Jenseits von Gut und Böse. Die Geburt der Tragödie 9783787324286, 9783787338207

1885 fasste Friedrich Nietzsche den Entschluß, eine Neue Ausgabe seiner Schriften erscheinen zu lassen, die 'das Ei

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German Pages 414 [426] Year 2014

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Jenseits von Gut und Böse. Die Geburt der Tragödie
 9783787324286, 9783787338207

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F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 1

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Jenseits von Gut und Böse (1886)

Die Geburt der Tragödie (Neue Ausgabe 1886)

M i t N ac h wor t e n von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 651

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2421-7 ISBN eBook: 978-3-7873-2428-6

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung : C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck papier : alterungsbeständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Zu dieser Ausgabe

M

it der 1990 unter dem Titel Friedrich Nietzsche: Ecce auctor vorgelegten Edition der Vorreden von 1886 hatte ClausArtur Scheier darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche die für die Neue Ausgabe seiner im eigentlichen Sinne „philosophischen“ Schriften verfaßten Vorreden als einen in sich geschlossenen, genealogisch angelegten Versuch einer selbstkritischen Neubewertung und Einordnung seines Werkes ansah: „Von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letztgenannten Buchs [ der Genealogie der Moral ] – das gibt eine Art ‚Entwicklungsgeschichte‘“ (zu der, des Erprobens der Tonlage wegen, noch die Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse gerechnet werden kann). Jetzt sah sich Nietzsche im Zenit seiner Schaffenskraft, und die Neue Ausgabe sollte den Mitte 1885 gefaßten Plan vorantreiben, „eine große Schul-Tätigkeit als Philosoph auszuüben […]. Die Bücher heraus aus diesem Winkel !!! Es sind meine Angelhaken; wenn sie mir keine Menschen fangen, so haben sie keinen Sinn!“ (Brief an die Schwester, kurz vor dem 15. August 1885). Eine „vollständige Ausgabe letzter Hand“ nach dem Vorbild Goethes hat Friedrich Nietzsche nicht vorlegen können, denn am Ende war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Doch gibt das wirklich Grund zur Klage? Oder anders gefragt: Hätte Nietzsche eine solche Ausgabe, die einfach alles versammelt, was er geschrieben hat, überhaupt gewollt und gutgeheißen? Die Frage kann offen bleiben. Doch es gibt gewiß Gründe, Nietzsche nicht mit jenen gleichzustellen, denen es auf diese Weise darum zu tun war, ihren Nachruhm zu sichern und nach eigenen Vorstellungen zu steuern. Denn es gibt sie ja, die von Nietzsche selbst gewollte und kritisch kommentierte

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Zu dieser Ausgabe

Ausgabe ganz eigener Art: nämlich die durch Jenseits von Gut und Böse und die Genealogie der Moral eingerahmte Neue Ausgabe von 1886/87, die jene vor dem Zarathustra veröffentlichten, mit neuen Vorreden versehenen philosophischen Schriften enthält, von denen der Autor selber sagte: „Sie werden bemerken, daß Menschliches, Allzumenschliches, die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede ermangeln: es hatte gute Gründe, daß ich damals, als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte – ich stand noch zu nahe, noch zu sehr ‚drin‘ und wußte kaum, was mit mir geschehen war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche in diesen Werken ist und inwiefern sie eine für Deutschland neue Literatur inaugurieren (das Vorspiel einer moralischen Selbst-Erziehung und Kultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat), würde ich mich zu solchen zurückblickenden und nachträglichen Vor reden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine fortlaufende Entwicklung dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebnis und Schicksal sein wird: – ich bin nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben. Die Vorreden könnten das Notwendige im Gange einer solchen Entwicklung deutlich machen.“ (Brief vom 7. August 1886 an seinen Verleger Th. Fritsch) Diese erste Ausgabe der philosophischen Werke Friedrich Nietzsches in der „Philosophischen Bibliothek“ folgt dem 1885 von Nietzsche selbst gefaßten und dann mit der Neuen Ausgabe seiner im eigentlichen Sinne „philosophischen“ Schriften auch realisierten Entschluß zu einer neuen Darstellung und Bewertung der von ihm in der Entwicklung seines Denkens jetzt erreichten Position und bietet die Texte nach den Originalausgaben von 1886/1887, ergänzt um die 1889 erschienene GötzenDämmerung – dem 1886 noch nicht antizipierten, dann aber sein neu gewonnenes Selbstbild als Lehrer der Philosophie

Zu dieser Ausgabe

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der Zukunft herausstreichenden Vademecum, das Nietzsche als die „Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien“, eine „vollkommene Gesammt-Einführung“ ansieht, die „meine Philosophie in ihrer drei fachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt“.

Inhalt

Jenseits von Gut und Böse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Zweites Hauptstück: der freie Geist . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Drittes Hauptstück: das religiöse Wesen . . . . . . . . . . . . .

57

Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele . . . . .

77

Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral . . .

93

Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden . . . . . . . . . . . . . 139 Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer . . . . . . . . . . 167 Neuntes Hauptstück: was ist vornehm ? . . . . . . . . . . . . . . 193 Aus hohen Bergen. Nachgesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Die Geburt der Tragödie Oder: Griechenthum und Pessimismus

Versuch einer Selbstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Vorwort an Richard Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik . . . . 253 Nachworte des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

Friedrich Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

iii | iv

3

Vorrede.

Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist – , wie ? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden ? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen ? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen : – und jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und muthloser Haltung da. We n n sie überhaupt noch steht ! Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoff nung, dass alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen sein möge ; und die Zeit ist | vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, wa s eigentlich schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher auf bauten, – irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über Jahrtausende hinweg : wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war, für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld,

4

Vorrede

iv | v

Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche Wissenschaft : – man verdankt ihr und ihren „überirdischen“ Ansprüchen in Asien und Ägypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen : eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel die VedantaLehre in Asien, der Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Er|fi ndung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen – Schlafs geniessen darf, sind wir, d e r e n Au f g a b e d a s Wac h s e i n s e l b s t i s t , die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irr thum grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Pe r s p e k t i v i s c h e , die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat ; ja man darf, als Arzt, fragen : „woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato ? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben ? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen ? und hätte seinen Schierling verdient ?“ – Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s „Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirch lichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ – hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war : mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfi ndet diese Spannung als Nothstand ; und es ist schon zwei Mal im grossen

v | vi

Vorrede

5

Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Male durch die demokratische Aufklärung : – als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich selbst | nicht mehr so leicht als „Noth“ empfi ndet ! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung ! aber sie haben es wieder quitt gemacht – sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir g u t e n E u r o p ä e r und freien, s e h r freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens ! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss ? das Z ie l … S i l s - M a r i a , Oberengadin im Juni 1885.

vii

6

Inhalt.

Seite1

Von den Vorurtheilen der Philosophen . . . . . . . . . . . . .

1

Der freie Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Das religiöse Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Sprüche und Zwischenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Zur Naturgeschichte der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Wir Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Unsere Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Völker und Vaterländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Was ist vornehm ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Au s hohe n B e r g e n . Nachgesang . . . . . . . . . . . . . . .

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1

Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe.

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1–4

Erstes Hauptstück : von den Vorurtheilen der Philosophen. |

1. Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben : was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt ! Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen ! Das ist bereits eine lange Geschichte, – und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat ? Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn ? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen ? We r ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt ? Wa s in uns will eigentlich „zur Wahrheit“ ? – In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem We r t he dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit : wa r u m n ic ht l ieb e r Unwahrheit ? Und Ungewissheit ? Selbst Unwissenheit ? – Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, – oder waren wir’s, die vor das Problem hin traten ? Wer von uns ist hier Oedipus ? Wer Sphinx ? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. – Und sollte man’s glauben, dass es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in’s Auge gefasst, g ew a g t ? Denn es ist ein Wagniss dabei, und vielleicht giebt es kein grösseres. | 2. „W ie k ö n nt e Etwas aus seinem Gegensatz entstehn ? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume ? Oder der Wille zur

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Erstes Hauptstück

4|5

Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung ? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze ? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit ? Solcherlei Entstehung ist unmöglich ; wer davon träumt, ein Narr, ja Schlimmeres ; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, e i g e ne n Ursprung haben, – aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar ! Vielmehr im Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im „Ding an sich“ – d a muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo !“ – Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen ; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde aller ihrer logischen Prozeduren ; aus diesem ihrem „Glauben“ heraus bemühn sie sich um ihr „Wissen“, um Etwas, das feierlich am Ende als „die Wahrheit“ getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist d e r Gl au b e a n d ie G e g e n s ät z e d e r We r t he. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war : selbst wenn sie sich gelobt hatten „de omnibus dubitandum“. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, | Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist ? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag : es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich,

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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dass  w a s den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht ! – Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern ! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, – Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. – Und allen Ernstes gesprochen : ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen. 3. Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe, sage ich mir : man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens unter die lnstinkt-Thätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens ; man muss hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des „Angeborenen“ umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt : ebenso wenig ist „Bewusst-sein“ in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven e n t g e g e n g e s e t z t , – das meiste be|wusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth als die „Wahrheit“ : dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für u n s , doch nur Vordergrunds-Schätzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth

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Erstes Hauptstück

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thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht gerade der Mensch das „Maass der Dinge“ ist … 4. Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil ; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist ; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a  priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sichselbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn : das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten ; | und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse. 5. Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit – sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht : während sie allesammt einen grossen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und tölpelhafter

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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sind – diese reden von „Inspiration“ –) : während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine „Eingebung“, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird : – sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie „Wahrheiten“ taufen – und s e h r ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Uebermuth und um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem | „kategorischen Imperativ“ führen, richtiger verführen – dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine kleine Belustigung darin fi nden, den feinen Tücken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie – „die Liebe zu s e i ne r Weisheit“ zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt – wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen würde : – wie viel eigne Schüchternheit und Angreif barkeit verräth diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken ! 6. Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war : nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires ; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon,

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Erstes Hauptstück

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wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen : auf welche Moral will es (will e r –) hinaus ? Ich glaube demgemäss nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss !) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als i n s p i r i r e nd e Genien (oder Dämonen | und Kobolde –) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird fi nden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, – und dass jeder Einzelne von ihnen gerade s ic h gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten He r r n aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig : und als s olc he r versucht er zu philosophiren. – Freilich : bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn – „besser“, wenn man will – , da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, oh n e dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen „Interessen“ des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik ; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der „hoff nungsvolle“ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht : – es b e z e ic h net ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches ; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, we r e r i s t – das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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7. Wie boshaft Philosophen sein können ! Ich kenne nichts Giftigeres als den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte : er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im | Vordergrunde „Schmeichler des Dionysios“, also Tyrannen-Zubehör und Speichellecker ; zu alledem will es aber noch sagen „das sind Alles S c h aus p ie ler, daran ist nichts Ächtes“ (denn Dionysokolax war eine populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss : ihn verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich Plato sammt seinen Schülern verstand,  – worauf sich Epicur nicht verstand ! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss ? vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato ? – Es brauchte hundert Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war. – Kam es dahinter ? – 8. In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die „Überzeugung“ des Philosophen auf die Bühne tritt : oder, um es in der Sprache eines alten Mysteriums zu sagen : adventavit asinus pulcher et fortissimus. 9. „Gemäss der Natur“ wollt ihr leb e n ? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte ! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie k ö n nt et ihr gemäss dieser Indifferenz leben ? Leben – ist das

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Erstes Hauptstück

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nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist ? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Be|grenztsein, Different-sein-wollen ? Und gesetzt, euer Imperativ „gemäss der Natur leben“ bedeute im Grunde soviel als „gemäss dem Leben leben“ – wie könntet ihr’s denn n ic ht ? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst ? – In Wahrheit steht es ganz anders : indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger ! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie „der Stoa gemäss“ Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen – als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus ! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur f a l s c h , nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, – und irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoff nung ein, dass, we i l ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht – Stoicismus ist Selbst-Tyrannei – , auch die Natur sich tyrannisiren lässt : ist denn der Stoiker nicht ein St üc k Natur ? … Aber dies ist eine alte ewige Geschichte : was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schaff t immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders ; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaff ung der Welt“, zur causa prima. 10. Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen : Schlauheit, mit denen man heute überall in Europa dem | Probleme „von der wirklichen und der scheinbaren Welt“ auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu horchen ; und wer hier im Hin-

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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tergrunde nur einen „Willen zur Wahrheit“ und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll „Gewissheit“ immer noch einem ganzen Wagen voll schöner Möglichkeiten vorzieht ; es mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele : wie tapfer auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint es aber anders zu stehen : indem sie Partei g e g e n den Schein nehmen und das Wort „perspektivisch“ bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt „die Erde steht still“, und dermaassen anscheinend gutgelaunt den sichersten Besitz aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib ?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, das man ehemals noch s ic he r e r besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht „die unsterbliche Seele“, vielleicht „den alten Gott“, kurz, Ideen, auf welchen sich besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den „modernen Ideen“ ? Es ist M i s s t r aue n gegen diese modernen Ideen darin, | es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden ist ; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt, der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklich-

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keits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben : ihr Instinkt, welcher sie aus der mo d e r n e n Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, – was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an ! Das Wesentliche an ihnen ist n ic ht , dass sie „zurück“ wollen : sondern, dass sie – we g wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft me h r : und sie würden h i n au s wollen, – und nicht zurück ! – 11. Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den Händen : „das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte“. – Man verstehe doch dies „werden konnte“ ! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urtheilen a priori, e ntd e c k t zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog : aber die | Entwicklung und rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken – und jedenfalls „neue Vermögen“ ! – Aber besinnen wir uns : es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori mög l ic h ? fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich ? Ve r mög e e i n e s Ve r mög e n s : leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe,

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als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte : – denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht „real-politisch“. – Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie ; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, – alle suchten nach „Vermögen“. Und was fand man nicht Alles – in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man „fi nden“ und „erfi nden“ noch nicht auseinander zu halten wusste ! Vor Allem ein Vermögen für’s „Übersinnliche“ : Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung | behandelt ; genug, man wurde älter, – der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb : man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt : voran und zuerst – der alte Kant. „Vermöge eines Vermögens“ – hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das – eine Antwort ? Eine Erklärung ? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage ? Wie macht doch das Opium schlafen ? „Vermöge eines Vermögens“, nämlich der virtus dormitiva – antwortet jener Arzt bei Molière, quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire.

Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich ?“ durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöt h i g ?“ – nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von

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Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr g e g l au bt werden müssen ; weshalb sie natürlich noch f a l s c h e Urtheile sein könnten ! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich : synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich sein“ : wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. – Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche „die deutsche Philosophie“ – man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen ? – in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva dabei betheiligt war : man war entzückt, unter edlen Müssiggängern, Tugendhaften, | Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz – „sensus assoupire“ … 12. Was die materialistische Atomistik betriff t : so gehört dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es giebt ; und vielleicht ist heute in Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde n ic ht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde „feststand“, abschwören, dem Glauben an den „Stoff “, an die „Materie“, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom : es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden

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ist. – Man muss aber noch weiter gehn und auch dem „atomistischen Bedürfnisse“, das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren „metaphysischen Bedürfnisse“ – den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg auf ’s Messer : – man muss zunächst auch jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen, welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der S e e le n -A t om i s t i k . Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen | Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt : d ie s e n Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen ! Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, „die Seele“ selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten : wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an „die Seele“ rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen : und Begriffe wie „sterbliche Seele“ und „Seele als Subjekts-Vielheit“ und „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Oede und ein neues Misstrauen hinaus gestossen – es mag sein, dass die älteren Psychologen es bequemer und lustiger hatten – : zuletzt aber weiss er sich eben damit auch zum E r f i nd e n verurtheilt – und, wer weiss ? vielleicht zum Fi nd e n . – 13. Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft au s l a s s e n – Leben selbst ist Wille zur Macht – : die Selbsterhaltung

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ist nur eine der indirekten und häufigsten Fol g e n davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor ü b e r f lü s s i g e n teleologischen Principien ! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb | ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza’s –). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich PrincipienSparsamkeit sein muss. 14. Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns ! mit Verlaub gesagt) und n ic ht eine Welt-Erklärung ist : aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich : das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, ü b e r z eu g e nd , – es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar, was „erklärt“? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, – bis so weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt : genau im Widerstreben g e g e n die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vor ne h me Denkweise war, – vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu fi nden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben : und dies mittelst blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den bunten Sinnen-Wirbel – den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte – warfen. Es war eine andre Art G e nu s s in dieser Welt-Überwältigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiolo|gischen Arbeitern, mit ihrem Princip der „kleinstmöglichen Kraft“ und der grösstmöglichen Dummheit. „Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und

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zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen“ – das ist freilich ein anderer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter g r ob e Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag. 15. Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane n ic ht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie : als solche könnten sie ja keine Ursachen sein ! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. – Wie ? und Andere sagen gar, die Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe ? Aber dann wäre ja unser Leib, als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe ! Aber dann wären ja unsre Organe selbst – das Werk unsrer Organe ! Dies ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum : gesetzt, dass der Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt n ic ht das Werk unsrer Organe – ? 16. Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es „unmittelbare Gewissheiten“ gebe, zum Beispiel „ich denke“, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, „ich will“ : gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als „Ding an sich“, und weder von | Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber „unmittelbare Gewissheit“, ebenso wie „absolute Erkenntniss“ und „Ding an sich“, eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen : man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen ! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muss sich sagen : „wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem

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Satz „ich denke“ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, dass ic h es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein „Ich“ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – dass ich we i s s , was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht „Wollen“ oder „Fühlen“ sei ? Genug, jenes „ich denke“ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, ve r g le ic h e , um so festzusetzen, was er ist : wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges „Wissen“ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare Gewissheit“. – An Stelle jener „unmittelbaren Gewissheit“, an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des lntellekts, welche heissen : „Woher nehme ich den Begriff Denken ? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung ? Was giebt mir das Recht, von einem | Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als GedankenUrsache zu reden ?“ Wer sich mit der Berufung auf eine Art I nt u it ion der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt : „ich denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist“ – der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit fi nden. „Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben, es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren : aber warum auch durchaus Wahrheit ?“ –

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17. Was den Aberglauben der Logiker betriff t : so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „er“ will, und nicht wenn „ich“ will ; so dass es eine Fä ls c hu n g des Thatbestandes ist, zu sagen : das Subjekt „ich“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt : aber dass dies „es“ gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine „unmittelbare Gewissheit“. Zuletzt ist schon mit diesem „es denkt“ zu viel gethan : schon dies „es“ enthält eine Au s le g u n g des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit „Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich –“. Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der „Kraft“, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom ; strengere Köpfe lernten | endlich ohne diesen „Erdenrest“ auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine „es“ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen. ı8. An einer Theorie ist es wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist : gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom „freien Willen“ ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt – : immer wieder kommt Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen. 19. Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei ; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz

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und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen : dass er ein Vol k s -Vor u r t he i l übernommen und übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Com pl ic i r t e s , Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir „unphilosophisch“ – , sagen wir : in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem we g , das Gefühl des Zustandes, zu dem h i n , das Gefühl von diesem „weg“ und „hin“ selbst, dann noch | ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken : in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken ; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem „Wollen“ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe ! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein A f f e k t : und zwar jener Affekt des Commando’s. Das, was „Freiheit des Willens“ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss ; „ich bin frei, „er“ muss gehorchen“ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschätzung „jetzt thut dies und nichts Anderes Noth“, jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der w i l l – , befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am

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Willen ist, – an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort hat : insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden u nd Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen ; insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des synthetischen Begriffs „ich“ hinwegzusetzen, hinwegzu-| täuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst angehängt, – dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen g e nü g e zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion e r w a r t et werden durfte, so hat sich der A n s c he i n in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Not hwe n d i g k e it von Wirkung gäbe ; genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien – , er rechnet das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt. „Freiheit des Willens“ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren „Unterwillen“ oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. L’effet c’est moi : es begiebt sich hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt

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es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler „Seelen“ : weshalb ein Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon | unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen : Moral nämlich als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. – 20. Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils : das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von mög l ic he n Philosophien immer wieder ausfüllen. – Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn : sie mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen : irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind : – Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten | Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen  –

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von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt : ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist), werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders „in die Welt“ blicken und auf andern Pfaden zu fi nden sein, als Indogermanen oder Muselmänner : der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann phy s iolog i s c her Werthurtheile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Locke’s Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen. 21. Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur : aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach „Freiheit des Willens“, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses | berühmten Begriffs „freier Wille“ und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine „Aufklärung“ noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs „freier Wille“ aus seinem Kopfe zu streichen : ich meine den „unfreien Willen“, der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht

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„Ursache“ und „Wirkung“ fehlerhaft ve r d i n g l ic he n , wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt –) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie „wirkt“ ; man soll sich der „Ursache“, der „Wirkung“ eben nur als reiner B e g r i f f e bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, n ic ht der Erklärung. Im „An-sich“ giebt es nichts von „Causal-Verbänden“, von „Nothwendigkeit“, von „psychologischer Unfreiheit“, da folgt n ic ht „die Wirkung auf die Ursache“, da regiert kein „Gesetz“. W i r sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben ; und wenn wir diese Zeichen-Welt als „an sich“ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich my t holog i s c h . Der „unfreie Wille“ ist Mythologie : im wirklichen Leben handelt es sich nur um s t a r k e n und s c hw ac he n Willen. – Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller „Causal-Verknüpfung“ und „psychologischer Nothwendigkeit“ etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt : es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, – die Person | verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief p e r s ö n l ic he Weise die „Unfreiheit des Willens“ als Problem gefasst : die Einen wollen um keinen Preis ihre „Verantwortlichkeit“, den Glauben an s ic h , das persönliche Anrecht auf i h r Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin –) ; die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst -Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin a bwä l z e n zu können. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher schreiben, heute der

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Verbrecher anzunehmen ; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich erstaunlich, wenn er sich als „la religion de la souff rance humaine“ einzuführen versteht : es ist s e i n „guter Geschmack“. 22. Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen : aber jene „Gesetzmässigkeit der Natur“, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten „Philologie“, – sie ist kein Thatbestand, kein „Text“, vielmehr nur eine naivhumanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt ! „Überall Gleichheit vor dem Gesetz, – die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir“ : ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, ins|gleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. „Ni dieu, ni maître“ – so wollt auch ihr’s : und darum „hoch das Naturgesetz“ ! – nicht wahr ? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text ; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, – ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem „Willen zur Macht“ dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort „Tyrannei“ schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher – als zu menschlich – erschiene ; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass

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sie einen „nothwendigen“ und „berechenbaren“ Verlauf habe, aber n ic ht , weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze f e h le n , und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden ? – nun, um so besser. – 23. Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben : sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und E ntw ic k lu n g s le h r e d e s W i l le n s z u r Mac ht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift : sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher | verschwiegen wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen – und, wie es sich von selbst versteht, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat „das Herz“ gegen sich : schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der „guten“ und der „schlimmen“ Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, – der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und frem-

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deste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher Erkenntnisse : – und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür, dass Jeder von ihm fernbleibt, der es – k a n n ! Andrerseits : ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun ! wohlan ! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen ! die Augen aufgemacht ! die Hand fest am Steuer ! – wir fahren geradewegs über die Moral we g , wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, – aber was liegt an u n s ! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden | und Abenteurern eine t ie f e r e Welt der Einsicht eröff net : und der Psychologe, welcher dergestalt „Opfer bringt“ – es ist n ic ht das sacrifi zio dell’ intelletto, im Gegentheil ! – wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen. |

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24. O sancta simplicitas ! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch ! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat ! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht ! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen zu geben ! – wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreif liche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen ! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren ! Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung ! Mag nämlich auch die S p r ac he, hier wie anderwärts, nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt ; mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt zu unserm unüberwindlichen „Fleisch und Blut“ gehört, uns Wissenden selbst die Worte im Munde umdrehen : hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser ve r e i n f ac ht e n , durch und durch | künstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, – das Leben liebt !

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25. Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht überhört werden : es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem Martyrium ! Vor dem Leiden „um der Wahrheit willen“ ! Selbst vor der eigenen Vertheidigung ! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden ausspielen müsst : – als ob „die Wahrheit“ eine so harmlose und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte ! und gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren Eckensteher und Spinneweber des Geistes ! Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, ob gerade i h r Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen ! Geht lieber bei Seite ! Flieht in’s Verborgene ! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele ! Oder ein Wenig fürchte ! Und vergesst mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem | Gitterwerk ! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind, – oder wie Musik über Wassern, zur Zeit des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird : – wählt die g ut e Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben ! Wie giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich nicht mit offener Gewalt führen lässt ! Wie p e r s ö n l i c h macht eine lange Furcht, ein langes Augenmerk auf

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Feinde, auf mögliche Feinde ! Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten, – auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza’s oder Giordano Bruno’s – werden zuletzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal den Grund der Ethik und Theologie Spinoza’s auf !) – gar nicht zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine „Aufopferung für die Wahrheit“ zwingt an’s Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte ; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum „Märtyrer“, zum Bühnen- und TribünenSchreihals). Nur dass man sich, mit einem solchen Wunsche, darüber klar sein muss, w a s man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird : – nur ein Satyrspiel, nur eine NachspielFarce, nur den fortwährenden Beweis dafür, dass die lange eigentliche | Tragödie z u E nd e i s t : vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. – 26. Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten e rlö s t ist, wo er die Regel „Mensch“ vergessen darf, als deren Ausnahme : – den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert,

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der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks ; gesetzt aber, er nimmt alle diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins gewiss : er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages sich sagen müssen „hole der Teufel meinen guten Geschmack ! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, – als ich, die Ausnahme !“  – und würde sich h i n a b begeben, vor Allem „hinein“. Das Studium des d u r c h s c h n it t l i c h e n Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter Umgang – jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit Seines-Gleichen – : das macht ein nothwendiges Stück der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück, wie es einem Glückskinde der Erkenntniss | geziemt, so begegnet er eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe,  – ich meine sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die „Regel“ an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor Z eu g e n reden zu müssen : – mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist ; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt : da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts –

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er war viel tiefer als Voltaire und folglich auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass, wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, – unter Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem ; überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn w i l l , als seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen ; kurz, wo man „schlecht“ vom Menschen redet – und nicht einmal s c h l i m m – , da soll der | Liebhaber der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst (oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und Niemand lü g t soviel als der Entrüstete. – 27. Es ist schwer, verstanden zu werden : besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandeigagati – ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden ? – und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber „die guten Freunde“ anbetriff t, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben : so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzuge-

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stehn : – so hat man noch zu lachen ; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen ! 28. Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen lässt, ist das tempo ihres Stils : als welcher im Charakter der Rasse seinen Grund hat, | physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres „Stoff wechsels“. Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit übersetzt werden konnte, welches über alles Gefährliche in Dingen und Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig : also, wie man billig schliessen darf, auch vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien, freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius unübersetzbar. Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, – man vergebe mir die Thatsache, dass selbst Goethe’s Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild der „alten guten Zeit“, zu der sie gehört, und als Ausdruck des deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen „deutschen Geschmack“ gab : der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles verstand und sich auf Vieles verstand : er, der nicht umsonst der Übersetzer Bayle’s war und sich gerne in die Nähe Diderot’s und Voltaire’s, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter flüchtete : – Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und sei es selbst in der Prosa

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eines Lessing, das tempo Macchiavell’s nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von Florenz athmen lässt und nicht umhin | kann, die ernsteste Angelegenheit in einem unbändigen Allegrissimo vorzutragen : vielleicht nicht ohne ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt, – Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfi ndungen, Einfällen, Worten : – was liegt zuletzt an allen Sümpfen der kranken, schlimmen Welt, auch der „alten Welt“, wenn man, wie er, die Füsse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles l au f e n macht ! Und was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, complementären Geist, um dessentwillen man dem ganzen Griechenthum ve r z e i ht , dass es da war, gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, w a s da Alles der Verzeihung, der Verklärung bedarf : – so wüsste ich nichts, was mich über Pl at o’s Verborgenheit und SphinxNatur mehr hat träumen lassen als jenes glücklich erhaltene petit fait : dass man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine „Bibel“ vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, – sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, – ohne einen Aristophanes ! – 29. Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein : – es ist ein Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu, aber ohne es zu mü s s e n , beweist damit, dass er wahrscheinlich | nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich

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schon mit sich bringt ; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht fühlen und mitfühlen : – und er kann nicht mehr zurück ! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück ! – – 30. Unsre höchsten Einsichten müssen – und sollen ! – wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man eine Rangordnung und n ic ht an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, – das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt : das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, – der Esoteriker aber vo n O b e n he r a b ! Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken ; und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob sein Anblick not hwe nd i g gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde ? … | Was der höheren Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und Schwächen bedeuten ; es wäre möglich, dass ein hochgearteter Mensch, gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den Besitz von Eigenschaften käme, derent-

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wegen man nöthig hätte, ihn in der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen zu verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen : im ersten Falle sind es gefährliche, anbrökkelnde, auflösende Bücher, im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu i h r e r Tapferkeit herausfordern. AllerweltsBücher sind immer übelriechende Bücher : der Kleine-LeuteGeruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man r e i ne Luft athmen will. – – 31. Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es billigerweise hart büssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja und Nein überfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen den Versuch zu wagen : wie es die rechten | Artisten des Lebens thun. Das Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht hat, dass es sich an ihnen auslassen kann : – Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse : wie zürnt sie sich nunmehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei ! In diesem

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Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Gefühl ; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit ; und vor Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei g e g e n „die Jugend“. – Ein Jahrzehend später : und man begreift, dass auch dies Alles noch – Jugend war ! 32. Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch – man nennt sie die prähistorische Zeit – wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet : die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von einer Handlung zu denken. Nennen wir | diese Periode die vor mor a l i s c he Periode der Menschheit : der Imperativ „erkenne dich selbst !“ war damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen : ein grosses Ereigniss als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe und des Glaubens an „Herkunft“, das Abzeichen einer Periode, welche man im engeren Sinne als die mor a l i s c he bezeichnen darf : der erste Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die Herkunft : welche Umkehrung der Perspektive ! Und sicherlich eine erst nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung ! Freilich : ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit der Inter-

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pretation kam eben damit zur Herrschaft : man interpretirte die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft aus einer A b s ic ht ; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung : unter diesem Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. – Sollten wir aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen, – sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen, welche, negativ, zunächst als die au s s e r mor a l i s c he | zu bezeichnen wäre : heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, dass gerade in dem, was n ic ht- a b s ic ht l ic h an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, „bewusst“ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, Etwas verräth, aber noch mehr ve r b i r g t ? Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet, – dass Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung der Moral : mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb. –

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33. Es hilft nichts : man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos zur Rede stellen und vor Gericht führen : ebenso wie die Aesthetik der „interesselosen Anschauung“, unter welcher sich die Entmännlichung der Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht. Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des „für Andere“, des „ n ic ht für mich“, als dass man nicht nöthig hätte, hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen : „sind | es nicht vielleicht – Ve r f ü h r u n g e n ?“ – Dass sie g e f a l le n – Dem, der sie hat, und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, – dies giebt noch kein Argument f ü r sie ab, sondern fordert gerade zur Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig ! 34. Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag : von jeder Stelle aus gesehn ist die I r r t hü m l ic h k e it der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann : – wir fi nden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im „Wesen der Dinge“ verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also „den Geist“ für die Falschheit der Welt verantwortlich macht – ein ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder unbewusste advocatus dei geht – : wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt, Bewegung, als falsch e r s c h lo s s e n nimmt : ein Solcher hätte mindestens guten Anlass, gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen : hätte es uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt ? und welche Bürgschaft dafür gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es immer gethan hat ? In allem Ernste : die Unschuld der Denker hat etwas Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes, welche ihnen erlaubt, sich auch heute noch vor das Bewusstsein hinzustel-

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len, mit der Bitte, dass es ihnen e h rl ic he Antworten gebe : zum Beispiel ob es „real“ sei, und warum es eigentlich die äussere Welt sich so entschlossen vom Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube an „unmittelbare Gewissheiten“ ist eine mor a l i s c he Naivetät, welche uns | Philosophen Ehre macht : aber – wir sollen nun einmal nicht „ nu r moralische“ Menschen sein ! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube eine Dummheit, die uns wenig Ehre macht ! Mag im bürgerlichen Leben das allzeit bereite Misstrauen als Zeichen des „schlechten Charakters“ gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören : hier unter uns, jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja’s und Nein’s, – was sollte uns hindern, unklug zu sein und zu sagen : der Philosoph hat nachgerade ein R e c ht auf „schlechten Charakter“, als das Wesen, welches bisher auf Erden immer am besten genarrt worden ist, – er hat heute die P f l ic ht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus. – Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren Fratze und Wendung : denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen und Betrogen-werden anders denken, anders schätzen gelernt und halte mindestens ein paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der die Philosophen sich dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum n ic ht ? Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein ; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein : es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten ; und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die „scheinbare Welt“ ganz abschaffen, nun, gesetzt, i h r könntet das, – so bliebe mindestens dabei auch von eurer „Wahrheit“ nichts mehr übrig ! Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ giebt ? Genügt es nicht, Stufen der Schein|barkeit an-

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zunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden ? Warum dürfte die Welt, d ie u n s et w a s a n g e ht – , nicht eine Fiktion sein ? Und wer da fragt : „aber zur Fiktion gehört ein Urheber ?“ – dürfte dem nicht rund geantwortet werden : Wa r u m ? Gehört dieses „Gehört“ nicht vielleicht mit zur Fiktion ? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein ? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben ? Alle Achtung vor den Gouvernanten : aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte ? – 35. Oh Voltaire ! Oh Humanität ! Oh Blödsinn ! Mit der „Wahrheit“, mit dem S uc he n der Wahrheit hat es etwas auf sich ; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt – „il ne cherche le vrai que pour faire le bien“ – ich wette, er fi ndet nichts ! 36. Gesetzt, dass nichts Anderes als real „gegeben“ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen „Realität“ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander – : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht au s r e ic ht , um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder „materielle“) Welt zu verstehen ? Ich meine nicht als eine Täuschung, einen „Schein“, | eine „Vorstellung“ (im Berkeley’schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, – als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie

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billig, verzärtelt und abschwächt –), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoff wechsel, synthetisch gebunden in einander sind, – als eine Vor f or m des Lebens ? – Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen : es ist, vom Gewissen der Met ho d e aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist (– bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen) : das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf ; – es folgt „aus ihrer Defi nition“, wie ein Mathematiker sagen würde. Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w i r k e nd anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben : thun wir das – und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst – , so mü s s e n wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. „Wille“ kann natürlich nur auf „Wille“ wirken – und nicht auf „Stoffe“ (nicht auf „Nerven“ zum Beispiel –) : genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo „Wirkungen“ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. – Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes | Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es me i n Satz ist – ; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschaff t, a l le wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als : W i l le z u r M ac ht . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts ausserdem. –

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37. „Wie ? Heisst das nicht, populär geredet : Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht – ?“ Im Gegentheil ! Im Gegentheil, meine Freunde ! Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden ! – 38. Wie es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und aus der Nähe beurtheilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, b i s d e r Te x t u nt e r d e r I nt e r p r e t a t io n ve r s c hw a n d : so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehn und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen. – Oder vielmehr : ist dies nicht bereits geschehen ? waren wir nicht selbst – diese „edle Nachwelt“ ? Und ist es nicht gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, – damit vorbei ? | 39. Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht, oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten : die lieblichen „Idealisten“ etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. Glück und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber gerne, auch auf Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Bösemachen ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein : ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre ; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, – so dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der „Wahrheit“ gerade noch

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aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht nöt h i g h ät t e. Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser T he i le der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine grössere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben ; nicht zu reden von den Bösen, die glücklich sind, – eine Species, welche von den Moralisten verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und Philosophen abgeben, als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit und Kunst des Leicht-nehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den Begriff „Philosoph“ nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt – oder gar s e i ne Philosophie in Bücher bringt ! – Einen | letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht unterlassen will zu unterstreichen : – denn er geht w id e r den deutschen Geschmack. „Pour être bon philosophe“, sagt dieser letzte grosse Psycholog, „il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c’est-à-dire pour voir clair dans ce qui est.“ 40. Alles, was tief ist, liebt die Maske ; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der G e g e n s at z die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einhergienge ? Eine fragwürdige Frage : es wäre wunderlich, wenn nicht irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen ; es giebt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeu-

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gen durchzuprügeln, damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben : – die Scham ist erfi nderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt : es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, – es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass | durch’s Leben rollte : die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen : seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, w i l l es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt ; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine Maske von ihm giebt, – und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske : mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich f l ac he n Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. – 41. Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist ; und dies zur rechten Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber

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als Zeugen und vor keinem anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben : und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben : und sei es das leidendste und hülf bedürftigste, | – es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben : und gälte es höheren Menschen, in deren seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben : und locke sie Einen mit den kostbarsten, anscheinend gerade u n s aufgesparten Funden. Nicht an seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe fl ieht, um immer mehr unter sich zu sehn : – die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer „Gastfreundschaft“ : wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen, s ic h z u b ew a h r e n : stärkste Probe der Unabhängigkeit. 42. Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf : ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, so wie sie sich errathen lassen – denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu wol le n –, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Ver s uc her bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.

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43. Sind es neue Freunde der „Wahrheit“, diese kommenden Philosophen ? Wahrscheinlich genug : denn alle | Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll : was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein Urtheil ist me i n Urtheil : dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ – sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen. „Gut“ ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein „Gemeingut“ geben ! Das Wort widerspricht sich selbst : was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand : die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. – 44. Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, s e h r freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, – so gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will ? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geister ! – die S c hu ld i g k e it , ein altes dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzulange wie ein Nebel den Begriff „freier Geist“ undurchsichtig gemacht hat. In | allen Ländern Europa’s und ebenso in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine sehr enge,

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eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt, – nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf jene heraufkommenden neue n Philosophen erst recht zugemachte Fenster und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm, unter die N i ve l l i r e r, diese fälschlich genannten „freien Geister“ – als beredte und schreibfi ngrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner „modernen Ideen“ : allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für a l le s menschliche Elend und Missrathen zu sehn : wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn kommt ! Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann ; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und Lehren heissen „Gleichheit der Rechte“ und „Mitgefühl für alles Leidende“, – und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man a b s c h a f f e n muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit | seiner Lage erst in’s Ungeheure wachsen, seine Erfi ndungs- und Verstellungskraft (sein „Geist“ –) unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwikkeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste : – wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder

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Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein Gegensatz : – wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen und befi nden uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an dieser Stelle, am a nd e r n Ende aller modernen Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit : als deren Antipoden vielleicht ? Was Wunder, dass wir „freien Geister“ nicht gerade die mittheilsamsten Geister sind ? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen, wovon ein Geist sich frei machen kann und woh i n er dann vielleicht getrieben wird ? Und was es mit der gefährlichen Formel „jenseits von Gut und Böse“ auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor Verwechslung behüten : wir s i n d etwas Anderes als „libre-penseurs“, „liberi pensatori“, „Freidenker“ und wie alle diese braven Fürsprecher der „modernen Ideen“ sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen ; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen ; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen | der Sinne versteckt liegen ; dankbar sogar gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem „Vorurtheil“ losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von „freiem Willen“, mit Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, Verborgene

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unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich Erben und Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh bis Abend, Geizhälse unsres Reichthums und unsrer vollgestopften Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfi nderisch in Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage ; ja, wenn es noth thut, selbst Vogelscheuchen – und heute thut es noth : nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der E i n s a m k e it sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten Einsamkeit : – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister ! und vielleicht seid auch i h r etwas davon, ihr Kommenden ? ihr neue n Philosophen ? – |

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45. Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser Erfahrungen, die ganze b i s he r i g e Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Möglichkeiten : das ist für einen geborenen Psychologen und Freund der „grossen Jagd“ das vorbestimmte Jagdbereich. Aber wie oft muss er sich verzweifelt sagen : „ein Ein zelner ! ach, nur ein Einzelner ! und dieser grosse Wald und Urwald !“ Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben könnte, um dort s e i n Wild zusammenzutreiben. Umsonst : er erprobt es immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen, die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu fi nden sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne noth thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar sind, wo die „ g r o s s e Jagd“, aber auch die grosse Gefahr beginnt : – gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum Beispiel zu errathen und festzustellen, was für eine Geschichte bisher das Problem von W i s s e n u nd G ew i s s e n in der Seele der homines religiosi gehabt hat, dazu müsste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal’s war : – und dann bedürfte es immer | noch jenes ausgespannten Himmels von heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab dies Gewimmel von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen, in

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Formeln zu zwingen vermöchte. – Aber wer thäte mir diesen Dienst ! Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten ! – sie wachsen ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich ! Zuletzt muss man Alles s e l b e r thun, um selber Einiges zu wissen : das heisst, man hat v ie l zu thun ! – Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste aller Laster, – Verzeihung ! ich wollte sagen : die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf Erden. – 46. Der Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur Toleranz, welche das imperium Romanum gab, – dieser Glaube ist n ic ht jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube, mit denen etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben ; viel eher schon jener Glaube Pascal’s, der auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, – einer zähen langlebigen wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche todtzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung : Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes ; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser | Phönicismus in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten Gewissen zugemuthet wird : seine Voraussetzung ist, dass die Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich we he t hut , dass die ganze Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das Absurdissimum wehrt, als welches ihm der „Glaube“ entgegentritt. Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle

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christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel „Gott am Kreuze“ lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel : sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe. – Es ist der Orient, der t ie f e Orient, es ist der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen „Katholicismus“ des Glaubens Rache nahm : – und immer war es nicht der Glaube, sondern die Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre Herrn empört hat. Die „Aufklärung“ empört : der Sklave nämlich will Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, bis zur Krankheit, – sein vieles ve r b or g e ne s Leiden empört sich gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leu g ne n scheint. Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der französischen Revolution begonnen hat. | 47. Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, fi nden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen : Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit, – doch ohne dass hier mit Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und o b hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege. Zum letzten Zweifel berechtigt, dass gerade zu ihren regelmässigsten Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche

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dann, ebenso plötzlich, in Busskrampf und Welt- und WillensVerneinung umschlägt : beides vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar ? Aber nirgendswo sollte man sich der Deutungen mehr entschlagen : um keinen Typus herum ist bisher eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt zu haben, – es wäre an der Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden, Vorsicht zu lernen, besser noch : wegzusehn, we g z u g e h n . – Noch im Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie, der Schopenhauerischen, steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist Willensverneinung mög l ic h ? wie ist der Heilige möglich ? – das scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger (vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betriff t –) nämlich Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus | als Kundry auf der Bühne vorführte : type vécu, und wie er leibt und lebt ; zu gleicher Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa’s einen Anlass hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall, wo die religiöse Neurose – oder, wie ich es nenne, „das religiöse Wesen“ – als „Heilsarmee“ ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht hat. – Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so unbändig interessant gewesen ist : so ist es ohne allen Zweifel der ihm anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren A u f e i n a n d e r f ol g e vo n G e g e n s ä t z e n , von moralisch entgegengesetzt gewertheten Zuständen der Seele : man glaubte hier mit Händen zu greifen, dass aus einem „schlechten Menschen“ mit Einem Male ein „Heiliger“, ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an

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dieser Stelle Schiff bruch : sollte es nicht vornehmlich darum geschehen sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst g l au bt e, und diese Gegensätze in den Text u nd Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein d e ut e t e ? – Wie ? Das „Wunder“ nur ein Fehler der Interpretation ? Ein Mangel an Philologie ? – 48. Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christenthum überhaupt : und dass folglich der Unglaube in katholischen Ländern etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen – nämlich eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher eine Rückkehr zum Geist | (oder Ungeist –) der Rasse ist. Wir Nordländer stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere Begabung zur Religion : wir sind s c h le c ht für sie begabt. Man darf die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben : – in Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch, sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft ist ! Wie katholisch, wie undeutsch riecht uns Auguste Comte’s Sociologie mit ihrer römischen Logik der Instinkte ! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und kluge Cicerone von Port-Royal, SainteBeuve, trotz all seiner Jesuiten-Feindschaft ! Und gar Ernest Renan : wie unzugänglich klingt uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt ! Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach, – und was für Bosheit und Übermuth regt sich sofort in unserer wahr-

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scheinlich weniger schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort ! – „disons donc hardiment que la religion est un produit de l’homme normal, que l’homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le plus assuré d’une destinée infi nie … C’est quand il est bon qu’il veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c’est quand il contemple les choses d’une manière désintéressée qu’il trouve la mort révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c’est dans ces moments-là, que | l’homme voit le mieux ? …“ Diese Sätze sind meinen Ohren und Gewohnheiten so sehr a nt i p o d i s c h , dass, als ich sie fand, mein erster Ingrimm daneben schrieb „la niaiserie religieuse par excellence !“ – bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann, diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit ! Es ist so artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben ! 49. Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt : – es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche s o vor der Natur und vor dem Leben steht ! – Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die F u r c ht auch in der Religion ; und das Christenthum bereitete sich vor. – 50. Die Leidenschaft für Gott : es giebt bäurische, treuherzige und zudringliche Arten, wie die Luther’s, – der ganze Protestantismus entbehrt der südlichen delicatezza. Es giebt ein orientalisches Aussersichsein darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden ermangelt. Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin, welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica drängt : wie bei Madame

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de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder Jünglings ; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch als deren letzter Ehrgeiz : – die Kirche hat das Weib schon mehrfach in einem solchen Falle heilig gesprochen. | 51. Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend vor dem Heiligen gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und absichtlichen letzten Entbehrung : warum beugten sie sich ? Sie ahnten in ihm – und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen und kläglichen Anscheins – die überlegene Kraft, welche sich an einer solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu ehren wussten : sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten. Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn eingab : ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich. Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern, näher unterrichtet sein möchte ? Genug, die Mächtigen der Welt lernten vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden, noch unbezwungenen Feind : – der „Wille zur Macht“ war es, der sie nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn fragen – – 52. Im jüdischen „alten Testament“, dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Über-

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bleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa, | das durchaus gegen Asien den „Fortschritt des Menschen“ bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich : wer selbst nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des „gebildeten“ Christenthums hinzugenommen –), der hat unter jenen Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben – der Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf „Gross“ und „Klein“ – : vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen fi ndet (in ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüderund Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche zusammengeleimt zu haben, als „Bibel“, als „das Buch an sich“ : das ist vielleicht die grösste Verwegenheit und „Sünde wider den Geist“, welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat. 53. Warum heute Atheismus ? – „Der Vater“ in Gott ist gründlich widerlegt ; ebenso „der Richter“, „der Belohner“. Insgleichen sein „freier Wille“ : er hört nicht, – und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist : er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen : ist er unklar ? – Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfi ndig gemacht habe ; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, – dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt. |

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54. Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie ? Seit Descartes – und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs – macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriff s – das heisst : ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, a nt ic h r i s t l ic h : obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an „die Seele“, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte : man sagte, „Ich“ ist Bedingung, „denke“ ist Prädikat und bedingt – Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden mu s s . Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, – ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei : „denke“ Bedingung, „Ich“ bedingt ; „Ich“ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst g e m ac ht wird. K a nt wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, – das Objekt auch nicht : die Möglichkeit einer S c he i ne x i s t e n z des Subjekts, also „der Seele“, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist. 55. Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen Sprossen ; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man seinem Gotte Menschen, | vielleicht gerade solche, welche man am besten liebte, – dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen, dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen. Dann,

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in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte die stärksten Instinkte, die man besass, seine „Natur“ ; d ie s e Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten „Wider-Natürlichen“. Endlich : was blieb noch übrig zu opfern ? Musste man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoff nung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern ? musste man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten ? Für das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart : wir Alle kennen schon etwas davon. – 56. Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen Philosophie ; wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral – , der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich | wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht : für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, s o w ie e s w a r u nd i s t , wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat –

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und nöthig macht : weil er immer wieder sich nöthig hat – und nöthig macht – – Wie ? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus ? 57. Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den Menschen : seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht. Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten worden ist, die Begriffe „Gott“ und „Sünde“, nicht wichtiger, als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint, – und vielleicht hat dann „der alte Mensch“ wieder ein andres Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, – immer noch Kinds genug, ein ewiges Kind ! 58. Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen Leben (und sowohl zu seiner mikros|kopischen Lieblings-Arbeit der Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich „Gebet“ nennt und eine beständige Bereitschaft für das „Kommen Gottes“ ist) der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit s c h ä n d et , – nämlich Seele und Leib gemein macht ? Und dass folglich die moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum „Unglauben“ erzieht und vorbereitet ? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland abseits von der Religion leben, fi nde ich Menschen von vielerlei Art und Abkunft der „Freidenkerei“, vor Allem aber eine Mehrzahl solcher,

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denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen Instinkte aufgelöst hat : so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr Vorhandensein in der Welt gleichsam registriren. Sie fühlen sich schon reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom „Vaterlande“ und den Zeitungen und den „Pfl ichten der Familie“ : es scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder ein neues Vergnügen handelt, – denn unmöglich, sagen sie sich, geht man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie sind keine Feinde der religiösen Gebräuche ; verlangt man in gewissen Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Betheiligung an solchen Gebräuchen, so thun sie, was man verlangt, wie man so Vieles thut – , mit einem | geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde und Unbehagen : – sie leben eben zu sehr abseits und ausserhalb, um selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig zu fi nden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der deutschen Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den arbeitsamen grossen Handelsund Verkehrscentren ; ebenfalls die Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör (die Theologen ausgenommen, deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel zu rathen giebt). Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur kirchlicher Menschen eine Vorstellung davon, w ie v ie l guter Wille, man könnte sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher Gelehrter das Problem der Religion ernst nimmt ; von seinem ganzen Handwerk her (und, wie gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit her, zu welcher ihn sein modernes Gewissen verpfl ichtet) neigt er zu einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit gegen die

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Religion, zu der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung mischt, gerichtet gegen die „Unsauberkeit“ des Geistes, welche er überall dort voraussetzt, wo man sich noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem Gelehrten erst mit Hülfe der Geschichte (also n ic ht von seiner persönlichen Erfahrung aus), es gegenüber den Religionen zu einem ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer gewissen scheuen Rücksicht zu bringen ; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur Dankbarkeit gegen sie gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen Schritt weit dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher gekommen : vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleich|gültigkeit gegen religiöse Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut ; und es kann gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst mit sich bringt. – Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von Naivetät, um deren Erfi ndung sie andre Zeitalter beneiden dürfen : – und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, h i n au f gewachsen ist, – er, der kleine anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-fl inke Kopf- und Handarbeiter der „Ideen“, der „modernen Ideen“ ! 59. Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man fi ndet hier und da eine leidenschaftliche und

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übertreibende Anbetung der „reinen Formen“, bei Philosophen wie bei Künstlern : möge Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche n öt h i g hat, irgend wann einmal einen unglückseligen Griff u nt e r sie gethan hat. Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder, der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der Absicht fi nden, | sein Bild zu f ä l s c he n (gleichsam in einer langwierigen Rache am Leben –) auch noch eine Ordnung des Ranges : man könnte den Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht zu sehn wünschen, – man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler rechnen, als ihren hö c h s t e n Rang. Es ist die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen : die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu f r ü h habhaft werden könnte, ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist … Die Frömmigkeit, das „Leben in Gott“, mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der F u r c ht vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als eben Frömmigkeit : durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet. – 60. Den Menschen zu lieben um G ot t e s W i l le n – das war bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist. Dass die Liebe zum Menschen ohne irgend eine heiligende Hinterabsicht eine Dummheit

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und Thierheit me h r ist, dass der Hang zu dieser Menschenliebe erst von einem | höheren Hange sein Maass, seine Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat : – welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und „erlebt“ hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat ! 61. Der Philosoph, wie w i r ihn verstehen, wir freien Geister – , als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat : dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluss, welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können : als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und die Gewissen der letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth und überantwortet ; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem | abgezogeneren und beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich Ruhe vor

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dem Lärm und der Mühsal des g r ö b e r e n Regierens und Reinheit vor dem n ot hwe n d i g e n Schmutz alles PolitikMachens zu schaffen. So verstanden es zum Beispiel die Brahmanen : mit Hülfe einer religiösen Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu ernennen, während sie sich selber abseits und ausserhalb hielten und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben. Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten Anleitung und Gelegenheit, sich auf einst maliges Herrschen und Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen ist : – ihnen bietet die Religion Anstösse und Versuchungen genug, die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben : – Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet. Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen dasind und nur insofern dasein d ü r f e n , giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung und | Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden gleichsam au s nüt z e nd , zuletzt gar heiligend und rechtfertigend. Vielleicht

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ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, – und gerade diese Härte thut Noth ! – bei sich festzuhalten. 62. Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit an’s Licht zu stellen : – es bezahlt sich immer theuer und fürchterlich, wenn Religionen n i c h t als Züchtungsund Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und s ouve r ä n walten, wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen. Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden ; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das no c h n ic ht f e s tg e s t e l lt e T h i e r ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer : je höher geartet | der Typus eines Menschen ist, der durch ihn dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit, dass er g e r ä t h : das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen zu diesem Ü b e r s c hu s s der misslungenen Fälle ? Sie suchen zu erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für L e id e nd e, sie geben allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durch-

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setzen, dass jede andre Empfi ndung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen : in der Gesammt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich s ouve r ä ne n Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus „Mensch“ auf einer niedrigeren Stufe festhielten, – sie erhielten zu viel von dem, w a s z u Gr u nd e g e h n s ol lt e. Man hat ihnen Unschätzbares zu danken ; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die „geistlichen Menschen“ des Christenthums bisher für Europa gethan haben ! Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in Klöster und seelische Zuchthäuser lockten : was mussten sie ausserdem thun, um | mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an der Ve r s c h le c h t e r u n g d e r e u r o p ä i s c he n R a s s e zu arbeiten ? Alle Werthschätzungen au f d e n K o pf stellen – d a s mussten sie ! Und die Starken zerbrechen, die grossen Hoff nungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgerathensten Typus „Mensch“ zu eigen sind, in Unsicherheit, GewissensNoth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde und das Irdische verkehren – d a s stellte sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich „Entweltlichung“, „Entsinnlichung“ und „höherer Mensch“ in Ein Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen und unbetheiligten Auge eines

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epikurischen Gottes die wunderlich schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen Christenthums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein Ende mehr zu staunen und zu lachen : scheint es denn nicht, dass Ein Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen eine s u bl i me M i s s g ebu r t zu machen ? Wer aber mit umgekehrten Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müsste er da nicht mit Grimm, mit Mitleid, mit Entsetzen schreien : „Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht ! War das eine Arbeit | für eure Hände ! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen und verhunzt ! Was nahmt i h r euch heraus !“ – Ich wollte sagen : das Christenthum war bisher die verhäng nissvollste Art von Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um a m Me n s c he n als Künstler gestalten zu dürfen ; Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und Zugrundegehns walten zu l a s s e n ; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen : – s olc he Menschen haben, mit ihrem „Gleich vor Gott“, bisher über dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer … |

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Viertes Hauptstück : Sprüche und Zwischenspiele. |

63. Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst, – sogar sich selbst. 64. „Die Erkenntniss um ihrer selbst willen“ – das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt : damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie. 65. Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre. 65 a. Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott : er d a r f nicht sündigen ! 66. Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein. 67. Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei : denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott. 68. „Das habe ich gethan“ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.

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Viertes Hauptstück

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69. Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand gesehn hat, die auf eine schonende Weise – tödtet. | 70. Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt. 71. Der Weise als Astronom. – So lange du noch die Sterne fühlst als ein „Über-dir“, fehlt dir noch der Blick des Erkennenden. 72. Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfi ndung macht die hohen Menschen. 73. Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus. 73 a. Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif – und heisst es seinen Stolz. 74. Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei dazu besitzt : Dankbarkeit und Reinlichkeit. 75. Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf. 76. Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.

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77. Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen : – zwei Menschen mit | gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch etwas Grund-Verschiedenes. 78. Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter. 79. Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz : – ihr Unterstes kommt herauf. 80. Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anrieth : „erkenne dich selbst“ ! Hiess es vielleicht : „höre auf, dich etwas anzugehn ! werde objektiv !“ – Und Sokrates ? – Und der „wissenschaftliche Mensch“ ? – 81. Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr – den Durst löscht ? 82. „Mitleiden mit Allen“ – wäre Härte und Tyrannei mit d i r, mein Herr Nachbar ! – 83. D e r I n s t i n k t . – Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das Mittagsessen. – Ja : aber man holt es auf der Asche nach. 84. Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern – verlernt. |

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Viertes Hauptstück

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85. Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden : deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn. 86. Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit immer noch ihre unpersönliche Verachtung – für „das Weib.“ 87. G ebu nd e n He r z , f r e ie r G e i s t . – Wenn man sein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben : ich sagte das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir’s nicht, gesetzt, dass man’s nicht schon weiss … 88. Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen werden. 89. Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches ist. 90. Schwere, schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an ihre Oberfläche. 91. So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt ! Jede Hand erschrickt, die ihn anfasst ! – Und gerade darum halten Manche ihn für glühend. | 92. Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal – sich selbst geopfert ? –

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93. In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum allzuviel von Menschenverachtung. 94. Reife des Mannes : das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel. 95. Sich seiner Unmoralität schämen : das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt. 96. Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, – mehr segnend als verliebt. 97. Wie ? Ein grosser Mann ? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines eignen Ideals. 98. Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es beisst. 99. Der Enttäuschte spricht. – „Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob –“ 100. Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind : wir ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus. | 101. Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes fühlen.

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102. Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte Wesen ernüchtern. „Wie ? e s ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben ? Oder dumm genug ? Oder – oder –“ 103. Die Gefahr im Glücke. – „Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr liebe ich jedes Schicksal : – wer hat Lust, mein Schicksal zu sein ?“ 104. Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen. 105. Dem freien Geiste, dem „Frommen der Erkenntniss“ – geht die pia fraus noch mehr wider den Geschmack (wider s e i ne „Frömmigkeit“) als die impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus „freier Geist“ gehört, – als s e i ne Unfreiheit. 106. Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst. 107. Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zu schliessen : Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit. | 108. Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen … 109. Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen : er verkleinert und verleumdet sie.

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110. Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden. 111. Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben unser Stolz verletzt wurde. 112. Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich : er erwehrt sich ihrer. 113. „Du willst ihn für dich einnehmen ? So stelle dich vor ihm verlegen –“ 114. Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe und die Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspektiven. 115. Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig. | 116. Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen. 117. Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrerer anderer Affekte.

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118. Es giebt eine Unschuld der Bewunderung : Der hat sie, dem es noch nicht in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden. 119. Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns zu reinigen, – uns zu „rechtfertigen“. 120. Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist. 121. Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte, – und dass er es nicht besser lernte. 122. Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des Herzens – und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes. 123. Auch das Concubinat ist corrumpirt worden : – durch die Ehe. | 124. Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete. Ein Gleichniss. 125. Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.

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126. Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Männern zu kommen. – Ja : und um dann um sie herum zu kommen. 127. Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, – schlimmer noch ! unter Kleid und Putz gucken wolle. 128. Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen. 129. Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er sich von ihm so fern : – der Teufel nämlich als der älteste Freund der Erkenntniss. 130. Was Jemand i s t , fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent nachlässt, – wenn er aufhört, zu zeigen, was er k a n n . Das Talent ist auch ein Putz ; ein Putz ist auch ein Versteck. | 131. Die Geschlechter täuschen sich über einander : das macht, sie ehren und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes Ideal, um es gefälliger auszudrücken –). So will der Mann das Weib friedlich, – aber gerade das Weib ist we s e nt l ic h unfriedlich, gleich der Katze, so gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat. 132. Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.

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133. Wer den Weg zu s e i ne m Ideale nicht zu fi nden weiss, lebt leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal. 134. Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit. 135. Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen : ein gutes Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein. 136. Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre Einen, dem er helfen kann : so entsteht ein gutes Gespräch. 137. Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in umgekehrter Richtung : man fi ndet hinter einem merkwürdigen Gelehrten nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem mittel|mässigen Künstler sogar oft – einen sehr merkwürdigen Menschen. 138. Wir machen es auch im Wachen wie im Traume : wir erfi nden und erdichten erst den Menschen, mit dem wir verkehren – und vergessen es sofort. 139. In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann. 140. R at h a l s R ät h s e l . – „Soll das Band nicht reissen, – musst du erst drauf beissen.“

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141. Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält. 142. Das züchtigste Wort, das ich gehört habe : „Dans le véritable amour c’est l’âme, qui enveloppe le corps.“ 143. Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher Moral. 144. Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks ; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, „das unfruchtbare Thier“. | 145. Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen : das Weib hätte nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der z we it e n Rolle hätte. 146. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. 147. Aus alten florentinischen Novellen, überdies – aus dem Leben : buona femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.

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148. Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese Meinung des Nächsten gläubig glauben : wer thut es in diesem Kunststück den Weibern gleich ? – 149. Was eine Zeit als böse empfi ndet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, – der Atavismus eines älteren Ideals. 150. Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel ; und um Gott herum wird Alles – wie ? vielleicht zur „Welt“ ? – 151. Ein Talent haben ist nicht genug : man muss auch eure Erlaubniss dazu haben, – wie ? meine Freunde ? | 152. „Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies“ : so reden die ältesten und die jüngsten Schlangen. 153. Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse. 154. Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit : alles Unbedingte gehört in die Pathologie. 155. Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.

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156. Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. 157. Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel : mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg. 158. Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen. 159. Man mu s s vergelten, Gutes und Schlimmes : aber warum gerade an der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that ? | 160. Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt. 161. Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos : sie beuten sie aus. 162. „Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar“ – so denkt jedes Volk. 163. Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines Liebenden an’s Licht, – sein Seltenes, Ausnahmsweises : insofern täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist. 164. Jesus sagte zu seinen Juden : „das Gesetz war für Knechte, – liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn ! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an !“ –

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165. A n g e s ic ht s je d e r P a r t e i . – Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig, – oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein. 166. Man lügt wohl mit dem Munde ; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch noch die Wahrheit. 167. Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham – und etwas Kostbares. | 168. Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken : – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster. 169. Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen. 170. Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel. 171. Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Cyklopen. 172. Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht Alle umarmen kann) : aber gerade Das darf man dem Beliebigen nicht verrathen … 173. Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher schätzt.

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174. Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein F u h r we r k eurer Neigungen, – auch ihr fi ndet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich ? 175. Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte. 176. Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie wider unsre Eitelkeit geht. | 177. Über Das, was „Wahrhaftigkeit“ ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig genug. 178. Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht : welche Einbusse an Menschenrechten ! 179. Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen „gebessert“ haben. 180. Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist. 181. Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird. 182. Die Vertraulichkeit des Überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. –

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Viertes Hauptstück

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183. „Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert.“ – 184. Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt. 185. „Er missfällt mir.“ – Warum ? – „Ich bin ihm nicht gewachsen.“ – Hat je ein Mensch so geantwortet ? |

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Fünftes Hauptstück : zur Naturgeschichte der Moral. |

186. Die moralische Empfi ndung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffi nirt, als die dazu gehörige „Wissenschaft der Moral“ noch jung, anfängerhaft, plump und grobfi ngrig ist : – ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort „Wissenschaft der Moral“ ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den g ut e n Geschmack : welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, w a s hier auf lange hinaus noch noth thut, w a s vorläufig allein Recht hat : nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, – und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, – als Vorbereitung zu einer Ty p e n le h r e der Moral. Freilich : man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten : sie wollten die B e g r ü nd u n g der Moral, – und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben ; die Moral selbst aber galt als „gegeben“. Wie | ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten ! Gerade

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dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima’s und Erdstriches, – gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte : – als welche alle erst bei einer Vergleichung v ie le r Moralen auftauchen. In aller bisherigen „Wissenschaft der Moral“ f e h lt e, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst : es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten G l au b e n s an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Au s d r uc k s , also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden d ü r f e : – und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden : – „das Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), | der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker e i g e nt l ic h einig sind : neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva – das ist e i g e nt l ic h der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen … das e i g e nt l ic he Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.“ – Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein – bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt – ; und wer

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einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist – , der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, e i g e nt l ic h – die Flöte blies … Täglich, nach Tisch : man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt : ein Pessimist, ein Gott- und WeltVerneiner, der vor der Moral H a lt m ac ht , – der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral : wie ? ist das eigentlich – ein Pessimist ? 187. Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie „es giebt in uns einen kategorischen Imperativ“, kann man immer noch fragen : was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus ? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen ; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen ; mit anderen will er sich selbst an’s Kreuz schlagen und demüthigen ; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen ; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen | zu machen ; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben ; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn : „was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, – und bei euch s ol l es nicht anders stehn, als bei mir !“ – kurz, die Moralen sind auch nur eine Z e ic he n s p r ac he d e r A f f e k t e. 188. Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die „Natur“, auch gegen die „Vernunft“ : das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesent-

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liche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist : um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, – des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht ! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – „um einer Thorheit willen“, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – „aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze“, wie die Anarchisten sagen, die sich damit „frei“, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in | den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der „Tyrannei solcher Willkür-Gesetze“ entwickelt hat ; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies „Natur“ und „natürlich“ sei – und n ic ht jenes laisser aller ! Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein „natürlichster“ Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblikken der „Inspiration“, – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges –). Das Wesentliche, „im Himmel und auf Erden“, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung g e hor c ht werde : dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, – irgend etwas Verklärendes, Raffi nirtes, Tolles und Göttliches.

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Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde : zugegeben, dass dabei ebenfalls uner|setzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich „die Natur“, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und g le ic h g ü lt i g e n Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen – heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der „Etwas beweisen will“ – , dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen s ol lt e, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse „zu Ehren Gottes“ und „zum Heil der Seele“ : – diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist e r z og e n ; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn : die „Natur“ in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, – welche die Ve r e n g e r u n g d e r Pe r s p e k t i ve , und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. „Du sollst

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gehorchen, irgend wem, und auf lange : s o n s t gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst“ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder „kategorisch“ ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das „sonst“ –), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen !), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier „Mensch“, an d e n Menschen. | 189. Die arbeitsamen Rassen fi nden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen : es war ein Meisterstück des e n g l i s c he n Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird : – als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fa s t e n s , wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit –). Es muss Fasten von vielerlei Art geben ; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich r e i n i g e n und s c h ä r f e n lernt ; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. – Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa’s und überhaupt erst unter

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dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat. | 190. Es giebt Etwas in der Moral Plato’s, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfi ndet, man könnte sagen, trotz Plato : nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. „Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst Schaden zu : das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrthum schlecht ; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn nothwendig – gut.“ – Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pö b e l , der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in’s Auge fasst und eigentlich urtheilt „es ist d u m m , schlecht zu handeln“ ; während er „gut“ mit „nützlich und angenehm“ ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen : man wird selten irre gehn. – Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst – , er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in’s Unendliche und Unmögliche zu variiren : nämlich in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch : was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht πρσε Πλ των πιν τε Πλ των μσση τε Χμαιρα.

191. Das alte theologische Problem von „Glauben“ und „Wissen“ – oder, deutlicher, von Instinkt und Ver|nunft – also die Frage, ob in Hinsicht auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt

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mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem „Warum ?“, also nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, – es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes – dem eines überlegenen Dialektikers – zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt ; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten ? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über sich selbst : er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen ! Man muss ihnen und auc h der Vernunft zum Recht verhelfen, – man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Fa l s c h h e it jenes grossen geheimnissreichen Ironikers ; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben : im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut. – Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft – der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte ! – sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf | Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf „Gott“ ; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, – das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, „der Glaube“, oder wie ich es nenne, „die Heerde“ gesiegt. Man müsste denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), wel-

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cher der Vernunft allein Autorität zuerkannte : aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich. 192. Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, der fi ndet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der ältesten und gemeinsten Vorgänge alles „Wissens und Erkennens“ : dort wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum „Glauben“, der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst entwickelt, – unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks bei sich festzuhalten : letzteres braucht mehr Kraft, mehr „Moralität“. Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig ; fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und heimischer klingen : so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue fi ndet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig ; und über|haupt he r r s c he n schon bei den „einfachsten“ Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. – So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest – er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und „erräth“ den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn – , eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt ; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso :

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wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, n ic ht als „Erfi nder“ irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen : wir sind von Grund aus, von Alters her – a n’s Lü g e n g ewöh nt . Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken : man ist viel mehr Künstler als man weiss. – In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die K r a f t meines Sehvermögens hinausgeht : – die Feinheit des Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks mu s s also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins. 193. Quidquid luce fuit, tenebris agit : aber auch umgekehrt. Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Ge|sammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas „wirklich“ Erlebtes : wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres wachen Geistes ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt. Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten beneidenswerthen Glücks : ein Solcher, der jede Art von Bogen und Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, ein „nach Oben“ ohne Spannung und Zwang, ein „nach Unten“ ohne Herablassung und Erniedrigung – ohne S c hwe r e ! – wie sollte der Mensch solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich

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auch für seinen wachen Tag das Wort „Glück“ anders gefärbt und bestimmt fi nden ! wie sollte er nicht a nd e r s nach Glück – verlangen ? „Aufschwung“, so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm, gegen jenes „Fliegen“ gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft, gewaltsam, schon zu „schwer“ sein. 194. Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit einander uneins sind : – sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen als wirkliches H a b e n und | B e s it z e n eines Gutes gilt. In Betreff eines Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes Anzeichen des Habens, des Besitzens ; ein Anderer, mit seinem argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das „Fragezeichen“, das nur Scheinbare eines solchen Habens und will feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte – : s o erst gilt es ihm als „besessen“. Ein Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein Phantom von ihm thut : er will erst gründlich, ja abgründlich gut gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich errathen zu lassen –. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte ein Volk besitzen : und alle höheren Cagliostro- und CatilinaKünste sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit

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einem feineren Besitzdurste, sagt sich „man darf nicht betrügen, wo man besitzen will“ – , er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet : „also muss ich mich kennen l a s s e n und, vorerst, mich selbst kennen !“ Unter hülfreichen und wohlthätigen Menschen fi ndet man jene plumpe Arglist fast regelmässig vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht : als ob er zum Beispiel Hülfe „verdiene“, gerade nach | i h r e r Hülfe verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig beweisen werde, – mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen sind. Man fi ndet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches – sie nennen das „Erziehung“ – , keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es s e i n e n Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester, der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu neuem Besitze. Woraus folgt … 195. Die Juden – ein Volk „geboren zur Sklaverei“, wie Tacitus und die ganze antike Welt sagt, „das auserwählte Volk unter den Völkern“, wie sie selbst sagen und glauben – die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat : – ihre Propheten haben „reich“ „gottlos“ „böse“ „gewalt-

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thätig“ „sinnlich“ in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort „Welt“ zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu der es gehört, das Wort für „Arm“ als synonym mit „Heilig“ und | „Freund“ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks : mit ihm beginnt der S k l ave n -A u f s t a n d i n d e r Mor a l . 196. Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu e r s c h l ie s s e n , – solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichniss ; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles verschweigen lässt. 197. Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die „Natur“, so lange man noch nach einer „Krankhaftigkeit“ im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen „Hölle“ – : wie es bisher fast alle Moralisten gethan haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt ? Und dass der „tropische Mensch“ um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung ? Warum doch ? Zu Gunsten der „gemässigten Zonen“ ? Zu Gunsten der gemässigten Menschen ? Der „Moralischen“ ? Der Mittelmässigen ? – Dies zum Kapitel „Moral als Furchtsamkeit“. – 198. Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres „Glückes“, wie es heisst, – was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im | Verhältniss zum Grade der G e f ä h rl ic h k e it , in welcher die einzelne Person mit sich

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selbst lebt ; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten ; kleine und grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit ; allesammt in der Form barock und unvernünftig – weil sie sich an „Alle“ wenden, weil sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf – , allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem „nach der anderen Welt“ : Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht „Wissenschaft“, geschweige denn „Weisheit“, sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, – sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten ; oder auch jenes Nichtmehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben ; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral ; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen – denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass … ; zuletzt selbst jene entgegen-| kommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es „wenig Gefahr mehr hat“. Auch Dies zum Kapitel „Moral als Furchtsamkeit“.

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199. Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, – in Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich jetzt einem Jeden das Bedürfniss darnach angeboren ist, als eine Art f or m a le n G ew i s s e n s , welches gebietet : „du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen“, kurz „du sollst“. Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen ; es greift dabei, gemäss seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen – in’s Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen | endlich geradezu die Befehlshaber und Unabhängigen ; oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können : nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa : ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maxi-

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men borgen, zum Beispiel als „erste Diener ihres Volks“ oder als „Werkzeuge des gemeinen Wohls“. Auf der anderen Seite giebt sich heute der Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden : also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen : dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleon’s machte, das letzte grosse Zeugniss : – die Geschichte der Wirkung Napoleon’s ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses | ganze Jahrhundert in seinen werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat. 200. Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen und sich selten Ruhe geben, – ein solcher Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein : sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er i s t , einmal ein Ende habe ; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der

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Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als „Sabbat der Sabbate“, um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. – Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel me h r – , und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet : so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar (– denen ich gerne jenen e r s t e n Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern viel|leicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt : beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen. 201. So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurthei len herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem Gemeinde-Bestand gefährlich scheint : so lange kann es noch keine „Moral der Nächstenliebe“ geben. Gesetzt, es fi ndet sich auch da bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfleistung, gesetzt, es sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe thätig, welche später mit Ehrennamen, als „Tugenden“ bezeichnet werden und schliesslich fast mit dem Begriff „Moralität“ in Eins zusammenfallen : in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Werthschätzungen – sie sind noch au s s e r m o r a l i s c h . Eine mitleidige Handlung zum

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Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch ; und wird sie selbst gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art unwilliger Gering-Schätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient. Zuletzt ist die „Liebe zum Nächsten“ immer etwas Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältniss zur F u r c h t vor d e m N ä c h s t e n . Nachdem | das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schaff t. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt – unter anderen Namen, wie billig, als den eben gewählten – , sondern gross-gezogen und -gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden – jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen – und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren ; der Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive : die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat

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gleichsam, zerbricht : folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden ; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht | macht, heisst von nun an b ö s e ; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das M i t t e l m a a s s der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn ; und jetzt beginnt jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören ; eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, „das Lamm“, noch mehr „das Schaf“ gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den Ve r b r e c he r Partei nimmt, und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen : das scheint ihr irgendworin unbillig, – gewiss ist, dass die Vorstellung „Strafe“ und „Strafen-Sollen“ ihr wehe thut, ihr Furcht macht. „Genügt es nicht, ihn u n g e f ä h rl ic h machen ? Wozu noch strafen ? Strafen selbst ist fürchterlich !“ – mit dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschaff t : sie wäre nicht mehr nöthig, sie h ie lt e s ic h s e l b s t nicht mehr für nöthig ! – Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit : „wir wollen, dass es irgendwann einmal N ic h t s m e h r z u f ü r c h t e n giebt !“ Irgendwann einmal – der Wille und Weg d or t h i n heisst heute in Europa überall der „Fortschritt“. |

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202. Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt haben : denn die Ohren sind für solche Wahrheiten – für u n s e r e Wahrheiten – heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet ; aber es wird beinahe als S c hu l d uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die Menschen der „modernen Ideen“ beständig die Ausdrücke „Heerde“, „Heerden-Instinkte“ und dergleichen gebrauchen. Was hilft es ! Wir können nicht anders : denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa’s Einfluss herrscht : man we i s s ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess, – man „weiss“ heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf bestehn : was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der Instinkt des Heerdenthiers Mensch : als welcher zum Durchbruch, zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Mo r a l i s t he ut e i n Eu r o pa Heer d e nt h ier - Mor a l : – also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhe r e Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche „Möglichkeit“, gegen ein | solches „Sollte“ wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften : sie sagt hartnäckig und unerbittlich „ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral !“ – ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist

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es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral fi nden : die d e mok r at i s c he Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen : anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die „freie Gesellschaft“ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der aut o nome n Heerde (bis hinauf zur Ablehnung selbst der Begriffe „Herr“ und „Knecht“ – ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel –) ; Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen je d e s Recht : denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr „Rechte“ –) ; Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der not hwe nd i g e n Folge aller früheren Gesellschaft wäre –) ; aber ebenso | Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu „Gott“ : – die Ausschweifung eines „Mitleidens mit Gott“ gehört in ein demokratisches Zeitalter –) ; Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden l a s s e n zu können ; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint ;

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Eins im Glauben an die Moral des g e me i n s a me n Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die e r r e ic ht e Höhe des Menschen, die alleinige Hoff nung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von Ehedem : – Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die E rlö s e r i n , an die Heerde also, an „sich“ … 203. Wir, die wir eines andren Glaubens sind – , wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung : wohin müssen w i r mit unsren Hoff nungen greifen ? – Nach neue n Ph i lo s o phe n , es bleibt keine Wahl ; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und „ewige Werthe“ umzuwerthen, umzukehren ; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden | auf n eu e Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen W i l le n , als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher „Geschichte“ hiess, ein Ende zu machen – der Unsinn der „grössten Zahl“ ist nur seine letzte Form – : dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor u n s e r n Augen schwebt : – darf ich es laut sagen, ihr freien Geister ? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen, theils ausnützen müsste ; die muthmaasslichen

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Wege und Proben, vermöge deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwa n g zu diesen Aufgaben zu empfi nden ; eine Umwer thung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge ; andererseits die Nothwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen und entarten könnten – das sind u n s r e eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister ? das sind die schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel u n s e r e s Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfi ndliche Schmerzen, als einmal gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete : wer aber das seltene Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass „der  | Mensch“ selbst e nt a r t et , wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte – ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein „Finger Gottes“ mitspielte ! – wer das Verhängniss erräth, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der „modernen Ideen“, noch mehr in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt : der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen lässt, – er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, au s d em Me n s c he n z u z üc ht e n wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat : – er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die G e s a m mt- E nt a r t u n g d e s

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Me n s c he n , hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr „Mensch der Zukunft“ erscheint, – als ihr Ideal ! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der „freien Gesellschaft“), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist mög l ic h , es ist kein Zweifel ! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, – und vielleicht auch eine neue Au f g a b e ! … |

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204. Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das herausstellt, was es immer war – nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac – , möchte ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner E r f a h r u n g aus – Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung ? – ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs mitzureden : um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler g e g e n die Wissenschaft zu reden („ach, diese schlimme Wissenschaft ! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer d a h i n t e r !“ –). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens : die Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, – womit noch nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. „Los von allen Herren !“ – so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt ; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren „Magd“ sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal | den „Herrn“ – was sage ich ! den Ph i lo s o phe n zu spielen. Mein Gedächtniss – das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub ! – strotzt von Naivetä-

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ten des Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind –). Bald war es der Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte ; bald der fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des NützlichkeitsMenschen, der in der Philosophie Nichts sieht, als eine Reihe w id e rle g t e r Systeme und einen verschwenderischen Aufwand, der Niemandem „zu Gute kommt“. Bald sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens hervor ; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein : – mit dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer’s auf das neueste Deutschland zu sein :  – er hat es mit | seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des h i s t or i s c he n S i n n s gewesen ist : aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in’s Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche,

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Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato’s, Empedokles’, und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht ; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind – in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann – ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen d a r f . Es ist in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich „Wirklichkeits-Philosophen“ oder „Positivisten“ nennen, welcher ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen Gelehrten zu werfen im Stande ist : das sind ja besten Falls selbst Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen ! – das sind ja allesammt Überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft Zu r üc k g eb r ac ht e, welche irgendwann einmal me h r von sich gewollt | haben, ohne ein Recht zu diesem „mehr“ und seiner Verantwortlichkeit zu haben – und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Un g l au b e n an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und That repräsentiren. Zuletzt : wie könnte es auch anders sein ! Die Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. Philosophie auf „Erkenntnisstheorie“ reduzirt, thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre : eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt

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und sich peinlich das Recht zum Eintritt ve r we i g e r t – das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas, das Mitleiden macht. Wie könnte eine solche Philosophie – he r r s c he n ! 205. Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in’s Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und „spezialisiren“ lässt : so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, N ie d e r bl ic k kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine beste Zeit und Kraft schon vorüber ist ; oder beschädigt, vergröbert, entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr bedeutet. Gerade | die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern ; er fürchtet die Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn, er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr f ü h r t : er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen, zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks : wenn es selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von sich ein Urtheil, ein Ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, – dass er ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pfl icht zu diesem Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten – vielleicht störendsten, zerstörendsten – Erlebnissen heraus und oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu je-

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nem Rechte und jenem Glauben suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen entsinnlichten „entweltlichten“ Schwärmer und Trunkenbold Gottes ; und hört man gar heute Jemanden loben, dafür, dass er „weise“ lebe oder „als ein Philosoph“, so bedeutet es beinahe nicht mehr, als „klug und abseits“. Weisheit : das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn ; aber der rechte Philosoph – so scheint es u n s , meine Freunde ? – lebt „unphilosophisch“ und „unweise“, vor Allem u n k lu g , | und fühlt die Last und Pfl icht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens : – er risquirt s ic h beständig, er spielt d a s schlimme Spiel … 206. Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder z eu g t oder g eb ie r t , beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen – , hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer : denn er versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu – man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit – und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz von Verdruss. Sehen wir genauer zu : was ist der wissenschaftliche Mensch ? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch : er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seinesgleichen und für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel

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jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt –), jenen Sonnenschein des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche M i s s t r aue n , der Grund im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, | immer wieder überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art : er ist reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, der sich gehen, aber nicht s t r ö m e n lässt ; und gerade vor dem Menschen des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art : von jenem Jesuitismus der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber ! – abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich – , mit zutraulichem Mitleiden a b s p a n n e n : das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. – 207. Wie dankbar man auch immer dem o bje k t i ve n Geiste entgegenkommen mag – und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen ! – zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung

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neuerdings gefeiert wird : wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch | gute Gründe hat, dem „interesselosen Erkennen“ ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten, der id e a le Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, die es giebt : aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir : er ist ein S p ie g e l , – er ist kein „Selbstzweck“. Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel : vor Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre Lust, als wie sie das Erkennen, das „Abspiegeln“ giebt, – er wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von „Person“ an ihm noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend : so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf „sich“ zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch ; er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an Gesellen und Gesellschaft, – ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken : umsonst ! Schon schweift sein Gedanke weg, zum a l l g e me i ne r e n Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, auch die Zeit : er ist heiter, n ic ht aus Mangel an Noth, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben | für s e i ne Noth. Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stösst,

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seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein : ach, es giebt genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büssen muss ! – und als Mensch überhaupt wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn – : er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, – wenn er da gerade sich unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv sein darf : allein in seinem heitern Totalismus ist er noch „Natur“ und „natürlich“. Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen ; er befiehlt nicht ; er zerstört auch nicht. „Je ne méprise presque rien“ – sagt er mit Leibnitz : man überhöre und unterschätze das presque nicht ! Er ist auch kein Mustermensch ; er geht Niemandem voran, noch nach ; er stellt sich überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Ph i lo s o phe n verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur : so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen, – er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber Nichts, – presque rien ! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht ver|letzliches und getrübtes MessWerkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll ; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das ü b r i g e Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will : vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf ir-

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gend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm „zu gestalten“, – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein „selbstloser“ Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. – 208. Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker, – ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des objektiven Geistes herausgehört ? – so hört alle Welt das ungern ; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen, fragen … ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken ! Nein t hut . Gegen diese Art von „gutem Willen“ – einem Willen zur wirklichen thätlichen Verneinung des Lebens – giebt es anerkanntermaassen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis ; | und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten der Zeit gegen den „Geist“ und sein Rumoren unter dem Boden verordnet. „Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen ? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von SicherheitsPolizei : dies unterirdische Nein ist fürchterlich ! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe !“ Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht ; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu spüren. Ja ! und Nein ! – das geht ihm wider die Moral ; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht :

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„was weiss ich ?“ Oder mit Sokrates : „ich weiss, dass ich Nichts weiss“. Oder : „hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Thür offen.“ Oder : „gesetzt, sie stünde offen, wozu gleich eintreten !“ Oder : „wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen ? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade biegen ? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen ? Hat das nicht Zeit ? Hat die Zeit nicht Zeit ? Oh ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht w a r t e n ? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.“ – Also tröstet sich ein Skeptiker ; und es ist wahr, dass er einigen Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt ; sie entsteht jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander | abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in’s Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch ; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der W i l l e : sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr, – sie zweifeln an der „Freiheit des Willens“ auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und f ol gl ic h Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke, – und seines Willens oft bis zum Sterben satt ! Willenslähmung : wo fi n-

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det man nicht heute diesen Krüppel sitzen ! Und oft noch wie geputzt ! Wie verführerisch herausgeputzt ! Es giebt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit ; und dass zum Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als „Objektivität“, „Wissenschaftlichkeit“, „l’art pour l’art“, „reines willensfreies Erkennen“ in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist, – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. – Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über Europa verbreitet : sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten, wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet in dem Maasse, als „der Barbar“ | noch – oder wieder – unter dem schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt ; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnissvollen Wendungen seines Geistes in’s Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der deutschen Mitte ; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika, dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, – um nicht von Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann – , aber am allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche, wo Eu ropa gleichsam nach Asien zurückfl iesst, in Russland. Da ist die Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille – ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung – in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern von heute ihr Leibwort abzu-

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borgen. Es dürften nicht nur indische Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpfl ichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung | zu lesen. Ich sage dies nicht als Wünschender : mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen sein. – ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich E i ne n W i l le n z u b e k om me n , durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte : – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei : schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die ErdHerrschaft, – den Zw a n g zur grossen Politik. 209. Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen Genie – und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekommenen Typus des Deutschen – das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle des Genies : er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte,

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und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher Form, – sein Wider|wille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst eines tiefen Instinktes. M ä n ne r f e h lt e n ; und er argwöhnte zu seinem bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog er sich : aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen ? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen : – er sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen k a n n . Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor – wer weiss, w ie s e h r gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt ? – die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich ; sie untergräbt und nimmt in Besitz ; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei ; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng ; es ist die d eut s c he Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung | waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neue r Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis

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entscheidend hervortrat : sei es zum Beispiel als Unerschrokkenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen : cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem „Mann“ im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, – und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa’s zu empfehlen. Man verstehe doch endlich das Erstaunen Napoleon’s tief genug, als er Goethen zu sehen bekam : es verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem „deutschen Geiste“ gedacht hatte. „Voilà un homme !“ – das wollte sagen : „Das ist ja ein M a n n ! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet !“ – 210. Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker | sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet – und n ic ht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen ; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen : geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments

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in einem neuen, vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen lieben ? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gut heissen kann ? – Es ist kein Zweifel : diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantworten-können ; ja, sie gestehen bei sich eine Lu s t am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden h ä r t e r sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der „Wahrheit“ einlassen, damit sie ihnen „gefalle“ oder sie „erhebe“ und „begeistere“ : – ihr Glaube wird vielmehr gering sein, dass gerade die Wa h r he it solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen Geister, wenn Einer vor ihnen sagte „jener Gedanke erhebt mich : wie sollte er nicht wahr sein ?“ Oder : | „jenes Werk entzückt mich : wie sollte es nicht schön sein ?“ Oder : „jener Künstler vergrössert mich : wie sollte er nicht gross sein ?“ – sie haben vielleicht nicht nur ein Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde schwerlich dort die Absicht vorfi nden, „christliche Gefühle“ mit dem „antiken Geschmacke“ und etwa gar noch mit dem „modernen Parlamentarismus“ zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und

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jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen : sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, – trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, wie es heute so gern geschieht : „Philosophie selbst ist Kritik und kritische Wissenschaft – und gar nichts ausserdem !“ Mag diese Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands erfreuen (– und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke K a nt ’s geschmeichelt hätte : man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke –) : unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen : Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen ! Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. – | 211. Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln, – dass man gerade hier mit Strenge „Jedem das Seine“ und Jenen nicht viel zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe. Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben, – stehen bleiben mü s s e n ; er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und „freier Geist“ und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne,

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von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blikken zu k ö n ne n . Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe : diese Aufgabe selbst will etwas Anderes, – sie verlangt, dass er We r t he s c h a f f e. Jene philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant’s und Hegel’s haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werth s et z u n g e n , Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang „Wahrheiten“ genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des L og i s c he n oder des Pol it i s c he n (Moralischen) oder des K ü n s t le r i s c he n . Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja „die Zeit“ selbst, abzukürzen | und die ganze Vergangenheit zu ü b e r w ä lt i g e n : eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. D ie e i g e nt l ic he n Ph i lo s o phe n a b e r s i nd B e f e h le nd e u nd G e s et z g eb e r : sie sagen „so s ol l es sein !“, sie bestimmen erst das Wohin ? und Wozu ? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr „Erkennen“ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l le z u r Mac ht . – Giebt es heute solche Philosophen ? Gab es schon solche Philosophen ? Mu s s es nicht solche Philosophen geben ? … 212. Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein not hwe nd i g e r Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befi nden mu s s t e : sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer

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des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten – , ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tu g e n d e n d e r Z e it das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war : um eine neue Grösse des Menschen | zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen-lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend ü b e rlebt sei ; jedes Mal sagten sie : „wir müssen dorthin, dorthinaus, wo i h r heute am wenigsten zu Hause seid.“ Angesichts einer Welt der „modernen Ideen“, welche Jedermann in eine Ecke und „Spezialität“ bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse des Menschen, den Begriff „Grösse“ gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen : er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie we it Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche : also muss, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff „Grösse“ hineingehören ; mit so gutem Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des

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Sokrates, unter lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen Altathenern, welche sich gehen liessen – „zum Glück“, wie sie sagten, zum Vergnügen, wie sie thaten – und die dabei immer noch die alten prunk|vollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst kein Recht mehr gab, war vielleicht I r o n ie zur Grösse der Seele nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und Pöbelmanns, welcher schonungslos in’s eigne Fleisch schnitt, wie in’s Fleisch und Herz des „Vornehmen“, mit einem Blick, welcher verständlich genug sprach : „verstellt euch vor mir nicht ! Hier – sind wir gleich !“ Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die „Gleichheit der Rechte“ allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte : ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren Pfl icht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit – heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-seinkönnen, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff „Grösse“ ; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt : „der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens ; dies eben soll Gr ö s s e heissen : ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.“ Und nochmals gefragt : ist heute – Grösse mög l ic h ? 213. Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist : man muss es „wissen“, aus Erfahrung, – oder man soll den Stolz haben, es n ic ht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Er|fahrung haben k a n n , gilt am meisten und

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schlimmsten vom Philosophen und den philosophischen Zuständen : – die Wenigsten kennen sie, dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls Jemand davon vor ihnen reden wollte, unglaubwürdig. Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor ; und das Denken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug als „des S c hwe i s s e s der Edlen werth“ – aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes ! „Denken“ und eine Sache „ernst nehmen“, „schwer nehmen“ – das gehört bei ihnen zu einander : so allein haben sie es „erlebt“ –. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben : sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr „willkürlich“ und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und „Freiheit des Willens“ dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist ; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und | Empiriker sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe und gleichsam an diesen „Hof der Höfe“ drängen ! Aber auf solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten : dafür ist im Urgesetz der Dinge schon gesorgt ; die Thüren bleiben diesen Zudringlichen ge-

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schlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen und zerstossen ! Für jede hohe Welt muss man geboren sein ; deutlicher gesagt, man muss für sie g e z üc ht et sein : ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen – hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das „Geblüt“ entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben ; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pfl ichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt … |

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Siebentes Hauptstück : unsere Tugenden. |

214. Unsere Tugenden ? – Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von Übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – wir werden vermuthlich, we n n wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten : wohlan, suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen ! – woselbst sich, wie man weiss, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden s uc he n ? Heisst dies nicht beinahe schon : an seine eigne Tugend g l au b e n ? Dies aber „an seine Tugend glauben“ – ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein „gutes Gewissen“ nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten ? Es scheint demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem | Gewissen : auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach ! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon – anders kommt ! …

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Siebentes Hauptstück

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215. Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünem Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend : so sind wir modernen Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres „Sternenhimmels“ – durch ve r s c h ie d e ne Moralen bestimmt ; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, – und es giebt genug Fälle, wo wir bu nt e Handlungen thun. 216. Seine Feinde lieben ? Ich glaube, das ist gut gelernt worden : es geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen ; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere – wir lernen ve r ac ht e n , wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben : – aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche Wort und die TugendFormel verbietet. Moral als Attitüde – geht uns heute wider den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt : wie es der Fortschritt unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem | alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will. 217. Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue ! Sie vergeben es

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uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar a n uns) vergriffen haben, – sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre „Freunde“ bleiben. – Selig sind die Vergesslichen : denn sie werden auch mit ihren Dummheiten „fertig“. 218. Die Psychologen Frankreichs – und wo giebt es heute sonst noch Psychologen ? – haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn … genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr : es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung – denn es wird langweilig – , ein anderes Ding zum Entzücken : das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken – sogar auch als der Verstand seiner Opfer – : zum abermaligen Beweise dafür, dass der „Instinkt“ unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die | intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der „Regel“ im Kampfe mit der „Ausnahme“ : da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit ! Oder, noch deutlicher : treibt Vivisektion am „guten Menschen“, am „homo bonae voluntatis“ … an euc h ! 219. Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die LieblingsRache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist

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zu bekommen und fein zu we r d e n : – Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten des Geistes Überhäuften ihnen gleich stehn : – sie kämpfen für die „Gleichheit Aller vor Gott“ und b r auc he n beinahe dazu schon den Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer ihnen sagte „eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen“, würde sie rasend machen : – ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht ; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, welche den „nur moralischen“ Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlechtern erworben sind ; dass die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiss, | die O r d nu n g d e s R a n g e s in der Welt aufrecht zu erhalten, unter den Dingen selbst – und nicht nur unter Menschen. 220. Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des „Uninteressirten“ muss man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, wor a n eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert : die Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich „uninteressant“ scheint : – bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie „désintéressé“ und wundert sich, wie es

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möglich ist, „uninteressirt“ zu handeln. Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks -Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (– vielleicht weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten ?) – statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die „uninteressirte“ Handlung eine s e h r interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt … „Und die Liebe ?“ – Wie ! Sogar eine Handlung aus Liebe soll „unegoistisch“ sein ? Aber ihr Tölpel – ! „Und das Lob des Aufopfernden ?“ – Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, – vielleicht etwas von sich für etwas von sich – dass er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als „mehr“ zu fühlen. Aber dies ist | ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält : so sehr hat hier bereits die Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss. Zuletzt ist sie ein Weib : man soll ihr nicht Gewalt anthun. 221. Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne : nicht aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer e r ist und wer Je ne r ist. An Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein : so scheint es mir. Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack : sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung me h r unter der Maske der Menschenfreundlichkeit – und gerade eine Verfüh-

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rung und Schädigung der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der R a n g or d nu n g zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in’s Gewissen schieben, – bis sie endlich mit einander darüber in’s Klare kommen, dass es u n mor a l i s c h ist zu sagen : „was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig“. – Also mein moralistischer Pedant und bonhomme : verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte ? Aber man soll nicht zu viel | Recht haben, wenn man die Lacher auf s e i ne r Seite haben will ; ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack. 222. Wo heute Mitleiden gepredigt wird – und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion mehr gepredigt – möge der Psycholog seine Ohren aufmachen : durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, ächten Laut von S e l b s t-Ve r a c ht u n g hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa’s, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galiani’s an Madame d’Epinay urkundlich verzeichnet sind) : we n n s ie n ic ht d e r e n Ur s ac he i s t ! Der Mensch der „modernen Ideen“, dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden : dies steht fest. Er leidet : und seine Eitelkeit will, dass er nur „mit leidet“ … 223. Der europäische Mischmensch – ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem – braucht schlechterdings ein Kostüm : er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib passt, – er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und

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Wechsel der Stil-Maskeraden an ; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns „nichts steht“ –. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder „national“ vorzuführen, in moribus et artibus : es „kleidet nicht“ ! Aber der | „Geist“, insbesondere der „historische Geist“, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil : immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem s t u d i r t : – wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der „Kostüme“, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer E r f i n d u n g noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, – vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser L ac he n noch Zukunft hat ! 224. Der h i s tor i s c he Si n n (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der „divinatorische Instinkt“ für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte) : dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen H a l b b a r b ar e i gekommen, in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, – erst das neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von jeder Form und Lebens-

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weise, | von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns „moderne Seelen“ aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos – : schliesslich ersieht sich „der Geist“, wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist ; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet „historischer Sinn“ beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles : womit er sich sofort als ein u nvor n e h m e r Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder : vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, – welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehen : alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum | sind oder ihre Beute werden k ö n nt e n , – und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über

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welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde : aber wir – nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade uns aufgesparte Raffi nement der Kunst und lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare’s Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaja Neapels : wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des „historischen Sinns“ : wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten, – wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend : – wir sind mit Alledem vielleicht nicht sehr „geschmackvoll“. Gestehen wir es uns schliesslich zu : was uns Menschen des „historischen Sinns“ am schwersten zu fassen, zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast feindlich fi ndet, das ist gerade das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich | vollendet haben. Vielleicht steht unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen Gegensatz zum g ut e n Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden : jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb – , wo ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung

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und Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das M a a s s ist uns fremd, gestehen wir es uns ; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in u n s r e r Seligkeit, wo wir auch am meisten – i n G e f a h r s i nd . 225. Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus : alle diese Denkweisen, welche nach L u s t und L e i d , das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a lt e n d e r Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euc h ! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint : das ist nicht Mitleiden mit der socialen „Noth“, mit der „Gesellschaft“ und ihren Kranken und Verunglückten, | mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen ; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie nennen’s „Freiheit“ – trachten. Un s e r Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden : – wir sehen, wie d e r Me n s c h sich verkleinert, wie i h r ihn verkleinert ! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eur e m Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren – , wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit fi nden. Ihr wollt womöglich – und es giebt kein tolleres „womöglich“ – d a s L e id e n a b s c h a f f e n ; und wir ? – es scheint gerade, w i r wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war ! Wohlbefi nden, wie ihr es versteht – das ist

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ja kein Ziel, das scheint uns ein E nd e ! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, – der seinen Untergang w ü n s c he n macht ! Die Zucht des Leidens, des g r o s s e n Leidens – wisst ihr nicht, dass nur d ie s e Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat ? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfi ndsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist : – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden ? Im Menschen ist G e s c hö pf und S c hö pf e r vereint : im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos ; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Gött|lichkeit und siebenter Tag : – versteht ihr diesen Gegensatz ? Und dass eue r Mitleid dem „Geschöpf im Menschen“ gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, – dem, was nothwendig le id e n muss und leiden s ol l ? Und u n s e r Mitleid  – begreift ihr’s nicht, wem unser u m g e k e h r t e s Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen ? – Mitleid also g e g e n Mitleid ! – Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme ; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. – 226. W i r I m mor a l i s t e n ! – Diese Welt, die u n s angeht, in der w i r zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des „Beinahe“ in jedem Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich : ja, sie ist gut vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde ! Wir sind in ein stren-

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ges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und k ön ne n da nicht heraus – , darin eben sind wir „Menschen der Pfl icht“, auch wir ! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern „Ketten“ und zwischen unsern „Schwertern“ ; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen : die Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns „das sind Menschen oh ne Pfl icht“ – wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns ! | 227. Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in u n s r e r Tugend, die allein uns übrig blieb, zu „vervollkommnen“ : mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben ! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart fi ndet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster : bleiben wir h a r t , wir letzten Stoiker ! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser „nitimur in vetitum“, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, – kommen wir unserm „Gotte“ mit allen unsern „Teufeln“ zu Hülfe ! Es ist wahrscheinlich, dass man uns darob verkennt und verwechselt : was liegt daran ! Man wird sagen : „ihre „Redlichkeit“ – das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr !“ was liegt daran ! Und selbst wenn man Recht hätte ! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel ? Und

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was wissen wir zuletzt von uns ? Und wie der Geist he i s s e n will, der uns führt ? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen ? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, – sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde ! | Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend ; „dumm bis zur Heiligkeit“ sagt man in Russland, – sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden ! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm – zu langweilen ? Man müsste schon an’s ewige Leben glauben, um … 228. Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte – und dass „die Tugend“ durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, als durch diese L a n g we i l i g k e it ihrer Fürsprecher ; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, – es liegt folglich s e h r viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde ! Aber man sei unbesorgt ! Es steht auch heute noch so, wie es immer stand : ich sehe Niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte (oder g ä b e), dass das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, – dass Ve r h ä n g n i s s darin liegen könnte ! Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham’s, daher wandeln, dahin wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius !). Kein neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten Gedankens, | nicht einmal

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eine wirkliche Historie des früher Gedachten : eine u n mögl ic he Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muss, falls man sie lesen mu s s –), jenes alte englische Laster eingeschlichen, das c a nt heisst und mo r a l i s c h e Ta r t ü f f e r ie ist, dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt ; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist nicht das Gegenstück eines Puritaners ? Nämlich als ein Denker, der die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt ? Sollte Moralisiren nicht – unmoralisch sein ?) Zuletzt wollen sie Alle, dass die e n g l i s c he Moralität Recht bekomme : insofern gerade damit der Menschheit, oder dem „allgemeinen Nutzen“ oder „dem Glück der Meisten“, nein ! dem Glücke E n g l a nd s am besten gedient wird ; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach e n g l is c he m Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren (die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen –) will etwas davon wissen und riechen, dass die „allgemeine Wohlfahrt“ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, – dass, | was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein k a n n , dass die Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine R a n g or d nu n g zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene

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und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt : insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte sie noch er mut h i g e n : wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen versucht worden ist. Heil euch, brave Karrenschieber, Stets „je länger, desto lieber“, Steifer stets an Kopf und Knie, Unbegeistert, ungespässig, Unverwüstlich-mittelmässig, Sans genie et sans esprit ! 229. Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel Furcht, so viel A b e r g l au b e der Furcht vor dem „wilden grausamen Thiere“ zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen lasse : mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel „Milch der frommen Denkungsart“ zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten Ecke liegt. – Man soll über die Grau|samkeit umlernen und die Augen aufmachen ; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir „höhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Gr au s a m k e it – dies ist mein Satz ; jenes „wilde Thier“ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche

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Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit ; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich „ergehen lässt“, – was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen Circe „Grausamkeit“. Dabei muss man freilich die tölpelhafte Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke f r e md e n Leides entstünde : es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, – und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im r e l i g iö s e n Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern | und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifi zio dell’intelletto sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der g e g e n s ic h s e l b s t gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, w id e r den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen – nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte – als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet ; schon jedes Tiefund Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehethun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig

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zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, – schon in jedem Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit. 230. Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem „Grundwillen des Geistes“ gesagt habe : man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke „der Geist“ genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen : es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das | gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen : ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück „Aussenwelt“ willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer „Erfahrungen“, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, – auf Wachsthum also ; bestimmter noch, auf das G e f ü h l des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-herankommenlassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit : wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner „Verdauungskraft“, im Bilde geredet – und wirklich gleicht „der Geist“ am meisten noch einem

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Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so und so n ic ht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen, jener be|ständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft : der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt ! – D ie s e m Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche – denn jede Oberfläche ist ein Mantel – wirkt jener sublime Hang des Erkennenden e ntg e g e n , der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen w i l l : als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen „es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes“ : – mögen die Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen ! In der That, es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine „ausschweifende Redlichkeit“ nachsagte, nachraunte, nachrühmte, – uns freien, s e h r freien Geistern : – und s o klingt vielleicht wirklich einmal unser – Nachruhm ? Einstweilen – denn es hat Zeit bis dahin – möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und

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-Franzen aufzuputzen : unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche Worte : Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst | in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur ; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden ; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der a nd e r e n Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben : „du bist mehr ! du bist höher ! du bist anderer Herkunft !“ – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Au fg a b e – wer wollte das leugnen ! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe ? Oder anders gefragt : „warum überhaupt Erkenntniss ?“ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und fi nden keine bessere Antwort … 231. Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss „erhält“ – : wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde von uns, ganz „da unten“, giebt es

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freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimm|ter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares „das bin ich“ ; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm „feststeht.“ Man fi ndet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade u n s starken Glauben machen ; vielleicht nennt man sie fürderhin seine „Überzeugungen“. Später – sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir s i n d , – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Un b e le h r b a r e n ganz „da unten“. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das „Weib an sich“ einige Wahrheiten herauszusagen : gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie sehr es eben nur – me i ne Wahrheiten sind. – 232. Das Weib will selbständig werden : und dazu fängt es an, die Männer über das „Weib an sich“ aufzuklären – d a s gehört zu den schlimmsten Fortschritten der allgemeinen Ve r h ä s s l ic hu n g Europa’s. Denn was müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und Selbst-Entblössung Alles an’s Licht bringen ! Das Weib hat so viel Grund zur Scham ; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses und -Unbescheidenes versteckt – man studire nur seinen Verkehr mit Kindern ! – , das im Grunde bisher durch die F u r c ht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn | erst das „Ewig-Langweilige am Weibe“ – es ist reich daran ! – sich hervorwagen darf ! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens, Sor-

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gen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu verlernen beginnt ! Es werden schon jetzt weibliche Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes ! Schrecken machen, es wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt das Weib vom Manne w i l l . Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden ? Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe – man blieb damit „unter sich“ ; und man darf sich zuletzt, bei Allem, was Weiber über „das Weib“ schreiben, ein gutes Misstrauen vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Auf klärung w i l l – und wollen k a n n … Wenn ein Weib damit nicht einen neuen P ut z für sich sucht – ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen ? – nun, so will es vor sich Furcht erregen : – es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es w i l l nicht Wahrheit : was liegt dem Weibe an Wahrheit ! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine grosse Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer : wir ehren und lieben gerade d ie s e Kunst und diesen Instinkt am Weibe : wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage : | hat jemals ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen Gerechtigkeit zugestanden ? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen gerechnet, „das Weib“ bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet wurde – und ganz und gar nicht von uns ? – Wir Männer wünschen, dass das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren : wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche dekretirte : mulier taceat

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in ecclesia ! Es geschah zum Nutzen des Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen gab : mulier taceat in politicis ! – und ich denke, dass es ein rechter Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft : mulier taceat de muliere ! 233. Es verräth Corruption der Instinkte – noch abgesehn davon, dass es schlechten Geschmack verräth – , wenn ein Weib sich gerade auf Madame Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als ob damit etwas zu G u n s t e n des „Weibes an sich“ bewiesen wäre. Unter Männern sind die Genannten die drei k om i s c he n Weiber an sich – nichts mehr ! – und gerade die besten unfreiwilligen G e g e n A r g u me nt e gegen Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit. 234. Die Dummheit in der Küche ; das Weib als Köchin ; die schauerliche Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt wird ! Das Weib versteht nicht, was die Speise b e d eut et : und will Köchin sein ! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit Jahr|tausenden, die grössten physiologischen Thatsachen fi nden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen ! Durch schlechte Köchinnen – durch den vollkommenen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden : es steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter. 235. Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ih-

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ren Sohn : „mon ami, ne vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir“ : – beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn gerichtet worden ist. 236. Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben – jener, indem er sang „ella guardava suso, ed io in lei“, dieser, indem er es übersetzte „das Ewig-Weibliche zieht uns h i n a n“ – : ich zweifle nicht, dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es glaubt eben d a s vom EwigMännlichen … 237. Sieb e n We i b s - Spr üc h le i n . Wie die längste Weile fleucht, kommt ein Mann zu uns gekreucht ! * *|

Alter, ach ! und Wissenschaft giebt auch schwacher Tugend Kraft. * *

Schwarz Gewand und Schweigsamkeit kleidet jeglich Weib – gescheidt. * *

Wem im Glück ich dankbar bin ? Gott ! – und meiner Schneiderin. * *

Jung : beblümtes Höhlenhaus. Alt : ein Drache fährt heraus. * *

Edler Name, hübsches Bein, Mann dazu : oh wär’ e r mein ! * *

Kurze Rede, langer Sinn – Glatteis für die Eselin !

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237 a. Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben : als etwas Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres, Seelenvolleres, – aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es nicht davonfl iegt. 238. Sich im Grundprobleme „Mann und Weib“ zu vergreifen, hier den abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpfl ichtungen | zu träumen : das ist ein t y p i s c he s Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat – flach im Instinkte ! – darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als verrathen, als aufgedeckt gelten : wahrscheinlich wird er für alle Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu „kurz“ sein und in k e i ne Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur or ie nt a l i s c h denken : er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen, – er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen : wie dies ehemals die Griechen gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit z u ne h me nd e r Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch s t r e n g e r gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. W ie nothwendig, w ie logisch, w ie selbst menschlich-wünschbar dies war : möge man darüber bei sich nachdenken !

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239. Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter – das gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die Unehrerbietigkeit vor dem Alter – : was Wunder, dass sofort wieder mit dieser Achtung Missbrauch getrieben wird ? Man will mehr, man lernt fordern, man fi ndet | zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend, man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf vorziehn : genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu, dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu f ü r c ht e n : aber das Weib, das „das Fürchten verlernt“, giebt seine weiblichsten Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der M a n n im Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug, auch begreiflich genug ; was sich schwerer begreift, ist, dass ebendamit – das Weib entartet. Dies geschieht heute : täuschen wir uns nicht darüber ! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis : „das Weib als Commis“ steht an der Pforte der sich bildenden modernen Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, „Herr“ zu werden trachtet und den „Fortschritt“ des Weibes auf seine Fahnen und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit das Umgekehrte : d a s We i b g e ht z u r üc k . Seit der französischen Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse g e r i n g e r geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat ; und die „Emancipation des Weibes“, insofern sie von den Frauen selbst (und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von der zunehmenden Schwächung und Abstump-

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fung der allerweiblichsten Instinkte. Es ist D u m m he it in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib | – das immer ein kluges Weib ist – von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt ; die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen ; sich vor dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar „bis zum Buche“, wo man sich früher in Zucht und feine listige Demuth nahm ; dem Glauben des Mannes an ein im Weibe ve r hü l lt e s grundverschiedenes Ideal, an irgend ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit entgegenarbeiten ; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden, dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont werden müsse ; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat (als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei) : – was bedeutet dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte, eine Entweiblichung ? Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der „Mann“ in Europa, die europäische „Mannhaftigkeit“ krankt, – welche das Weib bis zur „allgemeinen Bildung“, wohl gar zum Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen : als ob ein Weib ohne Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen | Widriges oder Lächerliches wäre – ; man verdirbt fast überall ihre Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Ar-

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ten Musik (unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären, unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr „cultiviren“ und, wie man sagt, das „schwache Geschlecht“ durch Cultur s t a r k machen : als ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass „Cultivirung“ des Menschen und Schwächung – nämlich Schwächung, Zersplitterung, Ankränkelung der W i l le n s k r a f t , immer mit einander Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon’s) gerade ihrer Willenskraft – und nicht den Schulmeistern ! – ihre Macht und ihr Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Nat u r, die „natürlicher“ ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden … Was, bei aller Furcht, für diese gefährliche und schöne Katze „Weib“ Mitleiden macht, ist, dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden : mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt –. Wie ? Und damit soll es nun zu Ende sein ? Und die E nt z au b e r u n g des Weibes ist im Werke ? Die Verlangweiligung des Weibes kommt langsam herauf ? Oh Europa ! Europa ! Man kennt das | Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir immer wieder Gefahr droht ! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur „Geschichte“ werden, – noch einmal könnte eine ungeheure Dummheit über dich Herr werden und dich davon tragen ! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein ! nur eine „Idee“, eine „moderne Idee“ ! … |

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Achtes Hauptstück : Völker und Vaterländer. |

240. Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male – Richard Wagner’s Ouverture zu den Me i s t e r s i n g e r n : das ist eine prachtvolle, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen : – es ehrt die Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete ! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier nicht gemischt ! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, – das hat Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck – , aber schon breitet und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem Glück, s e h r eingerechnet das Glück des Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik ; eine gewisse Plump|heit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte : „sie gehört zu meiner Absicht“ ; eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein

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Gefl irr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen ; etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches ; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffi nements des Verfalls zu verstecken, – die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt ; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte : sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, – s ie h a b e n no c h k e i n Heut e. 241. Wir „guten Europäer“ : auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten – ich gab eben eine Probe davon – , Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher GefühlsÜberschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre „Stoffe wechseln“. Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von | Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum „guten Europäerthum“ zurückzukehren. Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mir’s, dass ich Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten „Patrioten“ werde, – sie hörten beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. „ D e r hält und weiss von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent – sagte der Eine – : der

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ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran ! Es ist das Zeitalter der Massen : die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen „gross“ : – was liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage, fürderhin „grosse Politik“ treiben zu müssen, für welche es von Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist : so dass es nöthig hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern, – gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte sein Volk zum „Politisiren“ überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde : – gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit | eine Verschuldung, entwerthe ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack „national“, – wie ! ein Staatsmann, der dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre g r o s s ?“ „Unzweifelhaft ! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig : sonst hätte er es nicht g e k o n nt ! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen ? Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll !“ – „Missbrauch der Worte ! schrie sein Unterredner dagegen : – stark ! stark ! stark und toll ! N ic ht gross !“ – Die alten Männer hatten sich ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt ihre „Wahrheiten“ in’s Gesicht schrieen ; ich

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aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird ; auch dass es für die geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich durch die Vertiefung eines anderen. – 242. Nenne man es nun „Civilisation“ oder „Vermenschlichung“ oder „Fortschritt“, worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird ; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die d e mok r at i s c he Bewegung Europa’s : hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer phy s iolog i s c he r Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, – der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem b e s t i m mt e n | milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des we r d e nd e n Eu r o p äe r s , welcher durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst – der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des „National-Gefühls“ gehört hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus – : dieser Prozess läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der „modernen Ideen“, am wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches arbeitsames,

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vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch – , sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit beginnt, die M äc ht i g k e it des Typus gar nicht möglich macht ; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden b edü r f e n wie des täglichen Brodes ; während also die Demokratisirung Europa’s auf die Erzeugung eines zur S k l ave r e i im feinsten Sinne | vorbereiteten Typus hinausläuft : wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der s t a r k e Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist, – Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen : die Demokratisirung Europa’s ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Ty r a n ne n , – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten. 243. Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen das Sternbild des He r k u le s hin begriffen ist : und ich hoffe, dass der Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, wir guten Europäer ! – 244. Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung „tief“ zu nennen : jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die „Schneidigkeit“ vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und patrio-

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tisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat : genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist – und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen : man hat Nichts dazu nöthig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. – Die deutsche Seele ist vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut : das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich | erdreisten wollte, zu behaupten „zwei Seelen wohnen, ach ! in meiner Brust“ würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes, als „Volk der Mitte“ in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind : – sie entschlüpfen der D e f i n it io n und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „was ist deutsch ?“ niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug : „wir sind erkannt“ jubelten sie ihm zu, – aber auch S a nd glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte’s verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte, – aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat ? – Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen : – wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht „die Freiheitskriege“ waren, die ihn freudiger auf blicken liessen, so wenig als die französische

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Revolution, – das Ereigniss, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem „Mensch“ u m g e d ac ht hat, war das Erscheinen Napoleon’s. Es giebt Worte Goethe’s, in denen er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über | Das abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen : das berühmte deutsche Gemüth defi nirt er einmal als „Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen“. Hat er damit Unrecht ? – es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse ; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnissvollen ; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist : das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als „tief“. Der Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d , er „entwickelt sich“. „Entwicklung“ ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln : – ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). „Gutmüthig und tückisch“ – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland : man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben ! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die „deutsche Seele“ ad oculos demonstrirt, | so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in

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deutsche Künste und Sitten hinein : welche bäurische Gleichgültigkeit gegen „Geschmack“ ! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben einander ! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt ! Der Deutsche s c h le p p t an seiner Seele ; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit „fertig“ ; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde „Verdauung“. Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die „Offenheit“ und „Biederkeit“ : wie b e q ue m ist es, offen und bieder zu sein ! – Es ist heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen R e d l ic h k e it : sie ist seine eigentliche MephistophelesKunst, mit ihr kann er es „noch weit bringen“ ! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen – und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke ! – Ich wollte sagen : mag die „deutsche Tiefe“ sein, was sie will, – ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen ? – wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische „Schneidigkeit“ und Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu l a s s e n : es könnte sogar – tief sein ! Zuletzt : man soll seinem Namen Ehre machen, – man heisst nicht umsonst das „tiusche“ Volk, das Täusche-Volk … | 245. Die „gute alte“ Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen : – wie glücklich w i r, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine „gute Gesellschaft“, sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine

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Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden noch an irgend einen R e s t in uns appelliren darf ! Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein ! – aber wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken Beethoven’s vorbei sein wird ! – der ja nur der Ausklang eines Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und n ic ht , wie Mozart, der Ausklang eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das ZwischenBegebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig k om mt ; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, – das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade d ie s Gefühl, wie schwer ist heute schon das W i s s e n um dies Gefühl, – wie fremd klingt die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in denen z u s a m me n das selbe Schicksal Europa’s den Weg zum Wort gefunden hat, das in Beethoven zu singen wusste ! – Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, | noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa’s von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war. Weber : aber was ist u n s heute Freischütz und Oberon ! Oder Marschner’s Hans Heiling und Vampyr ! Oder selbst noch Wagner’s Tannhäuser ! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im Theater und vor der Menge ; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht

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kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde : als der schöne Zw i s c he n f a l l der deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist – es ist der Letzte, der eine Schule gegründet hat – : gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann’sche Romantik überwunden ist ? Schumann, in die „sächsische Schweiz“ seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch ! gewiss nicht Byronisch ! – seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte – , Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein k le i ner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem | Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn : dieser Schumann war bereits nur noch ein d eut s c he s Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, d ie St i m me f ü r d ie See le Eu r opa’s zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken. – 246. – Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das d r it t e Ohr hat ! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein „Buch“ genannt wird ! Und gar der Deutsche, der Bücher l ie s t ! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er ! Wie viele Deutsche

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wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass K u n s t in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will ! Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel : und der Satz selbst ist missverstanden ! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können : wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pfl ichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen ? Man hat zuletzt eben „das | Ohr nicht dafür“ : und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben ve r s c hwe nd et . – Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle – er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang – und einen Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beissen, zischen, schneiden will. – 247. Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern bloss mit den Augen : er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme ; man wunderte sich, wenn Je-

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mand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme : das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo’s, an denen die antike öf f e nt l ic h e Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils ; und dessen Gesetze hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffi nirten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im | Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs : das sind Genüsse für a nt i k e Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wussten : – w i r haben eigentlich kein Recht auf die g r o s s e Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne ! Diese Alten waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker, – damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten ; in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik –) auf die Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und u n g e f ä h r kunstmässiger Rede : das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen : denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer

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zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres grössten Predigers : die Bi b e l war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur „Litteratur“ – ein Ding, das nicht in Deutschland ge|wachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst : wie es die Bibel gethan hat. 248. Es giebt zwei Arten des Genie’s : eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist – die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen – ; und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden, – gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit gefragt, den Deutschen ? – Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich „befruchten lassen“ –) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich voller Zeugekräfte und folglich „von Gottes Gnaden“ weiss. Diese zwei Arten des Genie’s suchen sich, wie Mann und Weib ; aber sie missverstehen auch einander, – wie Mann und Weib. 249. Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden. – Das Beste, was man ist, kennt man nicht, – kann man nicht kennen. 250. Was Europa den Juden verdankt ? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist : den grossen Stil | in der Moral, die Furcht-

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barkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar. 251. Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden w i l l – , mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung : zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe an –), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn : erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden : man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre ; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigent|lichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck die-

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ses unmässigen Gefühls, – darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich g e nu g Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum „Jude“ fertig zu werden – so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung – : das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. „Keine neuen Juden mehr hinein lassen ! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren !“ also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt ; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, – Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den „modernen Ideen“ nicht zu schämen braucht ; sie verändern sich, we n n sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist – : nämlich nach dem Grundsatze „so langsam als möglich !“ Ein Denker, der die Zukunft | Europa’s auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was heute in Europa „Nation“ genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht –) ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es

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die Juden-Art ist : diese „Nationen“ sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen ! Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen – jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben k ö n nt e n , steht fest ; dass sie n ic ht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem „ewigen Juden“ ein Ziel zu setzen – ; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen : wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl ; ungefähr so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der | adelige Offi zier aus der Mark : es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede abzubrechen : denn ich rühre bereits an meinen E r n s t , an das „europäische Problem“, wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste. –

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252. Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer : Bacon bedeutet einen A n g r i f f auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs „Philosoph“ für mehr als ein Jahrhundert. G e g e n Hume erhob und hob sich Kant ; Locke war es, von dem Schelling sagen d u r f t e : „je méprise Locke“ ; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. – Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wusste : nämlich woran es in Carlyle f e h lt e – an eigentlicher M ac ht der Geistigkeit, an eigentlicher Tie f e des | geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. – Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält : sie b r auc ht seine Zucht zur „Moralisirung“ und Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche – ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch frömmer als der Deutsche : er hat das Christenthum eben noch nöt h i g e r. Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird, – das feinere Gift nämlich gegen das gröbere : eine feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und BauernErnsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten

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verkleidet, richtiger : ausgelegt und umgedeutet ; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als „Heilsarmee“ moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig höchste Leistung von „Humanität“ sein, zu der es gesteigert werden kann : so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichniss (und ohne Gleichniss –) zu reden : er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach „Musik“. Man höre ihn sprechen ; man sehe die schönsten Engländerinnen g e h n – es giebt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, – | endlich : man höre sie singen ! Aber ich verlange zu viel … 253. Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen : – auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer – ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer – in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig s olc he Geister herrschen ? Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fl iegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen : – sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den „Regeln“. Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu s e i n , etwas Neues zu b e d eut e n , neue

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Werthe d a r z u s t e l le n ! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht grösser, auch unheimlicher als man denkt : der Könnende im grossen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, – während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwin’s eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, etwas Englisches nicht übel disponiren mag. – Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen | Geistes verursacht haben : Das, was man „die modernen Ideen“ oder „die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts“ oder auch „die französischen Ideen“ nennt – Das also, wogegen sich der d eut s c he Geist mit tiefem Ekel erhoben hat  – , war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten O pf e r : denn an der verdammlichen Anglomanie der „modernen Ideen“ ist zuletzt die âme française so dünn geworden und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfi nderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen : die europäische noblesse – des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in jedem hohen Sinne genommen – ist F r a n k r e i c h ’s Werk und Erfi ndung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen – E n g l a nd s. – 254. Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffi nirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks : aber man muss dies „Frankreich des Geschmacks“ zu fi nden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen : –

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es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den E h r g e i z haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen | gemein : sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. ln der That wälzt sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, – es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo’s, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam : ein guter Wille, sich der geistigen Germanisirung zu erwehren – und ein noch besseres Unvermögen dazu ! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war ; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine’s – das heisst des e r s t e n lebenden Historikers – einen beinahe tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betriff t : je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie „wagnerisiren“, das darf man vorhersagen, – sie thut es jetzt schon genug ! Es ist dennoch dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks : einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die „Form“, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist : – dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten nicht gefehlt und immer wieder,

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Dank | der Ehrfurcht vor der „kleinen Zahl“, eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im übrigen Europa sich suchen lässt –. Das Zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache mor a l i s t i s c he Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde fi ndet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff (geschweige denn die Sache !) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar Jahrhunderte moralistischer Arbeit, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht erspart hat ; wer die Deutschen darum „naiv“ nennt, macht ihnen aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, – und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde und Erfi ndungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, der mit einem Napoleonischen Tempo durch s e i n Europa, durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und Entdecker dieser Seele : – es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie e i n z uhole n , um einige der Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war –). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit : im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und | andre Dinge thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird ; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau

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und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, – unsrer d eut s c he n Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen : die „grosse Politik“ verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt –). Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu fi nden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, – für die geborenen Mittelländler, die „guten Europäer“. – Für sie hat Bi z et Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, – der ein Stück S ü d e n d e r Mu s i k entdeckt hat. 255. Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet : nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, | nicht der Abkunft, sondern dem G l au b e n nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht be-

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hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht ... Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen : eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen mor a l i s c he n Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. – 256. Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa’s gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur ZwischenaktsPolitik sein kann, – Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen | übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Eu r o p a E i n s we r d e n w i l l . Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen S y nt he s i s vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen : nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den „Vaterländern“, – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie „Patrioten“ wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer : man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht

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durch seine eignen Missverständnisse verführen lassen darf, – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt : – die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger bestehen, dass die f r a n z ös i sc he Spät-Roma nt i k der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt : Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt – wohin ? in ein neues Licht ? nach einer neuen Sonne ? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten ? Gewiss ist, dass der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise s uc ht e n , diese letzten grossen Suchenden ! Allesammt beherrscht von | der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren – die ersten Künstler von weltlitterarischer Bildung – meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler) ; allesammt Fanatiker des Au s d r uc k s „um jeden Preis“ – ich hebe Delacroix hervor, den Nächstverwandten Wagner’s – , allesammt grosse Entdekker im Reiche des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus – , Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden ; als Menschen Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen

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tempo, eines lento unfähig wussten, – man denke zum Beispiel an Balzac – zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit ; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss ; allesammt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug und Recht : denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des A n t i c h r i s t gewesen ? –) im Ganzen eine verwegenwagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfl iegende und hoch empor reissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert – und es ist das Jahrhundert der Me n g e ! – den Begriff „höherer Mensch“ erst zu lehren hatte … Mögen | die deutschen Freunde Richard Wagner’s darüber mit sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus ü b e r d e ut s c h e n Quellen und Antrieben zu kommen : wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard Wagner’s fi nden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts treiben könnte, – Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei noch näher stehen als die Franzosen – ; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar : die Gestalt des Siegfried, jenes s e h r f r e ie n Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu a nt i k at hol i s c h für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag.

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Er mag sogar eine Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried : nun, Wagner hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben Tagen, als er – einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik geworden ist – mit der ihm eignen religiösen Vehemenz d e n We g n ac h Rom , wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. – Damit man mich, mit diesen letzten Worten, | nicht missverstehe, will ich einige kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es verrathen werden, was ich will, – was ich g e g e n den „letzten Wagner“ und seine Parsifal-Musik will. – Ist Das noch deutsch ? – Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen ? Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen ? Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen, Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen ? Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln, Dies ungewisse Bimbambaumeln ? Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln, Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln ? – Ist Das noch deutsch ? – Erwägt ! Noch steht ihr an der Pforte : – Denn, was ihr hört, ist Rom , – Rom’s G l au b e oh n e Wor t e ! |

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Neuntes Hauptstück : was ist vornehm ? |

257. Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein : als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das P at ho s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich : man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus „Mensch“ –) keinen humanitären Täuschungen hingeben : die Wahrheit ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden a n g e f a n g e n hat ! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner | Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen

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eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste : ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die g a n z e r e n Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als „die ganzeren Bestien“ –). 258. Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der „Leben“ heisst, erschüttert ist : Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist dies Corruption : – es war eigentlich nur der Abschlussakt jener Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur F u n k t io n des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück) herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich n ic ht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Si n n und höchste Rechtfertigung fühlt, – dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche u m i h r et w i l le n zu unvollständigen Menschen, zu | Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft n ic ht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren S e i n emporzuheben vermag : vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java – man nennt sie Sipo Matador – , wel-

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che mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können. – 259. Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen : dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Gr u nd p r i nc i p d e r G e s e l l s c h a f t , so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist : als Wille zur Ve r ne i nu n g des Lebens, als Auflösungsund Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfi ndsamen Schwächlichkeit erwehren : Leben selbst ist we s e nt l ic h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrükkung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von | Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist ? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln – es geschieht in jeder gesunden Aristokratie – muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten : er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, – nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt , und weil Leben eben Wille zur Macht i s t . In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen

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Belehrung, als hier ; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen „der ausbeuterische Charakter“ abgehn soll : – das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfi nden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die „Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an : sie gehört in’s We s e n des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. – Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, – als Realität ist es das Ur - Fa k t u m aller Geschichte : man sei doch so weit gegen sich ehrlich ! – 260. Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und an|einander geknüpft : bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt H e r r e n - M o r a l und S k l a v e n Mor a l ; – ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde, – oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff „gut“ bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von

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sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt : er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz „gut“ und „schlecht“ so viel bedeutet wie „vornehm“ und „verächtlich“ : – der Gegensatz „gut“ und „b ö s e“ ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende ; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner : – es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. „Wir Wahrhaftigen“ – so nannten sich im alten Griechen|land die Adeligen. Es liegt auf der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf Me n s c he n und erst abgeleitet und spät auf H a nd lu n g e n gelegt worden sind : weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn MoralHistoriker von Fragen den Ausgang nehmen wie „warum ist die mitleidige Handlung gelobt worden ?“ Die vornehme Art Mensch fühlt s ic h als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt „was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist we r t he s c h a f f e nd . Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie : eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte : – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. „Ein hartes Herz legte Wotan mir in die Brust“ heisst es in

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einer alten skandinavischen Saga : so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, n ic ht zum Mitleiden gemacht zu sein : weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt „wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart“. Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden | oder im Handeln für Andere oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht ; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft und Ironie gegen „Selbstlosigkeit“ gehört eben so bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem „warmen Herzen“. – Die Mächtigen sind es, welche zu ehren ve r s t e he n , es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfi ndung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen – das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht – , der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen ; und wenn umgekehrt die Menschen der „modernen Ideen“ beinahe instinktiv an den „Fortschritt“ und „die Zukunft“ glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme Herkunft dieser „Ideen“. Am meisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pfl ichten habe ; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder „wie es das Herz will“ handeln dürfe und jedenfalls „jenseits von Gut und Böse“ – : hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pfl icht zu langer Dankbarkeit und langer Rache – beides nur innerhalb seines Gleichen – , die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffi nement in der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als

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Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, – im Grunde, um gut f r eu nd sein zu können) : | Alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral der „modernen Ideen“ ist und deshalb heute schwer nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. – Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der S k l ave n - Mor a l . Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren : was wird das Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein ? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen : er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Fe i n he it des Misstrauens gegen alles „Gute“, was dort geehrt wird – , er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern : hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülf bereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren – , denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes „gut“ und „b ö s e“ : – in’s Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der „Böse“ Furcht ; nach der Herren-Moral ist es gerade der „Gute“, der Furcht erregt und erregen will, während der „schlechte“ | Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt nun auch an den „Guten“

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dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt – sie mag leicht und wohlwollend sein – , weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der u n g e f ä h rl ic he Mensch sein muss : er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. Überall, wo die SklavenMoral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte „gut“ und „dumm“ einander anzunähern. – Ein letzter Grundunterschied : das Verlangen nach Fr e i he it , der Instinkt für das Glück und die Feinheiten des FreiheitsGefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und Werthungsweise ist. – Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe a l s P a s s io n – es ist unsre europäische Spezialität – schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss : bekanntlich gehört ihre Erfi ndung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfi nderischen Menschen des „gai saber“, denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt. – 261. Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit : er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich | zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben – und also auch nicht „verdienen“ – , und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber g l aub e n . Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen : „ich kann mich über mei-

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nen Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, – aber das ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was „Demuth“, auch „Bescheidenheit“ genannt wird).“ Oder auch : „ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, – aber das ist Alles nicht Eitelkeit.“ Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das w a r, was er g a lt : – gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche He r r e n r e c ht , Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich w a r t et und sich dann der|selben instinktiv unterwirft : aber durchaus nicht bloss einer „guten“ Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und von sich „gut zu denken“, mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet werden : aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren

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und gründlicher einverleibten Hang gegen sich, – und im Phänomene der „Eitelkeit“ wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über je d e gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet : denn er unterwirft sich beiden, er f ü h lt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. – Es ist „der Sklave“ im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven – und wie viel „Sklave“ ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig ! – , welcher zu guten Meinungen über sich zu ve r f ü h r e n sucht ; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte. – Und nochmals gesagt : Eitelkeit ist ein Atavismus. | 262. Eine A r t entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen u n g ü n s t i g e n Bedingungen. Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züc ht u n g an : es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen mü s s e n oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist ; die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge

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seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat : diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte ; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von Alt und Jung, | in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in’s Auge fassen) : – sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die Tugenden, unter dem Namen „Gerechtigkeit“. Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt ; der beständige Kampf mit immer gleichen u n g ü n s t i g e n Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach ; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht : sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, – wollte sie fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Lu x u s , als archaisirender G e s c h m a c k . Die Variation, sei es als Abartung (in’s Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben

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einander und oft in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art t r o p i s c he s Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sichzu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen, welche „um Sonne und Licht“ mit einander ringen und keine Grenze, | keine Zügelung, keine Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in’s Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat : – jetzt ist, jetzt wird sie „überlebt“. Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral h i nwe g lebt ; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu’s, lauter neue Womit’s, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in’s Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in’s eigne Kind, in’s eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille : was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen ? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch ausgenommen, die unheilbar M it t e lm ä s s i g e n . Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich

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fortzusetzen, sich fortzupflanzen, – sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig Überlebenden ; „seid wie sie ! werdet | mittelmässig !“ heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren fi ndet. – Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit ! – sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will ! sie muss von Maass und Würde und Pfl icht und Nächstenliebe reden, – sie wird Noth haben, d ie I r o n i e z u ve r b e r g e n ! – 263. Es giebt einen I n s t i n k t f ü r d e n R a n g , welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohe n Ranges ist ; es giebt eine Lu s t an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird : Etwas, das, unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen : er wird sie auf ihren I n s t i n k t d e r E h r f u r c ht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine : die Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals vorübergetragen wird ; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern | des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des Verehrungswürdigsten f ü h lt . Die Art, mit der im Ganzen

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bisher die Ehrfurcht vor der Bi b e l in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt : solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von D aue r zu gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen. Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie nicht an Alles rühren dürfe ; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten hat, – es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der „modernen Ideen“, vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird ; und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr r e l at i ve Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfi ndet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten. 264. Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben : ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, | bescheiden auch in ihren Tugenden ; oder ob sie an’s Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren Pfl ichten und Verantwortungen ; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben – ihrem „Gotte“ – zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens,

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welches vor jeder Vermittlung erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch n ic ht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe : was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein Schluss auf das Kind erlaubt : irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei – wie diese Drei zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen PöbelTypus ausgemacht haben – dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut ; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen, über eine solche Vererbung zu t äu s c he n . – Und was will heute Erziehung und Bildung Anderes ! In unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter mu s s „Erziehung“ und „Bildung“ wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, – über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher, der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen beständig zuriefe „seid wahr ! seid natürlich ! gebt euch, wie ihr seid !“ – selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere : mit welchem Erfolge ? „Pöbel“ usque recurret. – | 265. Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin : der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie „wir sind“, andre Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte, Zwang, Willkür darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag : – suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen „es ist die Gerechtigkeit selbst“.

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Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt ; sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit sich selbst hat, – gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus me h r, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres Gleichen – jeder Stern ist ein solcher Egoist – : sie ehrt s ic h in ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als We s e n alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem Grunde liegt. Der Begriff „Gnade“ hat inter pares keinen Sinn und Wohlgeruch ; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her gleichsam über sich ergehen zu lassen | und wie Tropfen durstig aufzutrinken : aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier : sie blickt ungern überhaupt nach „Oben“, – sondern entweder vor sich, horizontal und langsam, oder hinab : – s ie we i s s s ic h i n d e r Höhe. – 266. „Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst s uc ht“. – Goethe an Rath Schlosser. 267. Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren : siao-sin „mache dein Herz k le i n !“ Dies ist der eigentliche Grundhang in späten Civilisationen : ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserken-

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nen würde, – damit allein schon giengen wir ihm „wider den Geschmack“. – 268. Was ist zuletzt die Gemeinheit ? – Worte sind Tonzeichen für Begriffe ; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfi ndungen, für Empfi ndungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht : man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander g e me i n haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen ; oder | vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima’s, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so e nt s t e ht daraus Etwas, das „sich versteht“, ein Volk. ln allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner kommende : auf sie hin versteht man sich, schnell und immer schneller – die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses – ; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut, übereinzukommen ; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe : Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem „ewigen Missverständniss“ : das ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und

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Herz rathen – und n ic ht irgend ein Schopenhauerischer „Genius der Gattung“ – !) Welche Gruppen von Empfi ndungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Au f b au seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit | ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte M it t he i l b a r k e it der Noth, das heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und g e me i ne n Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s G e me i ne ! – zu kreuzen. 269. Je mehr ein Psycholog – ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather – sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken ; er hat Härte und Heiterkeit nöt h i g , mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel : es ist schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte

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innere „Heillosigkeit“ des höheren Menschen, dieses ewige „Zu spät !“ in jedem Sinne, erst einmal und dann f a s t immer wieder entdeckt, durch die ganze Geschichte hindurch, – kann vielleicht eines Tages zur Ursache davon werden, dass er mit | Erbitterung sich gegen sein eignes Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, – dass er selbst „verdirbt“. Man wird fast bei jedem Psychologen eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und wohlgeordneten Menschen wahrnehmen : daran verräth sich, dass er immer einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht, weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm sein „Handwerk“ auf ’s Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen : er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er g e s e he n hat, – oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die Paradoxie seiner Lage so weit in’s Schauerliche, dass die Menge, die Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung lernen, – die Verehrung für „grosse Männer“ und Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht  … Und wer weiss, ob sich nicht bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab : dass die Menge einen Gott anbetete, – und dass der „Gott“ nur ein armes Opferthier war ! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, – und das „Werk“ selbst ist ein Erfolg ; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in’s Unerkennbare ; das „Werk“, das des Künstlers, des Philosophen, erfi ndet erst Den, welcher es geschaffen | hat, geschaffen haben soll ; die „grossen Männer“, wie sie verehrt werden,

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sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein ; in der Welt der geschichtlichen Werthe he r r s c ht die Falschmünzerei. Diese grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol, – so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen : Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich ; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll ; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen ver s t e l le n – das Volk nennt sie dann wohl Idealisten – , oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den „Glauben an sich“ aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen : – welche M a r t e r sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat ! Es ist so begreiflich, dass s ie gerade vom Weibe – welches hellseherisch ist in der Welt des Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und rettungssüchtig – so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten M it le id s erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft ; das Weib möchte glauben, dass Liebe A l le s vermag, – es ist sein eigentlicher G l au b e. | Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm, dumm, hülflos, anmaasslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als rettend auch die beste tiefste Liebe ist ! – Es ist möglich, dass unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des W i s s e n s u m d ie L ieb e verborgen liegt : das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das

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an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebtwerden und Nichts ausserdem ve r l a n g t e , mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten ; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfi nden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wol lt e n , – und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfi nden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- k ö n ne n ist, – der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist ! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe we i s s – , s u c h t den Tod. – Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen ? Gesetzt, dass man es nicht muss. – 270. Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat – es bestimmt beinahe die Rangordnung, w ie tief Menschen leiden können – , seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines Leidens me h r z u w i s s e n , als die Klügsten und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal „zu Hause“ gewesen zu sein, von denen „ i h r nichts wisst !“… dieser geistige schweigende Hoch|muth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des „Eingeweihten“, des beinahe Geopferten fi ndet alle Formen von Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm ; es trennt. Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt „heitere Menschen“, welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden : – sie wol le n missverstan-

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den sein. Es giebt „wissenschaftliche Menschen“, welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass der Mensch oberflächlich ist : – sie wol le n zu einem falschen Schlusse verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind ; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen. – Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht „vor der Maske“ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben. 271. Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander : zuletzt bleibt es dabei – sie „können sich nicht riechen !“ Der höchste | Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen : denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der „Trübsal“, in’s Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt – : eben so sehr als ein solcher Hang au s z e ic h net – es ist ein vornehmer Hang – , t r e n nt er auch. – Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem S c h mut z des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird … 272. Zeichen der Vornehmheit : nie daran denken, unsre Pfl ichten zu Pfl ichten für Jedermann herabzusetzen ; die eigene Ver-

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antwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen ; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine P f l ic ht e n rechnen. 273. Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss – oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete G ü t e gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein – denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck ver|birgt – , verdirbt ihm jeden Umgang : diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat. 274. D a s P r o b l e m d e r Wa r t e n d e n . – Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt – „zum Ausbruch“, wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich n ic ht , und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die „Erlaubniss“ zum Handeln giebt, – dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist ; und wie Mancher fand, eben als er „aufsprang“, mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer ! „Es ist zu spät“ – sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz. – Sollte, im Reiche des Genie’s, der „Raffael ohne Hände“, das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein ? – Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten : aber die fünfhundert H ä nd e,

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die es nöthig hat, um den καιρς, „die rechte Zeit“ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen ! 275. Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen w i l l , blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verräth sich selbst damit. | 276. Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran, als die vornehmere : die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. – Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren ging : nicht so beim Menschen. – 277. – Schlimm genug ! Wieder die alte Geschichte ! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen mü s s e n , bevor man zu bauen – anfieng. Das ewige leidige „Zu spät !“ – Die Melancholie alles Fe r t i g e n ! … 278. – Wanderer, wer bist du ? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen ; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an’s Licht gekommen – was suchte es da unten ? – , mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift : wer bist du ? was thatest du ? Ruhe dich hier aus : diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, – erhole dich ! Und wer du auch sein magst : was gefällt dir jetzt ? Was dient dir zur Erholung ?

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Nenne es nur : was ich habe, biete ich dir an ! – „Zur Erholung ? Zur Erholung ? Oh du Neugieriger, was sprichst du da ! Aber gieb mir, ich | bitte – –“ Was ? Was ? sprich es aus ! – „Eine Maske mehr ! Eine zweite Maske !“ … 279. Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind : sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, – ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft ! 280. „Schlimm ! Schlimm ! Wie ? geht er nicht – zurück ?“ – Ja ! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie Jeder, der einen grossen Sprung thun will. – – 281. – „Wird man es mir glauben ? aber ich verlange, dass man mir es glaubt : ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust „zur Sache“, bereit, von „mir“ abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Mög l ic h k e it der SelbstErkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff „unmittelbare Erkenntniss“, welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfi nden : – diese ganze Thatsache ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu g l au b e n . – Steckt darin vielleicht ein Räthsel ? Wahrscheinlich ; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. – Vielleicht verräth es die species, zu der ich gehöre ? – Aber nicht mir : wie es mir selbst erwünscht genug ist. –“ |

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282. „Aber was ist dir begegnet ?“ – „Ich weiss es nicht, sagte er zögernd ; vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen.“ – Es kommt heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt beleidigt – und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich, – wohin ? wozu ? Um abseits zu verhungern ? Um an seiner Erinnerung zu ersticken ? – Wer die Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit fi ndet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein : heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch „zugreift“ – vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. – Wir haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten ; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht, – den Nac ht i s c h - E k e l . 283. Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man n ic ht übereinstimmt : – im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht – freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig m i s s ve r s t a nd e n zu wer|den. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen, – oder man wird es theuer büssen müssen ! – „Er

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lobt mich : a l s o giebt er mir Recht“ – diese Eselei von Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft. 284. Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben ; immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden ; sich auf sie s et z e n , wie auf Pferde, oft wie auf Esel : – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren ; auch die schwarze Brille : denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre „Gründe“ sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch – „in Gesellschaft“ – unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann – „gemein“. 285. Die grössten Ereignisse und Gedanken – aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse – wer|den am spätesten begriffen : die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, e rleb e n solche Ereignisse nicht, – sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen ; und bevor es nicht angekommen ist, leu g net der Mensch, dass es dort – Sterne giebt. „Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden ?“ – das ist auch ein Maassstab, damit schaff t man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut : für Geist und Stern. –

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286. „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“. – Es giebt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat – aber h i n a b blickt. 287. – Was ist vornehm ? Was bedeutet uns heute noch das Wort „vornehm“ ? Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern wird, der vornehme Mensch ? – Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen, – Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich – ; es sind auch die „Werke“ nicht. Man fi ndet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt : aber gerade dies Bedürfniss n ac h dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die | Werke, es ist der G l au b e, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen : irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht fi nden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. – D ie vor ne h me S e e le h at E h r f u r c ht vor s ic h . – 288. Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen halten (– als ob die Hand kein Verräther wäre ! –) : schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um wenigstens so lange als

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möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer zu stellen als man ist – was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth ist wie ein Regenschirm – heisst B e g e i s t e r u n g : hinzugerechnet, was hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen musste – : vertu est enthousiasme. 289. Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an ; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zu|sammengesessen hat, wer in seiner Höhle – sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein – zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde : dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne ZwielichtFarbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph – gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war – seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe : schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt ? – ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph „letzte und eigentliche“ Meinungen überhaupt haben k ö n ne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse – eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder „Begründung“. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie – das ist ein Einsiedler-Urtheil : „es ist etwas Willkürliches daran, dass e r hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er h ie r nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, – es ist

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auch etwas Misstrauisches daran.“ Jede Philosophie ve r b i r g t auch eine Philosophie ; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. 290. Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit ; am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht : „ach, warum wollt i h r es auch so schwer haben, wie ich ?“ | 291. Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft, als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als e i n f ac h zu geniessen ; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel Mehr in den Begriff „Kunst“ hinein, als man gemeinhin glaubt. 292. Ein Philosoph : das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hoff t, träumt ; der von seinen eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von s e i n e r Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird ; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht ; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klaff t und unheimlich zugeht. Ein Philosoph : ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder „zu sich zu kommen“ … 293. Ein Mann, der sagt : „das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen Jedermann vertheidigen“ ; ein

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Mann, der eine Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann ; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und von Natur | zugehören, kurz ein Mann, der von Natur He r r ist, – wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun ! d ie s Mitleiden hat Werth ! Aber was liegt am Mitleiden Derer, welche leiden ! Oder Derer, welche gar Mitleiden predigen ! Es giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfi ndlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte, – es giebt einen förmlichen Cultus des Leidens. Die Un m ä n n l ic h k e it dessen, was in solchen Schwärmerkreisen „Mitleid“ getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die Augen. – Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich in den Bann thun ; und ich wünsche endlich, dass man das gute Amulet „gai saber“ sich dagegen um Herz und Hals lege, – „fröhliche Wissenschaft“, um es den Deutschen zu verdeutlichen. 294. D a s ol y m p i s c he L a s t e r. – Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte – „das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird“ (Hobbes) – würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens – bis hinauf zu denen, die des g old ne n Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat – , so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen –

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und auf Unkosten | aller ernsten Dinge ! Götter sind spottlustig : es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen. 295. Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht – und nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein Zwang me h r ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen : – das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, – still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele – ; das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt ; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms und Sandes begraben lag ; das Genie des Herzens, von dessen Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoff nungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen | Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens … aber was thue ich, meine Freunde ? Von wem rede ich zu euch ? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen nannte ? Es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet, wer die-

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ser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise g e lo bt sein will. Wie es nämlich einem Jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott D io ny s o s , jener grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe – als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein O pf e r dargebracht hat : denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, – ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos : und ich dürfte wohl endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben ? Mit halber Stimme, wie billig : denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte, – unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rech|ten Stunde kommt : denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist ? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele Schritte mir voraus … Ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner gewagten

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Neuntes Hauptstück

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Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein solcher Gott nichts anzufangen. „Behalte dies, würde er sagen, für dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat ! Ich – habe keinen Grund, meine Blösse zu decken !“ – Man erräth : es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham ? – So sagte er einmal : „unter Umständen liebe ich den Menschen – und dabei spielte er auf Ariadne an, die zugegen war – : der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfi nderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es fi ndet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut : ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist.“ – „Stärker, böser und tiefer ?“ fragte ich erschreckt. „Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer ; auch schöner“ – und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich : es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham – ; und es giebt überhaupt gute Gründe | dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stükken die Götter insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind – menschlicher … 296. Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken ! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen machtet – und jetzt ? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden : so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so langweilig ! Und war es jemals anders ? Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben l a s -

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was ist vornehm ?

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s e n , was vermögen wir denn allein abzumalen ? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen ! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle ! Ach, immer nur Vögel, die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen, – mit u n s e r e r Hand ! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fl iegen kann, müde und mürbe Dinge allein ! Und nur euer Nac h m it t a g ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths : – aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten – – s c h l i m me n Gedanken ! * * * |

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Aus hohen Bergen. Nachgesang.

Oh Lebens Mittag ! Feierliche Zeit ! Oh Sommergarten ! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten : – Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit, Wo bleibt ihr Freunde ? Kommt ! ’s ist Zeit ! ’s ist Zeit ! War’s nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau Heut schmückt mit Rosen ? Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen Sich Wind und Wolke höher heut in’s Blau, Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau. Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt : – Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen ? Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt ? Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt ? … – Da s e id ihr, Freunde ! – Weh, doch ic h bin’s nicht, Zu dem ihr wolltet ? Ihr zögert, staunt – ach, dass ihr lieber grolltet ! Ich – bin’s nicht mehr ? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht ? Und w a s ich bin, euch Freunden – bin ich’s nicht ? Ein Andrer ward ich ? Und mir selber fremd ? Mir selbst entsprungen ? Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen ? Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt ? |

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Aus hohen Bergen.

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Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht ? Ich lernte wohnen, Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet ? Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht ? – Ihr alten Freunde ! Seht ! Nun blickt ihr bleich, Voll Lieb’ und Grausen ! Nein, geht ! Zürnt nicht ! Hier – könntet i h r nicht hausen : Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich – Hier muss man Jäger sein und gemsengleich. Ein s c h l i m me r Jäger ward ich ! – Seht, wie steil Gespannt mein Bogen ! Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen – – : Doch wehe nun ! Gefährlich ist d e r Pfeil, Wie k e i n Pfeil, – fort von hier ! Zu eurem Heil ! … Ihr wendet euch ? – Oh Herz, du trugst genung, Stark blieb dein Hoffen : Halt n eue n Freunden deine Thüren offen ! Die alten lass ! Lass die Erinnerung ! Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung ! Was je uns knüpfte, Einer Hoff nung Band, – Wer liest die Zeichen, Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen ? Dem Pergament vergleich ich’s, das die Hand Zu fassen s c heut , – ihm gleich verbräunt, verbrannt. Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn’ ich’s doch ? – Nur Freunds-Gespenster ! Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, Das sieht mich an und spricht : „wir w a r e n’s doch ?“ – – Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch ! |

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Nachgesang

Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand ! Die ic h ersehnte, Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte, Dass a lt sie wurden, hat sie weggebannt : Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Oh Lebens Mittag ! Zweite Jugendzeit ! Oh Sommergarten ! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten ! Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit, Der n eue n Freunde ! Kommt ! ’s ist Zeit ! ’s ist Zeit ! * * *

D ie s Lied ist aus, – der Sehnsucht süsser Schrei Erstarb im Munde : Ein Zaubrer that’s, der Freund zur rechten Stunde, Der Mittags-Freund – nein ! fragt nicht, wer es sei – Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei … Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, Das Fest der Feste : Freund Z a r at hu s t r a kam, der Gast der Gäste ! Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss … * * *

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Friedrich Nietzsche

Die Geburt der Tragödie. Oder : Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik.

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Versuch einer Selbstkritik.

1. Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag : es muss eine Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief persönliche Frage, – Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand, t r ot z der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Gr ie c he n nieder, – den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches, dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige Wochen darauf : und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen „Heiterkeit“ der Griechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte ; bis er endlich, in jenem Monat tiefster Span|nung, als man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu s i k“ letztgültig bei sich feststellte. – Aus der Musik ? Musik und Tragödie ? Griechen und Tragödien-Musik ? Griechen und das Kunstwerk des Pessimismus ? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen – wie ? gerade sie hatten die Tragödie nöt h i g ? Mehr noch – die Kunst ? Wozu – griechische Kunst ? … Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimis-

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Die Geburt der Tragödie

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mus n ot hwe n d i g das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte ? – wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den „modernen“ Menschen und Europäern ist ? Giebt es einen Pessimismus der S t ä r k e ? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l le des Daseins ? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst ? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren ve r l a n g t , als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann ? an dem sie lernen will, was „das Fürchten“ ist ? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der t r a g i s c he Mythus ? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen ? Was, aus ihm geboren, die Tragödie ? – | Und wiederum : das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen  – wie ? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein ? Und die „griechische Heiterkeit“ des späteren Griechenthums nur eine Abendröthe ? Der epikurische Wille g e g e n den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden ? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehen, alle Wissenschaft ? Wozu, schlimmer noch, wo he r – alle Wissenschaft ? Wie ? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus ? Eine feine Nothwehr gegen – die Wa h r h e it ? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit ? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit ? Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht d e i n Geheimniss ? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie ? – –

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Versuch einer Selbstkritik

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2. Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neue s Problem : heute würde ich sagen, dass es das P r o ble m d e r W i s s e n s c h a f t selbst war – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess – was für ein u n mög l ic he s Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen ! | Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der K u n s t – denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden –, ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme-Art von Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte …), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, vor allem mit ihrem „Viel zu lang“, ihrem „Sturm und Drang“ : andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch wendete, bei Richard Wagner) ein b e w ie s e n e s Buch, ich meine ein solches, das jedenfalls „den Besten seiner Zeit“ genug gethan hat. Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden ; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren vor

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Die Geburt der Tragödie

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mir steht, – vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren, aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes | verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat, – d ie W i s s e n s c h a f t u nt e r d e r O pt i k d e s K ü n s t le r s z u s e h e n , d ie K u n s t a b e r u nt e r d e r d e s L eb e n s … 3. Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch selbst gegen die S c h ic kl ic h k e it des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als „Musik“ für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, – ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum vulgus der „Gebildeten“ von vornherein noch mehr als gegen das „Volk“ abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier redete jedenfalls – das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein – eine f r e md e Stimme, der Jünger eines noch „unbekannten Gottes“, der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat ; hier war ein Geist mit fremden, noch namenlosen Be|dürfnissen, ein Gedächtniss strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war ; hier sprach – so sagte man sich mit

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Versuch einer Selbstkritik

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Argwohn – etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden ! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte : ich hätte es vielleicht gekonnt ! Oder mindestens als Philologe : – bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben ! Vor allem das Problem, d a s s hier ein Problem vorliegt, – und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch ?“ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind … 4. Ja, was ist dionysisch ? – In diesem Buche steht eine Antwort darauf, – ein „Wissender“ redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes. Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, – blieb dies Verhältniss sich gleich ? oder drehte es sich um ? – jene Frage, ob wirklich sein immer stärkeres Verla n g en n ac h Sc hön|heit , nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist ? Gesetzt nämlich, gerade dies wäre wahr – und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen Leichenrede zu verstehen – : woher müsste dann das entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Ve rl a n g e n n ac h d e m H ä s s l ic he n , der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde des Daseins, – woher müsste

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dann die Tragödie stammen ? Vielleicht aus der Lu s t , aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus übergrosser Fülle ? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn ? Wie ? Ist Wahnsinn vielleicht nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten Cultur ? Giebt es vielleicht – eine Frage für Irrenärzte – Neurosen der Ges u nd heit ? der VolksJugend und -Jugendlichkeit ? Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr ? Aus welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken ? Und was den Ursprung des tragischen Chors betriff t : gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht endemische Entzückungen ? Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheil|ten ? Wie ? wenn die Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen z u m Tragischen hatten und Pessimisten waren ? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Plato’s zu gebrauchen, der die g r ö s s t e n Segnungen über Hellas gebracht hat ? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich „heiterer“ und „wissenschaftlicher“ wurden ? Wie ? könnte vielleicht, allen „modernen Ideen“ und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des O p t i m i s mu s , die vorherrschend gewordene Ve r nü n f t i g k e it , der praktische und theoretische Ut i l it a r i s mu s , gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein ? Und gerade n ic ht – der Pessimismus ? War Epikur ein Optimist – gerade als L e id e nd e r ? – Man

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sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buch belastet hat, – fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu ! Was bedeutet, unter der Optik des L eb e n s gesehen, – die Moral ? … 5. Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst – und n ic ht die Moral – als die eigentlich met a phy s i s c he Thätigkeit des Menschen hingestellt ; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein | der Welt g e r e c ht f e r t i g t ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen „Gott“, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Not h der Fülle und Ueb e r f ü l le, vom L e id e n der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die Welt, in jedem Augenblicke die e r r e ic h t e Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchreichsten, der nur im S c he i ne sich zu erlösen weiss : diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen –, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die mor a l i s c he Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus „jenseits von Gut und Böse“ an, hier kommt jene „Perversität der Gesinnung“ zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, – eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die „Erscheinungen“ (im Sinne des idealistischen terminus technicus), sondern unter

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die „Täuschungen“, als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe dieses w i d e r m o r a l i s c h e n Hanges am besten aus dem | behutsamen und feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das Christenthum behandelt ist, – das Christenthum als die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema’s, welche die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nu r moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, je d e Kunst in’s Reich der Lüge verweist, – das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das L eben sfei nd l ic he, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst : denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“ oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in’s Nichts, an’s Ende, in’s Ausruhen, hin zum „Sabbat der Sabbate“ – dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nu r moralische Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefähr|lichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines „Willens zum Untergang“, zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (in

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Sonderheit christlichen, das heisst unbedingten Moral) mu s s das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches i s t , – mu s s endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein’s, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst – wie ? sollte Moral nicht ein „Wille zur Verneinung des Lebens“, ein heimlicher Instinkt der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip, ein Anfang vom Ende sein ? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren ?  … G e g e n die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine a nt ic h r i s t l ic h e. Wie sie nennen ? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist ? – auf den Namen eines griechischen Gottes : ich hiess sie die d io ny s i s c he. – 6. Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren wagte ? … Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit ?) hatte, um mir in jedem Betrachte | für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine e i g ne S p r ac he zu erlauben, – dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrükken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen ! Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie ? „Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt – sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II,495 – ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit

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n ic ht we r t h s e i : darin besteht der tragische Geist –, er leitet demnach zur R e s i g n at io n hin“. Oh wie anders redete Dionysos zu mir ! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus ! – Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben : dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose g r ie c h i s c he P r o ble m , wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge ve r d a r b ! Dass ich Hoff nungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies ! Dass ich, auf Grund der deutschen letzten Musik, vom „deutschen Wesen“ zu fabeln begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken und wiederzufi nden – und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europa’s gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig a b d a n k t e | und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den „modernen Ideen“ machte ! In der That, inzwischen lernte ich hoff nungslos und schonungslos genug von diesem „deutschen Wesen“ denken, insgleichen von der jetzigen d eut s c he n Mu s i k , als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen Kunstformen : überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich b e n eb e l nd e s Narkotikum. – Abseits freilich von allen übereilten Hoff nungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen : wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht

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mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern d io ny s i s c he n ? … 7. – Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht I h r Buch Romantik ist ? Lässt sich der tiefe Hass gegen „Jetztzeit“, „Wirklichkeit“ und „moderne Ideen“ weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist ? – welche lieber noch an das Nichts, lieber noch an den Teufel, als an das „Jetzt“ glaubt ? Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungs|lust unter aller Ihrer contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was „jetzt“ ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint „lieber mag Nichts wahr sein, als dass i h r Recht hättet, als dass eu r e Wahrheit Recht behielte !“ Hören Sie selbst, mein Herr Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich-rattenfängerisch klingen mag : wie ? ist das nicht das ächte rechte RomantikerBekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850 ? hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt, – Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor d e m alten Gotte … Wie ? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas „ebenso Berauschendes als Benebelndes“, ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar, d eut s c he r Musik ? Aber man höre : Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in’s Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den

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Schwächlichkeitsdoktrinen des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen „resolut zu leben“ : s ol lt e e s n ic ht nöt h i g s e i n , dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrekken, eine neue Kunst, d ie K u n s t d e s met a phy s i s c he n Tr o s t e s , die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss : Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In’s Leben zieh’n die einzigste Gestalt ? |

„Sollte es nicht nöt h i g sein ?“ … Nein, drei Mal nein ! ihr jungen Romantiker : es sollte n ic ht nöthig sein ! Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es so e nd et , dass i h r so endet, nämlich „getröstet“, wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, „metaphysisch getröstet“, kurz, wie Romantiker enden, c h r i s t l ic h … Nein ! Ihr solltet vorerst die Kunst des d ie s s e it i g e n Trostes lernen, – ihr solltet l ac he n lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt ; vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt – und die Metaphysik voran ! Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der Z a r at hu s t r a heisst : „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher ! Und vergesst mir auch die Beine nicht ! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch : ihr steht auch auf dem Kopf ! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone : ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger : – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher,

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Versuch einer Selbstkritik

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kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt : ich selber setzte mir diese Krone auf ! | Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone : euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu ! Das Lachen sprach ich heilig : ihr höheren Menschen, le r nt mir – lachen !“ A l s o s p r a c h Z a r a t hu s t r a , vierter Theil S. 87.

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Vorwort an Richard Wagner.

Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Charakter unserer ästhetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die Einleitungsworte zu derselben mit der gleichen beschaulichen Wonne schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter und erhebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ich mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese Schrift empfangen werden : wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen Wanderung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem, was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte. Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher | Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und ästhetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten : denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoff nungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben überhaupt anstössig sein, ein ästhetisches Pro-

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Vorwort an Richard Wagner

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blem so ernst zu nehmen, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum „Ernst des Daseins“ zu erkennen im Stande sind : als ob Niemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen „Ernste des Daseins“ auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will. |

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1. Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p ol l i n i s c he n und des D io ny s i s c he n gebunden ist : in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht ; zwei verschiedene Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren : bis sie endlich, im Blüthemoment des hellenischen „Willens“, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunstwerkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen. Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Tr aume s und des R au s c he s ; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im | Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau

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übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der hellenische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich Hebbels mit diesen Worten ausspricht : In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus, Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt, Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt ; Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe, Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.

Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfi ndung ihres S c he i n s : wenigstens ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Wo diese Scheinempfi ndung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener Allverständigkeit an uns erfahren : auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel – denn wir leben und leiden mit in diesen Scenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfi ndung des Scheins ; ja ich | erinnere mich, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes mir mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben : „Es ist ein

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Traum ! Ich will ihn weiter träumen !“ Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren : als welche Thatsachen deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt. Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden : Apollo als der Gott der Traumesvorstellungen ist zugleich der wahrsagende und künstlerische Gott. Er, der seiner Wurzel nach der „Scheinende“, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der Traumwelt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Kunst, durch die das Leben lebenswerth und die Zukunft zur Gegenwart gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein nicht nur täuschen, sondern betrügen würde – darf nicht im Bilde des Apollo fehlen : jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss „sonnenhaft“, gemäss seinem Ursprunge, sein ; auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, was unser grosser S c ho p e n h aue r von dem im Schleier der | Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vorstellung I S. 416 : „Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend ; so sitzt, mitten in einer

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Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis“. Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des „Scheines“, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Gr au s e n geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des D io ny s i s c h e n , das uns am nächsten noch durch die Analogie des R au s c he s gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort : in diesen Sanct-| Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie von „Volkskrankheiten“, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abzuwenden : man giebt damit eben zu

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verstehen, dass man „gesund“ ist, und dass die an einem Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres flüchten, wenn so ein gesunder „Meister Zettel“ plötzlich vor ihnen erscheint. Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen : auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet : unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der „Freude“ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken : so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder „freche Mode“ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit : er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend | in die Lüfte emporzufl iegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches : als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden : die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung

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des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf : „Ihr stürzt nieder, Millionen !“ 2. Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, oh ne Ve r m it t e lu n g d e s me n s c h l ic he n K ü n s t le r s , hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen : einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfi ndung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler „Nachahmer“, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler : als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen | Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt i n e i ne m g le ic h n i s s a r t i g e n Tr au m b i ld e offenbart. Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen wir uns jetzt den Gr ie c he n , um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene K u n s t t r ieb e d e r Nat u r in ihnen entwickelt gewesen sind : wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des

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griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, „die Nachahmung der Natur“ tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Tr äu me n der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen : bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu bezeichnen : in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt. Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die d io ny s i s c he n Gr ie c he n von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt – um die neuere hier bei Seite zu lassen – von Rom bis Babylon | können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige bocksbeinige Satyr zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten ; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche „Hexentrank“ erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zu den

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Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen : jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus : wohin man blickt, sind die Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken ; im Grunde war die Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen baby|lonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft : nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn – wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern –, jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über

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einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes : und insbesondere erregte ihr die dionysische Mu s i k Schrecken und Grausen. Wenn die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt ; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver|nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken ; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will : der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden ! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn blicken ! Mit einem Erstaunen, das

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um so grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke. 3. Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der a p ol l i n i s c he n C u lt u r gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen ol y m p i s c h e n Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene | ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang ? Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pfl icht : hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das „in süsser Sinnlichkeit schwebende“ Idealbild ihrer

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eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber zurufen : „Geh’ nicht von dannen, sondern höre erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet.“ Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen S i le n , dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon ; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht : „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist ? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar : nicht geboren zu | sein, nicht zu s e i n , n ic ht s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben“. Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt ? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen. Jetzt öff net sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins : um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gorgonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind – wurde von den Griechen durch jene künstlerische M it t e lwe lt der Olympier

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überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen : welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde : wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes unendlich sensible, zum L e id e n so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische | Welt entstehn, in der sich der hellenische „Wille“ einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee ! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche S c h me r z der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden : so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, „das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben“. Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der „Wille“ nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird. Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie,

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ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort „naiv“ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen mü s s t e n : dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das „Naive“ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen : als welche immer erst ein Titanenreich | zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss. Ach, wie selten wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht ! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb Ho m e r, der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische „Naivetät“ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen : es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt : nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den Griechen wollte der „Wille“ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen ; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfi nden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische „Wille“

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gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens : und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler. 4. Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogie einige Belehrung. Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft : „es ist ein Traum, | ich will ihn weiter träumen“, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreck liche Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen : so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte dünkt : so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht : welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfi nden genöthigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer

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eignen „Realität“ für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als der S c h e i n d e s S c h e i n s , somit als eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem | naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur „Schein des Scheins“ ist. R a f ae l , selbst einer jener unsterblichen „Naiven“, hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Tr a n s f i g u r at io n zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt : der „Schein“ ist hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht : er zeigt uns, mit erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.

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Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das M a a s s im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, | Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit der Schönheit die Forderung des „Erkenne dich selbst“ und des „Nicht zu viel !“ her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen : so interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit. „Titanenhaft“ und „barbarisch“ dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das D io ny s i s c he erregte : ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfi nden : sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe ! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben ! Das „Titanische“ und das „Barbarische“ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische ! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Ueb e r m a a s s der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei,

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laut wurde : denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang, bedeuten konnte ! Die Musen der Künste des „Scheins“ | verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe ! Wehe ! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Ueb e r m a a s s enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den d or i s c he n Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären : nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzigspröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein. Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte : wie das Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben : wie aus dem „erzenen“ Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes, die homerische Welt entwickelt, wie diese „naive“ Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst

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und Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, | in vier grosse Kunstperioden zerfällt : so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte : und hier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der at t i s c he n Tr a g ö d ie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss, nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde – das zugleich Antigone und Kassandra ist – verherrlicht hat. 5. Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zuerst, wo jener springende Lebenspunkt sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus steigert. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen Dichtung Home r u nd A r c h i lo c hu s auf Bildwerken, Gemmen u. s. w. neben einander stellt, in der sicheren Empfi ndung, dass nur diese Beiden gleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die gesammte griechische Nachwelt fortfl iesse, zu erachten seien. Homer, der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apollinischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf des wild durch’s Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners Archilochus : und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen, dass hier dem „objectiven“ | Künstler der erste „subjective“ entgegengestellt sei. Uns

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ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom „Ich“ und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der „Lyriker“ als Künstler möglich ist : er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer „ich“ sagt und die ganze chromatische Ton leiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde ; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler ? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der „objectiven“ Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat ? Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns S c h i l le r durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht ; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine mu s i k a l i s c h e S t i m mu n g („Die Empfi ndung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand ; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität d e s Ly r i k e r s m it | d e m Mu s i k e r – der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint – so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,

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uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben ; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem g le ic h n i s s a r t i g e n Tr au m b i ld e, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben : das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das „Ich“ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins : seine „Subjectivität“ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt : wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken – wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne – : und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen. | Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine

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Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztgenannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst – so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschützt ist –, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als e r selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt „ich“ sagen darf : nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch s ic h s e l b s t als Nichtgenius erblickt d. h. sein „Subject“, das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen ; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen „ich“ spräche, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi|lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht : während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein

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kann. Es ist aber gar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins ; und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen entfernen kann. S c ho p e n h aue r, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte : wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I S. 295) : „Es ist das Subject des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens : die Empfi ndung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über|haupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen : wir folgen ; doch nur auf Augenblicke : immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung ; aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im Liede

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und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander : es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imaginirt ; die subjective Stimmung, die Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit : von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der Abdruck“. Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren We s e n darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien ? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Er|lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung u nd Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind : wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben – denn nur als ae st het i sc he s Ph ä nomen ist das Dasein und die Welt ewig gerec ht fer t ig t : – während

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freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst ; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann ; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Acteur und Zuschauer. 6. Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte, dass er das Vol k s l ie d in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos ? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und | des Dionysischen ; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist : der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben. Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich-

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tung ausspricht. D ie Me lo d ie i s t a l s o d a s Er s t e u nd A l l g e me i ne, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem ; nichts Anderes will uns d ie St r ophen for m de s Vol k sl iede s sagen : welches Phänomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele fi nden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht : die in ihrer Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen : und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan. | In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, d ie Mu s i k n ac h z u a h me n : deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet : das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau’s, des Wortmaterial’s bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen ; ja es wird Einem dabei hand-

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greiflich deutlich, dass inzwischen (zwischen Homer und Pindar) die or g i a s t i s c he n F löt e nwe i s e n d e s Oly m pu s erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven’sche Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt : an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pasto|rale und einen Satz als „Scene am Bach“, einen anderen als „lustiges Zusammensein der Landleute“ bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen – und nicht etwa die nachgeahmten Gegenstände der Musik – Vorstellungen, die über den d io ny s i s c he n Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nachahmung der Musik aufgeregt wird. Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Eff ulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so können wir jetzt fragen : „als was er sc hei nt die Musik im

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Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe ?“ Sie er s c he i nt a l s W i l le, das Wort im Schopenhauer’schen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung : denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre – denn der Wille ist das an sich Unaesthetische – ; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns ; unter dem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das | Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls : sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers : als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist. Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht b r au c ht , sondern ihn nur neben sich e r t r ä g t . Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise

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erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss : daher kann die S p r ac he, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann. | 7. Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu fi nden, als welches wir den Ur s pr u ng der g r iec h i sc hen Tragöd ie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass d ie Tragöd ie aus dem t rag i sc hen Chore ent sta nden i st und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war : woher wir die Verpfl ichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in’s Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen Kunstredensarten – dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu bedeuten habe – irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke – als ob das unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitun-

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gen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht behalte  – mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein : auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist ; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer „constitutionellen Volks|vertretung“ zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal „geahnt“. Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der Gedanke A. W. Schlegel’s, der uns den Chor gewissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den „idealischen Zuschauer“ zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie nur Chor war, erweist sich als das, was sie ist, als eine rohe unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanische Voreingenommenheit für Alles, was „idealisch“ genannt wird und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die Kühnheit der Schlegel’schen Behauptung wie über die total verschiedene Natur des griechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei, wer er wolle, sich immer bewusst bleiben

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müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirische Realität : während der tragische Chor der Griechen in den Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene. Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und | real zu halten ? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien ? Wir hatten an ein ästhetisches Publicum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen ; und jetzt deutete uns der Schlegel’sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen ! seufzten wir ; sie werfen uns unsre Aesthetik um ! Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel’schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam. Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel : der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der „Zuschauer an sich“ zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden. Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede

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zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren. Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen | Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Ganzen : es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt sei. – Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort „Pseudoidealismus“ gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart : nur quäle man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche „Pseudoidealismus“ überwunden sei. Freilich ist es ein „idealer“ Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fi ngirten Nat u r z u s t a n d e s gezimmert und auf sie hin fi ngirte Nat u r we s e n gestellt. Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine

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willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt ; vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit | unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, dass sich der Satyr, das fi ngirte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors aufgehoben : und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische Trost, – mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben. Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist,

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sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben. | Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein let h a r g i s c he s Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden ; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet : beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n nt , und es ekelt sie zu handeln ; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfi nden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt ; nicht das Reflectiren, nein ! – die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er

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das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen : es ekelt ihn. | Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt : diese sind das E r h a b e ne als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das K om i s c he als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst ; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen. 8. Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht ; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten ! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind – das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegentheil : es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches : so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene

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Schäfer | beleidigt : auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung ; hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügenhaften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen Kunst hat Schiller Recht : der Chor ist eine lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er – der Satyrchor – das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns : sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt : und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen ; der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft – er sieht sich zum Satyr verzaubert. Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende Schaar der Dionysusdiener : deren Macht sie selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich | als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken

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wähnen. Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens ; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zuschauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab : denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen. Das Schlegel’sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der „idealische Zuschauer“, insofern er der einzige S c h aue r ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt : in ihren Theatern war es Jedem, bei dem amphitheatralischen Bau des Zuschauerraumes, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu ü b e r s e h e n und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen : als welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors ist : die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruck der „Realität“, gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfi ndlich zu machen. Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal : die Architektur der | Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblik-

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ken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird. Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast anstössig ; während nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Urphänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dichter ? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach ; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter ; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie | sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das d r a m at i s c he Urphänomen : sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen

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andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht ; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen epidemisch auf : eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen : der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist : sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des apollinischen Einzelsängers : während im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen. Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, u nd a l s Sat y r w ieder u m sc haut er den G ot t d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt ent ladet. | Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d. h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden

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Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus : die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden. Der C hor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse, fi ndet an dieser unserer Auffassung seine volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche „Action“, – wie dies doch so deutlich überliefert war – während wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und Ursprünglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksbeinigen Satyrn zusammengesetzt worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt der Action im Grunde und ursprünglich nur als V i s io n gedacht wurde, dass die einzige „Realität“ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus und ist darum ewig der d ie ne nd e Chor : er sieht, wie dieser, der Gott, | leidet und sich verherrlicht, und h a nd e lt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Nat u r und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche : als der m it le id e nd e ist er zugleich der

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we i s e, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich „der tumbe Mensch“ im Gegensatz zum Gotte ist : Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst : Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person. D io ny s u s , der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt : d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur „Chor“ und nicht „Drama“. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen : damit beginnt das „Drama“ im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend – wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird : denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung – so haben wir | ein Analogon zu der Empfi ndung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Realität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies

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ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durchgreifenden Stilgegensatz : Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysus objectivirt, sind nicht mehr „ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, ein glühend Leben“, wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysusdiener die Nähe des Gottes spürt : jetzt spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers. 9. Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth. | So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab – der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung durch und durch – dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der

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in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in’s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen : umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blikkes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der „griechischen Heiterkeit“ richtig zu fassen ; während wir allerdings den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen. Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige O e d i pu s , ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen : durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch | dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen : als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verderben löst ; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze

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abbricht. Im „Oedipus auf Kolonos“ treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben : dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegenüber, der allem, was ihn betriff t, rein als L e id e nd e r preisgegeben ist – steht die überirdische Heiterkeit, die aus göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt – und die tiefste menschliche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist : und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx ! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten ? Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur | aus Incest geboren werden könne : was wir uns, im Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit – wie dort der Incest – als Ursache vorausgegangen sein muss ; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatürliche ? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei-

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heit der Oedipusschicksale ausgeprägt : derselbe, der das Räthsel der Natur  – jener doppeltgearteten Sphinx – löst, muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. „Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen : Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur“ : solche schreck liche Sätze ruft uns der Mythus zu : der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt – in sophokleischen Melodien ! Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität gegenüber, welche den P r o m e t h e u s des Aeschylus umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen gewusst : | „Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu geniessen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich !“

Der Mensch, in’s Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken

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nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach G e r e c ht i g k e it : das unermessliche Leid des kühnen „Einzelnen“ auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten – dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit : und gerade im Prometheus des Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können : und dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges | Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche „Können“ des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des K ü n s t le r s – das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied des He i l i g e n präludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckenstiefe nicht ausgemessen : vielmehr ist die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen

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Völkergemeinde und ein Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existirt, wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feue r beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur : dass aber der Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen, | mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen – müssen : ein herber Gedanke, der durch die Wü r d e, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der ac t i ve n S ü nd e als der eigentlich prometheischen Tugend : womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die R e c ht f e r t i g u n g des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil im

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Wesen der Dinge – das der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln –, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das e i ne Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und leidet. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor : „Wir nehmen das nicht so genau : Mit tausend Schritten macht’s die Frau ; Doch wie sie auch sich eilen kann, Mit einem Sprunge macht’s der Mann“.

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht – nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene | Nothwendigkeit des Frevels – der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfi nden ; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See’s ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische „Wille“ das Hellenenthum zu bannen suchte.

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Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des aeschyleischen Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können : „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt“. Das ist deine Welt ! Das heisst eine Welt ! – | 10. Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische „Idealität“ jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien : woraus zu entnehmen wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen

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k o n nt e n . In der That scheinen sie so empfunden zu haben : wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabschätzung der „Idee“ im Gegensatze zum „Idol“, zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Plato’s zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden : der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum : und dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit e r s c he i nt , ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich|nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde : wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische L e id e n , gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben : diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoff nung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen

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zertrümmerten Welt : wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich f r eut , als man ihr sagt, sie könne den Dionysus no c h e i n m a l gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit d ie My s t e r ie n le h r e d e r Tr a g ö d ie zusammen : die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als die freudige Hoff nung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. – | Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an : sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin – bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik i h r e r Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus

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der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte ? Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik : als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss ; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb|lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden : und die Griechen waren bereits völlig auf dem Wege, ihren gan zen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragmatische Ju g e nd g e s c h ic ht e umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen : wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neugeborne Genius der dionysischen Musik : und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt

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der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form ; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen Leuchten. Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest ? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen : und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus, | der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik : mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo ; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht – auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden. 11. Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen : sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Confl ictes, also tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand : sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen ent-

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stand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere ; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten „der grosse Pan ist todt“ : so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt : „die Tragödie ist todt ! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen ! | Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen ! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt !“ Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung auf blühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Tragödie kämpfte Eu r i p id e s ; jene spätere Kunstgattung ist als neue r e at t i s c he K omö d ie bekannt. In ihr lebte die entartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und gewaltsamen Hinscheidens. Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides empfanden ; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu können : wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte : so genügt es zu sagen, dass d e r Zu s c h aue r von Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänz-

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lich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt eine peinliche Treue, die auch die misslungenen | Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse’s steht. Was Euripides sich in den aristophanischen „Fröschen“ zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht : man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus : wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoff nungen auf baute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter Klugheit Land

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und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w., so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit. An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte | sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist ; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber – der Chorlehrer – wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift „als Greis leichtsinnig und grillig“ gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten ; der fünfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft : und wenn jetzt überhaupt noch von „griechischer Heiterkeit“ die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der „griechischen Heiterkeit“ war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte fortlebende

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Anschauung des griechischen Alterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt – als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit | seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch – jedes für sich – aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen. Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht herausgekommen sei : und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist „Publicum“ nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Verpfl ichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat ? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfi nden als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer ? In Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch behandelt als gerade Euripides : er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in’s Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehr-

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furcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen|schlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Lauf bahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der Volksgunst leuchteten ? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer führte ihn dem Zuschauer entgegen ? Wie konnte er aus zu hoher Achtung vor seinem Publicum – sein Publicum missachten ? Euripides fühlte sich – das ist die Lösung des eben dargestellten Räthsels – als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben : die Masse brachte er auf die Bühne, jene beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter und Meister aller seiner Kunst : ihren Weisungen und Mahnungen folgend übertrug er die ganze Welt von Empfi ndungen, Leidenschaften und Zuständen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah. |

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Von diesen beiden Zuschauern ist der eine – Euripides selbst, Euripides a l s D e n k e r, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf : er gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in’s Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama’s, zumal über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung der ethischen Probleme ! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen ! Wie ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück ! Selbst in der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft ; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Ein|zelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn ; erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken

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und Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und in diesem qualvollen Zustande fand er d e n a n d e r e n Z u s c h au e r, der die Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen – nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der s e i ne Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. – 12. Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen Tragödie selbst in’s Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere eigene Befremdung dem C hor e und dem t r a g i s c he n He ld e n jener Tragödie gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit der Ueberlieferung zu reimen wussten – bis wir jene Doppelheit selbst als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, d e s A p ol l i n i s c he n u nd d e s D iony s i s c he n . Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen – dies ist die jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides. Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem | Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn ? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten ? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre : aber der Gott Dionysus ist zu mächtig ; der verständigste Gegner – wie Pentheus

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in den „Bacchen“ – wird unvermuthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein : das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen : wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplomaten – wie hier den Kadmus – schliesslich in einen Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat – um am Ende desselben mit einer Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz ; ach, und sie war bereits ausgeführt ! Das Wunderbare war geschehn : als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske : die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S ok r at e s . Dies ist der neue Gegensatz : | das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu trösten suchen, es gelingt ihm nicht : der herrlichste Tempel liegt in Trümmern ; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei ? Und selbst dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt

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worden ist – wen möchte diese erbärmliche Compensation befriedigen ? Nähern wir uns jetzt jener s ok r at i s c he n Tendenz, mit der Euripides die äschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte. Welches Ziel – so müssen wir uns jetzt fragen – konnte die euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben ? Welche Form des Drama’s blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des Dionysischen geboren werden sollte ? Allein d a s d r a m at i s i r t e E p o s : in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die t r a g i s c he Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der dargestellten Ereignisse an ; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe in seiner projectirten „Nausikaa“ unmöglich gewesen sein würde, den Selbstmord jenes idyllischen Wesens – der den fünften Act ausfüllen sollte – tragisch ergreifend zu machen ; so ungemein ist die Gewalt des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen : er ist immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende An|schauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode ; die Weihe des inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals ganz Schauspieler ist. Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama’s gegenüber das euripideische Stück ? Wie der feierliche Rhapsode der alten Zeit zu jenem jüngeren, der sein Wesen im platonischen „Jon“ also beschreibt : „Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Thränen ; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare

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meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft“. Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren ; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt ; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe G e d a n k e n – an Stelle der apollinischen Anschauungen – und feurige A f f e c t e – an Stelle der dionysischen Entzückungen – und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte. | Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ä s t het i s c he n S ok r at i s mu s schon näher treten dürfen ; dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet : „alles muss verständig sein, um schön zu sein“ ; als Parallelsatz zu dem sokratischen „nur der Wissende ist tugendhaft“. Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip : die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen Auf bau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dichterischen Mangel

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und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische P r olog diene uns als Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird ; wer wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht ? – da ja hier keinesfalls das aufregende Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden Wirklichkeit stattfi ndet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde : vielmehr auf jenen grossen rhetorischlyrischen Scenen, in denen die Lei|denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor : und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte ; so lange der Zuhörer noch ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und jener Confl ict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen

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Fäden in die Hand zu geben : ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das n ot hwe n d i g e Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte : eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen : in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama’s, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen ; dies ist die | Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche „Drama“. So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse ; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten : „im Anfang war alles beisammen ; da kam der Verstand und schuf Ordnung“. Und wenn Anaxagoras mit seinem „Nous“ unter den Philosophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom

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künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen ; so musste Euripides urtheilen, so musste er die „trunkenen“ Dichter als der erste „Nüchterne“ verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt : der nur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, we i l er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich ; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegenstück des „unverständigen“ Dichters der Welt zu zeigen ; sein ästhetischer Grundsatz „alles muss bewusst sein, um | schön zu sein“, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen „alles muss bewusst sein, um gut zu sein“. Demgemäss darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener z we it e Zu s c h aue r, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete ; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip : insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofs zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt : als welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurgos floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.

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13. Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht ; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der „guten alten Zeit“ in einem Athem genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen : von deren Einflusse es abhänge, dass die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte, zum | Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste S o ph i s t , als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine : wobei es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfi ndung heraus zu erweisen ; in welchem Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.

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Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar, weil er w i s s e, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses W i s s e n s dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei „Wissenden“ ihrer Zeit auszeichnet. Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, n ic ht s z u w i s s e n ; während er, auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, | Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. „Nur aus Instinct“ : mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik : wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen : er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden. Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als

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Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist ? Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen darf ? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss : „Weh ! Weh ! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust ; sie stürzt, sie zerfällt !“ Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als „Dämonion des Sokrates“ | bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in’s Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme m a h nt , wenn sie kommt, immer a b. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da h i nd er nd entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferischaffi rmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet : wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum ! Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der specifische Nic ht-Myst i k er zu bezeichnen wäre, in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich selbst zu kehren ; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam h i nt e r Sokrates in

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Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Confl icte | war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung geboten, die Verbannung ; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zu haben : er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Plato’s Schilderung als der letzte der Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen ; indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träumen. Der sterbende Sok r ate s wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend : vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen. 14. Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat – denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen – was eigentlich

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musste es in der „erhabenen und hochgepriesenen“ tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken ? Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen | Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfi ndliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde, die ae s o p i s c he Fa b e l : und dies geschah gewiss mit jener lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt : „Du siehst an mir, wozu sie nützt, Dem, der nicht viel Verstand besitzt, Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“.

Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal „die Wahrheit zu sagen“ : abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der „nicht viel Verstand besitzt“, also nicht an den Philosophen : ein zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen Reizungen ; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen. Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato : er, der in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zurückge-

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blieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der | älteren Kunst zu machen hatte, – dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist angehöre – durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden : und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener PseudoWirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat ; auf welchem Wege die c y n i s c he n Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des „rasenden Sokrates“, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiff brüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete : auf einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Rom a n’s : der als die unendlich gesteigerte aesopische

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Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr|hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie : nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte. Hier überwächst der p h i l o s o p h i s c h e G e d a n k e die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die ap ol l i n i s c he Tendenz verpuppt : wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des D i o n y s i s c h e n in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen ; denn wer vermöchte das opt i m i s t i s c he Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann : das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss – bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze : „Tugend ist Wissen ; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit ; der Tugendhafte ist der Glückliche“ : in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.

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Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der C hor und überhaupt der | ganze musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie ? Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie ; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als Ur s ac he der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden kann. Schon bei Sophokles beginnt jene Verlegenheit in Betreff des Chor’s – ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Scene hineingehoben würde : womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur Ve r n ic h t u n g des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die Mu s i k aus der Tragödie : d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt. Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt : so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute : die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss | die

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allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst not hwe nd i g nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines „künstlerischen Sokrates“ überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei. Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pfl icht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte : „Sokrates, treibe Musik !“ Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene „gemeine, populäre Musik“ erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen – durch sein Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur : vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige ? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist ? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft ? |

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15. Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffung der K u n s t – und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne – immer wieder nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt. Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor, das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alle Zeiten als „barbarisch“ zu bezeichnen : wer sind jene, fragte man sich, die, obschon sie nur einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der Masse zukommt ? Leider war man nicht so glücklich den Schierlingsbecher zu fi nden, mit dem ein solches Wesen ein|fach abgethan werden konnte : denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und

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fürchtet man sich vor den Griechen ; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass aber fast immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen : über den sie selbst, mit dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen. Um diese Führerstellung von Sokrates zu erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des t heor et i s c he n Me n s c he n , über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen unsre nächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigne Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene e i ne nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten : von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu | durchgraben im Stande sein, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. Wenn jetzt nun Einer zur

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Ueberzeugung beweist, dass auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu fi nden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei : womit das Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wa h nvor s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu cor r i g i r e n im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in K u n s t umschlagen muss : a ls au f welc he es eigent l ic h, bei d iesem Mec ha n i smus, abgeseh n i st. Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin : so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern – was bei weitem mehr ist – auch sterben konnte : und deshalb ist das Bild des s t e r b e nd e n S ok r at e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, | nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen : wozu freilich, wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der M y t hu s dienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.

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Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde ; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht worden ist, n ic ht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pfl ichtgefühl empfi nden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt : ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte – der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die | Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist. Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedi-

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zin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein : so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfi nden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Form der „griechischen Heiterkeit“ und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, fi nden wird. | Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so triff t doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peri-

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pherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, d ie t r a g i s c he E r k e n nt n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen : während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die dionysischtragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde. Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart und Zukunft : wird jenes „Umschlagen“ zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des mu s i k t r e i b e n d e n S ok r at e s führen ? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt „die Gegen|wart“ nennt, in Fetzen zu reissen ? –Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach ! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss ! 16. An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie

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sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüber stellen ; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B. allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der e r l au c ht e s t e n G e g ne r s c h a f t der tragischen Weltbetrachtung reden und meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir e i ne W ie d e r g ebu r t d e r Tr a g ö d ie – und welche andere | selige Hoff nungen für das deutsche Wesen ! – zu verbürgen scheinen. Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen, welche befl issen sind, die Künste aus einem einzigen Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten z we ie r in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im

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Scheine wahrhaft zu erlangen ist : während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also z u a l le m Phy s i s c he n d e r We lt d a s M e t a p hy s i s c he , zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I p. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im „Beethoven“ feststellt, dass die Musik nach ganz anderen | aesthetischen Principien als alle bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei : obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung de s G ef a l len s a n sc hönen For men. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen ; denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können : wodurch mir ein so befremdlich eigen-

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thümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe. Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren : welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen ? Oder in kürzerer Form : wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff ? – Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I p. 309 : „Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana|logie beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehen, eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung und auch alle a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielen möglichen

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Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären, dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste Commentar dazu auftritt ; imgleichen, dass es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen : dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität | des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen : daraus also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt ; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden oder entsprechend ; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff : sie stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in der Allgemeinheit blos-

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ser Form aussagt. Denn die Melodien sind gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind ; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die abgezogene äussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstracta sind ; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem man sagte : die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber giebt die universalia ante rem, | und die Wirklichkeit die universalia in re. – Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer Composition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedne Ausdrücke desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat : dann ist die Melodie des Liedes, die Melodie der Oper ausdrucksvoll. Die vom Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein : sonst spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus ; sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach ; wie dies alle eigentlich nachbildende Musik thut“. – Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer’s, die Musik als die Sprache des Willens unmittelbar und fühlen

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unsere Phantasie angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik zu einer erhöhten Bedeutsamkeit. Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das apollinische Kunstvermögen auszuüben : die Musik reizt zum g le ic h n i s s a r t i g e n A n s c h aue n der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild i n h ö c h s t e r B e d e u t s a m k e i t hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen Beobachtung unzugänglichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung der Musik, d e n My t hu s d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und | gerade den t r a g i s c he n Mythus : den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben : denken wir uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu fi nden wisse ; und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des Tr a g i s c he n ? Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten ; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erschei-

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nung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes : der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. „Wir glauben an das ewige Leben“, so ruft die Tragödie ; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers : hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ew i g k e it d e r E r s c he i nu n g , hier siegt die Schönheit über das | dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an : „Seid wie ich bin ! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter !“ 17. Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen : nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren : ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust ; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden

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Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens ; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das e i ne Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind. | Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist : durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist ; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher als sie handeln ; der Mythus fi ndet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann : wie das Gleiche auch bei Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähnlichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie

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nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss : denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen musste ! Wir freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss. | Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben : während wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik – der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren gegenüber – nur das in schüchternem Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen entstanden ist und – zertrümmert wird. Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst : während die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird ? Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise ge-

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drängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen d e r t heor et i s c he n und d e r t r a g i s c he n We lt b e t r a c h t u n g zu schliessen ; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu | hoffen sein : für welche Culturform wir das Symbol des mu s i k t r e i b e nd e n S ok r at e s , in dem früher erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an’s Licht gekommenen Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens. Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn der My t hu s vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren at t i sc hen D it hy r a mbu s, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab : von welcher innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phäno-

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menen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, | äusserliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss des Mythischen unmöglich ist ; denn der Mythus will als ein einziges Exempel einer in’s Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens gegenüber : jedes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet ; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst : durch welche Armuth sie für unsere Empfi ndung die Erscheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine derartig musikalisch imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u. s. w. erschöpft, und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik : durch sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch die dionysische Musik die Erscheinung sich zum einzelnen Weltbilde bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes,

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als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambi|schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes alle ihre Effectstücke und Manieren. Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der C h a r a k t e r d a r s t e l lu n g und des psychologischen Raffi nements in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfi ndet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter : während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer raffi nirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen ; in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit e i ne m Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik ? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d. h.

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entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an : schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst | zu singen anfangen, recht lüderlich zu ; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen sein ? Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist in den S c h lü s s e n der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist ; am reinsten tönt vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt : denn woher sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können ? Man suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz ; der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war, erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war, gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden Geist des Undionysischen zerstört wurde : wir wissen nur, dass sie sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes Geistes, als welcher sich in jener Form der „griechischen Heiterkeit“ kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft unproductiven Daseinslust, die Rede war ; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu der herrlichen „Naivetät“ der älteren Griechen, wie sie, nach der gegebenen Charakteristik,

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zu fassen ist als die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als der Sieg, den der hellenische Wille | durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener anderen Form der „griechischen Heiterkeit“, der alexandrinischen, ist die Heiterkeit d e s t heor et i s c he n Men sc hen : sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete – dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt : „Ich will dich : du bist werth erkannt zu werden“. 18. Es ist ein ewiges Phänomen : immer fi ndet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfl iesst : um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die | edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere des

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Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Cultur nennen ; je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise s ok r at i s c he oder k ü n s t le r i s c he oder t r a g i s c he Cultur : oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will : es giebt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur. Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandri nischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t heor et i s c he n Me n s c he n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge : jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten gefunden worden ; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne Culturmensch Fau s t erscheinen, der durch alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert : „Ja mein Guter, | es giebt auch eine Productivität der Thaten“, so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theore-

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tische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu fi nden. Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser sokratischen Cultur verborgen liegt ! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus ! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt ! Man soll es merken : die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können : aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der „Würde des Menschen“ und der „Würde der Arbeit“ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind : so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und | selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.

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Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben ; während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt : haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen : bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit K a nt ’s und S c ho p e n h aue r ’s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer’schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur | eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage : deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablen-

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kungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfi ndung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in’s Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen „resolut zu leben“ : sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss : Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In’s Leben ziehn die einzigste Gestalt ?

Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugt ist : so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das Merkmal jenes „Bruches“, von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch | vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen : ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge.

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Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, u n log i s c h zu werden d. h. vor ihren Consequenzen zurück zu fl iehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth : umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze „Weltlitteratur“ zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe : er bleibt doch der ewig Hungernde, der „Kritiker“ ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet. 19. Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht schärfer bezeichnen als wenn man sie d ie C u lt u r d e r O p e r nennt : denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleich|sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina’s erhoben hatte ? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen ? Dass in der-

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selben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusikalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden au s s e r k ü n s t le r i s c he n Te nd e n z zu erklären. Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft : durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste : während er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der „Dichter“ zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu bieten weiss : an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung, | bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu defi nieren als die Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei

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so gänzlich disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. D i e s w a r a b e r n i c h t d i e M e i nu n g je n e r E r f i n d e r d e s R e c it at i v s : vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen : ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung der homerischen Welt a l s der Ur welt, dem Traume überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroff ne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper : ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art : die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen ; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch | guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaff nen Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen Menschen ankämpften : so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem

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aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen : als welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche For d e r u n g umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können. Der „gute Urmensch“ will seine Rechte : welche paradiesischen Aussichten ! Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers : eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem das Wort verstehen müsse ; so dass eine Wiedergeburt der Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über | den Contrapunkt wie der Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik, Bild und Wort behandelt ; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der unkünstlerische Mensch

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an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste ; weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Decorationskünstler in seinen Dienst ; weil er das wahre Wesen des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den „künstlerischen Urmenschen“ nach seinem Geschmack hin d. h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen : als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Process und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfi ndende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus des theoretischen Menschen dictirt. Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer id yl l i s c he n Te nd e n z d e r O p er zu sprechen : wobei wir | uns allein der Ausdrucksweise und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser Empfi ndung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlich-

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keit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreicht hatte : als von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären : nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses geführt zu werden : während er von hier aus selbständig noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen Kunstform zu einer „Wiederbringung aller Dinge“, zu einer Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen Cultur ! – einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären, dass „der Mensch an sich“ der ewig tugendhafte Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich | immer als solchen wiederfi nden müsse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt. Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen Wiederfi ndens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann : wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den

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eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste : Weg mit dem Phantom ! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutäuschen vermochte ? Von welchen Säften nährt sich dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst ? Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst  – das Auge | vom Blick in’s Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten – zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde ? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe ? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele verglichen wird ? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus ? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen

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und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen ; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen : mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte. Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst auff älligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben – welche Hoff nungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien d e n u m g e k e h r t e n P r o c e s s , d a s a l l m ä h l ic he E r w a c he n d e s d iony|s i s c he n G e i s t e s in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen ! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlaff t. Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, d ie d eut s c he Mu s i k , wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen ? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelo-

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die aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sich die Formel fi nden lassen, in deren dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen „Schönheit“, nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit ! Schönheit ! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfi ndungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen : wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler | in Acht nehmen : denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen : alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen. Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste d e r d e ut s c h e n Ph i lo s o p h ie , durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste d ionys i sc he Wei sheit bezeichnen können : wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwi-

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schen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können ? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind : nur dass wir gleichsam in u m g e k e h r t e r Ordnung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfi ndung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfi nden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht|schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen : wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir d ie W ie d e r g ebu r t d e r Tr a g ö d i e erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will ? 20. Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat ; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe’s,

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Schiller’s und Winckelmann’s dieses einzige Lob zugesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen ? So dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, | nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise entarten ; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören ; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit der „griechischen Harmonie“, der „griechischen Schönheit“, der „griechischen Heiterkeit“. Und gerade in den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem griechischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufi nden, nicht selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderen Alter-

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thümern, sich „historisch“ anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen gebildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart, wenn der „Journalist“, der papierne Sclave des Tages, jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der „leichten Eleganz“ dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen – in welcher peinlichen Verwirrung müssen die | derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher unbegriff nen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der Tragödie ? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst hasst ; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch-alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist, auslaufen konnte ! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe’sche Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite

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die Pforte von selbst aufthäte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik. Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen ; denn in ihm fi nden wir allein unsre Hoff nung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte ? Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck | fruchtbaren und gesunden Erdbodens : überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schrekkensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoff nungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer : ihm fehlte jede Hoff nung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. – Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber berührt ! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen : denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung an’s goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwermüthigen Gesange – er erzählt von den Müttern des Seins, deren Namen lauten : Wahn, Wille, Wehe. – Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an

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das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber : kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden ! Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten ! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes ! | 21. Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten schlägt : und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in’s Innerste erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten politischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen ? Ist es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können. Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht

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in’s Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf : wie diese wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden. Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten | Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische imperium ist. Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfi nden, freilich nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des Leders habe ; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tr a g ö d ie eingedenk sein ; deren höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.

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Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische | Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet : während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein und an eine höhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll vorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Freiheitsgefühle hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die höchste Freiheit giebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen ; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche. Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Sätzen vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichen Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade

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an dieser Stelle nicht ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen Erfahrung sich für die Erkenntniss des allgemeinen Satzes vorzubereiten. Bei | diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe der Musikempfi ndung anzunähern ; denn diese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen ; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von „Tristan und Isolde“ ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen ? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen ? Er sollte es ertragen, in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem „weiten Raum der Weltennacht“ zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten ? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte, ohne

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ihren Schöpfer zu zerschmettern – woher nehmen wir die Lösung solches sonderbaren Widerspruches ? | Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss würde nun aber der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die a p ol l i n i s c he Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor : plötzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich fragt : „die alte Weise ; was weckt sie mich ?“ Und was uns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie „öd und leer das Meer“. Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigen Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mit dieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe : „Sehnen ! Sehnen ! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehnsucht nicht zu sterben !“ Und wenn früher der Jubel des Horn’s nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen fast wie der Qualen höchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem „Jubel an sich“ der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschaun der höchsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem un-

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gedämmten Erguss des unbewussten Willens rettet. | Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenüber träte, als ob auch in ihr nur Tristan’s und Isoldens Schicksal, wie in einem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und bildnerisch ausgeprägt worden sei. So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen ; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn ; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und es, d u r c h d ie Mu s i k , nur noch besser und innerlicher s e he n solle. Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei ? Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wie alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbständig bewegten Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertönt uns das Nebeneinander dieser Linien in dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden Harmonienwechsel : als durch welchen uns die Relationen

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der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, | unmittelbar vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer Melodienlinie sich rein offenbare. Und während uns so die Musik zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser vergeistigtes, in’s Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte der Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere Erleuchtung zu erreichen sich abmüht ? Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen. Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben so bestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jene vorhin erwähnte apollinische T äu s c hu n g sei, durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andrange und Ueber maasse entlastet werden sollen. Im Grunde ist ja das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das umgekehrte : die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben. Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschaun der musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke giebt, die in die wahre Realität, in’s Herz der Welt führte. | Aus diesem

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Herzen heraus aber redet die Musik ; und zahllose Erscheinungen jener Art dürften an der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden nie das Wesen derselben erschöpfen, sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder sein. Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Drama nichts zu erklären und alles zu verwirren ; aber die unphilosophische Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten Gründen, nichts lernen mochten. Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg über das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutlichung des Drama’s, nutzbar gemacht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige Einschränkung hinzuzufügen : in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene apollinische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Niederzukken entstehen sehen – erreicht als Ganzes eine Wirkung, die je n s e it s a l le r ap ol l i n i s c he n K u n s t w i r k u n g e n liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht ; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung : die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische | Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weis-

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heit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren : Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus : womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. 22. Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern in’s Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch n ic ht jenes beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich | apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei ihm hervorbringen : das heisst die in jenem Anschauen erreichte Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte Welt der Bühne und verneint

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sie doch. Er sieht den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Er begreift bis in’s Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet sich gern in’s Unbegreifliche. Er fühlt die Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem d io ny s i s c he n Zauber, der, zum Schein die apollinischen Regungen auf ’s Höchste reizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen vermag. D e r t r a g i s c he Myt hu s ist nur zu verstehen als eine Verbild lichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel ; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht ; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint : In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, In des Weltathem’s wehendem All, – Ertrinken, versinken, – unbewusst, – höchste Lust !

So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine | Gestalten schaff t, in welchem Sinne sein Werk kaum als „Nachahmung der Natur“ zu begreifen wäre – wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse

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des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren : als welche Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt sie möchten überhaupt keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen ; und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten K u n s t nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merk|würdige Ahnung Goethe’s. „Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse“, sagt er, „ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die

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Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen ?“ Diese so tiefsinnige letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches Spiel sein kann : weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln : wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare’s nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der „poetischen Gerechtigkeit“ als unschuldigen Ersatz anempfehlen. So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aest het i sc he Zu hör er wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der „Kritiker“. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen „Kritikern“ | bestand aber bisher das Publicum ; der Student, der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte, und der Anruf der „sittlichen Weltordnung“ trat vikarirend ein,

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wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters : als welche Entfremdung der eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller’s Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt ; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist. | Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten ? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten : er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter „Bildung“ vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist. Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich

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zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrinauff ührung auf ihn ausübte : nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche Empfi ndung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist. 23. Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfi ndung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wu nd er empfängt : ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über|haupt befähigt ist, den Myt hu s, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt, um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig : erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet.

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Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet : und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt. Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat : man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie : man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist – das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das un|geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses ? Man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-NahrungHaschen des Hungernden – und wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in „Historie und Kritik“ zu verwandeln pflegt ? Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner

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Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können ; und das, was lange Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoff nungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen : in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther’s, als der erste dionysische Lockruf, der | aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musik danken – und denen wir d ie W ie d e r g e bu r t d e s d eut s c he n My t hu s danken werden ! Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk-

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würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbeigeführt erscheinen : mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen : wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu fi nden. Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken | vermag : denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern : womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf : man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden, ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft : aber auf

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den niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor : in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu betäuben. Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererwekkung des alexandrinisch-römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert, nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der auff älligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreiche Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung | der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der „Jetztzeit“ : als welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen heillos zu beschädigen : als welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen : wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in der siegreichen

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Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther’s ebensowohl als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein „Wiederbringen“ aller deutschen Dinge, kämpfen zu können ! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt – so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will. | 24. Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen der musikalischen Tragödie eine apollinische Täu s c hu n g hervorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist : so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten. Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer Kunst ; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen, das anschau-

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ende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive – und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht : denn dieses schien eben so | wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen ; und während es mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen. Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden werden : während die wahrhaft aesthetischen Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter den eigenthümlichen Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man übertrage sich nun dieses Phänomen des aesthetischen Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler, und man wird die Genesis des t r a g i s c h e n My t hu s verstanden haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der Verherrlichung des kämpfenden Helden : woher stammt aber jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvoll-

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sten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder, aesthetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird ? Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform er|klären : wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt : was verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden Helden vorführt ? Die „Realität“ dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade : „Seht hin ! Seht genau hin ! Dies ist euer Leben ! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr !“ Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären ? Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vorüberziehen lassen ? Ich frage nach der aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben : die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sittlich-

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Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen ? Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerecht|fertigt erscheint : in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der mu s i k a l i s c he n D i s s o n a n z : wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfi ndung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus. Sollte sich nicht inzwischen, dadurch, dass wir die Musikrelation der Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen Wirkung wesentlich erleichtert haben ? Verstehen wir doch jetzt, was es heissen will, in der Tragödie zugleich schauen zu wollen und sich über das Schauen hinaus zu sehnen : welchen Zustand wir in Betreff der künstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten, dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen. Jenes Streben in’s Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben,

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das uns immer von Neuem wieder das spielende Auf bauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Hera klit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen auf baut und wieder einwirft. | Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmerung der Anderen verbunden sein wird : wenn anders in der Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen : in der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkünstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume : aus welchem Abgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen Mythus in seligernsten Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach fi nden, in

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aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes : dann wird er Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken – und Wotan’s Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können ! Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik | glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus – und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen ! Das Schmerzlichste aber ist für uns alle – die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort – wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoff nungen verstehen werdet. 25. Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen liegt ; beide verklären eine Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt ; beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauberkünsten vertrauend ; beide rechtfertigen durch dieses Spiel die Existenz selbst der „schlechtesten Welt“. Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft : in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch ? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo : in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des

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schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen. | Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann : so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein ; dessen üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen wird. Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfi nden, wenn er einmal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte : im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache – würde er nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen : „Seliges Volk der Hellenen ! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen“ ! – Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, entgegnen : „Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling : wie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können ! Jetzt aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten“ !

Nachworte von Claus-Artur Scheier

Jenseits von Gut und Böse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft Freilich thut, um […] das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur ‚Lesbarkeit‘ meiner Schriften – […] : das Wiederkäuen … (GM, Vorrede 8)

Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist : wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriff s ‚Historie‘. Von der Etymologie und der Geschichte der Sprache her nehmen wir alle Begriffe als geworden, viele als noch werdend; und zwar so, daß die allgemeinsten Begriffe, als die falschesten, auch die ältesten sein müssen. ‚Sein‘, ‚Substanz‘ und ‚Unbedingtes‘, ‚Gleichheit‘, ‚Ding‘ –“1

Wie die Moderne sich dem alten Europa und dessen Metaphysik gegenüber herausgefordert fühlt, jede gegebene Identität als kontingent, geschichtlich geworden, veränderbar, als inszeniert zu entlarven, muß sie umgekehrt die eigne Identität im allgemeinen wie im einzelnen immer erst konstituieren.2 1 2

VII-3.38[14] (1885).

Vgl. Niklas Luhmann : Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2002 (12000), S. 73 : „Im operativen Konstruktivismus muß […] der logische Satz der Identität umformuliert werden. Er lautet dann nicht mehr ‚A ist A‘, sondern ‚wenn A dann A‘. Damit ist gesagt, daß die Identität nur in operativen Sequenzen konstituiert werden kann […]. Jede Wiederholung muß das Wiederholte identifi zieren und dabei kondensieren auf das, was aus dem vorigen Kontext übernommen wird. Und sie muß diese Identität konfirmieren, also sicherstellen, daß sie auch zu einem anderen Kontext paßt.“

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Nachworte

Die Wiederholung wird ihr darum zum integralen Bestandteil ihrer Strategien, 1843 schon hat Kierkegaards Wiederholung das indiziert. Nietzsche seinerseits orientiert sich an Schopenhauer : Die „rein erkennbare Seite der Welt und die Wiederholung derselben in irgend einer Kunst ist das Element des Künstlers“,3 und „das ‚Werk‘, das des Künstlers, des Philosophen, erfi ndet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll“ ( JGB 269). Die fünf Vorreden von 18864 sind in diesem schöpferischen Sinn die Realisierung von Zarathustras „so erzähle ich mir mich selber“,5 die Ecce Homo umfassend wiederholen wird : „Und so erzähle ich mir mein Leben.“ (EH, Vorspruch) Was schien zu tun geblieben nach dem Zarathustra ? Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe : die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der große Krieg, – die Herauf beschwörung eines Tags der Entscheidung. (EH, JGB 1)

Bereits die Morgenröthe war „ein jasagendes Buch“ (EH, FW ) und mehr noch die Fröhliche Wissenschaft; aber erst mit Also sprach Zarathustra bewältigt Nietzsche das innerste Problem des Jasagens. Es war – zunächst, wie ihm schien – nur vorläufig zu lösen, nur in Gestalt eines Mythos als Lehrgedicht 6 3

Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung [ WWV ] I, § 52, Werke [W], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd. 1, S. 353. 4 Zur Geburt der Tragödie, zu Menschliches, Allzumenschliches I und II, zur Morgenröthe und zur Fröhlichen Wissenschaft. 5 Za 3.12 : Von alten und neuen Tafeln 1. 6 Schon der Fröhlichen Wissenschaft ist ein Vorspiel in deutschen Reimen beigegeben, und vgl. IV-3.30[117] (1887) : „Wagners’s Natur macht zum Dichter, man erfi ndet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch

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in der Tradition von Parmenides, Empedokles, Lukrez und Dante.7 Daß aber Bewältigung8 nicht schon Lösung ist9 – diese Einsicht spricht Zarathustra selber aus : Wo ist Unschuld ? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. / Wo ist Schönheit ? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und untergehn will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe.10

Denn Zarathustra ist selber nur Bild : der Eine Gedanke Nietzsches umgeschaffen in den Mythos vom Schaffen als vom tätigen Jasagen. Dies Tun ist von Anfang an auch nur Eines, der „Untergang“,11 nämlich Zarathustras Verwandlung12 als die Verwirklichung des Bilds. Und wie sich im Bild namens Zarathustra der höchste Gedanke versammelt hat, kann die Versich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben : der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf“ – eine Nietzschesche Parallele zu Dantes trasumanar (Divina Commedia, III.1.70). 7 Also sprach Zarathustra ist auch ein Anti-Dante, vgl. EH, Za 6 : „dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst schaff t […]“. 8 So im Blick auf „Logik und Mechanik“ : „eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks, – kein ‚Verstehen‘, sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung“ ( VIII-1.5[16], 1886/87). 9 „Eine […] vorläufige Conception zur Gewinnung der höchsten Kraft ist der Fatalismus (ego – Fatum) (extremste Form ‚ewige Wiederkehr‘) / Um ihn zu ertragen, und um nicht Optimist [Metaphysiker] zu sein, muß man ‚gut‘ und ‚böse‘ beseitigen. / Meine erste Lösung : die tragische Lust am Untergange des Höchsten und Besten (es wird als beschränkt empfunden in Hinsicht des Ganzen) : doch ist dies Mystik in Ahnung eines noch höheren ‚Guten‘ / Meine zweite Lösung : das höchste Gute und Böse fallen zusammen.“ ( VII-2.27[67], 1884) 10 Za 2.15 : Von der unbefleckten Erkenntniss. 11 Vgl. Za : Zarathustra’s Vorrede 1 und 10 : „– Also begann Zarathustra’s Untergang.“ 12 Vgl. Za 1.1 : Von den drei Verwandlungen.

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wandlung ihrerseits nur die höchste sein : Metamorphose13 der dichterischen Bewältigung des Problems des Jasagens-zu-sich in seine wirkliche Lösung – die Verwandlung Zarathustras in den „grosse[n] Löser,“14 Lyaîos, Dionysos selbst : „Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde : wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein ! Also giebt es keine Götter. / Wohl zog ich den Schluss; nun aber zieht er mich.-“15 Die Gefahr, hier auf halbem Weg stehen zu bleiben, sich an die „höheren Menschen“ zu halten als deren Vor-Bild, vergegenwärtigt Also sprach Zarathustra. Vierter und letzter Theil, den Nietzsche als bloße Probe aufs Exempel nicht in die Ausgabe von 1887 aufnahm : [I]ch habe als ‚Versuchung Zarathustra’s‘ einen Fall gedichtet, wo ein grosser Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten […], das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat […].16

Zarathustra von sich abspenstig machen – das logische Problem des zu sich Neinsagens hatte Nietzsche am Schopenhauerschen Willen zum Leben studiert. Der Wille kann sich gar nicht verneinen, war das Resultat, weil der verneinende Wille schon ein andrer ist als der verneinte, es ist seine „Grundthat13

„Sie alle [die frühen griechischen Philosophen] besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu fi nden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden.“ (PhtZ, KGW III-2, S. 298). Vgl. GD, Streifzüge 10. 14 Za 3.14 : Von der grossen Sehnsucht. 15 Za 2.2 : Auf den glückseligen Inseln. 16 EH, Warum ich so weise bin 4. Also sprach Zarathustra I – III ist Eine in sich geschlossene Komposition von präzis kalkulierter Tektonik; Also sprach Zarathustra IV setzt mit seinen zweimal 10 Stücken auf einem dem didaktischen Plan entsprechend abgesenkten Niveau neu an.

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sache“, daß er noch als Widerwille gegen sich Wille bleibt : „er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM 3.1) Schopenhauer mußte darum seine Zuflucht bei der Askesis suchen, bei der graduellen Verneinung, Abschwächung des Willens, die Nietzsche als kulturelles Phänomen begreift und décadence nennt : „Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem der décadence, – […] ‚Gut und Böse‘ ist nur eine Spielart jenes Problems.“ (WA, Vorwort) Das emphatisch gegen den Regreß des Willens zum Nichts ins Spiel gebrachte Jasagen ist freilich nicht minder problematisch, der logische Kern derselbe, die Reflexivität. Denn das Jasagen zu sich ist eben darum nicht Jasagen zu sich selbst, das bejahte Jasagen sogleich ein anderes als das bejahende Jasagen, das identifi zierte ein anderes als das identifi zierende, die Produktion nicht identisch mit dem Produkt. Die Geburt der Tragödie hatte den Logiker aus ihrem Reich der Weisheit verbannen wollen (GT 14), aber die noch nicht als solche begriffene neue Logik des Entwurfs, die funktionale Logik der Moderne, war auch im neuen Arkadien zu Hause, Nietzsche hatte es früh geahnt : „Spiel der Gedanken, es führt / eine der Grazien dich : / o wie weidest den Sinn du mir ! – / Weh ! Was seh’ ich ! Es fällt / Larve und Schleier der Führerin / und voran dem Reigen / schreitet die grause Nothwendigkeit.“17 Wie Schopenhauers Wille zum Leben, der “an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist“,18 hatte auch die Logik des Jasagens begonnen, sich um sich selbst zu ringeln, um sich endlich in den Schwanz zu beißen.19 Zarathustras Gefahr, da zu zögern und sich zu be17 18

IV-2.25[2] (1877).

Schopenhauer : WWV I, § 28, W I, S. 217. GT 15. Vgl. GD, Streifzüge 24 : „zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst“. 19

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gnügen mit einem bloß „höheren“ Jasagen, macht nur einen relativen Unterschied gegen das Jasagen der Morgenröte und der Fröhlichen Wissenschaft. Aber seine fi nale Beschwörung : „herauf nun, herauf, du grosser Mittag !“20 hat durchaus etwas von : um jeden Preis. Und mit Jenseits von Gut und Böse und Wir Furchtlosen macht Nietzsche sich bereit, ihn zu zahlen. „Die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth – d. h. sie wird als Kunst beurtheilt“, notiert er 1872 (III-4.19[47]). Ist Also sprach Zarathustra als moderne Mythologie noch ein Nachfahre von Schellings romantischem Projekt „des absoluten Lehrgedichts oder des speculativen Epos“,21 dann präsentiert das Vorspiel einer Philosophie der Zukunft eine Welt-Konstruktion, die in unüberhörbarem Anklang an Feuerbachs Grundsätze der Philosophie der Zukunft22 unumwunden Philosophie ist, aber als Welt-Konstruktion auch keine ästhetische Beurteilung scheuen will, ja dieser sich erst eigentlich als Konstruktion erschließt. So ist Jenseits von Gut und Böse, nach dem Lehrgedicht das Lehrbuch, Nietzsches funkelndstes Werk geworden, eine „Erholung“ (EH, JGB 2) zwischen dem epischen Andante des Zarathustra und dem Tempo feroce (EH, GM) des Finales von 1888. Eine militante Erholung gleichwohl : Die Herauf beschwörung eines Tags der Entscheidung scheint dringender denn je, weil jetzt erst eigentlich legitimiert. Wohl hat die Allianz des Künstlers und des Denkers Stich gehalten, nur daß an die 20

Za 4.20 : Das Zeichen. Schelling : Philosophie der Kunst, Sämmtliche Werke [SW ], hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856 – 1861, Bd. 5, S. 667. 22 Vgl. GM 3.3 : „Man erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist : Feuerbach's Wort von der ‚gesunden Sinnlichkeit‘ – das klang in den dreissiger und vierziger Jahren Wagner’n gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die ‚jungen Deutschen‘) wie das Wort der Erlösung.“ 21

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Stelle des „Cagliostro der Modernität“23 Nietzsche selbst getreten ist und Zarathustra an die Stelle des Denkers.24 So wird das Neinsagen einerseits zur Wiederholung der Unzeitgemäßen Betrachtungen und das Buch „in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen“ (EH, JGB 2); anderseits zur Wiederholung des Wegs hinauf zu Zarathustra, wie er nach der vierten und letzten Unzeitgemäßen, Richard Wagner in Bayreuth, begonnen hatte mit Menschliches, Allzumenschliches, dessen Programm die Einteilung spiegelt.25 Die Vorreden von 1886 werden diesen Weg hinauf als die Genese eines synthetischen Ich beschreiben.26 Aber schon Jenseits von Gut und Böse ist voll von „Fingerzeigen zu einem Ge23

WA 5, vgl. V-1.6[267] (1880) : „Die Vollkommenheit eines Napoleon,

eines Cagliostro entzückt“. 24 FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei : Sils-Maria : „Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, / Jenseits von Gut und Böse […] / Da, plötzlich, Freundin ! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …“ 25 Vgl. die trotz Umstellung (2/5) und durchgängiger Reformulierung sichtbar gebliebene Korrespondenz der Titel der jeweils neun Hauptstücke plus Nachspiel/Nachgesang. In „Hauptstücke“ gegliedert sind nur Menschliches, Allzumenschliches I und Jenseits von Gut und Böse, obwohl Nietzsche sie auch für andere geplante Titel erwog. Die erste Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches I war „Dem Andenken Voltaire’s geweiht“, dem Jenseits von Gut und Böse inzwischen den Abbé Galiani vorzieht, den „tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts“ ( JGB 26, vgl. 35). 26 So schon Schopenhauer : „Die Identität […] des Subjekts des Wol lens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich‘ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich.“ (Ueber die vierfache Wurzel, § 42, W III, S. 152) Vgl. Rimbauds Brief an Georges Izambard, 13. Mai 1871 : „Es ist falsch zu sagen : Ich denke. Man sollte sagen : Man denkt mich. Pardon für das Wortspiel. / Ich ist ein anderer ( Je est un autre). So ergeht es dem Holz, das sich als Geige wiederfi ndet.“

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gensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist“ – „modern“ verstanden auf dem Stand von 1886 –, und wird so zu einer „Schule des gentilhomme“ (EH, JGB 2), zur ersten Skizze eines Systems „des synthetischen Begriffs ‚ich‘“ ( JGB 19) als der neuen Synthesis Zarathustra-Nietzsche : Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören ( JGB 20)

– das ist an Jenseits von Gut und Böse zu studieren unbeschadet der immerwachen Skepsis Nietzsches gegenüber allen Systematikern. Zum geplanten „Willen zur Macht“ wird er notieren : „Vielleicht erräth man bei einem Blick unter und hinter dies Buch, welchem Systematiker es selbst mit Mühe ausgewichen ist – mir selber …“ :27 dem Systematiker, nicht dem System : Die Philosophie „schaff t immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ‚Schaff ung der Welt‘, zur causa prima“ ( JGB 9). Hier ist der Weg hinauf : „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war : nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ ( JGB 6) – zuletzt also Psychologie : Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben : sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie28 und Entwicklungslehre des Wil27

VIII-2.11[410] (1887/88). Vgl. JGB 292 : „Ein Philosoph : ach, ein We-

sen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder ‚zu sich zu kommen‘ …“ 28 Der Terminus wurde 1800 von Karl Friedrich Burdach geprägt und sogleich von Goethe aufgenommen, von dem Nietzsche ihn erbt.

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lens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift […]- aber was liegt an uns ! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht eröff net : und der Psychologe, welcher dergestalt ‚Opfer bringt‘ – es ist nicht das sacrifi zio dell’intelletto, im Gegentheil ! – wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen. ( JGB 23)

Die Freudsche Psychoanalyse des Unbewußten und der Verdrängung (Verdichtung, Verschiebung) klopft an, aber Nietzsches Psychologie will noch nicht, soll noch nicht Wissenschaft sein, sondern „Weisheit“, die sophia in der philo-sophia – als Herrin der Wissenschaften zwar wie diese eine WeltInterpretation auf der Höhe der begriffl ichen Möglichkeiten ihres Jahrhunderts, aber im Unterschied zu ihnen allen die ihrer selbst bewußte Interpretation : Welt-Entwurf : Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen : aber jene ‚Gesetzmässigkeit der Natur‘, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten ‚Philologie‘, – sie ist kein Thatbestand, kein ‚Text‘ […]. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden ? – nun, um so besser. – ( JGB 22)

Den Schritt zur politischen Instrumentalisierung tut Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (Bd. 1, Wien 1918, Bd. 2, München 1922).

Die Geburt der Tragödie Oder : Griechenthum und Pessimismus1

In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts arbeitete der Mathematiker Gottlob Frege (*1848) in Jena eine „Formelsprache des reinen Denkens“ aus, die die bisherige Logik überhaupt revolutionieren und für das zwanzigste Jahrhundert maßgebend werden sollte. Vor allem die Ersetzung der beiden Eckpfeiler der aristotelischen Logik „Subject und Praedicat durch Argument und Function“2 eröff nete dem funktionalen Denken der industriellen Moderne die Möglichkeit, sich auch seiner bloßen Form nach als nicht länger abhängig von klassisch-metaphysischen Prämissen ins Werk zu setzen. Anfangs desselben Jahrzehnts hatte Nietzsches Entdeckung der unhintergehbaren Differenz des Apollinischen und des Dionysischen dieselbe Funktionalität ins Spiel gebracht zur Revolutionierung der „Kultur“ schlechthin – kraft der „Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens“,3 einer Kunst, jetzt und jetzt erst, die als weltverändernde Tätigkeit die alte, hinfort als bloße “Interpretation“ interpretierte ontotheologische Theorie abzulösen hatte. Dies ganz im Sinn von Marx’ 11. These über Feuerbach : „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“4 Marx parodiert Hegel, der in der Vorrede zur Phänomenologie des Gei1

In der ersten Ausgabe (mit dem „entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte“, GT, Vorwort an Richard Wagner) : Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 2 Gottlob Frege : Begriff sschrift, einer der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle a. d. Saale 1879, S. XIII. 3 GT, Vorwort an Richard Wagner. 4 Karl Marx : MEW 3, S. 7.

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stes geschrieben hatte : „Es kömmt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.“5 Hegels Subjekt war der absolute Geist, Marx’ Subjekt die Arbeiterklasse, Nietzsches Subjekt wird das „Stück Persönlichkeit“ sein, das „zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat“6 und das ihm selber, wie die letzten Schriften zeigen, zum Schicksal wurde. Nietzsche glaubte, seine Entdeckung als Altphilologe gemacht und dabei zugleich „viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen [zu] haben“ (GT 1),7 aber der klassische Philologe Hermann Usener hatte so unrecht nicht, als er bemerkte, „jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt“.8 Wissenschaftlich tot war Nietzsche de facto nicht, dazu war er bis zum Ausbruch der letzten Krankheit viel zu wach und selbstdiszipliniert, aber tot war er als Wissenschaftler und nahm es sehr bewußt in Kauf : Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein. (GT 17)

5

Hegel : Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Abs. 17, Gesammelte Werke [GW ] 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Düsseldorf 1980, S. 18. 6 PhtZ, KGW III-2, S. 295. 7 Vgl. den Brief an Friedrich Ritschl, 6. April 1872 : „ein so esoterisches und im höchsten Sinn wissenschaftliches Buch“. 8 An Erwin Rohde, 25. Oktober 1872.

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Kant und Schopenhauer waren es, die dem wissenschaftlichen Optimismus seine Grenze gewiesen hatten. Mit ihrer Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage : deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfi ndung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. (GT 18)

Freilich liest Nietzsche Kant bereits unter der Optik Schopenhauers.9 Kants „Sieg“ (wenn man so will) über den empfi ndsamen Anthropologismus des achtzehnten Jahrhunderts war ja alles andre als „der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus“ (GT 18), vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der letzten spekulativen Theodizeen des alten Europa, Hegels Wissenschaft der Logik und Schellings nur achtzehn Jahre vor der Geburt der Tragödie beendeter Philosophie der Offenbarung. Beide Systeme, das „im göttlichen Verstande“ gefundene10 wie das dialektisch sich vollziehende, gründen in jener von Freges Begriffsschrift endgültig geschleiften Logik der Beziehung von Subjekt und Prädikat. Als „transzendentale Logik“ war sie eine Logik der Welt. Denn indem die Urteile „gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception“ bringen, erscheint in ihnen das Sein in dem Sinn, in dem zuerst Heraklit vom „seienden Urteil“ (logos eôn) gesprochen hatte.11 „Darauf zielt das Verhältnißwörtchen ist in denselben, um die objective Ein heit gegebener Vorstellun9

Curt Paul Janz : Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bände, München 1981 [11978/79], Bd. 1, S. 404 : „Kant lernte er aus der Darstellung von Kuno Fischer kennen, original las er nur die ‚Kritik der Urteilskraft‘“. 10 Schelling : Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, S. 421. 11 Heraklit : B 1, in : Hermann Diels & Walther Kranz : Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 61952, 22.

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gen von der subjectiven zu unterscheiden“ :12 Etwas „ist“ – ein „Seiendes“ –, indem es als Erscheinung eine notwendige Beziehung auf die Vernunft hat. Diese „reine“ Vernunft, der lateinische intellectus, der griechische noys, war nun schon für die Welt als Wille und Vorstellung zur Sprachfunktion geworden. Indem Schopenhauer die Vernunft nämlich als Prädikat des Prädikats oder ‚Begriff des Begriffs‘ bestimmt, ist sie zersetzt in die Menge der „Vorstellungen aus Vorstellungen“, die „durch willkürliche Zeichen fi xirt und festgehalten“ werden : „dies sind die Worte“.13 Und, sekundiert Nietzsche, „Was ist ein Wort ? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“14 Konsequent also, daß Nietzsche sich an seinen, an einen modern gedachten Heraklit hält und die klassische Copula so positivistisch wie psychologistisch, aber durchaus im Sinn seines „Erziehers“ Schopenhauer, ganz wörtlich bloß als Verhältniswörtchen bestimmt.15 Dessen ontologisches Korrelat, das „Sein“, sei allenthalben als überständiges Theologumenon zu tilgen und allein noch das Werden gelten zu lassen : „es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ [das Subjekt] ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.“ (GM 1.13) „Auch hinter aller Logik […] stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Er12

Kant : Kritik der reinen Vernunft, § 19, B 141. Schopenhauer : Ueber die vierfache Wurzel, § 26, W III, S. 107 f. 14 Nietzsche : Ueber Wahrheit und Luege im aussermoralischen Sinn, KGW III-2, S. 372. 15 Schopenhauer : WWV II, Kap. 9, W II, S. 123 : „Demnach ist die Bedeutung der Kopula, daß im Subjekt das Prädikat mitzudenken sei – nichts weiter. Jetzt erwäge man, worauf der Inhalt des Infi nitivs der Kopula, ‚Seyn‘, hinausläuft.“ 13

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Nachworte

haltung einer bestimmten Art von Leben.“ ( JGB 3) Und was nützt dann noch, wird Husserl 1907 seufzen, „die Berufung auf Widersprüche“, wenn die Logik selbst in Frage ist und problematisch wird. In der Tat, die reale Bedeutung der logischen Gesetzlichkeit, die für das natürliche Denken außer aller Frage steht, wird nun fraglich und selbst zweifelhaft. Biologische Gedankenreihen drängen sich auf. Wir werden an die moderne Entwicklungstheorie erinnert, wonach sich der Mensch etwa im Kampf ums Dasein und durch natürliche Zuchtwahl entwickelt hat, und mit ihm natürlich auch sein Intellekt und mit dem Intellekt auch alle die ihm eigentümlichen Formen, näher die logischen For men.16

Die reale Bedeutung der logischen Gesetzlichkeit war dem Schopenhauer-Zögling Nietzsche schon „vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich“ (GT 15) zweifelhaft geworden und letzter Fragen würdig : „die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit“ (MA 1.11) : Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so triff t doch der edle und begabte Mensch […] auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. (GT 15)

16

Edmund Husserl : Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hg. und eingel. von P. Janssen, Hamburg 1986, S. 20 f.

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Das starrenmachende „Unaufhellbare“ ist eine Entdeckung der Moderne. Nur wenige Jahre nachdem Schelling und Hegel17 – beide im Blick auf Fichte – das Ich als den lichten Punkt im Bewußtsein bestimmt und damit zugleich den Glauben ihrer Zeit wie der klassischen Vernunft überhaupt ausgesprochen hatten, befand Schopenhauer, das Ich sei vielmehr „der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfi ndlich, der Sonnen körper fi nster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht“.18 Das logische Korrelat, das Schopenhauer als Ich jetzt nur noch interpretieren kann, ist die Differenz zwischen Funktion und Argument, die weder das eine noch das andre ist : Sie konstituiert die Logik der Funktion genau indem sie sich ihr entzieht : Schon die benannte Differenz ist nicht die Differenz, sondern die identifizierte Differenz. Was daher die moderne Logik (be)greift, ist immer nur das (von ihr selber konstituierte) Sein, nie das Werden. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, – als wir sie noch schärfen, bewaff nen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist […] 17

Schelling : System des transzendentalen Idealismus (1800), SW 3, S. 357; „Das Selbstbewußtseyn ist der lichte Punkt im ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet.“ – Hegel (Wissenschaft der Logik, Zweiter Band, Die subjektive Logik, Vom Begriff im Allgemeinen, GW 12, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Düsseldorf 1981, S. 15 – 17) : „Im Begriffe hat sich das Reich der Freyheit eröff net. […] Die Dunkelheit der im Causalverhältnisse stehenden Substanzen für einander, ist verschwunden, denn die Ursprünglichkeit ihres Selbstbestehens ist in Gesetztseyn übergegangen, und dadurch zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden […]. Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frey ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtseyn.“ 18 Schopenhauer : WWV II, Kap. 41, W II, S. 570 (Hervorh. v. mir).

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Nachworte

Noch-nicht-Wissenschaft : will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre : wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem (GD, Die Vernunft in der Philosophie 3).

Das konnte Nietzsche schon von Schopenhauer oder John Stuart Mill lernen, und das Tertium non datur zwischen „FormalWissenschaft“ und „Zeugniss der Sinne“ genügt, die spezifische Differenz zwischen der bisherigen und der zukünftigen Ästhetik als Sache einer „logischen Einsicht“ zu formulieren, die den Anfang der Geburt der Tragödie macht : Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist : in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. (GT 1)

Nietzsches ganze logische Einsicht sammelt sich in diesem Stichwort Duplizität. Es reicht hin, Logik und Welt zu scheiden – „Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist ?“ (GT 14) – und in der Logik selbst eine Leere auszumachen, eine Ungesättigtheit, in deren Sog sie sich „um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst“, geschlagen von der Paradoxie der Differenz, die einst die Domäne von Religion und Metaphysik war. Jetzt kann die Paradoxie nur noch aufgefangen werden in der Kunst, die darüber notwendig zur Weisheit reifen muß : „Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft ?“ (ebd.) Diese supplementäre Kunst ist es, und nicht die „aesthetische Wissenschaft“, die sich sogleich geltend macht in der „unmittelbaren Sicherheit der Anschau-

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ung“, daß die progressive Wirklichkeit der Duplizität die des Apollinischen und des Dionysischen sei. Deren bloße Anschauung wäre nicht viel mehr als ein Hinweis für die Ästhetik; ihre unmittelbare Sicherheit aber verdankt sich der Erfahrung des Künstlers selbst – Nietzsche verdankt sie Wagner : Uns muß es dünken, daß die Musik der Hel lenen die Welt der Erscheinung selbst innig durchdrang, und mit den Gesetzen ihrer Wahr nehmbarkeit sich verschmolz. Die Zahlen des Pythagoras sind gewiß nur aus der Musik lebendig zu verstehen; nach den Gesetzen der Eurhythmie baute der Architekt, nach denen der Harmonie erfaßte der Bildner die menschliche Gestalt; die Regeln der Melodik machten den Dichter zum Sänger, und aus dem Chorgesange projizierte sich das Drama auf die Bühne, wir sehen überall das innere, nur aus dem Geiste der Musik zu verstehende Gesetz, das äußere, die Welt der Anschaulichkeit ordnende Gesetz bestimmen […].19

Wagner konstruiert einen Schluß, worin Bildner und Musiker die bewußt gestaltenden und unbewußt hervorbringenden Extreme sind und der Dichter (Wagner hat namentlich Goethe im Blick) die ihrerseits wieder duplizitäre und also nach „Erlösung“ strebende Mitte : „Sehr ersichtlich tritt die hier gemeinte Diversität beim Bildner hervor, wenn wir ihn mit dem Musiker zusammenhalten, zwischen welchen beiden der Dichter in der Weise in der Mitte steht, daß er mit seinem bewußten Gestalten sich dem Bildner zuneigt, während er auf dem dunklen Boden seines Unbewußtseins sich mit dem Musiker berührt.“ (ebd., S. 65) Der Duplizität von apollinisch-konstruierendem Gestalten und dionysisch-organischem Hervorbringen blieb nur noch die Folie von Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechts-

19

Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14 [SSD], Bd. 9, S. 120 f.

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Nachworte

liebe“20 zu hinterschieben, und die Fortentwicklung der Kunst erscheint so durchgreifend sexualisiert wie die Knoten der Wagnerschen Musikdramen. Die Identität „des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich‘ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich“,21 war Schopenhauers Erfahrung, und der „Kern“, die „größte Koncentration“ des Willens zum Leben ist der Coitus, der in Schopenhauers radikal anthropologisierendem Denken die metaphysische Copula ersetzt : „Der Generationsakt ist der Weltknoten, indem er besagt : ‚der Wille zum Leben hat sich aufs Neue bejaht‘.“22 Was nämlich in Feuerbachs Wesen des Christentums „sozusagen a priori bewiesen wird : daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist“,23 erweist sich bereits bei Schopenhauer als der Rechtsgrund, den verlassenen Ort der alten schaffenden Natur (natura naturans) mit dem Willen zu besetzen,24 bezeichne dies Wort doch „ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehen, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei. – Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft : dagegen mache ich es 20

Vgl. Schopenhauer : WWV II, Kap. 44. Schopenhauer : Ueber die vierfache Wurzel, § 42, W III, S. 152. 22 Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, § 166, zit. n. der Ausgabe v. Eduard Grisebach, Leipzig o. J., Bd. V, S. 330 f. 23 Feuerbach : Das Wesen des Christentums, Vorwort, Abs. 11, Gesammelte Werke [GW ], hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 5, S. 7. 24 Vgl. Schopenhauer : Ueber den Willen in der Natur, Vorrede, W III, S. 171 : „Denn ausgehend vom rein Empirischen, von den Bemerkungen unbefangener, den Faden ihrer Specialwissenschaft verfolgender Naturforscher, gelange ich hier unmittelbar zum eigentlichen Kern meiner Metaphysik, weise die Berührungspunkte dieser mit den Naturwissenschaften nach und liefere so gewissermaaßen die Rechnungsprobe zu meinem Fundamentaldogma“ (Hervorh. v. mir). 21

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gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen“.25 Der Schopenhauerianer Wagner bleibt bei seinem alten Thema der Sublimierung der Liebe, wie sie von Anfang an den jungen Feuerbachianer bestimmte, der sich durch Schopenhauer nachmals nur bestätigt fi nden konnte : das Weib sei „die Erkenntniß, welche den Weg zur Erlösung eröff net“.26 Auch bei Schopenhauer schon tendiert das „Nichts“ dazu, kraft „genauester Verbindung“ mit dem „Mysticismus“ (nicht nur von Brahm oder Nirwana) die Phantasie zu entfesseln,27 „als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist“,28 und droht dadurch, sich als eine ursprünglich-produktive Kraft zu offenbaren, die das ganze Konzept einer kraft des reproduktiven Willens zum Leben sinnlos perpetuierten Welt zunichte machen würde. Wagner war ein solches Genie. Sein Werk macht die Probe aufs Exempel der Feuerbachschen Prophezeiung einer „Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen“29 werde (und die vom Rossini-Verehrer Schopenhauer nicht mehr verstanden werden durfte). So kann Wagner ein „wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes“ vorstellen,30 und Nietzsche kann auf die Allianz des Denkers mit dem Künstler drängen, um dies Paradies jetzt und hier zu verwirklichen : „Hier ist die Rose, hier tanze.“31 25

Schopenhauer : WWV I, § 22, W I, S. 165. Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre, § 166, W V, S. 282. 27 Schopenhauer WWV II, Kap. 48, W II, S. 712. 28 Schopenhauer, WWV II, Kap. 31, W II, S. 441. 29 Feuerbach : Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, Abs. 23, GW 9, S. 248. 30 Wagner : Beethoven, SSW 9, S. 115. 31 Hegel : Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, GW 14,1, hg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Düsseldorf 2009, S. 15. 26

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Nachworte

Die „sich immer wieder anbietende Befriedigung des Willens, d. i. der Lust“, hatte Schopenhauer behauptet, sei „ein stetes Hinderniß der Verneinung des Willens und eine stete Verführung zu erneueter Bejahung desselben“.32 Nietzsche hat auch hier genau hingehört : Die Lust kommt nicht hinzu als die Befriedigung des Willens – der Wille selbst ist Lust, die sich von der Reflexion 33 nicht bereden läßt, bloß ein Hindernis und eine Verführung zu sein. In der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral – abermals einer Auseinandersetzung mit Wagner – fragt Nietzsche nach der Bedeutung asketischer Ideale und verweist auf „die Grundthatsache des menschlichen Willens“ : „er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM 3.1) Eine Lust nicht nur jenseits von Gut und Böse, sondern jenseits noch der Unterscheidung von Lust und Schmerz. Die Schmerzen der Lust selbst aber sind wie die Schmerzen der Einsicht „Geburtswehen“ (MA 1.107) – die Geburt der Tragödie ist in der Tat kein bloßer Ursprung oder Entstehen : Die Fortentwicklung der Kunst ist an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen als „verschiedne[r] Triebe“ gebunden, ähnlich „wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt“. Beide Triebe reizen „sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten“, wodurch sie „mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“ (GT 1)

32

Schopenhauer : WWV I, § 68, W I, S. 505. Vgl. Schopenhauer (WWV I, § 55, W I, S. 381) : „Der Intellekt nämlich erfährt die Beschlüsse des Willens erst a posteriori und empirisch. Demnach hat er, bei einer vorliegenden Wahl, kein Datum darüber, wie der Wille sich entscheiden werde.“ 33

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Bei Schopenhauer war „das Weib […] die Erkenntniß, welche den Weg zur Erlösung eröff net“,34 wie das Kind „vom Vater den Willen, […] von der Mutter den Intellekt“ hatte.35 Indem Nietzsche im reproduktiven Willen die ursprüngliche Produktivität als solche freisetzt und und damit den Willen zum Leben in den Willen zur Macht verwandelt, muß er das Geschlechtsverhältnis umkehren und es gegen Schopenhauer und Wagner fassen wie Feuerbach : „Die Einheit von Denken und Sein. Sein ist das Weib, Denken der Mann.“36 Das männliche Denken (Zarathustra) erzieht das weibliche Sein (das Leben jetzt als die schaffende Seele) dazu, als Ariadne37 Dionysos empfangen zu können zur heiligen Hochzeit (hieròs gámos), die das Kunstwerk der Tragödie zur Welt bringt – nicht als „Einheit“, die ursprüngliche Duplizität bleibt ja als Schmerz und Geburtswehe erhalten, sondern als immer neu ins Werk zu setzende „Paarung“ : „Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz […]. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.“38 34

Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre, § 166, W V, S. 282. 35 Schopenhauer : WWV II, Kap. 44 : Metaphysik der Geschlechtsliebe, W II, S. 622. 36 Feuerbach : Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae, GW 10, S. 164. 37 Vgl. EH, Za 8 : „Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist ! …“ 38 GT 24. Mit der Rückkehr aus der „schmerzlichsten Dissonanz“ zum Grundton, heißt es bei Schopenhauer, ist „weiter nichts mehr zu machen“, weil „dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend“ (WWV I, § 58, W I, S. 417 f.).

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Nachworte

In den „vier Attentaten“ (EH, UB 2) der Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873 – 1876) wird Nietzsche diese noch unerhörte Dissonanz vernehmlich werden lassen : Sie „sind durchaus kriegerisch“ (ebd. 1).

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Jenseits und Gut und Böse erfolgt nach der ersten Ausgabe von 1886, die des Textes von Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus nach der Neuen Ausgabe von 1886 der 1872 in erster und 1874 in zweiter Auflage unter dem Titel Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erschienenen Schrift, der Nietzsche jetzt mit dem „Versuch einer Selbstkritik“ die erste seiner 1886 verfaßten Vorreden zur Neuen Ausgabe seiner Werke voranstellte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition der beiden Texte in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgaben wird in den jeweiligen Texten fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra