete.46 Interessant ist dabei, dass diese Panik zu einem Zeitpunkt auftrat, als konsensuale homosexuelle Praktiken unter Männern, die im 19. Jahrhundert unter dem Begriff der So-
beiderlei Geschlechts fasste und öffentlich für die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen eintrat. Vgl. Sigusch, Volkmar; Grau, Günter: Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt am Main, New York: Campus 2008, S. 144-165. 43 Gómez verwendete die Begriffe der inversión sexual und der homosexualidad gleichbedeutend. Vgl. Gómez, Eusebio: La mala vida en Buenos Aires, Buenos Aires: Ediciones Biblioteca Nacional 2011 [1908], S. 135-146. 44 Die Studie wurde 1910 in der Fachzeitschrift Archivos de psiquiatría y crimonología veröffentlicht. Siehe dazu: Berco, Cristian: „Silencing the Unmencionable. Non-Reproductive Sex and the Creation of a Civilized Argentina, 1860-1900“, in: The Americas, 58, 3, 2002, S. 419-441, S. 421. 45 Vgl. Salessi, Argentine Dissemination of Homosexuality, 1994, S. 361. 46 Vgl. Berco, Silencing the Unmencionable, 2002, S. 421; Salessi, Argentine Dissemination of Homosexuality, 1994, S. 337.
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domie zu den schwersten Straftaten gehörten, entkriminalisiert worden waren.47 Berco erklärt die „legal silence on sodomy“ als Blick der staatlichen Eliten auf Homosexualität als ein „hidden, festering boil that could under no circumstances be allowed to surface and contaminate the national body“.48 Jenseits von Gerichten und Polizei wurde das Schweigen über die Homosexualität allerdings vielfach durchbrochen: In wissenschaftlichen und medialen Debatten wurde sie als Problem von öffentlichem Interesse verhandelt. Nicht mehr die Gesetzesübertretung, sondern die psychologischen, sozialen und demografischen Hintergründe der geschlechternormativen Abweichung wurden zu einem biopolitischen Problem, das insbesondere präventiv behandelt werden sollte.49 Diese Arbeit folgt der These Salessis, dass der Diskurs über sexuelle Devianz im Zusammenhang mit einem Wandel gesellschaftlicher Machtverhältnisse stand und sich als Antwort darauf eine binäre Geschlechterordnung neu konstituieren musste. Salessi bezieht sich auf drei ausschlaggebende gesellschaftliche Dynamiken: den wachsenden Zugang von Frauen zu Lohnarbeit, die politische Mobilisierung von Frauen und das Aufkommen öffentlich sichtbarer gleichgeschlechtlicher sexueller Subkulturen in der Stadt als Symptom für die Ablehnung traditioneller Familienverhältnisse seitens vieler junger Männer. 50 Die nachfolgende Analyse von Typenporträts verweist deutlich auf einen Diskurs, der Fragen von Frauenemanzipation, demografischen Verhältnissen der Migrationsgesellschaft und sexueller Orientierung zusammenführte und als Transgressionen einer binären Geschlechterordnung problematisierte. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen über sexuelle Devianz unterlagen die Grenzen des
47 1886 verabschiedete der argentinische Kongress ein neues Strafgesetzbuch, der keine Bestimmungen bezüglich konsensualer Sodomie erließ und damit einen krassen Wandel von der vorhergehenden Gesetzgebung und Strafpraxis, die für Sodomie mitunter die Todesstrafe vorsah, bedeutete. Vgl. Berco, Silencing the Unmencionable, 2002, S. 419. Einzig die Praxis der Sodomie unter der Ausübung von Gewalt oder Einschüchterung, Sodomie mit Minderjährigen oder mit körperlich oder geistig Kranken wurde durch Artikel 129 des Código Penal unter Strafe gestellt. Vgl. ebd., S. 423. 48 Ebd., S. 440. 49 Berco bemerkt abschließend, dass die Lösungsansätze zum ‚Problem der Homosexualität‘ in Argentinien in keinem Fall eine Re-Kriminalisierung von Sodomie vorsahen. Stattdessen wurden heterosexuelle Praktiken zunehmend begünstigt, wie z.B. die Einrichtung von munizipal lizensierten heterosexuellen Bordellen, die gewährleisten sollten, dass junge Männer ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen konnten. Vgl. ebd., S. 441. 50 Salessi, Argentine Dissemination of Homosexuality, 1994, S. 338.
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Sag- und Zeigbaren in der Magazinpresse jedoch in ihren Ausführungen weitaus größeren sittlichen Tabus, so dass sexuelle Praktiken nicht expliziert wurden.51 Die Entdeckung der hombre-mujer Das eingangs angeführte Beispiel der hombre-mujer aus Viedma stellt eine Ausnahme in der Berichterstattung über sexuelle Abweichung in der Magazinpresse dar: Es handelte sich der Reportage zufolge um die Entdeckung eines Mannes mit einer angeborenen sexuellen Inversion, der sich in seinem Erscheinungsbild, seinen Tätigkeiten und Fähigkeiten als Frau verstand und verstanden wurde.52 Während der Kriminologe Francisco de Veyga etwa zeitgleich ähnliche Diagnosen an Personen aus der sexuell kontingenten Subkultur in Buenos Aires statuierte, gab es in der Magazinpresse keine Berichte über Fälle von degenerativer sexueller Inversion innerhalb eines urbanen, als modern und zentral imaginierten nationalen Raums. Die hombre-mujer aus Viedma wurde in großer räumlicher und sozialer Distanz situiert und darüber zusätzlich alterisiert. Ortspräpositionen wie „aquellos lejanos lugares“ und „en dichas apartadas regiones de nuestro país“ zeigten nicht nur die geografische Distanz zum nationalen Zentrum Buenos Aires an, sondern markierten zudem soziokulturelle Unterschiede, die sich in den lokalen sozialen Beziehungen und Wahrnehmungen gegenüber der hombre-mujer äußerten. 53 Für die indigene Gemeinde der Colonia General Frías, aus welcher die hombre-mujer stammte, war der Rollenwechsel geschlechtlicher Identitäten der Reportage zufolge keinerlei Neuigkeit: Dort sei es öffentlich bekannt, dass es sich um einen Mann handelte, der Frauenkleider trug. Auch im Zusammenleben mit den eigenen Eltern wurde kein Problem festgestellt. Die Tätigkeit als Taufpatin erklärte sich über den hohen Bedarf an dieser Berufstätigkeit in dem Gebiet, das einen Frauenmangel aufweise. Die allgemeine Akzeptanz innerhalb der indigenen Gemeinschaft erklärte die Reportage mit der vorbildlichen Erfüllung ‚weiblicher‘ Fähigkeiten und Tugenden: „...como la original dama no causaba daño ni perjuicio, siendo una persona honesta, trabajadora y
51 Auch Prostitution und der als trata de blancas bezeichnete Frauenhandel standen bereits in den 1900er Jahren auf der Agenda von Reformorganisationen, PolitikerInnen und Fachliteratur, wurden aber in der Magazinpresse vor 1920 kaum thematisiert. 52 Vgl. El hombre-mujer descubierto en Viedma, 17.05.1902, S. 39. Nachfolgend werden Pronomen und Artikel entsprechend der eigenen Geschlechteridentifika-tion der dargestellten Personen verwendet, sofern es sich nicht um direkte oder indirekte Zitate handelt. 53 Ebd.
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habilísima en tejidos, bordados y otras labores femininas, nadie observó nunca su singular manía de disfrazar su sexo.“54 Erst als die hombre-mujer aufgrund eines Verstoßes gegen den Einzug zum Militärdienst (Ley de enrolamiento) festgenommen und im Gefängnis durch den Arzt César Fausone medizinisch untersucht wurde, konnte der Reportage zufolge die psychiatrische Diagnose gestellt werden. Die medizinische Erkenntnis wurde dem Unwissen der indigenen Gemeinschaft entgegengestellt, die sich jenseits einer funktionierenden binären Geschlechterordnung und damit auch jenseits einer zivilisierten Gesellschaftsordnung befinde. Abbildung 5.7
Quelle: Caras y Caretas (1902)
Die Autorität der medizinischen Expertise wurde durch drei fotografische Abbildungen unterstrichen, die einen medizinisch-diagnostizierenden Blick auf die porträtierte Person freigeben (Abbildung 5.7). Auf dem ersten Bild sieht man den „hombre vestido de mujer“ in abweisender Pose mit verschränkten Armen. Auf dem zweiten wird die Konfrontation mit dem durch das Fahrrad und seine Kleidung als modern inszenierten Arzt dargestellt, auf welcher die hombremujer mit misstrauischem Blick zum Arzt hinaufsieht. Auf dem dritten Foto wird die Person als Mann markiert mit nacktem Oberkörper und Hosen „en traje de su sexo“; das Umklammern des eigenen Handgelenks verrät die Verunsicherung und die Scham der Entblößung vor dem durch die Fotolinse verallgemeinerten medizinischen Blick. Die Bilderfolge stellt eine Reihenfolge der medizinischen Entdeckung und Erkenntnis dar, indem auf die Darstellung des praktizierenden invertido die Repräsentation der medizinischen Intervention folgt und
54 Vgl. ebd. Hervorhebung der Verfasserin.
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mit der visuellen Beweisführung des ‚wahren‘ Geschlechts seine Rückführung medial abgeschlossen wird. Mujeres-hombres Während die Reportage über den Fall der sexuellen Inversion einer hombremujer einen Ausnahmefall bildete, publizierte insbesondere das Magazin Caras y Caretas wiederholt Artikel über so genannte mujeres-hombres, die ein Leben als Mann ‚simulierten‘. Verschiedene Wissenschaftler verwendeten für sie den Begriff der simuladores del talento, um neben Homosexuellen auch soziale AufsteigerInnen, Dissidenten sowie Juden und Jüdinnen in eine Taxonomie der mala vida einzubetten.55 Mithilfe der Simulation erlangten sie demnach beunruhigende Fähigkeiten der Wandelbarkeit und der Täuschung anderer, um ihren Willen durchzusetzen. Ingenieros fasste den Akt der Simulation darüber hinaus in sozialdarwinistische Begriffe, indem er darin eine Strategie im ‚Kampf ums Überleben‘ ausmachte. Die Simulation war allerdings nicht allein eine Gefährdung für die ‚Getäuschten‘, sondern stellte das Paradigma der positivistischen Wissenschaften grundsätzlich in Frage, deren empirische Methoden und psychoanalytische Modelle durch die Möglichkeit der Simulation des ‚EmpirischAuthentischen‘ gefährdet waren. 56 Persephone Braham verdeutlicht, dass das Thema der Simulation im wissenschaftlichen wie auch im literarischen Diskurs der Jahrhundertwende Bedeutung erlangt hatte als Kennzeichnung von „fraudulent behaviors including imposture, pretense, and masquerade, but also […] concealment, displacement, and ultimately the subversion or negation of the self“.57 Die Simulation, die etwa durch das Tragen von typischer Männerkleidung und die Verwendung männlicher Namen praktiziert wurde, war Braham entsprechend mehr als ein Akt der Täuschung. Sie kann ebenso als Widerstandstaktik gegen moderne bürgerliche Subjektivierungsdiskurse gelesen werden, die noch vor der Herausbildung einer identitären Bewegung standen, die ein Bewusstsein als Homosexuelle voraussetzte und einen Kampf um Rechte und An-
55 Die Aufzählung der als simuladores del talento bezeichneten Gruppen stammt von Braham, Persephone: „Los simuladores del talento. Representing Monsters in Argentinean Letters, 1880-1914“, in: Latin American Literary Review, 31, 61, 2003, S. 97112, S. 98. Sie bezieht sich auf die Veröffentlichungen von Francisco de Veyga über die inversión sexual in den Archivos (1903), auf Ramos Mejías Los simuladores del talento (1904) und Jose Ingenieros’ Psicología de los simuladores (1903), die fast zeitgleich publiziert wurden, sowie auf literarische Werke. 56 Vgl. ebd., S. 108. 57 Ebd., S. 98.
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erkennung verfolgte. Die invertidos sexuales, welche die Magazinpresse porträtierte, waren hingegen Subalterne, deren Begehren in einer Matrix aus Sexualität und sozialem Aufstieg angesiedelt war, die sich aber nicht als Homosexuelle verstanden. Die Typenporträts in den Zeitschriften negierten Begehren und Widerstand der invertidos hinter Geschichten von biografischen Irrwegen und Versuchen der Täuschung ihrer eigentlichen weiblichen Identität, wie im Folgenden analysiert wird. Gleichzeitig stellten die ‚SimulantInnen‘ hervorragende Quellen für eine auf Sensation und Unterhaltung ausgerichtete Berichterstattung dar, die nichtsdestotrotz eine produktive Kraft im populären Diskurs zur Gefahr von sexueller Devianz und geschlechtlicher Transgression bildete. Abbildung 5.8
Quelle: Caras y Caretas (1906)
1906 präsentierte Caras y Caretas den Fall eines mujer-hombre, die als Kind unter dem Namen Dafne Vaccari in Norditalien aufgewachsen war, mit 14 Jahren aber ein neues Leben unter dem Namen Arturo de Aragón begonnen und sich nach vielen Zwischenstationen schließlich in Buenos Aires niedergelassen hat-
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te.58 Der Autor der Reportage, Aquíles Escalante, führte das Objekt seiner Reportage als interessante und bewundernswerte Sensation ein: „He aquí las fotografías de un interesante sujeto que á la vista de los lectores aparecerá como un fresco adolescente de quince años pero que en verdad no es sino una joven dama, cuya prolijidad, unida á una de esas resoluciones que sólo saben adoptar las mujeres, amigas de los extremos por temperamento, la han llevado á disimularse con tan admirable perfección, que ha pasado por hombre durante diez años consecutivos.“59
Die gleich zu Beginn angeführten Fotografien spielten eine zentrale Rolle in der Reportage, insofern sie ein auf körperlicher Ebene stattfindendes Verwirrspiel sichtbar machen sollten, das die geschlechtliche Transgression in ihrer Gelungenheit zeigte und gleichzeitig enttarnte. Abbildung 5.8 zeigt Dafne alias Arturo in betont maskuliner Pose: Leicht breitbeinig stehend, die Hände in den Hosentaschen, das Kinn erhoben und mit festem, seitlich an der Kamera vorbei schauendem Blick, der die Herausforderungen der Zukunft fest ins Auge zu fassen scheint. Kleidung und Frisur tragen zur Vollkommenheit eines makellosen männlichen Äußeren bei. Die Fotografie lud zum Staunen über die Erscheinung ein, die in einem anderen Kontext keinerlei Zweifel an der Darstellung eines Mannes gelassen hätte, im Zuge ihrer Enttarnung aber Pose, Mimik und Zurechtmachung als taktische Mittel nachvollziehen lässt. Die Reportage spürte der Frage nach, welche Motive die junge Frau zu einer „tan enérgica como extraña resolución“60 bewegt haben könnten. Die Antwort lieferte ein Blick in die biografische Vergangenheit: Mit 14 Jahren sei Dafne demnach Opfer einer Vergewaltigung geworden und habe daraufhin die Entscheidung getroffen, als Mann getarnt ihre Heimat zu verlassen, „con el único fin de ahogar, según ella, en medio de una vida de azar y de lucha, el terrible recuerdo de su desgracia.“61 Ihr ‚neues Leben‘ als Mann behauptete sie als zweitklassiger Komödienschauspieler, später als politischer ‚Agitator‘ in verschiedenen Städten Frankreichs. Im Jahr 1900 schiffte sie sich als Matrose erstmals nach Buenos Aires ein und entschied nach weiteren Umwegen, sich endgültig dort niederzulassen. In Argentinien warteten die Herausforderungen und Chancen auf Arturo/Dafne, die für das Leben der MigrantInnen erster Generati-
58 Vgl. Escalante, Aquiles: „Dafne Vaccari. La mujer-hombre“, in: Caras y Caretas, 9, 407, 21.07.1906, S. 63. 59 Ebd. 60 Escalante, Dafne Vaccari, 21.07.1906, S. 63. 61 Ebd.
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on typisch waren: Wechselnde Beschäftigungsverhältnisse in der Landwirtschaft, als Handwerker und schließlich die Stelle als Angestellter, welche einen sozialen Aufstieg ermöglichte – Arturo hatte sich indessen verwandelt in einen „elegante tipo que alterna entre los elementos de relativa holgura económica“. Diese gesellschaftliche Position gewährte ihm der Reportage zufolge Gelegenheiten zu „aventura[s] amorosa[s]“ mit Frauen, die zuweilen „verdaderamente interesantes y pintorescas“ gewesen seien.62 Schmeicheleien und Blicke gehörten demnach zum Alltag der mujer-hombre; die Reportage berief sich darüber hinaus auf AugenzeugInnen, die über einen ‚Flirt‘ mit der Ehefrau eines Geschäftsmannes in Buenos Aires zu berichten wussten. Diese Liebschaft wurde jedoch durch den Ehemann unterbunden, der sein Geschäft aufgab und mit seiner Familie nach Italien zurückkehrte. Die „interesante heroína“ Dafne Vaccari, so das abrupte Ende der Reportage, entschied sich letztlich, wieder dauerhaft ein weibliches Erscheinungsbild anzunehmen.63 Mehrere Aspekte sind in dieser Geschichte für den Diskurs über die sexuelle Transgression von Frauen bemerkenswert. Erstens schildert die Reportage die sexuelle Inversion als bewusste Entscheidung für eine Tarnung der ‚wirklichen‘ geschlechtlichen Identität, die aufgrund einer sexuellen Gewalterfahrung von einer Frau getroffen wurde und einen Schutzmechanismus in Gang setzte. Es handelte sich damit um eine Rolle, die mithilfe äußerlicher Attribute wie Kleidung und Körpersprache erfolgreich gespielt werden konnte. Mehr noch: Wie die oben zitierte Eingangspassage der Reportage verlautbart, sei es gerade das typisch weibliche, heftige Temperament gewesen, welches Dafne erst zu dieser Entscheidung bewegt habe. Die Inversion geschah demzufolge weder aus sexuellem Begehren gegenüber dem eigenen Geschlecht heraus, noch aus dem eigenen Wunsch nach einer männlichen Identität. Dennoch erwuchs aus dieser gespielten Rolle eine echte männliche Identität inklusive eines männlichheterosexuellen Begehrens nach Frauen. Zweitens war der Lebenslauf als mujerhombre unmittelbar und von Beginn an mit einer migrantischen Biografie verbunden. Erst durch die männliche Identität wurden die Reisen in andere Länder und der Gelderwerb in verschiedenen Betätigungsfeldern möglich. Die ‚neue Welt‘ Südamerikas war gleichzeitig die Möglichkeit eines ‚neuen Lebens‘ als Mann, das einen Neuanfang jenseits alter sozialer Bindungen und mit der Chance auf sozialen Aufstieg versprach. Drittens handelte es sich um eine sympathisierende Darstellung, welche den mujer-hombre als interessante und originelle Kuriosität darstellte. Die Schilderungen ihres bewegten Lebens lasen sich als
62 Ebd. 63 Ebd.
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Abenteuer mitsamt seiner Niederlagen, Erfolgen und Verwegenheiten und antizipierten die Empathie von Lesern und Leserinnen. Viertens wurde die sexuelle Inversion als gesellschaftlich erzeugt und damit als flüssig und jederzeit reversibel geschildert. Wie der Schluss verdeutlicht, brauchte es zur Beendigung der Inversion lediglich eine weitere bewusste Entscheidung, welche die ‚richtige‘ Geschlechterordnung wieder herstellte. Dennoch eröffnete das mediale Narrativ von geschlechtlichen Körpern und Identitäten als freie Willensentscheidung den Raum für zumindest imaginäre Transgressionen der Leserschaft, auch wenn die Reportage eigentlich deren Überwindung als Happy End postulierte. Diese für die Magazinpresse der 1900er Jahre charakteristische Darstellung von weiblicher sexueller Transgression wird im Folgenden an weiteren Beispielen exemplarisch analysiert, um die genannten diskursiven Linien genauer herauszustellen. Auch bei Doña Virginia, eines ebenfalls 1906 in Caras y Caretas porträtierten mujer-hombre, handelte es sich um eine italienische Einwandererin, die als „fina, educada y bastante instruida“ beschrieben wurde.64 In der biografischen Schilderung der Reportage werden zwei Schlüsselerlebnisse deutlich, die Wendepunkte für die geschlechtliche Inversion der Frau bedeuteten: In einer Familie von KünstlerInnen aufgewachsen, begann sie früh eine Karriere als talentierte Tänzerin. Einen ersten großen Erfolg erlebte sie aber erst, als sie eines Tages eine Männerrolle übernahm. Als Schauspielerin studierte und simulierte sie fortan Aussehen und Bewegungen von Männern und erlernte zudem Fechten und Schießen. Den zweiten Einschnitt in ihrem Leben bedeutete der Tod ihres Ehemannes. Zusammen waren sie 15 Jahre zuvor nach Buenos Aires migriert, woraufhin der Mann nach 42-jähriger Ehe verstarb. Ab diesem Zeitpunkt kleidete sich Doña Virginia auch im Alltag in Hosen und nahm das Aussehen und Verhalten eines „buen viejo“ an, wie mehrere Fotografien, die ihn in Alltagssituationen zeigen, demonstrieren (Abbildung 5.9). Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild als Mann betonte die Reportage das Fortbestehen einer ‚inneren Weiblichkeit‘, die Doña Virginia in der Verwirklichung und Ergebenheit als Ehefrau gefunden habe – „Los años más gratos
64 Mlle. Maupin: „La mjuer-hombre. Doña Virginia“, in: Caras y Caretas, 9, 430, 29.12.1906, S. 64. Der Bericht wurde unter dem Pseudonym ‚Mademoiselle Maupin‘ verfasst, das auf die Protagonistin des gleichnamigen Briefromans von Théophile Gautier von 1835 zurückgeht, die unter anderem gleichgeschlechtliche Liebesabenteuer erlebt. Die Verwendung dieses Pseudonyms verweist auf die Nähe des journalistischen Schreibens zu fiktionalen Genres und spielt zudem auf gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken an, die im Text keine Erwähnung finden.
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de mi vida han sido los de esposa“65 – und nach wie vor am Pflichtbewusstsein gegenüber der häuslichen Aufgaben erkennbar sei. Diese Reportage diskursivierte die geschlechtliche Transgression ebenfalls als äußerlich motivierte Willensentscheidung und als erlernte Kunst der Simulation, die nach Belieben eingesetzt werden könne. Männliche Körpertechniken waren in diesem Sinne nicht von Natur aus in den Körper eingeschrieben, sondern erlernbar und einsetzbar; das Tragen von Hosen war dabei der erste Schritt der Verwandlung schlechthin. Abbildung 5.9
Quelle: Caras y Caretas (1906)
Ein besonders erfolgreiches Beispiel für die Verbindung von transgeschlechtlicher Verwandlung durch Simulation und sozialem Aufstieg stellte der von Caras y Caretas geschilderte Fall des mujer-hombre Carlota alias Carlos Lambra dar. Dabei handelte es sich der Reportage zufolge um einen der bedeutendsten Musiklehrer am Río de la Plata, der sich als Pianist einen Namen gemacht hatte und dessen SchülerInnen sich aus den reichsten und wichtigsten Familien Uruguays und Argentiniens zusammensetzten.66 Der Moment der ‚Inversion‘ fiel mit dem ‚neuen Leben‘ in Südamerika zusammen und war an einem künstlerischen Erfolg orientiert, der für Frauen in diesem Metier nicht erreichbar war. Die Zeit der geschlechtlichen Transgression hatte bei Lambra jedoch einen sozialen und psychischen Niedergang herbeigeführt, wie die Reportage rückblickend resümiert:
65 Ebd. 66 Vgl. Barreda, Rafael: „La mujer-hombre. Carlos Lambra y sus discípulas“, in: Caras y Caretas, 8, 345, 13.05.1905, S. 40 f.
214 | W IE DIE A NDEREN LEBEN „Muerta para toda afección – menos para el arte! Y así fue: -Carlos Lambra, el gran maestro musical de las más distinguidas familias uruguayas y porteñas,- brusco, inrascible, malhumorado casi siempre, vivió en sus últimos años, solitario, sin frecuentar más sociedad que la de sus numerosas discípulas con las que sólo cambiaba palabras referentes a su ejercicio.“67
Neben solchen Biografien, bei denen künstlerische Berufe und Berufungen als ausschlaggebend begründet wurden für die Transgression der Geschlechtergrenze, wurden auch existenzielle Nöte von Migrantinnen als Ursachen für eine Simulation ausgeführt. 1916 veröffentlichte Caras y Caretas eine Reportage, über Julia Casado de González, die einzelne Stationen ihrer Migrationsbiografie nüchtern beschrieb. Casado de González war Tochter von spanischen Einwanderern und heiratete im Alter von 20 Jahren einen Spanier, der nach Argentinien gekommen war, um in der Pampa als Viehzüchter sein Glück zu versuchen. Der Ehemann erkrankte bald darauf, weshalb die Frau in der „lucha por la vida” seine Tätigkeiten in der Viehwirtschaft übernahm und nach seinem Tod fortsetzte, wobei sie die Frauenkleider gegen Stiefel, Hosen, Jacke und Hut eintauschte.68 Abbildung 5.10
Quelle: Caras y Caretas (1916)
67 Barreda, La mujer-hombre, 13.05.1905, S. 41. 68 „Una mujer, hábil tropero y domador“, in: Caras y Caretas, 19, 956, 16.12.1916, S. 9.
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Die Fotografien der ‚mujeres-hombres‘ standen im Mittelpunkt der Reportagen und wurden auch textuell als eigentlicher Kern der Berichte herausgestellt. Die insgesamt fünf Fotografien von Julia Casado de González kündigte die Reportage bereits im ersten Satz als besondere Errungenschaft unter den Reisefotografien eines Maxímo O. von Kotsch an, die den „caso extraordinario de adoptación de una mujer a los más rudos trabajos de campo“ als „wahrhaftige“ Geschichte belegten (Abbildung 5.10).69 Die beabsichtigte Aufdeckung der Simulation wurde auch in diesem Fall erst durch das investigative Auge der Fotografie zu einem verifizierbaren Gegenstand der medialen Kommunikation und damit zu gesellschaftlichem Wissen. Die dargestellten Grenzüberschreitungen jener Frauen, die sich als Männer ausgaben, kleideten oder empfanden, standen als kuriose Einzelfälle exemplarisch für das emanzipatorische oder auch rein pragmatische Aufbegehren von Frauen gegen gesellschaftliche Schranken in ihrer Unabhängigkeit, Anerkennung und ihrem sozialen Aufstieg. In den 1910er Jahren trat diese individualisierte Darstellungsweise hinter politisierten Repräsentationen zurück, welche die Gefahr einer gesellschaftlichen Transformation durch die Emanzipation von Frauen abbildeten. Als Witz wurde dieser Wandel etwa von La Vida Moderna dargestellt (Abbildung 5.11). Ihr Titelblatt im März 1911 zierte eine Karikatur, die einen Mann mit Schürze am Herd zeigt, der einem Baby die Brust gibt, während ihm seine Frau in Hosen, Jackett, mit Hut und Reitgerte rauchend über die Schulter Anweisungen erteilt: „Tú haz el puchero a su tiempo que yo volveré cuando me parezca. ¡No faltaba más!“70 Die Umkehrung der heteronormativen Geschlechterordnung und ihrer Dominanzverhältnisse – symbolisiert durch die Hosenmode der so genannten Bombachas, hier als „moda Harem“ bezeichnet – wird in der Karikatur nicht zuletzt durch das Paradoxon des stillenden Mannes karikiert. Diese Parodie entstand vor dem Hintergrund einer feministischen Bewegung in Argentinien, die bereits vor der Jahrhundertwende erste Strukturen gebildet, Zeitschriften herausgegeben und Führungsfiguren hervorgebracht hatte und ab den 1910er Jahren zunehmend an Konturen gewann.71
69 Ebd. 70 „La moda ‚Harem‘ y el porvenir masculino“, in: La Vida Moderna, 5, 205, 15.03.1911, S. 1. 71 Barbara Potthast zeigt, dass die feministische Bewegung in Argentinien paradigmatisch für andere Länder Lateinamerikas war. In ihrer Initialphase Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfte sie vor allem um Bürgerrechte; in der Phase zwischen 1919 und 1932 erlebten die Forderungen nach politischen Rech-
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Abbildung 5.11
Quelle: La Vida Moderna (1911)
In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Feministinnen laut Dora Barrancos im öffentlichen Diskurs oftmals mit Sozialistinnen gleichgestellt und ein Bild von ihnen kreiert, das einen „prónostico temeroso de la masculinidad“ bestimmte.72 Der Primer Congreso Feminino von 1910 stellte eine erste wichtige ten ihren Höhepunkt. Das Frauenwahlrecht wurde allerdings erst 1947 unter der Regierung von Juan Domingo Perón (1946-1955) eingeführt. Vgl. dies.: Madres, obreras, amantes. Protagonismo femenino en la historia de América Latina, Madrid, Frankfurt am Main, Orlando, FL, Mexico D.F: Vervuert; Bonilla Artigas 2010, S. 231-236. Zur Geschichte des Feminismus in Argentinien siehe weiterhin: Nari, Marcela: „El feminismo frente a la cuestión de la mujer en las primeras décadas del siglo XX“, in: Suriano, Juan (Hg.): La cuestión social en Argentina 1870-1943, Buenos Aires: Ed. La Colmena 2000, S. 277-300; Barrancos, Dora: Mujeres, entre la casa y la plaza, Buenos Aires: Editorial Sudamericana 2008; Carlson, Marifran: Feminismo! The Woman’s Movement in Argentina From Its Beginnings to Eva Perón, Chicago: Academy Chicago 1988. 72 Vgl. Barrancos, Mujeres, entre casa y plaza, 2008, S. 73 f.
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Demonstration der feministischen Kräfte in Argentinien im Zusammenschluss mit internationalen Teilnehmerinnen dar, die anlässlich der nationalen Feierlichkeiten zum Centenario der Unabhängigkeit über die Situation und die Rechte von Frauen diskutierten.73 Die neue Konjunktur des Feminismus wurde in der Magazinpresse ambivalent aufgenommen. So erkannte eine Reportage von Santiago Fuster Castresoy in Caras y Caretas ihn als „Triumph“ an, der sich in einer neuen Realität in der Arbeitswelt bemerkbar mache. „Ahí están para comprobarlo, las mujeres recientemente diplomadas en derecho, en medicina, en letras. Y en las oficinas públicas y particulares donde reinaba el chiste masculino entre vahos de cigarrillo y carcajadas punzantes; ahora es frecuente ver una cabecita feminil, inclinada sobre los libros mayores, sobre un aparato telegráfico ó, simplemente, hacienda la composición de un diario frente á una máquina linotipo.“74
Wie auch in anderen Artikeln wurde die Lohnarbeit von Frauen zwar problematisiert, aber als Teil einer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung anerkannt.75 Dem gegenüber wurden die Forderungen nach dem Wahlrecht für Frauen, nach der Eliminierung zivilrechtlicher Bestimmungen zur Unterordnung der Frau in der Ehe und dem Recht auf Scheidung als radikale Schreckgespenster eines Feminismus nach angelsächsischer Couleur diskreditiert. So bemühte sich Fuster Castresoy um eine positive Darstellung des argentinischen im Gegensatz zum europäischen Feminismus: „Y es que ha sabido conservar, hasta el momento, su carácter feminino. No ha empleado medios inadecuados á su condición y á su naturaleza. Al emprender la lucha para la conquista de un porvenir más libre, más independiente y con horizontes más amplios, no se ha desprendido de las delicadezas, propiedad exclusiva y escencial de su sexo, que hacen de la mujer el ser más amable y, al propio tiempo, el más digno de respeto.“76
73 Vgl. ebd., S. 74 f. Die nationale Regierung berief infolgedessen den Consejo Nacional de Mujeres unter der Leitung von Alvina Van Praet de Sala ein, der die weibliche Identifikation mit der argentinischen Nation demonstrieren sollte. 74 Fuster Castresoy, Santiago: „El feminismo triunfante. Las mujeres en la propaganda“, in: Caras y Caretas, 15, 712, 25.05.1912, S. 68. 75 Für eine Darstellung der Lohnarbeit von Frauen als moderne Errungenschaft siehe beispielsweise: „El día de una telefonista“, in: Suplemento de La Nación, 2, 14, 04.12.1902. 76 Fuster Castresoy, El feminismo triunfante, 25.05.1912, S. 69. S. 23.
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Das Lob des argentinischen Feminismus bestand demzufolge gerade darin, dass die ‚Natur der Frau‘ in der ‚Eroberung‘ neuer Räume bewahrt bliebe. Entscheidend für die Beurteilung der Geschlechter- als Machtverhältnisse war demnach, dass keine Vermischung von Geschlechterrollen stattfand und damit auch keine geschlechtliche Transgression; die Wahrung der binären Geschlechterordnung sollte also die Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung gewährleisten. Abbildung 5.12
Quelle: Revista Popular (1917)
Gerade der Blick auf England oder in die USA brachte gleichermaßen beunruhigte und bewundernde Aussagen über die ‚Invasion‘ von Frauen in Männerberufen hervor, so etwa in der Reportage mit dem Titel „Las mujeres invaden las profesiones de los hombres“, die als Beispiel eine Schlosserin anführte, die mit gleichwertiger Geschicklichkeit und Kraft ihr Handwerk verrichtete.77 Insbesondere der Beginn des Ersten Weltkriegs verschärfte eine männliche Gegenreaktion, die Frauen in Männerberufen als Bedrohung wahrnahm, und dies nicht nur in den kriegsführenden Staaten. Dort verrichteten Frauen die Arbeit der abwesenden Männer in verschiedenen Bereichen bis hin zur Schwerindustrie und delegitimierten damit das Argument ihrer körperlichen Unterlegenheit. Dies stärkte
77 Vgl. „Las mujeres invaden las profesiones de los hombres“, in: Caras y Caretas, 15, 709, 04.05.1912, S. 58.
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auch ihre politischen Forderungen, die beispielsweise in England und den USA nach dem Krieg zur Einführung des Wahlrechts für Frauen führten.78 Die Revista Popular publizierte 1917 ein fotografisches Panorama über die neuen beruflichen Tätigkeiten von Frauen in den USA während des Krieges, das eine Schaffnerin, eine Barbierin, eine Schreinerin, eine Polizistin, eine Feuerwehrfrau, eine Briefträgerin, eine Schlachterin und eine Kofferträgerin abbildete.79 Die Bilder zeigen uniformierte, lächelnde, stolze Frauen, welche die Botschaft einer emanzipativen Transformation der US-amerikanischen Gesellschaft verkündeten und auch für Argentinien in Aussicht stellten (Abbildung 5.12). Die Transgression der binären Geschlechterordnung durch Frauen löste sich infolge der feministischen Bewegungen in Argentinien allmählich von dem Stigma der sexuellen Devianz und wurde von der Magazinpresse zunehmend als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen. Die Figur des mujer-hombre bereitete diskursiv den Weg für eine Vorstellung der sich verändernden politischen und ökonomischen Veränderungen; an ihrem Körper wurde die biopolitische Zäsur einer erlaubten weil reversiblen gegenüber einer pathologischen Transgression ausgehandelt. Das Beispiel des hombre-mujer aus Viedma repräsentiert hingegen einen Fall der inversión sexual, der dem Bericht zufolge nicht primär sozial motiviert war, sondern biologisch mit einer unnatürlichen Veranlagung begründet und in einen gesellschaftsfernen und rückständigen Kontext situiert wurde. Der Fall gliedert sich damit in einen Diskurs über Homosexualität als soziologische und biologische Abnormität ein, der sich zu dieser Zeit im wissenschaftlichen Diskurs erst herausbildete, in der Magazinpresse allerdings noch mit sittlichen Tabus belegt war.
78 Vgl. Barrancos, Mujeres, entre casa y plaza, 2008, S. 81. 79 Vgl. „El feminismo yanquí y la guerra“, in: Revista Popular, 1, 5, 03.09.1917. S. 1617.
Armut als soziales Risiko
„Concepts of poverty have shifted far more than the composition of the poor over the centuries“.1 Dieses Zitat von Stuart Woolf weist auf eine Problematik hin, die für eine historische Auseinandersetzung mit dem Thema Armut grundlegend ist: Materielle und existenzielle Not, ebenso wie die sozialen Kämpfe gegen damit zusammenhängende Lebens- und Arbeitsumstände, sind eine Konstante in der Geschichte nicht nur der europäischen Gesellschaften. Die Bestimmung derjenigen, die als Arme galten oder sich selbst als solche bezeichneten, unterlag jedoch sich wandelnden Kriterien und kulturellen Interpretationen. 2 Mehr noch: Diskurse über Ursachen und Folgen von Armut sowie die sozialen Praktiken gegenüber als arm betrachteten Bevölkerungsteilen waren hochgradig von historisch spezifischen In- und Exklusionsprozessen abhängig, an der eine Fülle sozialer AkteurInnen beteiligt waren.3
1
Woolf, Stuart: The Poor in Western Europe in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, London, New York: Methuen 1986, S. 17.
2
Sebastian Schmidt zeichnet die Schwierigkeit einer Definition von Armut nach: Die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Armut, wobei absolute Armut das physische Existenzminimum meint und relative Armut sich als untere Abweichung vom durchschnittlichen Lebensstandard und von durschnittlichen Lebensbedingungen z.B. eines Landes versteht, ist interpretierbar. In neueren Armutsdiskussionen wurde über materielle Bedürfnisse heraus auch der Mangel an kulturellen und sozialen Mitteln, die zur Sicherstellung sozialer Gerechtigkeit notwendig sind, mit einbezogen. Vgl. Ders.: „Armut“, in: Uerlings, Herbert (Hg.): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt: WBG 2011, S. 40 f.
3
Für die europäische Geschichte stellt Beate Althammer im Übergang von Spätmittelalter zur frühen Neuzeit einen grundlegenden Wandel für die Wahrnehmung von Armut und Bettelei heraus: Dem christlichen Wohlwollen trat ein neuer Arbeitsethos sowie das Leitbild des selbstverantwortlichen Individuums in Aufklärung und Libera-
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Dass Armut und damit verbundene Phänomene von Wohnungslosigkeit, Bettelei und informellem Gelderwerb in ihrer sozialen Bedeutung historisierbar sind, wird für den Übergang ins 20. Jahrhundert besonders deutlich. Die medialen Repräsentationen von Wohnungslosen und BettlerInnen im urbanen Raum, die sich zu dieser Zeit verbreiteten, zeugen von einem diskursiven Wandel in Bezug auf Armut und Armutsbekämpfung. In Argentinien wurde die Armenfürsorge im 19. Jahrhundert wesentlich von katholisch geprägten Fürsorgeeinrichtungen wie der Sociedad de Beneficencia und den Señoras de San Vicente de Paul getragen. Diese Institutionen existierten nach der Jahrhundertwende zwar weiter, wurden aber nach rationalen und sozioökonomischen Kriterien in den Aufbau eines modernen staatlichen Wohlfahrtsystems eingebunden.4 Zunehmend wurde das Problem der Armut zu einem Gegenstand akademischer und politischer Debatten, die in der Quantität und Qualität von Armut ein neuartiges und virulentes Problem ausmachten, das innovative Regulierungsmechanismen erforderte. Den Hintergrund für die Politisierung der Armut bildeten die erstarkenden Arbeiterbewegungen um die Jahrhundertwende, welche die Entbehrungen und Missstände in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Großstädte anprangerten.5 Hier wurde Armut als Teil der Sozialen Frage – verstanden als Kampf- und Reformbegriff – verhandelt, die den Beginn sozialer Reformen und Gesetzgebungen einleitete.6 Dem gegenüber wurden jene Subjekte,
lismus entgegen, das BettlerInnen langfristig zu Negativfiguren umdeutete, siehe Althammer, Beate: „Bettler“, in: Uerlings, Armut, 2011, S. 43-45; Althammer, Beate: „Mobile Arme. Fremde Bettler, ‚Zigeuner‘ und Vagabunden“, in: Uerlings, Armut, 2011, S. 273-280. 4
Vgl. Ciafardo, Eduardo O.: Caridad y control social. Las sociedades de beneficencia en la Ciudad de Buenos Aires, 1880-1930, Buenos Aires 1990, S. 16. Ciafardo unterzieht die Fürsorgeeinrichtungen einer kritischen Analyse in Hinblick auf ihre Ausrichtung zur Disziplinierung und Moralisierung der Bevölkerung.
5
Einen guten Überblick über die Arbeiterbewegungen bieten: Lobato, Mirta Zaida; Suriano, Juan: La protesta social en la Argentina, México, Argentina: Fondo de Cultura Económica 2003 und Recalde, Héctor E.: La protesta social en la Argentina. Desde las primeras sociedades de resistencia al movimiento piquetero, Buenos Aires: Grupo Editor Universitario 2003.
6
Zum Zusammenhang von staatlichen Reformen und Sozialer Frage siehe: Suriano, La cuestión social, 2001 und Zimmermann, Eduardo A.: Los liberales reformistas. La cuestión social en la Argentina, 1890-1916, Buenos Aires: Sudamericana 1995. Zimmermann sieht den Motor der sozialen Reformen im Reformgeist einer neuen Generation von PolitikerInnen und Intellektuellen, vgl. ebd., S. 13. Suriano betont hingegen
A RMUT ALS SOZIALES R ISIKO
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die sich außerhalb des normativen Spektrums von Lohnarbeit, Ehe und Sesshaftigkeit bewegten, als Teile eines genuin unterschiedlichen Armutsphänomens und -problems diskursiviert. Mit diesem Spektrum der Armut verbanden sich, wie im Folgenden näher untersucht wird, Diskurse über Betrug, Verschwörung, Parasitentum und soziale Schädlichkeit. Die argentinische Magazinpresse war zentral für die Herausbildung dieses Diskurses von Armut als soziales Risiko. Sie widmete sich intensiv der Betrachtung solcher Bedürftiger, die als neuartige Phänomene der modernen Großstadt betrachtet wurden: Dazu zählten ‚professionelle‘ bzw. ‚falsche‘ BettlerInnen, die elaborierte und teils kriminelle Techniken zum Erwerb von Almosen entwickelten, ebenso wie so genannte atorrantes, die weder arbeiteten noch bettelten. In der Figur des atorrante, wie nachfolgend analysiert wird, verdichteten sich die Diskurse sozialer Alterität hin zu einer symbolischen Dimension, über die Fragen von gesellschaftlichem Nutzen und Schaden durch das Verhalten von Individuen oder Gruppen ausgelotet wurden. Diese neuen Typen von Armen und damit zusammen hängende Phänomene von Obdachlosigkeit und Bettelei wurden, wie Julia Rodríguez zeigt, im ausgehenden 19. Jahrhundert zugleich Thema von Polizei und Justiz, von Kriminologie, Hygiene und Medizin.7 Der Magazinjournalismus bildete die Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen, institutionellen und öffentlichen Diskursen und prägte die Kriterien, anhand derer sich die Kriminalisierung und Medikalisierung von Armen diskursiv herausbilden und popularisieren konnte. Das folgende Kapitel zeigt, wie der biopolitische Blick auf die subalternen Subjekte samt ihrer Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten, ihrer physischen und psychischen Charakteristika und ihrer sozialen Bindungen funktionierte und wie sich ein für das 20. Jahrhundert nachhaltiger Diskurs über ‚gefährliche‘, ‚schädliche‘ und ‚antisoziale‘ Bedürftige ausformte.
die „fuerte presión ejercida por los trabajadores y sus representaciones gremiales y políticas, que se traducía en una fuerte acción colectiva“, welche in Reaktion des Staates sozialgesetzliche und institutionelle Transformationen bewirkten, vgl. ders., La cuestión social, 2001, S. 124. 7
Julia Rodríguez untersucht die kriminologische, polizeiliche und medizinische Perspektive auf die „men on the street“, die zum einen aufgrund ihrer Verweigerung regulärer Arbeit, zum anderen aufgrund ihrer mangelnden Sesshaftigkeit zu einem sozialen Ordnungsproblem wurden. Siehe: Rodríguez, Civilizing Argentina, 2006, S. 131149.
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D AS P ROBLEM
DER
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Die Bettelei, so der Jurist und Autor Alberto Meyer Arana in seiner zweibändigen Abhandlung über die Geschichte der karitativen Institutionen in Buenos Aires von 1911, sei schon immer ein Albtraum gewesen in Buenos Aires.8 Damit bezog er sich zum einen auf die Berichte von Reisenden zum Ende der Kolonialzeit, die sich über das Ausmaß jener „plaga de mendigos“ in den Straßen der Stadt ausließen. Zum anderen begründete Meyer Arana die historische Problematik der Bettelei mit dem wiederholten Scheitern in der Durchsetzung einer institutionellen oder polizeilichen Kontrolle. Die Schaffung eines Obdachlosenheims unter dem Vizekönig Juan José Vértiz y Salcedo hätte beispielsweise das Ziel verfolgt, diese aus dem Straßenbild zu entfernen.9 Dazu verfügte dieser, dass sich alle BettlerInnen innerhalb von 14 Tagen bei der Institution melden und Hilfe erhalten sollten, während im Gegenzug das Betteln um Almosen vollständig untersagt wurde. Auf diesen Erlass hin meldeten sich insgesamt lediglich neun BettlerInnen, darunter eine einzige Frau. Auch die vielen Versuche einer Einschränkung der Bettelei und Wohnungslosigkeit in Buenos Aires, die im Laufe der Zeit folgten, seien von Erfolglosigkeit bestimmt gewesen.10 Das Phänomen der Bettelei und Wohnungslosigkeit war in Buenos Aires um die Wende zum 20. Jahrhundert demnach nicht neu – ebenso wenig wie seine Problematisierung seitens der Eliten und der Widerstand gegen Verbote von Bettelei und Freizügigkeit und die Internierung in Obdachlosen- und Arbeitshäusern seitens der Problematisierten selbst. Den über Restriktionen organisierten Zugriff auf die Subalternen versteht diese Arbeit nach Foucault als Mechanismus einer Disziplinarmacht, die auf die Kontrolle von Individuen und Fixierung der Körper ausgerichtet war. Mit genau diesen Disziplinarmechanismen von Behörden und karitativen Einrichtungen setzte sich Meyer Arana kritisch auseinander. Seine Kritik richtete sich allerdings weniger gegen die konkreten Maßnahmen und dahinter stehenden Intentionen der AkteurInnen, sondern begründete sich in ihrem ausbleibenden Erfolg. Sein Rückblick auf das Versagen disziplinärer Stra-
8
Vgl. Meyer Arana, Alberto: La caridad en Buenos Aires. Tomo I+II, Buenos Aires 1911, S. 96.
9
Vertiz y Salcedo bekleidete von 1770 bis 1776 das Amt des (letzten) Gouverneurs von Buenos Aires und wurde 1778 zum (zweiten) Vizekönig von Río de la Plata ernannt. In seiner Amtszeit bis 1784 gründete er neben dem Obdachlosenheim die Casa de Niños Expósitos als Heim für Waisenkinder.
10 Als Beispiel nennt Meyer Arana das Dekret von Rivadavia vom 28.02.1823, welches das Betteln ohne Autorisierung der Polizei verbot. Vgl. ebd., S. 97 f.
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tegien zur Armutsbekämpfung fand an der Schwelle zu einer Entwicklung neuer Machtmechanismen mit dem Etikett der Armutsbekämpfung statt, die nicht mehr allein auf die Beseitigung oder Exklusion, sondern auf die Erforschung und angemessene Regulierung subalterner Bevölkerungsgruppen ausgerichtet war. Philanthropische Armutsbekämpfung Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert fand die Armutsbekämpfung zum einen auf der Ebene gesetzlicher Restriktion und ihrer behördlichen Durchsetzung statt und zum anderen als Teil eines christlichen Fürsorgeparadigmas. Letzterem galt Armut als natürliches Phänomen von Gesellschaften, das entsprechend der Tugenden von Nächstenliebe und Barmherzigkeit karitative Hilfeleistung verlangte. In Argentinien waren im 19. Jahrhundert katholisch geprägte und im Wesentlichen von Frauen geführte Organisationen, allen voran die 1823 gegründete Sociedad de Beneficencia, in der Armenfürsorge tätig.11 Sie perpetuierten eine bis in die Kolonialzeit und das europäische Mittelalter zurückreichende christliche Tradition der Unterscheidung von Bedürftigen, von der die Zuwendungen in Form von Hilfeleistungen und Almosen abhängig waren: Den so genannten pobres de solemnidad wurde Barmherzigkeit und Hilfe zugesprochen, insofern man ihre Bedürftigkeit als unverschuldetes Schicksal einstufte.12 Dem gegenüber
11 Zur Geschichte und Bedeutung der Sociedad de Beneficencia und anderer Wohltätigkeitsvereine unter besonderer Berücksichtigung des Gender-Aspekts siehe: Eraso, Yolanda (Hg.): Mujeres y asistencia social en Latinoamérica, siglos XIX y XX. Argentina, Colombia, México, Perú y Uruguay, Córdoba, Arg.: Alción Editora 2009; Guy, Donna J.: Women Build the Welfare State. Performing Charity and Creating Rights in Argentina, 1880-1955, Durham: Duke Univ. Press 2009; Ciafardo, Caridad y control social, 1990; Dies.: „La verdadera historia de la Sociedad de Beneficencia“, in: Potthast, Barbara; Scarzanella, Eugenia (Hg.): Mujeres y naciones en América Latina. Problemas de inclusión y exclusión, Madrid, Frankfurt am Main: Vervuert 2001, S. 253-270; Mead, Gender, Welfare, 2001; Bosch Prieto, Zulema Carracedo de: „La Sociedad de Beneficencia: 1823-1847. Descripción de su contenido“, in: Revista del Archivo General de la Nación, 2, 2, 1972, S. 167-186; Paz Trueba, Yolanda de: „El ejercicio de la Beneficencia. Espacio de prestigio y herramienta de control social en el centro y sur bonarense a fines del siglo XIX“, in: História, 26, 2, 2007, S. 366-384. 12 Zu den verschiedenen Formen der Armut in Buenos Aires in der ausgehenden Kolonialzeit siehe auch: Rebagliati, Lucas: „Los pobres ante la justicia. Discursos, prácticas y estratégias de subsistencia en Buenos Aires (1785-1821)“, in: Boletín del Ravignani, 38, 2013, S. 11-42.
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wurde die Kategorie der pobres vergonzantes entworfen, die durch ihren Lebensstil und eigenes Verschulden einen sozialen Abstieg erlitten hätten und keine karitativen Zuwendungen verdienten.13 Die Unterscheidung in zwei Kategorien von Armen, an denen sich Unterstützungsleistungen orientierten, wurde auch bei den ersten munizipalen Institutionen der Armenfürsorge weitergeführt, so etwa in der 1883 durch den Bürgermeister Torquato de Alvear eingerichteten Asistencia Pública, die als kostenfreier medizinischer Dienst und Versorgungsstelle für Bedürftige in Buenos Aires gegründet worden war. Ebenso wie für den 1892 eingerichteten Patronato de la Infancia und eine Reihe weiterer klinischer und karitativer städtischer Institutionen wurde eine wissenschaftliche Befassung mit der Armut seitens Medizin und öffentlicher Hygiene, gefolgt von Sozialhygiene und Kriminologie, handlungsanleitend.14 Die institutionelle Einbindung der Armen wurde nun nicht mehr primär mit christlichen Werten, sondern mit rationalen und empirischen Befunden zur Armut als sozialem Risiko legitimiert. Daber handelte es sich um eine neue, biopolitische Perspektive. Die biopolitische Befassung mit der Armut bedeutete jedoch keinen Bruch zu karitativen und disziplinären Diskursen. Diese koexistierten entweder oder gingen mit biopolitischen Diskursen eine Fusion ein. So wurde 1890 der sogenannte Registro de Pobres eingerichtet, der nur solche Personen für kostenlose medizinische Dienste registrierte, die zur Selbstversorgung nicht fähig waren und auf keine eigenen Ressourcen zurückgreifen konnten.15 Die Muster und Grenzziehungen in der Unterscheidung von Armen wiesen also eine Kontinuität von einem christlichen Fürsorgeparadigma hin zu modernen Diskursen über die städtischen Armen im 20. Jahrhundert auf. Die biopolitische Erneuerung in der Befassung mit den Armen entstand weder ex nihilo, noch lösten staatliche Stellen kirchliche Organisationen im Bereich der Armenfürsorge ab. Vielmehr wurden christlich-moralische Werte in Reformpolitiken refor-
13 Vgl. Moreno, José Luis: Éramos tan pobres. De la caridad colonial a la Fundación Eva Perón, Buenos Aires: Sudamericana 2009, S. 27. 14 Vgl. Zimmermann, Los liberales reformistas, 1995, S. 105-108. Zu den intellektuellen Führungsfiguren der Disziplin Hygiene und den Institutionen des Departamento Nacional de Higiene und der Asistencia Pública als ihrem Wirkungsrahmen siehe: Galeano, Diego: „Mens Sana in Corpore Sano. José M. Ramos Mejía y la medicalización de la sociedad argentina“, in: Salud colectiva, 2, 3, 2007, S. 133-146. 15 Ferner mussten sie mit Wohnsitz in Buenos Aires gemeldet sein; die Staatsangehörigkeit spielte hingegen keine Rolle. Vgl. dazu Zimmermann, Los liberales reformistas, 1995, S. 105-108.
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muliert und aktualisiert. Philanthropische Organisationen wie die Sociedad de Beneficencia verschränkten sich zunehmend mit dem Staat.16 Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich ein institutionelles Panorama ausgeformt, in dem insbesondere die städtische Armut als soziales Risiko wissenschaftlich untersucht und institutionell behandelt und verwaltet wurde. Die Disziplinierung der Nicht-Sesshaften Für den ländlichen Bereich war im 19. Jahrhundert das so genannte Vagabundentum primäres Objekt der Problematisierung. Der Begriff des Vagabundentums beziehungsweise der vagabundaje bezeichnete im 19. Jahrhundert nicht sesshafte Bevölkerungsteile im ländlichen Bereich, darunter viele Gelegenheitsarbeiter in der Viehwirtschaft, die als Gauchos bezeichnet wurden. Lange vor der Mythenbildung des Gauchos zum argentinischen Nationalsymbol waren jene Teile der Bevölkerung starken Regulierungs- und Repressionsversuchen ausgesetzt.17 Bereits in der Rosas-Ära und verstärkt im Zuge der ökonomischen Orga-
16 José Luis Moreno bezeichnet die Sociedad de Beneficencia als „hija de filantropía del siglo XVIII“, die mit der Unterstützung der ersten bürgerlich-revolutionären Regierung unter Bernardino Rivadavia eine Koalition einging, die eine erste Säkularisierung der sozialen Fürsorge über die Einbindungen der neuen bürgerlichen Eliten bedeutete. Vgl. ders.: „Dos siglos de política social en el Río de la Plata. Un panorama de su construcción“, in: Bertranou, Julián et.al. (Hg.): En el país del no me acuerdo. (Des)memoria institucional e historia de la política social en la Argentina, Buenos Aires: Prometeo Libros 2004, S. 69-81, S. 72 f. Die Verschränkung der Organisation mit dem Staat und auch mit wissenschaftlichen Methoden intensivierte sich seit den 1880er Jahren, siehe dazu insbesondere: Pita, Valeria Silvina: „Política, conflictos y consensos en torno al brazo asistencial de Estado argentino. La Sociedad de Beneficencia de la Capital, 1880-1910“, in: Eraso, Mujeres y asistencia social, 2009, S. 95130. 17 Eine subalterne Geschichte der Gauchos in der Zeit der Rosas-Regierung schreibt Salvatore, Wandering paysanos, 2003. Zur Bedeutung des Gaucho-Mythos für die argentinische Nationalidentität siehe Prieto, El discurso criollista, 2006; Bockelman, Brian: „Between the Gaucho and the Tango. Popular Songs and the Shifting Landscape of Modern Argentine Identity, 1895-1915“, in: The American Historical Review, 116.3, 2011, S. 577-601; Rössner, Michael: „Der Gaucho als argentinische Identitätsfigur zwischen Politik, Literatur und Sport von den Unabhängigkeitskriegen bis zum Fussball-WM-Maskottchen“, in: Riekenberg, Michael et.al. (Hg.): Kultur-Diskurs. Kontinuität und Wandel der Diskussion um Identitäten in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Heinz 2001, S. 85-102.
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nisation des exportorientierten Agrarkapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entstand ein hoher Bedarf an Arbeitskräften im landwirtschaftlichen Bereich und ebenfalls an Soldaten für militärische Einsätze, die für eine territoriale Erweiterung des de facto beherrschten Staatsgebiets gebraucht wurden. Für die militärischen Eroberungen der indigen verwalteten und bewirtschafteten Territorien wurde die Re-krutierung zu Militärdiensten vorangetrieben.18 Infolgedessen wurden massive Disziplinierungs- und Repressionsmaßnahmen gegen nicht Sesshafte und jene, die sich Militär und Arbeit entzogen, durchgeführt. Über gesetzliche Verbote des Vagabundentums und Einzug zu militärischen und landwirtschaftlichen Zwecken wurde versucht, Arbeitsdisziplin durchzusetzen und das Eigentum der estancias zu sichern.19 Territoriale Erschließung, Sicherung von Privatbesitz und Kontrolle der Freizügigkeit gingen somit Hand in Hand. Ricardo Salvatore verdeutlicht für die Rosas-Ära anhand von Gerichtsakten über Fälle der Verweigerung von Militärdiensten und andere Straftaten, dass die „wandering working class“ keinesfalls aus willfährigen UntertanInnen des Regimes bestand. Die Vagabunden und Gauchos der Rosas-Zeit leisteten Widerstand und eigneten sich Machtpositionen mit Verhandlungsspielraum über persönliche Freiheitsrechte, soziale Gleichheit, politische Beteiligung und ökonomischen Wohlstand an.20 Die Repräsentationen der Nicht-Sesshaften, ebenso wie die subalternen Taktiken des Widerstands, fanden in Darstellungen der so genannten atorrantes in der Magazinpresse eine Kontinuität. Auch der Journalist und Wissenschaftler Emilio Zuccarini sah 1904 eine Traditionslinie vom Gaucho zum atorrante, die er in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Archivos de
18 Der Einzug zu Militärdiensten erfolgte bereits in den Unabhängigkeitskriegen, in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Unitariern und Föderalisten, im Krieg gegen Brasilien sowie gegen Paraguay. Siehe Moreno, Éramos tan pobres, 2009, S. 47 f. 19 Die 1865 verabschiedete Ley de Vagancia im Código Rural ermöglichte den Einzug von Nicht-Sesshaften zum Militärdienst. Sie wurde allerdings, begleitet von Restrukturierungsmaßnahmen der Polizei, in der Provinz Buenos Aires erst Ende der 1870er Jahre massiv angewendet. Vgl. Sedeillán, Gisela: „Las leyes sobre vagancia. Control policial y práctica judicial en el ocaso de la frontera“, in: Trabajos y comunicaciones, 32-33, 2007, S. 141-166. 20 Vgl. Salvatore, Ricardo Donato: Wandering Paysanos. State Order and Subaltern Experience in Buenos Aires During the Rosas Era, Durham, London: Duke Univ. Press 2003, S. 423.
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Psiquiatría y criminología aplicados a las Ciencias Afines als historische Entwicklung des argentinischen Nationalcharakters ausführte.21 Die neuen Armen In Wissenschaft und Presse setzte sich zur Wende zum 20. Jahrhundert der Diskurs einer neuartigen sozialen Gefahr durch bestimmte Gruppen von städtischen Armen durch. Dies zeigt unter anderem die Studie des Kriminologen Eusebio Gómez über die mala vida in Buenos Aires, in der er eine Klassifikation der neuartigen ‚sozialen Pathologien‘ der Armen unternahm. Dabei differenzierte er zunächst zwischen einer Form der Armut, die als ‚Substrat der Sozialen Frage‘ die Arbeiterklasse betreffe und ein Effekt der Konzentration von Reichtum in den Händen weniger sei, von jenen Formen der Armut, die als ‚Parasiten‘ dem ‚Organismus dieser Stadt‘ schädigten und eine Vorstufe der Delinquenz darstellten. Das Gros der letzteren Gruppe bestehe aus ‚professionellen BettlerInnen‘, die aus dem Widerwillen zu arbeiten heraus danach trachteten, Mitgefühl zu erregen. Die Vagabunden seien gleichzeitig ein schwieriges als auch interessantes Objekt der Beobachtung für die „estudiosos de la patología social“; dabei solle es weniger um die legalistische Definition gehen, nach der es sich um Individuen ohne Wohnsitz, Ressourcen und berufliche Tätigkeit handelte. Von Interesse seien vielmehr ihre psychologischen Eigenschaften, darunter eine ‚defekte Moral‘, ‚manische Rastlosigkeit‘, ‚körperliche und geistige Debilität‘, ‚extreme Faulheit‘ und ‚krankhaftes Erbgut‘.22 Entscheidend für den neuen Blick auf die Armen waren damit nicht mehr ihr sozioökonomischer Status, sondern ihr ‚parasitäres‘ Verhältnis zum ‚Gesellschaftskörper‘, gemessen an psychologischen Kriterien. Der Topos der soziologischen Neuartigkeit der ‚neuen Armen‘ wird bis heute in der Geschichtsschreibung perpetuiert. So spricht etwa Leandro Gutiérrez in seiner Übersicht zur Geschichte der mala vida im Buenos Aires der Jahrhundertwende von dem Aufkommen von „problemas antes desconocidos para la sociedad porteña, o si no totalmente desconocidos, por lo menos de características muy diferentes.” Diese neuen Probleme gingen demnach von „tipos sociales marginales y comportamientos desviados” aus, die sich von den
21 Vgl. Zuccarini, Emilio: „Los exponentes psicológicos del caracter argentino. Evolución del gaucho al atorrante“, in: Archivos de Psiquiatría y Críminología aplicados a las Ciencias Afines, 3, 1904, S. 179-196. 22 Vgl. Gómez, La mala vida, 2011 (1908), S. 147-152.
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Armen des 19. Jahrhunderts grundsätzlich unterschieden.23 Ähnliche Diagnosen über eine neue und gesellschaftsgefährdende Art der Armut wurden um 1900 ungefähr zeitgleich in den USA und in Europa gestellt und waren transnational stark miteinander verbunden.24 In den jungen Industrienationen Europas kam es im 19. Jahrhundert, so Robert Castel in seinem sozialgeschichtlichen Werk zur Entwicklung der Lohnarbeit in der Neuzeit, zu einer „Bewusstwerdung einer Form des Elends, das scheinbar mit der Entwicklung von Reichtum und dem zivilisatorischen Fortschritt einhergeht“. Der „neuartige[] und buchstäblich umwälzende[] Charakter“ des als Pauperismus in die Geschichtsbücher eingegangenen Phänomens beruhte laut Castel allerdings nicht allein auf dem quantitiven Ausmaß der Armut, sondern bezog sich auf einen soziokulturellen Bedeutungswandel von Armut aus Sicht der herrschenden Klasse.25 Elendsverhältnisse wurden in jenen ‚neuen‘ Betrachtungen der Zeit zum einen als Bedrohung für die politische und gesellschaftliche Ordnung angesehen. Zum anderen stand auch hier nicht mehr alleine das materielle Elend im Problemfokus; der moralische Verfall und das soziale Verhalten rückten in den Mittelpunkt der Betrachtung von Armut.26 Auch Giovanna Procacci macht einen fundamentalen Wandel im Diskurs über Armut aus, der sich im 19. Jahrhundert vollzog: Das philantropische Verständnis einer Armutsbekämpfung, wie sie bislang dominierte, zielte auf die Ab-
23 Gutiérrez, Leandro: „La mala vida“, in: Romero, José Luis; Romero, Luis Alberto (Hg.): Buenos Aires, historia de cuatro siglos, Buenos Aires: Editorial Abril 1983, S. 85-93, S. 85. 24 Vgl. Althammer, Beate: „Transnational Expert Discourse on Vagrancy around 1900“, in: Dies.; Gestrich, Andreas; Gründler, Jens (Hg.): The Welfare State and the ‚Deviant Poor‘ in Europe, 1870-1933, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014, S. 103-125. Althammer betrachtet internationale Kongresse und Expertendiskurse speziell zum Thema des Vagabundentums und der Obdachlosigkeit zwischen 1872 und 1910 und konstatiert für diese Zeit eine zunehmende Pathologisierung der Armut als „mental and moral defectiveness“. Ebd., S. 124. 25 Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK 2000, S. 192-195. Der Begriff des Pauperismus tauchte erstmals um 1815 in England in den Diskussionen um eine Reform des Armenrechts auf. Als pauper wurden – im Gegensatz zum allgemeinen Begriff the poor – öffentlich unterstützte Arme gemeint. Die Wortschöpfung pauperism brachte damit die massenhafte Abhängigkeit von Armenunterstützung zum Ausdruck und diente ihrer Problematisierung. Vgl. Althammer, Beate: „Pauperismus“, in: Uerlings, Armut, 2011, S. 55-57. 26 Vgl. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, 2000, S. 195 f.
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schaffung der Armut – wenngleich diese durchaus ein integraler Bestandteil von Wohlstandsdiskursen war.27 Moderne Pauperismusdiskurse hingegen begannen, Armut als natürlichen Teil einer ökonomischen Gesellschaftsordnung zu verorten und sie gleichzeitig hochgradig zu problematisieren.28 Hier stellt sich der Übergang von Normativität zu Normalität, den Foucault für den Wandel vom christlichen Paradigma zum liberalen Denken und von disziplinarischer Norm zu biopolitischer Normalisierung ausmacht, deutlich dar. Die prekarisierten Massen der Städte, so Procacci, gerieten über eine neue Problematisierung ihres Verhaltens in den Fokus. Die Armut selbst, als sozioökonomischer Effekt, wurde jedoch nicht zu einem Angriffsobjekt des Diskurses, denn die Eliminierung sozialer Ungleichheit war nicht das Ziel der Pauperismusdiskurse seitens intellektueller und politischer Eliten. Vereinfacht gesagt wurden die Armen anstelle der Armut zum Problem erhoben. Die Armutsbekämpfung zielte infolgedessen nicht auf sozioökonomische Reformen, sondern war ein Kampf gegen subalterne Mobilität, Unabhängigkeit, Unvorhersehbarkeit und mangelnde Unterordnung. Die Problematisierung der Armut als soziale Gefahr fand an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Diskursen statt. Ein Beispiel für diesen transnational stattfindenden Interdiskurs liefert ein Beitrag des argentinischen Kriminologen José Ingenieros für die Tageszeitung La Nación von Mai 1905, in dem er über die psychopathologische Beschäftigung mit dem „estudio natural del pobre“ auf dem V. Congreso Internacional de Psicología in Rom berichtete.29 Besondere Bedeutung verlieh er dabei einer Arbeit von Alfredo Nicéforo über die „clases pobres“, die nicht mehr wie die Ökonomen und Soziologen zuvor die Armen „desde el silencio tranquilo de las biblio-
27 Procacci, Giovanna: „Social Economy and the Government of Poverty“, in: Burchell, The Foucault Effect, 2009, S. 151-168, S. 155. 28 Procacci beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Diskursen aus der aufkommenden Disziplin der „économie sociale“ in Frankreich, für die folgender Grundsatz galt: „... it took its start from that same discovery of society as something that exists positively, and not only as a result of laws, something that has its own rules and functioning“, vgl. ebd., S. 153. 29 Vgl. Ingenieros: Lombroso y los hombres pobres, S. 4. Ingenieros publizierte zwischen April 1905 und Oktober 1906 eine Serie von Reportagen für La Nación, die er auf seiner Reise in Europa und vor allem Italien zu wissenschaftlichen und kulturellen Themen schrieb. Seine Textproduktionen aus dieser Zeit wurden auch veröffentlicht in: Rodríguez Molas, Ricardo: „Gaucho, inmigrante y aristocracia argentina en la segunda mitad del siglo XIX. (Analisis documental de testimonios contemporáneos)“, in: Revista de Historia de América, 57/58, 1964, S. 121-136.
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tecas“ untersuchte, sondern die Armen „de carne y huesos“ studierte, als „exponente concreto de la miseria“, nämlich mitsamt ihrem sozialen Milieu, ihren Lebensbedingungen, ihren physiologischen und intellektuellen Eigenschaften.30 Dieses methodologische Programm übernahmen vor allem die Kriminologie, die Psychiatrie und die Sozialmedizin in Argentinien bei ihrer Beschäftigung mit jenen Bevölkerungsgruppen der unteren Klassen, die in der ‚Grauzone zwischen Delikt und Wahnsinn‘ verortet wurden und in ihrem ‚natürlichen‘ Umfeld und Verhalten untersucht wurden.31 Die Pioniere dieser empirischen Methoden befanden sich bereits unter jenen Reportern, welche die ‚neuen Armen‘ in ihrem Milieu aufsuchten, beobachteten, befragten und fotografierten. Die im Folgenden ausgeführte Quellenanalyse jener journalistischen Produktionen zeigt, wie sich ein biopolitisches Wissen über die ‚neue Armut‘ der Städte in der Magazinpresse ausgestalten und für öffentliche und wissenschaftliche Debatten produktiv werden konnte. Im Folgenden wird zunächst der journalistische Diskurs über eine bestimmte Kategorie von Armen, die als mendigos profesionales oder mendigos falsos in der Magazinpresse bekannt wurden, analysiert.
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Die journalistische Auseinandersetzung mit dem Thema der Bettelei orientierte sich in erster Linie an dem Kriterium ihrer Legitimität, an dem sich die Unterscheidung in ‚echte‘ und ‚falsche‘ Bettler und Bettlerinnen zeigte. Die Mehrzahl aller journalistischen Beiträge, die sich mit dem Thema der Bettelei in seiner zeitgenössischen Ausprägung beschäftigten, widmete sich daher einer Definition von Kriterien der Legitimität von Bettelei auf der einen und Formen des Betrugs in rechtlicher und moralischer Dimension auf der anderen Seite und schuf so die modernen In- und Exklusionslinien, anhand derer sich national-soziale Zugehö-
30 Ingenieros: Lombroso y los hombres pobres, 1905, S. 46 f. Alfredo Nicéforo hatte zuvor seine empirische Studie über die Gruppen der „mala vita“ in Rom veröffentlicht, siehe: Nicéforo, Alfredo; Sighele, Scipio: La mala vita a Roma, Turino: Roux Frassati 1898. 1908 erschien zudem seine kurze anthropologische Abhandlung über die Armen, siehe: Nicéforo, Alfredo; Bernardo Quirós, Constancio de: Bosquejo de antropología de las clases pobres, Madrid: Revista General de Legislación y Jurisprudencia, 1908. 31 Vgl. Dovio, Mariana Ángela: „El caso de la „mala vida“ en la Revista de Criminología, Psiquiatría y Medicina Legal (1914-1927) en Buenos Aires. Entre la peligrosidad y la prevención“, in: Revista de Historia del Derecho, 43, 2012, S. 1-29, S. 4.
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rigkeit ausbilden konnte. In diesem Sinne präsentierte die Reportage „Los mendigos de Buenos Ayres“ in der Zeitschrift Caras y Caretas aus dem Jahr 1904 eine visuelle und explikative Bestandsaufnahme des als virulent wahrgenommenen Problems der Bettelei in den Straßen von Buenos Aires. Die Bettelei sei, ebenso wie in allen großen und reichen Städten der Welt, ein „fenómeno de observación normal en las estadísticas“32. Elf Fotografien zeugten von der Feststellung dieser Omnipräsenz, auf denen BettlerInnen einzeln oder mitunter auch zu zweit in den Straßen, auf öffentlichen Plätzen, in Hauseingängen und auf Parkbänken zu sehen waren. Problematisiert wurde ihre Präsenz vor allem hinsichtlich ihrer Widerständigkeit gegenüber gesetzlichen und karitativen Maßnahmen, die gegen die Bettelei in den Straßen ergriffen wurden: „En balde se dictan leyes destinadas á impedir que prospere la mendicidad en las calles. En balde se fundan y sostienen asilos y asociaciones protectoras de toda clase. Eso no impide que el espectáculo sea el mismo, que ante la vista se ofrezcan los cuadros más desagradables de la miseria.“33
Die hohen Zahlen von BettlerInnen erklärte die Reportage damit, dass mit der allgemeinen Steigerung des Wohlstands auch die Menge von NutznießerInnen wachse, die mittels betrügerischer Methoden von dem gesellschaftlichen Reichtum profitieren wolle. In Abgrenzung zu illegitimen BettlerInnen wurden folgende Charakteristika als legitim aufgezählt: Alte Menschen, Witwen mit Kindern, Blinde, Hinkende, Menschen mit amputierten Gliedmaßen und durch Arbeitsunfälle Verstümmelte galten als rechtmäßige BettlerInnen. Das entscheidende Kriterium lag damit im Falle männlicher Bettler in der körperlichen Unfähigkeit zu arbeiten, während bei Frauen auch das soziale Kriterium des Familienstands, etwa bezüglich Kindesfürsorge oder Verwitwung, eine Rolle spielten. Entsprechend wurden auch Formen der Täuschung durch sogenannte ‚professionelle Bettler oder Bettlerinnen‘ geschlechterspezifisch dargestellt. Die Reportage schildert das Beispiel einer Bettlerin, die umringt von kleinen Kindern um Geld bettelt und den Reportern zurückhaltend Auskunft über die Praktiken der ‚falschen‘ BettlerInnen in Buenos Aires gibt. Sie selbst habe demnach Kinder in Obhut genommen, die nicht ihre eigenen waren, um Mitgefühl bei den PassantInnen zu erregen. Männliche Bettler wiederum fingierten der Reportage zufolge
32 Molécula: „Los mendigos de Buenos Ayres“, in: Caras y Caretas, VII, 279, 16.01.1904, S. 35. 33 Ebd.
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Blindheit oder Verstümmelungen, um nicht arbeiten zu müssen und stattdessen der mühelosen und leichten Tätigkeit des Bettelns um Almosen nachzugehen.34 Frauen, die bettelten, wurden in der Magazinpresse besonders häufig als Betrügerinnen ‚entlarvt‘. So auch 1902 in der Rubrik „Paseos fotográficos por el municipio“, welche die Erkundung städtischer Missstände und Besonderheiten durch einen Reporter von Caras y Caretas wiedergab. Darin wurde ein pensionierter Lehrer zitiert, der sich über die baulichen und hygienischen Zustände der Stadt beschwerte. Besonderen Missmut erregte für ihn die Ignoranz von Politikern, aber auch von Journalisten gegenüber dem Thema der Bettelei. Er macht auf ein „detalle típico“ aufmerksam und lokalisiert dies genau zwischen den Straßen Rivadavia und Piedad zu Uhrzeiten zwischen ein und fünf Uhr nachmittags. Seit zehn Jahren gebe es dort eine Bettlerin, die begleitet von drei Kindern um Almosen bitte, welche allerdings immer im gleichen Alter seien. Die Kritik galt allerdings weniger der Verwerflichkeit dieser Praxis als den städtischen Behörden, die jenen Fällen keine Aufmerksamkeit schenkten.35 Abbildung 6.1
Quelle: Mundo Argentino (1915)
34 Vgl. Ebd., S. 35. 35 Vgl. Sargento Pita: „Paseos fotográficos por el municipio“, in: Caras y Caretas, 5, 187, 03.05.1902, S. 36.
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Zeitungsberichte skandalisierten außerdem auch Fälle, in denen BettlerInnen geheime Geldreserven angelegt hätten. Dabei rekurrierten Journalisten auf polizeiliche Informationen über Kontrollen, Straftaten oder Anzeigen von Eigentumsdelikten. Crítica kommentierte die Strafanzeige einer Bettlerin, der bei einem Raubüberfall 3000 Peso gestohlen worden seien. Diese Summe sei einzig durch ihre Verbindungen zum kriminellen Milieu erklärbar.36 Mundo Argentino bildete 1915 das fotografische Porträt einer Frau ab, die in der Bildunterschrift als Betrügerin entlarvt wurde: Bei der als Angela Castella d’Elena bezeichneten Frau handelte es sich der Schlagzeile nach um eine Bettlerin, die bei der Banco de Italia y Río de la Plata ein Konto über 5450 argentinischen Pesos besäße. Ihre Bettelei wurde demzufolge als ‚lukrative Industrie‘ bezeichnet.37 Das fotografische Porträt der Frau erschien auf der Titelseite des Magazins (Abbildung 6.1). Es zeigt die frontale Aufnahme einer Frau, die ein Kopftuch trägt und von einer dunklen Decke umhüllt ist, so dass nur das Gesicht zu sehen ist. Mit geneigtem Kopf und zusammengekniffenen Augen blickt die Frau aus schräger Perspektive in die Kamera. Pose und Blick demonstrieren Verschlagenheit; das Verstecken der Hände unter dem Umhang Unehrlichkeit.38 Die Vermittlung dieses Eindrucks und das Posieren für die Kamera wirken so offensichtlich, dass man davon ausgehen kann, dass die Fotografie zur Erzeugung der Bildaussage inszeniert worden war. Abenteuer der Straße Die Geschichten von vermögenden BettlerInnen wurden teilweise als Kriminalfälle porträtiert; andere Fälle zeigten eine Nähe zu fiktionalen Genres. So etwa in der Reportage über ‚berühmte Bettler‘, die Caras y Caretas am 15. August 1908 publizierte und eine Woche darauf in leicht geänderter Form erneut in PBT erschien.39 Sie schilderte spektakuläre Fälle von Bettern in Paris, Rom, New York
36 Vgl. „Cosas de Buenos Aires. Una mendiga poseedora de 3000 pesos“, in: Crítica, 2, 475, 09.01.1915, S. 4. 37 Vgl. „Industrias lucrativas“, in: Mundo Argentino, 5, 238, 28.07.1915, S. 1. 38 In den populären Porträtfotografien von Frauen und Kindern der Oberschichten, die John Mraz in Hinblick auf ihre soziokulturelle Bedeutung in Mexiko untersucht, trug die Zurschaustellung der Hände eine besondere symbolhafte Bedeutung: Ihre vorsichtige Platzierung im Bild diente der Demonstration von Unschuld, Schüchternheit und Bescheidenheit der Fotografierten. Vgl. Ders., Looking for Mexico, 2009, S. 23. 39 Vgl. „Mendigos famosos“, in: Caras y Caretas, 11, 515, 15.08.1908; „Mendigos famosos“, in: PBT, 5, 197, 22.08.1908. Bei der Reportage in PBT handelt es sich um eine erweiterte Fassung über zwei Seiten mit weiteren Anekdoten.
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und London, die aufgrund ihrer Popularität und ihrer taktischen Raffinesse zu äußerstem Reichtum gelangt seien. Einer der beschriebenen Fälle war der ohne Arme und Beine geborene Simón Opthen aus Paris, der als weltweit reichster Bettler über die Jahre ein Millionenvermögen angespart habe.40 In seinem wie in anderen Fällen wurden auffällige körperliche Merkmale, wie das Fehlen von Gliedmaßen oder Kleinwüchsigkeit, gepaart mit Geschäftssinn und Kalkül, als Schlüssel zum Erfolg der ‚aristokratischen Bettler‘ beschrieben. Neben dem Topos des Bettlers als Geschäftsmann verwendete die Reportage das Narrativ der kriminellen Organisation und Verschwörung in der ‚Unterwelt‘.41 So berichtete PBT auch von der historischen Figur Claus Patch, der in England den Titel des ‚Königs der Bettler‘ getragen habe. Im Sterben liegend wurde er der Reportage zufolge inmitten von hunderten seiner ‚Untergebenen‘ aus allen Stadtteilen Londons durch die Stadt getragen, um ihnen Verhaltensratschläge für die Zeit nach seinem Ableben zu geben, die in seinem Leitsatz erkennbar werden: „Por cada uno que da por caridad, hay quinientos que dan por ostentación.“ Auch sein Nachfolger, der nach seinem Ableben laut der Geschichte von Bettlern aus ganz England gewählt wurde, zeichnete sich durch großen Erfolg beim Betteln, seine Geschicklichkeit im Verkleiden und seinen „carácter aventurero“ aus.42 Die Geschichte von Claus Patch zeigt verschiedene diskursive Elemente, die auch in Bezug auf argentinische BettlerInnen von der Magazinpresse perpetuiert wurden: Arme bzw. BettlerInnen wurden in einer Parallelwelt verortet, der eigene Organisationsstrukturen, eine eigene Philosophie und eigene Hierarchieverhältnisse zugedacht wurden. Diese vorgestellte Parallelgesellschaft funktionierte in Opposition zur Gesellschaft der ‚Almosengeber‘, die als auszubeutende ökonomische Grundlage der Subalternen fungierte. Das Verhältnis zwischen GeberInnen und NehmerInnen war in seiner Darstellung gerade nicht als Klassenverhältnis abgebildet, das zwischen besitzenden und mittellosen Schichten im sozioökonomischen Sinne unterschied. Im Gegenteil macht die Reportage über berühmte BettlerInnen auf Fälle aufmerksam, in denen – so der „rey de los pobres de Roma“ namens Beppo – BettlerInnen nicht nur vermögend waren und sich nach ihrem Tagewerk in ihr luxuriöses Heim zurück-
40 Vgl. Caras y Caretas, Mendigos famosos, 15.08.1908, S. 36. 41 Das bekannteste literarische Vorbild für die Schilderung von Verbrecherringen und Unterwelt im Kontext von Pauperismus und Industrialisierung im viktorianischen London war der Bildungsroman Oliver Twist von Charles Dickens. 42 PBT, Mendigos famosos, 15.08.1908, S. 123.
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zogen, sondern durchaus auch Beziehungen mit bürgerlichen Gruppen pflegten, die auf Augenhöhe stattfanden.43 Diese Schilderungen – insbesondere solche, die zudem eine historisierende Komponente hatten – besaßen offensichtlich einen fiktiven Charakter, der aufgrund der fiktionalen Erzählweise auch für die zeitgenössischen Leser als solcher erkennbar gewesen sein muss. Die Reportagen transportierten dabei nicht nur bestimmte Stereotype von Armen, sondern waren auch Ausdruck eines Begehrens nach dem ‚Abenteuer der Straße‘, das in den Geschichten evoziert wurde. So waren die geschilderten Figuren oftmals zwar gescheiterte Personen, die jedoch getrieben waren von der Lust nach Abenteuern und Freiheit. Die in Romanen und Reportagen vorgestellte ‚Unterwelt‘ offerierte eine Projektionsfläche nicht nur für Angst und Abscheu, sondern auch für Begehren und Sehnsucht nach Lebensformen jenseits von Lohnarbeitsverhältnissen und bürgerlichem Lebensstil. Journalistische Enthüllungen Die Magazinpresse beschäftigte sich investigativ mit der Armut in den Straßen von Buenos Aires, um über so genannte ‚falsche BettlerInnen‘ zu berichten. In der Reportage mit dem Titel „El arte de ser mendigo“, 1904 in Caras y Caretas erschienen, wurde eine journalistische Aufdeckung betrügerischer Taktiken durch Bettlerinnen und Bettler beschrieben, nachgestellt und problematisiert. Die Geschichte las sich folgendermaßen: Die Reporter des Magazins machten einen Bettler auf der Straße ausfindig und überzeugten ihn unter der Voraussetzung, seine Anonymität zu bewahren, ihnen von den Tricks ‚falscher‘ BettlerInnen in Buenos Aires zu berichten. Daraufhin lichtete der Bettler seine Augenklappe und gab sich mit folgenden Worten als Betrüger zu erkennen: „Me vé á mí? Pues bueno: así son casi todos los que piden limosna por la caye: siegos, tuertos, mancos, rengos, tuyidos, jorobaos...”44 Der Erzählung des falschen Blinden zufolge war ein Großteil der BettlerInnen auf den Straßen BetrügerInnen, die sich als Blinde, Einäugige, Verstümmelte, Lahme oder Bucklige ausgäben. Dabei handele es sich um eine organisierte Struktur, die von einem Franzosen namens Monsieur Gayot geleitet werde, unter dem fast alle professionellen BettlerInnen gegen Abgaben arbeiteten. Auch hier kam das Motiv der organisierten Kriminalität in der Unterwelt zum Tragen. Die
43 In dem Beispiel Beppos verkehrte der Bettler mit Industriellen, die ihn aufgrund seines Geschäftssinns um Rat fragten. 44 Detective: „El arte de ser mendigo“, in: Caras y Caretas, 7, 320, 19.11.1904, S. 3839, S. 38.
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Reportage war von zahlreichen Fotografien bebildert, die zum einen falsche BettlerInnen mit entsprechenden Verkleidungen auf der Straße zeigten, zum anderen als Bilderserie organisiert waren, in denen die Verkleidung eines ‚falschen‘ Bettlers nachgestellt wurde (siehe beispielsweise Abbildung 6.2). Die fotografische Nachstellung hatte neben der Beweisfunktion vor allem Unterhaltungswert. Auf der Textebene wurde das Thema hingegen durchaus ernst als Handlungsnotwendigkeit gegen die so bezeichnete „verdadera plaga social”45 postuliert. So forderte der Artikel ein behördliches Eingreifen und verwies als ersten positiven Schritt auf den durch den Bürgermeister erteilten Auftrag an den Juristen Alberto Meyer Arana, eine Studie über die falschen Bettler von Buenos Aires anzufertigen. Abbildung 6.2
Quelle: Caras y Caretas (1904)
Die Magazinpresse verstand sich hier als Instanz der Aufdeckung von Betrug und Täuschung. Die Diskrepanz zwischen einer sympathisierenden Sprache auf der Bildebene und dem appellativen Charakter auf Textebene zeugt von der Verschränkung in- und exklusionistischer Diskurse bezüglich jener der mala vida
45 Ebd.
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zugerechneten Armen, die für eine biopolitische Betrachtungsweise elementar waren. Der Ruf nach Ausschluss und Bestrafung war gepaart mit einer symbolischen Aufwertung subalterner Bevölkerungsgruppen zu originellen und für Stadt und Nation idiosynkratischen Typen, die in der sozialen Vorstellung anders, aber dennoch zugehörig waren. Slumming In investigativer Manier folgten argentinische Reporter auch den US-amerikanischen und europäischen VorgängerInnen des Undercover-Journalismus, um aus erster Hand und eigener Anschauung über Armutsverhältnisse und das Milieu der BettlerInnen und anderer Armer zu berichten. In England hatte der Journalist James Greenwood bereits 1866 in der Pall Mall Gazette eine Artikelserie mit dem Titel „A Night in a Workhouse“ publiziert, für die er sich verkleidet als Obdachloser in das Nachtasyl eines Londoner Armenhauses einschleuste. Er löste damit in England Kontroversen über die Sittlichkeit seines Vorgehens und gleichzeitig Bewunderung über seinen Wagemut aus.46 Die journalistischen Erkundungsgänge in den Elendsvierteln von London und anderen Industriestädten waren seit den 1860er Jahren nicht nur Gegenstand journalistischer Praktiken, sondern wurden, wie Seth Koven untersucht und mit dem Begriff des slumming belegt, zum Ziel von Reisenden und ReformerInnen aus bürgerlichen Schichten,
46 Vgl. Althammer, Beate: „Die Faszination des Elends. Sozialreportagen um 1900“, in: Uerlings, Armut, 2011, S. 215-223, S. 216. Zur kolonialen Exotisierung Londonder Elendsviertel in den illustrierten Zeitschriften der viktorianischen Zeit siehe: Hirsch, Bernd: „Holzschnittartig und Schwarz-Weiß. Bildsprachliche und sprachbildliche Verfremdungen des Eigenen im Viktorianismus“, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin: Lit 2007, S. 265-285. Für den deutschen Sprachraum waren die Erlebnisse des Journalisten Hans R. Fischer, der 1887 einzelne Nächte inkognito in Berliner Armenhäusern verbrachte, ein Meilenstein der investigativen Berichterstattung, vgl. Althammer, Die Faszination des Elends, 2011, S. 217 f.; siehe im Original: Fischer, Hans R.: Unter den Armen und Elenden Berlins. Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt, Berlin: Eckstein 1887. 1904 gaben der Journalist Emil Kläger und der Amateurfotograf Hermann Drawe „Ein Wanderbuch aus dem Jenseits“ heraus, in dem Armutsverhältnisse in Wien als voyeuristisches Spektakel präsentiert wurden, siehe: Kläger, Emil: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, Wien: Mitschke 1908.
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die sich die Wohn- und Lebensverhältnisse der ärmsten Bevölkerungsschichten mit eigenen Augen ansehen wollten.47 Journalistische Pioniere wie Greenwood und spätere NachahmerInnen waren somit PionierInnen eines bürgerlichen Zugriffs auf die Räume der Armen, die sie inspizierten, exotisierten und problematisierten. So berichtete auch Josiah Flynt in „Tramping with Tramps“ von 1899 von einer Undercover-Recherche in den USA und mehreren europäischen Ländern, die er verkleidet als Vagabund unternommen hatte, um die Milieus der umherziehenden Obdachlosen kennenzulernen. Dabei gewannen erstmals auch Fotografien in der Presse und bei Lichtbildvorträgen, die er über seine Erlebnisse organisierte, an Bedeutung.48 Beate Althammer bewertet Flynt als „[Pendler] zwischen den Welten, ohne zum Brückenbauer zu werden: Immer wieder verdammte er das, was ihn doch anzog.“49 Dieser Scheinwiderspruch zwischen einer abwechselnd freundschaftlichpositiven und harsch verurteilenden Darstellungsweise der Subalternen war gerade charakteristisch für die Dialektik von sozialer Exklusion und Begehren des Anderen und Fremden. Bedeutend wurden investigative und verdeckte Reportagen auch aufgrund ihres sozialreformerischen Anspruchs und Impulses, der sich aus den empirischen Beobachtungen der Armen ableitete: Zwischen 1904 und 1906 veröffentlichte Mary Higgs, die sich in religiösen und philantropischen Reformorganisationen in England engagierte und speziell im Bereich von Obdachlosigkeit Reformbedarf propagierte, Berichte über ihre heimlichen Missionen, die sie verkleidet als Obdachlose in Unterbringungsstätten unternahm.50 Jacob Riis veröffentlichte 1889 im Scribner’s Magazine Fotografien und Beschreibungen von miserablen Wohnverhältnissen in New York, die im Jahr darauf unter dem Titel How the Other Half Lives in Buchform herausgegeben wurden und das wohl bekannteste sozialdokumentarische Werk der Zeit darstellten.51
47 Vgl. Koven, Seth: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton: Princeton Univ. Press 2004. 48 Vgl. Althammer, Die Faszination des Elends, S. 216. 49 Ebd., S. 217. 50 Ihre Berichte, darunter „A Tramp among Tramps. By ‚A Lady‘“ (1904), „Three Nights in Women’s Lodging Houses“ (1905) und „A Night in a Salvation Army Shelter“ (1905) wurden zunächst anonym in der Tageszeitung Daily Mail abgedruckt und 1906 gesammelt unter ihrem Namen publiziert, siehe Higgs, Mary: Glimpses into the Abyss, London: P.S. King 1906. 51 Siehe: Riis, How the Other Half Lives, 1890.
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Im Jahr 1913 veröffentlichte PBT zwei Reportagen unter der Autorenschaft von Dr. A. Vaccari, die in der Tradition der angelsächsisch geprägten journalistischen Strategie der verdeckten Recherche standen. Für die Reportage „Mi noche en un asilo“, die im März 1913 erschien, verkleidete Vaccari sich als Obdachloser, um die Zustände im Obdachlosenheim der Heilsarmee (Ejercito de Salvación) in Buenos Aires zu untersuchen. Den Zweck der Verkleidung beschrieb er wie folgt: „A mí se me antojó pasar la noche en un asilo, pero no en forma oficial. Si uno va a él y pela sus credenciales, no lo dejan vivir; lo aplastan con atenciones, finuras y „venga por acá“, „pase por allá“; uno concluye por ver lo que los otros quieren y consigue el mismo resultado del que viene a la república, de una conferencia, acepta diez o doce banquetes y muy fresco regresa y escribe un libro sobre la Argentina, sus costrumbres, riquezas, etc.“52
Die verdeckten Recherchen des Reporters im Obdachlosenheim wurden damit als Mittel der journalistischen Wahrheitsfindung herausgehoben, die in einer ‚offiziellen‘, das heißt angekündigten oder zumindest erkennbaren Annäherung seitens des Journalisten demnach unmöglich gewesen wäre. Eine Offenlegung des Vorhabens sei notwendigerweise mit Einwirkungen und Irreführungen des Blicks der Reporter verbunden und laufe damit Gefahr, ein geschöntes Bild der sozialen Realität zu zeichnen. Noch bevor also der Begriff des Sozialdokumentarismus im Sprachgebrauch auftauchte, entwickelten argentinische Reporter den Anspruch einer authentischen Abbildung der sozialen Realität – und insbesondere ihrer Missstände – sowie daran orientierte Methoden. Die Reportage beschäftigte sich weniger mit der institutionellen Einrichtung, den Aufgaben und der Zweckmäßigkeit des Obdachlosenheims, sondern fasste dieses räumlich als Milieu auf, das wesentlich von seiner ‚Klientel‘ geprägt werde. So beschrieb Vaccari die einzelnen Stationen seiner Erkundung – vom Anstehen vor den Türen des Heims über die Anmeldung, die Essensausgabe im Patio, die Waschsäle und Schlafsäle – vor allem hinsichtlich seiner Begegnungen und Empfindungen gegenüber den dort anwesenden Menschen und des durch sie geprägten Ambientes. Dabei spielten vor allem Beschreibungen und Metaphern der ‚Masse‘ eine Rolle, so die abendlich vorgefundene „muchedumbre de pobres [que] se va amontanando a la entrada“ und der morgens beobachtete „hormiguero humano [que] vuelve a ponerse en actividad“.53 Individuelle Darstellungen erfuhren auf der vierseitigen Reportage lediglich ein älterer Mann, der für ein paar
52 Vaccari, A.: „Mi noche en un asilo“, in: PBT, 10, 433, 15.03.1913, S. 75-80, S. 75. 53 Ebd., S. 80.
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Centavos seine Unterhosen zu verkaufen versucht, ebenso wie der Bettnachbar des Reporters, der ihn mit dem Qualm seines billigen Tabaks belästigt. Während die Wohnungslosen aber allesamt gesichts- und geschichtslos bleiben, verurteilte die Reportage sie pauschal als „almas indiferentes, sarcásticas, que no sienten sino pocas necesidades materiales y poquísimas morales“ und als „vencidos, víctimas casi todos del vicio […] indiferentes a todo, con una atonía física y moral peor que la muerte“,54 wobei vor allem der Alkoholismus als eklatantes und fundamentales Problem der Menschen bezeichnet wurde. Abbildung 6.3
Quelle: PBT (1913)
Die Innenansicht des Obdachlosenheims, welche die verdeckte Investigation des Reporters versprach, erfüllte sich, insofern sein eigenes Erleben dieses sozialen Raums mit allen Sinnen geschildert wurde: die Abscheu beim Anblick des „museo de la miseria humana“ und vor dem Gestank der Körperausdünstungen, die Abneigung gegen das ausgegebene Essen, die Aufmerksamkeit gegenüber der verschiedenen Sprachen und Stimmen des „torre de Babel“ im alkoholisierten Tonfall, und das körperliche Unbehagen beim Zubettgehen.55 Die Reportage lud 54 Ebd., S. 79 f. 55 Ebd., S. 75.
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dazu ein, die subjektive Perspektive des Reporters anzunehmen und die betrachteten Menschen als soziales Übel und Gefahr zu erkennen. Im April 1913 veröffentlichte PBT eine weitere Undercover-Reportage des gleichen Reporters, Dr. A. Vaccari, mit dem Titel „Mi ‚début‘ como pordiosero“. Auch hier nahm das Passing als Bettler und die Bemühungen um die Verkleidung den größten Stellenwert der Reportage ein, was sich vor allem in der fotografischen Bebilderung zeigt. Darauf war der Reporter in acht Situationen zu sehen, in denen er seine Rolle als Bettler verkörperte (siehe dazu als Beispiel Abbildung 6.3).56 Die Fotografien zeugen zum einen von der gekonnten Strategie des Reporters als Schauspieler und verdeckter Ermittler zugleich. Zum anderen lieferten sie den Beweis dafür, mit welch einfachen Mitteln eine Täuschung durch professionelle ‚falsche‘ BettlerInnen möglich war. So lag der Anspruch des Experiments laut Vaccari darin, „de hacer una prueba, de ver lo que puede sacar un mendigo profesional en Buenos Aires.“57 Die Reportage schilderte seinen Gang als Bettler durch Straßen, Geschäfte und Lokale von Buenos Aires, in denen er sowohl unbekannte als auch bekannte Personen mit seiner Verkleidung zu täuschen vermochte. Die Reaktionen der Menschen auf seine Bitten um Almosen beschrieb Vaccari vorwiegend positiv und zudem lukrativ: Ein Arbeiter spendierte ihm eine halb gerauchte Zigarette, Mitarbeiter einer Druckerei, eine französische Prostituierte und die eigenen Kollegen gaben ihm Geldbeträge, die sich nach einer Stunde zu 2,60 Pesos summiert hatten. Die Reportage reihte sich damit in den Diskurs über das lukrative betrügerische Betteln ein, verkörperte aber gleichzeitig eine neue Strategie der Authentifizierung der Arbeit des Reporters und seiner fotografischen Abbildungen. Die Armut der Massen Die sozioökonomischen Folgen des Ersten Weltkriegs auf Argentinien verstärkten und polarisierten die Armutsberichterstattung der Magazinpresse. Die humoristisch orientierten Magazine Caras y Caretas und PBT hatten bis dahin eine Alterisierung von Armen über das Mittel der Parodierung und Exzeptionalisierung vorantrieben und eher randläufig politischen Reformbedarf angemerkt. Nach 1914 näherten sich aber auch diese Magazine dem Thema Armut und Bettelei nicht nur als gravierendem Massenproblem der Großstadt, sondern konstituierten darüber hinaus eine nationale Gefahr durch die Armen. Die Reportage „La miseria en Buenos Aires“, publiziert in PBT im März 1916, zeigte einen für
56 Vaccari, A.: „Mi 'début' como pordiosero“, in: PBT, 10, 437, 12.04.1913, S. 82-84. 57 Ebd., S. 82.
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die Zeitschrift neuen Diskurs der Armutsproblematik, der mit neuen Repräsentationsstrategien von Armut und einer sozioökonomischen Argumentation einherging. Armut und vor allem ihre sichtbare Form der Bettelei in den Straßen von Buenos Aires wurden in der Reportage als Problem aufgefasst, das dem nationalen Selbstverständnis grundlegend widersprach: „Una cosa inadmisible es hablar de la miseria en Buenos Aires. Ni en Buenos Aires puede haber miseria ni el ejército argentino puede ser derrotado nunca; estos fueron siempre para nosotros dos axiomas, y defendíamos el primero con igual espíritu patriótico que el segundo; considerábamos comprometido nuestro honor nacional, no menos en una que en la otra cosa.“58
Die evidente Armut in den Straßen von Buenos Aires stehe im offenen Widerspruch zum ‚natürlichen‘ Wohlstand des „país del trigo y de la carne“,in dem zehn Millionen Menschen auf einer Fläche von drei Millionen Quadratkilometern lebten. Das Phänomen der Armut sei in seiner Gesamtheit jedoch weder zu erfassen noch fotografisch zu repräsentieren. Armut sei demnach zum einen das Resultat individueller Schicksale: „Cada uno de esos casos particulares de miseria tiene su explicación, su explicación particular, y esto nos tranquiliza la consciencia.“59 Beispiele für diese individuellen Biografien der Armut lieferten die fotografischen Abbildungen in der Reportage: Eine zeigt eine Bettlerin mit vier kleinen Kindern, deren Mann laut der Bildunterschrift von dem Hausverwalter ermordet worden war, weil er ihm eine halbe Miete schuldete. Ein anderes Bild zeigt eine Bettlerin mit zwei Zwillingspaaren als Kindern; die übrigen Fotografien bilden bettelnde und müllsammelnde Kinder, eine durch ihr hohes Alter gekennzeichnete Bettlerin und einen Arbeitslosen ab. Die Bilder und ihre Kontextualisierung zeugten somit von ‚natürlichen‘ Ursachen und schicksalhaften Wendungen in den Biografien der Armen. Die illegitimen Formen der Bettelei fanden hingegen keine bildliche Repräsentation, sondern wurden nun als bekannt vorausgesetzt. Die Argumentation der Reportage zielte darauf, dass nicht die Ursachen, sondern die Präsenz von Armut in der Stadt eine politische Intervention erforderten. Konkret war damit die Forderungen nach einer Durchsetzung der restriktiven Maßnahmen gegen die Bettelei und nach Investitionen in
58 „La miseria en Buenos Aires“, in: PBT, 13, 588, 04.03.1916, S. 37-39, S. 37. 59 Ebd., S. 37 f. Das Problem der fotografischen Repräsentation der Armut wurde wie folgt expliziert: „[...] las fotografías no son más que ilustraciones de estas páginas. No pretendemos haber fotografiado ese fenómeno que se llama ‚la miseria en Buenos Aires‘.“
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Arbeits- und Armutsmaßnahmen gemeint, die dem Sparkurs der Regierung in Kriegszeiten zuwider liefen: „Y si la única medida que se reserva para los tiempos difíciles es cortar los gastos superfluos, nada tiene de extraño que la miseria palpite debajo de la dorada corteza de una de las más ricas, grandes y populosas metrópolis del mundo.“60 Auch die reformorientierte Mundo Argentino zeigte sich in diesen Jahren alarmiert von den sozialen Missständen und appellierte in Reportagen, Artikelserien und mittels großformatiger Fotografien und Fotocollagen an die BürgerInnen und die Politik. Eine 1917 in der Rubrik „Actualidades Gráficas“ doppelseitig abgedruckte nächtliche Fotografie des Palacio de Justicia von Buenos Aires, Sitz des Obersten Gerichtshofs von Argentinien, lieferte eine klare visuelle Botschaft: Im Portal, hinter den Säulen und in den Winkeln des Gerichtsgebäudes schliefen Obdachlose zusammengekauert auf den bloßen Steinen und konterkarierten durch ihre Anwesenheit die Idee von Demokratie und Gerechtigkeit, die das Gebäude und seine Institution verkörperten. Die Bildunterschrift kritisierte zudem die Untätigkeit der – nicht weiter spezifizierten – Verantwortlichen: „El horrendo problema que los que puedan resolverlo suponen que no exista.“61 Der sozialreformerische Impetus sprach ebenfalls aus der im Januar 1918 erschienenen Fotoreportage „El angustioso problema de la mendicidad callejera“, welche insgesamt zehn Fotografien von bettelnden Frauen und Kindern zeigte. Auch hier wurde die Präsenz und Sichtbarkeit des Elends in den Straßen der Metropole skandalisiert und zu einem Problem nationaler Dringlichkeit erhoben, wie die Bildunterschrift eines Fotos von einer Bettlerin mit kleinem Kind verdeutlicht: „¿Debemos inmiscuirnos en los ajenos problemas mientras en nuestra propia casa no damos solución a éste?“62 Der Appell richtete sich an bürgerliche und politische Kreise, das innergesellschaftliche Problem der Armut über außenpolitische Belange zu stellen. Auch hier wurde deutlich, dass die biopolitische Intervention national identitätsstiftend geworden war. Ebenso wie in der visuellen Problematisierung von Wohnraumfragen wurde das Thema der Bettelei visuell als Opferdiskurs funktionalisiert, indem maßgeblich Mutter-KindSchicksale dargestellt wurden (siehe dazu Abbildung 6.4). Mutterschaft und Kindheit waren zentrale Elemente im Diskurs um Schutz und Sicherheit der argentinischen Bevölkerung, die in Bezug auf Arbeitsgesetzgebung und soziale Sicherung eine Rolle spielten. Wie Berichterstattung und
60 Ebd., S. 39. 61 „Actualidades gráficas“, in: Mundo Argentino, 7, 323, 14.03.1917, S. 12-13. 62 „El angustioso problema de la mendicidad callejera“, in: Mundo Argentino, 8, 366, 09.01.1918, S. 12-13, S. 13.
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Repräsentationen zu Bettelei in Buenos Aires zeigten, wurden Bettlerinnen zwar in vielen Fällen nicht minder harschen Verurteilungen als ‚sozialen Parasiten‘ unterzogen; gleichzeitig wurden sie als Mütter und Frauen geschlechterdiskursiv als schützenswert dargestellt. Abbildung 6.4
Quelle: Mundo Argentino (1918)
Im Gegensatz zu paternalisierenden Repräsentationen der Armut plädierte die 1917 in PBT publizierte Reportage „Miseria en la opulencia“ von Gregorio A. Moreira nicht für den Schutz, sondern für die Eliminierung einer als Invasion beschriebenen „calamitosa plaga“ und „sordidez ancestral“,wie BettlerInnen in den Straßen von Buenos Aires bezeichnet wurden:
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„Es asombroso que un país como la Argentina, que mantiene las leyes de residencia y defensa social para preservarse de los elementos inconvenientes, no posea ninguna para defenderse de una peste como la mendicidad, malsana fundamentalmente a su economía.“63
Der Aufruf zu einer restriktiven Gesetzgebung, orientiert an den so genannten Leyes de Residencia y Defensa Social, welche Deportationen beziehungsweise Einwanderungsverbote von „extranjeros indeseables“verfügten, befürwortete somit auch den physischen Ausschluss von BettlerInnen aus dem Land unter dem Argument von nationaler Sicherheit und nationalem Wohlstand.64 Wie Ricardo Martínez Mazzola heraushebt, verbanden sich in den exklusionistischen Gesetzen nationale und soziale Fragen, indem die Schuld an der sozialen Konfliktsituation auf ein „otro ‚exótico‘ que importaba los males“ projiziert wurde.65 Auch die ‚Schädlichkeit‘ der BettlerInnen wurde hier auf die Integrität der Nation bezogen und nationale Exklusion aufgrund von sozialer Konflikthaftigkeit gefordert. Auch Zeitung Crítica verfolgte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einen Diskurs der sozialen Schädigung durch ‚falsche‘ BettlerInnen. Ein Kommentar von 1922 bezeichnete die Bettelei darin als „baldón más inmoral, más vergonzoso, más degradante e inhumano que pesa como un cilicio sobre la
63 Moreira, Gregorio A.: „Miseria en la opulencia. Los contrastes de la gran urbe“, in: PBT, 14, 666, 01.09.1917, S. 45. 64 Tobias Schwarz erläutert die Figur des extranjero indeseable in den nationalen Gesetzgebungen von der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten bis ca. 1930, siehe: Schwarz, Tobias: „Políticas de inmigración en América Latina. El ‚extranjero indeseable‘ en las normas nacionales, de la independencia hasta los años 1930“, in: Revista Ecuatoriana de Historia, 36, 2012, S. 39-72. Die Ley de Residencia wurde 1902 verabschiedet und ermöglichte die Ausweisung oder Einreiseverbote jener Personen, die die nationale Sicherheit gefährdeten oder die soziale Ordnung störten. Die Ley de Defensa Social erweiterte die Restriktionen gegen AnarchistInnen und andere Personen, die gewaltsame Angriffe auf die Regierung oder öffentliche Institutionen befürworteten oder ausübten. Vgl. ebd., S. 51 f. Die Gesetze stellten Machtinstrumente zur Unterdrückung der Arbeiterbewegungen dar. Zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der Einwanderungsrestriktionen in ihrer politischen und gesellschaftlichen Dimension siehe: Costanzo, Los indeseables, 2009. 65 Martínez Mazzola, Ricardo H.: „¿Cuestión social o cuestión nacional? Los debates en torno al naciente movimiento obrero“, in: Villavicencio, Susana et.al. (Hg.): Los contornos de la ciudadanía. Nacionales y extranjeros en la Argentina del centenario, Buenos Aires: Eudeba 2003, S. 91-108, S. 104.
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civilización de la sociedad contemporánea“ und als „vergüenza de los siglos y el estigma de la civilización“. Er formulierte einen klaren Appell an die Verantwortlichkeit von PoltikerInnen und staatlichen Stellen, die Bettelei mit allen Mitteln abzuschaffen: „La sociedad que permite en su seno la mendicidad, es una sociedad moralmente inferior.“66 Als besonders gefährlich wurden in einer anderen Reportage der Zeitung jene „falange numerosa“ der betrügerischen BettlerInnen herausgestellt, die man in Buenos Aires ausgezeichnet beobachten könne. Der Artikel betonte, dass es sich dabei um ein neues Phänomen der Bettelei handelte – „una escuela moderna de la mendicidad.“67 Wie sich gezeigt hat, wurde Bettelei in der Presse im Spannungsverhältnis von Arbeit, Lebenskunst und Betrug verhandelt. Darin entwickelten die Berichte entweder ausdifferenzierte Kriterien für eine zu regulierende Integration in die Perspektive moderner Nationalstaatlichkeit oder aber für eine restriktive Exklusion aus der Gemeinschaft. Ganz anders verhielt es sich hingegen mit einem anderen tipo popular, dem atorrante. Dessen Weigerung, sich als produktives und nützliches Mitglied einer modernen Gesellschaft einzugliedern, rief neben den zu erwartenden Abwehrreflexen zugleich Erstaunen sowie eine nostalgische Sympathie hervor. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, konnten über diese Mythenbildung die gesellschaftlichen Bedingungen von Armut entkoppelt und die subalternisierten Menschen romantisiert und darüber in das nationale Narrativ aufgenommen werden.
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FREIWILLIGE
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DER ATORRANTES
Bereits seit den 1880er Jahren kursierten in der argentinischen Presse Berichte und Abbildungen eines bestimmten Typus von Armen, der mit der Bezeichnung atorrante Eingang in die urbane Vorstellungswelt und den argentinischen Sprachschatz fand. Der atorrante unterschied sich in diesen Darstellungen von anderen Armen – sowohl vom Proletariat als auch von so genannten ‚echten‘ oder ‚falschen‘ BettlerInnen. Der Diskurs über den atorrante produzierte, so zeigt dieses Kapitel, zum einen die Diskreditierung von subalternen Taktiken und Lebensformen über soziale Exklusion und zum anderen einen Fluchtpunkt aus der modernen Großstadt und ihren gesellschaftlichen Zwängen für die bürgerlichen LeserInnen.
66 „La mendicidad en Buenos Aires“, in: Crítica, 10, 3021, 16.01.1922, S. 2. 67 „El harapo de oro. La mendicidad en Buenos Aires, profesión lucrativa“, in: Crítica, 12, 4356, 23.11.1924, S. 8.
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Abbildung 6.5
Quelle: La Ilustración Argentina (1884)
Das journalistische Schreiben über den Typus des atorrante begann mit einer Suchbewegung nach seiner Herkunft, seiner Etymologie, seiner sozialen Einordnung und seinen Charakteristika. 1884 titelte La Ilustración Argentina „El atorrante. ¿Quién es? ¿De dónde viene? ¿A dónde va?”.68 Die Illustrierte gab auf zwei Seiten eine ausführliche Klassifizierung von Vorkommen, Gewohnheiten und äußerlichen Zügen des atorrante. Der fundamentale Unterschied zum wahrhaft Bedürftigen bestand demnach darin, dass er einen ‚freiwilligen Pakt mit dem Elend‘ eingegangen sei zugunsten des ‚Genusses eines molligen und faulen Lebens.‘ Die Entscheidung gegen die Verrichtung von Lohnarbeit ging laut dem Artikel auch einher mit einer Entscheidung gegen die Bettelei als Lebensunterhalt, die für den atorrante unter seiner Würde sei. Die Möglichkeit der Arbeitsverweigerung stellten laut der Zeitschrift der natürliche Reichtum des Landes und seine klimatischen Bedingungen: „Aquí la vida es fácil: nadie se muere de hambre por no trabajar. Per ¿y techo para albergarse? ¡Qué mejor techo que nuestro hermoso firmamento! ¡Qué calor mas agradable que el de nuestro sol!“69 Die physische Erscheinung des atorrante wurde ebenfalls als wiedererkennbares
68 Vgl. El atorrante. Quién es? De dónde viene? A dónde va?“, in: La Ilustración Argentina, 4, 20, 20.07.1884, S. 158-160. 69 Ebd., S. 158.
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Charakteristikum beschrieben und in der Tradition der kostumbristischen Typendarstellungen visualisiert (Abbildung 6.5). Mit Verweis auf die Abbildung erläuterte der Artikel die äußere Erscheinung des atorrante folgendermaßen: „Todo lo revela: el aire de indiferencia, la dejadez, de abandono, esa espresión de tristeza y de cansancio estampada en su rostro emboscado en tupida barba que crece impunemente, esa mirada sombriamente iluminada, vaga, incierta, mirada de loco, de idiota: todo lo señala.“70
Das ‚Enthüllende‘ und ‚Kennzeichnende‘ des atorrante waren dem zufolge Verhaltens- und Wesenszüge, die an Blick, Gesichtszügen, Kleidung und Körperpflege abzulesen seien, so zum Beispiel seine Gleichgültigkeit und Idiotie. In dieser frühen Reportage zeigt sich bereits die wirkmächtige Rückkopplung simpler körperlicher Anzeichen von Armut, so zum Beispiel zerlumpte Kleidung und ungepflegtes Äußeres, an Diskurse zu sozialer und psychischer Alterität. 1889 veröffentlichte der Journalist und Arzt Silverio Domínguez einen Artikel in El Río de la Plata, in dem er den Ursprung des seit wenigen Jahren im argentinischen Sprachschatz üblichen Begriffs atorrante erläutern wollte. Seine Erklärung ging zurück auf eine Inspektionsmaßnahme der städtischen Hygieneanstalten (Aguas Corrientes) im Jahr 1883. Ein Angestellter der Behörde untersuchte demzufolge die gelagerten Wasserrohre der Marke A. Torrante im wohlhabenden Stadtteil Recoleta unweit des Río de la Plata, als er darin einige „extraños seres“ entdeckte und sie in einem Ausruf als attorantes bezeichnete. Domínguez beschrieb weiterhin die rasante Verbreitung der Bezeichnung, die innerhalb weniger Jahre bereits in den argentinischen Wortschatz eingegangen sei, um jene Menschen zu bezeichnen „que en nada se ocupa, al que nadie sabe como puede vivir sin trabajar, ni llenar sus necesidades.“71 Ein Jahrzehnt später schrieb der Chefredakteur von Caras y Caretas, José Álvarez, unter einem seiner Pseudonyme, Fabio Carrizo, eine Reportage über das Phänomen der atorrancia in Buenos Aires, wobei seine ersten Gedanken
70 Ebd., S. 159. 71 Domínguez, Silverio: „El atorrante“, in: El Río de la Plata, 25.04.1889, zitiert in: Gobello, José; Bossio, Jorge Alberto (Hg.): El Atorrante, Buenos Aires: Ediciones Del Candil 1968, S. 31-37, S. 32. Die These des Fabrikationsnamens der Rohre übernimmt auch Rafael Huertas García-Alejo in seiner historischen Untersuchung von Delinquenz in den positivistischen Wissenschaften in Argentinien, vgl. ders.: El delincuente y su patología. Medicina, crimen y sociedad en el positivismo Argentino, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas 1991, S. 150.
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ebenfalls dem Ursprung des Begriffs atorrante galten. Er führte seine erstmalige Verwendung auf Eduardo Gutiérrez zurück, den Autor des gauchesken Romans Juan Moreira, der auch als Journalist tätig gewesen war und in einem Artikel der Zeitung La Patria Argentina das Wort atorrante erstmals verwendet habe. Carrizo lobte seine Gewitztheit, seine Anpassungsfähigkeit an das ihn umgebende Milieu, und bezeichnete ihn aufgrund dessen als den idealen Reporter, dem es gelungen sei, erstmals einen Begriff für jene Männer und Frauen zu etablieren, „en quienes la vagancia llega a constituir una enfermedad perfectamente caracterizada hoy.“72 Die Spekulationen um die kreative Urheberschaft der Bezeichnung atorrante, die sich jeweils auf einen Zeitpunkt zu Beginn der 1880er Jahre rückbezogen, sind bezeichnend für die Perspektive von Journalisten und behördlichen Mitarbeitern. Sowohl der namensgebende Ausruf des schockierten Angestellten der städtischen Hygieneanstalten als auch die zukunftsweisende Benennung durch den findigen Reporter waren Geschichten der Entdeckung von einer neuen Bevölkerungsgruppe, die zunächst unbemerkt von der städtischen Gesellschaft existieren konnte und schließlich ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde. Der Diccionario de argentinismos, neologismos y barbarismos, herausgegeben von Lisandro Segovia im Jahr 1911, definierte atorrante als „persona harapienta y sin hogar, que vive generalmente en la mayor abyección y envilecimiento“ und führte den Begriff auf den Soziolekt des Lunfardo zurück, wonach atorrar ‚schlafen‘ bedeute.73 Es kann als wahrscheinlich gelten, dass der Begriff aus dem Sprachgebrauch des Lunfardo entlehnt wurde und im Laufe der journalistischen, wissenschaftlichen und behördlichen Befassung mit den sozialen Typen der Armut mit weiteren Bedeutungen aufgeladen wurde.74 Das Narrativ der Entdeckung und Erstbenennung betonte hingegen das Novum der atorrantes und zeugte von einer zunehmenden Differenzierung zwischen Gruppen der städtischen Armen. Der atorrantismo wurde als spezifisch modernes Phänomen konstituiert, das zunächst festgestellt und benannt wurde, um in der Folgezeit zu einem genau charakterisierten biopolitischen Problem entwickelt zu werden.
72 Carrizo, Fabio: „Los atorrantes“, in: Caras y Caretas, 3, 113, 01.12.1900, S. 34. 73 Segovia, Lisandro (Hg.): Diccionario de argentinismos, neologismos y barbarismos, Buenos Aires: Impr. de Coni hermanos 1911, S. 157. 74 Der Novísimo diccionario lunfardo, herausgegeben von José Gobello im Jahr 2009, unternimmt die gleiche etymologische Rückführung wie Segovia. Neben der Bedeutung „vago que anda de una parte a otra sin oficio“ verzeichnet es zweitens die Bedeutung „ruín, vil, de sentimientos inobles“ und drittens „humilde, de poco valor o entidad“, siehe Gobello; Oliveri, Novísimo diccionario lunfardo, 2009, S. 28 f.
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Die atorrantes der Ränder Der atorrante avancierte in der Magazinpresse – gemessen an der Häufigkeit von Reportagen, Porträts, Karikaturen und fotografischen Abbildungen in Relation zu anderen sozialen ‚Typen‘ – gewissermaßen zum Lieblingskind der Reporter. Sie kreierten in ihm eine Figur, die es immer wieder zu entdecken, zu charakterisieren und zu befragen galt und deren Geschichten als fremd, absurd, abstoßend und gleichzeitig anziehend erzählt wurden. Die journalistischen Berichte hatten in vielen Fällen explorativen Charakter, insofern die Reporter ihr subalternes Gegenüber in unzugänglichen Orten auffinden mussten, sei es an den Rändern der Stadt und an den Flussufern, auf brach liegenden Grundstücken und Baustellen oder auch in den ruhelosen Straßen des Stadtzentrums. Der abenteuerliche Charakter wurde besonders dann hervorgehoben, wenn Reporter und Fotografen sich zu infrastrukturell nicht erschlossenen Orten aufmachten, um die atorrantes in ihren typischen Lebensräumen aufzusuchen. Diese Expeditionen, so beispielsweise zu den BewohnerInnen des Flussufers des Río de la Plata, vor allem aber zu den Einzelgängern, die in Höhlen oder selbst gebauten Hütten an vermeintlich abgeschotteten Orten hausten, bereicherten die Reportagen um Anschauungen und Visualisierungen von Erlebnissen der Reporter.75 Insbesondere die gemeinsamen fotografischen Abbildungen mit den so genannten atorrantes verwiesen auf den Charakter des Reporters als Entdecker. Abbildung 6.6 ist ein typisches Beispiel für den Bildaufbau solcher Fotografien, die in dieser Art von Reportagen, speziell in Caras y Caretas, PBT und Fray Mocho, verwendet wurden. Die Abbildung zeigt den „filósofo de los perros“ perspektivisch in der Totale, so dass sein Umfeld inklusive seiner Hütte und dem umgebenden Wald zu sehen sind. Am linken Bildrand im Vordergrund steht der Reporter mit einem breiten Lächeln und in die Hüften gestemmten Händen seitlich der Kamera zugewandt. Er nimmt damit eine Position ein, die erstens durch den Kontrast von Bildrand und -mitte sowie von stehender und sitzender Pose deutlich macht, dass er selbst nicht Teil des räumlichen Settings ist, es jedoch dominiert. Der Reporter erscheint als Handelnder, während der Mann mit den Hunden zum bloßen Objekt der Betrachtung wird. Der bildlichen Repräsentation entsprach die textliche Beschreibung des ‚Philosophen‘: Er sei ein „prófugo del ruido, [quien] mira pasar las horas, una á una. Y las mira pasar con indiferencia patriarcal, indolente y sereno como un gato. ... Y vive feliz, alimentando su alma
75 Siehe beispielsweise Sargento Pita, Paseos fotográficos por el municipio, 09.08.1902; und „El hombre de la choza“, in: Caras y Caretas, 7, 279, 16.01.1904.
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con el placer de un amor único. El amor de sus perros. Ama á sus perros con pasión feminina.“76
Zusätzlich zur Repräsentation von räumlich-sozialer Distanz zur urbanen Gesellschaft betonte die Reportage damit die Nähe des atorrante zum Tierischen und verband mit der Artikulation der Speziesgrenze auch dessen geschlechtliche Alterität. Abbildung 6.6
Quelle: Caras y Caretas (1905)
Urbane atorrantes Im Gegensatz zu den gesellschaftlich isolierten, am Stadtrand oder zumindest in abgelegenen Gegenden der Stadt lebenden Einzelgängern und Aussteigern wurden atorrantes im Stadtzentrum stärker in Hinsicht auf ihre soziale Schädlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl problematisiert. Die Reportage „Restaurant al aire 76 „En el domicilio del filósofo“, in: Caras y Caretas, 8, 343, 29.04.1905, S. 41.
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libre“, 1914 in Caras y Caretas erschienen, beschrieb das Eindringen von atorrantes aus räumlich entfernten Gebieten außerhalb der Stadt über periphere Stadtteile hin zu den verlassenen Bauruinen von Palermo bis in das städtische Zentrum als neues und aufsehenerregendes Problem: „Ahora nos encontramos con una curiosa y nueva congregación atorrantil, en pleno centro de la metrópoli. Unos ocho o diez hombres forman esta incolora camarilla, que anda dispersa por los mercados, y solamente se reúne al mediodía, cuando el hambre les hace más familiares y van a recoger los restos del almuerzo que les dan los puesteros del mercado del Plata.“77
Die urbanen atorrantes wurden als „nota obscura en el multicolor cuadro urbano“ beschrieben und als „ex hombres“ tituliert, die unter sich blieben, ihr Überleben als Nutznießer der anderen sicherten, laut und aggressiv auftraten und gleichgültig gegenüber den spöttischen Reaktionen der Leute waren. Ein atorrante der Gruppe tanzte auf der Straße gar den „tango de los negros“ mitten am Tag. Im Verhältnis zu den Reportern wurde insbesondere die Würde und Überlegenheit betont, mit der die atorrantes ihre Kooperation verweigerten. Auf den Versuch einer Befragung, die der Verfasser der Reportage mit freundschaftlicher Geste – „tratando de ser su amigo“ – unternahm, wurde folgende Reaktion eines atorrante geschildert: „tomó aire de dignidad suprema, y sin responder a las preguntas que le hacía, se marchó con gravedad mirando de reojo a la media docena de curiosos que nos habían rodeado.“ Bei einem weiteren atorrante namens Canalejas handelte es sich um „otra digna personalidad atorrantil que desprecia a las entrevistas periodísticas y se ríe del afán que demuestran tantos hombres para que la posteridad conozca su nombre.“78 Der beschriebene Widerstand gegen die mediale Repräsentation wurde auch in den insgesamt neun Fotografien vermittelt, welche die atorrantes einzeln oder in Gruppen zeigten. Es handelte sich, wenn man der Reportage Glauben schenkt, um Momentaufnahmen auf der Straße, perspektivisch in der Totale oder Halbtotale aufgenommen. Laut der Bildunterschrift einer der Fotografien (Abbildung 6.7) hatte der Fotograf Mühe, seine Objekte zu fokussieren, da sie ihn ‚an der Nase herumführten‘. Die Verweigerung des Posierens für die Journalisten und
77 Fuster Castresoy, Santiago: „Restaurant al aire libre“, in: Caras y Caretas, 17, 801, 07.02.1914, S. 59-60. 78 Ebd.
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die Verachtung gegenüber der medialen Repräsentation lassen also auf ein autonomes, widerständiges Bewusstsein der Subalternen schließen.79 Abbildung 6.7
Quelle: Caras y Caretas (1914)
Dass es die Partizipation der Porträtierten nicht brauchte, zeigte bereits die 1906 publizierte Reportage „La vida barata“, welche die Überlebensstrategien jenseits von Lohnarbeit und Bettelei in den Blick nahm und diese als grundlegendes Merkmal des atorrante definierte. Sie nahm ein Gedankenspiel vor, bei dem sich Leser und Leserinnen den Tageslauf als atorrante vorstellen sollten, den sie mit inszenierten Fotografien zu den einzelnen Stationen vor Augen geführt bekamen: „Supongamos que el lector sea un grandísimo atorrante. ¿Qué hace, en este caso, el muy atorrante del lector?“80 Nachfolgend wurden chronologisch das Nichtstun am Morgen, das Lesen der Zeitungsauslagen, das Auflesen halb gerauchter Zigaretten, die Mahlzeiten bei karitativen Einrichtungen und schließlich die nächtliche Unterkunft im Obdachlosenheim als günstiger und unbeschwerter Lebenswandel beschrieben.
79 Zum widerständigen Potenzial der Dargestellten in der sozialdokumentarischen Fotografie siehe: Leicht, Michael: Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte. Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie, Bielefeld: transcript 2006. 80 Humo, Marcoa: „La vida barata“, in: Caras y Caretas, 9, 423, 10.11.1906, S. 39.
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Die Freiheit der atorrantes Die Bewertung des atorrante in den Berichten der Magazinpresse fiel stets zwiespältig aus: Selbst die heftigsten Verurteilungen als „parásito social inútil“ waren gleichzeitig von nostalgisierender Wortwahl durchzogen, die sich vor allem auf seine Mobilität ‚unter dem Himmelszelt‘ bezog.81 Die Figur des atorrante diente als Projektionsfläche für eine Sehnsucht nach Freiheit und nach der Flucht aus dem regulierten und modernen Großstadtleben. PBT beschrieb die atorrantes auf dem Paseo de Julio als „libres, como la fantasía, y felices como el bien que no tiene reinos y dominios, ni súbditos ni señor”; sie bewahrten „el más bello ideal de los hombres; el de saber gozar de su libertad“.82 Der Aspekt der Freiheitsliebe war unmittelbar verbunden mit der Vorstellung eines freiwillig gewählten Lebensstils beziehungsweise mit einem Lebenswandel der Individuen, der aus der gesellschaftlichen Ordnung in eine nicht regulierte Freiheit geführt habe. Bereits die Typendarstellung in La Ilustración Argentina aus dem Jahr 1884 bezeichnete die Existenz des atorrante als Ergebnis eines sozialen Abstiegs aus den gehobenen Gesellschaftsschichten. Seine vorherige Existenz sei die eines „caballero de frac“ gewesen, der die „salones del mundo“ frequentiert habe und ein kulturelles und intellektuelles Erbe bewahre.83 Der Diskurs der freiwilligen Armut prägte das Bild des atorrante maßgeblich. Die erste ausführliche Bestandsaufnahme des Phänomens der atorrantes, welche die Reportage von Fabio Carrizo für Caras y Caretas 1900 aufnahm, beschrieb sie in diesem Sinne als „gentes que [...] por desabrimiento de la vida, por voluntad, abandonan los halagos y comodidades que pueden brindarles sus recursos ó sus familias y se retiran á un paraje solitario á llevar una existencia exenta de las molestias que pueden producir en su organismo las exigencias de la vida diario.“84
In biografischen Anekdoten einzelner atorrantes wurde ihre Armut als Resultat persönlicher Lebensentscheidungen und -geschichten individualisiert: Ein Familienvater flüchtete von Zeit zu Zeit aufgrund seiner „pasión del andrajo y de la basura” aus seinem Zuhause, ein wohlhabender Geschäftsmann brach gänzlich mit seinem komfortablen Leben, ein Arbeiter verdient wenige Monate pro Jahr
81 Vgl. Cárdenas, Eustaquio M.: „El atorrante“, in: Mundo Argentino, I, 26, 05.07.1911, S. 9. 82 „Los atorrantes en el Paseo de Julio“, in: PBT, 10, 463, 11.10.1913, S. 71. 83 El atorrante, 20.07.1884, S. 159. 84 Carrizo, Los atorrantes, 1900, S. 34.
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sein Geld, um den Rest des Jahres aufgrund seiner „mania ambulatoria“ durch die Stadt zu vagabundieren.85 Die Zeitung Crítica führte die Tradition der individuellen Schicksalsbiografien der Atorrantes in den 1920er Jahren fort. In interviewbasierten Reportagen der Rubrik „Novelas de humildades“ kamen atorrantes zu Wort, die ihr Leben in Armut als Konsequenz aus tragischen Liebesgeschichten begründeten.86 Andere sprachen von ihrer Erkenntnis, dass Lohnarbeitsverhältnisse sich nicht rentierten – die Einrichtung des Departamento Nacional de Trabajo, jener ersten Behörde zur Verrechtlichung von Arbeitsverhältnissen, verspottete ein Interviewter lediglich.87 Der Aspekt der freien Wahl eines Lebens in Armut zugunsten einer Befreiung von den Anfordernissen des ‚normalen‘ oder alltäglichen Lebens bedeutete eine fundamentale Unterscheidung der atorrantes von jenen Armen, die Teil des Proletariats waren oder aus dem Arbeitsleben herausgefallen waren. Anders formuliert: Der Diskurs des atorrantismo bot die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Formen der Armut unter Ausblendung sozioökonomischer Zusammenhänge. Er schuf damit den Boden für die Diskreditierung subalterner Taktiken und Lebensformen der Armen.
85 Ebd. 86 Ein interviewter atorrante berichtete beispielsweise von einem Bruch in seiner Lebensgeschichte, der ein glückliches Leben mit einer guten Arbeitsstelle und einer Familie mit zwei Kindern vorangegangen war. Seine Ehefrau hatte ihn demzufolge mit seinem Vorgesetzten betrogen, woraufhin der Mann sich aus Enttäuschung und Schmerz dazu entschied, ‚jenseits der Menschheit‘ sein Leben zu verbringen. Vgl. „Novelas de humildades. Lejos del mundanal ruido“, in: Crítica, 10, 3015, 13.01.1922, S. 3. In der darauf folgenden Woche wurde eine weitere autobiografische Schilderung veröffentlicht, die auf eine enttäuschte Liebe zurückging. Vgl. La historia de un atorrante. El dolor de un hombre“, in: Crítica, 10, 3031, 25.1.1922, S. 3. 87 Vgl. Lesmora: „El rey de los atorrantes. Las teorías de Lafargue, sostenidas por un inquilino de la Plaza del Congreso“, in: Crítica, 11, 3737, 11.03.1923, S. 15.
„La fuerza viva de la nación“ – Gefährliche Kinder und gefährdete Kindheit
Kinder waren in der Magazinpresse omnipräsent. Sie erschienen ausstaffiert mit gerüschten Kleidern und Dekor in Bildergalerien über den aristokratischen Nachwuchs, transportierten Werbebotschaften für Süßwaren oder Waschmittel und wurden als reizvolle PreisträgerInnen von Schönheitswettbewerben gezeigt. Gleichzeitig wurden Kinder selbst zum Lesepublikum von Zeitschriften, indem etwa Magazine wie PBT Karikaturen, Kindergedichte und -geschichten in ihr Programm aufnahmen und darüber hinaus viele Rubriken altersübergreifend gestaltet wurden.1 Vor allem wurden Kinder aber zu einer Projektionsfläche für die gesellschaftlichen Umbrüche und sozialen Probleme der urbanen Gegenwart. Kaum einer Ausgabe aller untersuchten Magazine fehlte es an Artikeln, die von Kindern in Armutsverhältnissen, Kindern als Opfer von Gewalttaten und Familiendramen, Straßenkindern, vernachlässigten Kindern, Waisenkindern, straffälligen Kindern, Kindern mit Behinderungen, Kinderarbeit, Kindersterblichkeit, bettelnden Kindern, Kindern in Waisenhäusern, Gefängnissen, Besserungsanstalten, Schulen oder Krankenhäusern handelten. Die cuestión infantil, wie verschiedene AutorInnen diesen Problemkomplex bezeichneten, wurde in der Magazinpresse in allen ihren Facetten betrachtet, visualisiert, diskutiert und verbreitet.2 1
Mit der Differenzierung der Zeitschriftenkultur gründeten sich bereits vor dem Aufkommen der modernen Magazinpresse in den 1880ern illustrierte Zeitschriften, die sich explizit an Kinder richteten und neben humoristischen Elementen vor allem pädagogische und moralische Ansätze vertraten, siehe dazu: Szir, Sandra M: Infancia y cultura visual. Los periódicos ilustrados para niños (1880-1910), Madrid, Buenos Aires: Miño y Dávila 2006.
2
Die Bezeichnung verwendet beispielsweise María Alejandra Silva Kusy in ihrem sozialhistorischen Überblick über die Kinderarbeit in Argentinien, vgl. dies.: „Infancia y traba-
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Das folgende Kapitel untersucht, wie die Problematisierung von Kindern und Jugendlichen im Magazinjournalismus biopolitischen Charakter gewann.3 In der Frage der Kindheit, so wird gezeigt, wurden defizitäre Familienverhältnisse als Problem herausgestellt, die Rolle von Wohlfahrtsorganisationen evaluiert und aufgewertet und letztlich an die Notwendigkeit eines fürsorglichen Staates appelliert. Das ‚alte‘ Modell einer durch christliche Werte und sozialen Status geprägten Wohltätigkeit wurde in der medialen Vorstellung nicht abgelöst, sondern ergänzt durch einen paternalistischen und interventionistischen Staat. Besonders in Bezug auf die Internierung ‚delinquenter‘ Kinder und Jugendlicher zeigt sich
jo infantil en la historia argentina“, in: Clivajes, 1, 1, 2014. Marcos Urcula verwendet den Begriff der cuestión infantil für das Zusammenspiel bestimmter Diskurse, Konzepte und Praktiken gegenüber der minderjährigen Bevölkerung, das sich im 20. Jahrhundert im Kontext sozioökonomischer Veränderungen immer wieder neu konstellierte. Vgl. ders.: „La figura del ‚niño de la calle‘ como emblema de la época“, in: Regiones, 8, 46, 2011, S. 10-16. 3
Der Begriff der Jugend (juventud), bzw. der Jugendlichen (jóvenes), erlangte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ebenfalls soziokulturelle Bedeutung, insbesondere als Phase der sexuellen Entwicklung, vgl. Potthast, Barbara; Carreras, Sandra: „Introducción. Niños y jóvenes entre la familia, la sociedad y el Estado“, in: Dies. (Hg.): Entre la familia, la sociedad y el estado. Niños y jóvenes en América Latina (siglos XIXXX), Madrid, Frankfurt am Main: Vervuert 2005, S. 7-24, S. 11. Valeria Manzano erläutert einleitend in ihrer Studie über Jugend in Argentinien in den 1950er bis 1970er Jahren, dass es auch vor ihrem Untersuchungszeitraum eine öffentliche und mediale Präsenz von Jugendlichen in Argentinien gegeben habe: bei den studentischen Protesten von 1918, seit den 1920ern innerhalb des Partido Socialista und des Partido Comunista, in der Mode der flapper girls, die in den 1920ern auch in Argentinien ankam und bei den so genannten petiteros der 1940er Jahre, die den Tango gegen den Jazz eintauschten. Seit den 1950er Jahren verstand sich Jugend Manzano zufolge aber erst als eigentliche kulturelle und politische Kategorie: „Yet it was only in the mid-1950s that an age of youth really began.“ Manzano, Valeria: The Age of Youth in Argentina. Culture, Politics, and Sexuality from Perón to Videla, Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press 2014, S.2. In dieser Arbeit wird der Begriff der Jugendlichen allerdings anachronistisch für Personen im Lebensalter zwischen circa zwölf und 20 Jahren herangezogen. Rechtlich gesehen wurde nach dem Código Civil von 1872 zwischen menores impúberes unter 14 Jahren und menores adultos zwischen 14 und 22 Jahren unterschieden, vgl. dazu Carreras, Sandra: „‚Hay que salvar en la cuna el porvenir de la patria en peligro…‘. Infancia y cuestión social en Argentina (1870-1920)“, in: Potthast; Carreras, Entre la familia, 2005, S. 143-172, S. 143.
G EFÄHRLICHE K INDER UND GEFÄHRDETE K INDHEIT
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deutlich, dass die Magazinpresse eine aktive Rolle im Übergang von einem disziplinären Strafregime hin zu einer juristischen und institutionellen Schutz- und Reformierungsfunktion wahrnahm. Schließlich werden anhand der populären Figur des canillita, so die Bezeichnung für ZeitungsverkäuferInnen auf der Straße, die Brüchigkeit von Diskursen zu Kinderschutz und Kinderarbeit analysiert und gezeigt, wie der canillita zur integrativen Figur der problematisierten Kindheit in der Magazinpresse avancierte. Im Gegensatz zu einer Geschichtsschreibung, welche die Relevanz der cuestión infantil an der erfolgreichen Implementierung von Gesetzen oder der umfassenden Einsetzung von Institutionen misst und dabei oft zu einem ernüchternden Ergebnis kommt, kann eine diskursanalytische Untersuchung der journalistischen Quellen im soziokulturellen Kontext einen fundamentalen Wandel der Bedeutung von Kindheit im frühen 20. Jahrhundert ausmachen.4 Kindheit wurde in dieser Zeit zu einem fragmentierten Begriff, der Kinder in verschiedene Kategorien entlang Zuschreibungen von sozialer Gefährdung und Gefahr unterteilte. Kinder wurden im Blick von Presse, Wissenschaft und Institutionen zu einem Bevölkerungssegment, über die ein neues Wissen produziert wurde und die auf eine eigene Weise regiert werden musste. Entsprechende Reformen scheiterten dabei oft an politischen Widerständen oder schlicht an Budgetfragen und konnten sich oftmals erst im peronistischen Wohlfahrtsstaat durchsetzen. Die Problematisierung der ‚fragmentierten Kindheit‘ und der Wunsch nach der Auflösung dieser Fragmentierung zugunsten der Förderung zukünftiger argentinischer StaatsbürgerInnen wurde jedoch bereits zuvor als Aufgabe staatlichen Handelns konstituiert. Wie eine Reportage über die Situation von minderjährigen ‚DelinquentInnen‘ schrieb, standen diese für „una fuerza viva de la nación; [] su mejor riqueza, la más positiva. ¿Puede el Estado permanecer indiferente cuando se la pervierte?”5
4
Zur Untersuchung von Konzepten zu Kindheit in Mexiko zwischen 1880 und 1920 stellt Alberto del Castillo Troncoso eine sehr fruchtbare Analyse von wissenschaftlich-institutionellen Diskursen der Medizin und Pädagogik auf der einen Seite und journalistischen Diskursen und Repräsentationen auf der anderen Seite an. Er kann zeigen, dass die Lesarten und Vorstellungen von Kindheit sich im Journalismus zunehmend von dem Blick der SpezialistInnen lösten, multiplizierten und fragmentierten. Vgl. Castillo Troncoso, Conceptos, imágenes y representaciones, 2006, S. 259 f.
5
Sierra, Vicente D.: „El Estado, la familia y el menor“, in: Mundo Argentino, 6, 305, 08.11.1916, S. 8.
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D IE S ORGE
UM DIE
K INDHEIT
Dass Kindheit nicht einfach eine natürlicher, biologischer Abschnitt im Leben eines Menschen ist, sondern einen wandelbares und historisierbares Konzept darstellt, das zu unterschiedlichen Zeiten und Kontexten verschiedene kulturelle Bedeutungen einnehmen konnte, ist heutzutage Konsens in der historischen Forschung, die sich mit dem Thema beschäftigt.6 So schicken Isabella Cosse et.al. ihrem Sammelband über Kindheiten in Argentinien und Brasilien folgende Begriffsbeschreibung voraus: Kindheit wird dort als „expresión cultural particular, histórica, políticamente contingente y sujeta a cambios“7 für historische und aktuelle Betrachtungen operationalisierbar gemacht. Das Fundament für diskursanalytische Überlegungen zur Geschichte der Kindheit legte Philippe Ariès mit seiner Perspektive der Longue Durée auf die ‚Entdeckung‘ der Kindheit, die 1960 in seinem Buch unter dem Originaltitel L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime erstmals publiziert wurde. Darin zeigt er auf, dass es erst seit der Neuzeit eine kategoriale Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen gegeben habe. Im Mittelalter gehörte das Kind Ariès zufolge, sobald es ohne die ständige Fürsorge seiner Mutter, seiner Amme oder seiner Kinderfrau leben konnte, der Welt der Erwachsenen an und genoss keine eigene soziokulturelle Bedeutung. Ariès beschreibt einen grundlegenden diskursiven Wandel im 17. Jahrhundert in Europa, in dem das Kind nun „allein und um seinetwillen“ dargestellt wurde und sich eine neue Einstellung zum Kind als „zerbrechliche[s] und bedrohte[s] Wesen“ durchsetzte.8 Die Vorstellung der kindlichen Unschuld verbreitete sich als Bild und als Norm in den pädagogischen Diskursen des 17. Jahrhunderts und wurde im 18. Jahrhundert von Hygiene und Medizin aufgegriffen. Ariès’ These der ‚Erfindung‘ der Kindheit als Produkt der Moderne hat die lateinamerikanische Forschung seit den 1990er Jahren inspiriert, zugleich wurde aber auch ihre
6
Einen guten Überblick zur Geschichte der Kindheit in Argentinien bieten: Potthast; Carreras, Entre la familia, 2005; Cosse, Isabella et.al. (Hg.): Infancias. Políticas y saberes en la Argentina y Brasil: Siglos XIX y XX, Buenos Aires: Teseo 2011; Carli, Niñez, pedagogía y política, 2002; Ciafardo, Eduardo O.: Los niños en la ciudad de Buenos Aires. 1890/1910, Buenos Aires: Centro Editor de America Latina 1992.
7
Cosse, Isabella et.al.: „Introducción“, in: Dies., Infancias, 2011, S. 11-28, s. 12.
8
Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, München: DTV 2014 [1960]. Ariès exemplifiziert das neue Bild der Kindheit vielfach an kunsthistorischen und anderen ikonografischen Werken, betrachtet diese aber in ihrer repräsentativen Funktion als Abbildung intellektueller und populärer Diskurse. Ebd., S. 109.
G EFÄHRLICHE K INDER UND GEFÄHRDETE K INDHEIT
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Begrenztheit und die Notwendigkeit einer dynamischeren Betrachtung deutlich gemacht, die der historischen Pluralität von kulturellen Vorstellungen über die Kindheit gerecht wird.9 Die Kategorie der menores In der Zeit zwischen 1880 und 1920 kristallisierten sich in Argentinien unterschiedliche Vorstellungen von Kindheit heraus, die als dichotome Kategorien von niños/niñas auf der einen Seite und menores auf der anderen Seite analysiert wurden.10 Diese Kategorisierung kann anhand der Untersuchung der Magazinpresse in der Verwendung der Quellenbegriffe bestätigt werden. Obwohl es sich um keine durchgehende, einheitliche und klar abgrenzbare Terminologie handelte, wird das Begriffspaar im Folgenden als Analysekategorie bestimmter Diskurse zu Kindheit benutzt: Während das Konzept der niños/niñas insbesondere auf ihre Eigenschaften als SchülerInnen im pädagogischen Bereich sowie auf ihre Qualität als Töchter und Söhne im familiären Zusammenhang bezog, galt die Zuschreibung menores als Kategorie für Kinder, die als arm, vernachlässigt, verwaist oder delinquent galten. Die menores wurden bereits aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu (sub-)proletarischen Schichten mit einer Gefährdung der sozialen Ordnung identifiziert und wurden zu einem bedeutenden Interventionsobjekt der positivistischen Intellektuellen und sozialreformerischen AkteurInnen.11 In der Problematisierung der menores spielten drei Instanzen eine wichtige Rolle: Die Familie, Wohltätigkeitsorganisationen und der Staat. Im Diskurs über
9
Die Kritik an einer ‚Erfindung‘ der Kindheit ex nihilo und der Gleichsetzung des kulturellen Konstrukts ‚Kindheit‘ mit der historisch spezifischen Kindheit der Moderne teilen Cosse, Infancias, 2011, S. 11.
10 Vgl. dazu Carli, Niñez, pedagogía y política, 2002; Zapiola, ¿Es realmente una colonia?, 2006; Aversa, María Marta: „Infancia abandonada y delincuente. De la tutela provisoria al patronato público (1910-1931)“, in: Lvovich, Daniel; Suriano, Juan (Hg.): Las políticas sociales en perspectiva histórica. Argentina, 1870-1952, Buenos Aires: Prometeo Libros 2006, S. 89-108. Zapiola verdeutlicht, dass die Problematisierung der menores seitens der Eliten bereits in den 1870ern begann, also bereits vor der massiven Urbanisierung und vor der Verbreitung von Positivismus und Kriminologie, vgl. dies., ¿Es realmente una colonia?, 2006, S. 68. Die Begrifflichkeit der menores und minoridad gehe auf den Kongressabgeordneten Onésimo Leguizamón zurück, der sich für die Einrichtung von Reforminstitutionen für Kinder in Buenos Aires einsetzte und als erster die Bezeichnung menores in die parlamentarischen Debatten einbrachte, vgl. Ebd., S. 75. 11 Vgl. Aversa, Infancia abandonada y delincuente, 2006, S. 90.
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die minoridad avancierte die Familie mehr und mehr zum Objekt der Kritik, insofern in den moralischen und materiellen Missständen der Familie die Ursache für die ‚infancia desviada y delincuente‘ gesucht wurde. Die Fürsorgeeinrichtungen wurden von der Magazinpresse in zunehmendem Maße aufgewertet und als VerantwortungsträgerInnen für die ‚gefährdete Kindheit‘ angerufen. So berichteten die Magazine fortlaufend über tragische Kinderschicksale in Armuts- und Gewaltverhältnissen. Fray Mocho führte den Fall von drei Geschwistern zwischen zwei und vier Jahren aus, deren Mutter gestorben war und deren Vater sie aufgrund seiner miserablen Situation, „tirado en la calle, sin trabajo y sin pan“, ausgesetzt habe, wie dieser in einem Schreiben erklärte.12 Die Zeitschrift kritisierte, wie nüchtern der Fall in der Tagespresse aufgenommen worden war, die das Schicksal der Kinder dartsellte als „cuadra a un hecho de repetición vulgar, con el que nos ha familiarizado la costumbre.“13 Die Reportage appellierte hier an das Mitgefühl der LeserInnen und skandalisierte die Ignoranz von Öffentlichkeit und Behörden gegenüber dem Massenphänomen der infancia abandonada. Der Artikel zeigte neben einer Fotografie der ausgesetzten Kinder das Bild eines Polizeibeamten, der die Kinder der Bildunterschrift zufolge an einer Straßenecke aufgegriffen hatte (Abbildung 7.1). Es handelte sich dabei um eine Visualisierung als Retter, wie sie in Reportagen über Unfälle und Verbrechen häufig den Bildern der Opfer zur Seite gestellt wurde und ihren Einsatz honorierte. In der Mitte des Artikels waren die drei Kinder abgebildet, die auf einer verzierten Mauer saßen und an ihrer uniformierten Kleidung und geschorenen Haaren als Insassen der Casa de Expósitos zu erkennen waren.14 Die Reportage visualisierte damit zum einen staat-
12 „Una prole abandonada“, in: Fray Mocho, 6, 308, 21.03.1917, S. 16. 13 Ebd. Der Artikel druckte zur Veranschaulichung eine Meldung der Tagespresse ab, welche den Fall der verlassenen Kinder und ihr Aufgreifen durch einen Polizeibeamten kurz wiedergab. 14 Die Casa de Expósitos war bereits 1779 als erste (kolonial)staatliche Fürsorgeeinrichtung gegründet worden und intervenierte damit in die bis dato ausschließlich kirchliche Praxis der Wohltätigkeit. Sie funktionierte als Aufnahmestelle und Heim für ausgesetzte Kinder, die das System des torno praktizierte – einer Art Drehkabine in der Außenmauer des Gebäudes, in die neugeborene Babys von ihren Müttern anonym abgegeben werden und auf der anderen Seite in Empfang genommen werden konnten. Die Verwaltung des Kinderheims wurde 1784 der Hermandad de la Santa Caridad de Nuestro Señor Jesucristo überantwortet und war damit bis zur Unabhängigkeit Argentiniens stark katholisch geprägt. Eine überblicksartige Darstellung der institutionellen Entwicklung von Fürsorgeeinrichtungen in Argentinien
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liche Behörden als Schutzinstanz und Fürsorgeinstitutionen als verantwortliche Akteurinnen gegenüber der menores auf der anderen Seite, wobei sie das Lesepublikum in die Neubewertung dieses Verhältnisses mit einbezog. Abbildung 7.1
Quelle: Fray Mocho (1916)
Große Besorgnis erregte auch die hohe Zahl von Straßenkindern, die ohne ihre Familien lebten, sich mit anderen Kindern zusammenschlossen und ihr Überleben oftmals als StraßenverkäuferInnen oder DienstleisterInnen sicherten. Typische Berufe von Straßenkindern waren etwa SchuhputzerInnen und ZeitungsverkäuferInnen – so genannte canillitas, die als Archetypen von menores und niños zugleich repräsentiert wurden, wie an späterer Stelle gezeigt wird. Eine Problematisierung der Kinderarbeit selbst wurde in der Magazinpresse allerdings kaum geäußert; erst in den 1910er Jahren druckte Mundo Argentino vereinzelt kritische Berichte über die Ausbeutung von Kindern in Fabriken und Werkstätten sowie in Privathaushalten ab; der informelle Sektor blieb in dieser Hinsicht unbeanstandet.15 Damit ignorierte die Magazinpresse lange die Aktivitäten seitens sovon der ausgehenden Kolonialzeit bis zum Peronismus bietet Moreno, Dos siglos de política social, 2004. 15 In einer Reportage über die Beschäftigung von Mädchen als Haushaltshilfen und Kindermädchen kritisierte Mundo Argentino die ‚Sklavenarbeit‘ der armen Kinder in rei-
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zialistischer und anarchistischer AkteurInnen und Presseorgane, die seit den 1890er Jahren für eine gesetzliche Einschränkung der Kinderarbeit kämpften und mit einer ersten gesetzlichen Regulierung der Arbeitsbedingungen von Kindern und Frauen 1907 politischen Erfolg hatten.16 Der Diskurs über die menores in der Magazinpresse funktionierte weitgehend abgekoppelt von einer Frage ihrer sozialen Rechte. Er basierte auf einer „lógica asistencialista“,17 wie sie die Wohltätigkeitsorganisationen in Argentinien mittels Versorgungsleistungen insbesondere gegenüber Kindern verfolgten. Juan Carlos Aguilo zeigt, dass dieser Logik zufolge die Begünstigten nicht als Personen mit bestimmten (sozialen) Rechten betrachtet wurden, sondern dass es primär um die „buena voluntad“ der WohltäterInnen ging.18 Demzufolge zeigten Darstellungen von menores außerhalb der Fürsorgeinstitutionen vor allem deren Mittellosigkeit und Hilflosigkeit und appellierten dafür, die materielle und soziale Leerstelle der fehlenden Familie institutionell auszufüllen.
chen Haushalten, vgl. „La esclavitud en nuestros tiempos. Los niños sometidos a los horrores del servicio doméstico“, in: Mundo Argentino, 8, 383, 08.03.1918. 16 Wie Juan Suriano nachzeichnet, forderte das Comité Internacional Obrero, gegründet von deuschen Sozialisten in Buenos Aires, bereits 1890 das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren und eine maximale Arbeitszeit von sechs Stunden täglich für Kinder zwischen 14 und 18 Jahren. Die sozialistische Zeitung La Vanguardia ebenso wie das anarchistische Presseorgan La Protesta trieben eine langjährige Kampagne für Kinderschutzbestimmungen im Arbeitsmarkt voran. Sie argumentierten mit der physischen, moralischen und mentalen Behütung der Kinder, gleichzeitig aber auch mit einem drohenden Lohnverfall. Die Ley 5.291, die der sozialistische Abgeordnete Alfredo Palacios 1904 in die Cámara de Diputados eingebracht hatte, wurde 1907 verabschiedet und sah neben einem Mindestalter von 14 Jahren für die Fabrikarbeit und 12 Jahren für Berufsausbildungen in Fürsorgeinstitutionen Einschränkungen der täglichen Arbeitszeiten für Kinder und Frauen, ebenso wie Mutterschutzbestimmungen vor. Vgl. Suriano, Juan: „El trabajo infantil“, in: Torrado & Nun, Población y bienestar, 2007, S. 353-382, S. 364 f. Die informelle Arbeit von Kindern unter 14 Jahren als StraßenverkäuferInnen wurde im Jahr 1924 mit der Ley 11.317 verboten, bestand aber über das gesamte 20. Jahrhundert und darüber hinaus weitgehend fort, vgl. Ebd., S. 360. Zur Geschichte der Kinderarbeit in Argentinien siehe auch: Silva Kusy, Infancia y trabajo infantil, 2014. 17 Aguilo, Juan Carlos: Políticas Sociales en Argentina. De la Sociedad de Beneficiencia a la focalización compulsiva, Mendoza 2005, S. 13. 18 Ebd.
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Abbildung 7.2
Quelle: Mundo Argentino (1916)
Mundo Argentino zeigte auf seinen Titelseiten wiederholt Kinder in sozialer Not, so auch die Aufnahme von vier Jungen, die vor und hinter der Balustrade eines Gebäudes auf dem blanken Steinboden schliefen (Abbildung 7.2).19 Dies ist umso bemerkenswerter, insofern die Zeitschrift ab 1920 die Visualisierung sozialer Probleme auf ihren Titelseiten aufgab und stattdessen Schauspielerinnen, Tänzerinnen oder andere Persönlichkeiten des kulturellen Lebens abdruckte.20
19 Vgl. „La noche de los niños pobres“, in: Mundo Argentino, 6, 300, 04.10.1916, S. 1. 20 In den Anfangsjahren ihres Erscheinens von 1911 bis ca. 1913 gestaltete Mundo Argentino seine Titelseiten mit Karikaturen, die oftmals gesellschaftskritischen Charakter hatten. Fortan verwendete das Magazin großformatige Fotografien, die soziale Probleme anprangerten.
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Wohltäterinnen Unter den sozialen Instanzen, deren Zuständigkeit die Magazinpresse in Fragen der Kinderfürsorge in weiten Teilen forderte oder affirmierte, spielten die von Frauen organisierten philanthropischen Wohltätigkeitsorganisationen eine wichtige Rolle. Die wichtigste und größte dieser Organisationen war die Sociedad de Beneficencia. Sie wurde 1923 unter der Regierung von Bernardino Rivadavia gegründet und verband in ihrer Ausrichtung, wie Moreno betont, die christliche Philanthropie mit einem neuen bürgerlichen Laizismus der postrevolutionären politischen Eliten.21 Ihre Mitglieder waren in der Regel Frauen aus der Oberund Mittelschicht, die sich oftmals aus religiösem Antrieb engagierten, durch Familienverbindungen in die Organisation Eingang fanden und von dem Wunsch nach sozialem Prestige angetrieben waren.22 Neben Donna Guy hat auch Karen Mead die politische Verhandlungs- und Gestaltungsmacht dieser Akteurinnen herausgestellt, die sie über ihre karitativen Tätigkeiten entfalten konnten. Demnach hatten diese Frauen außergewöhnlichen Einfluss auf die Gestaltung von Wohltätigkeitsprogrammen und deren Durchführung.23 Die Sociedad de Beneficencia und andere Frauenwohltätigkeitsorganisationen leiteten Krankenhäuser und Psychiatrien, Haft- und Reformanstalten und vor allem Kinder- und Waisenheime. Ende der 1910er Jahre gab es in Argentinien über 90 Wohltätigkeitsorganisationen unterschiedlicher Trägerschaften, die entweder nationale oder munizipale Subventionen erhielten. Es entstand ein System der starken Verschränkung und Komplementarität staatlicher und privater Fürsorgepolitiken, in dem die aktiven Frauen wichtige Positionen einnahmen und ihren sozialen Status aufwerten konnten. Guy betrachtet die „philantropic women“ als „central to the process of promoting social policies at the national level”.24 Dieses von Frauen dominierte Wohltätigkeitsmodell wurde in der Magazinpresse mit großem Selbstverständnis perpetuiert und affirmiert. So lobte etwa die illustrierte Beilage von El Diario 1902 die „distinguidas damas“ der Wohltätigkeitsorganisationen von Buenos Aires als integralen Bestandteil der „fisionomía
21 Vgl. Moreno, Dos siglos de política social, 2004, S. 73. 22 Vgl. Guy, Women Build the Welfare State, 2009, S. 59. 23 Vgl. Mead, Gender, Welfare, 2001, S. 91. 24 Guy, Women Build the Welfare State, 2009, S. 52. Wohltätigkeit ist auch unter dem Aspekt der sozialen Kontrolle untersucht worden. Eduardo Ciafardo betrachtet die Einrichtungen der Sociedad de Beneficencia in Buenos Aires im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem als Methode der gesellschaftlichen Disziplinierung. Vgl. Ciafardo, Caridad y control social, 1990, S. 9.
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de la gran ciudad“.25 Über die Bedeutung der Fürsorgearbeit durch Frauen in der Sociedad de Beneficencia schrieb Caras y Caretas: „Su consagración a móviles de altruismo social, llega en tal sentido al más alto exponente, y semejante florecer de espíritu y de energía, constituye estímulo de renovada esperanza para el alma colectiva. ... Manos delicadas y blancas, electas para aliviar los sufrimientos, comportan sus impulsos de ternura, cuando la sinceridad los ilumina, la certidumbre del bien sobre el egoísmo, que es indiferencia y abandono.“26
Im Feld der philanthropischen Fürsorge wurde ein Weiblichkeitsbild geschaffen, das zum einen christliche Werte der Selbstlosigkeit und Nächstenliebe und zum anderen einen bürgerlich-elitären Habitus inkorporierte. Das bürgerliche Prestige wurde in zahlreichen Berichten und Darstellungen durch die Bilder von Benefizveranstaltungen und feierlichen Banketten repräsentiert, die den Altruismus zugunsten der Armen in den Vordergrund stellte. Auch die Namen der Mitglieder der jeweiligen Wohltätigkeitsorganisationen füllten spaltenweise die Berichte über die Veranstaltungen. Guy spricht von einer „performance of charity“, welche die Organisationen bei diesen Gelegenheiten spektakulär inszenierten.27 In den Zeitschriften zirkulierten diese Bilder auch als Identifikationsangebote für Frauen. Sie kamen dabei quasi ohne die Objekte und Kontexte jener Wohltätigkeitsarbeit aus und erhoben den sozialen Status zum repräsentativen Moment. Abbildung 7.3
Quelle: Caras y Caretas (1909)
25 „La caridad en Buenos Aires“, in: El Diario. Suplemento ilustrado, 1, 10, 16.03.1902, S. 12. 26 „La acción social de la mujer bonaerense. Sociedad de Beneficencia de Carhué“, in: Caras y Caretas, 21, 1073, 26.04.1919, S. 24. 27 Guy, Women Build the Welfare State, 2009, S. 58 f.
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Anlässlich der Eröffnung der Casa de Pobres in Buenos druckte Caras y Caretas 1909 zwei Fotos von dem Festakt und der feierlich gekleideten TeilnehmerInnen ab. Ein Bild zeigt die Mitglieder der Kommission samt ihrer Präsidentin (Abbildung 7.3).28 Am linken und rechten Bildrand sind, bis auf ein gut erkennbares Mädchen, undeutlich und im Hintergrund Kinder zu sehen. Sie stehen am Rand des Geschehens, bilden aber gleichzeitig den konstituierenden Rahmen, in dem sich die bürgerlichen Frauen präsentierten. Die wohltätigen Damen wurden kaum in direkter Interaktion mit den Kindern gezeigt. Diese erschienen auf solchen Fotografien am Rande und verwiesen auf die Arbeitserfolge der Frauen und legitimierten ihre gesellschaftliche Position. Emotionalisierte Bilder einer maternalistischen Fürsorglichkeit, etwa die Umarmung eines armen Kindes, verbreiteten sich in Argentinien erst als Kennzeichen von Eva Perón und ihrem sozialen Engagement.29 Abbildung 7.4
Quelle: Fray Mocho (1914)
Die Fotografie der Situation einer Almosenvergabe in Form von Geschenken, die armen Kindern an Weihnachten 1914 im Parque Lezama in Buenos Aires
28 Vgl. „La ,Casa de Pobres‘ de la Sociedad Damas de Caridad“, in: Caras y Caretas, 12, 574, 02.10.1909, S. 59. 29 Vgl. Guy, Women Build the Welfare State, 2009, S. 60.
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ausgehändigt wurden, zeigt die Distanz zwischen Wohltäterinnen und Kindern noch deutlicher (Abbildung 7.4).30 Der Betrachter oder die Betrachterin nimmt die Perspektive der Almosengeberin ein, während die Kinder auf der anderen Seite des Zauns physisch entgrenzt erscheinen. In der Art der bildlichen Abgrenzung schwingt auch das Bild einer Bedrohung mit. Die Kinder sind wie wilde Tiere, die mit einem Gitter auf Abstand gehalten werden müssen. Es verwies damit auch auf die Notwendigkeit von (abgeschlossenen) einhegenden Institutionen. Mit der Konnotation des Gefängnisgitters transportierte es außerdem die mögliche Zukunft dieser Kinder als Kriminelle. Der fürsorgliche Staat Neben dem Wohltätigkeitsmodell aus Frauenhand erschien der Staat in den 1910er Jahren ebenfalls als karitativer Akteur auf der Bildfläche. Auf symbolischer Ebene zeigte sich dieses staatliche Fürsorgeverhältnis in der Ausübung von Taufpatenschaften gegenüber Kindern armer Familien durch den argentinischen Präsidenten. Hipólito Irigoyen, erster Staatspräsident der Radikalen Partei seit 1916, übernahm einer Reportage von PBT zufolge zahlreiche Patenschaften von Kindern, die mitunter nominell waren und lediglich ein Vertreter oder eine Vertreterin bei der Taufe anwesend war.31 Die Zeitschrift berichtete von den fröhlichen Feierlichkeiten, bei denen der „franco espíritu de protección del presidente de la república“ in höchsten Tönen gelobt wurde.32 In einer anderen Ausgabe publizierte PBT das Gesuch des Familienvaters Abraham Miño aus der Region Corrientes um eine Patenschaft des Präsidenten für seinen achten Sohn.33 Die Zeitschrift agierte damit als Vermittlungsinstanz zwischen der hilfesuchenden Familie vom Land und der politischen Spitze des Landes. Über der Anzeige prangte die Fotografie einer zehnköpfigen Familie: In der ersten Reihe posierten nach Größe geordnet sieben Jungen nebeneinander; hinter ihnen befanden sich der Vater und die Mutter mit einem Baby auf dem Arm (Abbildung 7.5). Die barfüßigen Kinder deuteten darauf hin, dass die Bitte um die Patenschaft in erster Linie nicht religiösen Motiven oder Prestigegründen, sondern der Erwartung von sozialen Hilfeleistungen geschuldet war. Das angepriesene Patenkind selbst trat im Hintergrund des Bildes zurück. Im Vordergrund waren die sieben älteren Söhne zu sehen, die in der Besonderheit einer rein
30 Vgl. „Navidad. El reparto de juguetes“, in: Fray Mocho, 3, 88, 02.01.1914, S. 4. 31 Vgl. „Los ahijados del presidente“, in: PBT, 14, 670, 26.09.1917, S. 40. Über materielle oder finanzielle Zuwendungen gibt die Reportage keine genaue Auskunft. 32 Ebd. 33 Vgl. „¿Otro ahijado presidencial?“, in: PBT, 14, 661, 28.07.1917, S. 46.
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männlichen Nachkommenschaft zugleich die heranwachsende Generation argentinischer Männer und Arbeiter verkörperten, deren Zukunft im Interesse und in der Verantwortung des Staats gesehen wurde. Die anvisierte Patenschaft des Präsidenten für den – symbolisch gesprochen – kleinsten und ärmsten Staatsbürger verwies hier auf eine nationale ‚Familienzusammenführung‘, die sich über die soziale Funktion des Staates artikulierte. Abbildung 7.5
Quelle: PBT (1917)
Die ersten staatlichen Impulse in der Befassung mit dem ‚Problem der Kindheit‘ hatten sich in den 1880er Jahren entwickelt und waren zum einen pädagogischer und zum anderen medizinisch-hygienischer Natur.34 Verschiedene AutorInnen haben verdeutlicht, dass in Argentinien im ausgehenden 19. Jahrhundert ein fundamentaler Bedeutungswandel und eine neue Aufmerksamkeit für die Kindheit begann, der in der Reform zur allgemeinen Schulpflicht 1884 einen wichtigen Wendepunkt erfuhr.35 Die Ley de Educación Común von 1884 bedeutete Zapiola zufolge einen Triumph der Liberalen für eine staatliche Intervention in das Feld der Erziehung und schuf die Bedeutung von Kindern über ihre Eigenschaft als
34 Beide Bereiche werden von Sandra Carreras in juristischer und institutioneller Hinsicht zusammenhängend erläutert, siehe: Carreras, Hay que salvar en la cuna, 2005. 35 Vgl. Ebd., S. 143. Siehe auch: Nari, Marcela: Políticas de maternidad y maternalismo político. Buenos Aires, 1890-1940, Buenos Aires: Biblos 2004.
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SchülerInnen, die zu guten StaatsbürgerInnen erzogen werden sollten.36 Liliana Ana Bertoni versteht die Schule als zentrale Instanz der Nationalidentitätsbildung und nationalen Integration von Eingewanderten. 37 Der Schulunterricht wurde, so zeigt es die Untersuchung der Magazinpresse, auch als Instrument eingesetzt, um die ‚gefährlichen‘ oder ‚gefährdeten‘ menores zu niños umzuerziehen. In den Berichten der Magazinpresse über diverse Fürsorgeeinrichtungen stand der Aspekt der Schulbildung an prominenter Stelle. Sie wurde in den Repräsentationen der Zeitschriften zum zentralen Element der Reformierung und Integration von Kindern, die als schwach, delinquent, moralisch verdorben oder vernachlässigt galten und erfüllte dadurch eine Funktion, die diese Arbeit als biopolitische Intervention begreift. Die Revista Popular beschrieb die Strategie der Institution der Casa del Niño folgendermaßen: „En la Casa del Niño el pequeñuelo desamparado y huérfano aprende sus primeras letras. Ya mayor, más viril, acude a las oficinas o a los talleres, de donde egresa ciudadano hábil y obrero inteligente. ... ingresados con el mote de ‚menores‘ turbulentos, se alejan de la Casa que los cobijó en su infancia para ser útiles al país y formar un hogar, que es otra manera de servir a la patria.“38
Fray Mocho berichtete im Jahr 1915 von der Situation von Heimkindern in der geschlossenen Verwahrungsanstalt Departamento de Menores, in dem zwei Gruppen von Jungen interniert waren: encausados, also minderjährige verurteilte Straftäter, und abandonados, die aufgrund familiärer Vernachlässigung oder Trennung im Heim leben mussten. Während beide Gruppen der Reportage zufolge in allen Lebensbereichen getrennt waren und unterschiedliche Aufgaben und Tagesabläufe vorgeschrieben bekamen, galt für alle der gemeinsame Schulunterricht als wichtigste Sozialisationsmaßnahme.39 Die Fotografie der Jungen in der Schulbank (Abbildung 7.6) vermittelt, dass die kategoriale Trennung von menores und niños/alumnos im Klassenraum aufgehoben war und in der schulischen Erziehung ein Möglichkeitsraum von Entwicklung und Rehabilitation der menores lag.
36 Vgl. Zapiola, María Carolina: „Los niños entre la escuela, el taller y la calle. Buenos Aires, 1884-1915“, in: Cadernos de Pesquisa, 39, 136, 2009, S. 69-81, S. 71. 37 Vgl. Bertoni, Patriotas, cosmopolitas y nacionalistas, 2001. 38 „Una visita a la Casa del Niño“, in: Revista Popular, 1, 4, 20.08.1917, S. 31. 39 Vgl. „El Departamento de Menores abandonados y encausados. Anexo al cuerpo de guardias de cárceles“, in: Fray Mocho, 4, 167, 09.07.1915.
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Abbildung 7.6
Quelle: Fray Mocho (1915)
Die Stärkung der raza Auch sozialhygienische Ideen zur Regeneration an der freien Luft und zur körperlichen Ertüchtigung für Kinder und Jugendliche waren Bestandteile neuer Erziehungsdiskurse.40 PolitikerInnen, JuristInnen, PädagogInnen und MedizinerInnen teilten Anfang des 20. Jahrhunderts einen Enthusiasmus über diese körperlichen Praktiken für Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer speziell der Arbeiterklasse.41 Sport wurde dabei nicht nur in Hinblick auf physiologischen Effekte befürwortet, sondern insbesondere auch als präventive Beeinflussung von Verhaltensweisen und Moral. Die Durchsetzung einer cultura física im pädagogischen Bereich, wie sie in verschiedenen Ländern Lateinamerikas um die Jahrhundertwende stattfand, zielte Pablo Scharagrodsky zufolge auf den Zusammenhang von „bienestar moral del individuo, la raza, la familia y la nación“.42 Insbesondere das uruguayische Vorbild wurde von der argentinischen Magazinpresse in den Blick genommen und für das eigene Land propagiert. So zeigte eine Fotoreportage über die cultura física in Montevideo zeigte Bilder einer Sportveran-
40 Siehe dazu: Scharagrodsky, Gobernar es ejercitar, 2008. In dem Sammelband wird die transnationale Dimension von Diskursen und Praktiken der cultura física in Lateinamerika besonders deutlich; darüber hinaus waren auch die Verschränkungen mit Gesundheitsdiskursen und sportlichen Praktiken in Nordamerika und Europa von Bedeutung. 41 Vgl. Ders.: „Entre la maternidad y la histeria. Medicina, prácticas corporales y feminidad en el Buenos Aires del fin de siglo XIX“, in: Ebd., S. 105-136, S. 107. 42 Ebd., S. 111.
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staltung.43 Eine Fotografie zeigt die Formation einer etwa 300-köpfigen Gruppe uniform gekleideter Mädchen während einer Gymnastikübung (Abbildung 7.7). Die Fotografie ist in der Totale aufgenommen und bietet eine weitwinklige Perspektive auf den Platz; im Hintergrund sind die ZuschauerInnen und ein großes neoklassizistisches Gebäude zu sehen. Das Bild transportiert zum einen eine militärisch anmutende Uniformität und Ordnung und zum anderen den imposanten Eindruck von Modernität und öffentlichem Spektakel. Sport wurde durch Bilder wie diesem zu einer öffentlich wahrnehmbaren und inszenierten Massenbetätigung, die als nützlich und modern galt. Das Foto zeigte gleichzeitig ein geschlechterspezifisches Verständnis von Sport an: Im ovalen Bildausschnitt sowie auf weiteren Fotografien sieht man Jungengruppen beim Weitsprung sowie bei Ballspielen, während Mädchen gymnastische Übungen präsentierten. Diese gegenderte Unterteilung in Bereichen der körperlichen Ertüchtigung diente unterschiedlichen biopolitischen Zielen: Jungen wurden in Kraft und Ausdauer trainiert, um auf Produktivität und Leistungsfähigkeit hinzuwirken. Mädchen und Frauen sollten sich erklärtermaßen in Gymnastik üben, um sich in „madre[s] físicamente apta[s]“44 zu verwandeln, also zugunsten ihrer reproduktiven Qualität. Abbildung 7.7
Quelle: Mundo Argentino (1916)
43 Vgl. „Montevideo. Cultura física“, in: Mundo Argentino, 6, 262, 12.01.1916, S. 21. 44 Scharagrodsky, Entre la maternidad, 2008. S. 134.
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Für die sozialhygienischen Interventionen im Bereich der (problematisierten) Kindheit gab es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Bestrebungen einer institutionellen Zusammenführung. 1890 wurde eine Untersuchungskommission ins Leben gerufen, die diesbezügliche Vorschläge für die Behandlung der infancia desválida entwickeln sollte. Die 1892 resultierende Gründung des Patronato y Asistencia a la Infancia vereinte ein breites Spektrum an Funktionen: Es sollte eine Reglementierung und Kontrolle für Säuglingspflege und Stillzeit einführen, die Lebensbedingungen von Kindern aus der Unterschicht untersuchen, die Einrichtung von Wöchnerinnenheimen (asilos de maternidad) und klinischer Geburtenstationen fördern, die hygienischen und medizinischen Inspektionen in öffentlichen Schulen garantieren, Notaufnahmen einrichten, die Restriktionen der Kinderarbeit kontrollieren und die Vormundschaft für körperlich oder moralisch stark gefährdete Kinder übernehmen.45 Die verschiedenen Interventionsbereiche des Patronato wurden in der Magazinpresse als nationales Projekt diskursiviert, das mittels neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die minderjährige Bevölkerung der urbanen und vor allem der proletarischen Milieus Einfluss nehmen sollte. Das Patronato führte zum Beispiel Ernährungsprogramme an staatlichen Schulen durch; das bekannteste war die sogenannte copa de leche – die tägliche Ausgabe von Milch für die Schulkinder, mit der ihre Gesundheit unterstützt werden sollte. La Vida Moderna begriff die Ernährungskampagnen als fortschrittliche Verbindung von Fürsorgepraktiken und Schule: „La escuela va haciéndose cada vez más afectuosa, más amorosa, más simpática. La antigua escuala-castigo, hostil al espíritu del niño y despreocupada de su salud, ha consumado su evolución hacia las formas del hogar con la institución de ‘La copa de leche’, un reparto cuotidiano de ‘sangre blanca’, á los pequeños, que ha empezado á practicarse [...].“46
Die Schule war im medialen Bild zu einem Ort der medizinisch-hygienischen Intervention geworden. Zunehmend geriet auch das früheste Kindesalter in den Blick von higienistas und Journalisten. Die hohe Kindersterblichkeit wurde durch hygienische und medizinische Defizite bei Geburtsvorgängen, Säuglingspflege und -ernährung in urbanen Wohnverhältnissen und insbesondere durch das Unwissen der Mütter erklärt. Caras y Caretas erläuterte das statistische Wissen über die Kindersterblichkeit in Buenos Aires und formulierte es als Aufgabe der hygienischen Institutionen, den Müttern beizubringen, wie sie kräftige und
45 Vgl. Carreras, Hay que salvar en la cuna, 2005, S. 147 f. 46 „Revoloteo infantil“, in: La Vida Moderna, 1, 7, 31.05.1907, S. 14.
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gesunde Kinder großziehen könnten.47 Die Lösung dieses ‚nationalen Problems‘, das die Überschrift ankündigte, zielte auf eine an demografischem Wachstum orientierte und zugleich selektive nationale Bevölkerungspolitik. „Con esos miles de niños que se mueren, desaparece un insustituible contingente de pobladores que habían de contribuir á la formación etnográfica del futuro tipo argentino. Si además de poblar, hay que seleccionar, y si además de seleccionar es necesario incorporar, fundir si inmigrante en nuestra nacionalidad, ¿qué mejor selección hemos de hacer? ¿qué poblador habrá, que, etnográficamente para nuestros fines de nación independiente [...] se preste mejor que el elemento nativo?“48
Diese Verbindung von nativistischem Nationalismus und sozialhygienischen Methoden bildete bereits die Grundlagen dessen ab, was seit den 1920er Jahren die akademische Reformbewegung der Eugenik ausmachte. Ein gutes Beispiel bildet die puericultura, die in der Magazinpresse hohe Resonanz erfuhr. Dabei handelte es sich um eine französische Strömung einer wissenschaftlich gesteuerten Kinderaufzucht und Säuglingspflege, die auf den Mediziner Adolphe Pinard (1844-1934) zurückging.49 Wie eine Reportage von Caras y Caretas über die medizinischen Beratungsstellen und klinischen Stationen für Säuglinge und Mütter der Asistencia Pública von Buenos Aires zeigt, hatten die Methoden der puericultura maßgeblichen Einfluss auf die öffentlichen Institutionen.50 Insbesondere die Stillzeit, Ernährungspläne für Säuglinge und Hygienevorschriften wurden als notwendige Kenntnisse für Mütter herausgestellt, die es zu vermitteln galt. Caras y Caretas formulierte die Aufgabe der Asistencia Pública auch in eugenischer Hinsicht, insofern ihre Einrichtungen für Mütter und Kinder der Aufgabe der Optimierung der raza in Argentinien dienten: „La Asistencia Pública de Buenos Aires protege los niños de primera infancia, - de cero a dos años, - de las clases proletarias, por humanitarismo, por caridad y por exigirlo así las
47 Vgl. „Un problema nacional“, in: Caras y Caretas, 11, 444, 06.04.1907, S. 63 f. 48 Ebd., S. 64. 49 Zur Entwicklung von puericultura und Eugenik in klinischen Einrichtungen für Mütter und Kinder siehe: Eraso, Yolanda: Representing Argentinian Mothers. Medicine, Ideas, and Culture in the Modern Era, 1900-1946, Amsterdam, New York: Rodopi 2013, S. 30-38. Pinard war in den 1920er Jahren Präsident der Société française d’eugénisme. 50 Vgl. „La protección a la lactancia“, in: Caras y Caretas, 21, 961, 03.03.1917, S. 18 f.
278 | W IE DIE A NDEREN LEBEN verdaderas conveniencias del Estado, vivamente interesado en asegurar el vigor de la raza.“51
Die Fotografie der beschriebenen Beratungsstelle zeigt ein klinisches Setting und setzt den Mediziner als Autorität und Experten in Szene (Abbildung 7.8). Mit Blick richtung Kamera hält dieser ein nacktes, sitzendes Kind auf einer Waage; auf seiner anderen Seite befindet sich ein Untersuchungstisch, auf dem ein weiteres nacktes Kind sitzt, gehalten von einer Frau, vermutlich der Mutter. Hinter ihnen befindent sich eine unüberblickbare Menge von Müttern mit Säuglingen auf den Armen, die in den Hintergrund gedrängt darauf warten, an die Reihe zu kommen. Die Sorge um die Kinder war, so die Bildaussage, nicht mehr alleine Sache der Mütter. Im Gegenteil wurde ihr Wissen und ihre Verantwortung dem Fachwissen pädagogischer und medizinischer Institutionen unter- und nachgeordnet. Abbildung 7.8
Quelle: Caras y Caretas (1917)
Kindheit war im beginnenden 20. Jahrhundert zu einem Interventionsfeld für den Staat geworden. Der Schutzgedanke galt dabei nicht mehr dem Wohl des ‚unschuldigen Kindes‘ um seinetwillen, das Ariès bezeichnet hatte, sondern es ging um seinen Nutzen und Schaden für die argentinische Gesellschaft und Nation. Diese Dimension wurde umso deutlicher, wo es sich um die Frage der Delin51 Ebd., S. 18.
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quenz von Kindern und Jugendlichen drehte, wie im Folgenden näher untersucht wird.
D AS P ROBLEM
DER
D ELINQUENZ
Die Problematisierung von Kindern betraf in besonderer Weise den Aspekt der Delinquenz. Kinder tauchten als TäterInnen und als Opfer in der so genannten crónica roja auf, der Berichterstattung über Mordfälle, blutige Familiendramen, Überfälle, Diebstähle und Trickbetrügereien, die bereits seit den 1880er Jahren Bestandteil der argentinischen Zeitungskultur waren.52 Wie Lila Caimari verdeutlicht, war die crónica roja stark mit der wissenschaftlichen Etablierung der positivistischen Kriminologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschränkt: Beide verstärkten sich gegenseitig in einem Perspektivwechsel weg vom Delikt und hin zum Delinquenten.53 Der Begriff der Delinquenz und der DelinquentInnen ist nicht kongruent mit dem des Verbrechens und der VerbrecherInnen: DelinquentInnen wurden über ihre Kondition bestimmt, die vormalig zu oder unabhängig von einer verübten Straftat bestand, sei es durch erbliche Veranlagungen oder soziale Einflüsse, während die klassische Kriminologie die These des freien Willens des Verbrechers oder der Verbrecherin vertreten hatte.54 In der Folge war auch nicht die tatsächliche Übertretung von Gesetzesgrenzen, sondern das Risiko, das sie für die Gesellschaft konstituierten, primär von Bedeutung. Das Strafmaß orientierte sich fortan nicht mehr in erster Linie an der Schwere und Art des Verbrechens, sondern an den VerbrecherInnen selbst – an ihrer Gefahr für die Umwelt, an ihrer Zurechnungsfähigkeit, ihrer Vorbelastung und ihrer Rehabilitierbarkeit. 55 Das Verständnis der Bestrafung wandelte sich von einem Mittel der Vergeltung zu
52 Zur Entwicklung der crónica roja siehe Brunetti, Paulina: „La ‚mala vida‘. Prensa, delito y criminología positivista a fines del siglo xix y comienzos del xx“, in: Publicación del CIFFyH, 5, 4, 2007, S. 119-147; Caimari, Apenas un delincuente, 2004. 53 Vgl. ebd., S. 188. Bezeichnend für diese parallele Entwicklung ist auch, dass im ersten Erscheinungsjahr von Caras y Caretas 1898 auch die erste Fachzeitschrift der positivistischen Kriminologie in Argentinien erschien, Críminología Moderna, gefolgt von den Archivos de Psiquiatría, Criminología y Ciencias Afines ab 1902. 54 Vgl. Caimari, Apenas un delincuente, 2004, S. 87 f. 55 Vgl. ebd., S. 35. Für die Bestimmung des Strafmaßes spielten medizinische und psychologische Gutachter fortan eine große Rolle.
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einer Strategie der defensa social, das heißt der Schutz und Nutzen der Gesamtbevölkerung waren das primäre Ziel der Bestrafung.56 Die Presseorgane popularisierten das kriminologische Fachwissen, indem sie es für eigene Analysen und Interpretationen über Verbrechen und vor allem über die TäterInnen nutzten. Insbesondere lombrosianische Theorien über den ‚geborenen Verbrecher‘ und Methoden der Anthropometrie und der kriminellen Anthropologie waren Teil eines „sentido común criminológico“, der in der Verbrechensberichterstattung legitimiert und selbst angewandt wurde.57 Die kriminelle Anthropologie und ihre Spielarten wie die Frenologie hielten sich als Mittel der Beschreibung und visuellen Darstellung von DelinquentInnen noch zu einem Zeitpunkt, als diese im akademischen Bereich oder in den Strafinstitutionen längst als überholt galten. Geborene Delinquenten Insbesondere im Magazin Caras y Caretas stellten Repräsentationen von VerbrecherInnen immer wieder einen Zusammenhang von Körpermerkmalen, Erbgut und Delinquenz her. Kinder standen dabei in besonderer Weise im Fokus. Im Jahr 1900 bildete die Zeitschrift drei Jungen ab, die beschuldigt wurden, im Patronato de la Infancia einen Brand gelegt zu haben, um aus der Anstalt zu fliehen.58 Die drei fotografischen Abbildungen sind frontale Ganzkörperfotografien der stehenden Jungen, die entlang der Silhouetten ausgeschnitten sind und vom Text umlaufen und buchstäblich kontextualisiert werden (Abbildung 7.9). Der erste Junge, Alberto Gabarini, wurde als Anstifter der Tat bezeichnet, der nicht über die geringste Moral verfüge und dessen Schädel exakt jene Merkmale zeige, welche die lombrosianische Schule für die Degenerierten herausgestellt habe.59 Andrés Mannia, der zweite Beschuldigte, bezeichne sich dem
56 Salvatore, Criminología positivista, 2000, S. 129. 57 Caimari, Apenas un delincuente, 2004, S. 189. Maßgeblichen Einfluss auf dieses neue Interesse an den DelinquentInnen hatte in den 1880er Jahren das kriminalanthropologische Werk des Mediziners und Psychiaters Cesare Lombroso und insbesondere seine 1976 erstmals in Italien erschienene Studie L’uomo delinquente. Darin entfaltete dieser seine Theorie des ‚geborenen Delinquenten‘, den er als gefährliches Individuum mit angeborenen physischen und psychischen Abnormitäten herausstellte, die er in sozialdarwinistischer Auslegung als evolutionären Atavismus interpretierte. Siehe: Gibson, Mary; Rafter, Nicole Hahn: Lombroso, Cesare: Criminal Man, Durham: Duke Univ. Press 2006. 58 Vgl. „Los niños incendiarios“, in: Caras y Caretas, 3, 73, 24.02.1900, S. 73. 59 Vgl. ebd.
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Artikel zufolge selbst als überzeugter Anarchist. AnarchistInnen wurden, so Eduardo Ciafardo, von Kriminologie und Psychiatrie vielfach als pathologische und degenerierte Individuen dargestellt, die nicht allein aufgrund ihrer politischen Überzeugung, sondern aufgrund ihrer Disposition zum Verbrechen und zum Wahnsinn als soziale Gefahr gebrandmarkt wurden.60 Der dritte Junge des Berichts wurde als „amante de la vagancia que llama libertad“ bezeichnet und mit dem Diskurs über Vagabundentum und atorrantes in Verbindung gebracht. Abbildung 7.9
Quelle: Caras y Caretas (1900)
Die drei Brandstifter verkörperten damit exakt jene drei großen Gefahren, die um 1900 mit Bezug auf die Nation diskursiv wirkmächtig wurden: erstens die Frage der Degeneration und damit einer biologisch-rassischen Zusammensetzung der nationalen Bevölkerung, zweitens die Bedrohung durch die politischen Arbeiterbewegungen und insbesondere den in Argentinien ab 1910 zunehmend 60 Vgl. Ciafardo, Eduardo O.; Espesir, Daniel: „Patología de la acción política anarquista. Criminólogos, psiquiatras y conflicto social en Argentina, 1890-1910“, in: Siglo XX. Revista de Historia, 12, 1992, S. 23-40, S. 24. Siehe auch: Ansolabehere, Pablo: „El hombre anarquista delincuente“, in: Iberoamericana, LXXI, 211, 2005, S. 539-553. Ansolabehere zeigt die Kriminologisierung und Pathologisierung von AnarchistInnen in der Verschränkung von wissenschaftlichen und literarischen Quellen auf und bezieht sich schwerpunktmäßig auf die Studie L’uomo delinquente von César Lombroso und auf den Roman Hacia la justicia von Francisco Sicardi.
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militanten Anarchismus sowie drittens die Aufsässigkeit gegen ein modernes System von Lohnarbeit und Reklusion der Unwilligen und Unfähigen. Das wohl berühmteste Beispiel eines minderjährigen Verbrechers war Petiso Orejudo, mit richtigem Namen Cayetano Santos Rubino, der im Dezember 1912 aufgrund des Mordes an dem dreijährigen Gerardo Giordano festgenommen wurde. Der 16-jährige Petiso hatte den kleinen Jungen mit Bonbons auf ein brach liegendes Gelände gelockt, ihn gefesselt, stranguliert und einen Nagel in seine Schläfe gehämmert. Auf der Polizeiwache wurde er weiterer drei Morde an Kindern geständig, ebenso wie sieben Fällen von versuchtem Mord und sieben Versuchen der Brandstiftung.61 Caras y Caretas beschäftigte sich in einer Reportage mit diesem Fall des „criminal monstruoso“ und widmete die Aufmerksamkeit insbesondere der psychischen und physischen Verfasstheit des Mörders. Die Gräueltaten wurden in der zweiseitigen Reportage hingegen kaum geschildert, sondern lediglich zusammengefasst als Vergehen an einer „docena [de víctimas] á quienes quitó la vida, ya extrangulándolos, ya ahogándolos, ya quemándolos“.62 Die Reportage beschrieb Petiso Orejudo als ungewöhnlichen Kriminellen, dessen Verbrechen nicht aus Bosheit, bestimmten Interessen oder aus Leidenschaft geschehen wären. Die Ursachen für seine Taten lägen vielmehr in seinem „instinto brutalmente destructor de la fiera sanguinaria“, der ihm Lust am Töten
61 Zu einer ausführlichen Rekonstruktion der Taten auf der Basis von Polizei- und Justizakten siehe: Contreras, Leonel: Petiso Orejudo. Documento final; El crimen de Arturo Laurora y el origen de la leyenda, Buenos Aires: Ed. Dunken 2014. Contreras beschäftigt sich insbesondere mit dem Mord an dem zwölfjährigen Arturo Laurora, für den Godino unter anderem schuldig gesprochen wurde. Er kommt zu dem Schluss, dass dieser Mord nicht von Godino verübt worden war, sondern von mehreren Männern, die sich der Strafverfolgung entziehen konnten. Der Mord an Laurora wurde indes Contreras zufolge benutzt, um die „leyenda del monstruo” zu schmieden, vgl. ebd., S. 75. 62 „Un criminal monstruoso. El 'petiso orejudo' y sus delictos“, in: Caras y Caretas, 15, 741, 14.12.1912, S. 104. Zapiola stellt fest, dass weder Caras y Caretas noch die Tageszeitungen La Nación und La Vanguardia auf alle Details, welche die Polizeiberichte beinhalteten, eingingen. Insbesondere die Tatsache, dass mehrere der Opfer im Genitalbereich entkleidet und offenbar sexuell missbraucht worden waren, wurde von der Presse vorenthalten. Vgl. Zapiola, María Carolina: „Niños asesinos de niños. El caso del Petiso Orejudo (Argentina, comienzos del siglo XX)“, in: Nuevo Mundo Mundos Nuevos. Revista electrónica, 6, 2006, Website: https://journals.openedition.org /nuevomundo/2827 [01.02.2018]
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verschaffte.63 Die Vorstellung eines geborenen Delinquenten wurde ebenfalls auf seine körperlichen Merkmale zurückgeführt: „...lleva impresa en su figura y en su rostro el inconfundible conjunto de estigmas que caracterizan al delincuente nato, al que ha venido al mundo con figura de hombres, pero instinto de fiera, y al que será inútil intentar corregir desde que lleva en sí el espíritu del crimen.“64
Abbildung 7.10
Quelle: Caras y Caretas (1912)
Das soziale Milieu, aus dem der Junge stammte, wurde in dem Artikel explizit nicht als Ursache für seine Verbrechen angeführt – im Gegenteil erwähnte der 63 Un criminal monstruoso, 14.12.1912, S. 103. 64 Ebd.
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Text, dass der junge Serienmörder aus einer „familia laboriosa y honrada” stammte. Die abgebildeten Fotografien untermauerten die kriminologische Degenerationstheorie: Sie zeigen ein ausgeschnittenes Frontalporträt seines Kopfes, eine frontale Ganzkörperaufnahme und zwei Bilder, auf denen seine Handflächen zu sehen waren (Abbildung 7.10). Die Bilder luden damit zu einer voyeuristischen Betrachtung ein, am Körper des Verbrechers nach sichtbaren Spuren einer Veranlagung zur Delinquenz zu suchen. Gleichermaßen zeigten sie Petiso Orejudo als Häftling, der polizeilich und öffentlich identifiziert und festgesetzt worden war. Solche Verwendungen von Polizeifotografien waren in der Magazinpresse stark verbreitet. Jedoch wurden VerbrecherInnen üblicherweise mittels Porträtfotografien, die ihre Gesichter frontal oder auch im Profil zeigten, für die Neugierde des Lesepublikums aufbereitet und ermöglichten damit zugleich ihre Wiedererkennbarkeit. Die Reportage schloss zwei Konsequenzen aus dem Fall des Petiso Orejudo: Für den Täter forderte sie schlicht die Isolationshaft, um weitere Taten und Opfer zu verhindern. Der juristische Prozess, der auf die Festnahme folgte, gestaltete sich differenzierter, indem er die Frage nach der geistigen Zurechnungsfähigkeit des Mörders stellte und durch psychiatrische Gutachter evaluieren ließ. Das Gerichtsurteil wies den 16-Jährigen 1913 aufgrund der Diagnose über eine „alienación mental“ und „imbecilidad incurable“ in die psychiatrische Anstalt Hospital de las Mercedes ein. Das Verfahren wurde aber 1915 wieder aufgenommen und das Urteil revidiert, woraufhin Petiso Orejudo zunächst in der Penitenciaria Nacional in Buenos Aires und schließlich in der Strafanstalt in Ushuaia interniert wurde, wo er drei Jahrzehnte später in Haft starb.65
65 Vgl. Contreras, Petiso Orejudo, 2014, 17 f. Die Penitenciaria Nacional wurde 1877 in Buenos Aires eröffnet und wurde in ihrer Architektur und ihrer Systematik zum Reformmodell des „castigo moderno y civilizado“ schlechthin, das auf absolute Stille, nächtliche Isolation, Disziplin und Arbeitsdienste ausgerichtet war, vgl. Caimari, Apenas un delincuente, 2004, S. 50-62. Salvatore beschreibt die Entwicklung der Penitenciaria Nacional im Ausbau ihrer dreifachen Funktion als Fabrik (zur Förderung von Arbeitsdisziplin und Produktivität), als Klinik (zur Behandlung von psychopathologischen Anomalien) und als Labor (zu kriminologischen Untersuchungen und Experimenten), vgl. Salvatore, Ricardo D.: „Criminología positivista, reforma de prisiones y la cuestión social/obrera en Argentina“, in: Suriano, Juan (Hg.): La cuestión social en Argentina 1870-1943, Buenos Aires: Ed. La Colmena 2000, S. 127-158, S. 153. Das Gefängnis von Ushuaia wurde nach einem Gesetzesbeschluss von 1895 gebaut, der die Deportation nach Südpatagonien für Wiederholungstäter vorsah. Ushuaia wurde
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Der eigentliche Appell der Reportage zielte aber auf eine präventive Strategie zum Schutz der „niños indefensos“. Der Artikel bezichtigte die Mütter der getöteten Kinder einer Mitschuld, insofern sie ihre Kinder unbeaufsichtigt auf der Straße gelassen hätten: „sería de desear que una lección tan horrende como la presente les convenciera de que la primera obligación de las madres es velar constantemente por sus hijos.“66 Das Bild des schutzlosen Kindes gegenüber den Gefahren der Straße reihte sich nicht zuletzt in einen patriarchalen Diskurs ein, der die gesellschaftliche Positionierung der Frau im häuslichen Bereich befürwortete und die Lohnarbeit von Frauen als Sicherheitsrisiko für ihre Kinder suggerierte. Die Geschichte über Petiso Orejudo fungierte noch über Jahrzehnte hinweg als legendäres Abschreckungsbeispiel für Eltern und Kinder in Buenos Aires.67 Das Beispiel des Petiso Orejudo und der Bericht über die drei Brandstifter standen in der Traditionslinie kriminologischer Degenerationstheorien. Die Darstellungsweise von gefährlichen, degenerierten EinzeltäterInnen wurde insbesondere von Caras y Caretas lange aufrecht erhalten. Die Forderungen solcher Berichte zielten auf die gesellschaftliche Exklusion der menores in Form von Internierung in Straf- oder Besserungsanstalten ab. Diese Sichtweise auf straffällige Kinder war in der Magazinpresse zum Zeitpunkt des spektakulären Falls um Petiso Orejudo bereits im Auflösen begriffen. Zeitschriften wie Mundo Argentino vertraten seit den 1910er Jahren eine Sichtweise, welche die Ursachen für die Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen nicht mehr als vererbte Eigenschaften betrachtete, sondern das soziale Milieu für das Problem der delinquencia precoz verantwortlich machte. Mundo Argentino schrieb dazu 1917: „La delincuencia infantil no es siempre la revelación de naturalezas degeneradas. El cientificismo de la mayoría de los criminalistas se estrella en la práctica. Si la pintura que hiciera Lombroso en ‚L’homme criminel‘ respondiera a lo que él quería, tendríamos que convenir en que todos los menores son ‚criminales natos‘. Ante todo conviene no partir de bases falsas. La observación casi diaria de menores delincuentes, el estudio de sus prontuarios, etc., etc., habilitan para afirmar que, en este doloroso problema de la delincuencia precoz, los factores que lo originan [...] son los sociales.“68
zum Sinnbild für die Strafdeportation von politischen Gefangenen und berühmten Schwerverbrechern. Siehe dazu: Caimari, Apenas un delincuente, 2004, S. 62-73. 66 Un criminal monstruoso, 14.12.1912, S. 104. 67 Vgl. Contreras, Petiso Orejudo, 2014, S. 6. 68 Sierra, Vicente D.: „La familia y el futuro moral del menor“, in: Mundo Argentino, 7, 313, 03.01.1917, S. 15.
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Die Familie als „primer factor de importancia en el desenvolvimiento moral y físico del niño“69 geriet zunehmend in den Fokus derjenigen, die sich mit den menores befassten. Damit zusammenhängend wurden insbesondere die Berufstätigkeit von Müttern, die hohe Anzahl alleinerziehender Mütter, die Wohnsituation und die Schulbildung problematisiert. Die Reportage von Mundo Argentino zog statistische Werte heran, um die These der sozialen Prägung zu beweisen. Daran machte sie erkenntlich, dass hohe Prozentzahlen von straffälligen Kindern mit alleinerziehenden Elternteilen oder ohne Eltern aufwuchsen, die Besuche von Eltern in Haftanstalten selten oder gar nicht unternommen würden und die vormaligen Schulbesuche von Kindern, die im Depósito de Contraventores inhaftiert waren, sehr rudimentär gewesen seien und nicht der gesetzlichen Schulpflicht entsprächen. Der Artikel schlussfolgerte aus der Vernachlässigung von Kindern die Notwendigkeit staatlichen Intervenierens und präzisierte hier als Bereiche die Lohnarbeit von Frauen und die unhygienischen Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse als „fuente de todas las perversiones“.70 Inhaftierte Kinder Der Ruf nach dem Staat und zugleich nach dessen Reformierung wurde besonders laut hinsichtlich der legalen und institutionellen Gegebenheiten, nach denen minderjährige StraftäterInnen und Straßenkinder inhaftiert wurden. Seit 1868 verfügten die allgemeinen Verordnungen der Polizei in Buenos Aires die Festnahme aller menores auf den Straßen und anderen Orten. Die öffentliche Debatte um die Verwahrung von Kindern und Jugendlichen in der Penitenciaria Nacional und der Carcel Correccional in Buenos Aires wurde bereits in den 1890er Jahren geführt, als gerichtliche Vertreter der menores (defensores de menores) sich beschwerten, dass weder ausreichend viele noch adäquate Einrichtungen für sie existierten. Seit 1892 wurden die meisten der verhafteten menores in der Penitenciaria Nacional interniert, wo sie unter den gleichen Bedingungen wie erwachsene Straftäter untergebracht waren.71 In der Magazinpresse erregten die Haftbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Gefängnissen, Polizeiverwahrung und Korrekturanstalten immer
69 Ebd. 70 Ebd., S. 15. 71 Vgl. dazu: Aversa, Infancia abandonada y delincuente, 2006, S. 98 f. Zur Untersuchung der Situation der menores in der Penitenciaria Nacional wurde eine Kommission unter der Leitung von Juan A. Argerich, Osvaldo M. Piñero und Arturo Reynal O’Connor eingerichtet, die weit gehenden Reformbedarf anmeldete, aber vorerst keine rechtlichen Konsequenzen bewirkte.
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wieder großes Aufsehen. Bereits im Jahr 1900 berichtete Caras y Caretas von einem Skandal in der Carcel Coreccional de Menores in Buenos Aires, in der nach Aussagen von Inhaftierten Foltermethoden mit einem „carácter insuperable de refinada crueldad“ angewandt wurden, darunter Nahrungsentzug, Isolationshaft, Peitschenhiebe und die Methode des plantón, welche den Häftling dazu zwang, lange Zeit aufrecht zu stehen (etwa in einem Kasten oder Schrank) und weder Nahrung oder Wasser aufzunehmen noch sich erleichtern zu können. 72 Das Magazin skandalisierte die Fälle als schockierendes Fehlverhalten der Anstaltsleitung, zog darüber hinaus aber keine Schlussfolgerungen für rechtliche und institutionelle Reformen in Bezug auf straffällige Jugendliche. Im Gegenteil beharrte der Bericht an mehreren Stellen darauf, nur Fakten wiederzugeben und kein eigenes Urteil fällen zu wollen.73 Ein Jahrzehnt darauf verstanden sich mehrere Magazine als Treibkraft für eine Reformierung der Haftbedingungen und -voraussetzungen von Jugendlichen. Eine der stärksten Verfechterinnen für eine Reformierung der Strafgesetzgebung sowie der Besserungsanstalten und anderen sozialen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche war die Zeitschrift Mundo Argentino. Sie betitelte die Inhaftierung von Kindern in Haftanstalten als „injustificables olvidos del Estado“ 74 , als „monstruoso anacronismo“ 75 , als „afronta para la cultura argentina“76, als „crimen que llama al cielo“77 und als „vergüenza nacional“.78
72 Vgl. „Las denuncias contra la correccional de menores“, in: Caras y Caretas, 3, 114, 08.12.1900, S. 26. 73 Der Autor begründete die Zurückhaltung der Reportage mit der Selbstverpflichtung der Zeitschrift zu einer faktenbasierten Berichterstattung: „no permitiéndole su índole á esta revista abrir juicio sobre semejantes cuestiones, sólo nos es permitido tratarla dado el carácter de acutalidad que reviste.“, Ebd., S. 25. 74 „Los injustificables olvidos del Estado“, in: Mundo Argentino, 1, 339, 03.09.1917, S. 11. 75 „Monstruoso anacronismo. Los niños en las prisiones argentinas“, in: Mundo Argentino, 4, 176, 20.05.1914, S. 14. 76 „Lo primero que debe suprimir el Ministerio de Justicia. Una perrera policial para menores que es una afronta para la cultura argentina“, in: Mundo Argentino, 6, 303, 25.10.1916, S. 14. 77 „Para los poderes públicos – Para las madres argentinas – Para los hombres de bien. Crímen que llama al cielo y de cual todos somos reponsables“, in: Mundo Argentino, 6, 305, 08.11.1916, S. 12 f. 78 „Reformatorio que urge reformar. La Colonia de Marcos Paz“, in: Mundo Argentino, 6, 308, 29.11.1916, S. 12 f.
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Insbesondere auf der Bildebene – auf Titelseiten, großformatigen Abdrucken von Fotografien und in bebilderten Reportagen – transportierte sie die Botschaft einer inakzeptablen rechtlichen und institutionellen Situation für inhaftierte Kinder. Die doppelseitige Fotografie einer über 30-köpfigen Gruppe von Jungen, die sich zusammen mit einem Wachmann zum Gruppenfoto für die Kamera aufgestellt hatten, war laut der Bildunterschrift im Depósito de Contraventores der Calle Azcuénaga aufgenommen worden (Abbildung 7.11).79 Abbildung 7.11
Quelle: Mundo Argentino (1916)
Die visuelle Botschaft des Bildes speiste sich aus einer Verbindung von kindlicher Armut und Unschuld, die sich beim Anblick der barfüßigen, schlecht gekleideten, auf engstem Raum zusammengedrängten und bewachten Kinder aufdrängte. Der Blick der Kinder in die Kamera wirkte appellativ und bezog die BetrachterInnen – verstärkt durch die Überschrift, die als AdressatInnen den Staat, die argentinischen Mütter und die rechtschaffenen Männer ansprach – in eine Vermittlungssituation ein. Insbesondere die häufig verwendete visuelle Darstellung großer Gruppen von Kindern in Gefängnissen oder Korrekturanstalten anstelle von Einzelporträts oder Situationsaufnahmen vermittelte die Dringlichkeit eines massiven gesellschaftlichen Problems. Der Aspekt der Straffälligkeit wur79 Dabei handelte es sich um eine der örtlichen Polizeistation angegliederte Haftanstalt.
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de dagegen weder visuell noch im Text aufgenommen; die Darstellung von menores als Tätern verschwand in den 1910er Jahren zusehends gegenüber ihrer Repräsentation als Opfer der Sozialen Frage. Auch die Zeitschrift Fray Mocho engagierte sich stark in der Frage einer Reformierung der Internierungsbedingungen von Kindern. 1914 publizierte sie die fünfseitige Reportage von Juan José Soiza Reilly unter dem Titel „Las miserias de la infancia“, die eine fundamentale Kritik am argentinischen Strafsystem von Kindern äußerte und die Einführung einer juristischen Reform der „leyes bárbaras“80 einforderte. Die Reportage bezog sich auf die zeitgenössischen Debatten, die zuletzt auf dem Congreso Penitenciario in der argentinischen Hauptstadt geführt worden waren, und positionierte sich auf Seiten derjenigen, die für eine Einrichtung spezieller Jugendgerichte und staatlicher Korrekturanstalten nach internationalen Vorbildern eintraten.81 Besondere Aufmerksamkeit erfuhr darin der Jurist Jorge Eduardo Coll, der mit der Untersuchung der Haftbedingungen von Kindern in argentinischen Gefängnissen ebenso wie mit ihren Wohnverhältnissen in conventillos und anderen Orten beauftragt war. In Buenos Aires gebe es laut Coll 40.000 Straßenkinder, die Gefahr liefen, von der Polizei verhaftet zu werden und in Verwahrungsanstalten inhaftiert zu werden, weil sie auf der Straße schliefen, weil sie Waisen waren oder weil sie wegen Gewalttaten von zuhause ausgerissen waren. Colls Mission, durchgeführt in Kooperation mit einem Fotografen der Comisaría de Investigaciones, ähnelte dem Vorgehen, das die Reporter bereits seit Jahren an den Tag legten: „Se deslizó por todos los rincones de la ciudad donde las vidas infantiles sufren hambre, desnudez, dolor, enfermedad…“.82 Die Reportage verwendete nach eigener Aussage Bildmaterial dieser Exkursionen, welches ebenso wie die Pressefotografie einen stark appellativen Charakter besaß. So zeigt die Fotografie eine Gruppe von etwa zwei Dutzend dicht gedrängten Jungen in Polizeiverwahrung, die sich in und hinter einem vergitterten, halb geöffneten Tor aufgestellt hatten (Abbildung 8.12). Das Innere der Raums liegt im Dunkeln, so dass die tatsächliche Menge der Kinder unbestimmt bleibt. Die Jungen schauen in die Kamera und neigen Körper und Köpfe so, dass die Kamera sie einfangen kann. Der Junge im Zentrum des Bildes ist nachträglich handschriftlich mit der Nummer „1“ versehen worden, die in der Bildlegen-
80 Vgl. Soiza Reilly, Juan José: „Las miserias de la infancia“, in: Fray Mocho, 3, 107, 15.05.1914, S. 12. 81 Soiza Reilly bezog sich speziell auf die Jugendgerichte, die in Frankreich, Italien, England, Nordamerika und Japan eingerichtet worden seien. Vgl. ebd., S. 13. 82 Vgl. Soiza Reilly, Las miserias de la infancia, 15.05.1914, S. 11 f.
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de erläutert, dass dieser Junge im dortigen Gefängnis tätowiert worden sei. Das halboffene Tor und die herausdringenden Kinder visualisieren zugleich die Möglichkeit und die Forderung nach Freiheit. Das Gefängnis wurde in der Reportage als „verdadero[] antro[] de la corrupción“83 beschrieben und damit als Ort, der über den Werdegang unschuldiger Kinder zu VerbrecherInnen entscheide. „Allí, el chico inocente, encarcelado por carecer de padres o por hurtar una insignificancia, concluye de adquirir la profesión de vago. Sale de allí transformado en un ladrón. Adquiere el profesorado de cuchillo. En los ratos de ocio, se hace tatuar. Aprende el caló lunfardo. Y se aleja por completo de la sociedad.“84
Abbildung 7.12
Quelle: Fray Mocho (1914)
Die Reportage plädierte für die Einrichtung von Besserungsanstalten für Jugendliche nach US-amerikanischem Beispiel: Diese böten eine saubere und schöne Umgebung, eine Atmosphäre des Wohlbefindens und der Kultur und verzichteten auf Uniformen und Züchtigung. An mehreren Beispielen von Personen, die
83 Soiza Reilly, Las miserias de la infancia, 15.05.1914, S. 15. 84 Ebd.
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nach Aufenthalten in solchen Anstalten ein erfolgreiches und moralisches Leben geführt hätten, zeigte die Reportage die Möglichkeit der Rehabilitierung von delinquenten Jugendlichen auch für Argentinien als zukunftsweisendes Moment an. An der Zurückweisung von disziplinarischen Maßnahmen und der Hinwendung zu einer Idee der Förderung und Reformierung ist die biopolitische Wendung in der Frage der menores von einer gefährlichen zu einer gefährdeten Bevölkerungsgruppe deutlich zu sehen. Moderne Anstalten Die in dieser Frage engagierten Zeitschriften verstanden sich selbst als wirkungsmächtige Akteure in der politischen Aushandlung von Maßnahmen und Reformen, die die menores und ihre Behandlung angingen. Fray Mocho brachte zwei Wochen nach der Reportage über die Verhältnisse im Depósito de Contraventores eine Erfolgsmeldung: In Reaktion auf den Bericht von Soiza Reilly über die Verhältnisse in der Haftanstalt wurden demnach alle Kinder begnadigt und entlassen, so dass sie entweder in ihre Familien zurückkehren konnten oder im Falle der Waisenkinder dem Asilo Güemes überantwortet wurden, wo sie laut der Reportage „con holgura, con aire, con sol y con higiene“ lebten.85 Ab 1905 wurden neue staatliche Einrichtungen zur moralischen Erziehung und Reformierung von Kindern und Jugendlichen in Buenos Aires gegründet, namentlich die der Polizei unterstellten Einrichtungen Asociación Protectora de Niños Desvalidos und der Asilo de Menores, außerdem die Colonia Agraria de Menores de Marcos Paz. Letztere nahm Jungen zwischen acht und 17 Jahren auf, die straffällig geworden waren oder andere Zeichen sogenannter sozialer Unangepasstheit zeigten. Die Institution sollte jeglichen Anschein eines Gefängnisses unbedingt vermeiden und stattdessen moralische und körperliche Festigkeit vermitteln. Das konkrete Ziel war eine Ausbildung für die Arbeit im land- und viehwirtschaftlichen Bereich. 86 Die Idee der educación al aire libre, die der Gründung der Institution zugrunde lag, bestand darin, auf dem Land die schlechte physische und moralische Verfassung von Kindern und Jugendlichen zu ‚heilen‘ und sie gleichzeitig den schädlichen Einflüssen der modernen Großstadt zu entziehen.87 Die für die Nationalidentitätsbildung der liberalen Eliten fundamen-
85 Soiza Reilly, Juan José: „El triunfo de Fray Mocho. La libertad de los niños presos“, in: Fray Mocho, 3, 109, 29.05.1914, S. 4. 86 Vgl. Aversa, Infancia abandonada y delincuente, 2006, S. 99 f. 87 Vgl. Zapiola, María Carolina: „‚¿Es realmente una colonia? ¿Es una escuela? ¿Qué es?‘. Debates parlamentarios sobre la creación de instituciones para menores en la Argentina, 1875-1890“, in: Lvovich, Daniel; Suriano, Juan (Hg.): Las políticas sociales
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tale Dichotomie der ciudad civilizada gegenüber der campaña bárbara wurde, so demonstriert es auch diese Reformbewegung, mehr und mehr brüchig. Hier zeigt sich, wie ein neues Verständnis einer gesunden Natur als Erholungsraum in die Frage der urbanen Missstände eindrang. An der Colonia de Menores de Marcos Paz wurde die Frage der staatlichen Verantwortung in der Reformierung und Fürsorge von Minderjährigen besonders intensiv diskutiert. Dies betraf insbesondere die chronische Unterfinanzierung der Institution durch den Staatshaushalt. PBT berichtete 1913 über den Besuch des Präsidenten Roque Sáenz Peña in der Besserungsanstalt, bei dem er die vielfach beklagten Probleme ihres schlechten Zustands und mangelnder Ausstattung inspizierte. Laut PBT wurde Sáenz Peña auf die „desorganización lamentable“ und den „abandono muy censurable“ aufmerksam und versprach, sich für die Behebung dieser Übel einzusetzen „a fin de que los menores asilados obtengan física y moralmente la educación que ha de corregir sus defectos y hacer de ellos buenos ciudadanos”.88 Über die Person des Präsidenten wurde das staatliche Eingreifen im „movimiento de protección a los menores” als Fortsetzung philanthropischer Vorgänger in diesem Bereich gelobt.89 Die Einrichtung blieb jedoch noch über Jahre in der Kritik der Öffentlichkeit: Insbesondere Mundo Argentino beklagte wiederholt die hygienischen Zustände, die mangelhafte Ernährung und die harten Arbeitsbedingungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen dort leben mussten und appellierte an eine verstärkte Intervention durch staatliche Organe.90 Einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu moderner Sozialstaatlichkeit bedeutete die Einführung des Patronatsrechts gegenüber Kindern und Jugendlichen durch den Staat, das auf die jahrelangen Appelle seitens Presse und reformorientierten AkteurInnen folgte. Die sogenannte Ley Agote, 1919 verabschiedet und implementiert, regulierte das staatliche Eingreifen in das Recht der patria potestad des Vaters von „menores abandonados material y moralmente” sowie von „menores delincuentes”, sofern die Familie nicht den materiellen und mora-
en perspectiva histórica. Argentina, 1870-1952, Buenos Aires: Prometeo Libros 2006, S. 65-88, S. 78. Zapiola untersucht die parlamentarischen Debatten und Initiativen zur Einrichtung von Erziehungsanstalten für menores zwischen 1875 und 1890. Die Einrichtung der so genannten colonias agrícolas für Kinder und Jugendliche wurde bereits zu dieser Zeit stark diskutiert und in Einzelfällen umgesetzt. 88 „En la Colonia de menores de Marcos Paz“, in: PBT, 10, 458, 06.09.1913, S. 84 f. 89 Ebd., S. 85. 90 Vgl. beispielsweise: Reformatorio que urge reformar, 29.11.1916.
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lischen Ansprüchen der Kindeserziehung nachkomme.91 Die Kategorie menor wurde durch das Gesetz juristisch definiert als übergreifende Bezeichnung für Kinder und Jugendliche „en situación irregular“, die eine quasi uneingeschränkte staatliche Verfügungsgewalt ermöglichte und staatlichen Behörden die Zuweisung der Kinder und Jugendlichen in Heime oder Besserungsanstalten übertrug.92 In den 1920er Jahren nahm der institutionelle Ausbau von Agrarkolonien, modernen Jugendvollzugsanstalten und anderen Erziehungseinrichtungen für kriminelle und vernachlässigte Kinder und Jugendliche zu. Die Kritik an ihrer mangelnden Anzahl und Ausstattung sowie an einer nicht ausreichenden Ausübung des Patronats gegenüber der Kinder und Jugendlichen setzte sich jedoch ebenfalls fort, wie María Aversa für die 1920er Jahre konstatiert. Zudem restringierte der Mangel an koordinierten nationalen Politiken ebenso wie geringe Etats für soziale Staatsausgaben eine Verwirklichung des sozialinterventionistischen Staats, der in den Forderungen und Vorstellungen der Epoche bereits Kontur gewonnen hatte.93 In diesen ersten juristischen und institutionellen Maßnahmen und in der breiten medialen Visualisierung und Diskursivierung der minoridad zeigt sich der Übergang von einer Logik des Bestrafens und Überwachens hin zu einer biopolitischen Strategie der Reformierung und Förderung. Es handelte sich dabei um einen national integrativen Diskurs, der die menores als nachwachsende Generation zivilisierbarer Bürger anerkannte.
91 Aversa, Infancia abandonada y delincuente, 2006, S. 101. Das geteilte Sorgerecht zwischen Vater und Mutter wurde 1949 erstmals in Argentinien eingeführt, 1957 wieder rückgängig gemacht und 1985 erneut eingeführt. 92 Vgl. Zapiola, María Carolina: „Niños en las calles. Imágenes literarias y representaciones oficiales en la Argentina del Centenario“, in: Horizontes y convergencias, 2010, S. 305-332, S. 305 f. Die Reformierung des Patronatsrechts auf Basis der Ley Agote erfolgte erst 2005, als mit Rückbezug auf die internationale Konvention der UN das uneingeschränkte Patronatsrecht des Staates zugunsten einer Inklusion von Kinderrechten in die neue Ley de Protección Integral de las Niñas, los Niños y los Adolescentes eingeschrieben wurde. 93 Vgl. Aversa, Infancia abandonada y delincuente, 2006, S. 105.
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„E L
ALMA DE LA CIUDAD “
– D IE
CANILLITAS
„Se escribirán tomos de sociología pedantesca, se disertará en el Parlamento acerca del trabajo de la infancia, y sobre todo de los vendedores de diarios y revistas, pero el mal continuará; el canillita será el mismo, espejo callejero, armonía de las muchedumbres, heroico luchador, luz de la civilización, pues sin él los pueblos vivirían retrasados, anodinos, carentes de nervioso dinamismo que importa ese minúsculo factor de su orientación.“94
Der in der Magazinpresse von Buenos Aires am häufigsten und kontinuierlichsten auftauchende Typus des Straßenlebens war zweifelsohne der canillita.95 So wurden jene Straßenverkäufer bezeichnet, die in den frühen Morgenstunden die gerade erschienenen Zeitungen und Zeitschriften von den Druckereien der Verlage abholten und auf belebten Straßen, in Straßenbahnen, Zügen und verschiedenen Lokalen lautstark anpriesen und verkauften.96 Wie das einleitende Zitat aus Caras y Caretas von 1918 andeutet, verbanden sich in den Repräsentationen der canillitas Diskurse über Armut, Vernachlässigung, Unschuld und Arbeit von Kindern, die symbolisch hochgradig aufgeladen waren. So wurde der canillita als Held beschworen und zum Inbegriff von Zivilisation und urbaner Moderne erklärt. Der canillita, so wird im Folgenden gezeigt, diente im Pressediskurs als exzeptionelle Figur, die zwar in ähnlichen Lebensbedingungen wie die ohne Familie aufwachsenden und delinquenten menores verortet wurde, aber nicht Objekt einer kriminalisierenden Repräsentationsstrategie wurde oder reformerische Empörung auf sich zog. Der canillita wurde auch gegenüber anderen auf der Straße arbeitenden Kindern exzeptionalisiert. Eine Kritik an der Kinderarbeit und ihren Bedingungen wurde trotz der zeitgenössischen parlamentarischen Debatten und ersten gesetzlichen Einschränkungen 1907 von der Magazinpresse kaum formuliert, insbesondere nicht hinsichtlich der canillitas. Im Gegenteil ver-
94 Oliver, Manuel María: „Tipos de Mar del Plata. El canillita“, in: Caras y Caretas, 21, 1073, 26.04.1919, S. 26. 95 Auf Repräsentationsebene handelte es sich fast ausschließlich um Darstellungen von Jungen als canillitas, allerdings gab es auch Mädchen, die als ZeitungsverkäuferInnen arbeiteten und in wenigen Artikeln angeführt wurden. An späterer Stelle werden diese Repräsentationen von Mädchen als canillitas analysiert. Insofern es sich aber um die Figur des canillita im Sinne eines stereotypisierten Diskurses handelte, wird im Folgenden keine geschlechterneutrale Schreibweise, sondern der männliche Genus verwendet. 96 Ein typischer Treffpunkt der canillitas war das Redaktionsgebäude von La Prensa, vgl. „Vendedores de diarios“, in: Suplemento de La Nación, 2, 48, 30.07.1903, S. 11.
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teidigte die Magazinpresse sie sowohl gegen kriminologische als auch gegen sozialreformerische Problematisierungen, wie im Folgenden gezeigt wird. 1901 veröffentlichte Caras y Caretas in der Rubrik „Escenas callejeras“ eine kurze Reportage über einen „preso minúsculo“:97 Der Reporter intervenierte laut dieser Schilderung in eine Situation, als ein canillita von einem Wachmann aufgrund des Verdachts festgenommen wurde, Blumen gestohlen zu haben. Er befragte den Ordnungshüter nach den Vorfällen, ebenso den kleinen Häftling. Dieser rechtfertigte sich, dass er die Blumen für seine Mutter hatte kaufen wollen, aber zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt worden sei. Zu seiner Verteidigung gesellte sich der Beschreibung zufolge eine Gruppe von canillitas, die den Wachmann davon zu überzeugen versuchten, ihren Freund gehen zu lassen. Der Reporter ergriff Partei für den canillita: „…la verdad es que algunas veces la fama injusta hace interpretar como malas sus buenas acciones y van á dormir entre rejas por la denuncia de cualquier transeúnte! Son los gajes del oficio de pillete!“
98
Die Fotografie, welche den Vorfall illustrierte, zeigt einen uniformierten Wachmann, der einen kleinen Jungen von etwa vier Jahren am Handgelenk festhält (Abbildung 7.13). Der Junge trägt eine Schirmmütze, zerlumpte Hosen, hat nackte Füße und Zeitungen unter seinen Arm geklemmt. Beide posierten frontal für die Kamera – der stramm stehende Ordnungshüter als Verkörperung von staatlicher Autorität und der hilflose kleine Junge als kindliches Opfer und Sympathieträger. Der Konflikt mit den polizeilichen Autoritäten stellte ein wiederkehrendes Thema in Reportagen über canillitas dar. Auch die eingangs zitierte Reportage aus Mundo Argentino positionierte sich zugunsten der canillitas in ihren Konflikten mit den Ordnungshütern. Sie benutzte dazu das Bild eines Schwarms von Spatzen, die sich gemeinsam gegen den Angriff eines Falken zur Wehr setzen. Die Solidarität der Gruppe und die „honradez intachable“ihrer einzelnen Mitglieder, insbesondere gegenüber ihren KundInnen, bezeugten eine Repräsentation moralischer Überlegenheit der canillitas gegenüber den Behörden.99
97 „Escenas callejeras. Un preso minúsculo“, in: Caras y Caretas, 4, 169, 28.12.1901, S. 32. 98 Ebd. 99 Gnomo: „Tipos de la ciudad. Canillita“, in: Mundo Argentino, 1, 8, 25.02.1911, S. 3.
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Abbildung 7.13
Quelle: Caras y Caretas (1901)
Diese Darstellung der canillitas als ehrliche und solidarische Gemeinschaft stand dem kriminologischen Diskurs konträr gegenüber. Seitens der Kriminologie wurden canillitas als Teil der mala vida und damit als potenzielle Gefahr für die Gesellschaft betrachtet.100 Die wichtigste und breit rezipierte kriminologische Studie über die canillitas stammte von José Ingenieros und war 1901 von dem Vorstand des Presseverbands Círculo de la Prensa in Auftrag gegeben worden, um die Beschäftigung von Kindern im Vertrieb der Zeitungen und Zeitschriften zu untersuchen. Ingenieros beobachtete und befragte dazu über 500 aktive und ehemalige canillitas zwischen sechs und 18 Jahren; eine daraus resultierende Studie trug den Titel: „Los niños vendedores de diarios y la delincuencia precoz“ und wurde 1908 in der Fachzeitschrift Archivos de Psiquiatría y Criminología
100 Zu den kriminologischen Befassungen mit canillitas und anderen Straßenkindern siehe: Zapiola, Niños en las calles, 2010 und Aversa, María Marta: „Vagos, mendigos y delincuentes. La construcción de la infancia peligrosa“, in: Cuadernos Sur. Historia, 32, 2003, S. 9-25.
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herausgegeben.101 Darin kategorisierte er drei verschiedene Typen von canillitas im Hinblick auf erbliche und sozial erworbene Eigenschaften und familiäre Verhältnisse: Er unterschied zwischen „industriales“, „adventicios“ und „delincuentes precoces“. Die Gruppe der „industriales“ setze sich demzufolge aus Kindern mit extrem schlechtem Bildungsstand zusammen, deren Eltern aus Italien eingewandert waren und die in zwei Dritteln aller Fälle von ihren Familien ohne Not ausgebeutet wurden. Ein degeneratives Erbe sei in dieser Gruppe kaum vorhanden und in nur wenigen Fällen träte delinquentes Verhalten auf.102 Die „adventicios“, welche der Bezeichnung zufolge ‚schicksalhaft‘ in ein Milieu der mala vida hineingeraten waren, wiesen laut Ingenieros degenerative Züge auf, zeigten Anzeichen sexueller Devianz – „masturbación y pedastería más generalizadas; frecuente el onanismo recíproco y aun el coita bucal recíproco“ –, tranken Alkohol, rauchten und lebten getrennt von ihren Familien – sei es, weil sie verstoßen wurden oder weil sie leichtfertig ein Leben auf der Straße gewählt hätten.103 Die dritte Gruppe der „delincuentes precoces“ zeichne sich besonders stark durch ihr degeneriertes Erbgut aus und habe die Grenze zur Kriminalität bereits überschritten.104 Wie auch Zapiola schlussfolgert, stellte Ingenieros das Leben als canillita als Eingangstor zum Laster und zum Verbrechen heraus, das bekämpft werden müsse.105 Seitens der großen Presseverlage wurden keine unmittelbaren Konsequenzen aus der Studie gezogen. Nicht die Debatten um die Delinquenz der canillitas, sondern die Frage der Kinderarbeit führte um 1920 zu einer Diskussion um die Beschäftigungsverhältnisse der Zeitungsjungen und mädchen. In den 1900er und 1910er Jahren wurden die canillitas von der Magazinpresse nicht als vernachlässigte, degenerierte oder fehlgeleitete Kinder diskursiviert, sondern in erster Linie als ‚kleine Arbeiter‘. Das Suplemento de La Nación lobte die canillitas 1903 als „obrero[s] laborioso[s]“. Gefährliche canillitas gehörten der Reportage zufolge der Vergangenheit an; es habe eine positive Entwicklung stattgefunden „con la desaparición del mal elemento“. Geschäftigkeit und Fleiß waren auch die zentralen Eigenschaften, die PBT über die canillitas des beliebten Badeortes Necochea zu berichten wusste:
101 Vgl. Ingenieros, José: „Los niños y la delincuencia precoz. Notas sobre una encuesta efectuada en 1901“, in: Archivos de Psiquiatría y Criminología, 7, 1908, S. 329-348. Die Methode seiner Untersuchungen erläutert Ingenieros auf den Seiten 329-331. 102 Vgl. ebd., S. 332-336. 103 Vgl. Ingenieros, Los niños y la delincuencia, 1908, S. 336 f. 104 Vgl. ebd., S. 337. 105 Vgl. Zapiola, Niños en las calles, 2010, S. 316.
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„Son estos pequeños canillitas incansables en su tarea; a todas horas, de mañana, tarde y noche los veréis pregonando sus periódicos y revistas. Siempre contentos, su alegre voceo pone una nota de alegría donde se presentan. Todo el mundo los conoce a estos simpáticos vendedores de la agencia La Mascota, portadores y propagandistas entusiastas de las grandes publicaciones porteñas.“106
Abbildung 7.14
Quelle: PBT (1917)
Die Fotografie zeigt – mit den Worten der Bildunterschrift – zwei sympathische canillitas, die der Kamera zugewandt an ihrem Arbeitsort am Strand stehen (Abbildung 7.14). Beide tragen ein Bündel Zeitungen unter dem Arm; einer hält zudem eine Zeitschrift in der Hand. Ihre Kleidung ist von den Schuhen bis zur Kopfbedeckung auffallend gepflegt. Dieser ordentliche Eindruck auf visueller Ebene kombinierte sich mit der textlichen Beschreibung der unermüdlichen, begeisterten Zeitungsverkäufer zu einem durchweg positiven, pittoresken Bild der ‚kleinen Arbeiter‘, das in kostumbristischer Tradition der tipos populares stand. Insbesondere in Bezug auf die canillitas zeigte die Magazinpresse noch Ende der
106 „Dos simpáticos canillitas“, in: PBT, 14, 642, 17.03.1917, S. 48.
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1910er Jahre keinerlei Anzeichen einer sozialen Kritik an der Kinderarbeit und ihren Bedingungen. Die Aufwertung der canillitas seitens der Magazinpresse geschah mit Bezug auf ihre Funktion im Pressewesen. Als unmittelbares Verbindungsglied zwischen Presse und Leserschaft honorierte die Magazinpresse die canillitas vielfach als unverzichtbare Teile des modernen Journalismus. Das Magazin Mundo Argentino begründete sein Lob mit ihrer fundamentalen Bedeutung für den gesamten Pressebetrieb: „Mundo Argentino quiere á los buenos y animosos canillitas que son los que le dan la vida, que son los que lo llevan por todas partes, y con su grito le conquistan la popularidad y el prestigio. Ellos, los modestos pibes, son los primeros, los más valiosos, los más importantes elementos del periodismo moderno; porque un periódico callejero, sin el concurso de los vendedores, no podría subsistir.“107
Die stärkste Befürworterin des canillita war die Zeitung Crítica, die ihn als „nuestro amigo del alma y colaborador” bezeichnete, der von Anfang an zum Erfolg der Zeitung beigetragen habe.108 Die Eigenschaft als Kinder trat dabei hinter der Repräsentation als ‚gute ArbeiterInnen‘ zurück. Zwar betonten die Magazine immer wieder die Freude und gute Laune der canillitas beim Ausrufen und Verkaufen ihrer Waren, die sie zu beliebten tipos populares nicht nur der großen Städte, sondern saisonal auch der Urlaubsorte machte. Ihre Fröhlichkeit wurde allerdings nicht als Spielsinn und Bedürfnis nach Freizeit gewertet, sondern als dynamisierendes Engagement zugunsten des Vertriebs der Zeitungen und Zeitschriften. Die Bedeutung der canillitas für den journalistischen Erfolg beschrieb am eindringlichsten Caras y Caretas in einem Rückblick auf die Gründungszeit des Magazins. Die Reportage erinnert an die erste Erscheinung des Magazins 1898, als heftige Regenfälle den Verkauf zu gefährden drohten. Der rückblickenden Schilderung zufolge versammelten sich die canillitas nichtsdestotrotz am Morgen vor dem Redaktionsgebäude von La Prensa: „[...] los vendedores aun con el agua al cuello, continuaron voceando a más y mejor Cara Careta hasta que el título se metió en los oídos del repetable público y nuestras ediciones fueron aumentando. Todos los sábados – ya era tradicional en los vendedores, - depués de
107 El Canillita. Organo oficial del gremio de vendedores de diarios“, in: Mundo Argentino, 1, 22, 07.06.1911, S. 23. 108 „La suerte del canillita“, in: Crítica, 3, 985, 11.06.1916, S. 5.
300 | W IE DIE A NDEREN LEBEN su porcentaje de diarios, cargaban con varios números de nuestra revista, y poco a poco en el mercado se dió entrada una nueva cotización, la de la revista.“109
Der Erfolg der Magazins, und infolgedessen auch des gesamten neuen Zeitschriftenmarktes, galt somit als Verdienst der canillitas. Im Jahr 1915, anlässlich ihres 19-jährigen Bestehens, blickte Caras y Caretas auf ihre Entwicklung und Erfolge zurück und errechnete umgekehrt auch den finanziellen Nutzen für die ZeitungsverkäuferInnen mit über vier Millionen Peso, den sie im Laufe der Zeit anteilig erwirtschaftet hätten. Die canillitas erschienen hier als ein wichtiger Parameter neben der wachsenden Auflage, der enormen Menge an Korrespondenz, der überregionalen und internationalen Distribution und der schieren Massen an Papier, anhand derer sich die Modernität und der Erfolg der Zeitschrift bemessen ließ.110 Der integrative Blick auf die canillitas als Teil des professionellen Presseapparats betraf ausschließlich Repräsentationen von Zeitungsjungen, während Mädchen normalerweise kein Teil dieser Darstellungen waren. Einige wenige Artikel thematisieren jedoch die Existenz von Mädchen, die als canillitas arbeiteten. Revista Popular erklärte das „espectáculo de las menores vendedoras de diarios” als Phänomen der wachsenden existenziellen Not, die täglich mehr Frauen und Mädchen dazu zwinge, sich diesem „modus vivendi“ zu unterwerfen. Die „voz dolorida“ der Zeitungsmädchen oder der Anblick einer schwangeren Frau, die Zeitungen anpries, wurde als Ausdruck größten Leids beschrieben; die Arbeit selbst aber als würdige Tätigkeit verteidigt.111 Die Revista Popular verteidigte die Betätigung von Mädchen und Frauen als canillitas als notwendiges Übel in Anbetracht der sozioökonomischen Situation breiter Bevölkerungsteile. Weibliche canillitas wurden somit im Kontext der Armutsproblematik als Problem diskursiviert und von dem valorisierenden pittoresken Bild der männlichen canillitas ausgenommen. Caras y Caretas veröffentlichte 1913 eine Reportage, die zu einem weitaus düstereren Ergebnis kam: Hier schilderte ein Reporter, wie bei einem Cafébesuch ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit ungesunder Gesichtsfarbe, nervösem Gestus und heimtückischem Ausdruck Zeitungen zum Verkauf anbot. Ihr Erscheinen prophezeite für ihn das Ende der „mágica leyenda de la América dorada“ und des „viejo prestigio del
109 Cuello, Goyo: „El comercio de las revistas“, in: Caras y Caretas, 18, 890, 23.10.1915, S. 20. 110 Vgl. El Doctor Misterio: „19 años de vida“, in: Caras y Caretas, 19, 941, 14.10.1916, S. 22 f. 111 Lego: „Las vendedoras de diarios“, in: Revista Popular, 1, 4, 20.08.1917, S. 24 f.
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país de oro“. Die Arbeit von Frauen und insbesondere von Mädchen beschrieb er weiterhin als Einbruch in eine männlich geprägte gesellschaftliche Ordnung der Stadt: „Se ha particularizado Buenos Aires hasta ahora por una cualidad hermosa: ha sido siempre una ciudad varonil. Trabajan los hombres; corren y sudan sólo los hombres. Esta preciosa forma de civilización masculina, que ha dado un carácter tan enérgico y singular a la metrópoli, comienza a desvirtuarse. Y si la mujer, si especialmente la infancia feminina invade el vasto palenque de la ciudad y arrastra su tristeza por entre los duros entreveros de la lucha por la vida, ¿qué negro tono adquirirá el pueblo que ha sido el paraíso de las mujeres y la gloria batallante de los hombres?“112
Ein Anschluss an die Debatten zur Kinderarbeit fand hier also nur in Unterordnung zur Frage der Lohnarbeit von Frauen statt, die als eigentliches Übel der argentinischen Gesellschaft gewertet wurde. Demgegenüber fiel die nostalgisierende Beschreibung der männlichen canillitas umso deutlicher aus. Die journalistischen Repräsentationen charakterisierten den canillita über eine Eigenschaft, die ihn mit dem atorrante verband: seine Freiheitsliebe und Ungebundenheit. So stellte Crítica einen grundsätzlichen Unterschied des canillita von anderen Kindern dar, die auf der Straße arbeiteten: Während es sich bei den anderen Gruppen um „comerciantes“ handele, sei der canillita ein „bohemio“: „El canillita ama la libertad amplia, absoluta, es un ave. No le preocupa gran cosa ganar mucho o poco; lo que le importa es ser libre; correr, gritar, ‚raferse‘ en las tranvías, meterse en los teatros, moverse, hacer barullo, tal es la vida del canillita.“113 Die Freiheitsliebe wurde hier als Drang nach existenzieller Freiheit, räumlicher Mobilität und sozialer Ungebundenheit verstanden. Ebenso wie im Diskurs des atorrantismo wurden Situationen von Armut und Obdachlosigkeit als selbstbestimmte Frage des Lebensstils gedeutet. Auch die Geschichte eines Jungen in Caras y Caretas, der aus den elenden und gewaltdurchsetzten Verhältnissen in einem conventillo flüchtet und sich in einen canillita ‚verwandelt‘, nostalgisierte das Leben auf der Straße: „La vida fué entonces para él una constante fiesta. Ese
112 Vgl. Salaverría, José M.: „La niña que vende diarios“, in: Caras y Caretas, 16, 780, 13.09.1913, S. 52. 113 „Las novelas de humildades. Los canillitas - el dolor de la calle“, in: Crítica, 9, 3027, 21.01.1922, S. 4.
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vivir independiente, ese ser dueño de sus horas lo compensaban sobradamente del poco comer y de la dureza de sus camas sucesivas.“114 Die Darstellungen eines unabhängigen Lebens in Freiheit produzierten im Gegensatz zu den atorrantes kein Bild des canillita in sozialer Isolation in Verbindung mit dem Verlust von Affekten und Verhärtung der Persönlichkeit. Canillitas wurden als besonders verletzlich, gefühlvoll und werteorientiert repräsentiert. Dabei wurde auf das Bild des Kindes als unschuldiges Wesen zurückgegriffen, wie es seit der Aufklärung zentral für das Verständnis von Kindheit war. Crítica publizierte 1922 eine Reportage über canillitas in der Rubrik „Novelas de humildades“, die sehr treffend eine heroisierende und nostalgisierende Repräsentation mit der Idee der kindlichen Unschuld verband. Mehrere Anekdoten schilderten alltägliche Heldentaten von canillitas, die frei von Selbstsucht und Habgier ihr letztes Geld oder ihre Hilfe anboten, wenn jemand in Not war. Ihr Heldentum war gleichzeitig unmittelbar mit einem Opferdasein verbunden, wie der appellative Part am Schluss der Reportage verdeutlicht: „¡Cuántos canillitas duermen arrinconado en los umbrales en esas noches crudas de invierno, hechos un ovillo por el frío, sin sentir jamás una caricia, un afecto, un poco de calor. Frío en la calle y frío en el alma.“115 Abbildung 7.15
Quelle: Crítica (1922)
Die Fotografie, welche den Zeitungsartikel zentral bebilderte, zeigt einen schlafenden canillita auf den Marmorstufen eines Gebäudes, den Kopf auf einem Sta114 Cordiviola, Cleopatra: „La pena del Canillita“, in: Caras y Caretas, 22, 1106, 13.12.1919, S. 35. 115 Las novelas de humildades, 21.01.1922, S. 4.
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pel Zeitungen; um die Mundwinkel zeichnet sich ein Lächeln ab (Abbildung 7.15). Die Bildunterschrift beschrieb dies als „angelical sonrisa, como si llamara: Mamita!“.116 Das engelhafte und unschuldige Kind wurde hier als Opfer von Entbehrungen und familiärer Verlassenheit gezeichnet, welches die Sympathien und das Mitleid der Leserschaft erwarten durfte. Die Verletzlichkeit der canillitas wurde nicht zuletzt durch zahlreiche Artikel verdeutlicht, die von Unfällen und Beerdigungen von canillitas berichten. So etwa die Geschichte von Totó, einem Zeitungsjungen, der nach dem Tod seines Vaters seine Mutter unterstützen will, beim seinem ersten erfolgreichen Verkauf aber von einem Auto überfahren wird. Totó wurde hier in erster Linie als ‚guter Sohn‘ dargestellt, der aus Mutterliebe handelt und zu eigener Aufopferung bereit ist. Das Motiv des Sohnes übertrug sich sogleich auf nationale Ebene, indem von seiner „voz argentina y cariñosa“ die Rede ist, mit welcher er sich an die PassantInnen wendet: „¡Cómpreme el diario, es el pan de mi madre y el mío! ¡Ampáreme, soy niño; pero cuando llegue á hombre, amaré á los que me ayuden!”117 Wie die Untersuchung von fachpädagogischen Quellen durch Zapiola zeigt, entsprach diese Darstellung einem pädagogischen Diskurs, der canillitas vornehmlich als „hijos muy buenos“ darstellte, die sich für ihre Familie aufopferten und infolgedessen Nachteile in ihrer Schulbildung davontrugen.118 Dabei handelte es sich um einen national integrativen Diskurs, der die kindlichen Opfer-Helden als zukünftige gute Bürger verortete. Die canillitas traten in der Magazinpresse nicht allein als Projektionsfläche einer nostalgisierten Vorstellung von prekärer Kindheit hervor, sondern ließen auch eine eigene Agency erkennen. Bereits Anfang der 1900er Jahre hatten die ZeitungsverkäuferInnen sich als gewerkschaftliches Gremium organisiert, auf das sich bereits das Suplemento de La Nación 1903 bezog.119 1911 hieß Mundo Argentino einen „nuevo colega á la prensa argentina“ willkommen: Auf die Initiative des Zeitungsverkäufers José Sauta hatte die mittlerweile über 500 Mitglieder zählende Vereinigung ihr eigenes Presseorgan herausgebracht, das den
116 Ebd. 117 Alba, M. de: „El primer jornal“, in: Mundo Argentino, 1, 25, 28.06.1911, S. 19. 118 Vgl. Zapiola, Niños en las calles, 2010, S. 317 f. Zapiola analysiert Beiträge der pädagogischen Fachzeitschrift El Monitor de la Educación Común. Sie erläutert, dass die positive Darstellung der canillitas dort durch eine terminologische Unterscheidung zu anderen als pillos bezeichneten Zeitungsverkäufern erfolgte, die nicht im Familienzusammenhang lebten und ihr Geld für Glücksspiel und Zigaretten ausgaben. Vgl. ebd., S. 318. 119 Vgl. Vendedores de diarios, 30.07.1903.
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Titel El Canillita trug. Ihr Programm wurde von Mundo Argentino folgendermaßen zitiert: „¡Pobre Canillita! Es necesario que el público se dé cuenta de que también los vendedores de diario tienen alma, corazón, estómago y pulmones! Por eso aparece ‘El Canillita’ – pobre como el diablo,- pero lleno de buenas intenciones, para decir en voz alta y por boca de los mismos diarieros, cuánto es lo que sufren y qué es lo que precisan.“120
Die Vereinigung trat in der Folgezeit insbesondere für eine bessere Bezahlung durch die Presseverlage ein. Ihr im Programm formuliertes Selbstbild referierte zum einen auf eine Darstellung des canillita mit ‚Herz und Seele‘, wie sie die Magazinpresse perpetuierte. Aber auch ihr Magen und damit die Forderungen nach verbesserten Existenzgrundlagen, ebenso wie ihre Lungen und die damit implizierte Fähigkeit zu lautem Protest, sollten zum Sinnbild des canillita werden. Der Zusammenschluss zeitigte in den wachsenden Auseinandersetzungen um die Rechte der ZeitungsverkäuferInnen um 1920 seine Wirkung. Im Januar 1920 riefen die canillitas den Streik gegen die Tageszeitung La Razón aus, da sie ihren Forderungen nach einer höheren Entlohnung nicht entgegenkam. Crítica befürwortete die Forderungen der canillitas und attackierte La Razón und die Asociación Gráfica, deren Vorsitz diese stellte, in ihrer regelmäßigen Berichterstattung um die Auseinandersetzungen heftig. Insbesondere die teils gewaltsamen Restriktionen gegen die Streikenden standen in der Kritik: Crítica berichtete von dem Einsatz von 300 neuen canillitas durch La Razón, die als Streikbrecher eingesetzt wurden und bewaffnet gegen die „verdaderos vendedores“ vorgingen.121 Der Boykott von La Razón durch die canillitas, so verlautbarte Crítica wenig später, fügte dem einstigen ‚Koloss‘ der Zeitungslandschaft hinsichtlich der Verkaufszahlen großen Schaden zu.122 Die Asociación Gráfica, zu der auch Mundo Argentino gehörte, hatte in der Frage der canillitas einen Beschluss über die Beschäftigungsverhältnisse gefasst, der sich an der Ley tutelar de menores de edad orientierte: Demnach mussten sich alle ZeitungsverkäuferInnen bei der Vereinigung registrieren, wozu ein
120 „El Canillita. Organo oficial del gremio de vendedores de diarios“, in: Mundo Argentino, 1, 22, 07.06.1911, S. 23. 121 „Canillitas y diarios. Al margen de una huelga“, in: Crítica, 7, 2218, 24.01.1920, S. 1. 122 Vgl. „De la Federación Vendedores de Diarios. El conflicto con La Razón“, in: Crítica, 9, 3063, 01.03.1922, S. 8.
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Mindestalter von 18 Jahren¸ ein Identitätsnachweis (anhand der cédula de identidad) und Auskünfte über die Person notwendig waren, um eine Lizenz als ZeitungsverkäuferIn zu erhalten, die sie für den Vertrieb und die Gewährung von Zahlungen durch die Presseorgane autorisierte.123 Die Auseinandersetzungen um die Beschäftigung der canillitas schürten einen fortdauernden Konflikt zwischen Crítica und den Mitgliedern der Asociación Gráfica, der in den folgenden Jahren immer wieder entflammte.124 Die Untersuchung hat gezeigt, dass die mediale Diskursivierung von Kindeheit eine entscheidende Bedeutung in der biopolitischen Formierung eines argentinischen Nationskörpers besaß. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Thematisierung von Kindern stets nach demselben Muster ablief. Im Gegenteil weisen gerade die Berichte über Kinder eine ausbuchstabierte Differenzierung auf, in der sich moderne kriminologische, psychologische, eugenische, hygienische und geschlechternormative Diskurse artikulierten und ihre Betrachtungsgegenstände hervorbrachten. So wurde über die Frage der Kindheit etwa die vergeschlechtete Arbeitswelt und die Frage nach geschlechterspezifischen Räumen verhandelt. Arbeit im öffentlichen Raum der Straße wurde bei Mädchen unter den Metaphern der Fürsorge problematisiert und über die Argumente der Eugenik als Ausdruck von sozialem Elend und Defekt diffamiert. Über den kindlichen Körper des männlichen Verbrechers wurde hingegen die diskursive Verschiebung von der Sühne zur Prävention und Reformierung vollzogen. Mehr und mehr interessierte man sich für die Umstände des Täters und zielte auf dessen Normalisierung in den Koordinaten des Familiären. Die durch die philanthropische Bürgerin geführte Fürsorgeeinrichtung, die nach moderner Pädagogik reformierte Anstalt, die vom Staat geführte Schule, die von den Zeitungen propagierte quasi-heimische Intimität mit den Zeitungsjungen oder auch die vom Präsidenten garantierten symbolischen Patenschaften imaginierten die Gesellschaft als Ganzes in den Begriffen der Familie. Über die Kinder wurde das Private mit dem Öffentlichen, das Heimische mit dem Institutionellen, das Rebellische mit dem Reformerischen, der kindliche Eigensinn mit der patriarchalen Obhut, das
123 Vgl. Registro de vendedores de diarios“, in: Mundo Argentino, 7, 472, 28.01.1920, S. 3. 124 Ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen fand 1926 statt, als Crítica einen „camión defensivo y punitivo“ mit Sicherheitspersonal einsetzte, um den Verkauf der Zeitung durch die eigenen canillitas zu schützen, vgl. Crítica organiza un raid defensivo y punitivo en defensa de sus canillitas“, in: Crítica, 13, 4492, 05.02.1926; Ayer el camión de Crítica defendió el trabajo de los pequeños canillitas“, in: Crítica, 13, 4493, 06.02.1926.
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Unschuldige mit dem Politischen, das Delinquente mit dem Hygienischen und schließlich die mala vida mit dem Nationalen zusammengeführt. Wie an keiner anderen Stelle konnte sich über die Kinder jene imaginäre Gemeinschaft konstituieren, die den modernen Nationalstaat charakterisiert.
Fazit
Die Bedeutung der vorliegenden Studie für die historische Forschung liegt in der Herausarbeitung eines Dispositivs der Macht als Bedingungszusammenhang für die Entstehung der modernen argentinischen Nation. Dieses Dispositiv hat sich in den Mikrotechniken der modernen Magazinpresse und ihrer Verschränkung scheinbar disparater Diskurse zur Sozialen Frage herausgebildet. Eine neue Art des Schreibens, des Zeigens und des Intervenierens hat ein Wissen darüber hervorgebracht, wie die Anderen leben: Die Reporter begaben sich auf die Straßen, an die Stadtränder und die Flussufer, auf die Müllhalden, in die conventillos, in die Kinderheime und Gefängnisse, um Elend und Armut, körperliche Abweichung, geschlechtliche Transgression, Bettelei und Wohnungslosigkeit, Delinquenz, Vernachlässigung von Kindern und prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse auf die Tagesordnung der Magazine zu setzen. In der Analyse wurden die Fotografien und Textbeiträge über marginalisierte Räume und subalterne Menschen analysiert und in den Zusammenhang mit journalistischen Praktiken gestellt, die von der jungen Magazinpresse und ihren Reportern ausgingen. Diese textlichen und bildlichen Diskurse der Presse dürften heutigen LeserInnen und BetrachterInnen wenig spektakulär, mitunter auch vertraut vorkommen, handeln sie doch vielfach von den gleichen oder ähnlichen gesellschaftlichen Problemen nicht nur in argentinischen Städten, die auf der gegenwärtigen Agenda der Massenmedien zu finden sind. Die erhitzten Debatten um Jugendkriminalität der letzten Jahre in Argentinien, die zwischen der Herabsetzung des Mindestalters für Strafmündigkeit und Forderungen nach Bildungsprogrammen und Armutsbekämpfung changieren, haben insbesondere auf medialer Ebene stattgefunden. Auch die hohe mediale Aufmerksamkeit für die Ausbreitung der villas miseria in Buenos Aires und anderen Städten wie Rosario und Santa Fe zeigt offensichtliche Parallelen zur Berichterstattung und journalistischen Strategien des frühen 20. Jahrhunderts.
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Die Geschichte der frühen Magazinpresse hat gezeigt, dass Diskurse über soziale Marginalität und urbane Problematiken nicht ahistorisch sind oder lediglich die ‚tatsächlichen‘ Probleme der Stunde abbilden beziehungsweise abgebildet haben. Die ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts brachten Diskurse und Bilder gesellschaftlicher Dysfunktionalität und individueller Abnormität hervor, die, so die These dieses Buchs, ein spezifisches Wissen über die biologische und soziale Beschaffenheit der Gesellschaft generierten und Machteffekte ausbildeten, die für die Entstehung der modernen argentinischen Nation grundlegende Bedeutung hatten und bis heute wirken. Dass die historische Entstehung von Nationen auf der verallgemeinerten Phantasie einer abgrenzbaren Gemeinschaft von Gleichen beruht und damit von Grund auf diskursiv ist, stellt spätestens seit Andersons imagined communities keine überraschende, allerdings auch keine konsensuale Idee dar. Die Erfindung der argentinischen Nation als gesamtgesellschaftliche Verbindung, so die These dieser Arbeit, war gleichursprünglich mit der Erfindung des Sozialen als gesamtgesellschaftliche Problematik. Anders gesagt standen in ihrer Genese nicht die Fragen Wer sind wir? oder Was verbindet uns als kulturelle Gemeinschaft? im Mittelpunkt – auch wenn diese Fragen durchaus von VertreterInnen der politischen und kulturellen Eliten gestellt und beantwortet wurden –, sondern die Fragen nach der Behandlung sozialer Differenz innerhalb der nationalen Gemeinschaft. Schaut man sich die Repräsentationen der Magazinpresse in den Jahren nach 1900 an, so stellt man fest, dass die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen sozialen Milieus, kulturellen Charakteristika, Verhaltens- und Arbeitsweisen, Körpern und Klassen ein fragmentiertes Gebilde darstellte, das wenig Homogenität und dafür umso mehr soziale Disparität darzubieten schien. Doch in genau dieser Diskrepanz findet sich das identitätsstiftende Moment in der Magazinpresse: Sie verknüpfte eben diese eklatanten oder auch feinen Unterschiede im sozialen Gefüge und brachte darüber ein Wissen hervor, das mit spezifischen Machteffekten verbunden war. Aus der Narration von sozialer Differenz – und nicht aus ihrer Überwindung heraus – ist die Realfiktion einer nationalen Einheit formuliert worden. Diesen Macht-Wissens-Komplex hat die vorliegende Arbeit als biopolitisch herausgestellt. Sie hat gezeigt, wie bestimmte Aspekte dessen, was man im weitesten Sinne unter den Begriff der Sozialen Frage fassen kann, erst diskursiv zu sozialen Problemen herangereift sind, die als gesamtgesellschaftliche Probleme begriffen wurden und nach nationalen Lösungen verlangten. Das Konzept der Biopolitik betont den Zusammenhang zwischen den Problemen der Ränder und dem Wohlergehen des Zentrums beziehungsweise eines vorgestellten Gesellschaftskörpers. Die Magazinpresse ‚entdeckte‘ soziale Mar-
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ginalität, die Probleme der Arbeits- und Wohnungslosen, der Prekarisierten und Hoffnungslosen, der Aussteiger und der Kriminellen als etwas Eigenes und sehr Nahes. Sie betrafen die LeserInnen unmittelbar und gehörten fortan zu ihrer Lebenswelt und ihrem Alltag. Diese Arbeit hat die spezifischen Mechanismen herausgestellt, mit denen soziale Marginalität in der Magazinpresse zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses und populären Wissens ausgeformt worden ist, der biopolitische Machtverhältnisse und gouvernementale Regierungsformen ausgeprägt hat. Eine wesentliche biopolitische Strategie des Magazinjournalismus lag in der Identifizierung und Sichtbarmachtung von ‚anderen‘ Orten wie dem Flussufer, der Müllhalde und den conventillos. Die Reporter suchten diese Orte auf und ‚entdeckten‘ sie für ihr Lesepublikum als unbekanntes Terrain, das es zu erkunden gelte. In den Repräsentationen der Magazinpresse wurden diese Gebiete zu sozialen Räumen beziehungsweise zu sozialen Milieus alterisiert und darin konstituiert, die mit Gefahr und Schädlichkeit auf der einen Seite und mit Nostalgie und mythischer Überhöhung auf der anderen Seite einhergingen. Das Beispiel von informellen Siedlungen an den Stadträndern und Flussufern zeigt diesen sozialen Konstruktionscharakter von Raum sehr deutlich: Der Weg der Journalisten wurde als Entdeckungsreise begriffen und die Orte selbst als abgeschiedene und fremdregierte Parallelwelten vorgestellt. Diese Raumkonstruktion gelang darüber hinaus auch auf einer zeitlichen Achse: Die Siedlungen wurden einer modernen urbanen Welt als vorgängig entgegengestellt, die noch nicht von dem hektischen Großstadtleben erreicht worden waren. Gleichzeitig handelte es sich bei dieser Raumvorstellung aber auch um einen Grenzort, insofern es sich um gesellschaftlich zugehörige Gebiete handelte, deren extreme Randständigkeit auch als Problem des Zentrums gedeutet wurden. Dies zeigt etwa der Fall des an der Müllhalde gelegenen barrio de las ranas, der eine besonders große Aufmerksamkeit in der Magazinpresse erfuhr. Diese informelle Siedlung wurde ebenfalls als Gegenort zur modernen Konsumgesellschaft in ein parasitäres Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft gestellt, insofern die BewohnerInnen von den Abfällen der Stadtgesellschaft lebten und selbst nicht produktiv oder nützlich, sondern im Gegenteil äußerst schädlich, gefährlich und deviant erschienen. Hier waren es in erster Linie Diskurse zu Hygiene und Delinquenz, mit welchen das soziale Milieu der quema bedacht wurde. So inszeniert diese abenteuerlichen Reisen in unbekannte Zonen auch erscheinen mögen – es handelte sich schließlich meist um sehr kurze Wege, die überdies tagtäglich von sehr vielen Menschen zurückgelegt wurden –, zeugen sie doch von dem heterotopischen Charakter dieser Orte, die sich ordnungspolitischen Zugriffen entzogen, vorherrschende Vergesellschaftungsformen ignorier-
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ten und damit tatsächlich den Zutritt der bürgerlichen Journalisten versperrten oder zumindest erschwerten. Die Überwindung der liminalen Schwellen durch die Reporter, die sich auf diese Orte einließen und für Momente selber Teil dieser Räume wurden, hat diese Arbeit als diskursive Öffnung jener ‚Widerlager‘ verstanden. Die Ufer der Stadt und die informellen Siedlungen waren contested spaces, in die mittels des Reporters biopolitische Diskurse Einzug hielten und gleichzeitig Bilder dieser eigentlich nicht-repräsentierbaren Heterotopien von ihm entrissen und zu Repräsentationen sozialen Elends umgeschrieben wurden. Die diskursive Technik war dabei die Zusammenführung von Skandalisierung und Romantisierung, die über die Konstruktion des Mythos den ‚anderen Orten‘ ihre Geschichtlichkeit nahm und sie über die Forderung nach Reformen einer zukünftigen Regierbarkeit zuführte. In der Etablierung der Badeanstalten und ihren intrinsischen Themen wie Hygiene, Sport, Ordnung, Kontrolle, Sicherheit, Produktivität, Erholung und letztlich Modernität zeigt sich die Einhegung der Subalternen für das Projekt ihrer national-sozialen Stratifizierung. Nicht nur an den Rändern, auch in den Zentren fanden diese biopolitischen Vermessungen statt. Insbesondere das conventillo wurde zu einem Ort, der von Journalisten, ReformerInnen und Behörden unzählige Male aufgesucht, fotografiert und für die allgemeine Öffentlichkeit über das Scharnier der illustrierten Wochenzeitschrift medial zugänglich gemacht wurde. Die Frage des Wohnraums wurde dabei zu einem genuin biopolitischen Thema: Makroskopisch gesehen war dies der Raum, in dem die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung, ihre demografische Entwicklung und Verteilung, ihre Familiengründung und Fortpflanzung, sowie ihre Freizeit und die Reproduktion ihrer Arbeitskraft stattfanden. Die Reformierung der Wohnverhältnisse der – wie Foucault sagt – „barbarischen, unmoralischen und gesetzlosen Klasse“1 berührten die vitalen Prozesse der Bevölkerung in ihrem Kern; der spezifische Ort mit seinen lokalen Problematiken war zu einem biopolitischen Interventionsraum geworden, der eine Lösung für die Allgemeinheit verlangte. Diese bestand in der Schaffung von privatem, familiarisiertem Raum, der bislang den bürgerlichen Gesellschaftsschichten vorbehalten gewesen war. Die Förderung neuer Arbeiterstadtteile mit privaten Eigenheimen, für die sich die ArbeiterInnen oft lebenslang verschuldeten, wurde von der Magazinpresse einstimmig favorisiert. Die Aufwertung von öffentlichem ebenso wie von privatem Raum entsprang dem gleichen biopolitischen Impuls: Der domestizierte Raum des privaten Eigenheims galt gleichermaßen der heteronormativen Vergeschlechtung von Arbeits- und Familienverhältnissen wie auch der Verstaatsbürgerlichung der Arbeiterklasse
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Foucault, Überwachen und Strafen, 1977, S. 354.
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an sich – ein Projekt, das insbesondere auch von der organisierten Arbeiterschaft verfolgt wurde. Der Widerstand der MieterInnen, die zwar ebenfalls gegen die schlechten Bedingungen ihrer conventillos und die zu hohen Mieten kämpften, sich aber gleichzeitig auch gegen Maßnahmen ihrer institutionellen Erfassung und Einhegung wehrten, verweist auf ein anderes Begehren im umkämpften Feld des Privaten. Diese Arbeit hat neben der Bedeutung von anderen Räumen für die Zeichnung einer mental map einer nationalen Gesellschaft die Kategorisierung und Problematisierung subalterner Gruppen untersucht und diesbezügliche journalistische Strategien nachvollzogen. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Betrachtung derer, die als anders, als nicht regierbar oder auch als reformbedürftig in den Blick der Journalisten gerieten, zu einer Konstante in der Magazinpresse wurde. Die Körper, die Psyche, die Sexualität, das Verhalten, die Bewegungen und die Interaktionen der Subalternen wurden ausgekundschaftet, beschrieben und problematisiert. Für diese journalistische Aufmerksamkeit sind verschiedene Impulse herausgestellt worden, etwa Voyeurismus, Faszination, Kritik und Abscheu. Die Analyse der Magazinpresse zeigt jedoch auch, dass in den Repräsentationsakten ein Spannungsfeld angelegt war, das aus der Resilienz der Armen und Ungehorsamen selbst resultierte. Die Grenzziehung sozialer In- und Exklusion von Individuen und Gruppen oblag nicht allein den Definitionen der Journalisten im Zusammenspiel mit politischen und wissenschaftlichen Deutungen, sondern stellte eine gesellschaftliche Aushandlung dar, an der die Subalternen machtvoll partizipierten. Diese Betrachtungsweise kehrt die Modernisierungslogik eines Fortschrittsdiskurses um: Nicht die defizitäre Integration in die bürgerliche Ordnung stellte das Problem für die Subalternen dar: Vielmehr war es ihr permanentes Entziehen aus einem integrativen und gleichzeitig nach Geschlecht, Klasse, Alter und raza stratifizierten Gesellschaftskonzept, das für die Durchsetzung einer fortschrittlichen argentinischen Nation ein Problem darstellte. Dieses Spannungsfeld zeigen die vielen enttäuschten Kommentare der Journalisten, die von der Weigerung von MüllsammlerInnen, von armen Fischern, atorrantes oder StraftäterInnen berichteten, auf die Fragen der Reporter zu antworten oder sich fotografieren zu lassen. Ebenso verweisen die Aneignungsstrategien auf die Beharrungskräfte der Subalternen, mit denen die Porträtierten und Befragten die journalistische Aufmerksamkeit für ihre eigenen Interessen instrumentalisierten beziehungsweise sich in ihrer Andersartigkeit behaupteten. Die subalterne Agency transzendierte vor allem aber die von der Magazinpresse postulierten Probleme selbst: Die Verweigerung von Sesshaftigkeit und geregelter Lohnarbeit, von hygienischer Sorge und medizinischer Vorsorge, von heteronormativen Geschlechteridentitäten und nationaler Zugehörigkeit erzeugte jene
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journalistische Unruhe und Faszination, in der die unaufhörliche Grenzziehung von marginalen Räumen und Subjekten gegenüber einer darüber konzipierten gesellschaftlichen Normalität austariert wurde. Die Ausformung von einem biopolitischen Macht-Wissen über die subalterne Bevölkerung kann somit auch als Antwort auf deren disparate Taktiken verstanden werden. Der Prozesscharakter in der Aushandlung von In- und Exklusionslinien lässt sich deutlich in den unterschiedlichen Kategorisierungen erkennen, mit denen Menschen aus Armutsverhältnissen in der Magazinpresse bedacht wurden – sie verweisen auf den Zickzack der flüchtigen Subjekte durch verschiedene Zustände des Lebens, dem die Reporter versuchten zu folgen. Die Armut selber als Effekt sozioökonomischer Entwicklungen stand dabei kaum im Zentrum der Betrachtung. Vielmehr waren es die Armen selbst, die pathologisiert, exzeptionalisiert und exotisiert wurden. Einen großen Teil der tipos populares, deren Porträts vor allem in den stärker kostumbristisch und humoristisch orientierten Magazinen Fray Mocho, PBT und Caras y Caretas auftauchten, einte die Armut als hintergründiges Charakteristikum. Vordergründig war es hingegen ihre Originalität, die ihnen aufgrund von körperlicher und psychischer Abnormität sowie über ihre devianten Praktiken zugeschrieben wurde. Darüber fungierten sie als Gegenpole einer urbanen Modernität, in deren Koordinaten sie unweigerlich scheitern und als Teil des ‚alten‘ Buenos Aires verschwinden mussten. Der Diskurs über freiwillige Arme, wie sie die atorrantes personifizierten, und über delinquente Arme, wie sie insbesondere die betrügerischen BettlerInnen verkörperten, diente der Grenzziehung zwischen legitimen und illegitimen Formen der Armut. Arme wurden dabei insbesondere dort als Problem identifiziert, wo sie sich aufgrund ihrer nomadischen Qualitäten von Mobilität, Unabhängigkeit, Unvorhersehbarkeit und mangelnder Unterordnung als moderne StaatsbürgerInnen disqualifizierten. Eine Strategie zur Einhegung dieser Subalternen war die Übernahme einer sozialkritischen Haltung gegenüber dem Thema der Armut, wie sie insbesondere in Crítica, Mundo Argentino und Revista Popular hervortrat. Hier dominierte die Darstellung der Armen als bedauernswerte Opfer, verbunden mit einer Handlungsaufforderung für staatliches Engagement in Fragen des Wohnraums, der Arbeitsschutzgesetzgebung und der Versorgung. Die Einforderung moderner, sozialstaatlicher Interventionen, die eine Ablösung des alten philanthropischen Modells der Armutsbekämpfung herbeiführen beziehungsweise komplementär dazu wirken sollte, wurde insbesondere über die Darstellung von hilflosen Müttern und leidenden, vernachlässigten Kindern erreicht. Gerade die Kinder wurden als biopolitisches Kapital behandelt, über das sich Diskurse um Arbeit, Hygiene, Disziplin, Familie, Pädagogik, Kriminalität, Fürsorge, Sesshaf-
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tigkeit, Wohnverhältnisse, Bildung und generell eine auf die Zukunft gerichtete Modernität entfalteten. Die Artikulation des Körpers als biopolitische Schnittstelle von Fremd- und Selbstführung wurde in der Behandlung devianter Geschlechtlichkeiten besonders signifikant. Die voyeuristische Entlarvung der mujer-hombres als aus ihrer Natur gefallenen Frauen, die entweder zu reterritorialisieren oder zu pathologisieren seien, stellte einen Gegenangriff auf die zeitgenössischen Forderungen des frühen Feminismus nach gesellschaftlicher und politischer Partizipation dar, die durch das passing der mujer-hombres in die männlichen Sphären bereits vorweggenommen wurde. Hingegen wurde die hombre-mujer als inversiver Mann, dessen Figur als Marker für die semantische Distanz zum Projekt der Zivilisation stand, vor allem auf migrantische beziehungsweise indigene Gesellschaften als vormodern projiziert. In beiden Fällen entspann sich eine für die damalige Zeit typische Debatte um die Frage von sexueller und damit sozialer Devianz als angeboren oder aber als erworben, die eine große Rolle in den eugenischen Diskursen der Jahrhundertwende spielte. Hierbei trat vor allem die Fotografie als visuelles Validierungsinstrument ambivalenter oder multipler Körper in den Vordergrund. Die Verwendung von Fotografien durch die Magazinpresse ist für die Repräsentationen von subalternen Menschen und ihren Räumen auf ihre Funktionen und ihre Aussagen hin analysiert worden. Die Fotografie ist selbst als genuin modernes Element in die Welt der Presse eingedrungen, um dabei wiederum die Aussagen über städtische Modernität und soziale Marginalität zu produzieren. In der seriellen Verwendung von Bildmotiven und ihrem Framing lassen sich unterschiedliche journalistische Strategien feststellen. Die wichtigste Funktion von Fotografien in der Presse war mit Sicherheit ihr dokumentarischer, authentifizierender Charakter, der unmittelbaren Wahrheitsgehalt für sich zu beanspruchen vermochte. In den Texten wurde dieser Beweischarakter immer wieder hervorgehoben: Sie thematisierten den Moment ihrer Entstehung und betonten ihren besonderen Wert als Mittel der Enthüllung. Die Fotografien stellten die Gültigkeit der journalistischen Recherchen als ‚echte‘ Begegnungen mit den Subalternen fest, visualisierten ihre Lebensräume und zeigten vielfach die Reporter selbst in Interaktion mit den aufgesuchten Personen, über die sie schrieben. Fotografien wurden dabei auch als Mittel der investigativen Aufdeckung eingesetzt, etwa zur Enttarnung der Simulation betrügerischer BettlerInnen oder geschlechtlicher Transgression durch die sogenannten invertidos sexuales. Die Verwendung von Bildern des menschlichen Leids zeigen sehr deutlich, wie machtvoll und erfolgreich die medialen Bildwelten soziale Vorstellungen zu prägen verstanden. Weltweit ‚entdeckten‘ um 1900 herum populäre Dokumenta-
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tionen in urbanen Räumen „how the other half lives“,2 und auch die journalistische Fotografie in Argentinien ermittelte in subalternen Milieus, wie die ‚Anderen‘ leben. Statt die vorherrschende Diskrepanz in der Frage von Rechten und dem Zugang zu materiellen Gütern zu thematisieren, betrachtete man wie schon Riis einige Jahre zuvor vor allem das lebensweltliche Elend der Menschen und insbesondere der Kinder durch das Auge der Fotokamera. Kinder wurden als Leidtragende gezeigt, die aus ihren familiären Zusammenhängen herausgerissen schienen und zu Opfern hygienischer Missstände, elterlicher Vernachlässigung und institutioneller Mängel, beispielsweise im Bereich der Verwahrungsanstalten für menores, geworden waren: Sie erschienen auf den Bildern hinter Gittern, zusammengekauert schlafend in Hauseingängen und im Kollektiv; die Abwesenheit der Eltern war kennzeichnend für die fotografischen Aussagen. Auch verarmte, verlassene oder verwitwete Mütter wurden fotografisch zu Opfern stilisiert. Für subproletarische Männer überwogen Darstellungen eines selbstverantwortetem Scheiterns, in das die Reportagen Vorstellungen von Freiheit und Eigensinn einwoben. Die Bilder zeigten sie vielfach vor ihren selbsterrichteten Unterkünften in ‚wilder‘, einsamer Umgebung. Der Erfolg dieser seriellen Bildaussagen lässt sich nicht zuletzt darin ablesen, dass sie auch ohne Texterklärungen abgedruckt wurden und ein Verständnis ihrer BetrachterInnen voraussetzen konnten: Sie waren zu selbstverständlichen und alltäglichen Motiven der gesellschaftlichen Wahrnehmung geworden. Genau in dieser Alltäglichkeit und der breiten Rezeption der journalistischen Diskurse liegt der Unterschied zu wissenschaftlichen Diskursen über soziale Marginalität und Abnormität, deren Einflüsse auf die Pressediskurse unverkennbar sind. Die Reportagen nahmen, so haben es verschiedene Beispiele aus dem Bereich der Medizin oder der Kriminologie gezeigt, wissenschaftliche Thesen, Argumentationen oder auch konkretes Bildmaterial und Statistiken auf, ohne dass sich ihre Rolle auf die reine Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse begrenzt hätte. Vielmehr gelang ihre Diskursivierung erst durch die Verknüpfung mit den Erzählungen über das Leben der ‚Anderen‘. Deutlich wurde dies etwa in der Frage der Delinquenz. Die Nähe von Wissenschaft und Journalismus war hier besonders offensichtlich: Kriminologen wie José Ingenieros publizierten ihre Forschungsergebnisse in den Zeitschriften, die Journalisten selbst adaptierten kriminologische Theorien der kriminellen Determination und eigneten sich darüber hinaus Techniken von Polizei und Kriminologie an. Wie die Analyse der menores, also der delinquenten Kinder gezeigt hat, gingen die Pressediskurse allerdings weit über die kriminologischen Wissensproduktionen hinaus.
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Riis, How the Other Half Lives, 1890.
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Junge Delinquenten wurden in den 1910er Jahren zusehends weniger als gefährlich denn als gefährdet betrachtet; die Magazinpresse kritisierte ihre Haftsituationen heftig und propagierte die Idee ihrer Reformierung und Erziehung zu guten Staatsbürgern. Dies wurde möglich, weil eine intime Nähe zu den menores hergestellt wurde, die Aspekte einer Familiarisierung besaß. Das wurde besonders an der Figur des canillita deutlich, an der sowohl kriminologische Diskurse der Delinquenz, reformerische Diskurse zu Kinderarbeit sowie Narrative persönlicher Beziehungen als Mündel der Pressefamilie verhandelt wurden. Die Idee der öffentlichen, sozialen und individualkörperlichen Hygiene war in der Magazinpresse äußerst präsent. Magazine wie Caras y Caretas und PBT betrieben etwa im Namen der Hygiene Kampagnen, mit denen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Impfpflicht oder der Desinfektionsmaßnahmen in conventillos geschaffen werden sollte. Im Diskurs über die prekären Lebensverhältnisse im conventillo und in den Elendssiedlungen wurde die Hygiene in den Beschreibungen der Magazinpresse durchgängig als wichtiges Reformprojekt angeführt. Die Zeitschriften propagierten dabei ein Projekt der Hygiene, das sich gegen das Kollektive und Flüchtige der prekären Lebensverhältnisse ebenso wie gegen dort vermutete deviante und subversive Praktiken richtete. Sie befürworteten dafür nicht alleine Maßnahmen der Hygiene- und Gesundheitsvorsorge durch dafür geschaffene Institutionen und der staatlichen Subventionierung von Arbeitersiedlungen, sondern appellierten auch an die Verantwortung ihrer LeserInnen, sich diese Wünsche selbst anzueignen. Die Hygienediskurse waren in der Magazinpresse jedoch auch ambivalent: Als Inbegriff der Modernisierung des städtischen Raums war die Hygiene gleichzeitig auch eine treibende Kraft in der Überwindung des ‚alten‘ Buenos Aires mit seinen versteckten Zonen und originellen tipos populares. Das Lamento ihres Verschwindens und die nostalgische Sehnsucht nach der gran aldea waren dabei aber gerade Teil eines Modernisierungsdiskurses, der die Hygienisierung der Stadt als zivilisatorischen Fortschritt anerkannte und auf einen ‚gesunden‘ Bevölkerungskörper abzielte. Die biopolitischen Diskurse der Magazinpresse, ihre wissenschaftlichen Bezüge und ihre politischen Lösungsansätze sind in dieser Arbeit als transnationale Verflechtungen erkannt worden. Die ‚heimischen‘ Probleme wurden als weltweit auftretende Phänomene reartikuliert, die durch gleichzeitige Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse in verschiedenen Regionen ebenso wie durch Migrationsströme miteinander verbunden waren. Lateinamerikanische, US-amerikanische und europäische Beispiele wurden in den Reportagen kontinuierlich herangezogen, um die argentinische Nation in einer globalen Fortschrittslogik zu verorten und zu messen. Der transnationale Charakter zeigte sich nicht zuletzt im Wesen der Magazinpresse selbst: Die Gestaltung der Zeitschrif-
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ten, die technischen Apparaturen ihrer Produktion, ihre Kommunikationsformen und Nachrichtenbeschaffung transzendierten nationalstaatliche Grenzen und Kontinente. Das Evozieren national-sozialer Probleme und Marginalisierungsdiskurse ist somit nur in ihrem transnationalen Charakter zu begreifen. Worin bestand nun also die historisch spezifische Bedeutung des hier analysierten biopolitischen Macht-Wissens im Magazinjournalismus für die eingangs aufgezeigten gesellschaftlichen Umbrüche und Spannungen der Jahrhundertwende in Argentinien? Die Magazinpresse – ein pluralistisches, scheinbar unpolitisches Medium der Massen – intervenierte in eine gesellschaftliche Konfliktsituation, die durch das Aufbegehren der Arbeiterklasse, den Eigensinn der Migration, die Resilienz der Subalternen und die Bedrohungswahrnehmung der etablierten Eliten bestimmt war. Die Cuestión Social war zur Jahrhundertwende bereits Gegenstand von Kämpfen, Debatten und Verhandlungen, die in den folgenden Jahren weiter anschwollen. Die Magazinpresse war in diesen Auseinandersetzungen zwar nicht Partei, doch begab gerade sie sich in das umkämpfte Feld und bereitete es für die biopolitischen Interventionen durch leidenschaftliche und oft empathische Teilhabe auf. Damit war sie an der Verhandlung der Sozialen Frage wesentlich beteiligt. Sie kreierte ein neues Verständnis von Gesellschaft als einem sozial-biologischen Gesamtzusammenhang, der ein gemeinsames nationales Interesse an den auftretenden sozialen Problemen postulierte, das über Klassengegensätze hinwegging. Für diesen Ansatz waren die Subalternen und deren patologías sociales von zentraler Bedeutung. Betrachtet man die kollektive Identitätsbildung als einen Effekt diskursiver Alterisierung und Stratifizierung, dann zeigen die analysierten Beispiele, wie soziale und nationale Zugehörigkeit über die Herausbildung eines konstitutiv Anderen der Gesellschaft funktionierte. Der parasitäre atorrante, die allein gelassenen Straßenkinder und die kuriosen Gestalten der Straße und der Stadtränder verkörperten das gesellschaftliche Gegenüber eines modernen, zivilisierten Staatsbürgers oder Staatsbürgerin, gerade weil sie zugleich als zugehörig erklärt wurden. Subalterne bildeten in diesem Sinne die Folie ab, vor der sich insbesondere die Arbeiterklasse und die aufstrebenden Mittelschichten sozial abgrenzen konnten und zugleich deren Fixpunkt, auf den sich unablässig bezogen wurde. Es handelte sich dabei aber nicht allein um ein Fantasiekonstrukt, über das sich die eigene Selbstwahrnehmung als modern oder unzeitgemäß abgrenzen konnte, sondern dieses Verhältnis war von Machteffekten durchzogen, die mit dem Begriff der Gouvernementalisierung deutlich werden sollten: Es ging um das Regieren der Menschen als Bevölkerung und um das Selbst-Regieren ihrer einzelnen Teile, dessen Notwendigkeit erst über ein biopolitisches Wissen über Nutzen und Schädlichkeit für einen vorgestellten Gesellschaftskörper generiert
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werden konnte. Die argentinische Magazinpresse schuf die Grundlage, in dem das moderne national-soziale Subjekt entstehen konnte. Die biopolitischen Diskurse der Magazinpresse waren also vorgängig zu einem Projekt des Sozialstaats und gleichzeitig seine Bedingung. Erst mit dem Peronismus trat eine nationale Regierung auf die Bildfläche, die umfassende Sozial- und Rentenleistungen gewährleistete und sich als Wohlfahrtsstaat verstand, der im Namen von sozialer Gerechtigkeit operierte. Das dafür notwendige Wissen konkretisierte sich jedoch bereits in den spezifischen Forderungen nach einem sozial aktiven und intervenierenden Staat in der Magazinpresse zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Fundament des Sozialstaats wurde im Heranreifen eines nationalen Verständnisses des Sozialen gelegt. Der reale Sozialstaat der 1940er Jahre steht in diesem Sinne am Ende der Phase einer Gouvernementalisierung, nicht an ihrem Anfang. Erst durch das Verständnis, soziale Probleme der ‚Anderen‘ als etwas Eigenes zu begreifen, das die Gesamtgesellschaft als Bevölkerungskörper betrifft, wurde die Regulierung von Armut, Elend und Abnormität einforderbar und realisierbar und die ‚gefährlichen Klassen‘ regierbar. Die medialen Diskurse der Magazinpresse waren genauso echt wie die sozialen Fantasien ihrer LeserInnen; sie spielten sich nicht jenseits einer staatlich-politischen Sphäre ab, sondern waren ein genuiner Teil ihrer Verwirklichung. Der Perspektivwechsel, der mit der vorliegenden Kulturgeschichte des Sozialen vollzogen wurde, verschob den Fokus von dem Zentrum auf die Ränder, von den Regierungspalästen an die Ufer des Flusses und von den Reden großer Staatsmänner zu den Räubergeschichten von Bettlerinnen. In diesen scheinbar unbedeutenden Aspekten liegt eine Wahrheit begründet, der sich die großen Strukturen von Anfang an produktiv stellen mussten und die sich in den sozialen Kämpfen der vergangenen hundert Jahre bis zum heutigen Tag behauptet hat.
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Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
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Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
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Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
Manfred E.A. Schmutzer
Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 € (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2
Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2
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