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German Pages 260 Year 2014
Ulrich Heinze Japanische Blickwelten
Ulrich Heinze (PD Dr.) ist Soziologe und Sasakawa Lecturer in Contemporary Japanese Visual Media am Sainsbury Institute for the Study of Japanese Arts and Cultures in Norwich, Großbritannien.
Ulrich Heinze
Japanische Blickwelten Manga, Medien und Museen im Zeichen künstlicher Realität
Gedruckt mit Unterstützung des Sainsbury Institute for the Study of Japanese Arts and Cultures www.sainsbury-institute.org
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Vorwort: die Realität der kasōgenjitsu-Kultur......................................7 1 Manga als Blick in die Geschichte 1.1 History als herstory: Wo Lord Nelson Oine Siebold trifft............11 1.2 Sprünge in die Geschichte: Entwicklungen im Zeitreisemanga....34 1.3 Reibungsloser Rückzug: otaku und hikikomori in Manga und Gesellschaft......................60 1.4 Liebe zum Tod im Manga: der narrative Ausgangspunkt.............80 2 Film, Fernsehen und Museen als Augen des postmodernen Japan 2.1 Nippons nostalgisches nationales Narrativ: Ishihara Shintarōs Kamikaze-Film ore.......................................95 2.2 Mediale Reflexivität und museale Innenwelt: zur Inszenierung von Geschichte und Gegenwart....................118 2.3 Kulturelle Besonderheiten des japanischen Medienkonsums: ein trilateraler Vergleich mit Deutschland und England..........132 2.4 Werbetexte und Bildmetaphern im Reich der Zeichen...............158 3 Japanische Medientheorien: Texte zeichnen Bilder 3.1 Yoshimi Shunya: Der semiotische Raum des modernen Tokyo...........................167 3.2 Ōsawa Masachi: Der gesellschaftliche Effekt der elektronischen Medien..........190 3.3 Okonogi Keigo: Weibliche hikikomori........................................213 3.4 Okonogi Keigo: Die Verkehrung der Realität im Zeitalter des Spielwahns…...225 Quellen Bibliographie.....................................................................................243 Bild- und Textnachweise...................................................................254
Vorwort: die Realität der kasōgenjitsu-Kultur
Die japanische Erfahrung wird im virtuellen Raum überall und jederzeit Realität: Am Ende unseres überladenen Arbeitstages hören wir alle gern den Lockruf der Leere. Die nächste Pachinko-Halle ist stets nur einen Steinwurf entfernt. Sogar der altehrwürdige sensei (Lehrer) und seine verliebte ehemalige Schülerin Tsukiko in Kawakami Hiromis Roman sensei no kaban (2000) und Taniguchi Jirōs Manga-Adaptation Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß (2011) widmen sich einmal während ihres langen Flirts gemeinsam dem sinnlosen Schicksal der kleinen Metallkugeln und tauchen ein ins Meer der starren Blicke. Diese medialen Welten verströmen den Zauber der Zeitlosigkeit. Die realen Probleme: Überarbeitung, Überalterung, Überschuldung und die Unaussprechlichkeit der Gefühle verblassen vor den Farben der kasōgenjitsu (künstlichen Realität). Sie überstrahlt sogar Fukushima und bietet jung und alt, Lehrern und Schülern, Schlipsträgern und dropouts, Genießern und Forschern, In- und Ausländern ihre zweite kommunikative Heimat. Videospiele und Fernsehserien, Manga und Anime schaffen ein süßes Refugium voller kawaii kyarakutā (süßer Charaktere), zielstrebig erobert die soft industry Köpfe und Körper, kreiert museale Erlebnisräume und entlegene Inseln der Imagination. Nirgends kann die kasōgenjitsu so passgenau andocken wie im Reich der Zeichen, nirgends wirken diese medialen Projektionen so lebensecht wie in diesem Milieu kontextueller Psychen. Im Überfluss erschafft die Postmoderne dort Blickwelten mit derselben Begeisterung und Sorgfalt wie grüne Teeblätter, papierne origami-Figuren oder hölzerne kokeshi-Puppen. Die hier versammelten Texte beleuchten zwar nur Ausschnitte aus der Welt des Manga, aus Film und Fernsehen, sowie aus der jüngeren Medientheorie Japans. Aber sie wagen sich an den Spagat zwischen unserer puren Faszination für diese Populärkultur und ihrem literarischen 7
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Rang. Sie prüfen ihre Aussagekraft für das Modell einer hochentwickelten Gesellschaft in der Dauerkrise und tasten vorsichtig nach ihrem Wesenskern. Ihre grobe Strategie ist weder empirisch noch theoriegeleitet. Sie nähern sich ihrem Gegenstand wie einem sūdoku (Zahlenrätsel): mit konsequenter Kombinatorik, praller Phantasie und irrem Risiko. Synopsis: die sūdoku-Struktur der Japanischen Blickwelten Teil 1: Manga
Teil 2: Film, Fernsehen und MedienMuseen Teil 3: Medientheorien
1. Generationen 1.1 Das alte Europa im Manga: Lord Nelsons Söhne in Trafalgar, Siebolds Tochter in Nagasaki 2.1 Der letzte Kamikaze-Film: ore (2007) von Ishihara Shintarō als nostalgischer Rückblick 3.1 Yoshimi Shunya: Die sakariba (Vergnügungsviertel) der japanischen Hauptstadt im 20. Jh.
2. Geschichte(n) 1.2 Die Zeitreise im Manga: von den alten Reichen zu den Thermen Roms, von der Meiji-Zeit zu WWII 2.2 Presseclubs als mediale Innenwelt, Anime als Medienkritik, Medien-Museen als künstliche Erlebnisräume 3.2 Ōsawa Masachi: Effekte der elektronischen Medien, „grenzenlose Direktheit“ und das Ende der Privatheit
3./4. Gegenwart 1.3 Manga für und über otaku und hikikomori 1.4 Der Tod im Manga: Visionen des Sterbens im shōnen Kosmos 2.3 Fernsehkonsum in Japan als visuelle Sucht 2.4 Text-/Bild-/KörperMetaphern in der Fernsehwerbung in Japan 3.3 Okonogi Keigo: Weibliche hikikomori 3.4 Okonogi Keigo: Die Verkehrung der Realität im Spielwahn
Teil 1 zur Welt des Manga zeichnet die Geschichte(n) des Mediums nach, seine Darstellung vergangener Zeiten und seine Ankunft in der Gegenwart. Wie die Perspektiven des westlichen Historienfilms, so hat sich auch der Blick des Manga in die Zeit über die Zeit radikal verändert. 1.1 Seit den 1960er Jahren hat der japanische Mädchenmanga Generationen von Leserinnen verzaubert. Nach dem Ende der bubble economy aber hat eine junge Kohorte von Zeichnerinnen die visuell ausladende Phase der 1970er Jahre in einen neuen Realismus überführt. Das öffnete zugleich den Blick des shōjo Manga in die frühe Geschichte des Geschlechterkampfes im 19. Jahrhundert. 1.2 Der Manga dokumentiert nicht nur Geschichte, sondern urteilt auch über seine eigene Zeit. Ihm ist die Zeitreise so vertraut wie der science fiction-Literatur oder dem Film. Längst hat er die Ideologie der Kontrolle der Zeit aufgegeben und liefert seine Charaktere Sprüngen und Brüchen aus. Radikal gräbt er sich ein in postmoderne Biographien und instabile Psychen und verzeichnet doch reflexive, heilsame Effekte. 1.3/1.4 Die gegenwärtigen sozialen Probleme sind im Manga kein Tabu. Er bietet auch den Außenseitern der japanischen Gesellschaft ihre Bühne: Zeitarbeitern, Computersüchtigen, otaku, hikikomori und Selbstmördern. Viele Manga-Narrative genießen sogar die Nähe zum Tod und erschließen so die Seele der Teenager besser als deren Eltern. 8
VORWORT
Teil 2 zu Film, Fernsehen und Medien-Museen stellt sich dem Sog der bewegten Bilder und der Flimmerkiste. Längst haben Quotendruck und Publikumsmarkt sie weggeführt von Investigation und Aufklärung, hin zu Unterhaltung und Nostalgie, Fiktion, Show und Spektakel. 2.1 Auch in Japan will die junge Generation vom vergangenen Weltkrieg nichts mehr wissen. Letzter Zeitzeuge ist der langjährige Bürgermeister von Tokyo, der Nationalist und Schriftsteller Ishihara Shintarō (80). Aber sein Kamikaze-Film ore, gedacht als Gegenstück zu Clint Eastwoods Letters from Iwo Jima, folgt derart den Designvorgaben des Nachkriegsfernsehens, dass sein Nationalismus in Nostalgie umschlägt. Auf der globalen Kinoleinwand unterliegt sein anrührendes Familiendrama gegen den blutigen Krieg auf der kargen „Schwefelinsel“. 2.2 Journalismus in Japan ist kein Enthüllungsprogramm. Schon durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts hindurch schirmten kishakurabu (Presseclubs) den politischen Betrieb vom Volke ab. Echte politische Kritik muss daher auch den Showbetrieb der Medien angehen. Doch seit den 90er Jahren inszenieren diese Medien einfach ihre eigene Geschichte, schaffen sich ihre eigenen Museen und bauen weiter am Paradies virtueller Innerweltlichkeit. Seit den 90er Jahren schießen in Japan Film-, Manga- und Anime-Museen wie Pilze aus dem Boden. 2.3/2.4 Das Fernsehen ist stets so allgegenwärtig wie die jihanki (Verkaufsautomaten) für billige Dosenlimonade. Komparatistische Reichweitenmessungen bestätigen seine imaginäre Dominanz über Musik, Sprache, Text und Hörfunk. Die Masse ist visuell fixiert, das kultivierte Radiohörertum dagegen altert und schrumpft. Wie in Deutschland und England, so festigen auch in Japan die visuellen Medien die Abläufe des Arbeitstages und die überkommenen Geschlechterrollen. Unentrinnbar ist zugleich der tägliche Ausflug in die schöne bunte Welt der Fernsehspots. Hemmungslos hat sie sich im Reich der Zeichen die Gesetze des Fernsehens angeeignet. Ihr Gebrauch eindringlicher Bildmetaphern enthüllt die Konvergenz von Schauen und Essen: Virtuelle Körper mutieren im Zeichen des sinnlichen Genusses der Warenwelt zu Prothesen der Gegenwart. Teil 3 zu japanischen Medientheorien beleuchtet die Konsumgesellschaft im Wandel der Zeit. Eine Auswahl nüchterner Texte zeichnet ein bizarres Bild von Technikaffinität und urbaner Beschleunigung in der japanischen Moderne. 3.1 Yoshimi Shunya erklärt die urbane Struktur von Tokyo im Wandel der Zeit. Vier Generationen von sakariba (Vergnügungsvierteln): Asakusa, Ginza, Shinjuku und Shinbuya, formen zusammen ein 9
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stetig wanderndes und metastatisch wucherndes Gebilde. Es schreibt sich den Körpern und Blicken seiner Bewohner ein und kulminiert in der Ähnlichkeit von Shibuya mit dem 1983 eröffneten Tokyo Disneyland. 3.2 Für die Folgezeit enthüllt Ōsawa Masachi pathogene Befunde zur japanischen Sucht nach Medienkonsum. Mehr als mit Radios und Fernsehern kann sie sich über Mobiltelefone und das Internet an den Körpern festsaugen. Zugleich schaffen diese neuen Medien eine „grenzenlose Direktheit“ der Kommunikation, welche die Privatsphäre der Gesellschaft zerstört: Mediengeschichte als regressive Wendung. 3.3/3.4 Scharfsinnig beschreibt der Psychoanalytiker Okonogi Keigo das heutige Dilemma der jungen Japaner zwischen dem abstrakten, täglichen Leistungsdruck und den Verlockungen des Konsums. Er blickt in die Seele intelligenter, lediger Frauen im Konflikt mit ihren Müttern, wenn sie als parasaito ningen (Parasiten) wieder zuhause einziehen, sowie auf die Spiel- und Netzmanie junger Männer, die ohne Orientierung neben der Karriereleiter stehen. Viele junge Leute verlieren ihren Realitätssinn und schlüpfen in die kasōgenjitsu als ewiges Moratorium. Die Materialien für die vorliegenden Untersuchungen stammen aus den Jahren 2008-2012. Die Sammlung begann mit der Einrichtung meiner Lectureship in Contemporary Japanese Visual Media an der University of East Anglia durch die Great Britain Sasakawa Foundation. Am Sainsbury Institute for the Study of Japanese Arts and Cultures in Norwich konnte ich mehrere auf Englisch erschienene Aufsätze wesentlich ergänzen und in deutscher Sprache vorlegen. Mein Dank geht an alle, die mich über diesen langen Zeitraum entlastet und ermutigt haben. Insbesondere schulde ich Anerkennung Akama Ryō, Moritz Bälz, Daniel Bielenstein, Natsue Hayward, Lenore Heinze, Catherine J. Hill, Hirano Akira, Igari Hiromi, Dagmar Humsi, Simon Kaner, Kishida Yōko, Kogawa Yūya, Koiwa Rie, Matthias Kötter, Stephen McEnally, Mizutori Mami, Regine und Winfried Mommsen, Morohashi Kazuko, Nishioka Keiko, Lucy North, Christina Plaka, Nicole Rousmaniere, Otto Sieber, Johanna Stranzinger, Penelope Thomas, Gesa Westermann, Sue Womack. Meine Nichte Fides Sieber (11) überwand souverän die Ablenkungen der digitalen Leinwand, traf den Roboter-Detektiv Gesicht in Urasawa Naokis Manga Pluto und zeichnete kurzerhand dieses schmeichelhafte Portrait. minasan, osewani narimashita ! Norwich/GB, im November 2012 Ulrich Heinze 10
1. Manga als Blick in die Geschichte
1.1 History als herstory: Wo Lord Nelson Oine Siebold trifft Die Kunstform des Manga ist, wie verzerrt, gebrochen, medialisiert oder überzogen ihre Reflexion auch immer sein mag, eng mit den Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft verwoben. Ito Kinko schreibt in seinem Aufsatz über die Geschichte des japanischen Comic: „Manga (…) spiegeln die Realität der japanischen Gesellschaft mit all ihren Mythen, Überzeugungen, Ritualen, Traditionen, Phantasien und mit ihrem Lebensstil. Sie zeichnen ausnahmslos alle sozialen Phänomene wie Ordnung und Organisation, Schichtung und Klassen, Hierarchie und Sexismus, Rassismus, Alterung etc.“ 1 Deshalb müssen wir auch die Welt des Manga mitsamt ihren zahlreichen Genres und Narrativen stets in ihrem sozialen und historischen Kontext lesen und betrachten. Ein klassisches Beispiel für die Einbettung des Manga in die japanische Gesellschaft ist der sararīman Manga, der gezielt junge Männer anspricht und von Karrierekämpfen und Beförderungsrennen beschlipster Firmenkrieger erzählt. Längst sind die sararīman Shima Kōsaku und Yajima Kintarō nationale Ikonen. Ihnen steht die Gattung des Mädchenmanga in nichts nach. Mit narrativer Phantasie und psychologischer Vielschichtigkeit fesselt er seit Jahrzehnten Mädchen, Frauen und Medienforscher. Im Jahre 1989 platzte die japanische Immobilienblase und beendete den Traum vom ewigen Wachstum. Das Land geriet in eine lange Phase der Stagnation, des Verlustes und Niedergangs. Ein „hartes“, männliches Spiel um Geld war vorerst abgepfiffen worden, seine Spieler suchten ihr Glück zwei Dekaden später in Amerika. Die „weichen“ Medien der Träume und der „soft industry“ aber, Manga und Anime, ergriffen ihre 1 Ito 2005: 456. Aus dem Englischen.
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Chance beim Schopf und begannen, mitten in der Krise die Welt zu erobern. Ihr strategischer Vorteil war ihr Ohr am Herzschlag ihrer Leser und Zuschauer, ihr hartnäckiges Erspüren von Trends, Lebensgefühlen und Befindlichkeit. Deborah Shamoon, Takahashi Mizuki, Sharalyn Orbaugh und Fujimoto Yukari haben diese wichtigste Änderung im japanischen Mädchenmanga in den 90er Jahren benannt. Zielstrebig wanderte er vom Eskapismus zum Realismus und ersetzte Träumerei durch psychologische Tiefe. Dieses Kapitel vergleicht zwei idealtypische pre- und post-bubble Mädchenmanga und verfolgt den Wandel (zweiter Ordnung) ihrer Blickrichtungen von Europa nach Japan, wie er sich schon einmal in der Geschichte (erster Ordnung) der Nation vollzog. Der Befund offenbart wichtige Entsprechungen zwischen Historie und Manga: Seinem klassischen, selbstverliebten Stil der 70er Jahre entspricht der Abschluss des feudalen Japan (sakoku, Isolation ab ca. 1680) und seine strenge Geschlechterordnung; sein neuer, weltoffener und rebellischer Stil der 90er Jahre korrespondiert mit der Wiederöffnung des Landes (kaikoku, politisch und militärisch erzwungen ca. 1860). Die Lesungen von Aoike Yasukos torafarugā (Trafalgar, 1979) und Masaki Makis shīboruto oine (Siebold Oine, 1995) zeigen, dass postbubble Mädchenmanga nicht länger von schöner, männlicher history träumen, sondern stattdessen die japanische herstory wiederentdecken. Die intelligente Tochter, die starke (alleinerziehende) Mutter, und die qualifizierte, ehrgeizige, berufstätige Frau wehren sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Machismo und kämpfen für ihre Karriere, ihre Liebe und ihr Glück. Der reife Mädchenmanga reüssiert weltweit, gerade weil er dem historischen Konflikt der Geschlechter offen ins Auge blickt.
Narrative Spiegel und Brüche im Mädchenmanga vor und nach der bubble economy Der moderne Mädchenmanga hat seinen Ausgangspunkt präzise in der Mitte der 1950er Jahre. Oshiyama Michiko verortet ihn im Übergang zwischen Tezuka Osamus (1928-1989) ritterlicher Prinzessin in ribon no kishi (Princess Knight, 1953) und Mizuno Eikos (*1939) gin no hanabira (The Silver Flowerleaf, 1956). Während Meister Tezuka sich noch auf sein nüchternes, disneyesques Astro Boy-Design verließ, entwickelte Mizuno erst den typisch visuellen Stil für verliebte Mädchen: glänzende Augen, leuchtende Tränen, wellende Haare, Blumen als Dekoration und Zeichen von Regungen sowie romantische Erinnerungen, Landschaften und Treffpunkte. Auch ersetzte er Erklärungen und Kommentare auf den Einzelbildern (panels) häufig durch direkte Blicke in die Mädchenseele: „Innenleben und Gefühle, visuell transportiert durch die veränderten 12
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Augenformen der Charaktere und durch die Landschaft ihrer Phantasie.“2 Takahashi Mizuki gibt ein weiteres Beispiel aus dem Jahre 1956: Takahashi Makoto (*1934) illustrierte ein Szenario der Schriftstellerin Hashida Sugako als Mädchenmanga und integrierte darin die ältere lyrische Form der jōjōga, die seit den 30er Jahren gern für Zeitschriftentitel benutzt worden war.3 Über die Jahrzehnte hat der Mädchenmanga die wesentlichen Entwicklungen in der japanischen Gesellschaft aufgegriffen und verstärkt. Dabei hat er verschiedene Phasen mit generischen Variationen für unterschiedliche Leserinnen- und Altersschichten durchlaufen. Da Japan seinen baby boom unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch in den 40er Jahren erlebte, schuf diese Generation namens dankai sedai auch eine riesige Nachfrage ab Mitte der 60er Jahre. Viele junge MangaKünstlerinnen debütierten damals schon als Teenager: Ikeda Riyoko, Hagio Moto, Aoike Yasuko und weitere Mitglieder der sogenannten nijūyonen gumi (Gruppe 24, geboren im Jahre Shōwa 24 = 1949). Sie alle vertraten den typischen Mädchenmangastil der 70er Jahre. Diese Künstlerkohorte zielte auf eine Gesellschaft, in der zwei Jahrzehnte stabilen Wirtschaftswachstums zwar das japanische Selbstbewusstsein gestärkt, aber zugleich auch die Geschlechterrollen streng getrennt definiert hatten. In dieser Ordnung hatten junge Frauen kaum eine andere Wahl als Heirat und Mutterschaft. Gezielt für diese weiblichen Leser konstruierte daher der klassische Mädchenmanga ein Reich aus Träumen und verlegte seine romantischen Plots in die unerreichbar, ungestörte Welt des europäischen Adels. Seine Hofgesellschaften boten ein imaginäres Asyl außerhalb Japans und jenseits der strikten Vorgaben ihrer realen Sozialisation, ohne deren Normen offen zu verletzen oder Konflikte zu provozieren. Erst nach dem Zusammenbruch der bubble economy im Jahre 1989 und im anschließenden „verlorenen Jahrzehnt“ der 90er Jahre offenbarten sich Brüche in der japanischen Wirtschaft und Gesellschaft, die auch das etablierte Genre des Mädchenmanga nicht verschonten. Zwar erforschte das etablierte Genre shōnen ai (boys’ love) weiterhin die homoerotischen Beziehungen zwischen Jungs und jungen Männern für einen wachsenden Markt. Aber zugleich entdeckte der Mädchenmanga, wie Sharon Kinsella und Sharalyn Orbaugh gezeigt haben, wieder die weibliche Lust und sexuelle Hybridität.4 Deborah Shamoon beobachtete eine neue „flatness“ oder Nüchternheit im Mädchenmanga, die seine frühere Träumerei ersetzte und ihn zurück auf den harten Boden der Tatsachen 2 Oshiyama 2007: 124. Aus dem Japanischen. 3 Takahashi 2008: 122. 4 Kinsella 1998: 313; Orbaugh 2003: 216.
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brachte.5 Die Handlungen seiner Geschichten verlagerten sich allmählich vom historischen, alten Europa ins moderne Japan. Das hat bis zum heutigen Tage auch einen wichtigen ökonomischen Vorteil: Sie streifen das Image der Traumwelt ab, erlangen Glaubwürdigkeit und Realismus und überzeugen damit auch die urbanen Käuferschichten außerhalb Japans, die Exportmärkte in Europa und Amerika. Mehr denn je ist die japanische Popkultur Teil der globalen Entwicklung. Auch in Ostasien hat das Ideal der Gleichheit der Geschlechter die männlich dominierte Arbeitswelt und sogar die Politik erschüttert und erfasst, und der japanische Mädchenmanga begleitet und spiegelt diesen Prozess der weiblichen Emanzipation in seiner Semiotik. Statt romantischer Liebesgeschichten aus einer fernen europäischen Galaxie, präsentiert er heute den frontalen Geschlechterkampf. Dieser Wandel lässt sich verfolgen in zwei typischen Beispielen aus dem Mädchenmanga, die ihre fast zeitgleichen Geschichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts entlang disparater Gesellschaftsbilder erzählen. Trafalgar von Mangaveteranin Aoike Yasuko erschien zuerst in der Zeitschrift Princess im Jahre 1979 und steht hier für den pre-bubble-Manga. Er widmet sich der homoerotischen Beziehung zweier junger Männer in der Umgebung Admiral Nelsons vor und während der Seeschlacht von Trafalgar im Jahre 1805. Siebold Oine hingegen, geschrieben von Masaki Maki im Jahre 1995, ist ein typisches Beispiel für den post-bubble-Manga und beruht auf der Biographie der Siebold Oine (1827-1903), der einzigen Tochter des Würzburger Arztes Philipp Franz von Siebold, der von 1823 bis 1829 in Nagasaki tätig war (Synopsis 1.1). Beide Manga betrachten die europäische Expansion und Modernisierung durch die Augen des japanischen Mädchenmanga und sind sogar inwendig miteinander verbunden: Mit der Schlacht von Trafalgar 1805 verlor Frankreich seine Vorherrschaft zur See an die englische Flotte. Diese Machtverschiebung machte sich bis nach Ostasien bemerkbar. Im Jahre 1808 versuchte die englische Fregatte Phaeton, zwei niederländische Frachter abzufangen, die alljährlich von Batavia, dem heutigen Jakarta, aus nach Nagasaki segelten. Obwohl diese erhoffte Beute sich nicht im Hafen befand und die Phaeton unverrichteter Dinge den Rückzug antreten musste, hatte die englische Drohgebärde doch massiven Einfluss auf die japanische Innenpolitik und ihre Entscheidung, die Isolation des Landes fortzusetzen. Das Shogunat verstärkte noch einmal seine militärische Defensive in Kyūshū und erlaubte sogar englische und französische Sprachstudien, um für den Fall weiterer Angriffe oder Verhandlungen Dolmetscher und Übersetzer auszubilden. 5 Shamoon 2008: 149.
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Im Jahre 2010 inspirierten diese Ereignisse zwei simultane, interkulturelle Rückblicke: Das Frauentheater Takarazuka in Tokyo brachte die Liebesgeschichte zwischen Lord Nelson und Lady Hamilton in Anlehnung an den Manga Trafalgar unter demselben Titel auf die MusicalBühne. Gleichzeitig beleuchtete der englische Autor David Mitchell in seinem Roman The Thousand Autumns of Jacob de Zoet die westöstlichen Beziehungen in Nagasaki zur Zeit des Phaeton-Angriffs. Mitchell zieht den Akt der Phaeton vor auf das Jahr 1800 und beschreibt auch den frühen Einfluss der westlichen Ökonomie, Astronomie und Medizin auf Japan. Im Roman verliebt sich der niederländische Kommandeur der Faktorei auf der winzigen Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki, Jacob de Zoet alias Hendrik Doeff, in die japanische Hebamme Aibagawa Orito. Sie erinnert an Siebold Oine, die erste Frauenärztin in Japan. Real kam ihr Vater Philipp von Siebold erst im Jahre 1823 nach Nagasaki, Oine Siebold kam 1827 zur Welt. Indirekt hatten Revolution, Krieg und wissenschaftlicher Fortschritt im Europa des frühen 19. Jahrhunderts massiven Einfluss auf das Japan der TokugawaZeit und führten letztlich über seine erzwungene Öffnung, wieder mit militärischem Druck zur See, zur Meiji-Restauration. Aus japanischer Sicht bedrohte die rasche Globalisierung der Zeit den inneren Frieden und die feudale Gesellschafts- und Geschlechterordnung. Synopsis 1.1: Die Manga Trafalgar und Siebold Oine im Vergleich Aspekt Beziehung zwischen Japan und dem Westen Darstellung Europas Nachkriegskontext Ideologischer Hintergrund Strategie des shōjo Manga Visual style Protagonisten und Geschlechterordnung Höhepunkt
Historische Schlussfolgerung
Trafalgar von Aoike Yasuko (1979) sakoku/ Isolation Japans Europa als entfernter Ort/ Höfische Gesellschaft als Hintergrund und setting pre-bubble: 1979 nihonjinron/ ethnische Homogenität Klassisches Subgenre shōjo: shōnen ai und Eskapismus 3D, tief, teilweise farbig Männer: Konkurrierende Brüder (oder Söhne), die einander lieben, aber auch Gewalt antun Seeschlacht und Tod Ewige Liebe Kulturelle und geschlechtliche Ungleichheit sind festgeschrieben
Siebold Oine von Masaki Maki (1995) kaikoku/ Wiederöffnung Japans Europa als wissenschaftlicher Lehrer, eng mit Japan verwandt post-bubble: 1995 gurōbaruka/ Globalisierung Neuer shōjo Manga: Realismus und Selbst-Findung 2D und „superflat“ Frau: Tochter und Alleinerziehende im Kampf gegen sexuelle Gewalt Vergewaltigung, Widerstand und Überleben Geschlechterkampf dauert an Lernen und Entwicklung erfordern gleiche Rechte für Geschlechter und Kulturen
Darüber hinaus reflektieren die beiden Manga die sozioökonomischen Brüche ihrer Handlungs- und Entstehungszeit idealtypisch: erstens die Öffnung Japans für westliches Denken und Forschen, und zweitens die 15
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interkulturelle Öffnung Japans nach dem Platzen der bubble economy. Ihre divergenten Perspektiven auf dieselbe historische Phase Anfang des 19. Jahrhunderts zielen daher genau auf die Differenz der Geschlechterrollen in Japan vor und nach dem Wirtschaftsboom. Trafalgar, geschrieben inmitten der Hochwachstumsphase, zeichnet ein Traumschloss für pubertierende Mädchen, die de facto noch dem Ideal der ryōsai kenbo (guten Ehefrau und weisen Mutter) verpflichtet waren, dem Stützpfeiler der Mädchenerziehung seit der Meiji-Zeit. Siebold Oine dagegen, geschrieben nach dem Ausbruch der Krise, bereitet seine Leserinnen auf die ushinawareta jūnen (verlorene Dekade der 90er Jahre) vor, auf gnadenlose Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und sogar auf das Schicksal als Alleinerziehende. Dieser Manga wirft auch ein neues Licht auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Japan und dem Westen und unterzieht Fremdenfeindlichkeit und Geschlechterrollen einer kritischen Prüfung. Er widmet sich also reflexiv und intensiv seiner eigenen Zeit und fordert Selbstachtung, Gerechtigkeit und Chancengleichheit.
Verästelungen im klassischen Mädchenmanga Durch die 60er Jahre hindurch war die japanische Wirtschaft stetig gewachsen, ebenso (außer 1966) die Geburtenzahlen bis hin zum Echo des ersten baby booms unmittelbar nach dem Krieg. Als in der ersten Hälfte der 70er Jahre die japanischen baby boomer (dankai sedai) ihre eigenen Familien gründeten, kam auch der klassische Mädchenmanga zur Reife. Seine Leserinnen waren noch in einer strengen, traditionellen Ordnung und Sittsamkeit aufgewachsen. Rollen- und Karrieremodelle waren strikt nach Geschlechtern getrennt, und die Lebensumstände der Mädchen und jungen Frauen waren semantisch beengt und restriktiv. Häufig erwartete sie eine frühe und vermittelte Heirat, typischerweise mit einem sararīman, und ihre Pflichten waren die der Hausfrau, Mutter und Schwiegertochter fernab der männlichen Arbeitswelt. Die meisten Ehemänner und Väter arbeiteten hart als kaisha ningen (Firmenmensch oder sogar -krieger) und waren ganztägig außer Haus. Ihre Kinder waren daher weitgehend den mütterlichen Einflüssen und Werten ausgesetzt, geschützt, verwöhnt und eingesperrt. Die träumerischen Sehnsüchte jener Mädchen in den 70er Jahren fanden daher in den berühmten Mangawerken der Gruppe 24 (Englisch: Magnificent 49ers) ihren perfekten Ausdruck. Mit Karyn Poupée und Takahashi Mizuki lässt sich diese äußerst talentierte Kohorte leicht identifizieren:6 6 Poupée 2010: 236; Takahashi 2008: 130.
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Manga-Zeichnerinnen der Gruppe 24 (Magnificent 49ers) Name und Geburtsjahr Manga Yamagishi Ryōko (*1947) Ōshima Yumiko (*1947) Ikeda Riyoko (1947) Aoike Yasuko (*1948) Satonaka Machiko (*1948) Hagio Moto (*1949) Yamato Waki (*1948) Kihara Toshie (*1948) Kimura Minori (*1949) Yamamoto, Sumika (*1949) Ichijō Yukari (*1949) Sasaya Nanae(ko) (*1950) Takemiya, Keiko (*1950)
arabesuku/Arabesque, 1971 sakurajikan/Cherry Blossom Time, 1972 berusayu no bara/The Rose of Versailles, 1972 eroikayori aiwo komete/From Eroica with Love, 1976 ashita kagayaku/Tomorrow Will Shine, 1972 tōma no shinzō/The Heart of Thomas, 1974 haikarasanga tōru/The Modern Girl Passes By, 1975 mari to shingo/Mari and Shingo, 1979 okurimono/Gift, 1974 ēsuwo nerae/Aim for the Ace, 1972 rabu gēmu/Love Game, 1973 kamome – GULL/Seagull, 1970 kaze to ki no uta/The Poem of the Wind and the Tree, 1976
Als diese Kohorte von mangaka ihre Karriere startete, produzierte sie noch für eine klar definierte Zielgruppe in einer Gesellschaft ohne ökonomische Rückschläge. In den 70er Jahren huldigte Japan noch dem Traum immerwährender Prosperität und seine Künstlerinnen träumten von weit entfernten Orten, von Europa oder frühen historischen Epochen mit Aufständen und Revolutionen als Bühne für ihre herzzerreißenden Abenteuer. Yamagishi Ryōkos Ballettmanga Arabesque (1971) und Aoike Yasukos Klassiker eroikayori aiwo komete (From Eroica with Love, 1976) um einen Kunstdieb und einen NATO-Offizier waren noch eindeutig im Kalten Krieg angesiedelt und entführten ihre Leserinnen nach Kiew, Moskau, Bonn und London. Yamato Waki geleitete sie in ihrem Werk haikarasanga tōru (The Modern Girl Passes By, 1975) wieder zurück in das Tokyo der 20er Jahre. Insgesamt aber ist die Liebe des klassischen Mädchenmanga zu den Hofgesellschaften des europäischen Adels im 19. Jahrhundert überwältigend. Hagio Motos Meisterwerk tōma no shinzō (The Heart of Thomas, 1974) führt in die fiktive deutsche Stadt Schlotterbetz, Ikeda Riyokos orufeusu no mado (The Window of Orpheus, 1975) spielt im Jahre 1903 in einem Musikkonservatorium in Regensburg an der Donau, und Takemiya Keikos kaze to ki no uta (The Poem of the Wind and the Tree, 1976) nur wenige Jahre früher in einer französische Oberschule.7 Auch visuell schwelgen diese oeuvres im typischen Stil des klassischen Mädchenmanga und ergötzen sich an Charakteren mit großen und glänzenden Augen, langen, lockigen Haaren, schönen Gesichtern, zarter Haut und sanften Gesten.8 Mädchenhafte Selbstgespräche ohne Sprech7 Auch männliche Manga-Zeichner folgen der Tradition und wählen europäische Handlungsorte, wie Tezuka Osamu in Adolf (1983) und Ludwig B. (1987) oder Urasawa Naoki in Monster (1995). Allerdings nutzen sie die Orte und ihre Atmosphären stilistisch und psychologisch in ganz anderer Weise als der Mädchenmanga. 8 Poupée 2010: 239.
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blasen schaffen einen intimen, psychischen Innenraum und geleiten die Leserinnen in die Sphäre der (platonischen) Liebesabenteuer. Verschmelzende und zerfließende Bilder unterstreichen die ausladende kawaisa (cuteness oder „Süße“) und Unschuld ihrer Helden. Wie Kinder spielen diese Manga auch mit den Kleidern und Rollen der Geschlechter und bieten einen ganzen Fächer an geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen. All diese Merkmale appellieren gezielt an junge weibliche Teenager, eingeengt im realen Leben, aber offen und frei in ihrer Vorstellungswelt. Nach Ōtsuka Eiji grenzten sich diese Mädchen damals von ihrer Gesellschaft und Nahwelt ab und flohen in ihre Schlafzimmer und in ihre exklusiven Textfestungen der kawaii bunka (culture of cuteness).9 Dort verschlangen sie Manga, befreit von den strikten Regeln ihres Alltags, und ließen sich erweichen, ihr Erwachsenwerden und ihre Lebensentscheidungen noch einmal zu verschieben. Stattdessen genossen sie noch eine Weile ihre Unmündigkeit und entzogen sich den Erwartungen von giri und on, Bindung und Verpflichtung.10 Bis heute pflegt Japan die lange dramatische Tradition des dansō no shōjo (Mädchen, die sich als Jungs verkleiden), vom TakarazukaTheater (gegründet 1913) über Tezuka Osamus Manga Princess Knight (1953) bis hin zu Watanabe Masakos (*1929) oyama no oku no monogatari (The Story from Behind the Mountain, 1960).11 Aber der Mädchenmanga ging bald über die Lust an der Verkleidung weit hinaus. Das neue Genre shōnen ai (boys’ love oder boy-boy) ließ die spielerische Dimension des dansō no shōjo in den 70er Jahren hinter sich und attackierte männliche Macht und Ordnung. So liest Matsui Midori das Psychodrama in Hagio Motos The Heart of Thomas (1974) über die homoerotischen Beziehungen zwischen vier männlichen Gymnasiasten als Herausforderung der männlichen Definition von Weiblichkeit, die scheitern muss: „Hagios Text ist hin- und hergerissen zwischen ihrem Wunsch, die imaginäre männliche Welt der Symbole zu verinnerlichen, und ihrem anderen Wunsch, den Zwängen der realen patriarchalischen Ordnung zu entkommen: durch die Leugnung von Weiblichkeit oder sexueller Differenz überhaupt.“ 12 Dasselbe Dilemma entdeckt sie in Takemiya Keikos Manga The Poem of the Wind and the Tree (1976) über die offene homosexuelle Liebe zwischen Serge und Gilbert: „Die Repräsentationen von Homosexualität in The Poem perpetuieren nur die phallozentrische Verschmelzung von Sex und Gewalt.“13 9 Ōtsuka 1989: 195. 10 Madge 1997: 162-165. 11 Oshiyama erstellt eine komplette Liste dieser dansō no shōjo-Mädchenmanga von 1953 bis 2002 mit fast 40 teils mehrbändigen Titeln. Oshiyama 2007: 85. 12 Matsui 1993: 186. Aus dem Englischen. 13 A.a.O. 187. Aus dem Englischen.
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Manga dieses Genres zogen bald Parodien nach sich und auch science fiction-Versionen, inklusive Klontechnologie, sexueller Hybridisierung und Pornographie. In der Realität natürlich träumten die meisten Leserinnen weiter von heterosexuellen Beziehungen. Das Subgenre der ikujimanga (Erziehungsmanga) bestand weiterhin auf den Segnungen der Mutterschaft in der Kernfamilie und erotisierte sogar das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn.14 Die Manga-Historikerin Yonezawa Yoshihiro nennt zwei berühmte Manga, welche beide später als Zeichentrickserien im japanischen Fernsehen liefen, als Ausgangspunkt für einen neuen Realismus und den leisen Kampf für die Gleichheit der Geschlechter: erstens Yamamoto Sumikas Sportmanga ēsuwo nerae (Aim for the Ace, 1973), der sich offen gegen den visuellen Trend seiner Zeit stellte. Er zeichnete die Tennisspielerin Oka Hiromi als reales Mädchen aus Fleisch und Blut, das ihren Erfolg auch der Hilfe ihrer vielen Freunde verdankt.15 Zweitens Ikeda Riyokos berühmter Manga The Rose of Versailles (kurz berubara, 1972) über Leben und Entourage der Dauphine Marie Antoinette am Hofe Ludwigs XV. Ihr Werk, auch visuell das einflussreichste seiner Zeit, schaltete narrativ von Eskapismus auf Konflikt, von Rückzug auf Angriff, von Unterwerfung auf Revolution. Hauptperson ist eine junge Frau, Lady Oskar de Jarjayes, Leibwache von Marie Antoinette. Sie wurde als Junge erzogen, um ihrem Vater in der Palastwache nachzufolgen, und nimmt damit die ganze Ambivalenz ihrer elterlichen Erwartungen auf sich. Aufgrund seiner Verortung in Versailles liest sich allerdings der gesamte Manga als unterschwellige politische Botschaft. Nach Anne McKnight blickt er weit über die höfischen Intrigen in Versailles hinaus und prangert auch die Armut im vorrevolutionären Paris an. Statt Marie Antoinette, der aus Österreich an Ludwig XVI. vermittelten Prinzessin, stellt er die bürgerliche Lady Oskar ins Zentrum. Nach Anne McKnight steht sie für Klassenbewusstsein und leidenschaftliche Liebe: „Nachdem sie von ihrem 14. Lebensjahr an am Hofe gedient hat, verzichtet Oskar auf ihren Titel und schließt sich dem ,Volk‘ an. Ihre neuentdeckte Solidarität wird zusätzlich geschürt durch ihre Liebe zu einem Bürgerlichen, mit dem sie aufwuchs.“16 Hier sticht die Analogie zwischen der französischen Revolution und der sexuellen Revolution, speziell der Befreiung der Frau nach (Paris) 1968 ins Auge. Oskar trifft ihre eigenen Entscheidungen und lehnt den von ihrem Vater, Gerneral Jarjayes, vermittelten Ehepartner ab. Sie beendet die homosexuelle Beziehung mit Rosalie Lamorlière und sogar die 14 Ishikawa 2007: 89. Allison 1996: 132. 15 Yonezawa 1980: 155. Yonezawa vergleicht den Manga und sein Narrativ des Wachstums und der Reifung sogar mit dem europäischen Bildungsroman (im Original deutsch). 16 McKnight 2008: 29. Aus dem Englischen.
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Affäre mit Marie Antoinettes lover Axel von Fersen. Stattdessen wählt sie André Grandier, ihren Freund aus Kindertagen. Die berühmte „Bettszene“ des Manga spielt dann am Vorabend der Revolution. Oskar findet schließlich zu sich selbst und entdeckt, dass sie eine erwachsene, keine adoleszente Beziehung wünscht. 17 Als diese erwachsene Frau stirbt sie sogar für die Revolution von 1789 (im historischen Manga) und für ihre wahre, unarrangierte Liebe (im zeitgenössischen Subtext). Miyasako Chizuru hat argumentiert, dass die Leserinnen des klassischen Mädchenmanga noch von starken Müttern dominiert und weitgehend maternellen Strukturen ausgesetzt waren. Ihr latenter Wunsch nach Unabhängigkeit schlug sich nieder als Sehnsucht nach einem westlichen, manchmal sogar christlichen Vater. Das erkläre das positive Image von Europa und europäischen Männern in diesem Genre.18 Paradoxerweise war diese radikale Liebe zu Europa der erste Schritt auf dem langen Weg zur Gleichheit der Geschlechter. Auch Kritikerin Yokomori Rika (*1963) hat diese Mädchenmanga mit der Muttermilch aufgesogen. Für sie kristallisieren sich in den boys’ love-Geschichten in Hagio Motos The Heart of Thomas und Aoike Yasukos From Eroica with Love die libidinösen Grunderfahrungen ihrer gesamten Generation. Unsere Gehirne, aufgewachsen und ernährt mit shōjo Manga, lieben einfach Jungs, die wie Mädchen aussehen, und schöne homosexuelle Charaktere (okamakei biseinen). (…) Die sexuell unreifen Mädchen haben eine neue Neigung. Anstatt den männlichen Macho, den muskulösen, haarigen, unkultivierten Mann zu hassen, verlieben sie sich in „Jungs, die schön wie Mädchen sind“ (kirei na onēsan no yō na onīsan). Aus diesem Grund sind diese Figuren so populär im shōjo manga. Oder wurden wir einer Gehirnwäsche unterzogen, um unsere Leidenschaft zu entdecken? Es ist, als würde man fragen, ob die Henne oder das Ei zuerst da waren. Aber diese Leidenschaften sind eine japanische Spezialität. (…) Außenstehende werden das wahrscheinlich nicht verstehen, aber wir sind japanische Mädchen und würden sterben für traumhafte shōjo Manga, exotische Länder, schöne westliche Männer, und weil wir unsere eigenen Körper hassen, lieben wir umgekehrt diese homosexuellen Figuren.19
Offenbar genügt dem Mädchenmanga der einfache Transvestitismus schon lange nicht mehr. Deswegen weitete er seine Sehnsüchte aus auf Europa, seine Orte, Charaktere und Geschichte(n). Das Manga-Genre shōnen ai, Gegenstück zum erotischen rorikon (Lolita complex) für Männer, präsentiert Schönlinge und lädt zum Voyeurismus ein. In diesem Sinne kombiniert Aoike Yasukos Trafalgar den klassischen Romantizismus des shōnen ai mit einem mangaesquen Blick in die Zeit der napoleonischen Kriege.
17 Shamoon 2007: 10. 18 Miyasako 1984: 240. 19 Yokomori 1996: 116, 118. Aus dem Japanischen.
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Trafalgar von Aoike Yasuko: zwei verschlungene histories Trafalgar, zuerst erschienen im Jahre 1979 in der Zeitschrift Princess, ist ein typisches Beispiel für ein bishōnen (schöne Jungs) Manga, konstruiert im Umfeld der bekannten Seeschlacht der Engländer gegen Franzosen und Spanier. Der siegreiche britische Admiral Lord Nelson (1771-1805) wurde von einem französischen Scharfschützen getroffen und starb auf dem Kommandodeck seines Schiffes, der HMS Victory, am 21. Oktober 1805.20 Allerdings steht dieser berühmte Kommandeur keineswegs im Zentrum des Manga und seiner Geschichte. Lord Nelson erscheint mit seiner Geliebten, Lady Hamilton, nur auf einer einzigen Seite und ihre gemeinsame Tochter Horatia (1801-1881) wird nicht einmal erwähnt. Stattdessen gleitet der Blick zu Nelsons Entourage: dem Marineoffizier Eugène Ladrick, Nelsons Leibwächter, und zu seinem Attentäter, Nigel Marceau. Sie spielen ihre konträren Rollen wie Brüder, die um die Aufmerksamkeit ihres Vaters konkurrieren. Wir erleben hier keinen männlichen Machtdiskurs, sondern ein sanftes Abtasten menschlicher Interaktion in der weiteren Umgebung männlicher Macht. Die Perspektive ist weiblich, fast häuslich, und erfasst ein soziales Feld, auf dem auch Frauen reden, handeln und erzählen. Die Frage ist nicht, wer an der Spitze der Pyramide steht, sondern wer mit effektiver Kommunikation und guter Diplomatie überlebt. Nicht der mächtige Herrscher fesselt als Sympathieträger, sondern der junge Marineoffizier mit den lockigen Haaren, der schüchterne und charmante Individualist, der Außenseiter in Uniform, in Reichweite der weiblichen Wahrnehmungen und Reize. Das Narrativ folgt dem altbewährten Pfad des Mädchenmanga und fokussiert auf die Freundschaft und Rivalität zwischen zwei jungen Männern, deren Lebensläufe es eng verknüpft. Als beide erst 14 Jahre alt sind und noch zusammen spielen, bricht in Frankreich die Revolution los. Räuber ermorden Eugènes Eltern und zünden sein Elternhaus an. Als ein Angreifer auch den jungen Eugène bedroht, streckt Nigel den mit einem Meisterschuss aus seiner Pistole nieder. Mit der Hilfe eines Dieners fliehen die Jungs zu Pferde, aber Nigel verliert seine Waffe. Als er abspringt, um sie zu retten, trennen sich ihre Wege für 15 Jahre. Eugène erscheint beeindruckend schön wie Nigel: hochaufgeschossen von Statur, uniformiert, tapfer und entschlossen. Kalt weist er junge Frauen zurück, die ihre Söhne oder Brüder vor dem Zwangsdienst in der 20 Die Nachricht vom Ausgang dieser Schlacht machte schnell die Runde um den Globus und bis in den Fernen Osten. Als der japanische Admiral Tōgō Heihachirō (1848-1934) die russische Flotte mit in England erlernter Seekriegstaktik in der Schlacht von Tsushima vernichtend schlug, erhielt er den Zusatznamen „Nelson des Ostens“.
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Britischen Marine bewahren wollen. Gleichzeitig akzeptiert er eine Bewerbung des 14jährigen Richard und nimmt für ihn eine Art Vaterrolle ein. Der Junge wird vor Trafalgar einen Fuß verlieren, aber seinen Traum in der Marine weiterverfolgen. Auch dieser „foot loss“ lässt sich, parallel zum „hand loss“ in anderen shōjo Manga, dem Weglassen der Finger, als ikonographischer Ausdruck intensiver Erlebnisse und starker Emotionen (Ärger, Angst, Freude oder sogar Zuneigung) lesen: als Verlust der Körperbeherrschung.21 Den Kern des Plots bildet die latente Beziehung zwischen Marineoffizier Eugène und Scharfschütze Marceau. Aoikes „Liebe bis in den Tod“-Geschichte macht die besten Freunde zu erbitterten Feinden, die sich dennoch bis zuletzt liebend respektieren: nichts Neues für die Leserinnen des shōnen ai in den 70er Jahren. In Mineo Mayas (*1953) Serie patariro! (Patalliro!), die auch im Jahre 1979 startete, verknallt sich der schöne Held, Detektiv Jack Bankolan vom Britischen MI6, genannt der bishōnen (Schönling) Killer, häufig in seine attraktiven Feinde. Aoike bedient sich also der europäischen Geschichte in einer akzeptierten, shōjoesquen Art und Weise. In ihrem Manga findet die Schlacht nicht zwischen starken Männern und Generälen statt: Villeneuve bzw. Napoleon gegen Nelson, sondern zwischen Jungs und Freunden, die sich seit ihrer Kindheit kennen und miteinander fast wie intime Partner sympathisieren. Ihre Intimität zeigt sich auch in ihrem Gebrauch des männlichen japanischen Personalpronomens ore (ich), das bis heute eher der privaten oder familiären Konversation vorenthalten ist.22 Der Krieg und die Schlacht im Hintergrund sind dabei nur dekorative Elemente für eine tragische Liebesgeschichte, die ebensogut in sararīman Kintarōs Firma Yamato Kensetsu spielen könnte. Als Romantikerin ersetzt Aoike die Geschichte (history) von Trafalgar durch zwei männliche Biographien (histories) und verknüpft sie zu einem einzigen Bildermärchen. Das beginnt mit einem ersten Flashback. Träumend sich erinnernd, gesteht Eugène: „Ich habe Marceau geliebt.“ 15 Jahre nach ihrer Trennung trifft er ihn wieder. Er entdeckt Nigel, der auf seiner geheimen Mission nach England Lord Nelson ausspäht. Aber diesmal legt der Scharfschütze noch nicht an, denn er gönnt Nelson den ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld. Der Manga kulminiert im blutigen Showdown während der Schlacht von Trafalgar. Der Franzose tötet Lord Nelson von seinem Schiff aus, der Redoutable. Der Engländer reagiert blitzschnell, schießt ihn kurzerhand von der HMS Victory aus von seinem 21 Abbott/Forceville 2011: 102. 22 Das männliche Personalpronomen ore (Ich) wird in Japan gern von Teenagern benutzt, unter Freunden oder innerhalb der Ehe und Familie, ähnlich dem boku, aber im klaren Gegensatz zu dem eher höflichen und formalen wata(ku)shi.
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Mast herunter und wundert sich über das Zögern des klar überlegenen Schützen. Eugène findet nur eine Erklärung: „Er wollte von mir getötet werden.“ Nigels letzte Kugel verwundet Eugène lediglich an der Wange wie ein flüchtiger Kuss, und die Leserinnen mögen entscheiden, ob er absichtlich verschont wurde. Trotz Aoikes sorgfältiger Wahl des europäischen 19. Jahrhunderts als Bühne und Rahmen für ihre Geschichte bleibt diese doch letztlich ahistorisch. Sie ersetzt „history“ durch zwei „hisstories“ und politische Diplomatie durch informelle Kommunikation und romantische Beziehungen zwischen zwei jungen Männern. Ihre Erinnerungen erlauben auch extreme Gefühle: Liebe, Loyalität, Hass, Verzweiflung und Rache. Unterschwellig schimmert durch, was das rigide Regelwerk der japanischen Gesellschaft der bubble economy (hier noch) im Unbewussten einschließt: Romantische Mädchenträume platzen im Pulverdampf gnadenloser elterlicher Erwartungen und sozialer Verpflichtungen. Noch gibt es nur ein vages Bewusstsein von den aufziehenden ökonomischen Problemen, keine tief sitzende existenzielle Unsicherheit und keine grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit von Intimität. Auch ist die Machtverteilung hier erstaunlich ausgeglichen und balanciert, sowohl zwischen Marceau und Ladrick, als auch zwischen Männern und Frauen. Am Ende nimmt sich Ladrick des jungen Richard Montgomery an und umarmt ihn sogar auf der letzten Seite. Richards reife, ältere Schwester, die hier für die Leserinnen steht, beobachtet beide aus der Distanz. Dieses versöhnliche Ende passt zum Mädchenmanga der 70er Jahre und schließt seine traurige, tragische und romantische Traumwelt ab. Aber nur zehn Jahre später platzte diese Traumwelt zusammen Der Schuss ins Herz der Leserinnen in Aoike Yamit der japanischen bubble sukos Manga Trafalgar: Scharfschütze Nigel economy. Das Ereignis trauMarceau trifft Admiral Lord Nelson tödlich in der Seeschlacht von 1805. Unter seinen Augen zahlt matisierte die japanische sein Leibwächter Eugène Ladrick es ihm heim. Gesellschaft, erschütterte ihr 23
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Selbstvertrauen und diskreditierte ihre Harmoniesucht. Auch der Mädchenmanga landete unsanft auf dem harten Boden dieser neuen Realität.
Brüche im Mädchenmanga nach der bubble economy Auf das Platzen der japanischen Immobilienblase im Jahre 1989 folgten zwei Jahrzehnte Stagnation und Verschuldungspolitik. Die Ernüchterung ging einher mit Gefühlen von Unsicherheit und Angst, und diese Erfahrung hatte direkte Auswirkungen auch auf die japanische Populärkultur der 90er Jahre. Ein neuer Typus des jungen Mannes geisterte plötzlich durch die Medien, der otaku, oder nerd, ein Computerfreak, süchtig, schwach, passiv, zurückgezogen und verschüchtert. Die „Generation otaku“, wie Sharon Kinsella sie nennt, wuchs in den 80er Jahren auf, wurde von der bubble frontal erwischt und erfuhr dann den normativen Zerfall und das latente Unbehagen der Nation als persönliche Entfremdung.23 Im Kontext der scheinbar homogenen japanischen Gesellschaft bekamen die otaku natürlich sofort ein negatives Image verpasst, im klaren Gegensatz zum beschlipsten sararīman, dem alteingesessenen Hauptvertreter der fernöstlichen Wirtschaftsmacht. Der Manga hat diese Veränderungen sofort seismographisch registriert. Sogar die Manga-Künstler Motomiya Hiroshi und Hirokane Kenshi (beide *1947), Väter der beiden supererfolgreichen sararīman im japanischen Männermanga: Shima Kōsaku (seit 1983) und Yajima Kintarō (seit 1994), haben ihre Helden dem neuen Druck der globalen Konkurrenz ausgesetzt.24 Aber im März 2004 verlor ihre Gattung letztlich ihre moralische Integrität im Kampf gegen die otaku im eigenen Land. Denn in der Tokyoter U-Bahn überwand densha otoko (The Train Man), ein junger otaku, seine Schüchternheit und stellte sich schützend vor eine junge Dame, die von einem betrunkenen sararīman belästigt wurde. Mehr noch: Er verbreitete seine Geschichte auf seinem Blog und wurde im Handumdrehen zu einer urbanen Legende. Die sich anschließende Liebesgeschichte zwischen einem namenlosen otaku und einer weiblichen parasaito ningen (wörtlich: parasitären Person, die immer noch bei ihren Eltern wohnt) wurde für alle visuellen Medien adaptiert und rasch auf der ganzen Welt populär. 25 Wie in allen Industrieländern bekam besonders die jüngere Generation die ökonomische Malaise zu spüren und das wachsende Krisengefühl schlug bis in die privaten Beziehungen durch. Das Heiratsalter und die Scheidungsraten sind auf das Niveau westlicher Länder gestiegen, 23 Kinsella 1998: 310, 313. 24 Matanle et al. 2008: 654-659. 25 Mitsuishi 2008: 108. S. Fußnote 89.
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die Kinderzahl pro Frau von unter 1,4 versetzt Japan in jedem Jahr einen Stich ins Herz. Elternschaft ist zu einem Risiko geworden, bindungswillige junge Leute müssen aktiv nach passenden Partnern suchen. Während die traditionelle Heiratsvermittlung omiai gerade erst überwunden schien, ist nun plötzlich das gōkon (speed dating) eine legitime Option.26 Längst ist Japan die am schnellsten alternde Nation der Welt. Während in den 90er Jahre die traditionellen Geschlechterrollen allmählich erodierten, feierte die japanische Populärkultur die Mechanisierung und Transformation des Körpers und die Kreation der transgenderoder sogar cyborg-Identität. Der Manga kōkaku kidōtai (Ghost in the Shell, 1989) von Masamune Shirow (*1961) wählte als einer der ersten diese narrative Richtung, gefolgt von Tamura Yumis (*1962) Basara (1990) und Takeuchi Naokos (*1967) Sailor Moon (1991). In diesen teilweise apokalyptischen oeuvres, eher science fiction als shōjo, erkennt Fujimoto Yukari „einen Themenwechsel vom heldenhaften Kampf starker Frauen (tatakau shōjotachi) zum täglichen Überlebenskampf Heranwachsender.“27 Auch der berühmte Anime Devil Hunter Yōko (1990) von Yamada Katsuhisa (*1948) und die Teenage-Krieger Ikari Shinji und Ayanami Rei in Anno Hideakis (*1960) Neon Genesis Evangelion (1995) kämpfen mit ihrer Pubertät, ihrer Geschlechterrolle und körperlichen Identität. Sharalyn Orbaugh nennt diese Charaktere „busty battlin’ babes“ (vollbusige Kämpferinnen) und betont, dass sie für beide Geschlechter erfunden und gezeichnet wurden.28 Diese Angleichung der Geschlechterrollen auch auf der Ebene der Konsumenten ist ein wichtiges Merkmal der Konsumgesellschaft der post-bubble-Ära. So hat auch die Entwicklung des Mädchenmanga ein neues Stadium erreicht. Noch in den 70ern und 80ern waren Träume, Launen, Wunderwelten, Geheimnisse, Infantilismus, Narzissmus und Transvestitismus noch Wege zum Glück. Aber in den 90ern wurde klar, dass diese psychologischen Strategien keine Lösungen mehr bieten. Der Mädchenmanga bewegte sich weg vom weichen Wolkenreich der Phantasie und hin zum harten Erdboden der Realität. Das Genre fand zurück zum wirklichen Leben und entdeckte damit zugleich die Reflexivität: Auch die Manga-Helden können als Individuen ihre eigene Rolle in Frage stellen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Ein neuer Typus des Manga-Helden tauchte auf: weiblich, jung, urban, alleinstehend, frustriert und kampfeslustig. Die Dimensionen ihrer Geschichten sind zugleich psychologisch und global, denn ihre Probleme sind den jungen Generationen auf der ganzen Welt vertraut. Auch die junge Generation 26 Kitamura/Abe 2007: 184. 27 Fujimoto 1998: 309. Aus dem Japanischen. 28 Orbaugh 2003: 216.
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der Manga-Zeichnerinnen zielt daher auf einen weltweiten Markt. Nakano Haruyuki nennt als Beispiel hana yori dango (Boys over Flowers, 1992), itazura na kisu (Playful Kiss, 1991) und furūtsu basketto (Fruits Basket, 1999) und führt aus: Auch außerhalb Japans gab es immer Bücher für Kinder, aber nur wenige, die ausschließlich Mädchen im Teenager-Alter ansprachen. Es gab keine Unterhaltungsgattung, die sich mit den Sorgen und Reifungsprozessen von Mädchen befasst oder sogar das Lebensgefühl einer ganzen Generation dargestellt hätten. Daher wurde der japanische Mädchenmanga im Westen aufgesogen wie Wasser in der Wüste.29
All diese Länder und Märkte teilen eine bittere ökonomische Realität, aber auch den neuen Realismus des Mädchenmanga. Aber Japan erfuhr und artikulierte die sozialen Probleme der Stagnation zwei Jahrzehnte früher als der Westen. Der globale Erfolg des Mädchenmanga verdankt sich daher auch seinem perfekten Timing. Wie die „Gruppe 49“, geboren Ende der 40er Jahre, mit großem Erfolg die Leserinnen der 70er Jahre ansprach, so genossen die Leserinnen in den 90er Jahren die Werke der Manga-Zeichnerinnen, die in den 60er Jahren geboren waren. Und auch diese Gruppe 6X formt eine talentierte Kohorte: Manga-Zeichnerinnen der Gruppe 6X Name und Geburtsjahr Manga Masaki Maki (*1960er) Kaoru Tada (1960-1999) Sasaki Noriko (*1961) Tamura, Yumi ((*1962) Yōko Kamio (*1966) Yazawa Ai (*1967) Takeuchi Naoko (*1967) Ninomiya Tomoko (*1969) Moyoco Anno (*1971) Takaya, Natsuki (*1973)
shīboruto oine/Siebold Oine, 199530 itazura na kisu/Playful Kiss, 1991-1999 dōbutsu no oishasan/The Animal Doctor, 1988-1994 basara/Basara, 1990-1998 hana yori dango/Boys over Flowers, 1992-2003 Paradise Kiss, 2000-2004, und Nana, 2000kōdo nēmuwa sēra vui/Codename Sailor V, 1991-97 nodame kantābire/Nodame Cantabile, 2001-2009 happīmania/Happymania, 1996-2001 furūtsu basuketto/Fruits Basket, 1999-2006
Fans auf der ganzen Welt übersetzen viele dieser Titel heute und stellen sie ins Internet. Ihre Heldinnen könnten überall wohnen: in Tokyo, Shanghai, London oder New York, und sie alle haben dasselbe Problem. Shigeta Kayoko in Moyoko Annos Tragikomödie happīmania (Happymania, 1996) spricht es offen aus: „How shall I find a man?“ Kayoko, 24 Jahre alt, wird bald zum „christmas cake“: Niemand will sie mehr am 25. Dezember/mit 25 Jahren. Sie schläft mit jedem männlichen Wesen, das ihr über den Weg läuft, und bereut es jedesmal in einem endlosen, narzisstischen Zyklus aus Hoffnung, Enttäuschung und Selbstzweifel. Dabei ist Sex nichts Neues im Mädchenmanga. Yonezawa Yoshihiro 29 Nakano 2009: 135. Aus dem Japanischen. 30 Ihr Verlag konnte über ihr exaktes Alter keine Auskunft erteilen.
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weist darauf hin, dass er seit den 70er Jahren ein etabliertes narratives Element ist, das häufig zwischen Teenager-Beziehungen und erwachsener, romantischer Liebe unterscheidet.31 Neben dem berühmten Stelldichein von Lady Oskar mit André nennt Fujimoto Yukari die berühmte Sexszene in Ichijō Yukaris Love Game (1973). Sie war damals schon tolerabel, weil die Liebenden keine Teenager, sondern Erwachsene waren.32 Mit Takemiya Keikos shōnen ai manga The Poem (1976) ist Sex dann zu einem populären Element, fast zu einer wichtigen kommerziellen Dreingabe in verschiedenen Manga-Genres geworden. Allerdings hat sich auch im Mädchenmanga nach der bubble der Akzent verschoben, denn der Sex ist komplizierter, ambivalenter und, siehe Kayoko, riskant geworden. Im Gegensatz zu den berühmten Szenen sexueller Gewalt in Tezuka Osamus graphic novels, in kirihito sanka (Ode to Kirihito, 1970) oder adorufu ni tsugu (Adolf, 1984), welche die kriminellen Übergriffe klar als solche darstellen und verurteilen, wird die Macht im modernen Mädchenmanga subtil und unsichtbar ausgeübt. In seinen sexuellen Kontakten beobachten wir keine starken, männlichen oder sogar sadistischen Vergewaltiger mehr wie in The Poem, sondern eher schwache, orientierungslose Teenager und Studenten, die einfach nicht nein sagen können. Als die japanischen Massenmedien in den 90er Jahren enjokōsai und Jugendprostitution diskutierten, ging es genau um diesen Mangel an Orientierung und Selbstsicherheit in der jüngeren Generation. Mangaveteran Taniguchi Jirō (*1947) hat diese psychische Disposition in sōsakusha (Die Stadt und das Mädchen, 2007) über Teenage-Prostitution im Shibuya der 80er Jahre einfühlsam beleuchtet. In aller Regel sind die Heldinnen des Mädchenmaga der 90er Jahre keine Dirnen. Allerdings leben sie in einer historische Phase der plötzlichen sexuellen und ökonomischen Liberalisierung, die sie in Einsamkeit und Verzweiflung zurücklässt. Sie müssen nun mit ambivalenten Beziehungen vorlieb nehmen und sehen ihre eigenen romantischen Bedürfnisse mit glitzernden Tränen davonfließen. Die Heldin in Yazawa Ais weltweitem Erfolg Nana hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann in einem japanischen love hotel (Stundenhotel). Makino Tsukushi in hanayori dango (Boys over Flowers, 1992) wird an ihrer Schule für den verwöhnten Nachwuchs der Oberschicht gehänselt und fast von der boy group F4 vergewaltigt. Auch Honda Tōru, die Protagonistin in Takaya Natsukis furūtsu basuketto (Fruits Basket, 1999), erduldet Ausbeutung und Demütigung als Hausmädchen bei der Familie Sōma. Kukhee Choo erklärt ihre Bereitschaft, die bescheidene Rolle der Hausmutter anzunehmen, mit ihrer typisch weiblichen Nachsicht: „Die weiblichen Cha31 Yonezawa 1980: 198-199. 32 Fujimoto 1998: 46.
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raktere ertragen Leid und viele emotionale und sogar physische Bürden. Denn sie alle verblassen hinter ihrem Wunsch, dem romantischen code, einen Mann (Männer) zu finden.“33 Plackerei und sogar sexuelle Ausbeutung sind häufig in diesen Mädchenmanga, aber so wie es keinen schützenden Gentleman mehr gibt, der einschritte, gibt es auch keinen echten Bösen mehr, der verantwortlich wäre. Die heutigen Töchter befinden sich in allen Industrieländern zusammen mit ihren Brüdern im harten Konkurrenzkampf, ökonomisch verunsichert und ungeschützt durch Ethik oder Tarifvertrag. In dieser Realität jenseits des Traums vom immerwährenden Wachstum ist der Mädchenmanga angekommen. Diese „Risikogesellschaft“ fordert und fördert keine turnusmäßige Beförderung mehr, keine lebenslange Beschäftigung oder Ehe. Die junge Generation bekommt diesen neuen, gnadenlosen Druck tagtäglich zu spüren. Deshalb gewinnt der Mädchenmanga auch verstärkt männliche Leser: Beide Geschlechter sind auf Selbstsuche, beide bezweifeln ihre realen Chancen auf Stabilität in Partnerschaft und Job. Zusammen werden die Manga-Heldinnen und Leser auf dieser Selbstsuche erwachsen. Fujimoto Yukari bringt diese Reifung auf den Punkt: Früher zeichnete der shōjo Manga die Seelen der Mädchen und heilte ihre unsichere, aufgekratzte Innenwelt. Er zeichnete ihre Träume, erfüllte ihre Sehnsüchte und bot eine Art Psychotherapie für verletzliche Mädchen. Jetzt aber akzeptiert der shōjo Manga die neue, komplexe Realität und zeichnet Mädchen (Frauen), die ihren eigenen Weg gehen wollen. Eine Generation ist herangewachsen, die auch allen Fragen in Sachen Sex und gender natürlicherweise gewachsen ist. All diese real(istisch)en Frauen stehen auf eigenen Füßen und benutzen ihren eigenen Kopf. Welche Moral und welche Vorstellung von Liebe und Sex werden sie wohl entwickeln?34
Diese neue Fokussierung auf das Selbst im Mädchenmanga erfordert auch eine enge Identifizierung mit der Heldin. Die Leser beobachten nicht länger aus der Distanz, sondern wünschen direkten Zugang zu ihrer Psyche. Seit den 1950er Jahren hat das Genre stets die Innenwelt der Mädchen erforscht, deren Selbstgespräche oft unverhüllt und ohne Denkblasen zu lesen waren. Um heute noch realistischer zu wirken, verzichtet der Mädchenmanga auf farbige Bilder von wunderbaren Schlössern oder, wie in Trafalgar, stolzen Fregatten unter vollen Segeln. Er umgeht jede räumliche Tiefe und Schichtung und bevorzugt eine Art von „flatness“, die weniger gekünstelt wirkt, ehrlich, fast billig. Die Leser sollen ihre Heldin psychologisch erkunden, nicht den Künstler be33 Choo 2008: 293. Aus dem Englischen. Sogar die starke Frau und dominante Führungsfigur Major Kusanagi in Oshii Mamorus Anime Ghost in the Shell (1995) wird von ihrem männlichen Widerpart, dem Puppet Master, geschwängert (impregnated) und gezwungen, eine neue Lebensform zu gebären. Orbaugh 2003: 222. 34 Fujimoto 1998: 76. Aus dem Japanischen.
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wundern. Murakami Takashi hat diesen Stil „superflat“ genannt: Er will den Gegensatz zwischen Oberfläche und Tiefe überwinden.35 Deborah Shamoon schlägt in dieselbe Kerbe: Während die männliche Businesswelt „restrukturiert“ wird (risutora/restructuring), entdeckt sie parallel im shōjo Manga eine „Refiguration“ (refiguring): Superflat ist (…) eine Ausdruck der Vielschichtigkeit innerhalb einer einzigen, immanenten Ebene der Existenz. Wenn heute die experimentellen shōjo Manga-Künstler diese flatness anstreben, ist das mehr als der Versuch, der generischen Tendenz in Richtung Traum und Phantasie zu entkommen. Es ist vielmehr ein Mittel, kritische Themen in einem Genre aufzugreifen, das formelhaft geworden ist.36
In diesem Sinne ist der Mädchenmanga reflexiv geworden. Er hat auch kritische Blicke auf seine eigene japanische Gesellschaft gelernt und ein realistisches Gefühl für zeitgenössische Probleme und Biographien hervorgebracht. Seine heutigen Heldinnen sind zumeist junge, aber erwachsene Frauen in ihren 20ern, und sie weinen, lachen, schreien und tratschen ihren Frust in die Welt hinaus. Die Angleichung der Geschlechterrollen geht einher mit der Angleichung der demographischen Parameter in Japan und im Westen (Alterung, Stagnation, Unsicherheit). Noch in den 70er Jahren blickte der Mädchenmanga gern in die europäische, höfische Vergangenheit. Heute blickt er in die japanische Gegenwart und globalisiert sich eben dadurch. Er spielt nicht mehr in disneyesquen Versionen von Alteuropa, sondern in der heutigen Gesellschaft. Der Mädchenmanga folgt den jungen, starken Frauen voller Sympathie und verinnerlicht dabei auch die westlichen Werte von Individualität und Unabhängigkeit. Folglich hat sich auch sein Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts verändert. Der historische Mädchenmanga musste history zur herstory umschreiben.
Masaki Makis Manga Siebold Oine: history als herstory Der berühmte Arzt Philipp Franz von Siebold (1796-1866) aus Würzburg durfte als erster Europäer in Japan westliche Medizin offiziell vermitteln. Seine Geliebte Kusumoto Taki (1807-1865), die er zu jener Zeit als Ausländer noch nicht heiraten durfte, gebar ihm 1827 seine Tochter Oine in Nagasaki. Nach seiner Anklage wegen Spionage und seiner Ausweisung im Jahre 1829 wurde sie auch dank seiner Protektion die erste Frauenärztin Japans. Zurück in Europa heiratete von Siebold Helene von Gagern im Jahre 1845 und hatte mit ihr weitere fünf Kinder. Die beiden Söhne Alexander (1846-1911) und Heinrich (1852-1908) gingen 35 Murakami 2000: 4. 36 Shamoon 2008: 149. Aus dem Englischen.
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später selbst als Diplomaten nach Japan und wären daher auch sehr geeignet gewesen als männliche Helden im Reich des Mädchenmanga. Masaki Makis Manga aus dem Jahre 1995 beschreitet jedoch einen anderen Weg. Er blickt nicht auf die Biographien der attraktiven Siebold-Brüder, um den wissenschaftlichen Einfluss ihres Vaters auf das Japan der Tokugawa-Zeit zu dokumentieren, sondern auf Oines Leben und Erfahrungen im isolierten Japan: history als herstory. Im Gegensatz zu ihren Halbbrüdern steht sie für den kontroversen Prozess der frühen japanischen Modernisierung. Er ging einher mit Umsturz und Bürgerkrieg und führte schließlich zur Wiederöffnung. Wie Japan als Nation dem politischen und ökonomischen Druck standhalten musste, den jede einzelne westliche Nation ausübte, so musste auch Oine kämpfen für ihren Zugang zu westlichem Wissen, für ihr Sprach- und Medizinstudium. Oine hatte einen westlichen Vater und ihr Haar war daher nicht pechschwarz. Auf den ersten Seiten des Manga wird sie bereits als ai no ko (Mischling) gehänselt. Sie schlägt zurück. Die Leute tuscheln hinter ihrem Rücken über ihre rötlichen Haare, aber sie entscheidet sich tapfer, mit dem Studium der westlichen (holländischen) Sprache und Wissenschaft (rangaku) zu beginnen. Ihre Mutter will sie davon abhalten und gibt zu bedenken, dass sie als ai no ko keinen Ehemann finden werde. Aber sie bleibt standhaft wie eine junge Japanerin von heute und zieht die akademische und medizinische Ausbildung jeder arrangierten Heirat vor. Einen Unterstützer und Freund findet sie in dem Arzt Ninomiya Keisaku, einem früheren Schüler ihres Vaters. Von ihm lernt sie das medizinische Grundwissen. Sie arbeitet als praktische Ärztin und behandelt Kinder ebenso wie skeptische Samurai mit Schwertwunden, bis Ninomiya sie zu dem Chirurgen Ishii Sōken (1796-1861) schickt. Er besteht darauf, sie genauso zu behandeln wie seine männlichen Schüler, die allerdings aus ihrer Verachtung für Oine keinen Hehl machen. In einer wenig femininen Geste hämmert sie mit ihren Händen auf die Tatamimatten und ruft eindringlich: „yoroshiku onegai itashimasu! (Bitte bleiben Sie mir geneigt!)“ Als sie einer Patientin Geld leiht, damit diese sich eine verschriebene Medizin leisten kann, weist Ishii sie erneut zurecht. Sie aber besteht auf ihrem Recht: „Es war mein Geld. Das geht Sie nichts an.“ Siebold Oine ist 170 Jahre älter als Shigeta Kayoko und Makino Tsukushi, ihre fiktiven Schwestern im Mädchenmanga der 90er Jahre. Aber sie teilt doch wesentliche Erfahrungen mit ihnen, inklusive sexueller Gewalt. Als sie ihre Mutter Taki, die sie besucht hat, zurück zum Hafen begleitet, wo das Schiff nach Nagasaki wartet, entdeckt sie Ishii Sōken auf ihrem Boot. Obwohl er so alt ist wie ihr Vater, berührt er sie unsittlich und fordert sie auf, ihn zu heiraten. Sie lehnt ab und zieht ih30
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ren Dolch aus ihrem Gewand, kann sich aber seinem Angriff nicht widersetzen (dieser Gewaltakt ist trotz ernsthafter Verdachtsmomente nicht historisch verbürgt). Ishii demütigt sie sadistisch, sodass sie ernsthaft daran denkt, ihr Leben zu beenden und in einen Fluss zu springen. Als jedoch eine schwangere Frau ihre Hilfe braucht, zögert sie keine Sekunde, ihrer Berufung als Ärztin nachzugehen. Rasch begleitet sie die werdende Mutter nach Hause, weist den Blicken der männlichen Gaffer die Tür und verhilft als Hebamme der Mutter zu einem gesunden Kind. Mit frischem Mut und Selbstvertrauen wirft sie auch Ishii Sōken aus ihrem Leben. „Wollte er nur Siebolds Blut?“ fragt sie sich selbst, als sie schließlich ihren Dienst bei ihm quittiert. Im Jahre 1852 bringt sie ihre Tochter Tada (oder Takako, 1852-1938) zur Welt und denkt bei sich: „Das ist allein mein Kind.“ Obwohl sie alleine erzieht, arbeitet sie weiter an ihrer Karriere und überwindet alle weiteren Hindernisse. Nachdem Schon als Hebamme bringt die schwangere Siebold Oine ein gesundes Kind zur Welt. Manga-Zeichnerin sie ihren Vater im Jahre Masaki Makis erzählt in ihrem Werk Oines Leben als 1859 noch einmal als Vorgeschichte zur Wiederöffnung (kaikoku) Japans. Diplomat in Japan begrüßt und wiedergesehen hat, geht sie als Leibärztin der Kaiserin nach Tokyo. Zurückblickend auf ein erfülltes Leben, stirbt sie im Jahre 1903 im hohen Alter in Azabu. Sie ist in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, hat die westliche Gynäkologie in Japan verbreitet und sogar in Tsukiji die erste Hebammenschule des Landes gegründet. Dieser Manga eröffnet eine völlig neue Perspektive auf die japanische Geschichte der Isolation (sakoku) und Wiederöffnung (kaikoku). Während der bubble economy, als Theorien der ethnischen Homogenität (nihonjinron) noch populär waren, neigte sogar der Mädchenmanga zu einem verklärenden, sich abgrenzenden Blick auf Europa und den Westen. Sein Phantasiereich erlaubte eben keine dialektische oder bilaterale Annäherung an die andere Kultur. Noch sah sich Japan als ökonomisch stark, unabhängig, und kulturell einzigartig. Noch gab es kein Internet, 31
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noch schien auch die Migration nach Japan unter Kontrolle. In dieser stabilen Welt arbeiteten die Frauen zumeist zuhause, als Hausfrauen und Mütter, und der Mädchenmanga bot nur gelegentliche träumerische Eskapaden. Erst nach dem Platzen der bubble, mit der fortschreitenden Globalisierung und dem Anschluss Japans an die immensen Verkehrsund Informationsnetze kam sogar die Ideologie ethnischer Homogenität unter Druck. Schließlich wichen auch die überkommenen Vorstellungen von Geschlechterrollen den modernen, scheinbar universellen Idealen von Gleichheit und individueller Freiheit. Im Zuge dieser Entwicklung änderte auch der Manga seinen Blick in die Geschichte. Der klassische Mädchenmanga hatte das Europa des 19. Jahrhunderts noch als Bühne für japanische Charaktere benutzt und dadurch alle Konflikte mit der japanischen Gesellschaft und Kultur selbst umschifft. Mit einer Haltung typisch für die pre-bubble-Zeit hatte er sich eine geschlossene Innenwelt geschaffen, welche der historischen Isolation des Landes noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genau entsprach. Erst der rezente Mädchenmanga der post-bubble-Zeit hat die Öffnung Japans auf semiotischer Ebene nachgeholt und sich in einem globalen, kulturellen Nexus eingefügt. Da Oines Lebensspanne genau diesen Prozess der Öffnung Japans abdeckt, bietet sie zugleich die ideale Fläche für die Umschrift der verschlungenen Geschichte der Beziehungen zwischen Japan und dem Westen. Japan wird hier buchstäblich als eine moderne Nation wiedergeboren, mit Oine als ihre Hebamme. So wird sie neben ihren Mangaschwestern im Geiste zum „battlin’ babe“, zur Kämpferin in ihrer Lebenszeit und in unserer Gegenwart. Als moderne Japanerin streitet sie erfolgreich gegen Rassismus und sexuelle Gewalt, für die Gleichberechtigung der Kulturen und Sprachen in der Wissenschaft und für die Gleichheit der Geschlechter. Die beiden Manga Trafalgar und Oine repräsentieren idealtypisch die entgegengesetzten Pole des shōjo. Sie führen von der pre-bubble- zur post-bubble-Zeit, von Europa nach Japan, vom Helden zur Heldin, von der history der männlichen Kriegshandlung zur herstory der sozialen Emanzipation. Dieser Reifungsprozess des Mädchenmanga zeigt sich auf allen Ebenen: narrativ, im visuellen Design und in ihrer jeweiligen Geschlechterordnung. Noch im Jahre 1979 war die Schlacht von Trafalgar von 1805 der ideale Hintergrund für einen shōnen ai Manga mit homoerotischem Unterton. Trafalgar erwähnt nicht einmal Nelsons Tochter und knüpft seine Geschichte stattdessen an zwei Männer oder Söhne: Nelsons Leibwächter und seinen Todesschützen. Der Manga beobachtet Europa noch aus seiner sicheren Entfernung oder Isolation (sakoku) und genießt so die japanische Autonomie während der bubble economy. Im Jahre 1995 aber ist die Blase geplatzt, Unsicherheit hat sich breit ge32
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macht, und die Geschlechterordnung bröckelt. In diesem Kontext ehrt Masaki Makis meisterlicher Manga die Hebamme Oine Siebold und betont ihren unschätzbaren Beitrag zur Öffnung Japans (kaikoku) und zur Geburt der modernen Nation. Die Titelseite des Manga nennt sie sogar eine pawāfuru jinbutsu (machtvolle Persönlichkeit) und stellt sie in eine Reihe mit dem ukiyoe-Künstler Katsushika Hokusai und dem Intellektuellen Yoshida Shōin. Dieser erweiterte, offene Blick hat dem Mädchenmanga auch die Türen des globalen Marktes aufgestoßen. Er ist längst zum japanischen Exportschlager geworden und zeichnet zugleich die gegenwärtige japanische Gesellschaft (aus). Sie muss nicht länger an der Ideologie der substanziellen kulturellen oder nationalen Identität (nihonjinron) festhalten. Vielmehr teilt Japan heute seine Krisenerfahrung, aber auch seine beispielhafte Transkription von history in herstory mit vielen anderen Nationen. Indem sein Mädchenmanga diese realen Probleme ohne Verzerrungen zeichnet, gelangen junge Frauen weltweit zu seiner Ansicht und erlangen wieder die Kontrolle über den Text ihres Lebens.
Danksagung Dieses Kapitel beruht auf einem Vortrag in Norwich, Norfolk, am 21. Oktober 2010, exakt 205 Jahre nach der Schlacht von Trafalgar, unterstützt von der Great Britain Sasakawa Foundation. Der Vortrag sollte auch die Verdienste Lord Admiral Nelsons würdigen, der in Norwich zur Schule ging und dessen Statue zusammen mit der von General Arthur Wellington vor der Kathedrale steht. Ein weiterer Vortrag zu den historischen Verdiensten Siebold Oines fand am 19. August 2011 an gleicher Stelle statt. Titel: Oine Siebold in Nagasaki - Midwifery and the Birth of the Japanese Nation.
Manga Aoike, Yasuko (1986) torafarugā (Trafalgar). Tokyo: Akita Shoten (Zuerst veröffentlicht 1979 in der Zeitschrift Princess). Masaki, Maki (1995) shīboruto oine (Siebold Oine). Tokyo: Kusachi Bunka.
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1.2 Sprünge in die Geschichte: Entwicklungen im Zeitreisemanga Wurmlöcher, time warps und Raumzeitverschiebungen sind perfekte Turbulenzquellen für Narrative aller Genres der textuellen und visuellen Kunst. Nachdem H.G. Wells im Jahre 1895 den Zeit-Raum mit der Zeitmaschine auch narrativ erschlossen hatte, wurde die Zeitreise im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem äußerst erfolgreichen und populären Element der science fiction-Literatur und ihrer visuellen Ausläufer. Einer der Gründe für ihre Ubiquität ist ihre mediale und generische Flexibilität. Zeitreisen passen zu Romanen und Filmen, Manga und Fernsehserien, sie faszinieren alle Altersgruppen, Geschlechter und Kulturen. Die Liste von Zeitreise-Texten ist endlos. Dieses Kapitel betrachtet die Entwicklungsphasen des Zeitreisenarrativs in einer Auswahl japanischer Manga seit den 50er Jahren. Sie sind keineswegs japan- oder kulturspezifisch, denn im Vergleich mit der westlichen Kulturindustrie lassen sich, nicht zeitgleich, aber parallel, entsprechende Film- und Fernsehproduktionen ausfindig machen (Synopsis 1.2). Die Analyse zeigt zwei divergierende Muster im japanischen Zeitreisemanga, welche teilweise auf westlichen Vorlagen beruhen oder sie mit einer gewissen Verzögerung nachahmen. Auf das Motiv der technischen Zeitkontrolle, typisch für das Selbstbild der Nachkriegsmoderne, folgt in der Postmoderne das Motiv der Selbstentdeckung oder Selbstverwirklichung, typisch für die Ära der Krise und Restrukturierung. Diese beiden Motive verbindet die Rückbesinnung auf die Geschichte, der retrospektive Blick, die Nachforschung und Klärung der Vergangenheit. Der Zeitreisemanga bewegt sich also weg von der spektakulären, makrologischen, technologischen Eroberung des Raumes und des Alls und hin zur mikrologischen Betrachtung individueller Schicksale, zur Revision einzelner Biographien. Logischerweise entwickeln sich diese beiden Motive nicht in strenger Abfolge und wechseln nicht abrupt, sondern sie verschmelzen, verschwimmen und gehen ineinander über. Um die Komplexität des Themas zu reduzieren, werden nur Manga, Fernsehserien und Filme untersucht, mit Ausnahme von Yasutaka Tsutsuis Roman. Die Auswahl der Texte spiegelt daher sowohl die narrative Entwicklung, als auch ihre teilweise Asynchronität. Visuell nimmt das Zeitreisenarrativ zur Zeit der ersten Mondflüge Fahrt auf. In dieser Anfangsphase können die Helden dank ihrer technologische Kontrolle der Zeit ihre Mission in der Zukunft oder Vergangenheit erfüllen. Sie meistern die Herausforderung des Chronos in den amerikanischen Fernsehserien Star Trek (1966-69) und Time Tunnel (1966-67) und siegen schließlich, in einer ultimaten Fassung, in den 34
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Terminator-Filmen (1984-2009). In Japan steht Tezuka Osamus Hauptwerk, der über Jahrzehnte produzierte Manga hi no tori (Phoenix, 19541957 und 1967-1986) für ein modernistisches Konzept der Zeit. Sein narratives Muster bindet die zahlreichen, in sich abgeschlossenen Bände und Geschichten aus Zukunft und Vergangenheit mit dem unsterblichen Feuervogel aneinander. Die Vogeldame überlebt, überspringt Äonen und verleiht dem komplexen Konstrukt des Werkes daher erst Aussage und Struktur. Seit den 60er Jahren verbreiten sich Zeitreisegeschichten weltweit auch in Filmen, Anime und Manga für Kinder, mit Doctor Who (1963-) in Großbritannien oder doraemon (1969-96) in Japan. Phase zwei markiert den Übergang zur Postmoderne und nutzt die Zeitreise zu einer Expedition in die Geschichte sowie zu einer persönlichen, nicht etwa politischen oder militärischen, Erfahrung der Vergangenheit. Die Helden üben keine Kontrolle mehr über ihre Reise als Techniker oder Soldaten aus, sondern werden unversehens in die Zeit hineingesogen. Sie zögern, in den Lauf der Geschichte einzugreifen, und müssen zunächst mit ihrem Kontrollverlust umzugehen lernen. Gleichzeitig liefert ihnen ihre Reise jene Informationen und Erfahrungen zur Vergangenheit, welche ihnen hilft, sie zu überwinden, zu bewältigen und hinter sich zu lassen. Die Filme The Final Countdown (1980) und Back to Future (1985) sind typische Beispiele für Amerika, für Japan zu nennen sind Kawaguchi Kaijis Manga zipang (2001) und Murakami Motokas Manga JIN (2001). Diese Zeitreisen eröffnen wichtige neue Perspektiven auf die Meiji-Zeit und den Zweiten Weltkrieg, und ihre Passagiere erlangen, statt die turbulenten Ereignisse jener Zeit mannhaft zu manipulieren, wichtige Erkenntisse über die und aus der Geschichte. Ihre Narrative lösen und befreien sich von der traditionellen, modernen Eroberung und Kontrolle des Raumes und der Zeiträume. In Phase drei erreicht die Zeitreise die reflexive Postmoderne und wendet ihren Blick nach innen. Anthony Giddens formuliert: „The reflexivity of modernity extends into the core of the self. Put in another way, in the context of the post-traditional order, the self becomes a reflexive project.“37 Von nun an rückt das Individuum, seine Psyche und Identität ins Zentrum der Geschichte und Erzählung. Frühe Vorboten dieser Entwicklung finden sich bereits in den 60er Jahren. Chris Markers science fiction-Fotomontage La Jetée von 1962 (Remake von Terry Gilliam 1995 als Twelve Monkeys) war halb noch seiner militärischen Mission für seinen männlichen Helden verpflichtet, aber halb auch schon fokussiert auf seine Person, Kindheit, Erinnerung und Identität. Yasutaka Tsutsuis Roman tokiwo kakeru shōjo (Das Mädchen, das durch die 37 Giddens 1991: 32. Hervorhebung im Original.
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Zeit sprang, 1967) offenbarte dann zum ersten Mal radikal eine Struktur der Zeitreise als reine Selbstsuche, mit einem narrativen Design ohne alle Abenteuer in fernen Zeiten oder Galaxien. Mit Vorsicht begrenzte der Roman seine Zeitsprünge auf die Lebens- und sogar Jugendzeit seiner Heldin, wies die Bürde der historischen Verantwortung von sich und betonte stattdessen die individuelle, reflexive und vor allem psychische Dimension der Zeitreise. Der jahrzehntelange Erfolg des Textes quer durch alle visuellen Medien beruht auf eben dieser frühen Vorwegnahme eines personalisierten Beobachtungs- und Erzählstils, der heute fast alle Zeitreisenarrative auszeichnet und berauscht. Die beiden neuesten japanischen Zeitreisemanga blicken erneut, nicht anders als ihre amerikanischen Filmkomplemente, in die Psyche und Persönlichkeit ihrer Charaktere. Die Zeitreise übernimmt hier sogar fast eine psychotherapeutische Funktion. Yoshizuki Kumichis Manga kimi to boku no ashiato (Deine und meine Fußspuren, 2010) und Yamazaki Maris Manga Thermae Romae (Römische Thermen, 2009) folgen genau diesem postmodernen Pfad der Selbstsuche. Die postmoderne Zeitreise intensiviert Selbstzweifel und Reflexivität und erreicht eben damit weltweit jene jungen Leser, die täglich die Krise, die Stagnation und die Unsicherheit am eigenen Leib erfahren. Synopsis 1.2: Zeitreisenarrative und ihre Entwicklungsphasen in der japanischen und westlichen Populärkultur Zeitreisen im japanischen Manga
... und in westlichen TV und Film-Entsprechungen
Phase 1: Moderne. Technologische und narrative Konrolle der Zeit doraemon (Manga 1969-96; Doctor Who (1963-89; 2005-) Anime 1973; 1979-) Star Trek (1966-69) hi no tori (Phoenix, 1954-57, 1967-86) Time Tunnel (1966-67) Terminator-Filme (1984-2009) Phase 2: Übergang zur Postmoderne. Der letzte Blick zurück in die Geschichte zipang (2001) The Final Countdown (1980) JIN (2001) Back to Future (1985-1990) Phase 3: Postmoderne. Zeitkontrollverlust, narrative Schleife, Selbstentdeckung tokiwo kakeru shōjo (Das Mädchen, La Jetée (1962), das durch die Zeit sprang. Roman Remake 12 Monkeys (1995) 1967, Manga und Anime 2006) ōke no monshō (1976-) Catweazle (1970) inuyasha (1996-2008) Star Trek: Next Generation haruka na machie (1998) (1987-94) Thermae Romae (2009) Groundhog Day (Täglich grüßt das Murmeltier, 1993) kimi to boku no ashiato - kasuga Lola rennt (1998) taimu toraberu kenkyūjo (2010) Heroes (2006)
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Die technologische Kontrolle der Zeit in der Moderne In der Geschichte der Seefahrt und der Eroberung der Welt mithilfe westeuropäischer Kriegs- und Handelsflotten hat die Kontrolle der Zeit die Schlüsselrolle gespielt. Denn die exakte Zeitmessung war die technologische Bedingung für die exakte Navigation auf See. Der Längengrad kann nur bei genauer Kenntnis der Uhrzeit des Ausgangshafens ermittelt werden. Bis zur Lösung des Problems mussten daher die Schiffe häufig „Längen absegeln“ und blind ihr Ziel suchen. Dabei starben Tausende von Matrosen an Mangelernährung und Skorbut. Schließlich lobte im Jahre 1714 das British Board of Longitude einen Preis von 20.000 Pfund aus für denjenigen, der dieses technische Problem der Zeitmessung lösen und eine Uhr bauen würde, die auch auf einem schwankenden Schiff sekundengenau laufen würde. Erst der Autodidakt und Uhrmacher John Harrison aus Yorkshire legte eine solche Uhr im Jahre 1759 vor, die „H4“, heute ausgestellt in der Sternwarte von Greenwich. Die intrigante akademische Welt mochte dem einfachen Handwerker seinen Erfolg nicht gönnen, bezweifelte lange Zeit seinen mechanischen Lösungsansatz und setzte stattdessen auf die Beobachtung der Mondphasen. Der Preis wurde schließlich posthum an Harrisons Witwe ausbezahlt.38 Bald fehlte das Instrument auf keinem Schiff der königlich englischen oder spanischen Flotte mehr. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat nachgewiesen, dass auch in modernen Gesellschaften jedes Kind das Zeitverständnis neu erlernen muss. Er vermaß diese unentdeckten Inseln der Vormodernität mit diversen Versuchsreihen schon in den 50er Jahren mit einfachen Experimenten. Kinder entwickeln erst im Alter von etwa 12 Jahren ein operatives Zeitverständnis. Nirgends auf der Welt können Jüngere zwei simultane Bewegungen zueinander in Bezug setzen oder die Invarianz von Flüssigkeitsmengen erkennen, auch wenn man diese Flüssigkeiten in andere Behälter umgießt. 39 Der Soziologe Günter Dux hat diese Piagetsche Erkenntnis und Methode genutzt, um empirisch primitive von modernen Gesellschaften zu unterscheiden. Sein Buch Die Zeit in der Geschichte berichtet von Experimenten in Indien und Südamerika, die klar beweisen, dass sich in primitiven Gesellschaften kein operatives Zeitverständnis ausbildet.40 Auch Erwachsene verbleiben dort auf dem kognitiven Niveau von Kindern. Sie können Zeit und Raum nicht exakt zueinander in Beziehung setzen und simultane Bewegungen noch nicht mathematisch aufschlüsseln. 38 Sobel 2008: 73, 122. 39 Piaget 1984: 48-68. 40 Dux 1989: 34, 103-111, 196, 239.
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Umgekehrt verlangt die moderne Gesellschaft stets ein allgemeines und rationales Verständnis der Zeit. Nach der Wiederöffnung Japans hielten daher auch dort entsprechende Mess- und Kontrollmechanismen Einzug. Schon im Jahre 1684 hatte das Tokugawa-Regime den alten jōkyō Kalender eingeführt, um Japan von der chinesischen Tradition der Zeitrechnung loszulösen. Im Jahre 1798 berücksichtigte der kansei Kalender erstmals westliche Methoden der Zeitmessung, die aus Übersetzungen niederländischer Schriften stammten. Aber erst Kaiser Meiji gelang nach 220 Jahren Isolation die grundlegende Kalenderreform. Am Neujahrstag 1873 setzte er den Gregorianischen Kalender in Kraft, unterstützt von dem politischen Theoretiker Fukuzawa Yukichi (18351901).41 Im Jahre 1895 wurde das Wakō Gebäude im Stadtteil Ginza in Tokyo errichtet. Die Uhr über seiner Fassade gilt bis heute als Meilenstein der japanischen Moderne. In demselben Jahr veröffentlichte H.G. Wells seinen berühmten Roman Die Zeitmaschine.42 Dank seiner politischen Reformen und seiner technologischen Aufholjagd entwickelte sich Japan rasch zur ersten nicht-westlichen Industriegesellschaft. Heute ist sie führend in Sachen Zeitmanagement – und Zugpünktlichkeit. Auch ihre Zeittheorie ist up to date: Der japanische Soziologe Maki Yūsuke beruft sich in seinem Buch jikan no hikaku shakaigaku (Eine vergleichende Soziologie der Zeit) wie Günter Dux auf die frühen anthropologischen Feldforschungen in vormodernen Gesellschaften von Edward E. Evans-Prichard und Claude Lévi-Strauss.43 Mit der Ausbreitung der visuellen Massenmedien nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich avancierte das Zeitreisegenre auch in Japan zu einem Kernelement der Populärkultur. Dennoch hat das Land sich einige Reste vormoderner Zeitwahrnehmung bis heute erhalten: Die japanische Zeit läuft nicht invariant, sondern voller plötzlicher Brüche und Erschütterungen. So werden Hochzeiten und Beerdigungen noch abergläubisch nach dem buddhistischen rokuyō (sechs Tage) Kalender terminiert, welcher in der Muromachi-Zeit aus China importiert worden war und dann in der Tokugawa-Zeit Popularität erlangt hatte.44 Zyklisch messbar ist auch der Aberglaube in den Jahren 1906, 1966 und 2026: im signifikanten Geburtenrückgang im hino e uma (Jahr des Feuerpferdes). 45 Auch der sanfte Schlaf kann in Japan jederzeit den harten Verhandler 41 Coulmas 2000: 113, 124. 42 Mark Twain hatte bereits im Jahre 1889, als der Eiffelturm in den Himmel wuchs, den Zeitreiseroman A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court veröffentlicht. Zur Belohnung durfte er in Staffel 5, Folgen 26 und 27, der Serie Star Trek: The Next Generation (1992) mit dem Titel Time’s Arrow das Raumschiff Enterprise besichtigen. 43 Maki 1981: 47-64. 44 Coulmas 2000: 306, 309. 45 Akabayashi 2008.
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oder Gelehrten übermannen, sogar an öffentlichen Plätzen, während Versammlungen oder im Unterricht. Japan ist bis heute eine power napNation, dessen Individuen jederzeit und überall ungestraft in das zeitlose Meer der Träume zurücktauchen dürfen.46
Phase 1a: Moderne. Die technologische Kontrolle der Zeit in Zeitreisenarrativen Die typischen westlichen Fernsehserien der 60er Jahre sandten für gewöhnlich männliche Helden auf ihre Missionen in den temporalen Nexus: Wissenschaftler, Soldaten oder Zauberer. Ihre Kontrolle über die Zeit symbolisierten technologische gadgets und Maschinen wie das mächtige Raumschiff Enterprise (mit „Solantrieb“) in Star Trek, die experimentelle Röhre in der Wüste in The Time Tunnel oder die Polizeibox TARDIS (Time and Relative Dimension in Space) aus den 50er Jahren in Doctor Who.47 Die Missionen erforderten dann auch eine gewisse Gewaltbereitschaft, naturwissenschaftliche Genialität, diplomatisches Geschick oder spitzohrige „Logik“. In Japan markiert eine berühmte Mangaserie den Ausgangspunkt des Zeitreisenarrativs in der Massenkultur. Fujiko F. Fujios blaue Roboterkater Doraemon fasziniert und unterhält alle japanischen Kinder seit 1969 und glänzt bis heute täglich im japanischen Fernsehen. Er kommt aus dem Jahre 2112 und soll dem Viertklässler Notiba-kun bei seinen Hausaufgaben helfen. Mit dabei sind seine Freunde Shizuka-chan, Suneo und Giant. Kater Doraemon, dem eine Maus seine Ohren abgefressen hat, besitzt auch magische Kräfte. Seine Zaubertasche am Bauch gebiert alle möglichen Problemlösungsobjekte, und er verfügt über eine dokodemodoa (Geh jederzeit überallhin-Tür), durch die sein fünfköpfiges Team Zeit und Raum überbrückt und zu den Dinosauriern, ins Mesozoikum oder in die Zukunft reisen kann. Die meisten Zuschauer und Leser sind Kinder, sodass die animistischen Reste in der Serie nicht überraschen. Hier interagiert die Robotertechnologie mit Kulturen und Gesellschaften der Vergangenheit. Magie und Maschine verschmelzen. Die Zeitreise ist, ganz japanisch, keine männliche Mission, sondern eine Gruppenerfahrung, vergleichbar mit einem Schulausflug in ein virtuelles Museum. Seit 1980 wird in jedem Jahr ein Anime mit Doraemons Abenteuern für das japanische Kino produziert. Augenfällig hat Doraemon, der selbst in einer Schublade in Nobitas Kinderzimmer wohnt und gerne spezielle Kekse nascht, die narrative Moderne fest in allen japanischen Kindheiten verankert. 46 Steger 2007. 47 Cornea 2007: 88-89.
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Phase 1b: Tezuka Osamus Phoenix und die narrative Kontrolle der Zeit Mangameister Tezuka Osamu nutzte in Phoenix eine entwickeltere und reifere Methode der Zeitkontrolle und verlagerte sie geschickt in seine narrative Gesamtstruktur. Während er die 16 in sich abgeschlossenen Folgen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten produzierte, erstreckt sich deren erzählte Zeit sogar über einen Zeitraum von mehreren Jahrtausenden, von der Frühgeschichte bis in die ferne Zukunft. Tezuka verknüpfte die Folgen mithilfe des unsterblichen Feuervogels, einer Vogeldame, die nicht im Zentrum der Geschichte steht, aber als unsterbliches Wesen alle Sterblichen in ihren Bann zieht. Dabei zielt Tezuka auf Erkenntnisse und Eigenschaften, die auf alle Zeiten und in allen Gesellschaften zutreffen: Die Menschen sind selbstsüchtig, geldgierig, machthungrig und sogar versessen auf die Unsterblichkeit, welche sie mit dem Blut der Vogeldame zu erlangen hoffen. Daran kann auch die moderne Technik nichts ändern. Vielmehr entreißt sie den Menschen die Kontrolle über ihren Planeten. Diese Weltsicht erscheint auf den ersten Blick als eine typisch apokalyptische, bekannt auch aus Francis F. Coppolas Film Apocalypse Now (1979), Ōtomo Katsuhiro’s Manga (1982-1990) und Anime (1988) Akira und Ridley Scotts Blade Runner (1982). Bei genauerem Hinsehen aber entpuppt sie sich als eine höchst filigrane Konstruktion einer unterschwelligen Botschaft in der narrativen Struktur des Phoenix. Um sie zu decodieren, hat Susanne Phillipps seine 16 Folgen, gezeichnet zwischen 1954 (reimeihen, Dawn) und 1986 (taiyōhen, Sun) in vier Phasen unterteilt. Tezuka entwickelte die narrative Struktur der Serie, welche sich über fünf verschiedene Manga-Zeitschriften erstreckte, erst nach einer experimentellen Phase. Band 1, veröffentlicht in manga shōnen, blieb unvollendet (Phase 1). Die Bände 2-4 (Phase 2) spielen in Ägypten, in Griechenland und Rom und waren als Mädchenmanga für die Zeitschrift shōjokurabu konzipiert (1956-57). Erst als Tezuka die Serie nach einer langen Unterbrechung mit Dawn im Jahre 1967 wieder aufnahm, kreierte er das geniale „temporale Design“ der Bände 5-15 (Phase 3) des Phoenix. Sie spielen auf alternierenden Zeitplattformen und pendeln zwischen der fernen Vergangenheit und Zukunft. Dabei nähern sich ihre jeweiligen Erzählzeiten allmählich der Lebenszeit der Leser am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Zeitplattformen ergeben in ihrer Summe zwei hyperbolische, konvergierende Kurven. Ihre Bewegungen „kulminieren“ in Band 16 (Phase 4), der gleichzeitig im 7. und im 21. Jahrhundert spielt und am Ende die (geteilte) Identität der beiden Hauptpersonen enthüllt. Phillipps erklärt: 40
MANGA ALS BLICK IN DIE GESCHICHTE Die Vogeldame Phönix bildet das verbindende Element zwischen den in sich abgeschlossenen Geschichten. Wie ein Mosaik gewähren sie Blicke in verschiedene Epochen des Kosmos, ohne Grenzen in Zeit oder Raum. Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen die Geschichten zunächst nur lose zusammenzuhängen und folgen auch nicht chronologisch aufeinander. Bald aber wird ihre intertextuelle Verknüpfung deutlich. Sanfte Anspielungen aufeinander bilden Brücken zwischen den Ereignissen, teilweise über Jahrhunderte hinweg, und dann offenbart sich das wohl durchdachte Konstrukt, das streng durchgeplante Zeitgerüst.48
Tezuka arbeitete an seinem Phoenix mehr als drei Jahrzehnte lang und zeichnete 4000 Seiten. Sein einzigartiger narrativer Entwurf erlaubte es ihm, seiner Einschätzung der Entwicklung von Zivilisation und Menschheit auf einer subtilen Ebene Ausdruck zu verleihen. Seine Vogeldame durchlebt die verschiedensten Zeiten, Epochen, Kulturen und Gesellschaften und beobachtet stets und überall dieselbe Unterdrückung von Freiheit und Kreativität. Für seine Fans taucht der Meister dabei selber, erkennbar an seiner großen Nase, regelmäßig auf der Bildfläche auf und übernimmt diverse Nebenrollen: als Dr. Saruta, Räuber, Samurai oder verstörter Wissenschaftler. Tezuka huldigt damit buddhistischen Sichtweisen auf die Welt, in welchen die scheinbaren Gegensätze gut und böse, primitiv und modern, Mensch und Maschine, Unsterblichkeit und Vergänglichkeit, miteinander verschmelzen und sich auflösen. Es wäre naiv, den Sieg der Moralität, Gerechtigkeit und Demokratie zu erwarten, denn die Neigungen der Menschen zu Zerstörung und Hass sind einfach zu stark. Im Kontrast dazu erweist sich das narrative Element des Manga-Zeichners, der Feuervogel, als das ideale Werkzeug zur narrativen Kontrolle der Zeit über die Jahrtausende. Mit ihm verknüpft Tezuka die verschiedenen Zeitebenen der einzelnen Bände miteinander. Indem er den konstanten Zerfall der Welt durch die Zeit hindurch abbildet, erinnert er uns auch an unsere eigene Verantwortung während unserer begrenzten Lebenszeit. Die Zeitstruktur des Phoenix ist daher perfekt dazu geeignet, die mangelnde Perfektion, Verletzlichkeit und Wankelmütigkeit der Menschen und ihrer Gesellschaft herauszustreichen. Diese Botschaft und ihr Autor bleiben unsterblich.
Phase 2: Übergang zur Postmoderne. Der letzte Blick zurück in die Geschichte in zipang und JIN Zu Beginn der Moderne musste der Mensch die Zeit messbar und kontrollierbar machen. Das sicherte das Transportsystem zur See und den Zugang zu Kolonien und Weltmarkt. Auch moderne Theorien der Ökonomie wie der Keynesianismus und der Marxismus beruhen weitgehend auf Kategorien des Wachstums und der Entwicklung, auf großen Narra48 Phillipps 1996: 143-144. Aus dem Englischen.
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tiven, universellen Paradigmen, achsialen Perspektiven und auf der Ideologie der Kontrollierbarkeit. Seit den 80er Jahren aber steht dieses Theoriedesign unter Druck. Postmoderne Denker bestreiten alle zentralistischen Kontroll- oder Wertesysteme von Gesellschaft, ihre Standardthese lautet: „nicht mehr“. Der französische Soziologe Gilles Lipovetsky hat gezeigt, wie Narzissmus, Individualismus und Konsumismus sich als die pragmatischen Haltungen unserer Zeit durchgesetzt haben. Es gibt keine ökonomische Stabilität mehr, keine nationale Politik oder Ideologie und keine historische Meta-Erzählung. Lipovetsky nennt diese Phase ohne überragenden Glauben und ohne politische Ideologie „Zeitalter der Leere“ (l’ère du vide), und mit seiner Vorliebe für neue Sportarten wie Surfing, Skating, Snowboarding und Browsing sogar „l’âge de la glisse“: „Die postmoderne Gesellschaft ist das Zeitalter des Gleitens. Diese sportliche Haltung illustriert am besten unsere Zeit: Die res publica hat keine solide Basis mehr und keine emotionale Verankerung.“ 49 Der postmoderne Konsumismus ist volatil und unkontrollierbar, er führt zum Verlust der Kontrolle über politische Wählergruppen, Aktienmärkte und Staatshaushalte. George Slusser beobachtet denselben Übergang von der Kontrolle zum Experiment auf dem Gebiet der Zeitreiseliteratur: Modernistische Fiktion strebt nach reinen geometrischen Räumen und Beziehungen. Ständig versucht die Zeitreise, diese Formen dem Test in der materiellen Realität zu unterziehen und verortet sie dafür neu im physischen Kontinuum der Raumzeit. Damit ist sie die wahrhaftig experimentelle Form der Literatur.50
Auch die Zeitreise selbst ist narrativen Entwicklungen und Experimenten ausgesetzt und schafft sich so ihren Raum für die Erfahrung des Übergangs und des Unbekannten. Sie fügt sich daher gut in die Leere des äußeren Weltalls, wo Navigation und Orientierung so schnell verloren gehen wie das subjektive Zeitempfinden. Während der klassische männliche Zeitreisende eine Maschine baute oder benutzte und dann seine Mission in Angriff nahm, wird sein postmoderner Kollege eher plötzlich und unabsichtlich in den Zeitstrahl gesogen wie Odysseus zu den Sirenen oder die Astronauten in Stanley Kubricks 2001 - A Space Odyssey (1968) in Richtung des Jupiter. In der Übergangsphase der Zeitreise hängt der Verlust der Kontrolle über die Zeit eng zusammen mit dem Verlust der Kontrolle über das eigene Transportmedium. In dem Film The Philadelphia Experiment (1984) verschwindet die USS Eldridge im Jahre 1943 von den Radarschirmen und versetzt zwei Crewmitglieder in das Jahre 1984. Der Film The Final Countdown (1980) schickt den Flugzeugträger USS Nimitz in die entgegengesetzte 49 Lipovetsky 1983: 20. Aus dem Französischen. 50 Slusser/Chatelain 1995: 185. Aus dem Englischen.
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Richtung. Während eines Manövers durchfährt er eine mysteriöse Nebelwolke und findet sich unvermittelt zurück auf dem pazifischen Schlachtfeld im Zweiten Weltkrieg. Der japanische Angriff auf Pearl Harbor steht wieder kurz bevor, dennoch zögern die Offiziere, ihre überlegenen Waffen gegen die japanische Seemacht einzusetzen, denn der Eingriff wäre riskant und der „code of action“ muss warten. Einzelne Kontakte mit Soldaten des Tenno kann die Crew allerdings nicht vermeiden und ihre Debatten über die militärischen Optionen spitzen sich zu. Die Männer werden sich ihres Kontrollverlustes bewusst und begreifen sich allmählich als Objekte eines Experiments und als Zeugen einer unvorhergesehenen Erfahrung. Dieser Schwebezustand bleibt bis zum Ende bestehen: Als sich die Aktivisten unter den Offizieren endlich doch zum Eingriff durchringen, fährt ihr Schiff erneut in die mysteriöse Wolke und landet wieder im Jahre 1980, am Ausgangspunkt ihrer Reise. Der Übergang zur Postmoderne im Zeitreisenarrativ basiert auf genau dieser zurückblickenden Inspektion historischer Ereignisse und Epochen. Erst sie ermöglicht und erlaubt es, sich abzulösen und loszulassen. Während die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der Erinnerung verblasst, versagen auch die Zuordnungen von Freund und Feind. Stattdessen entstehen neue, gemeinsame Blickwinkel, welche das Leiden der eigenen Vorfahren genauso anerkennen wie das ihrer ehemaligen Gegner. So erklärt sich, dass die abenteuerliche Reise der Nimitz auch von einem japanischen Kriegsschiff unternommen wurde, wenn auch erst 20 Jahre später. In Kawaguchi Kaijis Manga zipang (2001, Anime-Serie 2004 und 2005) wird der Zerstörer Mirai (Zukunft) in einem Zeitstrudel zurück in den Zweiten Weltkrieg gesogen, wo ihm zunächst das Schlachtschiff Yamato vor den Bug gerät. Die Mannschaft der Mirai führt bald dieselben Diskussionen wie ihre Feinde und Kollegen auf der Nimitz, und die Offiziere wägen sorgfältig die Chancen und Risiken eines historischen Eingriffs mit ihren überlegenen Waffensystemen ab. Allerdings lässt sich, gerade weil für die Leute auf der Mirai humanitäre Grundsätze gelten, der Zustand der völligen Unschuld nicht dauerhaft aufrechterhalten. Die Crew rettet zwar den Kampfpiloten und glühenden Nationalisten Lt. Commander Kusaka Takumi aus seinem Flugzeugwrack. Aber er entkommt aus seiner Gefangenschaft und plant von nun an, den Krieg mithilfe der Mirai frühzeitig zum Wohle des kaiserlichen Japan zu beenden (daher der Titel zipang: Kusakas Vision einer starken japanischen Nation). Erneut schwankend zwischen nationaler Loyalität zu ihrem Landsmann und ihrer Ablehnung der Diktatur, bemüht sich die Crew der Mirai, mit allen Mitteln Kusaka zu stoppen und den ursprünglichen Lauf der Geschichte wiederherzustellen. 43
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Anders als der Hollywood-Film endet der Manga nicht mit dem gnädigen Eingriff der Wolke, die alles zurück auf Anfang stellt. Der zweite Offizier der Mirai, Commander Kadomatsu Yōsuke, jagt den entflohenen Kusaka bis nach China, um den störenden Einfluss der Mirai auf die Vergangenheit zu minimieren. Dabei entdeckt er jedoch, dass sein eigener Vater kürzlich bei einem Verkehrsunfall zu Tode kam, was eine persönliche, ja ödipale Dimension in die Geschichte einführt. Unmerklich verrückt der Manga sein Augenmerk vom Krieg als historisches Ereignis zum Krieg als Familiengeschichte. So öffnet er den Blick in die Geschichte als persönliche Erfahrung und als Offenbarung persönlicher Charaktereigenschaften. Die Frage nach dem Eingriff wird ersetzt durch eine feine Machtbalance zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die ihre scharfe Grenzziehung aufhebt und sie von- und übereinander lernen lässt. Dadurch entfernt sich das Zeitreisenarrativ auch langsam von den großen Schlachtfeldern der Vergangenheit und fokussiert auf individuelle Schicksale, Biographien und Psychen. Es transportiert nicht mehr die schwere Bürde historischer Schuld, sondern intensiviert gegenwärtige Lebenserfahrungen und individuelle Wahrnehmungen. Sogar die scheinbar gewalttätige und militärische Mission in dem Film The Terminator basiert letztlich auf einem ödipalen Konflikt oder Kontakt: Constance Penley entdeckt diesen „inzestuösen Wunsch“ in der heftigen Liebesbeziehung zwischen Soldat Kyle und Sarah. Sie ist zugleich die Mutter seines Sohnes und seines Kommandeurs. Penley nennt Kyles Mission daher einen „Kuss durch die Zeit“.51 Und es gibt noch mehr aufschlussreiche Retrospektiven in den japanischen und amerikanischen Populärmedien, die auch jenseits der Weltkriege nicht haltmachen. In Robert Zemeckis Trilogie Back to Future (1985-1990) testet Teenager Marty McFly die Zeitmaschine seines Freundes, des Wissenschaftlers Doc Brown, in Hill Valley, Kalifornien. Er möchte nur 10 Minuten in der Zeit zurückreisen, aber nach einem Intermezzo libyischer Geschäftspartner landet er im Jahre 1955. Dort muss er mithilfe des jungen Doc Brown dafür sorgen, dass seine Eltern sich (doch wieder) ineinander verlieben. Da die gesamte Zeitreise nur in einer kalifornischen Vorstadt stattfindet, führt sie auch räumlich immer wieder in das Reich der Familie zurück. Andrew Gordon hat seine Analyse der Trilogie daher „Ödipus als Zeitreisender“ untertitelt. Er entdeckt darin zwar den allbekannten amerikanischen Glauben an den freien Bürger als seines Glückes Schmied und den Autor seiner Geschichte, aber auch „eine witzige Lösung für eine ödipale Krise“.52 Christine Cornea stimmt zu, dass Marty McFly „in seiner eigenen Ado51 Penley 1990: 123, 126. Aus dem Englischen. 52 Gordon 1987: 372. Aus dem Englischen.
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leszenz feststeckt“, und sie betont ebenfalls den „komödiantischen Charme der Sequels“.53 Marty verstrickt sich förmlich in seiner Familiengeschichte, er besucht sogar seinen eigenen Sohn und sich selbst in der Zukunft. In der dritten Folge reist er zu seinen Vorfahren im Wilden Westen des Jahres 1885, wo es ihm zusammen mit Doc Brown gelingt, die Störungen im Zeitablauf zu beheben und die ursprüngliche Geschichtsfassung wiederherzustellen. So wie die Eisenbahngesellschaften im amerikanischen Westen den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft darstellten, oder von der Pferde- zur Dampfkraft, so bereitete der Import von Wissenschaft und Technik nach Japan in den Jahren vor der Meiji-Restauration von 1868 die Wiederöffnung und Modernisierung des Landes vor. Es ist daher nur logisch, dass der Zeitreisemanga JIN von Murakami Motoka (2001, verfilmt für das Fernsehen 2009) seinen Helden, den Gehirnchirurgen Munakata Jin, zurück in das Jahr 1862 schickt. Der Manga beginnt in Tokyo, wo Dr. Munakatas Verlobte ihm seinen Ring zurückgibt und sich von ihm trennt. Zurück im OP, entfernt er chirurgisch einen Gehirntumor. Der verwirrte Patient aber stiehlt diesen am nächsten Tag. Munakata verfolgt ihn und gerät in einen Zeitstrudel, der ihn 140 Jahre in die Vergangenheit trägt. Dort freundet er sich allmählich mit seiner neuen Umgebung an und arbeitet als Arzt, nutzt sein überlegenes Wissen, heilt und rettet Leben. Er stoppt eine Cholera-Epidemie, führt einen Luftröhrenschnitt aus und instruiert eine Gruppe westlicher Neurologen in Mund-zu-Mund-Beatmung und Wiederbelebungstechnik. Während Teenager Marty McFly in Back to Future die Wurzeln des heutigen Amerika erforscht, erkundet Munakata Jin die Ursprünge des modernen Japan. Der Zeichenstil von JIN ist wundervoll realistisch und erlaubt dem Leser sogar Einblicke in komplexe medizinische Techniken wie Schädel- und Gehirnoperationen. Anders als die science fictionWerke der klassischen Moderne überbrücken JIN, zipang, und Back to Future keine Jahrtausende, sondern begnügen sich mit Ausflügen um die Ecke der Geschichte, in die rezente Vergangenheit, und zu vertrauten Orten und Umgebungen. Das Schicksal der Zivilisation steht nicht mehr auf dem Spiel, auch gibt es keinen „clash of cultures“ mehr. Im Zentrum des Interesses steht nun nicht mehr der große Bogen der Geschichte, sondern stehen Lösungen für kleine Konflikte und persönliche Probleme innerhalb vertrauter Rahmendaten. Letztlich befreien retrospektive Expeditionen in die Geschichte wie in zipang und JIN oder in den entsprechenden amerikanischen Filmen ihr Publikum von den traditionellen Geschichtsmodellen der Moderne: 53 Cornea 2007: 119. Aus dem Englischen.
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Sie lassen ab vom Versprechen ewigen Wachstums und stetiger Entwicklung, von der Ideologie der Kontrolle durch Krieg und Gewalt, und vom Glauben an unbegrenzte individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Stattdessen erlauben diese Narrative ihren Helden, die Grenzen ihrer Möglichkeit und einen historischen Rahmen zu akzeptieren. Genau so kommen sie auch in ihrer realen Gegenwart wieder mit beiden Füßen zurück auf die Erde. Zwar gibt es heute keine komplette Kontrolle über die Gesellschaft mehr, aber immerhin spannende Ausflüge zu ihren historischen Wurzeln: in den Zweiten Weltkrieg in zipang und The Final Countdown, in den Wilden Westen und die 1950er Jahre in Back to Future, und in die Meiji-Zeit in JIN. So laden diese Texte die postmoderne Leserschaft zu einem letzten Gruß an die Vergangenheit ein. Nicht mehr ihre Reparatur ist das Ziel der Mission, sondern das Heraustreten aus ihrem Schatten. Diese erkenntnisreiche Übergangsphase ebnet den Weg zur postmodernen Zeitreise als genaues Gegenteil jener klassischen extraterrestrischen Mission zu fernen Planeten auf der Suche nach Lebensraum für die Menschheit: Sie mutiert zur radikalen psychologischen Expedition in das intime Reich der Psyche und des Selbst.
Phase 3a: Postmoderne. Narrative Schleifen und Selbstfindungen in Das Mädchen, das durch die Zeit sprang, ōke no monshō und inuyasha Was die Maler der Renaissance zaghaft mit ihren Selbstportraits begannen, hat die Postmoderne im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst radikal verallgemeinert. Die Autobiographie ist heute ein unverzichtbares generisches Element der Massenmedien. Zurecht hat Anthony Giddens das „reflexive Projekt“ der Postmoderne mit dem „Narrativ des Selbst“ verknüpft.54 Der heutige, intensivierte Blick in die Psyche offenbart auch Schwächen, Verletzungen, Unzulänglichkeiten. Daher haben auch die aktuellen Zeitreisenarrative das Leitmotiv der technologischen Kontrolle der Zeit vorsichtig revidiert und Abschied genommen vom Pionier, Ingenieur und Soldaten, wie er uns aus The Time Machine oder Star Trek vertraut war. Statt unseren gesamten Planeten und die Menschheit heroisch zu retten, muss der Zeitreisende nun verstärkt an sich selbst denken und über sich selbst nachdenken. Noch in den 60er Jahren kämpfte Captain James T. Kirk gegen Klingonen und Romulaner und wurde dafür sogar zum Admiral befördert. Aber schon sein Nachfolger in den 90er Jahren, der Archäologe Captain Jean-Luc Picard, agiert vielmehr als Diplomat und Forscher. Auch gräbt er tief in 54 Giddens 1991: 75, 76. Aus dem Englischen.
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seiner eigenen Familiengeschichte. Zurecht stellt Thomas Richards fest, dass in der Folge 141 mit dem Titel Tapestry von Star Trek: The Next Generation der Schutz der Menschheit mit der Revision von Captain Picards biographischer Lebenszeit konvergiert: Die Serie Star Trek (...) befasst sich häufig mit den Problemen der Zeitreise. (...) In der Folge „Tapestry“ schickt Q Captain Picard in der Zeit zurück und lässt ihn einige Entscheidungen überdenken, die er als junger Kadett an der Akademie der Sternenflotte traf. Die Prämisse dieser Star Trek-Folgen mit Zeitreisen ist stets dieselbe: Die Modifikation eines einzigen Lebens kann die Geschichte verändern.55
Der postmoderne time warp fokussiert auf Leben und Identität des individuellen Zeitreisenden und wechselt das Paradigma der Reise von der technischen Kontrolle der Zeit und Geschichte zum lustvollen Kontrollverlust. Frühe Versionen tauchen schon in den 60er Jahren auf. Der Experimentalfilm La Jetée, Vorlage auch für Terry Gilliams Remake 12 Monkeys (1995), portraitiert einen Gefangenen, der im Pariser Untergrund mit Überlebenden der nuklearen Apokalypse zusammenlebt. Wissenschaftler erforschen die Technologie der Zeitreise, um rückwirkend in die Geschichte einzugreifen, und wählen ihn aufgrund seiner Schockresistenz und seines Gedächtnisses als ihren Passagier aus. Schon als Kind hat er, zusammen mit einer geheimnisvollen Frau, einen Mord an einem Mann auf einem Flugsteig (jetty oder jetée) in Orly miterleben müssen und nie ganz verarbeitet. Jetzt wird er an verschiedene Orte in die Zukunft und Vergangenheit geschickt, um den Untergang vielleicht (doch noch einmal) zu verhindern. Seine militärische Rettungsmission ist äußerlich identisch mit jener des Soldaten Kyle in dem Film Terminator, aber am Ende entpuppt auch sie sich als im Kern persönliche, biographische und therapeutische Erfahrung. Er entdeckt, dass seine Auftraggeber ihm nach dem Ende seiner Mission nach dem Leben trachten, und macht sich auf die Suche nach der unbekannten Frau. Zwar findet er sie, aber auch seine Auftraggeber haben sich ihm an die Fersen geheftet und exekutieren ihn kaltblütig. Erst der Sterbende erkennt, dass er selbst jener Mann ist, den er als Kind schon sterben sah. Genau wie Kyle erfüllt er zwar seine Mission und rettet die Menschheit, aber bezahlt den Erfolg ironischerweise mit seinem eigenen Leben. Der individuelle Reisende wird Zeuge seines eigenen Todes und erreicht dadurch nicht wirklich sich selbst, sondern löst sich auf in einem Strudel des Schicksals, einem Schwindel, einer Ohnmacht, einem Kontrollverlust. Der postmoderne Zeitreisende ist kein starker, männlicher Held mehr, sondern ein Gefangener, ein Außenseiter, ein Freak, manchmal 55 Richards 1987: 68. Aus dem Englischen. Okuda/Mirek 1994: 335.
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sogar nur ein Kind oder ein Mädchen. Schon im Jahre 1970 rückte die englische Kinderfernsehserie Catweazle einen mittelalterlichen Magier ins Zentrum, der nur aus Versehen aus dem 11. Jahrhundert in das Jahr 1969 geraten oder gefallen war, wo er desorientiert und verzweifelt mit Zaubertricks und Astrologie seinen Weg zurück in seine Zeit suchte. In Japan markieren zeitgleiche Texte den Beginn der Reifephase der Zeitreise, nämlich Yasutaka Tsutsuis Roman tokiwo kakeru shōjo (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang, 1967), und Hosokawa Chiekos bis heute fortgesetzer Mädchenmanga ōke no monshō (Das Wappen der königlichen Familie, 1976). Er hat mit Carol Lido sogar eine amerikanische Teenagerin zur Hauptperson, die von einer ägyptischen Göttin verflucht wird. In Das Mädchen erlangt Yoshiyama Kazuko zufällig die Fähigkeit, durch die Zeit zu springen. Beide müssen lernen, mit ihren Gefühlen zurechtzukommen und ihre begrenzten Kräfte in bestmöglicher Weise zu nutzen. Wie ihre Zeitsprünge, so verlangt auch ihr Verliebtsein Selbstdisziplin und Reife. Auch Takahashi Rumikos shōjo Manga inuyasha (1996) beruht auf diesem Muster. Die 15jährige Higurashi Kagome fällt in einen Brunnen und erwacht im Zeitalter der Kriege (ca. 1450-1600). Dort verliebt sie sich in den Halbdämon inuyasha und entscheidet sich am Ende, in seiner fernen Zeit und damit bei ihm zu bleiben. Der Kontrast zwischen diesen jungen Damen und den klassischen westlichen Zeitreisenden ist so offensichtlich wie ihre Seelenverwandtschaft mit dem Angestellten Nakamura Hiro in der Fernsehserie Heroes (2006) Jahrzehnte später. William Gardner betont, dass science fiction-Autor Yasutaka Tsutsui sich über die Jahrzehnte intensiv mit der Medialisierung der Gesellschaft befasst hat, mit der Leere der Massenmedien, die ihre Ereignisse selbst produzieren, und mit den digital produzierten virtuellen Realitäten der Spielekonsolen.56 Sein Roman Das Mädchen passt allerdings nicht in dieses Schema, weil er vor der Digitalisierung spielt und auch Selbstreflexion und Selbsterkundung ins Zentrum stellt. Kazukos Geschichte fasziniert nun schon seit Jahrzehnten das globale Publikum. Sie wurde schon 1972 für das Fernsehen verfilmt, 2006 folgten ein Trickfilm von Regisseur Hosoda Mamoru und der Manga von Kotone Ranmaru, 2010 ein neuer live action-Film und 2011 die englische Übersetzung. Allein schon diese Langlebigkeit der Geschichte belegt ihre richtungweisende narrative Struktur. Sie beruht nicht länger auf langfristiger, männlicher Kontrolle über die Zeit, sondern auf weiblicher Akzeptanz von Schwäche und Offenheit gegenüber der Erfahrung von Kontrollverlust, Schwindel, Schweben und Emotion. Der Roman beschreibt sie lebendig: 56 Gardner 2007: 83-84.
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„Kazuko fühlte ihren Körper von etwas Unsichtbarem emporgehoben. Ich muss mich bewegen, dachte sie, ich muss davonkommen, bevor ich verletzt werde. Als ob ihr Wunsch, an einem anderen Ort zu sein, ihren Körper schwerelos gemacht hätte.“57 Aktuelle Zeitreisemanga visualisieren diesen Kontrollverlust auf der Zeitreise in ganz ähnlicher Weise. Die postmodernen Passagiere sind nicht länger von Maschinen oder technischen Apparaten umgeben und geschützt, sondern gerade wegen ihres Kontrollverlusts dem Wirbel oder Sog unmittelbar ausgesetzt. In Taniguchi Jirōs Manga haruka na machie (Vertraute Fremde, 1998) verliert sararīman Nakahara Hiroshi am Grab seiner Eltern sein Bewusstsein, und ein flatternder Schmetterling beschreibt metaphorisch seinen Geisteszustand. Eine vergleichbare Szene findet sich in Murakami Motokas JIN, als Gehirnchirurg Munakata Jin vorbei an wankenden Wolkenkratzern und flimmernden Großstadtlichtern zurück in das Jahr 1862 schwebt: „Falle ich oder fliege ich?“ In Yamazaki Maris Manga Thermae Romae reist der Architekt Lucius Modestus vom antiken Rom aus viele Male ins moderne Japan, indem er im heißen Wasser und Dampf der Thermen untertaucht und nach geräuschvollem Sprudeln und Gluckern in verschiedenen onsen (heißen Quellen) am anderen Ende der Welt wieder auftaucht. Damit haben auch die „alten“ Transportmedien der Zeitreise: Raumschiffe, Flugzeugträger, Sportwagen oder spezielle „Tore“ endgültig ausgedient und weichen einem unkontrollierten, langsamen Rutschen oder Gleiten, einer körperlichen Erfahrung in Zeitlupe, einem plötzlichen Tauchgang zu einer anderen Seite des Selbst. Auf diesem irrationalen Strom in die Postmoderne werden die Passagiere ins Reich der Reflexivität und zur Reflexion ihrer selbst gerudert.
3b Postmoderne Zeitreisen als narrative Schleife: Selbsterkundungen in Thermae Romae und kimi to boku no ashiato Das postmoderne Zeitreisenarrativ bietet keine klare (Auf)Lösung mehr, kein happy end, keine Erlösung und keine glückliche Heimkehr. Die Suche gilt nicht irgendeinem Sieg, einem wissenschaftlichen Durchbruch oder dem persönlichen Ruhm, sondern einfach einem Freund, einem Quantum Trost, einer Auszeit. In den 90er Jahren haben diverse Filme und auch das Finale von Star Trek: The Next Generation in den Folgen 177 und 178 All Good Things (1994) die Vorstellung der Zeitreise als Mission ins äußere All revidiert und stattdessen ihre Charaktere in statische Zeitschleifen eingeschlossen, wo sie die fragile Konstruktion ihrer 57 Yasutaka 2011: 63. Aus dem Englischen.
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Identität überdenken müssen. Zurecht haben also Slusser und Chatelain festgestellt, dass die narrative Zeitreise auch in ihrem 100. Lebensjahr nicht endet, sondern „immer wildere timescapes testet“.58 Der Zeitreisende ist mit anderen Worten vom Subjekt der Forschungsmission zum Objekt der Untersuchung mutiert. Der postmoderne Zeitreisende ist kein Held, Kapitän oder Doktor mehr, sondern eine durchschnittliche Person mit Allerweltsproblemen. In dem Film Groundhog Day (Täglich grüßt das Murmeltier, 1993) wird der larmoyante Fernsehreporter Phil, gelangweilt und angewidert von seiner eigenen Wetterreportage, in einem Provinzstädtchen in Pennsylvania vom Schnee eingeschlossen und wacht von nun an immer wieder an demselben Morgen auf. Er flüchtet in Nihilismus, Hedonismus und sogar in den Selbstmord, aber erst sein Bemühen, das Allerbeste aus sich und dem Tag herauszuholen, verleiht ihm neuen Lebensmut. Er lernt Französisch, Klavier und Eisskulptur und wird langsam zum beliebtesten Mann im Dorf. Als er schließlich auch das Herz seiner jungen Kollegin erobert, ist der Fluch gebrochen und die Schicksalsgötter erlösen ihn aus seiner temporalen Gefangenschaft. Wiederholung und Kopie sind Kernelemente der postmodernen Kultur, die Selbstreferenz autopoietischer Systeme ist ihre soziologische Entsprechung. Zeitgenössische Zeitreisenarrative spielen häufig mit scheinbar vergangenen Optionen, die sie noch einmal durchlaufen, revidieren oder neu einschätzen. In Tom Tykwers Film Lola rennt (1998) bekommt die rothaarige Heldin 20 Minuten Zeit, um ihren Freund zu retten, der eine Tüte mit 100.000 Mark aus dem Besitz seiner kriminellen Freunde in der U-Bahn vergessen hat. Der Film komponiert drei Szenarien derselben Geschichte mit nur winzigen, aber entscheidenden Unterschieden im Timing. Obwohl sie es mit jedem Durchlauf minimal verbessern kann, bleibt ihr Erfolg doch weitgehend abhängig von den äußeren Bedingungen, den Handlungen anderer, und vom Glück im Spiel. Die Erfahrung der Zeitreise von nur wenigen Minuten entlastet daher eher von der Bürde der Verantwortung und erinnert an unser Ausgeliefertsein und unsere Schwäche im täglichen Überlebenskampf. Weder Phil in Groundhog Day noch Lola in Lola rennt reisen weit in Raum und Zeit. Phil erwacht stets aufs neue an demselben Tag, Lola kann ihr Leben zweimal um je 20 Minuten zurückstellen, die ihr dann verbleiben, ihren Freund herauszukaufen. Unter diesem Zeitdruck kommen beide schnell und bald zu einer wichtigen Erkenntnis: Statt im Handumdrehen die Welt zu retten, zu verbessern oder zu verändern, müssen sie die mühsame Arbeit an sich selbst in Angriff nehmen. Eben 58 Slusser/Chatelain 1995: 185. Aus dem Englischen.
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diese Konzentration auf die Person, die Biographie und Psyche des Reisenden kennzeichnet und belebt das postmoderne Zeitreisenarrativ. Seine Charaktere sind häufig von Selbstzweifeln geplagt und ohne echte Kontrolle über ihr Leben. Typisch sind die „Helden“ in der amerikanischen Fernsehserie Heroes (2006). Hier entdecken gewöhnliche Leute von nebenan, dass sie über diverse Superkräfte verfügen. Sie haben eine besondere Muskelkraft, können Gedanken lesen oder sich nach Verletzungen spontan regenerieren. Auch der Büroangestellte Nakamura Hiro ist nur ein 24jähriger science fiction-Fan, der Zeit und Raum manipulieren kann. Wie die anderen hat er diese Fähigkeit nur durch Zufall erworben und ist weder besonders stolz und glücklich damit. Tatsächlich verleiht ihm seine Gabe keine Kontrolle, sondern sie kontrolliert ihn. Damit teilt er seine Selbstwahrnehmung mit vielen Japanern der jüngeren Generation, die während der langen Hochwachstumsphase groß wurden und sich heute doch nur in Abhängigkeit von ihren Eltern wiederfinden. Sie bleiben als parasite singles (parasaito shinguru) zuhause wohnen und verschieben ihre Heirat und Familiengründung in die ferne Zukunft. Während ihre Hoffnungen auf eine lebenslange Anstellung allmählich schwinden, wollen sie doch an der Konsumgesellschaft teilhaben, sich medial ablenken oder auch mit sich selbst beschäftigen. Die Soziologin Ishikawa Satomi ist bei ihrer Feldforschung in Japan immer wieder auf genau diese Fragestellung bei der heutigen Jugend gestoßen: Was will ich im Leben und wie finde ich Job und Partner? Den nach dem Wirtschaftsboom in Japan geborenen Generationen sind heute die westlichen Vorstellungen von Selbst und Identität ebenso geläufig. Ich habe während der 90er Jahre eine große Leidenschaft wahrgenommen, den Wunsch, sich selbst zu entdecken. Viele sprachen von ihrer Selbstsuche (jibun sagashi), ihrem Selbstbewusstein (jiko shuchō), ihrer Selbstverwirklichung (jiko jitsugen) oder einfach vom Ausdruck ihres Selbst (jiko hyōgen).59
Timothy Iles hat ähnliche Trends im japanischen Kino entdeckt. So ist für road movies die Flucht in die romantische Natur blockiert. Ihre Protagonisten müssen ihrer Entfremdung auf kürzeren Reisen innerhalb der Urbanräume des Landes entfliehen.60 Auch der Zeitreisemanga haruka na machie (Vertraute Fremde, 1998) von Taniguchi Jirō erzählt eine solche spontane, ungeplante und unerwartete Flucht mit einem zeitlichen Sprung oder Bruch. Seine Geschichte ist bereits ins Deutsche, Englische, Italienische und Französische übersetzt, und Regisseur Sam Garbarski hat sie sogar nach Frankreich verlagert und unter dem Titel Quartier Lointain (2010) verfilmt. Hauptperson ist der überarbeitete japanische sararīman Nakahara Hiroshi, ein verheirateter Familienvater von 48 59 Ishikawa S. 2007: 24. Aus dem Englischen. 60 Iles 2008: 138.
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Jahren. Frustriert erlebt er seine midlife crisis und trinkt zuviel. Unversehens besteigt er den falschen Zug in Kyoto und fährt zurück in sein Heimatdorf. Er besucht den Friedhof und wird am Grab seiner Eltern zurück in seine Jugendzeit gesogen. Plötzlich ist er wieder ein Teenager von 14 Jahren und durchlebt noch einmal seine Adoleszenz, diesmal mit dem Wissen und der Reife des Erwachsenen. Er genießt noch einmal seine erste Liebe und versucht auch, seinen Vater noch zurückzuhalten, der die Familie ohne Ankündigung verlassen hat. Letzteres scheitert, dennoch lernt er viel über dessen persönliche Motive sowie über die Notwendigkeit, die Entscheidungen anderer zu aktzeptieren. Taniguchis ruhiger und realistischer Zeichenstil, die ihm die Ehrenbezeichnung „Hergé von Japan“ eingebracht haben, unterstützt diese nüchterne Betrachtung eines Lernprozesses, den Timothy Iles „dem Selbst entgegenreisen“ nennt.61 Ebenso richtet Yamazaki Maris Manga Thermae Romae (2009, Gewinner des Manga Daishō Award 2010) sein Augenmerk auf die persönlichen Probleme seines Helden. Er spielt im antiken Rom zu Zeiten des Kaisers Hadrian (76-138 v. Chr.). Der Architekt Lucius Modestus baut Thermen und Bäder im Jahre 130 v. Chr. Allerdings verliert er seinen Job, weil er partout seine Auftraggeber nicht von der bahnbrechenden Bedeutung seiner Entwürfe überzeugen kann. Als er selbst ins Bad steigt, wird er mehrfach in das heiße Wasser gesogen und taucht dann in verDer römische Architekt Lucius Modestus schiedenen heißen Quellen (onsen) wird durch die Zeit in ein onsen in Japan im modernen Japan wieder auf. Angesogen und erntet neugierige Blicke. Yamazaki Maris Erfolgsmanga Thermae fangs ist ihm diese Zeit- und Romae wurde inzwischen auch verfilmt. Raumdifferenz nicht wirklich bewusst, aber er studiert ausgiebig die Objekte und Designdetails in Japan: die Getränkeautomaten, die im Quellwasser gekochten Eier, die mit Landschaften und Werbung bemalten Wände, die Abdeckungen für das heiße Wasser, die Flachbildschirme mit schwimmenden Quallen und die Wasserdüsen in der Toilettenschüssel. Zurück in Rom ahmt er all diese 61 A.a.O. 135. Aus dem Englischen
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Details gründlich nach. Dabei ersetzt er die digitalen gadgets aus Japan durch analoge, mechanische Konstruktionen. Seine Innovationen treffen auf große Gegenliebe, und er erhält einen Auftrag für eine Therme von Kaiser Hadrian, der sich vor den Friedensverhandlungen in Jerusalem entspannen möchte. Am Ende seiner Reise in den Nahen Osten aber erhält Lucius wie Munakata Jin ein Scheidungsgesuch seiner Frau. Auch dieser Manga handelt nicht von den historischen oder politischen Problemen im antiken Rom, sondern vielmehr von den persönlichen, typischen Problemen eines gut ausgebildeten Mittelständlers in der globalisierten Ökonomie. Erneut geht es um Überarbeitung, Burnout, Entlassung und die ewige Suche nach Ideen und Innovationen. Obwohl die Zeitzonen in diesem Manga zweitausend Jahre auseinanderliegen und die Handlungsorte Tausende von Kilometer, teilen sich beide Ebenen die entscheidenden kulturellen und sozialen Themen. Lucius’ Zeitreise ist gut vergleichbar mit der Dienstreise oder Versetzung eines typischen japanischen sararīman, zumal er sich seiner Zeitreise gar nicht recht bewusst ist und mit seiner Neugier seine japanischen Mitbadenden sehr belustigt. Nach seiner Rückkehr nach Rom schenkt er seinen Freunden Glauben, die ihm von seiner plötzlichen Ohnmacht mit Halluzinationen berichten. Gleichzeitig nutzt er die Vorlagen und Ideen aus Japan für seine Entwürfe von Thermen in Rom, und die folgenden Bände müssen zeigen, ob er sein Leben noch in den Griff bekommt. Der Zeitreisemanga kimi to boku no ashiato - kasuga taimu toraberu kenkyūjo (Deine und meine Fußstapfen. Das Kasuga Zeitreiselabor, 2010) von Yoshizuki Kumichi blickt noch mikrologischer in die japanische Gesellschaft von heute. En detail erzählen die science fiction-Episoden von einem kleinen Zeitreiselabor im Jahre 2022, das die junge Kazamidori Aki mit ihrem treuen Assistenten Miyama Hiroki betreibt. Aki hat das Labor samt Ausstattung von ihrem Vater geerbt und gewährt damit jetzt Kunden Im Zeitreisemanga kimi to boku no ashiato scanReisen in ihre Vergangen- nen süße kleine Computer die Gehirne der Passaheit. Diese kosten ¥ 500.000 giere. Diese mutieren zu Patienten auf der Couch und erkunden sich selbst und ihre Geschichten. (etwa € 4300), allerdings 53
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produzieren diese Geräte in Wirklichkeit keine echte Zeitverschiebung. Vielmehr scannen kleine Roboter namens asutōn die Gehirne der Kunden, die sich dann wieder an verschüttete, aber biographisch wichtige Ereignisse und Erlebnisse der letzten zwanzig Jahre innerhalb der Stadt Kasuga erinnern können. Diese „Mnemo-Technologie“ vermeidet dadurch auch jede narrative Beschäftigung mit dem Zeitparadoxon und konzentriert sich voll und ganz auf zeitgenössissche Biographien und Identitäten. Erneut tritt die weibliche Hauptperson nicht als Heldin oder Kommandeurin auf, sondern hält das Erbe ihres Vaters in Ehren und begegnet zugleich ihren wenigen Besuchern oder Laborkunden mit Verständnis und heilsamer Empathie. Diese Kunden sind in Wirklichkeit Patienten: Sie legen sich auf eine Pritsche oder Couch für den Gehirnscan per asutōn und durchlaufen eine Art psychoanalytischer Sitzung, die ihre Erinnerungen an biographische Brüche reaktiviert. Der erste Kunde des Labors, Dōjima-san, wurde vor 18 Jahren von einem Mädchen zurückgewiesen. Während seiner virtuellen Sitzung erhält er die Gelegenheit, mit seinem damaligen Selbst zu sprechen und empfiehlt seinem damaligen Selbst, sein Image als science fiction-Fan, Freak und otaku abzulegen. Zu seiner Enttäuschung aber wird er erneut von dem Mädchen zurückgewiesen. Sie offenbart ihm, dass sie ihn gerade mit all seinen Ecken und Kanten mochte und hoffte, er würde sich selbst und seinen Interessen gegen alle Widerstände treu bleiben. Dōjima-san folgert in später Selbsterkenntnis: „tada jibunde jinbunwo hitei shite ita dake nan da na (Nur ich selbst habe mich selbst zurückgewiesen).“ Laborchefin Aki begleitet ihre Kunden häufig auf ihrer Reise in die künstliche, mnemotechnisch produzierte Vergangenheit. Kein Wunder, dass auch sie selbst einmal Teile ihrer dunklen Vergangenheit offenbaren muss. Sie weist die Avancen ihres Assitenten Miyama Hiroki, der natürlich in sie verliebt ist, mit den Worten zurück: „watashiwa donna tanintomo fukai kizunawo tsukuru kotowa shimasen (Ich möchte mit niemandem irgendwelche tieferen Bindungen eingehen).“ Diese bindungslose Gesellschaft (muenshakai), Vereinsamung und Isolation sind längst alltägliche Befunde im alternden Japan.62 Auch Aki ist sich ihrer besonderen Verantwortung für ihr Labor und auch der impliziten Risiken ihrer therapeutischen Dienste bewusst. Ihretwegen hat sie auch ihren früheren Freund (moto kare) verlassen, den japanischstämmigen Amerikaner Yūki Lang. Zu ihrer Überraschung besucht er sie in ihrem Labor nach langen Monaten der Trennung und bietet ihr ¥ 10 Millionen (€ 110.000) als Zuschuss: Er habe eine Erbschaft gemacht und deshalb 62 Tachibanashi 2010; Shimada 2011.
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auch seiner Karriere als Schauspieler adieu gesagt. Aber auch Yūki lässt sich breitschlagen, sich auf die Couch zu legen, und reist elf Jahre zurück in eine Zeit, als er noch mit Aki glücklich war. Als er sich bitter beschwert über seinen Mangel an Erfolg und Einkommen, hat sie ihn aufgemuntert: „jibun no kanōseiwo shinjite ganbare (Kämpfe und glaube an dich selbst und deine Möglichkeiten!).“ Diese Beobachtung bekehrt ihn: Zurück in der Gegenwart besinnt sich Yūki, dankt Aki für ihre Lektion und verspricht, sich wieder der Schauspielerei zuzuwenden. Die Zeitreise, der alle Charaktere in diesem Labor ausgesetzt werden, entpuppt sich als eine Art der Traumdeutung oder Psychoanalyse, die nach dem wahren Selbst und wirklichen Willen der Probanden, Patienten oder Reisenden fragt. Die Zeitschleife ist hier nichts anderes als eine narrative Nische zur Selbsterkundung und Selbsterkenntnis. Die scheinbaren Helden sind schwache Kunden, unsichere Patienten, ausgestreckt auf der Therapeutencouch oder auf der Pritsche im Labor. Weder kontrollieren sie ihr Leben, noch ihre biographische Zeit, deshalb gehören sie in die kommunikative Landschaft der Postmoderne. Wie viele andere verlorene Seelen suchen sie lediglich einen Anhaltspunkt für ihr Selbst und eine Bindung innerhalb der bindungslosen Gesellschaft Japans. Aki repräsentiert und bekämpft zugleich diese Lebensbedingungen als ein schwaches, schutzbedürftiges Mädchen im Schatten ihres Vaters, umworben von ihrem Assistenten und engagiert für ihren Ex-Freund. Sie leidet unter den Vorahnungen ihres eigenen Todes, aber gibt nicht auf, andere zu ihrem reflexiven Lernprozess anzuleiten. Mit dieser Priorisierung der biographischen Zeit komplettiert der Zeitreisemanga seinen Übergang von der technologischen Vermessung und Kontrolle des Raumes und des Alls zur Eroberung und Erschließung der psychosozialen Innenwelt.
Schluss: Time Travel Topoi in Manga und Film Erst in der jüngsten Phase ihrer Geschichte hat die menschliche Gesellschaft gelernt, Zeit und Raum systematisch zu vermessen. Diese Verbindung zwischen Raum- und Zeitkontrolle zeigt sich idealtypisch in John Harrisons Schiffsuhr „H4“ von 1759 und seiner Lösung des Längenproblems. Im 19. Jahrhundert führten die Industrieländer allmählich die allgemeine Schulpflicht ein, und jedes Kind erwarb im Rahmen seiner erweiterten Handlungskompetenz auch ein operatives Zeitverständnis. Erwachsene in wenig entwickelten Gesellschaften scheitern noch heute an der exakten Beobachtung und zeitlichen Zuordnung simultaner Bewegungen, am Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Geschwindigkeit. Erst im 20. Jahrhundert haben wir ein reflexives Bewusstsein, 55
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eine Geschichte und Theorie der Zeit entwickelt: Während die Ethnologen und Soziologen die Zeit der Wildnis vermaßen (Evans-Prichard, Maki, Dux), entwickelten die Literaten nun fiktionale Zeitreisen in die Vergangenheit und Zukunft. Dieses narrative Element der science fiction-Literatur hat sich in den visuellen Massenmedien seit dem Krieg nachhaltig in Japan und im Westen etabliert. Seit den 60er Jahren finden sich Zeitreisegeschichten und -serien schon für Kinder, die noch keine Uhr lesen können, und für Teenager in allen textuellen und visuellen Massenmedien der postindustriellen Gesellschaften. Dieses Kapitel hat die Entwicklung dieser Zeitreisenarrative im japanischen Manga untersucht und sie mit Filmen aus westlichen Ländern verglichen. Drei Phasen wurden unterschieden: Die klassische Phase, beginnend in den 60er Jahren, nutzte die Zeitreise für die Kontrolle der Zeit oder für eine historische Mission, ausgeführt von einem männlichen Forscher, Ingenieuren oder Soldaten mit technisch aufwändigen Transportmitteln wie Zeitmaschinen oder Raumschiffen. Generisch waren die Geschichten science fiction, futuristische Erfindungen ermächtigten die Helden erst zu ihren gewagten Missionen. Typische Beispiele sind die Fernsehserien Star Trek oder Time Tunnel oder die Terminator-Filme. Im japanischen Manga steht Tezuka Osamu mit seinem Hauptwerk Phoenix für die raffinierte Kontrolle über die Zeit. Zwar sind die Personen in seinen Episoden keineswegs perfekt und gieren nach dem Blut der Vogeldame, um unsterblich zu werden. Aber der Autor behält die absolute Kontrolle über die erzählte Zeit in der Geschichte durch seine geniale temporale Konstruktion, die sich erst nach der Lektüre aller seiner Bände offenbart. Die Zeitebenen der in sich abgeschlossenen Episoden springen zwischen Vergangenheit und Zukunft und konvergieren auf die Erzählzeit und die Lebenszeit des Lesers. Diese Konstruktion birgt und transportiert eine sublime These über die Dekadenz, Gier und Immoralität der Menschen, sowie eine umsichtige, scharfe und wenig hoffnungsvolle politische Kritik. In der zweiten, transitorischen Phase, die etwa in den 80er Jahren im westlichen Film und mit einer Verzögerung von 20 Jahren im Manga begann, dient die Zeitreise einem letzten Blick zurück in die Geschichte. Seine Hauptpersonen werden nun unversehens und unabsichtlich in die Vergangenheit gesogen, und sie zögern auch, aktiv die Geschichte zu manipulieren. Dieses/r Moment der Unschlüssigkeit ist das zentrale narrative Element der amerikanischen Filme The Final Countdown und Back to Future sowie in den vergleichbaren japanischen Manga JIN und zipang. All diese Texte ergründen, häufig sogar als Familiengeschichte, frühere Phasen der Moderne, den Zweiten Weltkrieg, die 50er Jahre, das Ende der Tokugawa-Zeit, und ersetzen die klassische militärische Mis56
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sion des zeitreisenden Helden durch ergebnisoffene Forschung. Die Ausflüge sind nicht länger geplant oder kontrolliert, gerade deshalb laden sie die Passagiere zum Lernen ein, zum Studium, zur Verarbeitung und Überwindung von vergangenen Ereignissen oder Erlebnissen. Dadurch treten sie allmählich aus dem Schatten dieser Vergangenheit und intensivieren und bereichern die Gegenwart der Reisenden und ihre reale Lebenszeit. Die dritte und postmoderne Phase kündigt sich schon in den 1960er Jahren an, in dem mehrfach verfilmten Roman Das Mädchen oder in dem Collage-Film La Jetée. Der Durchbruch folgt in den 90er Jahren in Amerika und etwa eine Dekade später in Japan. Diese zeitgenössischen Zeitreisenarrative sind völlig losgelöst vom historischen oder politischen Makrokosmos und rücken die Brüche und Zweifel in Charakter und Biographie ihrer Hauptperson ins Zentrum des Interesses. Der zeitliche Horizont der Reise schrumpft, teilweise auf wenige Minuten, und sie vermeidet zumeist auch Ortswechsel. Statt der fernen Orte und Epochen konzentriert sich die Geschichte auf die Psyche und Innenwelt ihrer Hauptperson. Dieses Muster findet sich in aktuellen, weltweit erfolgreichen Zeitreisetexten, in dem japanischen Manga Vertraute Fremde ebenso wie in den Filmen Lola rennt oder Täglich grüßt das Murmeltier. Die Geschichten führen in eine Zeitreise innerhalb einer Lebensspanne an einem Ort und laden ein zu Empathie und Identifikation. In den postmodernen Zeitreisenarrativen brechen die Verschiebungen über die Personen herein wie die japanische bubble economy von 1989 über Japan und die anglo-amerikanische Immobilienkrise 20 Jahre später über die westliche Welt. Ihr Blick in die Erfahrungswelt der Menschen hat daher eine fast psychoanalytische Dimension und fügt sich ein in die Zeiten der Krise, der verlorenen Karrierechancen, Jobs, Partner und Träume, sowie der „verlorenen Jahrzehnte“ in Japan. Die verhinderten Helden stecken fest, und sei es nur in der Zeit, und vorsichtig müssen sie an sich arbeiten und auf ihre Chance warten, die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Dabei gönnen sie sich keine luxuriöse Fernreise, sondern verbleiben bescheiden im vertrauten Rahmen ihrer reduzierten Welt. Nur auf dieser aufmerksamen und vorsichtigen Rückwendung zu ihren eigenen Wurzeln ruht ihre Hoffnung, doch noch unerwartet einen Ausweg zu finden. Wie auch die Analyse der populären Manga Thermae Romae und kimi to boku no ashiato gezeigt hat, steht die Selbstreflexion bis hin zur Psychoanalyse im Zentrum der postmodernen Zeitreise. Der römische Architekt Lucius Modestus in Thermae Romae durchläuft dieselbe Katharsis wie sararīman Nakahara Hiroshi in Vertraute Fremde. Kazamidori Akis Zeitreise- und Forschungslabor hält derartige Reisen zur 57
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Selbsterfahrung sogar für jedermann im Angebot, begrenzt auf die Stadt Kasuga und die letzten 20 Jahre. Die Kapitel dieses Manga sind angelegt als psychoanalytische Sitzungen: Akis Kunden oder Patienten lassen sich mit traurigen oder traumatisierenden Erinnerungen konfrontieren, doch erst dieser Blick in ihre Geschichte erlaubt ihnen, sie zu verarbeiten und zu überwinden. So landet das moderne Zeitreisenarrativ schließlich in der postmodernen Gegenwart und bildet das Dilemma der jüngeren Generation ab, die nicht mehr an die Versprechungen der Moderne glauben kann, aber ihre eigenen Lebensentscheidungen, Lebenserfahrungen und -stile bezweifelt und bedenkt. Die narrative Entwicklung ist unübersehbar: Indem der Zeitreise-Manga das Lernen, die Reflexion und auch die persönliche Entwicklung ins Zentrum seiner Betrachtung rückt, kreiert er das produktive Gegenteil jener „Selbstoffenbarung“ und „Entwicklungslosigkeit“, die Irmela Hijiya-Kirschnereit als wesentliche Merkmale der traditionellen literarischen Gattung der I-novels (shishōsetsu) anführt.63 Die Suche nach fernen Galaxien im All per Raumschiff mit WarpAntrieb endet in einer japanischen Kleinstadt im Jahre 2022. In diesem postmodernen Zeitreiselabor geht es nicht um große historische Zusammenhänge oder narrative Bögen. Stattdessen entführen kleine Gehirnscanner die Kunden, Besucher und Patienten mitsamt ihrer Leserschaft in reflexive Zeitschleifen und zu therapeutischen Sitzungen, entlocken ihnen intime Geheimnisse und Geständnisse über persönliche Schwachstellen und münden in langwierige Narrative der Selbstbefragung, Selbstsuche und Selbstkritik. Mit diesem geschärften Blick in die (Ge)Schichten der Innenwelt hält uns der Zeitreisemanga auf dem Laufenden und zugleich das Ende der laufenden Geschichte offen.
Zeitreisemanga Hosokawa, Chieko (1976) ōke no monshō (The Crest of the Royal Family). Tokyo: Akita Bunko. Kawaguchi, Kaiji (2000) zipang. Tokyo: Kōdansha. Kotone, Ranmaru (2006) tokiwo kakeru shōjo (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang) Tokyo: Kadokawa. Takahashi, Rumiko (1996) inuyasha. Tokyo: Shōgakkan. Taniguchi, Jirō (2009) Vertraute Fremde (haruka na machie). Wisbech: Fanfare. Tezuka, Osamu (2009) hi no tori. reimeihen (Phoenix: dawn). Tokyo: Asahi Shinbun Shuppan (First published 1954). 63 Hijiya-Kirschnereit 1996: 282.
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Tezuka, Osamu (2006-2009) Phoenix, volumes 3-12. San Francisco: VIZ Media. Murakami, Motoka (2001) JIN, volumes 1-3.Tokyo: Jump Comics. Yamazaki, Mari (2009) Thermae Romae (Die Römischen Thermen). Tokyo: Beam Comics. Yoshizuki, Kumichi (2008) kimi to boku no ashiato. tanpenshū (Deine und meine Fußstapfen. Novelette Edition).Tokyo: Jump Comics. Yoshizuki, Kumichi (2010) kimi to boku no ashiato. taimu toraberu kasuga kenkyūjo (Deine und meine Fußstapfen. Das Kasuga ZeitreiseForschungslabor). Tokyo: Jump Comics.
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1.3 Reibungsloser Rückzug: otaku und hikikomori in Manga und Gesellschaft Dieses Kapitel folgt dem Blick der Populärkultur auf das „acute social withdrawal syndrome“ in Japan, auch bekannt als hikikomori (hiku = ziehen, komoru = einschließen). Je nachdem, ob man darin nur eine Devianz oder eine ernsthafte psychische Pathologie sieht, kann man es als „Rückzug“ oder als „akutes soziales Rückzugssyndrom“ übersetzen. Natürlich hängt es eng zusammen mit den andauernden ökonomischen Problemen Japans seit dem Platzen der bubble economy, sowie mit den ernsthaften sozialen Verwerfungen in der Folgezeit. Sie traten mit den „verlorenen Dekaden“ (ushinawareta jūnen) immer offener zutage. Die neue Instabilität schlägt sich unmittelbar nieder in sinkenden Einkommen und Geburtenzahlen sowie in den generell bescheideneren Erwartungen der jüngeren Generationen. Ihre heutigen Anstellungs- und Beschäftigungsverhältnisse stehen im scharfen Kontrast zu jenen der Nachkriegsgenerationen und werden oft mit Anglizismen bedacht und in katakana geschrieben. Ein Job heißt auf Japanisch baito (von: Arbeit), ein Zeitarbeiter furītā (eine Kombination aus free und Arbeiter), junge Leute, die partout nicht von zuhause ausziehen wollen, parasaito shinguru (Parasiten oder parasite singles) und Schul- oder Arbeitsverweigerer (dropouts) heißen neet (= not in employment, education or training). Die otaku und hikikomori bilden daher nur die äußerste Spitze eines radikalen Wandels, der abwechselnd als Bedrohung, Erschütterung, Inspiration oder heilsamer Schock wahrgenommen wird. Die hikikomori werden normalerweise definiert als neets ohne ökonomischen Status, die sich für mindestens sechs Monate, oft auch jahrelang, in ihrem Zimmer einigeln und alle sozialen Kontakte meiden. Auch die Kommunikation mit ihren Eltern reduziert sich in der Regel auf die Versorgung mit dem Nötigsten. Manche schätzen ihre Anzahl in Japan auf über eine Million, aber vermutlich ist eine Viertelmillion die realistische Größenordnung.64 Obwohl das Phänomen hikikomori auch in anderen Ländern auftritt, ist diese Radikalität und Dauer des sozialen Rückzugs spezifisch für Japan und entspricht auch den Eckdaten seiner kulturspezifischen Kommunikation: Offene Konflikte werden eher vermieden als ausgetragen, Kinder leben oft bis zur Heirat bei ihren Eltern, Außenseiter werden ignoriert und Problemen wird gern mit Toleranz, Geduld oder Fatalismus begegnet (shikataganai: Man kann ohnehin nichts tun. deru kugiwa utareru: Der Nagel, der herausragt, wird eingeschlagen. kusai mononi futawo suru: Was stinkt, wird zugedeckt). 64 Furlong 2008: 312.
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Psychologisch gesehen ist das hikikomori-Verhaltensmuster eine radikale Version des otaku, des Internet-, Spiel- oder Computersüchtigen der 80er und 90er Jahre, der nur noch mit seiner virtuellen Gemeinde oder peer group kommuniziert. Allerdings haben Manga-Künstler und Soziologen in letzter Zeit ihren Blick auf beide psychosozialen Muster revidiert. Im Jahre 2004 gelang es einem otaku, mit seiner Geschichte als densha otoko (junger Mann im Zug) berühmt zu werden. Erfolgreich verteidigte er ein junges Mädchen gegen einen Betrunkenen und avancierte zum Kavalier auf allen Kanälen: erst in seinem Blog, dann in Manga, Fernsehen und Kino. Aber auch die hikikomori haben es inzwischen zu Manga-Helden gebracht und werden weltweit goutiert, so in Takimoto Tatsuhikos achtbändigem Werk NHK ni yōkoso (Welcome to the NHK, 2004) und in Oku Hiroyas dreibändigem Manga mēteru no kimochi (2007). Genau aus diesem Wandel im Image der otaku und hikikomori von „seltsam und etwas beängstigend“ zu „eigenwillig, originell und inter-essant“ spricht ein radikaler Umbruch im japanischen Konzept von Verpflichtung, Arbeitswelt und Männlichkeit.
Die Karriere des otaku: vom Mörder zum Manga-Helden Der Psychoanalytiker Okonogi Keigo (1930-2003) hat als einer der ersten die Brüche im traditionellen japanischen System von Gruppenzwang und sozialer Verpflichtung wahrgenommen. Schon in den 70er Jahren nannte er die jüngere Generation „moratorium people“, weil sie zögerte, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, frühzeitig Verantwortung zu übernehmen und sich klaglos in die japanische Gesellschaft einzufügen.65 Schon damals war das latente Unbehagen in der strengen sozialen Ordnung spürbar, auch wenn es nie in offenen Protest mündete. Zu jener Zeit bildete sich auch die japanische Kultur der otaku (wörtlich: Haus), einer kaum organisierten Minderheit von Computerfreaks und Manga-Fans. Gegen alle Vorurteile und Vorbehalte wuchs sie weiter während der bubble economy, und auf ihrem Höhepunkt im Jahre 1989 schien sich ihr negatives Image zu bestätigen. Als der Serienmörder und Vergewaltiger Miyazaki Tsutomu gefasst wurde, brachten die Medien seine Verbrechen sofort mit seiner (teilweise pornographischen) MangaSammlung und seinem Lebensstil als otaku in Zusammenhang.66 Sie verstärkten so die in der Bevölkerung schon vorhandenen Ängste vor angeblich unreifen und teilweise perversen otaku und gaben ihnen laut Azuma Hiroki eine „besonders negative Konnotation“.67 65 Okonogi 1977. 66 Kinsella 1998: 309. 67 Azuma 2009: 3, 123. Aus dem Englischen.
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Einen kurzen Augenblick lang schienen die otaku alle latenten Sorgen und Nöte der japanischen Gesellschaft zu verkörpern: soziale Fragmentierung, Mediensucht und den Verlust von Bindungen (muenshakai). Ihr überzogener Individualismus mündete in extreme Isolation und in den radikalen Verlust von Realitätssinn und Empathie. Ōsawa Masachi notiert in seiner otaku-Theorie: Die otaku sondern sich ab innerhalb des kommunikativen Netzes der intrinsischen Anderen. (…) Diese abgesonderte Gemeinschaft verliert jede Beziehung mit den transzendenten Anderen, denn ihre Mitglieder werden immer wieder nur von Mitgliedern ebendieser Gemeinschaft angezogen. (…) Viele otaku etablieren daher Beziehungen in genau jener Weise, in der Fangruppen der Manga-Genres shōnen ai oder yaoi sich zusammenfinden, um in diesen Bildgeschichten aufzugehen und mit ihren Vorbildern und Helden zu verschmelzen.68
Im Zeitalter des Internet hat die otaku-Minderheit schließlich Fans auf dem gesamten Erdball für sich gewonnen. Die otaku schufen sich rasch ihr eigenes digitales Biotop für die visuelle Kommunikation der Manga, Anime und Computerspiele und lockten überall begeisterte Anhänger in ihren Insider-Club. Während sich die großen historischen Narrative der Moderne nach dem Fall der Berliner Mauer auflösten und der Traum immerwährenden Wachstums mit der bubble economy platzte, schwangen sich die otaku zur Speerspitze der postmodernen Subkultur auf und nutzten die Zeit, um ihr Image gründlich aufzupolieren. Diese einst als isoliert, unbeliebt und sozial ungeschickt Verschrieenen mutierten mithilfe des Internet und seiner virtuellen Sozialität zur kulturellen Avantgarde und zu Idolen auch für die Kids in den westlichen Konsumgesellschaften. Gerade ihre Computeraffinität reintegrierte sie sozial und verlieh ihrem Konsumverhalten die Aura der Coolheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Mithilfe der neuen Medien wandelte sich das Image der otaku im Handumdrehen zum Besseren, und laut Azuma „benutzt die heutige Generation der otaku den Ausdruck in einem äußerst positiven Sinn“.69 Diese Generation drehte den medialen Spieß um, wandte sich gegen das „otaku-bashing“ in vielen japanischen Massenmedien und ging global zur Offensive über. Azuma bemerkt, dass die Domestizierung der amerikanischen Trickfilmtechnik (Animation) in Japan und der effektive Gebrauch ihrer Technologien eine Voraussetzung der globalen otakuKultur war. Diese postmoderne Kultur ist völlig neu, hochgradig experimentell und völlig vom alten Japan der Nachkriegszeit losgelöst. Auch Sharon Kinsella führt das nunmehr positive Image der otakuIndustrie zurück auf den riesigen Erfolg der Comikets (Comic Markets: der von Millionen Fans besuchten Manga-Messen) in Japan und der 68 Ōsawa 1995: 267-268. Aus dem Japanischen. 69 Azuma 2009: 4. Aus dem Englischen.
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neuen Manga-Genres rorikon und yaoi. Als Genres für Amateure sind diese meist darauf ausgelegt, den Mainstream-Manga und seine Helden zu parodieren und zu karikieren.70 Mit diesen visuellen und narrativen Innovationen artikuliert die junge Generation zugleich ihre Abneigung gegen überkommene Geschlechterrollen. Folgerichtig hat diese neue und positive otaku-Gemeinde in Japan in einem Internetblog im März 2004 einen anonymen Helden hervorgebracht. Umgehend wurde er von allen visuellen Medien vereinnahmt und in einem Manga, in einer Fernsehserie und in einem Kinofilm auf den Schild gehoben. Die Geschichte des densha otoko (Train Man), der seine Schüchternheit spontan überwindet und ein junges Mädchen (und parasaito shinguru) in der U-Bahn vor den Belästigungen eines betrunkenen sararīman beschützt, zirkuliert seitdem um die Welt. In der entscheidenden Szene erscheint der typische japanische Angestellte plötzlich als Übeltäter, während der otaku seinen Kampf gegen und um sich selbst gewinnt. Um sich seiner Angebeteten behutsam zu nähern, holt er sich sogar Rat und Hilfe bei seinen virtuellen Freunden im Netz. Geschickt streift er das Image des Süchtigen, Psychopathen oder Kriminellen ab und mutiert zum Retter und Alltagshelden. Damit zieht er schließlich auch wieder die Mainstream-Medien, ihre Leser und Zuschauer auf seine Seite. Der Psychoanalytiker Ian Parker resümiert: „Der Ausdruck otaku als solcher ist rehabilitiert worden wegen des riesigen Nischenmarktes, den er repräsentiert, und seine negativen Aspekte wurden auf jene jungen Männer ausgelagert, die sich aus der Gesellschaft zurückziehen und sich in ihrem Zimmer einigeln.“71 Offenbar empfinden Gesellschaften in der Krise stets auch eine latente Bedrohung oder sogar Angst und versuchen dann, diese auf ein Objekt nach außen zu projizieren. Gerade deshalb aber taucht die Störung in ihrem Inneren wieder auf. Die Einstellungen und Kommunikationen (oder Nicht-Kommunikation) junger parasaito, otaku oder hikikomori stehen im scharfen Kontrast zur dominanten Ordnung und zu den Erwartungen der Elterngeneration und differenzieren sich weiter gegen sie aus. Dieser langsame, aber tiefgreifende Wandel der Lebensstile transkribiert das japanische Wertesystem.
furītā und neet: die Erschütterung des Wertesystems Der soziokulturelle Wandel geht einher mit politisch-ökonomischen Umbrüchen, die sich gerade deshalb beschleunigen, weil die Funktionssysteme sich hauptsächlich mit sich selbst befassen. Noch immer 70 Kinsella 1998: 306, 314. 71 Parker 2008: 64. Aus dem Englischen.
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geistern mechanische Vorstellungen von politischen Stellschrauben und ökonomischem Wachstum durch die Diskussion. Doch tatsächlich wächst das Wachstum in den (post)industriellen Gesellschaften schon lange nicht mehr, und Stagnation und Krise schufen sich allmählich einen neuen Typus des Angestellten: den prekär Beschäftigten oder furītā (englisch: „temp“) ohne gesetzlichen oder tarifvertraglichen Schutz, oft ohne Sozialversicherung oder Ansprüche auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Derartige Arbeitsverhälnisse nehmen auch in Japan rasant zu und bringen eine neue Klasse von Unterprivilegierten hervor, die ohne Boni, ohne Beförderungen und ohne soziale Sicherheit ihr Auskommen fristen. Das Schicksal dieser neuen Minderheit entkernt die überkommenen Ideale des „Firmenmenschen oder -kriegers“ (kaishaningen) in Japan, der lebenslangen Anstellung (shūshinkoyōsei) und der garantierten, regelmäßigen Beförderung nach dem Senioritätsprinzip (nenkōjoretsu). Schon in den 80er Jahren haben die japanischen Medien das englische Adjektiv free mit dem deutschen Substantiv Arbeiter zum Neologismus furītā verschmolzen. Doch hinter seiner Karriere steckt weit mehr als eine linguistische Kreation. Seit mehr als 10 Jahren arbeiten und (über)leben schon geschätzt zwei Millionen furītā in Japan, das entspricht einem Viertel der 14-35jährigen Bevölkerung.72 Die Soziologin Carola Hommerich unterscheidet in ihrem Vergleich der prekär Beschäftigten in Japan und Deutschland drei Typen: den „MoratoriumTyp“, den „Träumer“ und den „ohne Alternative-Typ“. Sie alle aber teilen sich dieselbe unsichere, instabile Position und erhalten nur etwa ein Drittel des Gehalts der Festangestellten (seishain). Gleichzeitig aber unterwandern sie im gruppenorientierten und normativen Japan die traditionelle Ordnung seiner Arbeitswelt sowie die materielle Wertorientierung seiner Konsumsemantik. Im Angesicht dieser neuen Formen der Ausbeutung haben sich auch die Mentalitäten und Einstellungen in Japan geändert. Wie ihre westlichen „Kollegen“, so „sehen auch viele japanische furītā ihren gegenwärtigen Lebensstil als einen unvermeidbaren Zwischenschritt auf dem Weg zu ihrem Traumjob. (…) Andere wiederum haben sich das Dasein als furītā tatsächlich selbst ausgesucht, um frei über ihre Zeit verfügen zu können und nicht durchgehend den strengen Verhaltensregeln ihrer Firma unterworfen zu sein.“73 Trotz und wegen ihrer schwachen ökonomischen Position steht für die furītā ihre Selbstverwirklichung an erster Stelle. Auch in Japan streben die jungen Leute inzwischen nach individueller Unabhängigkeit und Qualifikation, nach Freiheit von ständigem Druck und dauernder Verfügbarkeit. Beides 72 Tarōmaru/Kameyama 2006: 4-5. 73 Hommerich 2008: 485. Aus dem Englischen.
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lässt sich nur außerhalb des klassischen Arbeitslebens in einer etablierten Firma annähernd erreichen. Hommerich folgert, dass sich sowohl in Japan, als auch in Deutschland der „prekäre Post-Materialist“ als neuer Mentalitätstyp etabliert hat. Er kombiniert sein eher individualistisches Wertegefüge natürlich mit einem Streben nach finanzieller Sicherheit. Umgekehrt schwächt und unterminiert der permanent hohe Grad seiner Frustration den sozialen Zusammenhalt weiter.
Streik, Protest und Aufruhr: Der über 80 Jahre alte Roman kanikōsen feiert wieder Erfolge als Manga und als Film. Das NHK Frühstücksfernsehen vom 26. Juni 2008 sucht nach den Gründen in der japanischen Gesellschaft von heute.
Immerhin hat auch der rechtlose Angestellte in Japan nach dem Vorbild des otaku seinen medialen Helden gefunden. Im Jahre 2008 stürmte die Wiederauflage des Romans kanikōsen (The Crab Canning Ship, 1929) die Liste der Bestseller. Der Roman stammt aus der Gattung der proletarischen Literatur. Sein Autor ist der marxistische Aktivist Kobayashi Takiji (1903-1933), der später zu Tode gefoltert wurde. Schon im Jahre 2007 hatte Variety Press eine Manga-Version herausgebracht. Der Schwarzweißverfilmung von 1953 (Regie: Yamamura Sō) folgte im Jahre 2009 ein Remake in Farbe (Regie: Tanaka Hiroyuki). Sogar der öffentlich-rechtliche Sender NHK behandelte schließlich zur besten Sendezeit im morgendlichen Fernsehprogramm die Problematik rund um den plötzlichen Erfolg des Buches und die Motive seiner Käufer und Leser aus der jüngeren Generation. Wie der furītā, der zumindest zeitweise arbeitet und nun sogar einen populären Helden hat, zu dem er aufschauen kann, so ist auch sein Zwilling, der neet, sozialen Vorurteilen und Verdächtigungen ausgesetzt. 65
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Er wird schnell als Schmarotzer angesehen, und im Gegensatz zur positiven Konnotation des Wortes „free“ in furītā springt die Negativität des neet schon durch seine Definition ins Auge. Auch heute ist es nur ein kleiner Schritt vom Rückzug aus dem Arbeitsmarkt zum sozialen Rückzug. Andy Furlong zieht konsequenterweise eine direkte Linie vom neet zum hikikomori: Beide Gruppen bestehen wesentlich aus jungen Männern aus der arbeitenden Gesellschaftsschicht.74 Auch nach Ishikawa Ryōko war der neet seit 2004 so etwas wie das Nachfolgethema des hikikomori für die japanischen Medien.75 Beide Begriffe meinen eine Form des sozioökonomischen „dropping out“ und passen in das postindustrielle Milieu aus wachsender Unsicherheit, Instabilität und Angst. Offensichtlich ist dieser Marsch in die postindustrielle Volatilität doch erstaunlich reich an Geschichten. Zwar wurde Japan nach dem Platzen seiner Immobilienblase der globalen ökonomischen Konkurrenz ausgesetzt und erfuhr soziale Härten und Zersplitterung. Zugleich aber öffnete sich das Land, teils durch das Internet, teils durch Migration, und verschaffte seiner soft industry die Chance zur Eroberung ausländischer Märkte, zu Austausch und Hybridisierung. Dieser intensive Wandlungsprozess verschafft sich Gehör in neuen sozialen Mustern und ihren entsprechenden Wortkreationen. Längst sind die neet, furītā, otaku und hikikomori eine soziale Realität, die sich reflexiv im Mediendiskurs bestätigt: Die otaku haben das Heft des Handelns selbst in die Hand genommen, gängige Vorurteile mit dem multimedialen und internationalen Erfolg des densha otoko entkräftet und sich aktiv ein positives Image geschaffen. Auch die furītā haben ihre politischen Helden in der japanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gefunden und ihren politischen Arbeitskampf für die Populärkultur unserer Zeit adaptiert. Und sogar für die neet und hikikomori gibt es bereits spontane Sympathiebekundungen aus dem visuellen Reich fiktionaler Genres.
Theorien des hikikomori: sozialer Rückzug als Selbstfindung Während die genaue Anzahl in Japan schwer zu ermitteln ist, herrscht doch Einigkeit über die Zunahme der hikikomori. Da sie offenbar nicht unter einer klinischen Erkrankung leiden, bedarf ihre Behandlung oder Nicht-Behandlung einer sozialen oder therapeutischen Intervention. Für Viktor Wong ist „sozialer Rückzug nicht primär eine Frage der individuellen psychischen Gesundheit, sondern ein soziales Phänomen“.76 Gleichzeitig ist Andy Furlong darin zuzustimmen, dass die „Akzeptanz 74 Furlong 2008: 320. 75 Ishikawa R. 2007: 46. 76 Wong 2009: 343. Aus dem Englischen.
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eines medizinischen Blicks auf das Phänomen dazu beigetragen hat, die politischen Planer abzulenken von den zugrunde liegenden Strukturen im Erziehungssystem und auf dem Arbeitsmarkt“.77 Michael Zielenziger betont, dass nicht alle hikikomori permanent zuhause bleiben. Einige verlassen ihr Zimmer und ihre Wohnung nachts, wenn sie niemanden treffen. Sie fühlen sich ständig von Nachbarn und Verwandten beobachtet und sorgen sich um den Eindruck, den sie bei ihnen hinterlassen, um deren Respekt und ihre eigene Würde (sekentei).78 Auch der japanische Psychologe Saitō Tamaki unterstreicht diese soziale Dimension des Rückzugs (shakaiteki hikikomori) und sieht darin keinen Fall für die klinische Psychologie. Die meisten Fälle beginnen mit Hänseleien (ijime), Schulverweigerung (futōkō), Trennungen vom Partner oder auch Entlassungen aus dem Job. Wenn dann die gestörte und konfuse Kommunikation zwischen dem Betroffenen und seiner Familie nicht zu einer Lösung der Probleme beitragen kann, entstehen Neurosen, die in einen Teufelskreis münden.79 Dabei entspricht der akute, radikale und dauerhafte Rückzug im Prinzip gut zu den japanischen Traditionen, Mentalitäten und Kommunikationsstilen. Nationale Isolation (sakoku) war das Paradigma der Tokugawa-Zeit über mehr als zwei Jahrhunderte bis zur Wiederaufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen (kaikoku) in den 1860er Jahren. Die klare Differenzierung zwischen westlicher und japanischer Kultur, wirklicher Meinung (honne) und formaler Äußerung (tatemae), Insidern (uchi) und Outsidern (soto), hat bis in die modernen Zeiten hinein überlebt. Zwar gibt es Fälle akuten sozialen Rückzugs auch in westlichen Gesellschaften, aber das spezifisch japanische Element des Phänomens hikikomori zeigt sich spätestens dann, wenn die nähere Umgebung des hikikomori mit sich um eine angemessene Reaktion ringt. Amy Borovoy hat darauf hingewiesen, dass die Leitfäden zur Behandlung oft empfehlen, die Devianz zu akzeptieren, und dass es „einen generellen Widerstand der Ärzte, Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter gegen die Pathologisierung der Probleme der Jugendlichen gibt“.80 Alle Individuen werden gleich behandelt, auch wenn die Differenzen zwischen ihnen nur zu offensichtlich zutage treten. Hinzu kommt die maternelle Struktur der japanischen Mittelklassefamilie. Sie verlängert die Abhängigkeit der Kinder und erwartet von ihnen normativ, dass sie bis zu ihrer eigenen Heirat zuhause wohnen bleiben. Ihr Rückzug ist daher weit eher normenkonform als im individualistischen 77 Furlong 2004: 310. Aus dem Englischen. 78 Zielenziger 2007: 27. 79 Saitō 1998: 101-106. 80 Borovoy 2008: 555. Aus dem Englischen.
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Westen. Borovoy konstatiert scharf: „Die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenen-alter, oder zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, wird nicht klar gezogen.“81 Über weite Strecken überspielen fürsorgliche Mütter und Konformitätsnormen Ungeschicklichkeit, Arbeitslosigkeit und sogar soziale Isolation. In Japan neigt die soziale Umgebung dazu, Probleme dieser Art geflissentlich zu ignorieren und so die offene Diskussion, den offenen Konflikt zu umschiffen. Victor Wong beobachtet sogar eine Art Konsens, dass „die hikikomori ohne legitimen Status und ohne die Annahme einer neuen Identität als asozial gelten, als unsichtbar oder einfach nicht-existent in den Augen der Öffentlichkeit.“82 Ein Blick in die japanische Presse allerdings ergibt ein komplexeres Bild. Ishikawa Ryōko betont, dass die hikikomori insbesondere zwischen 2000 und 2004 sehr häufig das Interesse der japanischen Printmedien geweckt haben und dass die visuellen Massenmedien wie erwartet auf diesen Trend aufgesprungen sind.83 Zwar war das Image der hikikomori am Anfang negativ, denn die Medien beschrieben sie als deviant, selbstsüchtig und parasitär. Sie überbetonten eindeutig die überkommenen Anforderungen der Arbeitswelt und verschärften damit nur die Selbstzweifel der verunsicherten japanischen Gesellschaft. Wie die otaku-Minderheit mit den Miyazaki-Morden im Jahre 1989 unter Generalverdacht geraten war, so wurde das hikikomori-Syndrom mit den brutalen Morden in Kobe, begangen von einem psychisch kranken Teenager, und mit anderen Gewalttaten in Zusammenhang gebracht.84 Sogar die englische Zeitung The Telegraph blies in dieses Horn und schrieb von Ängsten und Bedrohungen, welche von den „recluses“ in Japan ausgingen.85 Aber jenseits der Debatte um elterliche Klammerung, Nachlässigkeit oder parasitäre Verhaltensweisen der Jüngeren muss das Phänomen hikikomori als Folge einer Entwicklung betrachtet werden. Die japanische Industriegesellschaft gehört der Vergangenheit an, der Prozess des Übergangs zur postindustriellen Konsumgesellschaft ist in vollem Gange. Konsequenterweise hat Ishikawa Ryōko die Karriere des hikikomori in vier Phasen unterteilt: 1) Schon seit den 80er Jahren werden soziale Lethargie und Apathie diskutiert; im Jahre 1977 klassifiziert Psychologe Okonogi Keigo die jüngere Generation als „moratorium people“. 2) Seit 1995 steigt die Zahl der Schulverweigerer. Fujiya Tomita definiert ihren psychischen Konflikt als hikikomori. 3) Seit dem 81 A.a.O. 566. Aus dem Englischen. 82 Wong 2009: 342. Aus dem Englischen. 83 Ishikawa R. 2007: 45. 84 Furlong 2008: 313. 85 Ryall 2008: Japan’s recluses emerge and start killing. S. auch Slater/Galbraith 2011.
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Jahr 2000 wird das Phänomen hikikomori als ein neues psychosoziales Problem wahrgenommen, was zahlreiche Medienberichte belegen. 4) Ab dem Jahre 2005 tritt der neet die Nachfolge des hikikomori an. Er ist weder ein furītā noch arbeitssuchend, daher wird er gern als Parasit verunglimpft und spürt starken moralischen Druck, sich wieder in die Arbeitswelt zu integrieren.86 Auch der durchschnittliche japanische Angestellte ist natürlich schon strengen Verpflichtungen und sozialen Zwängen ausgesetzt. Im Falle des hikikomori gestalten sich die Stressoren aber noch wesentlich subtiler und komplexer. Saitō Tamaki betont, dass vier von fünf hikikomori männlich sind, schlicht weil die Leistungserwartungen an Frauen viel niedriger seien. Sie dürfen auch zuhause bleiben, vor und sogar noch nach ihrer Heirat.87 Die jungen Männer dagegen sind gefangen in einem Paradox, das er „Kastrationsverleugnung“ (kyoseihinin) nennt: Sie sollen sich allen sozialen Zwängen unterwerfen und alle Erwartungen erfüllen, aber diese Anpassung, Unterwerfung oder Kastration (oder amae) wird nicht als solche anerkannt. Tatsächlich haben die hikikomori daher viel gemeinsam mit hochbegabten Kindern in Japan: Auch sie liegen mit ihren Leistungen und Talenten über dem Durchschnitt, teilen nicht das allgemeingültige Werte- und Bewertungssystem und werden paradox gerade deshalb als individualistisch und selbstsüchtig gebrandmarkt und ausgeschlossen: „Viele junge hikikomori verwünschen eben diese ,Illusion der Gleichheit‘, die ihnen in der Schule aufoktroyiert wurde. Man kann leicht die Spur ihres stillen Widerstandes gegen diese ,Kastrationsverleugnung‘ verfolgen“.88 In seinem letzten Buch über hikikomori und Medienabhängigkeit hat der Psychologe Okonogi Keigo fast dasselbe kommunikative Paradox bei weiblichen hikikomori beschrieben. Er verfolgt es zurück zum Konflikt zwischen traditionellen Nachkriegsmüttern und ihren Töchtern. Letztere wuchsen in einem Klima der sexuellen Gleichberechtigung und mit hohen Karriereerwartungen auf. Wenn die Karriere einer jungen Frau nun unterbrochen wird oder scheitert, dann hat sie gleichzeitig ihre Mutter enttäuscht; wenn sie aber gelingt, wird ihre Mutter sich um ihre Chancen auf eine Heirat und Familiengründung sorgen. Tatsächlich sind sowohl das „Superfrauen-Syndrom“, das aus Amerika importiert wurde, als auch das „Ich hab’s nicht zur Superfrau geschafft“-Syndrom zwei Seiten derselben Medaille. Häufig führt dieses Dilemma auch zu Streit innerhalb der jungen Partnerschaften, zu Trennungen, Scheidungen und zum sozialen Rück(um)zug der jungen Frau nach Hause. 86 Ishikawa R. 2007: 67-71 87 Saitō 1998: 208; Wong 2009: 338. 88 Saitō 1998: 210. Aus dem Japanischen.
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Okonogi sieht das wesentliche Problem dieser jungen Frauen, die oft bei ihm Rat suchen, in ihrer „zwillingsartigen“ Beziehung (ichiransei) zu ihre Müttern. Die Enge dieser Beziehung treibt die Töchter in ihr Schicksal als parasaito shinguru (parasite single) und lockt sie in den scheinbaren Schutz ihres Elternhauses zurück.89 Okonogi benutzt den Ausdruck hikikomori im wesentlichen (noch) ohne pathologische Konnotation. Ishikawa dagegen beschreibt sehr deutlich die Eskalation von der Schulverweigerung zum dropping out und hikikomori, die sich in den verschiedenen Ansätzen zur Behandlung und Rehabilitation spiegelt. Während anfangs noch die Lösung innerer (naimenteki) Konflikte oder die Wiedererlangung emotionaler Balance im Vordergrund stand, liegt das Augenmerk heute auf der Rückkehr zur Schule, auf sozialer und ökonomischer Reintegration. Allerdings beeinträchtigt dieser Blick auf die äußeren (gaimenteki) Umstände Empathie und Verständnis für die Betroffenen.90 Auf der Grundlage westlicher Konzepte von Selbst und Identität (Arthur W. Frank, Kathy Charmaz) interpretiert Ishikawa hikikomori als einen langfristigen Prozess, welcher das gesamte Bedeutungssystem (imitaikei), auf dem der Sinn des Lebens und das Selbst beruhen, erst radikal auflöst und dann vorsichtig und langsam neu zusammensetzt.91 Weil der hikikomori die fundamentale Frage nach sich selbst stellt, wird er eine spontane Rückkehr in ein normatives und daher bedeutungsloses Arbeits- und Sozialleben eben nicht in Erwägung ziehen. Stattdessen tastet er behutsam und in einem langwierigen trial and error-Verfahren mit Teilzeitjobs und kurzfristigen Beziehungen nach seiner Identität und sucht sich in aller Ruhe nicht etwa den ihm zugewiesenen, sondern den zu ihm passenden Platz in der Gesellschaft.92 So untergraben die furītā zusammen mit den hikikomori das veraltete japanische Werte- und Bedeutungssystem und erregen mit ihrer subtilen Attacke sogar öffentliche Aufmerksamkeit. Die Gesellschaft kann sie nicht länger ignorieren und entwickelt Strategien des Umgangs. Das Gesundheitssystem stellt sich auf die Behandlung der hikikomori ein, Selbsthilfegruppen und Wohlfahrtsorganisationen unterstützen sie mit Büchern, Websites und alternativen Gesprächsangeboten. Manche Gemeinden schicken Sozialarbeiter oder „Mietschwestern“ (rentaru onēsan oder rental siblings), die sich mit den hikikomori anfreunden und sie mit auswärtigen Übernachtungen, Pilgerfahrten und Wanderurlauben aus ihrer Isolation herauszulocken versuchen. Victor Wong erkennt in diesen Aktivitäten bereits eine regelrechte hikikomori-Industrie. In der 89 Okonogi 2000: 258, 264. Kapitel 3.3. 90 Ishikawa R. 2007: 71. 91 A.a.O. 151-152. 92 A.a.O. 192.
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Tat hat sich zumindest das Image der hikikomori gebessert, weil sie es mit ihren Geschichten genau wie die otaku zu Hauptdarstellern in populären Narrativen gebracht haben. Die beiden Manga NHK ni yōkoso und mēteru no kimochi drehen den Spieß um und lassen ihre Leser als visuelle Feldforscher in die Lebensräume, Lebensphasen und Gefühlswelten der hikikomori hineintauchen.
Der Kampf des otaku in Welcome to the NHK Der shōnen Manga NHK ni yōkoso (Welcome to the NHK, 2005) basiert auf dem teilweise autobiographischen Roman gleichen Titels von Takimoto Tatsuhiko (*1978). Zuerst erschien er als Serie in der Zeitschrift Shōnen Ace unter Mitwirkung des Zeichners Oiwa Kendi, ein Anime folgte 2006. Der amerikanische Verlag Tokyopop hat inzwischen alle acht Bände auf Englisch herausgebracht und als den „ultimativen nonstop hikikomori Action-Comic“ vermarktet. Der genauso düstere wie humorvolle hikikomori-Manga erzählt von dem 22jährigen Anti-Helden Satō Tatsuhiro, einem Schulverweigerer, der seit vier Jahren als hikikomori in einem winzigen Einzimmer-Appartement in Tokyo überlebt. Seine Eltern haben kürzlich ihre Zahlungen gestoppt, und er bezeichnet sich sogar selbst als Parasit und als „Paradebeispiel für die Probleme Japans“. Satō ist extrem zynisch, aber auch naiv. Wenn er frustriert oder beschämt wurde, redet er auch häufig von Selbstmord. Einmal gerät er sogar in einen geplanten Gruppenselbstmord hinein, um dann doch noch im letzten Moment davonzulaufen. Erst die 17jährige Nakahara Misaki bietet Satō schließlich das notwendige Motiv, um sich freizuschwimmen. Als Mitglied des „NHK“ ist sie entschlossen, ihn zu rehabilitieren. Die drei Buchstaben bezeichnen normalerweise den öffentlich-rechtlichen Sender nippon hōsō kōkai, dessen Gebührenkontrolleure gelegentlich an der Tür klingeln. In diesem Fall stehen sie allerdings für nihon hikikomori kyōkai: Japanische hikikomori-Gesellschaft. Misaki ist aktives Mitglied und begibt sich in die Rolle der Fürsorgerin. Sie nennt ihren Schützling liebevoll „Satōkun“, was Vertrautheit, Freundschaft, Nähe und sogar Mütterlichkeit zum Ausdruck bringt. Misaki ist überzeugt, dass sie über das Heilmittel für hikikomori verfügt und betrachtet Satōs Fall als ihr persönliches Projekt. Zwar fühlt sie sich in der Tat auch zu ihm persönlich hingezogen, aber er kann ihre Gefühle zunächst weder erkennen noch verstehen. Marc Hairston argumentiert folgerichtig, dass Misaki sich überschätzt und auch selbst große Probleme hat, von denen sie sich mit ihrer Einmischung bei Satō-kun nur ablenkt. „Sie glaubt, seine Heilung hebe
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auch ihr Selbstwertgefühlt“.93 Misaki macht aus ihrer Hilfe für Satō eine Art Lebensaufgabe (ikigai). Sie überredet ihn, einen „Vertrag zur Heilung vom akuten Rückzugssyndrom (hikikomori) und allen damit zusammenhängenden Problemen“ zu unterzeichnen und beginnt mit regelmäßigen Ratgebersitzungen. Hairston stellt fest: „Ihre Ratschläge sind kaum mehr als Belehrungen und inspirierende Aphorismen, aber sie versorgt ihn mit genau dem menschlichen Kontakt, der ihm fehlt und den er braucht, um aus seinem Gehäuse herauszukommen.“94 In einer besonders typischen und lustigen Sitzung versucht Misaki, Satōs Träume tiefenpsychologisch zu deuten. Er aber, verletzt durch ihre Bevormundungen, erfindet Träume mit Schlangen, Schwertern und Pistolen, um sie zu beschämen. Misaki rächt sich und macht sich lustig über seinen Mangel an Erfahrung mit Frauen. Diese Szene illustriert ihr ungewöhnliches, aber komplementäres Verhältnis zueinander. Es bekommt manchmal einen sexuellen Unterton und spielt an auf die teilweise libidinös besetzte amae-Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Immer wieder ist Satō überfordert und kehrt zu seinem Lebensstil als hikikomori zurück. Der Manga widmet seinem Raum eine komplette Seite: „Ich bin wirklich ein unheilbarer hikikomori.“ Dabei entblößt sich einmal mehr die Obsession und visuelle Gier des Medienpublikums inklusive der Manga-Leser: unser unbändiges Interesse am Privatleben anderer, an ihrem persönlichen Bereich und Lebensraum. Yamamoto Naokis Ero-Manga terebi bakari miteru to baka ni naru (Watching TV All The Time Makes You Stupid, 2000) über eine Zwischen Müll und Medienkonsum: Der 22jährige weibliche hikikomori, die hikikomori Satō Tatsuhiro sitzt in seinem Zimmer als Anti-Held des Erfolgsmangas Welcome to the sexuell ausgenutzt wird NHK von Takimoto Tatsuhiko und Oiwa Kendi. und am Ende Selbstmord 93 Hairston 2010: 316. Aus dem Englischen. Ein Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt. 94 A.a.O. 320. Aus dem Englischen.
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begeht, treibt diese voyeuristische Lust schließlich auf die Spitze und stiert statuarisch wie mit einer versteckten Kamera in das Zimmer der jungen Frau. Längst sind die Räume der hikikomori auch ganz real öffentlich geworden. Professionelle Photographen, Websites und Blogs bedienen die gierigen Blicke des globalen Publikums. Satōs Nachbar und einziger Freund Yamazaki Kaoru ist ein typischer otaku, ein oberflächlicher und eigenwilliger Zeitgenosse, dessen Wohnung von Pinups überquillt und dessen Wunschökonomie um „einen sexy Mädchenroboter“ kreist. Marc Hairston sieht in Yamazaki Satōs clownesquen Partner, der sich über die otaku-Kultur lustig macht. Das wird augenfällig, als beide sich entschließen, ein „ero-game“ zu entwerfen, was zugleich ihre eigene Perversion (hentai) und die Lächerlichkeit des Genres entlarvt. Während sie Informationen sammeln und Bilder minderjähriger Lolitas (rorikon) im Internet betrachten, wird Satō fast süchtig und verkörpert so einen weiteren Aspekt der japanischen pop culture: „Ein hikikomori mit einem Lolita-Komplex? Schlimmer kann es nicht werden. (…) rorikon sind nicht einmal menschlich!“ Dieses amüsante Suchtverhalten wirft ein Licht auf die permissive, pragmatische japanische Haltung zur Sexualität. Satōs therapeutisches Schlachtfeld wechselt kurz von seiner hikikomori-Neigung zu seinem Lolita-Komplex: In einer Szene, die seinen Voyeurismus ausarbeitet, bittet er Yamazaki, ihn zu photographieren, während er selbst heimlich Bilder von Schulmädchen schießt, damit er sich sein eigenes krankes und abstoßendes Verhalten besser vor Augen führen kann. Als Misaki ihn dabei erwischt, sieht und spürt der Leser seine perfekte Blamage und tiefe Scham. Und doch kann Satō in demselben Kapitel noch einmal seinen einstigen Hoffnungen und Träumen Ausdruck verleihen: „Als ich jünger war, wollte ich Arzt werden und anderen helfen. Das war immer mein Traum. Aber jetzt? Schau mich nur einmal an! Ein hikikomori und ein rorikon. (…) Dabei war alles, was ich wollte, ein ordentliches und würdiges Leben.“ Das Kapitel zeigt, dass hikikomori nicht unbedingt selbstsüchtig, egoistisch, narzisstisch oder antriebslos sind, und es streicht Satōs wertvolle Charakterzüge heraus, seine Ansätze zur Selbstkritik und seinen Wunsch nach einem Sinn im Leben. Er ist nicht schlecht, sondern lediglich schwach und verantwortungslos: Er stiehlt Essen von Yamazaki und verprasst das Geld, das er sich von einem Kredithai geliehen hat, für Amateur-Manga-Zeitschriften (dōjinshi) und erotische Anime. Satō ist ein sympathischer Verlierer mit wenig Selbstachtung, er raucht und trinkt und konsumiert legale Drogen aus dem Internet für seine kleinen Fluchten und seine lebhaften sexuellen Phantasien. Der Manga behandelt seinen hikikomori-Verlierer mit Humor und Empathie und macht 73
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aus seinem sozialen Rückzug eine abenteuerliche, berichtenswerte, lehrreiche und fast positive Erfahrung. Sogar Satōs Drogenmissbrauch führt über seine absurden Halluzinationen indirekt zu aufschlussreichen Verdächtigungen. Die Elektrogeräte in seiner Wohnung erwachen zum Leben und erklären ihm, der Sender NHK strahle vorzugsweise Anime aus, weil er in eine Verschwörung verwickelt sei mit dem Ziel, alle jungen Japaner in hikikomori zu verwandeln: „So pflanzt er die Saat der otaku-Kultur in seine Zuschauer ein. Sie werden sozial isoliert und schließlich (…) zu hikikomori.“ Der Manga Welcome to the NHK ist erfrischend postmodern in seinem Ton und würzt seinen eigenwilligen, fast kindischen Humor mit beißender Satire. Weil sein Anti-Held zwischen neet, hikikomori und furītā schwankt, ist er zugleich eine ideale Identifikationsfigur für die verunsicherten Männer der jüngeren Generation. Paradox nutzt Satō seinen Rückzug für eine Reihe unterhaltsamer Alltagsabenteuer und für Einblicke und Einsichten in sein eigenes psychisches Profil. Sehr wohl wissend um die Bedingungen des working poor, kehrt er mehrfach als Teilzeitbeschäftigter zurück in die Arbeitswelt, „um den Abschluss als hikikomori zu erwerben“. Sein Schöpfer Takimoto bezieht hier klar Stellung und zieht auch alle visuellen Register für Satōs Depressionen und Aufregungen, Blamagen und Tagträume. Gerade weil Satō immer wieder scheitert: mit seinem business plan für das hentai ero-game, mit seiner Beziehung zu Misaki und sogar beim Selbstmord, gewinnt er doch als dropout, der nie aufgibt, die Sympathien des Publikums. Wir lachen hörbar über veraltete Normen und Erwartungen und fassen Vertrauen, gerade wegen seines schlechten Gewissens als neet, parasaito und hikikomori. In derselben Manier stellt der wesentlich ernsthaftere, fast dokumentarische hikikomori-Manga mēteru no kimochi die emotionalen Register um: von Furcht auf Neugier, von Verzweiflung auf Erfahrung und von Rückzug auf Angriff.
Der Sieg des hikikomori in mēteru no kimochi Das dreibändige Werk mēteru no kimochi aus dem Genre der seinen Manga (für junge Männer oder Twens) wurde zuerst in der Zeitschrift Weekly Young Jump (2006) veröffentlicht. Es befasst sich mit dem Leben des 30jährigen hikikomori Koizumi Shintarō. Autor Oku Hiroya (*1967) war bereits bekannt durch den science fiction-Erfolgsmanga Gantz (2000), in dem das Alien Gantz frisch Verstorbene zur Jagd auf andere Aliens dienstverpflichtet. Wie in einem Videospiel müssen sie Punkte sammeln, um in ihr wirkliches Leben zurückkehren zu können. Die Verfilmung von Regisseur Satō Shinsuke (2011) war ein Kassen74
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schlager, bot sie doch eine radikale Flucht aus der Alltagsrealität, die über das Leben, den Tod und sogar über den Selbstmord hinausreicht. Der Manga mēteru no kimochi beschreitet generisch und narrativ einen völlig anderen Weg. Er bezieht seine Stärke gerade aus seiner Nähe zur Realität. Sein Titel spielt an auf die weibliche Figur der Maetel in Matsumoto Leijis beühmtem Manga Galaxy Express 1999 (1977) und kann grob übersetzt werden mit „mütterliche (= Maetels) Gefühle“. Im Vergleich mit Welcome to the NHK ist mēteru no kimochi überraschend nüchtern und direkt und dämpft weder die Tragik noch den Ernst der Situation mit Humor, Komik oder Satire. Auf der allerersten Seite stellt sich Shintarō selbst vor als ein otaku in seinem eigenen Zimmer: „Ich mag das Internet. Ich mag shōnen Manga.“ Tatsächlich aber lebt er, der schon früh als Wunderkind auffiel, seit fünfzehn Jahren als hikikomori. Er bestätigt Saitō Tamakis These, dass hikikomori oft starke, individualistische Charaktere sind, die sich nicht einfach dem japanischen Gruppenzwang fügen. Shintarōs Vater Yasujirō, Witwer und 57 Jahre alt, versorgt ihn mit Manga und Essen und kommuniziert mit ihm zumeist durch die geschlossene Zimmertür. Viele Male landet der Leser auf diesen leeren Bildern missglückter Zwiegespräche, bevor er zum ersten Mal Shintarōs Gesicht zu sehen bekommt. Vater Yasujirō, tief getroffen vom Verhalten seines Sohnes, versucht, ihm mit Bemerkungen über Manga, sein Hauptinteresse, oder über Mädchen entgegenzukommen. Aber Shintarō antwortet zumeist mit verbalen Attacken und macht indirekt sogar seinen Vater Yasujirō für den Tod seiner Mutter verantwortlich, für den Auslöser seiner Einigelung. Oku zeichnet diese quälenden Sequenzen des hikikomori mit großer Ruhe und illustriert so eine Fallbeobachtung von Victor Wong: „In einer Familie meiner Studie konnte eine Mutter monatelang nicht direkt von Angesicht zu Angesicht mit ihrem Sohn sprechen, sondern nur leise vor seinem Zimmer weinen und papierne Zettel zu ihm unter der Tür hindurchschieben.“95 Shintarō selbst behauptet zynischerweise, dass sein Lebensstil ein Zeichen von Intelligenz sei, weil er immer noch ernährt und umsorgt werde, ohne dass er arbeiten oder auch nur seinen Raum verlassen müsse: „Du hast mich in diese Welt gebracht, und deshalb solltest du mich auch ernähren“, sagt er frech zu seinem Vater. Yasujirō hat schon alles versucht, um zu seinem Sohn durchzudringen. Alle erdenklichen Helfer hat er zu Rate gezogen, nur er selbst hat sich nicht verändert und die Denkweisen und Werte seiner Generation verinnerlicht. Vorwurfsvoll fragt er seinen Sohn: „Wenn jemand mit über 30 Jahren shōnen Manga liest - Wie findest du das?“ Dann führt er aus, 95 Wong 2009: 344. Aus dem Englischen.
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dass man in diesem Alter Kinder haben und ein Haus bauen solle und dass alle japanischen Bürger zur Arbeit verpflichtet seien. Sein Bruder, Shintarōs Onkel, zeigt noch weniger Verständnis und würde ihn sogar am liebsten packen und mit Gewalt aus seinem Zimmer herausziehen. Erst als Vater Yasujirō an Krebs erkrankt und erneut ein weibliches Wesen in den Haushalt eintritt, beginnt ein therapeutischer Wandel. Die junge und attraktive Yoshinaga Haruka heiratet Yasujirō sogar, weil er ihrem eigenen Vater ähnelt und sie ihn bis Begegnung der Blicke: Der langjährige hikikomori zu seinem Tode pflegen Shintarō öffnet zum ersten Mal die Tür seines Zimmers für seine Stiefmutter Haruka in Oku Hiroyas will, aber auch, weil sie Manga mēteru no kimochi. sich von Shintarōs totalem Rückzug herausgefordert fühlt. Noch während ihrer Flitterwochen stirbt Yasujirō, und als die junge Witwe Haruka seine Tagebücher liest, erschüttert von seiner Hilflosigkeit angesichts der Erkrankung seines Sohnes, festigt das nur ihre Entschlossenheit. Sie zieht in das Haus ihres verstorbenen Mannes ein und kümmert sich statt seiner nun um Shintarō. Nachdem sie sich ihm zunächst als „Mutter“ vorgestellt hat, öffnet sich seine Zimmertür und der Leser kann ihm zum ersten Mal ganzseitig ins Gesicht blicken. Der Erzähler ergänzt: „Die Tür ist aufgestoßen. Nun hat das seltsame Zusammenleben von Eltern(teil) und Kind begonnen.“ Von diesem Moment an schlüpfen Haruka und Shintarō ganz in ihre jeweiligen Rollen als Mutter und Sohn. Haruka versorgt und verwöhnt ihn, bereitet Mahlzeiten zu und putzt. Sie ermutigt Shintarō, Wünsche niederzuschreiben, und er wählt die typischen Lieblingsgerichte für Kinder: Curryreis und Hamburger. Sie entwickelt auch die Idee des „Tauschtagebuchs“ als eine Methode der Kommunikation. Shintarōs Reaktion spiegelt seine begrenzten sozialen Fertigkeiten. Er zweckentfremdet das Tagebuch, um sie nach ihrem bevorzugten Typ Mann zu fragen sowie nach der Größe ihres BH. Sie antwortet, sie möge Männer wie seinen Vater, aber sie ermahnt ihn auch: „Shintarō-san, es ist abnorm und pervers, seine Mutter sexuell zu belästigen!“ Ihre Beziehung ist so ambivalent wie jene zwischen Satō und Misaki in Welcome to the NHK. Shintarō fühlt sich zu Haruka hingezogen, und genau diese Gefühle ziehen ihn auch aus seiner Isolation heraus. Er fragt sich ständig, ob auch sie ihn möge, und träumt davon, mit ihr wie frisch 76
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Verheiratete zusammenzuleben. Shintarō phantasiert auch lebhaft und küsst Haruka sogar, während sie schläft, kann sich aber noch nicht überwinden, ihr seine Gefühle einzugestehen. Schmerzhaft wird ihm seine Ungeschicklichkeit und Abnormität bewusst, und seine inneren Kämpfe und Ängste zeigen sich auf jeder Seite: in zweifelnden Gesichtsausdrücken, in langen ungepflegten Haaren, in nachlässigen Kleidern und in zögernder Körpersprache. Okus nüchterner Zeichenstil, der sich doch die Zeit für all diese Details nimmt, und die sparsamen Dialoge üben sich in Geduld, entdecken die Langsamkeit und folgen ruhig und Schritt für Schritt dem Erholungsprozess. Eine der quälendsten Szenen ereignet sich, als Shintarō sich seine Haare schneidet, sich anzieht und wäscht, um Haruka zu beeindrucken. Er sieht gut aus, aber ironischerweise denkt er an ihren Eintrag in das „Tauschtagebuch“ und rasiert sich eine Halbglatze, um seinem Vater ähnlich zu sehen. Als Haruka ihre Überraschung und Belustigung nicht verhehlen kann und laut auflacht, kehrt er tief beschämt und verletzt in seine Isolation zurück. Diese Erfahrung entmutigt Haruka, ebenso wie ein Telefonanruf von einem hikikomori-Berater, der ihr vorwirft, sie sei arrogant und verschlimmere nur Shintarōs Zustand. Der Berater erscheint als Teil der hikikomori-Industrie in schlechtem Licht und treibt, als er von Yasujirōs Tod erfährt, sogar noch eine offene Rechnung ein. Enttäuscht verlässt Haruka das Haus, obwohl Shintarō hinter ihr herruft und in ihr neue Hoffnung weckt. Ganz allmählich erholt sich sein psychischer Zustand und bessert sich seine verbale Kommunikation. Die letzten Seiten des Manga berichten, dass er mit Erfolg einen Nudelshop betreibt. Er hat es sogar zu einer eigenen Familie gebracht und ist jetzt selbst in der Position, anderen Gestrandeten im Einzelfall Hilfe zu gewähren. Als er Haruka bei ihrem Besuch wiedererkennt, bittet er sie, ihn „Shin-chan“ (kleiner Shintarō) zu nennen, und ruft mit Tränen in den Augen: „Danke, Mutter.“
Der japanische Übergang vom Rückzug zur Individualität Der massenhafte, akute und langfristige soziale Rückzug junger Leute in Japan ist ein neues Muster sozialer Devianz. Die hikikomori verkörpern die andauernde Erosion der überkommenen Vorstellungen von Geschlechterrollen und Erwerbsbiographien im Japan der verlorenen Jahrzehnte. Während die otaku sich dem exzessiven Medienkonsum bis hin zur Abhängigkeit hingeben und die furītā das heilige japanische Senioritätsprinzip herausfordern, untergraben die neet und die hikikomori das soziale Wertegefüge fundamental. Die beiden hier betrachteten Manga passen in die von Ishikiwa Ryōko definierte vierte Phase des 77
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hikikomori-Phänomens, die im Jahre 2005 begann. In beiden Narrativen lastet großer moralischer Druck auf den männlichen Hauptfiguren. Sie werden als Versager oder Parasiten angesehen und sollen schleunigst wieder eine Arbeit aufnehmen, für sich selbst sorgen und auf eigenen Beinen stehen. Die Betroffenen selbst aber enttäuschen gezielt alle normativen Karriereerwartungen und bevorzugen stattdessen eine zarte Beziehung zu einer Frau ihres Vertrauens. Diese exklusive Bindung verschafft ihnen den Raum und die Zeit, um behutsam an sich zu arbeiten. Während diese Manga die angepasste Männlichkeit der sararīman offen ablehnen und auch die Arbeitsbedingungen der Zeitarbeiter anprangern, sind die Brüche in der Rolle der fürsorglichen Mutter weniger deutlich. Die jungen Frauen und Helferinnen, Misaki und Haruka, erscheinen jeweils als gütige und attraktive Heilerinnen und verwöhnen ihre Patienten oder Schützlinge mit fast unerschöpflicher Geduld. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die meisten hikikomori tatsächlich junge Männer sind, und die jungen Frauen handeln eher als Therapeutinnen oder Krankenschwestern denn als überfürsorgliche Mütter, die von ihren Söhnen eine klassische Karriere erwarten. Diese stillen, bescheidenen Heldinnen leiden sogar selbst unter massiven Konflikten mit ihren eigenen Müttern und kämpfen gegen deren offene Einmischungen und subtile Beeinflussungen. Die allgemeine Tendenz zur Individualisierung in Japan hat also beide Geschlechter erfasst. Was aus japanischer Sicht als Störung der Gruppenharmonie und aus westlicher Sicht als krankhafter Narzissmus erscheinen mag, ist in Wirklichkeit eine profunde Suche (jibun sagashi), Behauptung (jiko shuchō), Verwirklichung, Betonung und Expression eines Selbst (jiko hyōgen), das mehr als das kontextuelle Du der anderen sein will.96 Waren die otaku und hikikomori am Anfang ihrer Medienkarriere noch Ikonen von Verunsicherung, Zerfall und Verlust, haben sie nun den Spieß umgedreht und sind zu Helden in populären Genres aufgestiegen. Sie erlangen Aufmerksamkeit, ernten Verständnis und kreieren ganz nebenbei ein neues und positives Image ihrer selbst. Wie Ishikiwa Ryōko, so zeichnen auch die Manga Welcome to the NHK und mēteru no kimochi das hikikomori-Syndrom als einen langwierigen Prozess des Selbstzweifels und der Selbstfindung, und sie entdecken im sozialen Rückzug auch eine Chance zur Neudefinition. Indem ihre ungleichen Paare sich Zeit, Raum und die gründliche Neuausrichtung ihrer Kommunikation zubilligen, überwinden sie die tiefe Ambivalenz zwischen elterlichen Karriereerwartungen, mütterlicher Überfürsorge oder Verwöhnung (amae) und väterlicher Kastrationsverleugnung (kyoseihinin). 96 Ishikawa S. 2007: 24. S. Kapitel 1.2, S. 51.
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Stattdessen plädieren sie entschlossen für ein gesundes, stabiles, unabhängiges, individuelles Selbst. So setzen sie der Illusion des Erfolgs durch Anpassung einen Sinn für Realität, Humor und persönlichen Freiraum entgegen. Dieser Erholungsprozess wird ähnlich schmerzhaft sein wie eine (Wieder)Geburt, aber auch aufschlussreich für die individuellen hikikomori und für die gesamte japanische Nation.
Manga Takimoto, Tatsuhiko/Oiwa, Kendi (2004-2007) NHK ni yōkoso (Welcome to The NHK). Tokyo: Kadokawashoten. Oku Hiroya (2007) mēteru no kimochi. Tokyo: Shūeisha. Yamamoto, Naoki (2000) terebi bakari miteru to baka ni naru (Watching TV All The Time Makes You Stupid). Tokyo: Ohta.
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1.4 Liebe zum Tod im Manga: der narrative Ausgangspunkt Tod und Zeit im modernen Japan Oft ist die japanische Nähe zum Tod besungen worden. Der Philosoph Jean Gebser nannte die Japaner sogar „in den Tod verliebt“. Zwar hat Japan heute die längste Lebenserwartung von allen Industriestaaten, aber das plötzliche Ende ist stets gegenwärtig. Einst galt die rituelle Selbstentleibung in der alten Kriegerkaste der Samurai noch als ehrenhafte Handlung, und begeisterte Anhänger ihres Kodex haben auch im modernen Japan überlebt. Der Schriftsteller Mishima Yukio (1925-1970) forderte im Jahre 1970 die japanischen Streitkräfte zum Staatsstreich auf und beging dann rituellen Selbstmord (harakiri). Sein Kollege und Freund Ishihara Shintarō (*1932), seit 1999 Bürgermeister von Tokyo, hat ihn auch nach 37 Jahren nicht vergessen. In seinem Kamikaze-Film orewa, kimi no tameni koso shinini iku (Ich sterbe für dich, 2007) über das Ende des Krieges begeht der für die tokkōtai (Sondereinheiten) verantwortlichen Admiral in aller Ruhe harakiri.97 Sogar den Selbstmord des japanischen Ministers Matsuoka Toshikatsu nach einem Finanzskandal anerkannte Ishihara öffentlich als „ehrenvollen“ Tod im Geiste der Samurai. Die Klassifizierung Japans als „Selbstmord-Nation“ist oft Gegenstand von Diskussionen. Tatsächlich müssen empirisch viele marginale Faktoren berücksichtigt werden, ebenso die Messmethoden und die versuchten Selbstmorde. Die höchsten Selbstmordraten der Welt melden osteuropäische Transformationsgesellschaften, Japan steht also keineswegs an der Spitze. Seine Selbstmordrate ist ungefähr so hoch wie die finnische, allerdings verursacht die geographische Lage Japans keine langanhaltende Dunkelheit und Depression. Ethische und religiöse Normen scheinen den Selbstmord in Japan noch immer zu tolerieren oder zu begünstigen, seine kulturelle und soziale Akzeptanz ist hoch. Im Jahre 1998, zehn Jahre nach dem Platzen der bubble economy und gegen Ende des ersten verlorenen Jahrzehnts, stieg die Zahl der Suizide in Japan abrupt um gut ein Drittel im Verhältnis zum Vorjahr. Dieser Anstieg war am höchsten im Segment der jungen Leute. Die Steigerung erreichte fast 70 Prozent bei den Frauen und 50 Prozent bei den Männern unter 19 Jahren.98 Die Suizidzahl verharrte für ein Jahrzehnt über der 97 S. Kapitel 2.1, S. 106-107. Diese Szene gleicht aufs Haar dem seppuku des Geheimdienstgenerals Honda in Tezuka Osamus adorufu ni tsugu (Adolf, 1985). Auch dieser meisterliche gekiga Manga blickt mehr als 40 Jahre zurück. 98 Ozawa-de Silva 2008: 520.
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Marke von 30.000, das entspricht einem Selbstmord pro Viertelstunde. Im Jahre 2009 erreichte sie mit fast 33.000 einen neuen Rekord. Zwar verflüchtigen sich auch in Japan allmählich religiöse Überzeugungen und Bindungen, und der schintoistische Hausschrein gehört längst nicht mehr zu jedem Haushalt. Aber Handlungsmuster und Rituale bis hin zu ganzen Gebrauchsanweisungen für den Selbstmord stehen in hohem Kurs. Der Sprung vor den Pendlerzug während der Hauptverkehrszeit in Tokyo mag noch eine spontane Verzweiflungstat sein, denn sararīman begehen oft kurz vor ihrer Entlassung Selbstmord, wenn der soziale und psychische Druck unerträglich ansteigt. Er bewahrt sie immerhin vor dem Schicksal des karōshi, dem Tod durch Überarbeitung, dessen rechtliche Anerkennung die Hinterbliebenen oft vor zusätzliche Probleme stellt. Aber viele Selbstmorde werden auch von langer Hand vorbereitet und akribisch geplant. Teenager verabreden sich über Tage und Wochen im Internet zu Gruppenselbstmorden, andere erstellen, suchen und finden Internetseiten zur Herstellung von hochgiftigem Schwefelwasserstoffgas. Die Soziologin Chikako Ozawa-de Silva sieht den Selbstmord tief in der japanischen Kultur und Denkweise verankert: In Japan ist der Selbstmord (oder Tod) nicht das Ende des Lebens oder des Selbst oder jedweder Verantwortung, sondern ein „Übergang zu einem anderen Zustand, einem anderen Niveau“, eine Rückkehr in die Natur, eine Verschmelzung der Identitäten (Selbste), oder ein Versuch, andere von außen oder von oben zu beeinflussen.99
Traditionell steht jedem Japaner jederzeit der selbstbestimmte Weg zurück in die heimatliche Natur offen. Viele Selbstmörder wählen einen abgelegenen Ort an der Küste oder an einem See und übernachten vorher noch in einer traditionellen Herberge (ryokan). Der Abschied aus dem Tal der Tränen ist also zugleich ein Wiedersehen mit vertrauten Orten. Große Aufmerksamkeit in westlichen Medien (wie auch im Manga) genießt der japanische „Selbstmordwald“ von Aokigahara, drei Zugstunden von Tokyo entfernt. Der Schriftsteller Matsumoto Seichō (19091992) hat ihm mit seinem Roman nami no tō (Welltenturm, 1960), in dem zwei Liebende in dem Wald freiwillig aus dem Leben scheiden, ein Denkmal gesetzt. Seitdem erhaschen zahllose lebensmüde, verzweifelte, überschuldete und depressive Japaner einen letzten Blick auf den Berg Fuji und suchen dann in dem eisig-dunklen Teil des Waldes (jukai, Meer aus Bäumen) ihre letzte Ruhe und Erlösung. Große Warntafeln mit Aufforderungen und Telefonnummern haben nur mäßigen Erfolg. Schon seit Jahrzehnten muss die Polizei einmal im Jahr den Wald von den sterblichen Überresten der Selbstmörder reinigen. 99 A.a.O. 544. Aus dem Englischen.
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Die Zeit ist eine lebendige Größe in Japan, stets plötzlichen Schwankungen und Verzögerungen unterworfen. Das Leben kann, wie die bebende Erde, von einem Augenblick auf den anderen aus den Fugen geraten - oder enden. Und wie der friedliche Schlaf überall und jederzeit gegenwärtig ist: im Büro, im Zug, im Park, so gewährt der Tod stets einen konfliktarmen, respektablen Abschied. Trotz aller Verpflichtungen ist es in Japan einfach, sich in der Zeit zu verlieren, einen time out zu nehmen oder einfach ein Nickerchen zu machen. Die Schlafenden werden akzeptiert, toleriert und ignoriert, denn sie sind anwesend, nicht anders als die Toten. Die dünne Trennlinie zwischen den Lebenden und den Toten wird nicht mit Regeln, Mauern und Verdrängung aufrechterhalten, sondern durch eine empfindliche kommunikative Balance zwischen beiden. Schlaf und Tod sind Modi menschlicher Existenz, von Schwäche und Emotion zugleich. Daher ist der Selbstmord ohne weiteres auch Frauen zuzutrauen und sogar zuzumuten. Die belgische, in Japan aufgewachsene Schriftstellerin Amélie Nothomb lässt ihre Heldin Fubuki im Hochhausbüro in Shinjuku diesen Weg in Erwägung ziehen: (I)hn zu gehen, bist du vollauf berechtigt, es sei denn, du hättest die Dummheit begangen, dich zum Christentum zu bekehren. Du hast das Recht, dich zu töten. In Japan ist dies bekanntlich eine höchst ehrenwerte Tat. Glaub nur nicht, dass du im Jenseits ein behagliches Paradies vorfindest, wie es die netten Westler beschreiben. Auf der anderen Seite ist nichts Besonderes. Denk lieber an das, was der Mühe wert ist, an deinen Nachruhm. Er wird glänzen, wenn du dich tötest, und deine Angehörigen werden stolz auf dich sein. In der Familiennische des Bestattungstempels erhältst du einen Vorzugsplatz: Das ist das Höchste, was der Mensch erhoffen kann.100
In der Ordnung der Zeit leben kann nur, wer sich ihrer Endlichkeit aussetzt: Dies ist die wesentliche Botschaft aus Tezuka Osamus Meisterwerk Phoenix: Die vergänglichen Menschen trachten nach dem Blut der unsterblichen Vogeldame und richten sich mit dieser Gier gegenseitig zugrunde. Auch Taniguchi Jirōs meisterhafter Manga chichi no koyomi (Die Sicht der Dinge, 1994) erforscht diese Zärtlichkeit der menschlichen Seele im Angesicht des Todes: sararīman Yamashita Yōichi verbringt eine Nacht am offenen Sarg seines geschiedenen Vaters und erinnert sich all seiner Taten und Gesten voller Wehmut, bis ihm die Tränen über seine Wangen kullern. Auch der time warp in seinem als Quartier Lointain von Regisseur Sam Garbarski verfilmten Manga haruka na machie (Vertraute Fremde, 1998) ereignet sich auf dem Friedhof am Grab seiner Eltern. Taniguchi, geboren 1947 in Tottori, gehört zur Generation der japanischen baby boomer (dankai sedai), ebenso wie seine Kollegen Motomiya Hiroshi und Hirokane Kenshi. Diese Phalanx aus mangaka bildet das männliche, gleichaltrige Gegenstück zur Gruppe 24, 100 Nothomb 2000: 84.
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jener berühmten Riege der Schöpferinnen des klassischen shōjo MangaStils mit wunderschönen Gesichtern beiderlei Geschlechts. Der Manga shima kōsaku von Hirokane Kenshi läuft seit 1983, der Manga sararīman kintarō von Motomiya Hiroshi seit 1994. Hirokane hat sogar für sein Alterego, den sararīman-Helden Shima Kōsaku, sein eigenes Geburtsjahr gewählt. So erwarb Shima im Jahre 1970 und, wie in Japan üblich, mit 22 Jahren seinen Abschluss an der Waseda Universität und begann im April desselben Jahres seine steile Karriere beim Elektronikkonzern Hatsushiba Denki. Aber auch nach der bubble economy stehen Shima und Yajima Kintarō, der frühere Anführer einer Motorradgang (bōsōzoku) und nun alleinerziehende Vater, als männliche Ikonen Japans im globalen Überlebenskampf. Beide müssen daher nach all den Jahren der Krise auch mit ansehen, wie sich ihre Kollegen nach Jahren der Selbstaufopferung, nach demütigenden Degradierungen oder feindlichen Übernahmen, mit Gewalt das Leben nehmen. Im Jahre 2002 rammte sich ein 54jähriger Altersgenosse von Shima, Hamasaka Gen, nach seiner „freiwilligen“ Kündigung sein Samurai-Schwert in die Brust und sprang später noch aus dem Fenster des Krankenhauses. Yajima hingegen musste sogar seinen Chef Takimoto, der fünf Milliarden Yen an Firmengelder verspielt hatte, vom Suizid abhalten.101 Die heutige massenhafte Begegnung mit dem Tod im Manga muss daher als ein Versuch gelesen werden, jene verlorengegangene Balance zwischen Individuum und Gesellschaft, Leben und Tod, Arbeit und Freizeit oder Fremd- und Selbstbestimmung wiederherzustellen. Seine Nähe zum Tod, welche sich vielfach auch auf westlichen Märkten erfolgreich verkauft, beruht nicht auf der Lust an der Macht zum Töten, sondern vielmehr auf tiefer Macht- und Orientierungslosigkeit und innerer Leere. Der Tod im Manga rührt an diese Leerstelle in den zeitgenössischen Biographien und wiederbelebt sie, denn er markiert nicht das Ende des Lebens, sondern den Beginn einer faszinierenden, aufregenden und lebhaften Kommunikation zwischen Lebenden und Toten.102 Sie wischt die Agonie des Realen beiseite und intensiviert das Erlebnis des Lebens, und sie schöpft medial aus einer altbekannten anthropologischen Formel: Wo die Tiere nur Flucht oder Angriff kennen, zögern wir Menschen und überlegen. Weil wir wissen, dass wir sterben müssen, planen wir unser Leben vorausschauend rückwärts, beginnend mit dem Nullpunkt unseres Todes.
101 Matanle et al. 2008: 640, 658. 102 Ebenso verfährt der Anime Colorful (2010) von Hara Keiichi. Er beruht auf dem gleichnamigen Roman von Mori Eto und schickt einen jungen Selbstmörder zurück in seine Familie und in sein Leben, um ihm eine Chance zur Bewährung zu geben.
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Der Tod in den Theorien der Zivilisation von Norbert Elias und Jean Baudrillard Der Tod und sein Erleben haben sich in der modernen Gesellschaft strukturell gewandelt. Jean Baudrillard hat ausgeführt, dass sie ein absolutes System des Austausches und der Zirkulation geschaffen hat, in dem der Tod keinen Platz mehr findet. Sein Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod beginnt mit der Feststellung: „Auf dem Niveau der modernen Gesellschaften gibt es keinen symbolischen Tausch mehr, wenigstens nicht als ihre Organisationsform.“103 Stattdessen hat sich ein absolutes System der Zirkulation äquivalenter Werte und ihrer Zeichen etabliert. Dadurch ist der Austausch zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten zum Erliegen gekommen. Dieses Prinzip lebt uns die extraterrestrische Gattung der Ferengi in Star Trek vor, indem sie auch die sterblichen Überreste ihrer Toten für in Gold gepresstes Latinum am freien Markt handelt. Auf der Erde aber wird der Tod aus dem modernen Leben ausgeschlossen und macht die Gesellschaft daher nur noch verletzlicher und verwundbarer, vor allem gegen Einzelne, die ihr Leben freiwillig aufzugeben bereit sind. Seit den 70er Jahren hat Baudrillard daher vor der Erpressung zur Sicherheit gewarnt. Verwaltungssysteme planen und kontrollieren die Zukunft und legen sich perfekte Zeitpläne dafür zurecht, denn die Kontrolle der Zeit meint auch die Kontrolle des Todes. Jede Ablenkung oder Störung der regelmäßigen Zirkulation führt zu Irritation und Chaos und untergräbt die Ordnung der Lebenden: Auch die Kosten eines Selbstmordes im Verkehrssystem lassen sich in Geld und Zeit, Staus und Verspätungen umrechnen. Tatsächlich ist seit dem Beginn der Industrialisierung auch die Lebenserwartung um drei Monate pro Jahr gewachsen. In den postindustriellen Gesellschaften ist schließlich das lange, gesunde Leben in gesichertem Wohlstand zum wichtigsten Ziel und Wert geworden. Doch der Preis dafür ist hoch, denn gleichzeitig verdrängt die Zivilisation alle Gedanken an den Tod. In seinem Buch Die Einsamkeit der Sterbenden führt Norbert Elias diese Einstellung zum Tode zurück auf die allmähliche Kontrolle der Emotionen und des Körpers im Zivilisationsprozess, sowie auf die tiefgreifende Individualisierung der Gesellschaft. Heute stirbt eine beschämend hohe Anzahl alter Menschen allein, umgekehrt machen Kinder keine unmittelbaren Erfahrungen mehr mit dem Sterben und dem Tod ihrer Angehörigen.104 Der moderne Mensch ist selbstzentriert und narzisstisch, er zieht eine scharfe Trennlinie, eine „unsichtbare Mauer“ zwischen der Gesellschaft und seiner Innenwelt. Elias 103 Baudrillard 1982: 7. 104 Shimada 2011.
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spricht vom „homo clausus“, vom verschlossenen Menschen, der die Normen zur Kontrolle seiner Affekte und Körperfunktionen verinnerlicht hat.105 Das wird nur zu deutlich an den Interaktionsmustern und Körpersprachen japanischer Frauen, aber auch an den Verhaltensweisen von männlichen Angestellten und Büroarbeitern. Nur mit rigider, physischer Selbstdisziplin können die Akteure den Erwartungs- und Rollenanforderungen genügen, welche die komplexe, funktional differenzierte Gesellschaft ihnen zumutet. Umso wichtiger werden daher die kleinen Fluchten (der Körper) in den Schlafzustand. Diese Reduktion spontaner Gefühlsäußerungen und körperlicher Expression fügt sich ein in die strenge japanische Differenzierung von Innen- oder Nahwelt und Außenwelt, uchi und soto oder honne und tatemae. Sozialpsychologisch verlangt sie eine weitgehend formalisierte Kommunikation und gewährt nur fest umrissene Freiräume für informelles, unreguliertes oder sogar zügelloses Benehmen. Das schafft eine gewisse Balance zwischen innen und außen, zwischen schematischer Vernunft und hemmungslosem Aberglaube, sowie zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Gerade Japan als moderne und zivilisierte Gesellschaft erlaubt daher eine ungewohnte, unerhörte Nähe zum Tod als öffentliches Medienereignis. Er würzt die tödliche Langeweile der inneren Sicherheit und hohen Lebenserwartung mit dem Element der unvorhersehbaren Plötzlichkeit. Mit anthropologischer Treffsicherheit legen fiktionale Mediennarrative ihren eigenen Ausgangspunkt in den Nullpunkt eines Todesfalles: Der Manga-Kosmos teilt die virtuelle Todeserfahrung in allen erdenklichen Variationen gerade mit seinen jungen Lesern auf der ganzen Welt. Ihre Faszination gilt daher nicht dem reinen Erlebnis des Todes, sondern den existenziellen Fragen des Individuums am Ende des Zivilisationsprozesses.
Der Tod im Manga als existenzielle Erfahrung Die Massenmedien der Zivilisation suchen den Tod, weil er ihre Nachrichten, Filme und Manga-Genres gleichermaßen belebt. Der Tod hat viele Gesichter und viele Geschichten. Besonders in den Blick fällt seit der Erfindung des Films der massenhafte Tod auf den Schlachtfeldern der Weltkriege. Paul Virilio hat seine Formel „Schlachtfeld = Drehort“ vielfältig belegt. Für das medialisierte nationale Narrativ Japans kommt den Kamikaze-Piloten eine besondere Bedeutung zu (obwohl es auch in Deutschland Selbstmordkommandos gab und viele junge Kamikaze-Piloten ihre Befehle nicht ausführten). Einmal mehr blickt der 105 Elias 1982: 81.
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Manga tokkō no shima (Die Kamikaze-Insel) von Satō Shūyo zurück auf die Geschichte der Kamikaze zur See, die für ihre tödliche Mission mit bemannten Torpedos (gyorai, die noch heute im yūshūkan, dem Kriegsmuseum im Yasukuni-Schrein, ausgestellt sind) auf einem entlegenen Marinestützpunkt trainieren. Auch der junge Soldat Watanabe, ein Zeichentalent, ist dem Ruf des Vaterlandes gefolgt und sitzt bald mit seinem Vorgesetzten in der engen Röhre. Hier ist vor ihnen schon ein anderer Offizier qualvoll erstickt und hat dabei wirre Schriften an der Wand hinterlassen. In dieser unheimlichen Situation erklärt Watanabe: „kokode inochiwo moyashimasu. boku jishin no jinseiwo boku no mononi suru tame desu (Ich vergeude hier mein Leben, um es so zu meinem eigenen Leben zu machen).“ Damit spricht er zugleich aus, welche existenzielle Erfahrung oder Lehre der Tod im Manga seinen Lesern bietet, die dann bis zum Exzess variiert, durchgespielt und ausgekostet werden muss. desu nōto (Death Note) von Ōba Tsugumi und Obata Takeshi Der Manga Death Note (2004, verfilmt 2006 von Regisseur Kaneko Shūsuke) wurde von Anfang an mit englischem Titel vermarktet und rasch zum internationalen Bestseller. Anfangs bereitet sich der hochintelligente, 17jährige Oberschüler Light Yagami in Tokyo auf seine Universitätseintrittsprüfungen (sentāshiken) vor. Zufällig findet er das Notizbuch eines Todesgottes (shinigami). Nun kann er, mit geringen Einschränkungen, jeden Menschen töten, dessen Namen er in das Buch einträgt. Er lässt zahlreiche Kriminelle sterben und nutzt seine Macht auch, um Polizisten aus dem Weg zu räumen und seine eigenen Spuren zu verwischen. Dabei hilft ihm unwissentlich sein eigener Vater, ein hoher Polizeioffizier. Die Sicherheitskräfte tappen lange im Dunkeln, bis ein anderes junges Genie namens L ihnen entschlossen unter die Arme greift. L und Light agieren wie Schachspieler vor ihrem Brett und zögern bei keinem Bauernopfer. Gelangweilt und angewidert von den Banalitäten des Schüler- oder Studentenalltags spielen sie ein Spiel auf Leben und Tod. Ihr kommunikativer Ton im Verhandlungsprozess schwankt zwischen leichtfertig und dreist, unerschrocken und frech, risikobereit und unerfahren. Diese jungen Männer reden über den Tod und verursachen ihn sogar, ohne ihm je selbst unmittelbar begegnet zu sein. Die Philosophin Ishige Yumi entdeckt in dem Manga Death Note, der bezeichnenderweise mit dem Kapitel „Boredom“ beginnt, einen psychischen Zustand der Langeweile, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und sogar eine Prise posthistoire. In dieser sinistren Geschichte fühlen sich die Individuen glücklos, kraftlos, machtlos (muryoku) und blockiert (heisoku) in kulturellem Pessimismus. Ishige nennt diesen Zustand owa-
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ranai hibi: nie endende Tage.106 An diesem Grundgefühl des Verlustes von Zeit, Kraft und Lebensqualität ändern auch die vermeldeten Zahlen zum ökonomischen Wachstum nichts. Der Blindheit der MainstreamMedien begegnet gerade die junge Generation mit feinen Antennen für Stimmungen. Für sie ist der fremde Tod(esgott) der beste denkbare Kamerad und Diskussionspartner. Hier verkörpert er eine extreme Erfahrung (to die for) und eine wesentliche, existenzielle Frage: „Wen würden wir töten, wenn wir die Macht zum Töten hätten?“ So kombiniert der Manga Death Note die uralte Formel seiner medialen Gattung: Intensivierung durch Vereinfachung (amplification through simplification), mit existenzialistischen Erwägungen, wie sie Jean-Paul Sartre erstmals in seinen Theaterstücken während des Zweiten Weltkrieges anstellte: Darf man Freunde oder Verwandte töten, um eine militärische Aktion gegen die kriminelle Besatzungsmacht zu schützen? Darf man Angriffskriege für die Demokratie führen? Darf man sich zum Richter über Leben und Tod aufspielen? Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? Ist das Leben ein Videospiel? Und haben wir mehrere Avatare? Zumindest die letzte Frage beantwortet augenzwinkernd ein weiterer shōnen Manga mit vielen agilen Untoten. Gantz von Oku Hiroya Diese Geschichte (verfilmt 2011 von Regisseur Satō Shinsuke) teletransportiert die Jugendlichen Kurono Kei und Katō Masaru mit einer Gruppe Unbekannter in eine fast leere Wohnung in Tokyo. Sie wollten einem Obdachlosen helfen, der vor den Zug gefallen war, und wurden dabei selbst überrollt. Alle Anwesenden, auch ein krimineller yakuza und eine junge Selbstmörderin, sind frisch verstorben und müssen nun für einen Außerirdischen namens Gantz andere Aliens jagen und zur Strecke bringen. Sie erhalten Kampfanzüge und Waffen und beginnen, Punkte zu sammeln, um ihr eigenes Leben oder das eines Teampartners zu retten. Eine weitere Option ist allerdings auch das Weiterspielen auf einem höheren Niveau und mit verbesserter Ausrüstung. Autor Oku Hiroya ist bekannt für seinen hikikomori-Manga mēteru no kimochi (2007). Auch die hermetische Abriegelung und Gefangenschaft der Gruppe in Gantz spielt deutlich an auf verzweifelte hikikomori-Biographien. Die Geschichte ist als virtuelles Videospiel angelegt (das dann im Jahre 2005 tatsächlich für die Play Station 2 auf den Markt kam). Die Spieler aber bilden kein wirkliches Team aus innerer Überzeugung, sondern sind den Regeln ausgeliefert und von Gantz getrieben. Gerade als verstorbene Wiedergänger aber erlauben sie sich den Luxus 106 Ishige 2011: 129.
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einer weiteren existenziellen Frage: „Töten wir auf Befehl, wenn wir mit dem Tode bedroht werden?“ Die Morde per schriftlichem Fingerzeig in Death Note und auch die explodierenden Köpfe und Körper in Gantz beschäftigen die Mörder nicht mehr als tote Feinde in einem Videospiel. Sie selbst erleben sich, wie ihre Leser, als jung, intelligent, überlegen, unverbraucht und unverletzlich. Dennoch vermitteln diese Geschichten eine Ahnung von jener entfernten Erfahrung jenseits des Zeithorizonts und damit auch einen neuen Erfahrungsraum. Sie spielen im Schatten der Zeit und verlängern das Zögern als Kernelement menschlicher Existenz. Ihre Hautnähe zum Erlebnis des Todes wirkt daher nicht primär obszön und violent, sondern vor allem verschlossen und zärtlich. Ebenso verwandelt der Manga den zeitlosen, klassischen japanischen Selbstmord von einer Angriffsfläche für Voyeurismus in eine kollektive Überlebensübung. jisatsutō (Die Selbstmordinsel) von Mori Kōji Obwohl kaum irgendetwas so erschüttert wie der Verlust eines Kindes oder der Freitod eines Jugendlichen, haben gerade die jungen Schüler und Studenten unter Prüfungs- und Erwartungsdruck und viele junge Japaner im grassierenden Klima der Unsicherheit ihre Einstellung zum Freitod verändert. Der Anstieg der Selbstmordrate zum Ende der 90er Jahre ging wesentlich auf ihr Konto. Suizid ist heute die Haupttodesursache von Männern zwischen 20 und 44 und von Frauen zwischen 15 und 34 Jahren. In den teilweise epidemischen Selbstmorden ganzer Gruppen, die sich über das Internet verabreden, sieht Ozawa-de Silva den Beweis für ein „existenzielles Leiden“, eine radikale, unfassbare Einsamkeit. Viele junge Japaner sind buchstäblich „zu einsam, um allein zu sterben“. Die Individualisierung trifft die japanische Gesellschaft unvorbereitet: Japan war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet durch die Neigung, das Konzept der Verpflichtung, giri, abzulehnen. Stattdessen sollte jeder auch seinen eigenen Interessen und Gefühlen nachgehen und das Kollektiv und die Familie hintanstellen. Aber diese Ablehnung der japanischen Traditionen ist schmerzhaft und fordert einen Preis. Fast sieht es aus, als sei der Prozess der Imitation oder des Imports unvollkommen oder verzerrt. Die Verinnerlichung des westlichen „Individualismus“, ohne die ihn umgebenden Sozialstrukturen, welche diesen Individualismus moderieren (Ideen und Praktiken der Wohlfahrt, soziale Dienste und religiöse Orientierungen), lassen ihn als puren Egozentrismus erscheinen. Angesichts des Zerfalls der traditionellen Familien- und Sozialstruktur gerät das gegenwärtige Japan in einen schwierigen, instabilen oder ambivalenten Zustand.107
Der Manga jisatsutō von Mori Kōji (2009) spitzt diese Ambivalenz dramatisch zu, indem er den Selbstmördern ihren innigsten Wunsch er107 Osawa-de Silva 2008: 545. Aus dem Englischen.
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füllt, sie auf alle bürgerlichen Rechte verzichten lässt und auf eine einsame Insel auslagert. Radikal zieht er die Grenze der Zivilisation innerhalb der Zivilisation und innerhalb des modernen Staatsgebietes: Noch im Krankenhaus leisten die Lebensmüden den Ärzten ihre Unterschrift. Doch sie werden nicht etwa getötet, sondern betäubt und verschleppt und erwachen mit vielen Gleichgesinnten auf der Selbstmordinsel. Hier informieren Warnschilder über ihren (eingebüßten) rechtlichen Status. Tatsächlich schreitet nur eine Minderheit der Ausgebooteten direkt zum Vollzug, während die Mehrheit zögert, diskutiert und unwillkürlich weiterlebt. Weil nun alle außerhalb des Gesetzes stehen, kommt es zu Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen, aber auch die Suche nach Wasser und Nahrung jenseits der vollen Regale der 24Stunden-Läden entfaltet ihre eigene, lebhafte Dynamik. Der shōnen Manga macht seinem Untertitel sabaibaru kyokugen dorama (Extremes Überlebensdrama) alle Ehre und gerät zu einer zähen Geländeübung für depressive Jugendliche. Indem er ein Inselparadies zur Hölle macht und umgekehrt, provoziert er mit der existenziellen ”Unterschreib und schlaf!“ Mori Kōjis Manga jisatsutō blickt dem Sterben und dem Frage: „Wie leben wir in einer Tod ins Auge: Per Unterschrift befördert sich Gruppe und in der Gesellschaft der junge Patient auf die „Selbstmordinsel“. von Selbstmordkandidaten?“ ikigami (Ihre Todesnachricht) von Mase Motorō Auch der Manga ikigami jagt dem Leser einen perfiden Schrecken ein und kreiert eine monströse Metapher für die Zivilisation. Der Plot ist beängstigend: Aufgrund des „Gesetzes zur Sicherung des Staates und zum Gedeihen des Wohlstands“ (kokkahaneiijihō) erhalten alle japanischen Erstklässler eine Spritze, Impfung genannt. Ein Promille dieser Impfungen enthält eine Nanokapsel, die ihren Besitzer später im Alter zwischen 18 und 24 Jahren töten wird. Diese latente Drohung mit einem unerwarteten oder unerwartbaren Tod soll die Produktivität der Bürger und den Wohlstand der Gesellschaft steigern. Dafür bezahlt die Regierung gerne den hohen Preis menschlicher Leben - oder Todesopfer. Wer sich gegen sie stellt und den Nutzen des Gesetzes öffentlich in Frage stellt, wird des Gedankenverbrechens angeklagt. Die Todgeweihten erhalten 24 Stunden vor ihrem Ende ihre Todesbenachrichtigung (ikigami) 89
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von Amts wegen, damit sie sich auf ihre Demission vorbereiten können. Ihre Hinterbliebenen bekommen eine Rente, allerdings nicht, wenn der Sterbende noch eine Straftat begeht. Der Manga fokussiert also auf eine weitere existenzielle Frage: „Wie leben wir unsere definitiv letzten 24 Stunden?“ Die Kapitel folgen den Unglücklichen, denen der erst naive, dann zweifelnde junge Todesbote Fujimoto Kengo ihre ikigami zustellt. Erst allmählich keimt in ihm der Verdacht, dass es eine Widerstandsbewegung gegen das Gesetz der Zivilisation geben müsse. Tatsächlich spielt darin die Psychologin seiner Behörde, die ihn und seine Kollegen gegen Überlastung schützen soll, eine führende Rolle. Von den Adressaten der ikigami begeht kein einziger Selbstmord. Stattdessen versuchen alle, ihrem Leben in ihren letzten Stunden noch einen Abschluss oder sogar eine produktive Wendung zu geben. In dem Kapitel fukushū no hate (Das Ende der Rache) erreicht den jungen Yōsuke sein ikigami. Er ist bereits tief verletzt als Opfer gewalttätiger Übergriffe, verübt von einer Jugendgang. Nun sucht er deren Mitglieder einzeln auf und begleicht entschlossen seine offenen Rechnungen. Zufällig aber begegnet er auch einem anderen Opfer von Drangsalierungen (ijime), nämlich einem Schüler, den er zuvor beim Ladendiebstahl im Auftrag seiner Peiniger beobachtet hat. Er rät ihm, sich sofort zu wehren, und nimmt unwillkürlich die Rolle des senpai (Lehrers) ein, der seinen kōhai Schreckensnachricht: Nur noch 23 Stun(Schüler) anleitet und anweist. So den und 29 Minuten hat Yōsuke zu leben. Mase Motorōs Endzeitmanga ikientwickelt sich sein allerletzter Legami als Metapher der Zivilisation. benstag zu einem Lernprogramm für alle beide. Sein Schüler befolgt und verinnerlicht seinen Rat, durchbricht entschlossen den Teufelskreis der Misshandlungen und verleiht damit Yōsukes Leben rückwirkend Sinn und Bedeutung. In dem Kapitel wasurerarenai uta (Das unvergessliche Lied) kämpft ein Musikerduo, Sänger Torio und Komponist Hidekazu, mit Straßenauftritten um seinen Durchbruch. Ein Produzent trit an sie heran, aber er macht nur Torio ein Vertragsangebot. Dieser entscheidet sich tatsächlich, seinen Freund alleine zu lassen. Erst dann passiert die Katastrophe: Während Torio einen ikigami erhält, erleidet Hidekazu einen Autounfall 90
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und fällt ins Koma. Daraufhin besinnt sich Torio, eilt zur nächsten Radiostation und singt live ihren gemeinsamen Lieblingssong michishirube (Wegweiser). Der Klang der von ihm selbst verfassten Musik lässt den Patienten Hidekazu aus seinem Koma erwachen, noch bevor Torio tot zusammenbricht. Das Kapitel shusseizenya (Am Vorabend des Feldzugs) entführt den Leser in ein Altersheim. Pfleger Shikibu unterhält enge Bindungen zu seinen betagten Schützlingen, obwohl viele von ihnen nur noch in der Vergangenheit leben. Besonders ist ihm die alte Frau Asakura, die kaum noch laufen kann, ans Herz gewachsen. Dennoch erhält er seine Todesbenachrichtigung und quittiert den Dienst unter Hinweis auf sein Schicksal. Doch bevor er die Stadt verlässt, erreicht ihn die Nachricht, dass Asakura samt ihres Rollstuhls verschwunden sei. Erst mit seiner Hilfe findet die Polizei sie draußen im strömenden Regen. Er übernimmt die Aufgabe, sich ihr zu nähern und „befiehlt“ ihr, aufzustehen und zu laufen. Dieser „Befehl“ aus dem Munde eines jungen Mannes weckt in ihr die Erinnerung an ein Erlebnis vor über 60 Jahren, als ihr Ehemann zum Kriegsdienst einberufen wurde. Auch er „befahl“ ihr damals, aufzustehen und sich um ihre gemeinsamen Kinder zu kümmern. Erneut überwältigt von Shikibus Strenge und Fürsorge noch im Angesicht seines Todes, kann auch sie ihren Körper wieder in Dienst nehmen. Das Leben kehrt in ihre Beine zurück und ihre Lähmung ist überwunden.
Der Blick in den Abgrund als Sprung von der Schaufel Offenbar wecken die Todesbenachrichtigungen (ikigami) die Lebensgeister (ikigai). Das Unbehagen in der Kultur ist in diesen düsteren Manga-Visionen nicht zu übersehen, die Zivilisation geht buchstäblich bis an ihre Grenzen. In diesen Narrativen bewahrheitet sich Baudrillards Formel von der Erpressung zur Sicherheit. Der technokratische Versuch der bürokratischen Staatsmacht, die Zeit und den Tod zu kontrollieren, um Wohlstand und Sicherheit zu garantieren, mündet in Unfreiheit und Angst. Eine Gesellschaft, die den Tod ausschließt, lebt in seinem Schatten und unter seiner Kuratel. Die Manga spitzen mit ihrer Nähe zum Tod lediglich das reale Dilemma der japanischen Jugend zu. Sie kreieren einen kurzen Freiraum jenseits des Zeit-, Prüfungs- und Entscheidungsdrucks und erobern die letzte Instanz, den letzten Schritt, die letzten 24 Stunden als bescheidenes Refugium des Individuums. Die Palliativmedizin berichtet, dass alte Menschen, die Diagnosen tödlicher Krankheiten als ikigami erhalten, eben nicht extravaganten Wünschen nachgehen, ausbrechen und um die Welt reisen, sondern zumeist weiterleben als die Personen, die sie sind. 91
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In analoger Weise dient die Todesnähe in den Manga für das junge Publikum als biographisches Kontrast- und Wiederbelebungsprogramm. So eröffnen die existenziellen Fragen:
„Wen würden wir töten, wenn wir die Macht zum Töten hätten?“ „Töten wir auf Befehl, wenn wir mit dem Tode bedroht werden?“ „Wie leben wir in einer Gruppe von Selbstmordkandidaten?“ „Wie leben wir unsere definitiv letzten 24 Stunden?“
einen neuen diskursiven Kontext, eine neue Plattform zur Selbstfindung. Indem sie intensiv an das Ende des Lebens erinnern, stellen sie es zugleich auf Anfang und eröffnen radikal die Frage nach seinen Zielen, Werten, Bedingungen und Konflikten. Diese fiktionalen Manga artikulieren ihre Kritik am Befund der ökonomischen Krise und politischen Stagnation mit einem vielsagenden Blick in die Psychen und Lebenswelten. Sie schielen nicht nach Aufmerksamkeit mit lärmender Gewalt, sondern flüstern ihre message eher leise mit der Stimme der Toten. Die jungen Leser hören zu, nicht weil sie töten oder sterben wollten, sondern weil ihr Leben gerade erst beginnt. Aber sie müssen Liebe, Freundschaft, Konflikt und Verlust selbst und unmittelbar (er)leben, nicht angstvoll vermeiden. Dabei hilft der Tod im Manga, indem er die Luftblase der behüteten Kindheit, der geplanten Karriere und vermittelten Ehe verlässt und die Grenze zum Leben narrativ überschreitet. Seine Leser teilen diese extreme Erfahrung, überwinden die Eliassche Einsamkeit des Sterbenden und entkommen der täglich greifbaren Entfremdung, der Leere und Langeweile, dem tauben Gefühl der owaranai hibi. Zumindest im Manga ist der Tod sehr gesellig, gesprächig, unterhaltsam und anregend. Er verkörpert die Wildnis der Zeit im Rhythmus der Zivilisation.
Manga Hirokane, Kenshi (1983) kachō shima kōsaku (Section Chief Shima Kōsaku). Tokyo: Kōdansha. Mase, Motorō (2005) ikigami. The Ultimate Limit. Tokyo: Shōgakkan. Mori, Kōji (2009) jisatsutō. sabaibaru kyokugen dorama (Die Selbstmord-Insel. Das extreme Überlebens-Drama). Tokyo: Hakusensha. Motomiya, Hiroshi (1994) sararīman kintarō. Tokyo: Shūeisha. Ōba, Tsugumi/Obata, Takeshi (2004). desunōto (Death Note). Tokyo: Shūeisha. Oku, Hiroya (2000) gantsu (Gantz). Tokyo: Shūeisha.
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Satō, Shūyo (2006) tokkō no shima (Die Kamikaze-Insel). Tokyo: Hōbunsha. Taniguchi, Jirō (1994) chichi no koyomi (Die Sicht der Dinge). Tokyo: Shōgakkan. Tezuka, Osamu (1985) adorufu ni tsugu (Adolf). Tokyo: Bungeishunjū.
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2 Film, Fernsehen und Museen als Augen des postmodernen Japan
2.1 Nippons nostalgisches nationales Narrativ: Ishihara Shintarōs Kamikaze-Film ore Männliche Krieger als nationale Ikonen Nationale Identitäten brauchen eingeborene Helden und nationale Narrative. Gewalttätige Aufstände gegen die Besatzungsmacht sind normalerweise eine männliche oder mannhafte Aktion: Der Cherusker Arminius kämpfte für die Germanen gegen Rom, Alfred der Große verteidigte die Angelsächsischen Reiche gegen die Wikinger, Wilhelm Tell rettete die Ehre der Schweiz. Weibliche Krieger sind die Ausnahme auf dem Schlachtfeld: Königin Boudicca in England oder Jeanne d’Arc in Frankreich. In Japan ist die Figur des Samurai (von samurau = dienen) zum Ideal des ehrenvollen Kriegers avanciert und dient bis in unsere Zeit als unerschöpfliche Quelle nationaler Geschichte(n). Jedes Kind kennt die Erzählung der 47 rōnin (herrenlosen Samurai), die für die Demütigung und Tötung ihres Herrn blutige Rache nahmen und bis heute für ihre Loyalität im Sengakuji in Tokyo verehrt werden. Der Historiker Wolfgang Schwentker erinnert in seinem Buch Die Samurai an die Legende: „Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde sie (…) in Stücken für das Puppentheater oder das Kabuki, in (…) fiktiven Geschichten oder Holzschnitten festgehalten.“1 Ein jüngeres Beispiel ist der globale Erfolg von Nitobe Inazōs Buch Bushidō: The Soul of Japan (1900), das zuerst auf Englisch für westliche Leser geschrieben und danach erst ins Japanische übersetzt wurde. Ein ganzes Jahrhundert später entführen uns 1 Schwentker 2003: 10.
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die Schauspieler Tom Cruise und Watanabe Ken in dem Film Der letzte Samurai (2003) in die gute, alte und doch kriegerische Meiji-Zeit, als Japan seinen inneren Kampf zwischen Tradition und Moderne austrug. Natürlich diente das nationale Narrativ stets auch den Zwecken der politischen Propaganda. Nachdem die westlichen Regierungen Japan in den 1850er Jahren zur Öffnung seiner Märkte gezwungen hatten, suchte auch die japanische Nation nach Helden in ihrer Vergangenheit und fand sie im historischen Kampf der Samurai gegen die Mongoleninvasionen. In den Jahren 1274 und 1281 hatten zwei Taifune die mongolischen Flotten vor Kyūshū zerstört und die Invasoren um ihren sicher geglaubten Sieg gebracht. Die Japaner sahen in den Stürmen daher göttliche Winde (kamikaze) und Zeichen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutete die Tokyoter Zentralregierung diese glücklichen Siege dann zielstrebig zu nationalen Triumphen um. Eine Reihe von Gemälden aus jener Zeit sowie Denkmäler an den Orten der Schlacht dokumentieren bis heute diese frühe Propaganda.2 Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schließlich schickten die japanische Militärs junge Piloten in den Opfertod gegen amerikanische Schlachtschiffe und Flugzeugträger. Im kriegerischen Wahn missbrauchten sie die nationale Legende der Kamikaze (offiziell: tokkōtai, Angriffstruppe) und verbanden die Verteidigung des Landes mit einer fast göttlichen Verehrung der Samurai. Nach der Entstehung der nationalen Filmindustrien, dem immensen Wachstum der Massenmedien nach dem Krieg und der Entstehung der globalen Populärkultur ist es kein Wunder, dass Samurai und KamikazePiloten noch heute ein großes Publikum finden. Nationale Helden haben den globalen Unterhaltungsmarkt erobert, ihre Abenteuergeschichten und Schlachten ziehen sich durch Film, Fernsehen und Manga. Zusätzlich gebar der Medienbetrieb ganz neue, virtuelle Helden in bunten Heften und auf Bildschirmen: In Frankreich Astérix und Obélix, in Amerika (oder im gesamten Westen) John Wayne und Jeremiah Springfield, in Japan Astro Boy, Sazae-san und Doraemon. So griffen die Massenmedien nicht nur nationale Narrative auf, sondern in sie ein. Gleichzeitig nutzten sie ihre neugewonnene Freiheit von politischer Zensur nach dem Krieg und hörten auf, bloße Instrumente der Propaganda zu sein. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte nun erhellen, erziehen und unterhalten. Nach der weltweiten Studentenrevolte 1968 kam sogar der alte Heldenmythos unter Druck: Staatliche Autoritäten wurden in Frage gestellt, ebenso die Rolle des Krieges oder Wehrdienstes für das männliche Selbstbild, Proteste gegen die Aufrüstung und Friedensbewegungen dominierten die 70er Jahre. Die wirklichen 2 Fröhlich 2009: 84.
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Helden waren plötzlich jene, die nicht kämpften oder desertiert waren. Forscher fanden heraus, dass Deutschland wie Japan in der Endphase des Kriegs Kamikaze-Piloten (Rammbomber) eingesetzt hatte. Aber hüben wie drüben hatten auch viele Soldaten ihre Befehle ignoriert, ihre Missionen abgebrochen oder Selbstmord begangen. Diese Entdeckung verrückte das traditionelle Narrativ vom Soldaten und Krieger. Im Jahre 1993 schrieb der Autor Uwe Timm (*1940), Kriegskind und 68er, eine neue Version des nationalen Narrativs jenseits des Schlachtfelds: In seiner Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993) erinnert sich die alte Dame Lena Brückner an das Ende der Kriegszeit in Hamburg. Im April 1945 lädt sie einen Soldaten der Wehrmacht zu sich nach Hause ein. Er verschläft die letzte Schlacht gegen die Engländer, und sie verschweigt ihm sogar die deutsche Kapitulation, damit er länger bei ihr bleibt. Für einen Pelz ersteht sie Currypulver auf dem Schwarzmarkt, vermischt es mit Ketchup und würzt damit die Würstchen an ihrem Kiosk. Bis heute streiten Hamburg und Berlin um die Ehre der Erfindung des Rezepts. Die Novelle schreibt die Nationalgeschichte kunstvoll um: Ein Vertreter der nach dem Krieg aufgewachsenen Generation und der Studentenbewegung erkennt nationale Schuld und Verbrechen an und rettet damit zugleich die Ehre und Menschlichkeit der Deserteure und Kriegs(dienst)verweigerer. Im Jahre 1996 hat Isabel Kreitz (*1967) Die Entdeckung der Currywurst mangafiziert. Interessanterweise hat sie auch die Lebensgeschichte des russischen Spions in der deutschen Botschaft in Tokyo während des Krieges, Richard Sorge, zu der graphic novel Die Sache mit Sorge (2008) verarbeitet. Sorge ist auch eine wichtige Figur in Tezuka Osamus Manga adorufu ni tsugu (Adolf, 1985), in dem Spione in Berlin und Kobe der Geburtsurkunde des Führers hinterherjagen, die ihn als Juden ausweist. Offenbar können also Narrative und Protagonisten verschiedener Nationen verschmelzen, sodass die eigene Geschichte auch aus fremden Blickwinkeln betrachtet werden kann. Jeder Nationalismus fällt somit über kurz oder lang seiner eigenen narrativen Form zum Opfer. Die traditionellen Vorkriegsversionen der nationalen Narrative haben keinen Bestand. Umverpackt und umgeschrieben in immer neue, unterhaltsamere und visuelle Formen, Filme und Manga für den weltweiten Markt, verlieren diese nationalen Narrative die Kontrolle über sich selbst. Die bloße Idealisierung des bushidō oder die Vermeidung kontroverser Themen wie das der „Trostfrauen“ (ianfu, zur Prostitution gezwungener Frauen in den japanischen Besatzungsgebieten) befriedigen keine politisch aufgeklärten Leser mehr. Neue Technologien der Aufzeichnung und Reproduktion lassen zahlreiche Zeitzeugen viele verschiedene Bilder der Vergangenheit zeichnen und enthüllen zugleich die 97
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Selektivität des Gedächtnisses. Auch die Texte von Ishihara Shintarō können so gelesen werden: als autobiographische, retrospektive Dokumente, als Veränderungen des nationalen Narrativs, als Erzählungen und Erinnerungen eines alten Mannes auf seiner Yacht, die langsam in der japanischen See versinkt, unter Wellen aus globalem Handel, kontinentaler Migration, kultureller Vermischung, digitaler Beschleunigung und hemmungslosem Konsum. Dieser Wandel des Blicks offenbart sich im Vergleich zwischen Ishiharas Film orewa, kimi no tameni koso shinini iku (Ich sterbe für dich, 2007) über Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg mit Clint Eastwoods zeitgleichen Kinoerfolgen Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima (beide 2006). Paul Virilio hat argumentiert, dass Schlachtfelder stets Drehorte sind, an denen Männer mit Fahrzeugen und Kameras den Raum durchdringen.3 Das gilt für alle amerikanischen Kriegsfilme, ob sie im Pazifik, in der Normandie, in Vietnam oder im Irak spielen. Während Eastwood, nur zwei Jahre älter als Ishihara, diesem bewährten Muster folgt, erzählt Ishihara in ore verschiedene Geschichten aus der Umgebung einer Frau. Die Restaurantbetreiberin Torihama Tome kümmert sich mütterlich um die jungen, todgeweihten Piloten und lädt sie sogar ein in den privaten tatami-Raum ihres Teezimmers. So ersetzt ore das männliche Kriegsnarrativ, basierend auf geschriebenen Berichten, durch erzählte und erlebte Geschichte(n) um die Beziehungen zu einer mütterlichen Figur. Generisch ist der Film ein Hybrid: Von Ishihara selbst als Gegenstück zu Eastwoods Blockbuster bezeichnet, folgt ore in Wirklichkeit den narrativen Regeln des Fernsehens. Er ahmt die typischen Plots und Erzählweisen der Fernsehserien der 60er Jahre nach, in denen die starken Frauen (und Witwen) der traumatisierten Soldaten das Heft in die Hand nahmen. Der Abgleich mit Yoshimi Shunyas Analyse der Zeit- und Geschlechterordnung im japanischen Fernsehprogramm nach dem Krieg belegt, dass der Film nicht nationalistisch ist, sondern im wesentlichen autobiographisch, nostalgisch und feminin. Ironischerweise erklärt sich so auch seine kommerzielle Niederlage gegen Eastwoods Letters from Iwo Jima an der globalen Kinokasse.
Männliche Autoren des nationalen Narrativs: die Familie Ishihara als die japanische Familie Die königlichen Familien haben ihren Sonderstatus in den meisten Nationen der Welt verloren. Allerdings wurden sie häufig durch Familien 3 Virilio 1986: 161.
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aus der Bourgeoisie ersetzt, die über Macht und Einfluss in der Politik verfügen und beides mitunter sogar vererben. Die Kennedys in Amerika sind ein Beispiel, die von Weizsäckers in Deutschland ein anderes. Manche dieser Politiker waren noch selbst im Zweiten Weltkrieg aktiv und setzten ihre Karrieren dann im demokratischen System nach Kriegsende fort. John F. Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten und ermordet im Jahre 1963, ist sicher der prominenteste Staatsmann dieser Art. Richard von Weizsäcker, Regierender Bürgermeister von WestBerlin von 1984 bis 1994 und Deutschlands sechster Bundespräsident, ist sein Gegenstück. Für Japan, wo Parlamentssitze häufig innerhalb von Politikerfamilien vererbt werden, wäre die Familie Tanaka zu nennen: Oberhaupt Kakuei, Premierminister von 1972 bis 1974, und seine noch aktive Tochter Makiko, Außenministerin von 2001 bis 2002. Auch die Familie Ishihara steht seit langem im politischen Rampenlicht. Ishihara Shintarō wurde 1932 in der Hafenstadt Kobe geboren. Schon als kleines Kind registrierte er aufmerksam, wie die Vorbereitungen auf den Krieg ihre Schatten vorauswarfen. Im Jahre 1934, kurz vor der Geburt seiner jüngeren Bruders Yūjirō, mit dem er aufwuchs, zog die Familie Ishihara nach Otaru, eine Hafenstadt nordwestlich von Sapporo auf der Nordinsel Hokkaidō. Dort übernahm Vater Kiyoshi die Außenstelle der Reederei Yamashita. Medienwissenschaftler Yoshimi Shunya schreibt in seinem Aufsatz Das Paradox der Gobal City (gurōbaru shiti no gyakusetsu): „Firmenchef Yamashita unterhielt enge Verbindungen zu Militär und Politik. (...) Während des (zweiten) japanisch-chinesischen Krieges (ab 1937) legte er in der Mandschurei, in Thailand und Birma Hand an bei halbstaatlichen Unternehmungen und verdingte sich auch für die japanische Kolonialherrschaft.“4 Schon als Kind lernte Ishihara Shintarō segeln und verinnerlichte eine tiefe Bindung zum Ozean. Sie ist nachzulesen in seinem autobiographischen Werk waga jinsei no toki no toki (Undercurrents: Episodes from a Life on the Edge, 1993). Oft hat der Autor selbst dem Tod in die Augen gesehen, als Mitglieder seiner Crew im Meer ertranken oder Fischer von Haien attackiert wurden. Die See und der Tod sind die Leitmotive seines Lebens und seiner Texte. Yoshimi beschreibt präzise die Rolle der Reederei Yamashita innerhalb des kolonialen Seeverkehrsnetzes im Pazifik. Dieses Netz war natürlich nur der Vorläufer des Luftverkehrsnetzes und der weltweiten Finanzzirkulation von heute. Natürlich erfüllte das Verkehrsnetz zur See exakt die Anforderungen der japanischen Militärregierung und ihrer imperialen Abenteuer. Firmenboss Yamashita Kamesaburō (1867-1944) 4 Yoshimi 2001: 95. Zitiert nach der deutschen Übersetzung in Heinze 2006a: 114.
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hielt engen Kontakt mit den militärischen Führern. Im Jahre 1943 wurde er Berater von Premierminister Tōjō Hideki (1884-1948, im Amt 194144). Ishihara selber schreibt in seinem Buch otōto (Mein jüngerer Bruder, 1996): „Zu jener Zeit war Otaru die wichtigste Handelsstadt auf Hokkaidō. Die Filialen der städtischen Bank waren nicht in Sapporo, sondern alle in Otaru. Die Dampfschiffgesellschaft meines Vaters mit dem Stützpunkt Otaru hatte einen Anteil am Frachtumschlag von und nach Hokkaidō von mehr als 50 Prozent, und das belegt die Bedeutung der Position meines Vaters an diesem Fleck.“5 Im Jahre 1940 zog die Familie nach Zushi in der Nähe von Tokyo, wo sie das Haus von Yamashita mietete. Der Krieg war noch lange nicht zuende, aber die Funktion der Stadt Tokyo als Knotenpunkt der weltumspannenden Verkehrs- und Finanzströme war bereits deutlich am Horizont sichtbar. Dieser Umzug in die Hauptstadt war also nur Ishihara Shintarōs erster Schritt zur Eroberung des Rathauses 60 Jahre später. Nachdem er sich als Autor etabliert hatte, fühlte er sich reif für eine politische Karriere. Ausgerechnet im Jahre 1968 wurde er Mitglied des Oberhauses. Noch sollte der Wirtschaftsboom in Japan mehr als zwei Jahrzehnte andauern. Zeitweise wurde Ishihara als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gehandelt. Erst 1989 platzte die Immobilienblase und läutete die Jahrzehnte der Stagnation ein. Im Jahre 1999, als viele Beobachter schon Ishiharas Rückzug aus der Politik erwarteten, ließ er sich überraschend zum Gouverneur von Tokyo wählen. Auch seine Söhne Nobuteru und Hirotaka wurden 1990 und 2005 in das Parlament gewählt, sein zweiter Sohn Yoshizumi ist Schauspieler, zumeist für das Fernsehen. Sein vierter Sohn Nobuhiro lehrt als Maler auf dem Tokyoter Campus der New York School of Visual Art. Zwei Söhne also setzen die politische Tradition fort, während die anderen beiden im weitesten Sinne in den Medien arbeiten und auch damit ihrem Schriftstellervater nacheifern. Ausgehend vom Grad der Aufmerksamkeit, welche die Familie Ishihara auf allen Ebenen genießt, und angesichts ihrer vielfältigen Aktivitäten ist sie mit Sicherheit die meistbeobachtete nationale Familie Japans. Ihren Kopf bildet noch immer der Patriarch Ishihara Shintarō, über 80 Jahre alt, älterer Bruder eines berühmten Schauspielers, Vater mehrerer prominenter Söhne, aktiver Politiker der Dauerregierungspartei LDP und viermal gewählter Bürgermeister von Tokyo. Deshalb ist er auch der ideale Erzähler und Autor des nationalen Narrativs Japans.
5 Yoshimi 2001: 96 und Heinze 2006a: 114. Original in Ishihara 1996.
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Die Familie Ishihara und die Medien: von der Nachkriegszeit in die Postmoderne Als im Jahre 1951 Ishihara Kiyoshi unerwartet starb, wurde Shintarō im jugendlichen Alter von 19 Jahren Familienoberhaupt und musste für seine Mutter und seinen Bruder Verantwortung übernehmen. Im Jahre 1954, kurz nach seinem Abschluss an der Hitotsubashi Universität, schrieb er seinen ersten Erfolgsroman taiyō no kisetsu (Season of the Sun). Er schildert das reißerische und vergnügungssüchtige Leben einer Gruppe von Boxern und heißt dabei insbesondere den American way of life in Japan willkommen. Das Buch gewann den prestigeträchtigen Akutagawa-Preis für Debütanten im Jahre 1955 und wurde sofort unter der Regie von Furukawa Takumi verfilmt. Eine Rolle übernahm Ishiharas jüngerer Bruder Yūjirō, der damit seine eigene blendende Karriere als Schauspieler und Sänger startete. Mit seinem Auftreten und Aussehen verdiente er sich bald den Titel des „Elvis Presley von Japan“. Als Casanova, Held und Rebell verkörperte er perfekt die amerikanisierte japanische Massenkultur der Nachkriegszeit. Mit den beiden Filmdrehbüchern von 1956 zu taiyō no kisetsu und kurutta kajitsu (Crazed Fruit) verlieh Ishihara der wilden, rebellischen Jugend Stimme und Ausdruck. Beide Filme provozierten die japanische Nation mit dem Lebensstil des taiyōzoku (sun tribe), mit westlichem Konsumverhalten, Hedonismus, Gewalt, Erotik und Sex. Ihr Skandal speiste sich aus ihrem Konzept von Männlichkeit. Filmhistorikerin Isolde Standish merkt an, dass hier männliche Gruppen Raum und Leinwand beherrschen, während die Frauen „gejagt“ werden (girl hunt).6 Die visuelle, muskulöse Männlichkeit von Ishihara Yūjirō war so intensiv, dass sie im Folgenden etwas zurückgenommen werden musste, ebenso wie homoerotische Elemente.7 Der Grad an sexueller Freizügigkeit irritierte die japanische Gesellschaft, die zu jener Zeit noch als Schamkultur galt. Ishihara Yūjirōs dritter Film des Jahres 1956: ubaguruma (The Baby Carriage), stellte dann schon wieder den Nihilismus der taiyōzoku-Helden in Frage.8 Michael Raine bemerkt: „Yūjirōs anfangs als Bedrohung empfundene taiyōzoku-Persönlichkeit wurde normalisiert und nationalisiert. Das war eine Bedingung für seinen Aufstieg zum Filmstar.“ 9 Als Sänger und Schauspieler thronte er mehr als drei Jahrzehnte lang über der japanischen Film- und Fernsehwelt und verstarb früh mit 52 Jahren. Im Jahre 1991, vier Jahre nach seinem Tod, 6 Standish 2006: 224, 228. 7 Raine 2001: 203. 8 Standish 2006: 230. 9 Raine 2001: 219. Aus dem Englischen.
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wurde das Ishihara Yūjirō-Museum in Otaru eröffnet, das sein Leben und seine Karriere dokumentiert. Noch heute ist er ein nationales Idol für seine Generation. Regelmäßig an seinem Geburtstag füllen seine (weiblichen) Fans das alte Olympiastadion in Yoyogi, um gemeinsam ihren Verlust zu betrauern. Sein älterer Bruder Shintarō hat indessen seine eigene Karriere als Autor und Politiker gemacht. Seine Liberaldemokratische Partei dominierte die japanische Politk zwischen 1955 und 2009 fast ohne Unterbrechung. Die Studentenbewegung und die weltweiten Proteste von 1968 hatten fast keinen Einfluss auf den status quo in Japan. In jenem Jahr gewann Ishihara seinen Sitz im Oberhaus mit drei Millionen Stimmen. Dieser zweite große Erfolg seines Lebens nach seinem Romandebüt sicherte ihm weiterhin die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Medien. Mehr als 30 Jahre lang nutzte er sie geschickt für denkwürdige Auftritte und Aussagen: Noch nach der Katastrophe in Fukushima trank er demonstrativ Wasser aus dem Leitungsnetz von Tokyo, was auch in der deutschen Tagesschau zu sehen war, und forderte sogar Atomwaffen für Japan. Obwohl er zurecht als konservativer Vertreter des alten Japan gilt, hat er nach dem Tod seines Bruders seine Einstellung an einem wichtigen Punkt geändert. Im Jahre 1989 legte er zusammen mit Sony Chairman Morita Akio das Buch ,NO‘ to ieru Nihon (The Japan that Can Say No) vor. Darin wandte er sich nun von Amerika ab und beharrte darauf, dass Japan den USA ökonomisch überlegen sei und sich gegen deren Hegenomie zur Wehr setzen müsse. Diese Provokation verursachte Verwirrung und Wut im Ausland, vor allem in Amerika. Yoshimi unterstreicht das Paradox in Ishiharas neuer Haltung: Schließlich hatte er selbst in den 50er Jahren den American way of life willkommen geheißen. Glücklicherweise für ihn lenkte das Platzen der japanischen bubble economy im Jahre 1989 von diesen politischen Spannungen ab, und auch die Prioritäten der Innenpolitik verschoben sich. Sieben Jahre später publizierte Ishihara das Buch otōto (Mein jüngerer Bruder, 1996), einen allobiographischen Text über sein Leben mit Yūjirō. Es war der Meilenstein zum dritten Sieg in seinem Leben im Jahre 1999, seinem Triumph bei den Gouverneurswahlen in Tokyo. Ishihara Shintarō wurde der sechste Gouverneur von Tokyo seit 1947. Er folgte dem Schriftsteller und Fernsehkomödianten Aoshima Yukio nach, der 1995 von jenen gewählt worden war, die von Korruption und Bürokratie die Nase voll hatten. Aber Aoshima war nicht sehr erfolgreich in seinem Kampf und wirkte am Ende blass und erschöpft. Im Jahre 1999 wandten sich viele seiner Wähler Ishihara zu, dem scheinbar unabhängigen und frischen Kandidaten. Bauen konnte er auf 102
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sein Image als anti-bürokratischer Politiker und Bruder von Filmstar Yūjirō, sowie auf seine Autorität als berühmter Schriftstellers mit guter Vernetzung in einer einflussreichen Fraktion der LDP. Zwar erhielt er nur 1,33 Millionen Stimmen (30,5 Prozent), aber er wurde dreimal wiedergewählt: 2003, 2007, sowie in einem bizarren Wahlgang nach Fukushima im Jahre 2011. Mit dem Slogan „nihon dakara, dekiru (Wir können es, weil wir Japan sind)“ warb Ishihara für die Olympiade 2016 in Tokyo, und nach der Niederlage gegen Rio de Janeiro kämpfte er um den Zuschlag für 2020. Noch heute überblickt er die Stadt vom Metropolitan Government Building, von der Spitze jener Zwillingtürme in Shinjuku, die Architekt Tange Kenzō (1913-2005), der Visionär der 1959 gegründeten Schule der Metabolisten, auf dem Höhepunkt der bubble economy entworfen hat. Der alte Schriftsteller ist hier im postmodernen Japan angekommen: in der Hauptstadt der Warenzirkulation, des big business, der Migration und der Massenmedien. Ishiharas politische Erfolge als Gouverneur blieben allerdings bescheiden. Er kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen die Krähen, die schwarze Plage der Stadt. Er erhöhte die Steuern für dieselgetriebene Geländewagen und wies Schullehrer an, die Nationalhymne kimigayo zu Festtagen an ihren Schulen singen zu lassen. Sein Plan aus dem Jahr 2000 zur höheren Besteuerung der Banken schlug fehl. Ohnehin war es eine späte Reaktion auf die Schuldenorgie der bubble economy. Auch gab es Skandale in Ishiharas eigener Umgebung. Im Jahre 2005 geriet Hamauzu Takeo, seine rechte Hand, unter den Verdacht des Meineids. Ishihara hatte ein Jahr lang versucht, Hamauzu, der ihm die meiste Verwaltungsarbeit abgenommen hatte, zum Vizegouverneur zu befördern. Nun musste er ihn entlassen, bot ihm danach allerdings wieder einen privaten Beschäftigungsvertrag.10 Jenseits seiner Verstrickungen ins politische Tagesgeschäft blieb Ishihara mit verbalen Nadelstichen in den Medien präsent. Er stieß die USA vor den Kopf, als er ankündigte, die Airbase in Yokota im Westen von Tokyo zu schließen. Er provozierte die asiatischen Nachbarn mit dem abfälligen Ausdruck sangokujin (wörtlich: Leute aus jenen drei Ländern, nämlich aus den ehemaligen Kolonien China, Korea und Taiwan) und mit dem Wort shina für China. Und während er einerseits mit einem übergreifenden Panasianismus argumentierte, beharrte er zugleich auf der Überlegenheit Japans und seiner technologischen, ökonomischen und sogar kulturellen Führungsrolle.11 Natürlich wollte Ishihara vor allem die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen: als nationalistischer Politiker, als nationale Ikone, als 10 Kawasaki 2008: 29. 11 Iwabuchi 2002: 67.
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Oberhaupt der nationalen Familie. Als Drehbuchautor und Politiker zielte er besonders auf die visuellen Massenmedien ab. Schon in der Nachkriegszeit hatte er über sich gesagt, „dass seine Geschichten keine Texte über soziale Probleme seien, sondern kannen shōsetsu (Romane von Ideen), in denen das Schreiben als eine Art Kino funktioniere“.12 Seine stärkere, wenngleich nie vollständige Hinwendung zum Film war daher abzusehen. Im Rückblick wirken heute die taiyōzoku-Filme der Nachkriegszeit als verblassende Erinnerungen einer vergangenen Ära. Aber auch in der Postmoderne lebt Ishihara Shintarōs Vorliebe für fiktionale Genres fort. In seinen beiden letzten Filmprojekten betrauerte er daher sowohl den Tod seines Bruders, als auch den Verlust seines alten Japan.
Das nationale Narrativ in den Medien: Ishiharas nostalgische Wende Ishihara Shintarō mag weithin als altmodischer, traditioneller und konservativer Romanautor gelten. Seine letzten Produktionen aber offenbaren eine gänzlich andere Seite seiner Person, seiner Aktivitäten und Medienstrategien. Deutlich wird das im Kontrast zum Schicksal seines Freundes und Kollegen Mishima Yukio. Auch der sah die japanische Identität von westlicher Dekadenz bedroht, forderte die Armee zum Staatsstreich auf und entleibte sich schließlich rituell im Jahre 1970. Alan Tansman hat den Effekt dieser narzisstischen und faschistischen Theatralik korrekt beschrieben: Sie machte ihn zu einer „Figur der Parodie“.13 Ishihara aber blieb und musste in den folgenden Jahrzehnten mit ansehen, wie sich die japanische Gesellschaft allmählich von nationalistischen Ideologien löste und von der boomenden, berauschenden Nachkriegszeit in die krisenhafte, komplexe Postmoderne hinüberglitt. Im neuen Jahrtausend bergen Kriegsfilme made in Japan nicht länger die Gefahr revisionistischer Tendenzen. Im Gegenteil: Aaron Gerow beschreibt neuere japanische Kriegsfilme wie hotaru (Glühwürmchen, 2001), otokotachi no yamato (Die Männer des Schlachtschiffs Yamato, wörtlich: Die Yamato der Männer, 2005) und rōrerai (Loreley, 2005) als ein „Unterhaltungskino, das sich all der konträren Meinungen zu Krieg und Nationalismus innerhalb seines Publikums sehr wohl bewusst ist“.14 Auch beurteilt er das jüngere Interesse dieser Filme an der Kriegszeit im Kontext jener nostalgischer Rückblicke in die 30er Jahre der Shōwa Zeit (1955-1965), welche das japanische Fernsehen 12 Raine 2001: 221. Aus dem Englischen. 13 Tansman 2009: 257. Aus dem Englischen. 14 Gerow 2011. Aus dem Englischen.
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zuletzt häufiger genossen hat, insbesondere in der erfolgreichen Serie sanchōme no yūhi (2005, Always - Sunset on Third Street, auch als Kinofilm). Natürlich ist das Fernsehen als Familienmedium wesentlich geeigneter als das Kino, Geschichte mit einem nostalgischen Touch zu erzählen. Kein Wunder, dass ebenfalls im Jahre 2005 der Fernsehsender TV Asahi Ishiharas allobiographisches Buch otōto in fünf abendfüllende Folgen adaptierte. Die Postmoderne medialisiert, dämpft, filtert und „weichzeichnet“ den Blick in die Geschichte für die jüngere Generation. Sie vermeidet Konflikt, Trauma und martialische Männlichkeit zum Zwecke der Unterhaltung. Frederic Jameson hat als einer der ersten den engen Zusammenhang zwischen Nostalgie, Kommerz und Postmoderne für das amerikanische Kino festgestellt: „Nostalgiefilme restrukturieren das ganze Problem der historischen Flickschusterei und ziehen es auf ein kollektives, soziales Niveau, wo der verzweifelte Versuch, eine fehlende Vergangenheit zu erzeugen, nun auf das eiserne Gesetz der Mode verpflichtet wird, passend für jede neue Generation.“15 Genau das passiert auch in Ishiharas narrativer Wende. Während er nach dem Krieg noch die Segnungen Amerikas, Hedonismus und Machismo, begrüßte, entdeckt er in der Postmoderne wieder die Familie und den mütterlichen Trost der Nation. Mehr noch: Unter dem Druck, auch die Jüngeren zu erreichen und zu überzeugen, und im Bewusstsein neuer medialer Anforderungen beugt er sich auch generellen Design-Trends in Narrativen des japanischen (Kino- und Fernseh-)Films. Die Nostalgie ist Hintergrund und Basis seines neuen, medialisierten Nationalismus. Sein Film ore dehnt diese einfach weiter in die Vergangenheit aus, nämlich bis vor die eigentliche Entscheidungsschlacht im Pazifischen Krieg. Im Alter von 80 Jahren hat Ishihara viele Weggefährten verloren: zunächst seinen Vater im Jahre 1951, dann seinen Kollegen Mishima 1970 und schließlich seinen Bruder Yūjirō 1987. Oft war er selbst dem Tod auf See nahe. All diese Erfahrungen spiegeln seine Texte. Und trotz dieses autobiographischen roten Fadens haben sie doch nichts zu tun mit der japanischen Literaturgattung der shishōsetsu (Ich-Romane), in welcher sich die Schreiber in einer fast autistischen, zirkularen Kommunikation komplett öffnen und entblößen. 16 Ishihara hat sich niemals zurückgezogen, sondern stattdessen immer wieder die öffentliche Arena gesucht. Während sich die shishōsetsu durch das Fehlen jeder Entwicklung auf Seiten des Autors und Erzählers auszeichnen, hat Ishihara über die Jahrzehnte die gesellschaftliche Entwicklung des Landes seismographisch registriert und ideologisch reflektiert. Er ist der selbst15 Jameson 1991: 19. 16 Hijiya-Kirschnereit 1996: 279.
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ernannte Patriarch der japanischen Familie, der das nationale Narrativ beharrlich umschreibt. In seinem Film ore verbringt eine „Familie“ von Kamikaze-Piloten ihre letzten Tage in Würde. Er führt daher in die Intertextualität zwischen seinem Leben, seinem Tod und seiner Nation.
Szenen aus dem Film ore (2007)
Vor der Schlacht: Pilot Bandō bittet seine Ersatzmutter, für ihn einen Brief an seine Familie zu schreiben.
Tearoom talks: Auch der Koreaner Kanayama dankt seiner japanischen Ersatzmutter Torihama Tome.
Suizid als ehrenvoller Tod: Der Admiral begeht harakiri …
und auch Kamikaze Yamada beendet seine Mission selbstbestimmt.
Pilot Bandō lässt seinen jüngeren Bruder zurück …
und überlebt nach seiner Rettung als Robinson Crusoe.
Der Kreis schließt sich: Bandōs Familie besucht Torihama Tome in Chiran …
und überreicht den Brief, der sein Schicksal erklärt.
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ore und die Wiedergeburt der Nation: das weibliche nationale Narrativ Obwohl das lateinische Wort natio ursprünglich das Volk, den Stamm, das Geborene bezeichnet und damit auf die aktive Mutter verweist, waren es in der Regel die Männer, die Kriege führten, Staaten errichteten und die Geschichte dazu schrieben. Männer leben, sterben und schreiben für die Nation wie die Kamikaze-Piloten in ore, deren Kommodore in einer kitschig-langatmigen Szene von 85 Sekunden auf seinen tatami-Matten harakiri begeht. Obwohl die Figur des Samurai sein weibliches Gegenstück in der Geisha als nationale Ikone findet, sind es am Ende doch die Männerbünde der Väter, Söhne und Brüder, welche die 47 rōnin (1941 verfilmt von Mizoguchi Kenji) stark und mächtig machen, insbesondere mächtiger als Frauen. Sicher hätten auch Frauen die Forschungsarbeit der Brüder Grimm ausführen können, nicht aber die Kämpfe auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, die Uwe Timm in seinem allobiographischen Text Am Beispiel meines Bruders (2003) beschreibt. Er beruht auf dem Kriegstagebuch seines älteren Bruders, der 1942 freiwillig in die Waffen-SS eintrat und ein Jahr später in Russland fiel. Ähnliche narrative Muster mit männlichen Protagonisten finden wir auch an der Westfront der 40er Jahre, in Steven Spielbergs Kriegsfilm Saving Private Ryan (1998) oder in der amerikanischen Fernsehproduktion Band of Brothers (2001). Ob in Clint Eastwoods Film Flags of Our Fathers (2006) über die blutigen Schlachten im Pazifik oder in Paul Haggis’ Studie In the Valley of Elah (Im Tal von Elah) über die traumatisierenden Effekte des Irakkriegs in einer amerikanischen Familie, in der Tommy Lee Jones einen Vater spielt, der den gewaltsamen Tod seines Sohnes nach seiner Rückkehr nach Amerika untersucht: Uncle Sam is always watching you. All diese Filme zeigen und würdigen dieselben Bindungen, Beziehungen und Verpflichtungen unter Männern. Ganz anders Ishihara Shintarōs letzte Filme. Sie pflegen keineswegs das Bild des unbesiegbaren oder unnahbaren Kriegers. Sein kryptischer Text hisai (Geheimes Festritual, 1998) über ländliche Rituale, Tabus und Moderne wurde von Regisseur Shinjō Taku verfilmt. Im Jahre 2005 gab er Clint Eastwood die Erlaubnis, einige Szenen für seine Filme Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima auf Iōjima (der „Schwefelinsel“) zu drehen, die von Tokyo aus verwaltet wird. Anders als Flags wählt Letters die japanische Perspektive auf den Krieg und erzählt das Schicksal des gebildeten Generals Kuribayashi, dargestellt von Watanabe Ken. Auch Letters spielt fast ausschließlich auf dem Schlachtfeld, nimmt allerdings eine erstaunlich nüchterne und re107
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servierte Haltung gegenüber seiner männlichen Hauptperson ein, wohl auch weil das Drehbuch aus der Feder einer Frau stammt, der japanischstämmigen Amerikanerin Iris Yamashita.17 In seinem Film ore schließlich stellt Ishihara Shintarō von vornherein eine Frau ins Zentrum der Handlung. Wieder vertraut er Regisseur Shinjō Taku für seine Geschichte zu Ehren der Kamikaze. Seine Mission ist heikel: Immer noch besuchen japanische Politiker den Yasukuni-Schrein, wo auch Kriegsverbrecher geehrt werden und wo ein Museum die Selbstmordangriffe der tokkōtai mit Flugzeugen und bemannten Torpedos dokumentiert. Auf den ersten Blick scheint der Film damit sowohl die asiatischen Nachbarn, als auch die Amerikaner zu brüskieren. Aber so wie seine Geschichte den Übergang schafft vom Text zum Film, von der Gegenwart in die Vergangenheit, so verwandelt er auch seinen Nationalismus in Nostalgie. Die Nation ist im Krieg, aber hier tritt sie als friedfertige Familie auf. Ishihara spielt an auf die (veraltete) Ideologie der ethnischen Homogenität Japans (Theorie des Japanertums: nihonjinron) und verschmilzt sie mit (seiner) Familiengeschichte. Der Film verlangt daher nach vielschichtigen Lesungen und Deutungen: als kultureller Primärtext, als Brief aus dem Krieg und als autobiographisches Dokument eines erfahrenen Schriftstellers. Im Gegensatz zu Eastwoods Filmen dreht sich ore um die Mutterfigur Torihama Tome, die sich um die jungen Kamikaze-Piloten in ihrem Restaurant in der Nähe des Fliegerhorstes kümmert. Obwohl ore exklusiv für das japanische Kino produziert wurde, hatte der Film dort nur 900.000 Zuschauer und spielte 1,08 Milliarden Yen ein. Außerhalb Japans wurde er nur in Tschechien, Polen, Hong Kong und im Iran gezeigt. Zum Vergleich: Eastwoods Letters spielte allein in Japan das Fünffache ein und wurde zum Welterfolg. Im Kino war Ishihara also ähnlich erfolglos wie als Politiker, und sein Brief an Clint Eastwood, in dem er beide Filme verglich und den seinen für klar überlegen hielt, war daher auch ein Akt der Verzweiflung. Immerhin macht spätestens dieser Brief den Film ore zum offiziellen japanischen Gegenstück des amerikansichen Werkes Letters. Schon in seinem allerersten Augenblick findet sich ein wichtiges Detail der japanischen Kultur. Die Nuance des japanischen Personalpronomens ore (ich) führt weg vom Schlachtfeld und zurück zu vertrauten, familiären Beziehungen, insbesondere zur Mutter oder Ehefrau. Denn das männliche Pronomen ore markiert den Übergang der Identität vom Kindesalter in die Adoleszenz oder Pubertät, es wird benutzt von Kids und Teenagern und transportiert sowohl Frechheit und Ungehorsam, als auch 17 Gerow 2006.
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Unerfahrenheit und Naivität. Anders als die Identität eines erwachsenen Mannes (der eher als boku von sich spräche) baut die Person hinter ore nicht auf maskuline Stärke (otokorashisa) und Unabhängigkeit, sondern eher auf ihre kecke Jugend, auf das Verständnis der anderen und auf ihr Verzeihen. Dahinter verbirgt sich die maternelle Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die Psychologe Doi Takeo in seinem Buch amae no kōzō (1971: The Anatomy of Dependence) als amae bezeichnet hat. Schon im Filmtitel von ore schwingt also dieses deutliche Echo der Intimität und Unschuld mit. Natürlich wird das Wort noch heute von Männern aller Altersstufen benutzt: Wer sich ore nennt, bezeichnet sich selbst als großen Jungen, der auch einmal über die Stränge schlagen darf und nicht wirklich für seine Taten verantwortlich ist. So handhaben es auch die Telefonbetrüger in Japan, die alte Leute anrufen und sich als „ore ore“ („Ich bin’s!“) identifizieren, um ihre angeblichen Verwandten um ihre Ersparnisse zu bringen. Auch die Aussagen des amerikanische Sprinters Usain Bolt wurden nach seinem überdeutlichen Sieg und Weltrekord im japanischen Fernsehen mit dem Wort ore übersetzt, die des ebenfalls erfolgreichen Schwimmers Michael Phelps dagegen ganz normal mit boku. 18 Beide Pronomen sind männlich, aber als boku bezeichnen sich idealistische junge Männer oder Athleten mit Kontakt zum Boden der Tatsachen, als ore dagegen stürmische Jungen ohne echte Selbstdisziplin. Der Gebrauch des Wortes ore im Filmtitel lässt die Zuschauer unbewusst an jene Zeit denken, als Ishihara Shintarō noch Kind war. Er war dreizehn, als der Krieg endete. Das rapide Wirtschaftswachstum in Japan genoss er als junger Mann. Bei der ersten kurzen Zäsur, dem Ölschock von 1973, war er bereits über 40 Jahre alt. In diesen Nachkriegsjahrzehnten verfestigten sich auch die getrennten Geschlechterrollen in Japan: hier der männliche Firmenkrieger, dort die gute Ehefrau und weise Mutter (ryōsaikenbo), die Familienmanagerin im Innenverhältnis. Anne Allison hat das in ihren Feldforschungen in einem Nachtclub in Tokyo bestätigt gefunden. Die männlichen (Gruppen-) Vorstellungen von Sexualität und Vergnügen werden durch weibliche Ideale von Toleranz und mütterlicher Großzügigkeit ergänzt.19 In ihrer Welt dürfen Männer sich auch einmal wie Jungs benehmen. Die Frauen lernen, diese gelegentlichen Ausschweifungen zu ignorieren und intensivieren stattdessen ihre Bindung zu ihren Kindern. Wie Allison in ihrer Untersuchung des kyōiku Manga (Erziehungsmanga) zeigt, nimmt dieses Verhältnis der Mütter zu ihren Söhnen zuweilen erotische Züge an.20 18 Ota 2009: 63. 19 Allison 1994: 179. 20 Allison 1996: 123-128.
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Genau diesen starken, fast übermächtigen Frauen begegnen wir auch in Ishiharas Leben und Texten. In der Verfilmung von otōto (2005) spielt Takashima Reiko, bekannt als Leibwächterin in der Fernsehserie kizu darake no onna (Eine Frau voller Wunden) seine Mutter. Alle Geschichten, aus denen ore geknüpft ist, basieren auf Ishiharas Interviews mit Torihama Tome, der Besitzerin des Restaurants auf der Insel Chiran an der Südspitze von Kyūshū, gespielt von Kishi Keiko. Im Film hat Torihama zwei Töchter, und auch die meisten Gäste in ihrem Restaurant sind „ihre“ Kamikaze-Piloten. Sie umsorgt sie liebevoll und schickt sogar eine Tochter los, um ihren wertvollen Kimono zu verkaufen und mit dem Geld eine besondere Mahlzeit für zwei ihrer Schützlinge zubereiten zu können. In einer anderen Szene verschickt sie Briefe von Kamikaze an deren Eltern. Weil sie die Zensur umgehen wollte, wird sie festgenommen und sogar gefoltert. Obwohl der Film also auch Kritik an der Militärdiktatur nicht ausspart, bleibt er im Kern psychologisch und emotional. Die digitalen Einschübe von Schlachtszenen wirken als Kontrastprogramm und bleiben visuelle Fremdkörper im vertraulichen, sanften und innerfamiliären Erzählfluss. Während die jungen Piloten versuchen, ihr Schicksal wie Männer anzunehmen, nennen sie Torihama stets okāchan (Mutter) oder bachan (Tante). Einer von ihnen, Kanayama, ist koreanischer Abstimmung und zeigt sich doch dankbar dafür, in der japanischen Armee dienen zu dürfen. Tabata, der dreimal seine Kamikaze-Mission abbrechen muss, erregt den Verdacht seiner Vorgesetzten und lässt seine Maschine nach dem vierten Start schließlich abstürzen. Kawagō verspricht seiner Ersatzmutter, als Glühwürmchen aus der Schlacht zurückzukehren. Er wird sein Versprechen in einer sentimentalen Szene einlösen, in der Torihama in Tränen ausbricht. Der vierte Kamikaze, Bandō, gespielt von Kubozuka Yōsuke, ist ein Rebell, auf den das Pronomen ore am besten passt. Er wurde nur von seinem Vater erzogen und hat wie Ishihara auch noch einen jüngeren Bruder. Vor seinem Start trifft er Torihama in ihrem tatami-Raum und besänftigt ihre Ängste: Sein Name sei schließlich Katsuji (katsu = siegen). Aber obwohl er wie ein Mann handeln will, hat er nicht die Kraft, seinem Vater zu sagen, dass er bei den tokkōtai dient. Deshalb bittet er Torihama, einen Brief an seine Familie zu schreiben. Während seines Starts läuft sein Bruder noch lange neben dem Flieger her, und das Schicksal des Piloten bleibt vorerst ungewiss. Erst am Ende des Films bringt Bandōs Familie einen Brief zu Torihama, der seinen Verbleib aufklärt. Der Pilot ist von einem Fischer gerettet worden und lebt nun wie Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel. Doch im Geiste ist die Familie in Torihamas tatami-Raum wiedervereinigt. 110
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Diese sich wiederholenden Einstellungen, Kamerabewegungen, Großaufnahmen von Gesichtern und Schreib- und Leseszenen lassen hinter dem kollektiven ore(tachi = wir) des Films Ishihara Shintarō selbst erkennen. Auch er hat versucht, „nein“ zu den Erwartungen seines Vaters zu sagen und stattdessen so frei und ungezügelt wie sein jüngerer Bruder zu leben. Auch er verschwand mehrfach spontan zu Motorradreisen durch Südamerika. Doch am Ende war er stets der verantwortliche und disziplinierte ältere Bruder, der weiter an seinem Text über die nationale Familie strickte. Wie Torihama im Film hat er vier Söhne, und wie diese vier Piloten bittet er um die Aufmerksamkeit der Nation in Briefen und Texten. Feministinnen sehen den japanischen Nationalismus eng verknüpft mit einem alten Kult von Männlichkeit: Jemima Repo hat diese „nationale Festschreibung der Geschlechterordnung im Yasukuni-Schrein“ untersucht.21 Aber der Nationalismus in ore ist sanft, sentimental und weiblich. Auch Ersatzmutter Torihama besucht schließlich ihre verstorbenen Kamikaze-Piloten im Yasukuni-Schrein, und tatsächlich flirren ihre Seelen am Ende als Glühwürmchen über die Leinwand. Wie sie die todgeweihten Piloten im Krieg in ihrem Hause beköstigt und getröstet hat, so gedenkt sie auch in der Nachkriegszeit der toten Soldaten. Geschickt lässt der Film Ehrung und Trauer verschwimmen und umschifft auch jede Diskussion von Kriegsverbrechen oder individueller Verantwortung. Ishihara träumt nicht von einer japanischen Nation von starken Männern, Kriegshelden oder auch nur sararīman, sondern von einer vergangenen, maternellen Kultur der „forgiveness“. Seine Rückwendung zur Vergangenheit in ore ist regressiv, zumindest aber zirkulär. Japan hat den Krieg im Pazifik gegen Amerika verloren, und jetzt verliert sein Film auch noch die Schlacht an der japanischen Kinokasse gegen Eastwoods Letters. In diesem Sinne ist Ishiharas persönlicher Brief an Eastwood nur die Wiederholung seines Filmtitels: Dokument des Trotzes und verträumte Kindheitserinnerung zugleich.
Von der „göttlichen“ zur „medialisierten“ Nation: die „Geschlechterordnung“ des japanischen Fernsehens Schlachtfelder sind Drehorte, überflogen, überblickt und aufgezeichnet von Medien aller Art. Alle amerikanischen Kriegsfilme mit ihren männlichen Helden untermauern diese These. Auch Eastwoods Letters spielt auf dem Schlachtfeld der Insel Iōjima, die heute ein riesiger Soldatenfriedhof ist. In der Rahmenhandlung graben Archäologen nach den 21 Repo 2008: 221. Im Original: „national enshrinement of gender“.
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Briefen dieser toten Soldaten. Anders ore: Seine bewegendsten Szenen spielen in der friedlichen Atmosphäre eines japanischen ochanoma (Wohnzimmers, wörtlich: Teezimmers). Hier knien die Menschen auf tatami und schreiben oder lesen Briefe an einem japanischen tsukue (niedrigen Tisch), und die klassischen japanischen Geschlechterrollen sind schon der Raumaufteilung eingeschrieben. Die familiale Intimität in Torihamas Zuhause wird noch intensiviert durch ihre Begegnung mit den jungen Kamikaze, die bald ihren Tod erleiden sollen. Am eindringlichsten sind die Blicke der Kamera auf Torihama, die erst Bandō und 15 Jahre später seinen Vater und seine Geschwister empfängt. Kameramann Ueda Shōji, der schon für Kurosawa Akira aktiv war, hat alle diese Szenen aus derselben Perspektive aufgenommen. Er zeigt Torihama in ihrem tatami-Raum kniend, wie sie schreibt, liest, Tee serviert und berät. In Letters werden die Briefe aus der Erde gegraben und als Dokumente der Vergangenheit untersucht. In ore werden die Briefe handgeschrieben und als persönliche Botschaft gelesen. Die Verfasser leben (noch) und kommunizieren etwas, das in einem klassischen Kriegsfilm fast inkommunikabel wäre: Auch jungenhafte Unschuld kann der totalen Zerstörung und dem Tod anheimfallen. Walter Benjamin hat ausgeführt, dass die Technik der Ton- und Sprachaufzeichnung das vormals stumme Medium Film in den 30er Jahren sofort zu einem Instrument nationaler Propaganda umformte. Paul Virilios Analyse des westlichen Kriegs- und Propagandafilms der 40er Jahre verstärkte noch Benjamins Argument. Nur in Japan lässt sich der Nationalismus nicht an das Kino der 30er Jahre koppeln, obwohl Japan sich bereits im Krieg befand. Auch den Japanern wurde natürlich das nationale Narrativ tief in ihr Bewusstsein eingeschrieben. Aber nicht der Film war das Leitmedium der politischen Propaganda, sondern vielmehr das Massenmedien Hörfunk sowie mobile Erzähler auf Fahrrädern mit kleinen kamishibai (mobilen „Papierbühnen“ oder Guckkästen, die noch bis in die 70er Jahre in Gebrauch waren) und mit herzzerreißenden Geschichten. Im Radio verkündete am 15. August 1945 der japanische Kaiser die bedingungslose Kapitulation und verzichtete offiziell auf seinen göttlichen Status. Auch ore spart diesen historischen Moment nicht aus, und Torihama bricht vor dem Apparat zusammen. Das Radio dominierte die japanische Medienlandschaft noch in den 50er Jahren. Japans baby boomer, die alle in der zweiten Hälfte der 40er Jahre geboren wurden, haben seine Nutzung schnell verinnerlicht und sind noch heute seine treuesten Kunden. 22 So wie heutzutage diese jahrzehntelange Vorherrschaft des Hörfunks in Japan fast vergessen ist, 22 S. Kapitel 2.3, Seite 137.
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wird nach Meinung von Yoshimi Shunya und Yomota Inuhiko umgekehrt die Bedeutung des Films als nationales Medium im Krieg weit überschätzt. So hält Mizoguchi Kenjis Film manmō kenkoku no reimei (The Dawn of the Founding of Manchukuo and Mongolia) von 1932 keinem Vergleich stand mit Frank Capras zeitgenössischen Werken und ihren politischen Botschaften für Amerika. Er bietet eben keine starken Soldaten, männlichen Krieger oder Nationalhelden. Yomota nennt als Beispiel auch Mizuguchis Verfilmung der Geschichte der 47 rōnin mit dem Titel genrokuchūshingura aus dem Jahre 1941: „Gerade als Mizoguchi eine Art ,neuen nationalen Film‘ produzieren wollte, schnitt er den Höhepunkt und die Rachszene so zusammen, dass dieses Drama, das von männlichen Helden handeln soll, regelrecht von Frauen umgeschrieben und so zu einer völlig anderen Geschichte wird.“23 Erst nach dem Krieg avanciert das Kino auch in Japan zu einem nationalen Medium wie in den Vereinigten Staaten. Viele Jahre nach der militärischen Niederlage erreichte der ökonomische Wiederaufbau die Haushalte. Moderne Maschinen und Geräte wurden angeschafft, und ein neues, visuelles nationales Medium trat auf den Plan. Seit dem Jahre 1953 sendete das Fernsehen, es erweiterte allmählich sein Publikum und erreichte im Jahre 1967 erstmals 20 Millionen Japaner. Mit ihm wurde die Elektrifizierung der Haushalte zum nationalen Großprojekt.24 Die typische Hausfrau in den Werbespots musste über drei Geräte unbedingt verfügen: einen Kühlschrank, ein Telefon und einen Fernseher. Diese Objekte hießen alsbald sanshu no jingi (die drei heiligen Schätze Japans, in Anspielung auf die imperialen Zeichen der Macht: Spiegel, Schwert und Edelstein). Auch der Ahnherr der japanischen Mangawelt, Tezuka Osamu, konnte der Verlockung nicht widerstehen und startete im Jahre 1961 eine s/w-Anime-Version seines kleinen Roboters tetsuwan atomu (Eisenarm Atom, zu deutsch: Astro Boy) für das Fernsehen. Sie versah das fragile Nachkriegsjapan visionär mit der Technologie einer fernen Zukunft. Yoshimi erläutert: Seit den 60er Jahren wurde das Fernsehen zum umfassenden Medium, das die Familie mit dem Staat verband. Es definierte das nationale Bewusstsein und dominierte die Vorstellungen der Leute über Vergangenheit und Gegenwart. (…) Während dieser 60er Jahre erreichte das Fernsehen als „nationales Medium“ eine Sonderstellung, durch welche das japanische Volk sein nationales Gedächtnis, seine nationale Identität und seine Vision von der Zukunft rekonstruierte.25
Verblüffenderweise nimmt nun Ishiharas Film ore diesen Erfolg des Fernsehens als nationales Massenmedium „vorweg“. Seine Geschichte 23 Yomota 1999; s. auch Yoshimi 2001a: 128. Aus dem Japanischen. 24 Yoshimi 2001b. 25 Yoshimi 2003: 467, 469. Aus dem Englischen.
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beruht zeitlich auf den Kriegserinnerungen von Torihama Tome, räumlich kreist sie um ihr Wohnzimmer oder ochanoma. Viele Male blickt die Kamera von außen in diesen ihren persönlichen und intimen Raum und auf ihre Familie. Als sie am Anfang des Filmes Bandō empfängt und am Ende seine Familie, folgt die Kamera dem Sonnenlicht und lässt sich auf der hölzernen Veranda nieder. Die Charaktere gruppieren sich kniend/sitzend um Torihama und hören ihr zu, als spräche hier bereits eine bekannte Fernsehmoderatorin. Dieser Film setzt nicht auf Action, Maschinen, Schlachten oder männliche Helden, vielmehr faszinieren Gesichter, Emotionen, Briefe, Offenbarungen und Tränen. Ishihara hat diesen Drehort jenseits des Schlachtfeldes bewusst oder unbewusst aus seiner Erinnerung hervorgekramt: aus seiner Erinnerung sowohl an seine Kindheit, als auch an die Kindheit des Mediums Fernsehen. Seit seinen Anfängen übte das visuelle Medium eine enorme, fast magische Anziehungskraft aus und erwarb Macht über die Körper seiner Zuschauer, über ihre Gewohnheiten und Zeitpläne. Schon in den 60er Jahren, als dieser „göttliche Schatz“ die Haushalte eroberte, strukturierte es seine Tagesabläufe und schuf schließlich einen „nationalen Stundenplan“ (nashonaru na jikanwari) des Sehverhaltens, inklusive einer „goldenen Zeit“ (kōkinki) von 19 bis 22 Uhr. In diesem Korridor versammelten sich alle Familienmitglieder vor dem Gerät. Nach Yoshimi blieb die „golden time“ am Abend bis in die 80er Jahre hinein eine fast verpflichtende Institution, denn sie bot ein Genre für jedes einzelne Familienmitglied: Nachrichten, Cartoons, Quizsendungen und Serien. Der Volksmund nannte sie auch ochanoma no jikan (Wohnzimmer- oder Teeraum-Zeit).26 Noch heute ist das Fernsehen das am meisten konsumierte Massenmedium in Japan. Jeder Japaner nutzt es im Schnitt vier Stunden am Tag, der durchschnittliche Haushalt sogar acht Stunden lang. Seine Zuschauer blicken voll Wehmut und Nostalgie auf jene Anfänge des Mediums zurück, etwa in der Serie Always - Sunset on Third Street, in der sich die Nachbarschaft am Fuße des in den Himmel wachsenden Tokyo Tower um das neue Lagerfeuer versammelte. Zusätzlich zur zeitlichen Ordnung festigte das Fernsehen aber auch die der Geschlechter. Die terebi shōsetsu (Fernsehserien oder -romane) am Morgen und am Abend differenzierten geschlechtsspezifische Genres aus und behielten diese Struktur über die Jahrzehnte bei. Schon in den 60er Jahren wurde der Sonntagabend zur Hauptfernsehzeit der männlichen Zuschauer: Die jidaigeki (epischen Dramen über Warlords) entführten sie auf die Schlachtfelder des 16. und 17. Jahrhunderts und des sengoku jidai (Zeitalters der Kriege). Eine der bekanntesten Serien 26 Yoshimi 2003: 476.
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über diese Frühzeit der Nationenbildung war jene über den japanischen Nationalhelden Tokugawa Ieyasu im Jahre 1983. Gleichzeitig lenkte der Blick in das japanische Mittelalter geschickt ab von neueren, unangenehmen Erkenntnissen zur japanischen Kolonialherrschaft. Für die weiblichen Zuschauer und Hausfrauen dagegen konzipierte das Medium Fernsehen von Anfang ein ganz anderes Programm. Am Mittag und frühen Nachmittag sendete es die typischen merodorama (melodramatische Serien) und waidoshō (Unterhaltungsshows). An werktäglichen Abenden liefen Serien über die Schicksale starker, unabhängiger Frauen in der turbulenten Nachkriegszeit. Wie Yoshimi erklärt, gingen diese Serien auch explizit auf die psychischen Kriegsfolgen ein. Häufig kehrten die Ehemänner als traumatisierte und angeschlagene Soldaten heim zu diesen starken Müttern und Ehefrauen, die dann die Geschicke der Familie und der Nation entschlossen in ihre Hände nahmen: Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs war jene historische Periode mit der größten realen Bedeutung für die japanischen Frauen der Nachkriegszeit. Die Fernsehserien zeigten diese japanische Kriegserfahrung aus dem Blickwinkel der „japanischen Frauen als Opfer“. Männer tauchen in den Serien als Soldaten auf, die auf die Schlachtfelder geschickt wurden und verwundet zurückkehren. (…) Frauen bleiben die Hauptpersonen der Serien und erleiden große Verluste, bevor sie sich schließlich durchkämpfen. Geschichte wird hier dargeboten als die Erinnerung einer individuellen Person - und aus der Sicht einer normalen Japanerin. Die Erinnerungen und Standpunkte der kolonisierten und besetzten Länder sind ausgeblendet.27
Genau dieses Schema passt exakt auch auf den Film ore. Die Struktur der Wiederholung in den Besuchen der Familie Bandō bei Torihama Tome, erst 1945, dann 1960, kinematographisch verstärkt durch die Verwendung derselben Kameraeinstellung, schafft einen zyklischen Zeitablauf und zieht die Vergangenheit in die Gegenwart. Sie betont zugleich die zentrale Rolle der Mutterfigur, die beide Szenen dominiert. Als angebliches Gegenstück zu Clint Eastwoods amerikanischem Kriegsfilm Letters, der nur auf dem Schlachtfeld Iwōjima spielt, ahmt ore doch in Wirklichkeit nur die japanischen Fernsehserien der Nachkriegszeit für das weibliche Publikum nach. Der Film basiert auf den Erinnerungen der geliebten okāsan (Mutterfigur) und spielt im intimen Spannungsfeld ihres ochanoma (Teezimmers), er porträtiert ihre Söhne als unschuldige Opfer und umschifft so auch das kontroverse Thema japanischer Kriegsverbrechen. Generisch ist der Film ore ein Hybrid: Gedacht, produziert und veröffentlicht als Kinofilm, erfüllt er doch alle Kriterien eines typischen Fernsehfilms für Frauen. Er zieht seine Zuschauer tief in Torihamas persönliche Erinnerungen und individuelle Räume hinein, und sie identifizieren sich mit einer Frau, Mutter, Tante oder Ehefrau. Das nationale 27 Yoshimi 2003: 478-479. Aus dem Englischen.
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Narrativ hat eine visuelle „Medialisierung“ durchlaufen und sich den Erforderungen der „göttlichen Schätze“ der Nachkriegszeit angepasst. Erneut erweist sich die Postmoderne als Ära der endlosen Säkularisierung: Die nationale Heilsgeschichte des göttlichen tennō und seiner Kamikaze-Krieger mündet im medialen jingi (göttlichen Schatz) des Familienfernsehers. Unterschwellig und gründlich ersetzt dieser kulturelle Text das nationale Narrativ durch eine persönliche, nostalgische Erinnerung.
Nationalismus als Nostalgie Dieses Kapitel hat drei wichtige Veränderungen im japanischen Nationalismus benannt, die sich in Ishihara Shintarōs Kamikaze-Film ore zeigen. Erstens erzählt er nicht von männlichen Tugenden und Kriegern, sondern von großen Jungs oder Teenagern. Deshalb gebraucht er das Pronomen ore und steht im scharfen Kontrast sowohl zur Nachkriegsmännlichkeit der taiyōzoku Filme, als auch zu den amerikanischen Kriegern in Eastwoods Filmen Flags und Letters. Zweitens rechtfertigt Ishihara keineswegs den blinden Gehorsam gegenüber dem tennō und die militärische Kamikaze-Taktik am Ende des Krieges. Stattdessen passt er sich geschickt in die Fernseh- und Programmlandschaft ein, wie sie die „göttlichen Schätze“ nach dem Krieg definiert haben. Dabei verlässt er das männliche Schlachtfeld, begibt sich psychologisch in die weibliche, häusliche und mütterliche Sphäre. Drittens reitet ore auf der Welle nostalgischer Rückblicke in die Geschichte, die sich in einer ganzen Reihe japanischer Fernseh- und Kinofilme der letzten Jahre beobachten ließ. Vom politischen Nationalismus bleibt kaum mehr als ein marktgerechter, konsumierbarer Rückblick. So ist der Film ore zu lesen als die autobiographische Skizze eines alten Mannes: retrospektiv, zirkulär, repetitiv. Der Autor berührt noch einmal alle wesentlichen Aspekte seines Lebens und Werks: die See, den Tod und die japanische Nation. Der Film basiert auf persönlichen Erinnerungen und transportiert keine nationalistische Ideologie. Sie ist hier der starken Tendenz der postmodernen Unterhaltungsmedien unterlegen, ihrem Publikum nostalgische oder sogar glitzernde Bilder einer Vergangenheit aufzutischen, die mit den realen Konflikten und Leiden der Kriegszeit wenig zu tun haben. So entschärfen die visuellen Massenmedien auch den politischen Nationalismus und versehen sein Kriegsnarrativ mit einer nostalgischen Note und Verpackung. Im Kern liest sich Ishiharas Werk als kulturelles Vermächtnis seiner Generation.
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Chronologische Filmographie manmō kenkoku no reimei (The Dawn of the Founding of Manchukuo and Mongolia). 1932. Regie: Mizoguchi Kenj. Tokyo: Shinkō Kinema. genrokuchūshingura (The 47 Rōnin). 1941. Regie: Mizoguchi Kenji. Tokyo: Shochiku. taiyō no kisetsu (Season of the Sun). 1956. Regie: Furukawa Takumi. Tokyo: Nikkatsu. kurutta kajitsu (Crazed Fruit). 1956. Regie: Nakahira Kō. Tokyo: Nikkatsu. ubaguruma (The Baby Carriage). 1956. Regie: Tasaka Tomotaka. Tokyo: Nikkatsu. hisai (Das geheime Fest). 1998. Regie: Shinjō Taku. Tokyo: Shinchōsha. Saving Private Ryan. 1998. Regie: Steven Spielberg. Los Angeles: Paramount. hotaru (Glühwürmchen). 2001. Regie: Furuhata Yasuo. Tokyo: Tōei. The Last Samurai. 2003. Regie: Edward Zwick. New York: Warner. rōrerai (Lorelei). 2005. Regie: Higuchi Shinji. Tokyo: Tōhō. otokotachi no yamato (Das Schlachtschiff Yamato). 2005. Regie: Satō. Tokyo: Tōei. Always – Sanchōme no yūhi (Sunset on Third Street). 2005. Regie: Yamazaki Takashi. Tokyo: Tōhō. Letters from Iwo Jima. 2006. Regie: Clint Eastwood. New York: Warner. Flags of Our Fathers. 2006. Regie: Clint Eastwood. New York: Warner. In the Valley of Elah. 2007. Regie: Paul Haggis. New York: Warner. orewa, kimi no tame ni koso shini ni iku (Ich sterbe für dich). 2007. Regie: Shinjō Taku. Tokyo: Tōei.
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2.2 Mediale Reflexivität und museale Innenwelt: zur Inszenierung von Geschichte und Gegenwart Die politische Familie Japans: Zirkel, Clubs und Selbstzensur Politik und Massenmedien sind in der modernen Welt eine effektive Symbiose eingegangen. Die Medien moderieren, verpacken, beschützen das politische System. Wie die Ökonomie sich in ihrer Produktwerbung selbst darstellt, so lenken politische Sendungen die Blicke in Geostrategische Erwägungen mit Whiseine fiktive Arena und konstruieren keyglas: Ishihara Shintarō mit Yamada ihre eigene Realität in relativer Yoshihiko im Konsensgespräch (2012). Entfernung vom politischen Tagesgeschäft. Ihre journalistische Rolle hat sich gewandelt: vom Inquisitor zum Hofnarren. Beschleunigt hat diesen Wandel ihre technische Umstellung von Text auf Bild. Wie überall, so vermittelt die Politik sich auch in Japan heute über Personen, Persönliches und Privates im Medium Fernsehen. Aus diesem Grunde sind Abgeordnete aus archaisch-tribal organisierten Parteien stets auch identifizierbar mit einer Region, einer Stadt, einer Familie. Die japanischen Parlamentarier „erben“ sogar in vielen Fällen ihre Wahlkreise von ihren Vätern oder Schwiegervätern. Dabei greifen der Regionalismus des Wahlsystems, der ländliche Gebiete begünstigt, und der Finanzbedarf der Kandidaten im Wahlkampf ineinander. Gewonnen wird nach dem sanban-Prinzip: Der Sieger braucht eine lokale Hochburg (jiban), eine prallgefüllte Geldtasche (kaban) und ein bekanntes Gesicht oder „Aushängeschild“ (kanban). Mit der Etablierung des „1955er Systems“ und der jahrzehntelangen Dauerherrschaft der Liberaldemokratischen Partei erhielt das politische System Japans schon früh eine postdemokratische Note. Während der gesamten Hochwachstumsphase nach dem Krieg befand sich die japanische Politik fest in den Händen des „Eisernen Dreiecks“ aus Wirtschaft, Politik und Ministerialbürokratie. Als fixe Kanäle für eine effektive Kommunikation dienten paipu (pipes) oder kone (connec- Ishihara Nobuteru tritt in die väterlichen Fußstapfen (2012). tions), die oft zurückreichten bis zur ge118
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meinsamem Hochschulzeit der Beteiligten an einer der Tokyoter Eliteinstitutionen. Nach einem Vierteljahrhundert treuer Dienste für Staat und Partei war stets auch an ausscheidende Spitzenbeamte gedacht: Wenn sie mit Anfang 50 in Pension gingen, wechselten sie oft als amakudari (vom Himmel Herabgestiegene) zu Privatunternehmen und nutzten weiterhin ihre persönlichen Kontakte bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Auftraggeber und Bieter trafen sich zu Preisabsprachen (dangō), hebelten den Wettbewerb aus und teilten den Markt unter sich auf. Dass alle bescheid wussten und damit erpressbar waren, stabilisierte das Eiserne Dreieck nur zusätzlich. Auf der äußeren, massenmedialen Ebene der politischen Inszenierung hat diese Kultur der geheimen Treffen und Absprachen in inneren Zirkeln (nemawashi) eine bekannte Entsprechung: Presseclubs (kishakurabu) zur kontrollierten Vergabe journalistischer Information. In ihrem Buch Closing the Shop hat Laurie Anne Freeman Geschichte und System der japanischen Presseclubs umfassend analysiert. Demnach lief die japanische Presse schon lange vor dem Aufstieg der elektronischen und visuellen Medien am Gängelband der Politik, weit entfernt von den Idealen der Offenheit, Unabhängigkeit und kritischen Berichterstattung. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren die Kontrollmethoden der japanischen Regierung ausgefeilt und vielfältig. Sie erließ rigide Pressegesetze, bestach oder subventionierte genehme Blätter und versorgte nur handverlesene Medien mit wohldosierten Informationen. Im Hinblick auf die japanischen Kolonialkriege um die Jahrhundertwende spricht Freeman sogar in Adornoscher Tradition von der „Produktion eines patriotischen Massenbewusstseins“.28 Dabei sollte sich die Methode der „Monopolisierung“ der Information über die „Nachrichtenkartelle“ der Presseclubs als die effektivste und langlebigste erweisen. Ohne Probleme haben die japanischen kishakurabu Militärdiktatur, Krieg und Besatzungszeit überstanden. Auch im Nachkriegsjapan schlug sich die vertikale Hierarchie der Journalisten und ihrer Presseorgane nieder im Grad ihrer horizontalen Nähe und ihres Zugangs zu den inneren Fluren und Zirkeln der Macht. Während potentielle Störenfriede wie die kommunistische Akahata (Rote Fahne) stets draußen vor der Tür bleiben, erhalten genehme Berichterstatter und clubmembers indirekte Subventionen aus dem Staatssäckel in Form von Büros mit Möbeln, Telefonen und sogar Parkplätzen.29 Solche Diskriminierungen sollen nicht nur den Informationsfluss lenken, sondern natürlich auch auf Inhalte und die Meinungsbildung durchschlagen. Diese Pfadabhängigkeit der japanischen Nachkriegspresse wurde mit 28 Freeman 2000: 41, 47. 29 A.a.O. 82, 97.
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der Katastrophe von Fukushima erneut schmerzlich bewusst, denn sie resultierte aus einer jahrzehntelangen Pro-Atom-Haltung der japanischen Politik und Presse. Als Präsident Eisenhower im Jahre 1953 sein „Atoms for Peace“-Programm vor den Vereinten Nationen proklamierte, mit Japan als einem seiner Zielländer, fand er im Eigentümer der Yomiuri Shinbun, Shōriki Matsutarō, und im späteren Premierminister Nakasone Yasuhirō seine willigen Handlanger. „Shōriki spielte (...) eine Schlüsselrolle zur Manipulation der Massenmedien. Yomiuri Shinbun und Japan Television, beide in seinem Konglomerat, initiierten eine Kampagne zur Förderung der Atomenergie“.30 Dafür nutzte der „showman“ Shōriki auch enge Verbindungen zu General Electric als Hersteller von Atomkraftwerken und zum amerikanischen Geheimdienst CIA. Ihre Kooperation gipfelte in zwei riesigen Werbeausstellungen im Kaufhaus Isetan 1954 und im Hibiya-Park 1955. Sie sollten den Japanern sogar nukleargetriebene Züge und Flugzeuge nahebringen. Durchschlagender Erfolg war allerdings auch dieser Kampagne nicht beschieden. Denn 1954 war die Besatzung des japanischen Fischtrawlers Lucky Dragon durch die Zündung einer amerikanischen Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll verstrahlt worden. 32 Millionen Japaner, ein Drittel der damaligen Bevölkerung, unterzeichneten eine Protestnote gegen die Nuklearbombenversuche. Auch die Kreation des Filmmonsters Godzilla, zusammengesetzt aus den japanischen Worten gorira (Gorilla) und kujira (Wal), war 1954 eine unmittelbare Reaktion auf die Atompilze. Einhellig las Japan das Monster als Metapher für die Verwüstung ganzer Metropolen und die Traumatisierung der Bevölkerung. 31 Fast automatisch wurden auch der atomgetriebene nationale Mangaheld Astro Boy (tetsuwan atomu: Eisenarm Atom), erschaffen 1951, und seine kleine Schwester Uran-chan in die Debatte hineingezogen. Obwohl Tezuka Osamu die Atomkraft ablehnte, verkaufte seine Produktionsfirma fleißig Werbenutzungsrechte an Astro Boy, auch an Stromkonzerne. Welch eine Ironie der Geschichte, dass Ishihara Shintarō, der 80jährige Gouverneur von Tokyo, auf dem Höhepunkt seiner Karriere und noch nach der Kernschmelze in Fukushima die atomare Bewaffnung Japans unter einer Militärregierung (gunji seiken) forderte.
Fernsehnachrichten: der Schnappreflex des Getriebenen Doch jenseits der direkten Einflussnahme auf Inhalte und Programme zur Kontrolle und Manipulation des öffentlichen Bewusstseins ist jede
30 Yoshimi 2012: 322. 31 Yoshimi 2012: 325.
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unabhängige Recherche auch indirekten, subtileren Zwängen ausgesetzt: Nachrichten verlangen Bilder, und zwar am besten live. In seinem Buch Die Realität der Massenmedien (1996) hatte der Soziologe Niklas Luhmann noch die Zeit, drei elementare Genres zu unterscheiden: Werbung, Nachrichten und Berichte sowie Unterhaltung.32 Doch gerade im Hinblick auf Japan stellt das alles überstrahlende Medium Fernsehen die Trennschärfe zwischen Nachrichten und Show radikal in Frage. Nur zu augenfällig quellen Werbespots und Sponsorenlogos aus den Ritzen des Programms, spürbar lastet der Druck der Einschaltquote auf den Schultern der Studio-Designer und drängt die journalistische Qualität in den Hintergrund. Barbara Gatzen hat daher dem narrativen und visuellen Aufbau der japanischen Fernsehnachrichten eine vergleichende Studie gewidmet. Kaum überraschen kann, dass die jahrzehntelange Alleinherrschaft der LDP seit 1955 auch am Rundfunksystem nicht ganz spurlos vorübergehen konnte. 33 Informationskontrolle über die erwähnten Presseclubs, Bestechung und schlichter finanzieller Druck auf den Sender NHK (nihon hōsō kyōkai) haben dazu geführt, dass der öffentlich-rechtliche Sender kaum ein Medium für eine vielgestaltige politische Öffentlichkeit darstellt. (…) Vertreter der politischen Elite und insbesondere einflussreiche Mitglieder der konservativen Liberaldemokratischen Partei sträuben sich seit den 1960er Jahren gegen einen politisch interessierten und kritischen Fernsehjournalismus.34
Dieser Befund reicht bis in die redaktionelle Gliederung der Fernsehnachrichten hinein. Sie haben nur selten eine klare themenorientierte Struktur, sondern mischen ihre Beiträge und Rubriken bewusst durcheinander. Gerne fangen sie mit unpolitischen Themen an und streuen Pausenelemente ein wie klassische Filmausschnitte oder Naturbilder. Kürze und Bündigkeit sind nicht ihre Stärke, auch wiederholen und zitieren sie sich gerne selbst. Populär sind didaktische Elemente wie Expertengespräche und Erklärstücke, aber auch Humoriges und Klamauk. Direkte Kritik aber, kontroverse Fragen an Politiker, Meinungen und Kommentare sind entsprechend rar gesät.35 Ihrem Zwang zur Unterhaltsamkeit entspricht ihr Zwang zur Visualisierung. Notfalls werden Szenen und Bilder einfach nachgestellt (yarase). Häufig tauchen jedoch Fälschungen als authentische Meldungen auf und erzwingen dann erst eine mühsame Recherche oder ein peinliches Dementi. Umso größer ist die Versuchung des Fernsehens, seine Kameras live auf ein Ereignis zu richten. Während Taifune, Erdrutsche und Tsunamis 32 Luhmann 1996: 51. 33 Krauss 1999: 58-61. 34 Gatzen 2001: 268, 266. 35 A.a.O. 249, 254, 261.
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noch als unpolitische Naturgewalten gelten mögen, wirft das Übertragen von Entführungen und Geiselnahmen massiv ethische Fragen auf. Aber auch die japanische Gesellschaft, die ihre Privatsphäre sonst so eifersüchtig schützt, kennt in so einem Falle als Publikum keine Gnade und zieht die Täter ins Rampenlicht - auch verhaftete Tatverdächtige dürfen in Japan mit vollem Namen und Altersangabe genannt werden. So übertönen und verschleppen die Medien in ihrer Sucht nach dem Ereignis in Echtzeit und der Person hinter der Tat die Frage nach den Gründen und Gegenmitteln. Die Medien spenden Aufmerksamkeit, und jeder neue Täter kann sich jederzeit darauf verlassen. Kein Wunder, dass viele Entführer ihre Taten gerne im voraus ankündigen und so den Medien bei der Produktion ihres Ereignisses zuarbeiten. Der Psychologe Okonogi Keigo sieht in solchen eruptiven, wahnhaften Gewalttaten den Triumph der künstlichen Realität. Seine Standardbeispiele sind die Entführung eines Jumbo-Jets vom Flughafen Haneda im Juli 1999 und eines Überlandbusses im Mai 2000. Die Täter waren 28 und 17 Jahre jung.36 Exakt dasselbe psychosoziale und kommunikative Muster zeigte der „Akihabara-Vorfall“ im Juni 2008, als ein depressiver, aggressiver, irregulär beschäftigter 25jähriger otaku seinen Wagen in eine Menschenmenge steuerte und anschließend noch Amok lief - interessanterweise bevorzugten alle diese Täter Stichwaffen. Hastig stürzten sich die Medien auf die vorangegangenen posts des Täters im Internet und verstärkten nur das allgemeine Gefühl von Unsicherheit und Statusverlust. Der direkte, zeitnahe, unreflektierte Zugriff auf die Person des Attentäters klärte nichts auf und verarbeitete auch keine Erfahrungen zu Folgerungen oder Interessen zu Forderungen. Er spiegelte bloß die latenten Ängste der japanischen Mittelschicht nach dem Ende der Japan AG, ihre Orientierungslosigkeit und den Zerfall der „korporativen Männlichkeit“.37
Manga und Anime als Avantgarde medialer Selbstkritik Gerade die Blicke der Fernsehkameras verwandeln Präsenz und Interaktion in Distanz und Telekommunikation. Indem sie alle Proteste als Ereignisse in Echtzeit duplizieren, rauben sie ihnen zugleich ihre innere Dynamik und Aussagekraft. So tief sitzt der Schnappreflex der Fernsehberichterstattung, dass er selbst nach Bloßstellung und Enthüllung schreit. Diese Aufgabe übernehmen längst fiktionale Manga und Anime für das abgeklärte Publikum, indem sie kurzerhand Luhmanns Position als Beobachter des Beobachters einnehmen. In dem phantastischen 36 Okonogi 2000: 32-34, 60-62. S. Kapitel 3.4, S. 226. 37 Slater/Galbraith 2011.
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Anime Stink Bomb (1995) schluckt der trottelige Labortechniker Tanaka die falsche rote Pille gegen seine Grippe, mutiert zur Giftgaswolke und fährt als lebende Chemiewaffe per Moped Richtung Tokyo. Noch bevor die japanische Armee und schließlich die amerikanische Luftwaffe ihn ins Visier nehmen, kreisen die Hubschrauber der Fernsehanstalten über seinem Kopf. Gleichzeitig lässt Regisseur Okamura Tensai die Reporter ihre live-Bilder schießen und die Soldaten ihre Kugeln und Raketen abfeuern, doch ihr bewegliches Objekt schlüpft durch alle Maschen. Schließlich erobert Tanaka im Handgemenge den hochentwickelten Schutzanzug seiner Jäger und liefert seine stinkend-tödliche Fracht damit sicher bis in die abgeschottete Kommandozentrale. Eine Windung weiter dreht Mase Matorō das Rad der Medienkritik mit seinem düsteren Manga ikigami (2005). Das „Gesetz zur Sicherung des Staates und zum Gedeihen des Wohlstands“ (kokkahaneiijihō) verlangt, dass jeder tausendste Bürger sein Leben verlieren muss. Jeder erhält schon als Säugling eine Injektion, und ein Promille der verabreichten Nanokapseln birgt eine tödliche Fracht. Die amtliche Todesbenachrichtigung (ikigami) jedoch erhalten die Unglücklichen erst 24 Stunden vor ihrem Ableben von einem Beamten wie dem jungen Fujimoto. In dem Kapitel abakareta Geiselnahme live? Nur wenn niemand die kritisiert. Der Todesbote als Geisel shinjitsu (Enthüllte Wahrheiten) Regierung in dem düsteren Endzeitmanga ikigami. trifft es ausgerechnet Chitoku, den Sohn des investigativen Fernsehjournalisten Ichijō. Treffenderweise hat er Chitoku zwar nach „Weisheit und Tugend“ benannt, ihn aber wie sein gesamtes Privatleben sträflich vernachlässigt. Seine jungen Journalistenkollegen stehen ihm näher als seine Familie. Aber erst als seine Frau überraschend stirbt, sein Sohn Chitoku einen ikigami erhält und seine Enthüllungssendung hōdō disclosure abgesetzt wird, bricht der latente Vater-Sohn-Konflikt offen aus. Nach Ankündigung im Internet nimmt Chitoku seinen Todesboten Fujimoto mit einem Messer als Geisel und verlangt eine live-Schaltung, um öffentlich seine Meinung zum kokkahaneiijihō kundzutun. In diesem Falle spielt daher das staatsnahe Fernsehen lediglich Theater: Es schickt seine Kamerateams zwar zum Ort der Geiselnahme, lässt aber die Bilder nicht über den Sender gehen. Erst als Betrogene finden Vater und Sohn daher schließlich zusammen und erzwingen gemeinsam ein Zeitfenster im laufenden Programm für ihre Botschaft. Dann erst beugen sie sich der Staats- und Mediengewalt. 123
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Luhmanns Aussagen zum Funktionssystem der Massenmedien geraten daher im Falle dieser fiktionalen Genres an ihre Grenzen. Im täglichen Betrieb zwar produziert, besser: repräsentiert (oder mit Baudrillard: simuliert) es Öffentlichkeit. Es verbreitet Informationen für alle, auf die jeder Einzelne nach seinem Belieben reagieren kann. Und es nutzt dafür Beobachtungsroutinen wie skandalös/unskandalös oder kriminell/legal, die es nicht selbst beobachten oder in Frage stellen kann.38 Doch die Befunde aus den fiktionalen Genres bestätigen keinen solchen blinden Fleck. Im Gegenteil: Für das große Geschäft reflektieren die Medien ihre Beobachtungsroutinen sehr genau, werden selbst kreativ und schaffen sich ihre eigenen Ereignisse. Sie jagen ihre Beute durch das globale Dorf und werfen während der Show Geld ins Publikum. Das schließt politische Denunziation, Aufklärung und Enthüllung ein, aber auch die freie Wahl des Publikums zwischen Empörung und Bewunderung. Klar ist nur: Die Show muss und wird weitergehen. Im Zweifel als sportlicher Wettkampf in der globalen Arena.
Spiele, Wettkämpfe und Jagden als perfekte Fernsehshows Der Sport glättet alle Wogen, denn er bietet Identifikation und Wettkampf, Völkerfreundschaft und Internationalität. Gleichzeitig steht er für die faire Form der Auseinandersetzung in Echtzeit. Kein Wunder also, dass auch Ishihara Shintarō, der sonst eifersüchtig über die nationalen Grenzen Japans wacht, die Jugend der Welt noch einmal nach Japan einladen will. Nach seiner gescheiterten Olympiabewerbung für 2016 sucht Tokyo nun seine Chance, um 2020 endlich an den großen Erfolg von 1964 anzuknüpfen. Natürlich unterliegt der globale Sportzirkus denselben Zwängen „Wir können es, weil wir Japan sind.“ Ishihara wie das politische System: DoShintarō, 80jähriger Gouverneur von Tokyo, in seiner nationalistischen Lieblingspose. ping und Wettabsprachen sind nicht zu verhindern. Aber während das Fernsehen ganze Ligen und Wettbewerbe allein betreibt, Woche für Woche Spiele live überträgt und regelmäßig Millionäre krönt, haben längst auch Film und Manga, meist nach literarischen Vorlagen, seine Obszönität und Gewalt überzeichnend bloßgestellt. 38 Luhmann 1996: 188, 207.
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Eine frühe Selbstkritik lieferte das Fernsehen mit Tom Toelles Film Das Millionenspiel schon im Jahre 1970. Freiwillig begibt sich ein Kandidat auf die Flucht vor einer Bande von Auftragskillern, um mit seinem Leben und einem Preisgeld davonzukommen. Das narrative Grundelement des Gladiatorenkampfes wurde seitdem vielfach adaptiert und verfeinert. Im Jahre 1982 nahm Arnold Schwarzenegger als rechtloser Sträfling in Paul M. Glasers Film Running Man den Kampf gegen die bewaffneten TV-Söldner auf. Auf dem Prinzip „Jeder gegen jeden“ beruht auch der weltweit erfolgreiche Film Battle Royale von Fukusaku Kinji aus dem Jahre 2000. Eine Gruppe Oberschüler muss sich auf einer entlegenen Insel bis zum letzten Überlebenden selbst dezimieren. Allerdings ist der Kampf hier als Erziehungsmaßnahme für Schulschwänzer und Kriminelle gedacht, nicht zur Befriedigung des Medienpublikums. Schon im Jahre 2012 aber hat der amerikanische Film Hunger Games von Gary Ross diesen narrativen Lapsus korrigiert und bei identischem Plot den Rahmen der Fernsehunterhaltung wieder eingebaut. Für die reiche und gelangweilte Oberschicht müssen die Kandidaten in einem waldgroßen Studio auf Leben und Tod und vor laufenden Kameras einander umbringen. Im Vergleich erschien im Jahre 1998 die Truman Show von Peter Weir fast harmlos: Ein TV-Konzern adoptiert legal einen Kandidaten und verfolgt seine Kindheit, Jugend und Ehe über die Jahrzehnte auf Schritt und Tritt. Er pflanzt ihm sogar eine Phobie ein, die ihm jede Flucht aus seiner amerikanischen Kleinstadt unmöglich macht. Unwissentlich lebt er in einem gigantischen Fernsehstudio. Erst technische Defekte und seltsame Verhaltensweisen seiner Mitmenschen, allesamt engagierte Schauspieler, erregen seinen Verdacht. So stellt er sich am Ende dem ödipalen Konflikt mit seinem väterlichen Regisseur. In Japan hat Altmeister Tezuka Osamu schon im Jahre 1978 in seinem Band seimeihen (Leben) aus der Phoenix-Serie ein düsteres Bild der Gesellschaft mit 3D-Fernsehen in den 2160er Jahren entworfen. In einem entlegenen Labor im Dschungel des alten Inka-Reiches produziert der Konzern Clone Food menschliche Kämpfer, die er dann für die gaffende Masse telegen aufeinanderhetzt. Fernsehproduzent Aoi wird während seiner Recherchereise selbst vervielfältigt und muss, zurück in Japan, mit seinen Klonen um sein Leben rennen. Er entkommt knapp und verbringt fünfzehn Jahre in den Wäldern Nordjapans. Dann erst kehrt er in die Zivilisation zurück und versucht, die Konzernherren zur Raison zu bringen. Die aber haben die Klonproduktion inzwischen in Japan selbst hochgefahren und planen bereits irre Menschenjagden und sinnlose Reklameshows im Megaformat. Ein Stufe weiter entwickelt Regisseur Oshii Mamoru dieses Narrativ in seinem Anime Sky Crawlers aus dem Jahre 2008. Kindersoldaten (sog. 125
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kildren) fechten im Dienste der Konzerne Lautern und Rostock Luftkämpfe in einem videospielartigen setting. Tod und Alterung scheinen aufgehoben für die alleinerziehende Stützpunktkommandeurin Kusanagi und den Einzelgänger und Draufgängerpiloten Kannami. Wie Sheuo Hui Gan analysiert, präsentiert Oshii „ewige Adoleszenz ohne Zukunft, aber paradox auch ohne Jugend, sondern mit andauernder Langeweile ohne Vergangenheit und ohne Erwartungen.“ 39 Diese verlorenen Seelen kämpfen um nichts, erinnern und entwickeln sich nicht und leiden still unter ihrem künstlichen Leben für die Fernsehshow. Weder verfügen diese Jugendzeiten über die sonst so populären Elemente von shōjo bunka (girls’ culture) oder kawaisa (Niedlichkeit), noch erlaubt sich der Anime eine Spur von Nostalgie. Gefangen in Raum und Zeit, übernehmen die unterworfenen Kämpfer als devote Figuren in einem obszönen Theater die Kontrolle über ihr Publikum. Offenbar ist über die Jahrzehnte das Fernsehen zum mächtigsten Verbündeten der Politik herangewachsen. Es führt selbst Regie in Tezukas seimeihen, in Weirs Truman Show und in Oshiis Sky Crawlers. Indem es seine Gegenwart oder „Echtzeit“ selbst herstellt, verschweißt es die Macht der Konzerne mit der Ohnmacht der Masse. Die bestmögliche Fernsehtechnologie zur Produktion von „reality“ greift bis in die Körper der Akteure und Zuschauer durch und kreiert eine interaktive, soziale Beziehung zwischen beiden. Ursprünglich meinte der Ausdruck „Prothese der Gegenwart“, entwickelt von Sandy Stone für die cyborgTechnologie, die Verschmelzung von Fleisch und Computerbits. Anne Allison hat erkannt, dass mit digital mutierenden Pokémons und dem Tamagotchi eine zweite, kommunikative Ebene der Verschmelzung von Mensch und Medien erreicht ist.40 Das Subjekt tritt nicht länger im Museum den Objekten seiner Beobachtung und Erkenntnis gegenüber, sondern wird von der Vergangenheit abgeschnitten und in eine virtuelle, museale Innen- und Erlebniswelt hineingesogen. Wie die scharfe politische Grenzziehung zwischen Regierung und Opposition, so verwischen die Medien in ihrem Zirkuszelt auch die historische Differenz zwischen einst und jetzt. Ihre Strategie verlangt daher die genuine Musealisierung von Raum und Zeit. Spuren dieses Manövers lassen sich aus der jüngeren Geschichte von Museumsgründungen in Japan herauslesen.
Mediale Musealisierung als Innerweltlichkeit zweiter Ordnung Einst dienten Museen der Dokumentation der Vergangenheit. Gerade deshalb folgten sie automatisch einem historischen Narrativ und unter39 Gan 2011. Aus dem Englischen. 40 Allison 2006: 187.
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stellten eine politische Entwicklung oder Richtung. Ein typisches Beispiel ist der Yasukuni-Schrein in Tokyo, eröffnet im Jahre 1869 für die Kriegshelden der Nation. Wie Jemima Repo ausführt, idealisiert er kriegerische Männlichkeit, Gewalt und Militarismus („gendered militarism“). Dort dokumentiert das Kriegsmuseum yūshūkan seit dem Jahre 1882 „Erinnerungen an die hier beigesetzten Gottheiten und ihre historisch bedeutsamen Testamente, (...) Rüstungen und Waffen.“41 Eine besondere Attraktion sind die Torpedos und Flugzeuge der tokkōtai (Selbstmordkommandos) aus dem Zweiten Weltkrieg. Stolz blickt der Modernisierer der japanischen Armee unter Kaiser Meiji, Vize-Kriegsminister Ōmura Masujirō (1825-1869), von einer hohen Säule vor dem Museum. Zwei weitere Statuen stehen sich sinnbildlich gegenüber: ein mutiger, selbstbewusster Kamikaze-Pilot und eine verletzliche, fürsorgliche Mutter mit drei Kindern. Sie verkörpert das Ideal der ryōsaikenbo (guten Ehefrau und weisen Mutter) aus der Meiji-Zeit. Die Propaganda im Zweiten Weltkrieg hat es sogar noch überboten und auch die „Mutterschaft im Interesse des Staates“ (kokkateki bosei) heroisiert.42 Als Symbol mangelnden Schuldbewusstseins provoziert der Schrein bis heute Japans Nachbarn. Immerhin verfügt er seit 1989, dem Todesjahr des Shōwa Tennō, über einen musealen Gegenpol. In Okinawa, fernab der Hauptstadt, eröffnete das Himeyuri Peace Museum. Seine Gründung fiel zusammen mit der Debatte um jene „Trostfrauen“ (ianfu), welche von den japanischen Besatzern im Krieg zur Prostitution gezwungen worden waren, und es war von Anfang an den weiblichen Opfern der japanischen Kolonialherrschaft gewidmet. Heute aber erfüllen Museen eine wesentliche andere Funktion zusammen mit den Massenmedien. Seit den 90er Jahren hat die japanische Museumslandschaft auf den Zwang zur Unterhaltung mit einigen bemerkenswerten Neugründungen reagiert.43 Sie dokumentieren keine Geschichte als lehrreiche Erfahrung mehr, sondern transferieren sie in ein erlebbares Ambiente. Sie vertreten auch keine politische Position oder Richtung mehr, sondern speichern und neutralisieren alle Aussagen und Erinnerungen mit den technologischen Mitteln der Gegenwart. Dieser universelle Trend zur Musealisierung schafft die Vergangenheit ab. Die künstliche, musealisierte Vergangenheit kann dann die Kontrolle über die ewig zurückblickende Gegenwart übernehmen. Henri Pierre Jeudy warnte schon im Jahre 1987 in seinem Buch Die Welt als Museum vor dieser fatalen Entwicklung hin zur totalen Erinnerung: 41 Aus dem Prospekt des yūshūkan im Yasukuni-Schrein. 42 Repo 2008: 221-223, 237. 43 Eine (natürlich unvollständige) Liste der hier erwähnten Medien-Museen inklusive weblinks findet sich unten auf Seite 131.
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JAPANISCHE BLICKWELTEN Wenn alle Orte und Räume zu Schaubühnen der Erinnerung werden, wenn alles durch eine Verwaltung der vorausschauenden Erinnerung in Szene gesetzt wird, dann kann eine Veränderung der Gestalten der Zeitlichkeit nicht ausbleiben. Was sich ereignet, geschieht ineins mit dem, was sich bereits ereignet hat. Diese durchgehende Gleichzeitigkeit hat ein Verschwinden der traditionellen Gestalt der Chronologie zur Folge: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können ab dem Zeitpunkt miteinander kombiniert werden, ab dem die technologische Aufbereitung der Erinnerung die Herstellung einer Gleichzeitigkeit gestattet.44
Japan hat diese „Gleichzeitigkeit“ erreicht durch seine ökonomische Aufholjagd und sein technologisches Aufschließen zu Amerika. Seit dem Ende der 40er Jahre war Amerika das Vorbild Japans gewesen: seiner Zeit voraus. Schon im Jahre 1948 sendete NHK das Radioprogramm amerika tayori (Nachrichten aus Amerika) mit den neuesten Nachrichten aus Washington. Nur zwei Jahre später widmete die Zeitung Asahi Shinbun den Symbolen Amerikas: dem Weißen Haus, den Wokenkratzern und dem Fernsehen, eine große Ausstellung in Osaka.45 Im Jahre 1951 erschuf Tezuka Osamu den japanischen „Superman“ Astro Boy. Die brühmte Manga-Serie im disneyesquen Zeichenstil erschien bis 1968 ohne Unterbrechung. Im Jahre 1956 propagierten die taiyōzokuFilme den American way of life, und schon 1958 strahlte Nippon Terebi dann eine ganze Fernsehshow namens Disneyland aus. Als 1983, ein Vierteljahrhundert später, Tokyo Disneyland eröffnete, umwarb Japan Amerika schon lange nicht mehr und musste es auch nicht mehr nachahmen. Japan hatte gleichgezogen, aber auch den Kontakt mit seiner eigenen Vergangenheit eingebüßt. Nun leistete es sich als reiche Konsumgesellschaft zu seinem Vergnügen ein ahistorisches, innerweltliches Konstrukt. Radikaler noch als die amerikanischen Parks ist TDL geschlossen, steril und selbstreferenziell. Die Besucher blicken über künstliche Landschaften wie den World Bazar, das Adventureland oder Tomorrowland, aber sie überblicken nichts mehr.46 Dieser Konsum des Raumes seit den 80er Jahren entspricht genau dem kommerziellen, filmisch-animierten Design des sakariba (Vergnügungsviertels) Shibuya an der Yamanote-Ringlinie. Wie in Disneyland Vergangenheit und Zukunft verschmelzen, so verschwimmen in Tokyo selbst innen und außen, Stadtviertel und Vergnügungspark. Der Siegeszug der kawaisa (cuteness) verdankt sich eben diesem medialen Ausschluss der Außenwelt. Daher konnte die Gegensatzstruktur von „Japan“ und „Amerika“, von „Innen“ und „Außen“ seit den 80er Jahren nicht mehr funktionieren. (...) Anstatt von bloßer „Kolonisierung“ und „Domestizierung“ zu sprechen, wäre es besser, Jean Baudrillards Begriff der „Hyperrealisierung“ auf diesen Prozess anzuwenden. (...) Das TDL (organisiert) diesen strategischen Prozess der „Fiktionalisierung“ sehr geschickt.47 44 Jeudy 1987: 12. 45 Yoshimi 2002: 420. 46 A.a.O. 425. 47 A.a.O. 434-435.
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Das japanische Museum nach TDL schafft seine eigene Erlebniswelt und saugt die Vergangenheit in die Gegenwart. Im raumschiffartigen, von vier riesigen Pfeilern abgehobenen Bau des Edo-Tokyo-Museums, eröffnet 1993, kann jeder Besucher in die Vergangenheit der Stadt zurücktauchen. Hauptattraktion ist eine originalgetreue Nachbildung der hölzernen Brücke über den Fluss Sumida (nihonbashi). Auch sein wenig bekanntes Annex, das Edo-Tokyo-Open-Air-Architekturmuseum im Koganei-Park „versetzt, rekonstruiert, erhält und präsentiert historische Gebäude von kulturellem Wert“48 und folgt damit exakt der von Jeudy umrissenen Agenda. Das Nudelsuppenmuseum in Yokohama, eröffnet 1994, bezeichnet sich selbst sogar als „first food amusement park in the world“. Es reproduziert eine lebendige Geschäftsstraße in shitamachi (downtown) aus dem Jahre 1958, in dem auch die berühmte instantrāmen (die Instantnudelsuppe) erfunden wurde. Die Besucher sollen „Nostalgie empfinden, erfüllt von der Stimmung der guten alten ShōwaZeit, und natürlich Appetit auf rāmen bekommen.“49 Zweifellos besiegelt erst die reflexive Musealisierung der Medien ihre Innerweltlichkeit und Geschlossenheit: der Augenblick, in dem sie an sich selbst erinnern. Schon seit dem Jahre 1956, als der japanische James Dean Ishihara Yūjirō seine Karriere in dem Film taiyō no kisetsu begann, dokumentiert das NHK Museum of Broadcast in Atagoyama in Tokyo die Geschichte des japanischen Rundfunks von 1925 bis heute. Wesentlich mehr faszinieren das Publikum natürlich Leben und Geschichte ihrer Medienstars. Für Ishihara Yūjirō, dessen trauernde Fans noch heute das alte Olympiastadion füllen, gibt es schon seit 1991 ein kinenkan (eine Gedenkhalle) an seinem Geburtsort in Otaru auf Hokkaidō. Aber auch die Filmheimat seines eher häuslichen Gegenstücks Tora-san, der mit Abstand populärsten Figur der japanischen Film- und Fernsehwelt, können die Zuschauer seit 1997 neu erleben. Der Handels- Tora-san blickt zurück: Eines Tavertreter, gespielt von Atsumi Kiyoshi (1928-1996), ges will der Vagabereiste in jeder Folge von otokowa tsuraiyo bund nach Hause zurückkehren. (Männer haben’s schwer) eine neue Stadt und träumte doch nur davon, eine Familie zu gründen und in seine Heimat Tokyo zurückzukehren. Mit dem Koffer in der Hand, blickt er immer wieder zurück auf den Ort, den er verlassen muss. In seinem kinenkan im Stadtteil Shibamata kann jeder noch einmal Szenen und Orte aus seinen 48 Filmen (1969-1995) genießen. Dabei kreist doch die museale 48 Aus dem Prospekt des edotōkyōtatemonoen. Aus dem Englischen. 49 Aus dem Prospekt des Shinyokohama Raumen Museum. Aus dem Englischen.
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Mediennostalgie nur um eine Fiktion: „Die Welt, die Tora-san auf seinen Reisen aufsucht, ist oft ein idyllisches Japan, das es nicht mehr gibt oder nie gab, das sich aber viele Japaner gern vergegenwärtigen.“50 Die Entsprechung zu Tora-san in der Welt des Manga ist zweifellos die typische Hausfrau und Mutter Sazae-san im Kreise ihrer Familie. Geschaffen von Hasegawa Machiko (1920-1992) im Jahre 1946, verkörpert sie wie keine zweite das warmherzige, traditionelle Nachkriegsjapan. Ihre Anime laufen seit 1969 bis zum heutigen Tage im japanischen Fernsehen und bilden die langlebigste Serie aller Zeiten.51 Seit dem Jahre 1985 steht das Hasegawa Machiko-Kunstmuseum (bijutsukan) im Tokyoter Stadtteil Setagaya. Es ist zwar ursprünglich nicht als Museum für das Werk der Manga-Zeichnerin selbst angelegt, doch heute geleiten längst Sazae-san und ihre Verwandten die Besucher über die „Hasegawa Machiko-Straße“ von der Bahnstation ins Ziel. Die Straße für Manga-Altmeister Mizuki Shigeru (*1922) in Sakaiminato in der Präfektur Tottori wurde dagegen im Jahre 1993 von vornherein als Erlebniswelt konzipiert. Seine Erinnerungen an den Weltkrieg ausblendend, lebt die von Meister Mizuki mit viel Liebe kreierte berühmte Welt der Kobolde und Waldschrate (yōkai) auf einer 800 Meter langen Straße mit Hunderten von Bronzefiguren wieder auf. Seit 2003 mündet die Straße in das kinenkan, dessen Räume sorgfältig die Blickwelten des Zeichners abbilden. Sie locken tief in seinen belebten Phantasiewald voller Fabelwesen hinein, schließlich bis in seinen exakt nachgebildeten Arbeitsraum. Das kinenkan für Tezuka Osamu, den „godfather“ des Manga, eröffnete im Jahre 1994 in seiner Heimatstadt Takarazuka neben dem berühmten Revue-Theater. Es dokumentiert sein Leben und Werk, aber auch hier begegnet der Besucher natürlich seinen Helden und Figuren in Lebensgröße: dem Ritter mit der Schleife, der Vogeldame Phoenix, dem Arzt Black Jack, dem Forscher Dr. Ochanomizu und Tezukas knollennasigem Alterego. Längst steht die Welt des Anime in puncto Musealisierung dem Manga in nichts mehr nach. Wie in Sakaiminato, so finden die Besucher den Arbeitsraum des Künstlers auch im mitaka no mori jiburi bijutsukan (Ghibli-Museum im Wald von Mitaka), eröffnet im Jahre 2001 am Rande des Inogashira-Parks im Tokyoter Stadtteil Kichijōji. Hier blicken sie dem berühmten Regisseur Miyazaki Hayao über die Schulter und tauchen ein in die Phantasiewelt seiner Trickfilme. Die Japan National Tourist Organisation umwirbt das Museum offen als Ausgangspunkt für die touristische Reise in die Welt des Anime.52 Sie lockt die globale und 50 Coulmas 2000: 29. 51 Heinze 2006a: 28. 52 Denison 2010: 546.
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vernetzte Fangemeinde nicht mit bürgerlichen Kulturstandards und weitschweifigen Erklärungen, sondern bevorzugt eine Art „edutainment“ für Kenner der Filme aus dem Studio Ghibli. Das Gebäude selbst birgt keine Studienobjekte in seinem Zentrum, sondern begreift sich als Erlebnisraum. Stellvertretend für die globale Fangemeinde stellt Rayna Denison fest: „Als eine außergewöhnliche Einrichtung bietet das Studio Ghibli Kunstmuseum eine kulturelle Erfahrung für das gesamte Spektrum des Anime-Publikums.“53 In diesem Raum toben „visuelle Diskurse“, in denen sich doch jeder Einzelne verlieren kann. Und die Mangawelt arbeitet weiter an ihrer eigenen Musealisierung. Im Sommer 2011 eröffnete das Museum für Doraemon-Schöpfer Fujiko F. Fujio (1933-1996) in Kawasaki, das den Besuchern seine phantastischen Orte und Kreaturen über seine Originalzeichnungen nahebringt. Schon liegen die Pläne für den Schlussstein der medialen Musealisierung auf dem (Zeichen-)Tisch: für ein nationales Mangaarchiv mit Museum auf der Insel Odaiba in der Bucht von Tokyo. 54 Eine Fiktion? Eine Illusion? Eine nostalgische Konstruktion wie das Narrativ der Nation? Oder das Zeit-Raum-Fenster, um aus dem narrativ-virtuell-visuellen Medienzirkel auszubrechen in die reale Erfahrung und GestalEntwurf des nationalen Manga-Museums und tung japanischer Geschichte? -archivs auf Odaiba in der Bucht von Tokyo.
Weblinks zu Museen für Medien, Manga und Anime A) Museen zum Erleben von Geschichte Edo-Tokyo-Museum, seit 1993: www.edo-tokyo-museum.or.jp/english/ Edo-Tokyo-Open-Air-Architekturmuseum im Koganei-Park, seit 1993: tatemonoen.jp/english/index.html Nudelsuppenmuseum in Yokohama, seit 1994: www.raumen.co.jp/ramen/ B) Museen für Film und Fernsehen NHK Museum of Broadcasting, seit 1956: www.nhk.or.jp/museum/english/about.html Ishihara Yūjirō kinenkan, seit 1991: www.yujiro-kinenkan.com Tora-san kinenkan, seit 1997: www.katsushika-kanko.com/tora/ C) Museen für Manga und Anime Hasegawa Machiko bijutsukan, seit 1985: www.hasegawamachiko.jp Mizuki Shigeru kinenkan, seit 1993: mizuki.sakaiminato.net Tezuka Osamu kinenkan, seit 1994: tezukaosamu.net/en/museum/ (Miyazaki Hayao) jiburi mori no hakubutsukan (Ghibli Museum), seit 2001: ghibli-museum.jp/en/ Fujiko F. Fujio Museum, seit 2011: fujiko-museum.com/english/ 53 A.a.O. 560. 54 Bericht auf NHK am 25. Juni 2009.
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2.3 Kulturelle Besonderheiten des japanischen Medienkonsums: ein trilateraler Vergleich mit Deutschland und Großbritannien Komparatistische Forschungen zum globalen Publikum Heute zirkulieren Bilder, Töne und Daten schneller über nationale Grenzen hinweg als Passagiere oder Frachtcontainer. Die Medien Radio und Fernsehen beschleunigen den Globalisierungsprozess und verbreiten Informationen, Nachrichten, Genres und Images rasch um den gesamten Erdball. Aber diese Beschleunigung verschmilzt nicht automatisch die jeweiligen nationalen Mediensysteme. Vielmehr behalten sie vorerst ihre sprach- und kulturgebundenen Ausprägungen. Japan ist natürlich ein wichtiger Knotenpunkt in diesem globalen Mediennetz. Es importiert und exportiert alle möglichen Arten von Tonund Bildträgern: Filme, Fernsehserien, Videospiele, J-Pop und Manga. Allerdings muss es seine Medienproduktionen für den internationalen Handel auch ständig an den Markt anpassen, und dafür genügen Übersetzung und Synchronisation bei weitem nicht. Als westliche Verlage in den 70er Jahren anfingen, japanische Manga zu vertreiben, spiegelten sie mit großem Aufwand ihr Layout und druckten sie seitenverkehrt, damit ihre Kunden sie wie gewohnt von links nach rechts lesen konnten. Auch ließen sie Manga-Titelbilder in Amerika eigens von amerikanischen Zeichnern anfertigen, um die vermeintliche visuelle Fremdheit abzufedern. Noch heute werden die Titelbilder der Manga für jedes Land individuell gestaltet and dann in Tokyo zentral abgesegnet. Japanische Anime durchliefen anfangs einen ähnlichen Prozess, und Regisseure schnitten oder zoomten Kanji-Schriftzeichen aus dem Bild. Dieselbe Erfahrung in umgekehrter Richtung machen amerikanische Stars im japanischen Werbefernsehen: Arnold Schwarzenegger, Tommy Lee Jones, Harrison Ford oder Tiger Woods müssen sich den ostasiatischen Standards beugen oder werden einfach auf die Schippe genommen. Diese blamablen Spots könnten niemals in ihrer Heimat über den Sender laufen. Sofia Coppolas Film Lost in Translation (2003) spielt mit dieser Differenz in seinem Plot und bezieht daraus seine Komik. So wie die japanische Werbung sich letztlich an ihren Binnenmarkt und an das heimische Publikum richtet, so setzt umgekehrt auch die amerikanische Filmindustrie, etwa im Falle erfolgreicher japanischer Horrorfilme, auf komplette Remakes statt auf untertitelte Importe. Ein weiteres Beispiel ist die französische Verfilmung von Taniguchi Jirōs Manga haruka na machie (1998) mit dem Titel Quartier Lointain (2010) von Sam Garbarski. Der Film erzählt, wie ein frustrierter Firmenangestellter in seiner 132
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midlife crisis in sein Heimatdorf und per Zeitreise sogar in seine eigene Jugend zurückkehrt. Gleichzeitig verlagert er die Handlung von der japanischen Kleinstadt Kurayoshi in die französische Provinz. Diese Kulturbindung des Medienkonsums geht über die Inhalte, Genres und narrativen Muster noch weit hinaus. Prägungen gibt es bereits auf der Ebene des alltäglichen Medienkonsums, denn das Publikum pflegt seine Gewohnheiten. Japan ist dafür das beste Beispiel: Die Medienforschung attestiert dem Land für die gesamte Nachkriegszeit einen kulturspezifischen oder nationalen Konsumstil von Radio und Fernsehen.55 Der Medientheoretiker Yoshimi Shunya hat dem Fernsehen sogar, noch vor dem Film und dem Kino, die Funktion des „nationalen Mediums“ zugewiesen, insbesondere während der Hochwachstumsphase nach dem Krieg: Dieses Medium hat die Tagesabläufe in Japan von den 60er Jahren bis mindestens in die 80er Jahre hinein dominiert und strukturiert. In jener Zeit folgten die Programme einem strikten Muster und definierten für jeden Wochentag „nationale Zeitfenster oder Zeitpläne“ (nashonaru na jikan). Innerhalb dieser Fenster unterschieden sie sogar nach Geschlechtern getrennte Seh- und Zeitzonen und bedienten gezielt das männliche und weibliche Publikum mit („gegenderten“) Genres und Narrativen.56 Neuere westliche audience studies haben häufig den Einfluss der Migration, der sich verändernden Geschlechterverhältnisse und der neuen mobilen Medien auf das Konsumverhalten untersucht.57 Im Rahmen des vorliegenden trilateralen Vergleichs des Medienkonsums wurden jedoch nur japanbezogene Quellen mit komparatistischem Ansatz berücksichtigt.58 Diese Reduktion von Komplexität soll auch die vielen vorangegangenen Studien über die Geschichte und Merkmale des japanischen Medienkonsums angemessen würdigen und nutzen. Nach dem Platzen der bubble economy im Jahre 1989 geriet auch Japan in den Strudel der Globalisierung, kommunikativ beschleunigt durch das Internet. Im Jahre 1995 entdeckten David Morley und Kevin Robins einen neuen Diskurs um „Techno-Orientalismus“, eine Form der technologischen Begeisterung in Japan, in dem sich zugleich westliche Ängste vor einer übermächtigen japanischen Ökonomie und Nation niederschlugen.59 Die spezifisch japanische Offenheit gegenüber Innovationen und Medien erregte die akademische Aufmerksamkeit. Noch heute, nach Jahrzehnten der Globalisierung, der wirtschaftlichen Stagnation, des 55 Chun 2007: 72, 224; Yoshimi 1999: 160, Plitsch-Kussmaul1995: 212, 346. 56 Yoshimi 2001a: 138; 2003: 476-479. 57 Morley 1992, Silverstone 1994, Lull 1995, Ang 1996, Morley 2000, Klinger 2006. 58 Morley/Robins 1995, Plitsch-Kussmaul 1995, Yoshimi 1999/2001a/2003, Furuta 2002, McVeigh 2003, Iwabuchi 2004, Chun 2007, Takahashi 2010. 59 Morley/Robins 1995: 168, Yoshimi 1999: 152.
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sozialen Wandels, der allmählichen Alterung und stetigen Unsicherheit sind die Spuren des „Techno-Orientalismus“ lesbar. Pachinko, Manga, der Walkman, das Tamagotchi und die Pokémon sind japanische Geschöpfe, und zurecht hat Brian McVeigh eine Korrelation zwischen dem Berufspendlertum im urbanisierten Japan und seiner Präferenz für tragbare Internetmedien bemerkt. Er spricht von einer mediengestützten, „atomisierten Individualisierung“.60 Natürlich ist die Individualisierung ein wesentliches Merkmal der postmodernen Konsumgesellschaft, eng verbunden mit exzessivem Medienkonsum. Barbara Klinger hat argumentiert, dass die zahlreichen, heute in allen Haushalten verfügbaren Medien: das Fernsehen, die Play Station und der Game Boy, eine „Festung der Einsamkeit“ kreieren, einen Zustand der Insularität.61 Während sie dem Konsumenten Schutz in seinem Innenraum versprechen, vernetzen und isolieren sie ihn zugleich. Umgekehrt verliert der öffentliche Raum seine Akteure. Das moderne Japan hat den sozialen Raum sogar gründlicher und radikaler gespalten als die westlichen Gesellschaften und deshalb auch keine Vorstellung vom öffentlichen Raum als Arena der Meinungen ausgebildet. Das japanische Wort für „öffentlich“ (kōkyō) hat vielmehr die Bedeutung von „formal“, „staatlich“ oder „für alle zugänglich“, etwa im Falle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (kōkyōhōsō: public broadcasting). Die Idee des politischen öffentlichen Raumes oder Zentrums blieb im wesentlichen ein Habermas-Import oder ein mediales Konstrukt. Bis heute strukturiert letztlich die strenge Differenz zwischen innen und außen, Gruppenmitglied und Außenseiter, uchi und soto oder honne (wirklicher Meinung) und tatemae (öffentlicher Verlautbarung) auch den öffentlichen Raum. Sie ist auch tief in die japanischen Interaktionen und Sprachfloskeln eingeschrieben: in die Präferenz für geheime Absprachen (nemawashi), in die Strategie der vor/nachsichtigen Konfliktvermeidung (omoiyari) und in das kommunikative Mediendesign. So wird schließlich auch das globale Medium Internet in Japan kulturspezifisch genutzt, und die japanischen audience studies haben sogar Klingers „Festung der Einsamkeit“ an einem wichtigen Punkt ergänzt. In ihrer Feldstudie zum japanischen Medienkonsum entdeckte die Ethnographin Takahashi Toshie typisch japanische uchi, oder abgeschottete Haushalte (oder mit Habermas: Lebenswelten). Nach Takahashi nutzen die heutigen Japaner noch immer die Massenmedien, um sich einen „schützenden Kokon“ zu schaffen.62 Dorthin entfliehen sie der realen Unsicherheit, den Anforderungen des „öffentlichen“ Lebens oder dem 60 McVeigh 2003: 28. 61 Klinger 2006: 9, 242. 62 Takahashi 2010: 139, 164.
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Stress der Arbeitswelt. Ausgerechnet die modernen Massenmedien stabilisieren also die traditionelle uchi/soto-Dimension der japanischen Gesellschaft. Sie nutzen digitale Technologie, um Haushalt, Familie, uchi, Innenleben und Lebenswelt zusammenzuhalten. Zugleich bieten sie ihren Kunden einen räumlichen und zeitlichen Kokon für ihre (Re)Kreation innerhalb des globalen Kommunikationsnetzes. Dieses Kapitel entwirft eine dritte, komplementäre und makrologische Perspektive auf den Radio- und Fernsehkonsum in Japan. Ausgehend von Takahashis These vergleicht es zum ersten Mal japanische Radio- und Fernsehreichweiten mit jenen in Deutschland und in Großbritannien, um die Differenzen in den nationalen Konsummustern zu vermessen. Für diesen trilateralen Vergleich wurden im Sommer 2010 in Tokyo, London und Hamburg Daten zum Medienkonsum gesammelt. Zwar wird ihre Aussagekraft oft bezweifelt, weil sie allenfalls am Gerät gemessen werden und nie den wirklichen Grad der Aufmerksamkeit des Hörers oder Zuschauers erfassen können.63 Allerdings schmälert das nur geringfügig den Wert der Zahlen: Sie werden in allen drei Ländern mit ähnlichen Methoden erhoben und ihr Vergleich offenbart signifikante kulturelle Unterschiede. In Japan misst das NHK Broadcasting Culture Research Institute Radio- und Fernsehquoten im ganzen Land im Juni und November eines jeden Jahres in einem repräsentativen Feld von 2500 Zuschauern/hörern mit der „Tagebuch-“ oder „Protokollmethode“ (nikkishiki).64 Die Firma Video Research misst zusätzlich Radioquoten per nikkishiki (Tagebuch oder Tagesprotokoll) in der Hauptstadt Tokyo im Umkreis von 35 Kilometern um den Hauptbahnhof. Die Firma befragt viermal im Jahr fast 3000 Personen zwischen 12 und 69 Jahren.65 In Großbritannien werden jedes Jahr die sogenannten RAJAR (Radio Joint Audience Research)-Interviews über einen Zeitraum von 50 Wochen mit 114.000 Briten geführt. In Deutschland befragen sechs Firmen mehr als 60.000 Hörer zweimal pro Jahr. Jede dieser „Medienanalysen“ dauert etwa drei Monate.66 Obwohl auch für das Radio elektronische Messgeräte entwickelt wurden, haben sie sich bislang noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Die Fernsehquoten dagegen haben immense Bedeutung für die Werbeindustrie und werden daher in allen drei Ländern das gesamte Jahr hindurch elektronisch gemessen. Mehrere Firmen produzieren präzise individuelle und Haushaltsreichweiten für die privaten und öffentlichen 63 Ang 1991: 35, 81; Morley 1992: 177. 64 NHK 2010. 65 Video Research 2009. 66 ARD Medienforschung 2010.
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Sender. Nur wenige werden in den Medien selbst veröffentlicht. In Japan sammelt Video Research Daten in 6600 Haushalten mit dem sogenannten „people-meter“.67 In Großbritannien und Deutschland werden ebenfalls die Sehgewohnheiten repräsentativer Gruppen von mehr als 5000 Zuschauern landesweit erfasst. Die Messgeräte kontrollieren das Sehverhalten in Intervallen von fünf Minuten und weniger und senden diese Daten täglich zu BARB (Broadcasters’ Audience Research Board) in London oder zur GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) in Nürnberg.68 Für den vorliegenden trilateralen Vergleich wurden zuerst die japanischen Radio- und Fernsehdaten eingeholt, danach wurden die komplementären Daten von Attentional London (einem registrierten Partner von BARB) und von der ARD Medienforschung in Hamburg erworben. Wie in den Abbildungen ersichtlich, unterscheiden sie nach Alter und Geschlecht, Werktagen und Wochenenden, sowie zwischen den Durchschnitten in der Großstadt und im ganzen Land. Weil die Erhebungsmethoden in allen drei Ländern ähnlich sind, wurden die Verzerrungen durch die nicht erfassten/messbaren Grade an Aufmerksamkeit vernachlässigt. Stattdessen wurden die repräsentativen Daten als verlässliche Basis für einen trilateralen Vergleich genutzt. Alle Ergebnisse dieses Vergleichs bestätigen kulturspezifische Charakteristika in und signifikante Differenzen zwischen den drei Ländern. In Japan liegen die nationalen Besonderheiten des Medienkonsums in den Differenzen a) zwischen den Medien Radio und Fernsehen und ihren unterschiedlichen Funktionen und Erfolgsquoten b) zwischen den Geschlechtern und ihren jeweiligen sozialen Rollen und Gewohnheiten und c) zwischen den Alterskohorten. Aus der Untersuchung lässt sich folgern, dass der Medienkonsum eben nicht global konvergiert oder sich homogenisiert, sondern sich vielmehr nach japanischem Vorbild diversifiziert. Die Präferenzen aller Zuschauer weltweit, zugleich angezogen und abgelenkt von mobilen Internetmedien, werden sich weiter verästeln und die Forschung herausfordern. Künftige Vergleiche müssen daher die Komplexität ihres Gegenstands reduzieren und Genres und Programme herausfiltern, die kulturübergreifend erfolgreich sind. Interkulturelle Texte wie weltweit populäre Fernsehserien würden es dann auch erlauben, die Inhaltsanalyse mit der ethnographischen Beobachtung von Konsumstilen und schließlich mit empirischer Medienanalyse zu kombinieren. Nur diese multi-methodische Komparatistik könnte die Gründe ermitteln für die tiefe kulturelle Einbettung des Medienkonsums in den Ländern der globalisierten Konsumgesellschaft.
67 Video Research 2010. 68 Attentional London 2010; ARD Mediaforschung 2010.
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Das Massenmedium für die Minderheit: Radio in Japan In Japan hört nur eine Minderheit in der Gesellschaft regelmäßig Radio. Weniger als 40 Prozent der Bevölkerung schalten mindestens einmal pro Woche ein. Briten und Deutsche dagegen hören mehrere Stunden am Tag. Die individuellen Hördauern pro Tag liegen hier über 130 bzw. 170 Minuten. Die japanische Hördauer dagegen ist auf unter 40 Minuten gefallen.69 Schon heute verbringen viele Japaner mehr Zeit mit dem Lesen von Druckmedien (Zeitung, Zeitschrift, Buch oder Manga) oder am Mobiltelefon als mit dem Radiohören.70 Abbildung 1: Individuelle Radiominuten pro Tag in Japan in den Jahren 1979/1989/1999/2009 nach Alter (∅: 42min/38min/33min/33min)
NHK-Messung im November, veröffentlicht in NHK hōsōkenkyū to chōsa
Abbildung 1 zeigt die Anzahl der individuellen Hörfunkminuten pro Tag in Japan nach Alter im Verlauf der letzten 30 Jahre. Die Spitzen der Graphen verschieben sich seit 1979 allmählich nach rechts, denn offenbar ist hier eine „Radiogeneration“ am Werk. Diese Kohorte der Jahrgänge 1935 bis 1954 umfasst auch die Generation der japanischen baby boomer (dankai sedai), die unmittelbar nach dem Krieg noch in den 1940er Jahren geboren wurden.71 Offenbar bleiben sie ihren strukturellen Gewohnheiten über die Jahrzehnte hinweg treu: Sie sind mit dem Radio als dominantem Massenmedium aufgewachsen, haben seine Programme verinnerlicht und pflegen ihre Gewohnheiten auch im höheren Alter. Daher verschiebt sich das Maximum des Graphen zusammen mit 69 Nakano et al. 2009: 66, 76. 70 Yoshida/Nakano 2007: 126. 71 Shiraishi 2008: 526.
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ihrem Alterungsprozess.72 Das Fernsehen dagegen wurde in Japan erst im Jahre 1953 eingeführt. Damals maß eine Umfrage von NHK noch eine durchschnittliche Hördauer von vier Stunden am Tag.73 Folglich konnte diese „Radiokohorte“ ihr Interesse am Medium festigen und hört heute, mit 60 Jahren, immer noch zu. Gleichzeitig aber stehen die japanischen baby boomer vor ihrer Pensionierung und werden danach sogar noch mehr freie Zeit zur Verfügung haben. Während die Veteranen also immer noch etwa eine Stunde am Tag hören, gelingt es dem Medium nicht, Nutzer aus der jüngeren Generationen anzuziehen und an sich zu binden. Abbildung 2: Individuelle Radiominuten pro Tag nach Alter in Japan, Großbritannien und Deutschland 2010 Quellen: Hirata 2010,
Attentional London, ARD Medienforschung (für 2009)
Der Vergleich zwischen japanischen und westlichen Radiominuten am Tag nach Alter (Abb. 2) belegt, dass Funktion, Bedeutung und Nutzung des Radios im kulturellen Kontext gesehen werden müssen. Während der Hörfunk in Deutschland im Alltag genauso intensiv genutzt wird wie das Fernsehen, liegt die Nutzungsdauer schon in Großbritannien deutlich niedriger, obwohl sie auch hier mit dem Alter wächst. In Japan widmen sich lediglich die betagten Hörer dem Radio in nennenswertem Umfang, allerdings erreichen sie bei weitem nicht das deutsche oder britische Niveau. Hier werden die Radioprogramme hauptsächlich für Zugpendler oder Autofahrer (idōchū) ausgelegt, für die Kopfhörer einen minimalen
72 Yoshida/Nakano 2007: 132; Morofuji et al. 2010a: 6. 73 Furuta 2002: 111.
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persönlichen Freiraum (Klangraum) schaffen. Doch selbst dieser exklusive Audio-Raum wird schon wieder von visuellen Medien wie Bildschirmen und Werbebotschaften bedroht und beschnitten. Während in Großbritannien und Deutschland Männer mehr hören als Frauen, zeigt sich diese Geschlechterdifferenz wesentlich deutlicher in Tokyo als in London (Abb. 3). Abbildung 3: Individuelle Radiominuten pro Tag nach Geschlecht und Alter in Tokyo und London
Video Research Tokyo, Attentional London
Dieser Befund spiegelt eindeutig die getrennten Rollen und Welten der Geschlechter in Japan wider: Von der Arbeitswelt der typischen sararīman, der männlichen Geschäftsleute oder Firmenangestellten, bleibt die Sphäre der traditionellen Hausfrauen (sengyōshufu) streng abgeschirmt. Letztere verrichten allenfalls Teilzeitjobs, haben allerdings zu Hause leichten Zugang zum Fernseher. Noch arbeitet fast die Hälfte der verheirateten Japanerinnen nicht (für Lohn), etwa ein Viertel arbeitet in Teilzeit. Der Prozentsatz der weiblichen workforce zwischen 25 und 60 Jahren in der sogenannten „M-Kurve“ oszilliert zwischen 60 und 70 Prozent (Männer: über 95 Prozent).74 Trotz des stetig steigenden Heiratsalters und der sinkenden Geburtenrate in Japan werden Vollzeitbeschäftigung und gleichzeitige Mutterschaft noch immer weitgehend als Widersprüche angesehen und behindert. Abbildung 4 bestätigt erneut die enormen kulturellen Unterschiede im Radiokonsum zwischen Japan und dem Westen, sowie zwischen den beiden westlichen Ländern. Es zeigt die individuellen Reichweiten im 74 Himeoka 2008: 247; Chun 2007: 81, 93.
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Tagesverlauf in allen drei Ländern. Während das Medium in Japan nur bei sehr niedrigen Quoten von einer Minderheit oder nebenbei genutzt wird, erreichen die Kurven für Großbritannien und Deutschland ein signifikantes Maximum frühenmorgens zwischen 8 und 10 Uhr. Während die deutschen Reichweiten sich dann langsam über den Tag verringern, ziehen sie in Großbritannien zwischen 15 und 17 Uhr noch einmal an und bleiben sogar für den Rest des Tages über dem deutschen Niveau. Dieser Anstieg in allen Altersgruppen verlangt eine gesonderte und präzisere Studie der Hörgewohnheiten in diesem Land (Abb. 6). Abbildung 4: Individuelle Hörfunkreichweiten im Tagesverlauf in Japan, Großbritannien und und Deutschland 2010 in Prozent Quellen:
Video Research Tokyo (Daten für April 2010), Attentional London (Daten für Q2 2010), ARD Medienforschung (Daten für 2009)
In Japan gibt es eine signifikante Differenz im Hörverhalten zwischen der Metropole Tokyo und dem landesweiten Durchschnitt. Im Segment der Älteren (60+) misst Video Research in Tokyo etwa 100 Minuten pro Tag, mehr als doppelt soviel wie NHK in ganz Japan. Ein Grund dafür ist mit Sicherheit die höhere Anzahl verfügbarer Programme in der Hauptstadt (sechs auf UKW und sechs auf MW). Interessanterweise zeigt sich diese Diskrepanz zwischen Stadt und Land auch in den Fernsehreichweiten, wenn auch weniger deutlich. Natürlich wird auch in Tokyo die Ausbreitung der neuen und mobilen Medien den Druck auf das Radio weiter erhöhen. Die Abbildungen 5 und 6 vergleichen die Reichweiten im Tagesverlauf in Tokyo und London nach Alter (nensōbetsu) und veranschaulichen die divergenten Muster der Hörfunknutzung in Tokyo und London. In beiden Städten fällt die Altershierarchie auf: Die Älteren hören 140
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am meisten, die Teenager am wenigsten. Das bestätigt die Angaben zu den täglichen Radiominuten nach Alter aus Abbildung 2. In London finden die Reichweiten ihr Maximum etwa um 8 Uhr morgens, bevor sie in allen Kohorten bis um 15 Uhr nachmittags sinken. Sie erholen sich wieder zwischen 15 uhd 17 Uhr und fallen nach 20 Uhr unter 10 Prozent (Abb. 6). Ab hier ist die Tageszeit weitgehend für das Fernsehen reserviert. In Tokyo ist die Geschlechterdifferenz deutlicher ausgeprägt (Abb. 5). Es gibt nur sehr wenige Hörer unter 35 oder Hörerinnen unter 49 Jahren. Die Reichweite erreicht ihr Maximum zwischen 10 und 12 Uhr: Nur während dieser sogenannten „golden time“ verläuft die Kurve des Hörfunks kurzfristig über der des Fernsehens. An Werktagen sendet hier zwischen 8.30 Uhr und 13 Uhr der beliebteste Sender der Stadt, TBS auf 954 kHz, seine Morgenshow yūyūwaido mit dem populären Moderator Osawa Yūri (*1941). Er arbeitet seit vielen Jahren in dieser Show und hat sie bereits 6000 mal präsentiert. Statt Musik dominiert das Wort mit Interviews, Klatsch, Service, sowie mit Verkehrsnachrichten für Pendler und Wetterberichten. Aber die Show verliert auch viele Hörer nach 11 Uhr. Am Mittag, wenn die privaten Fernsehsender ihre daily soaps ausstrahlen, fallen die Radioreichweiten abrupt (Abb. 5). Sie erholen sich bis 16 Uhr, bis dann auch die treuen Hörer allmählich zum Fernsehen abwandern. Nachts hören nur einige wenige Ältere zu. Beliebt sind die Nachrichten auf NHK, aber auch die traditionellen, kabarettistischen und humoristischen Wortgattungen rakugo und manzai. Der Rückgang der Radiohörerschaft in Japan ist von Jahr zu Jahr messbar. Der Vergleich der Reichweiten im Tagesverlauf in Tokyo zwischen 2002 und 2008 (Abb. 7 und 8) zeigt dramatische Verluste in nur sechs Jahren. Die Reichweiten sind ausnahmslos in allen Kohorten gefallen (die Hörer 60+ wurden im Jahre 2002 noch nicht befragt und sind daher nicht abgebildet). Die Altershierarchie selbst ist stabil fast den gesamten Tag hindurch. Im Jahre 2002 gab es noch ein eigenes Zeitfenster für Teenager. Die Oberschüler kamen spät nach Hause, aßen und schalteten um 22 Uhr das Radio ein, um sich während der Hausaufgaben und Lernphasen abzulenken. Die Sender lockten sie gezielt mit eigenen Musiksendungen und jungen Moderatoren und dehnten diese Jugendprogramme bis in den frühen Morgen hinein aus. Aber innerhalb von nur sechs Jahren ist dieses Jugendradio fast verschwunden.75 Einer der Gründe ist zweifellos der Erfolg der visuellen und digitalen Medien: Schon heute beanspruchen das Mobiltelefon 30 und das Internet 60 Minuten im Tag eines durchschnittlichen Teenagers und drängen so das gute alte Radio aus seinem Leben.76 75 Yoshida/Nakano 2007: 131 76 Nakano/Watanabe 2008: 185, 194.
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Abbildung 5: Hörfunkreichweiten im Tagesverlauf nach Alter und Geschlecht in Tokyo 2010 in Prozent
Abbildung 6: Hörfunkreichweiten im Tagesverlauf nach Alter und Geschlecht in London 2010 in Prozent
Video Research Tokyo (Daten für April 2010) Attentional London (Daten für Q2 2010)
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Abbildung 7: Hörfunkreichweiten im Tagesverlauf nach Alter in Tokyo im Februar 2002 in Prozent
Abbildung 8: Hörfunkreichweiten im Tagesverlauf nach Alter in Tokyo im April 2008 in Prozent
Video Research Tokyo
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Dem Radio in Japan steht daher ein schweres Schicksal bevor. Obwohl einige treue Hörer noch immer ihre Zeitfenster finden werden, besonders für Nachrichten, Sport und altbackene, aber populäre Musikgattungen, etwa in der Sendung hiru no kayōkyoku um 12 Uhr auf NHK2, kann das Medium keine jungen Hörer mehr begeistern und wird daher nicht ohne digitale oder visuelle Erweiterungen überleben. Allerdings würde diese Anpassung an die gegenwärtige Entwicklung der Medienwelt auch die Integrität und Identität des Hörfunks in Frage stellen. Schon heute übernimmt das japanische Fernsehen häufig seine Funktion als „sprechende Tapete“ (kabegami) über viele Tagesstunden.
Das japanische Fernsehpublikum: große Differenzen nach Alter und Geschlecht In allen drei Ländern, die hier verglichen werden, liegt der Fernsehkonsum pro Kopf im Schnitt über drei Stunden am Tag. Anders als in Deutschland erreichen die Kinder in Japan und Großbritannien diese Marke schon in einem sehr jungen Alter. Wie der Radiokonsum steigt auch der Fernsehkonsum mit dem Alter (Abb. 9a-c). Je nachdem, wie viele Altersgruppen mit berücksichtigt werden, verbringt „Otto Normalverbraucher“ pro Tag zwischen 193 Minuten in Deutschland (10+ Jahre) und 225 Minuten in Großbritannien (14+ Jahre) vor dem Schirm. In Japan maß NHK 235 Minuten (7+ Jahre) im November 2009, Video Research dagegen in demselben Jahr 249 Minuten (4+ Jahre) in der Hauptstadt. Im Segment der Älteren erreicht die Konsumdauer bis zu sechs Stunden am Tag. Allerdings verbringen auch die europäischen Senioren häufig die Hälfte ihrer Wachzeit mit dem Konsum verschiedener Massenmedien. Die Geschlechterdifferenz tritt am deutlichsten in Tokyo zutage (Abb. 9a). Der Grund ist erneut in den nach Geschlechtern getrennten Rollen und Räumen zu suchen. Die meisten Hausfrauen können am Tage Fernsehshows und Serien goutieren, sodass Frauen zwischen 30 und 50 Jahren wesentlich mehr fern sehen als ihre Ehepartner. In Großbritannien ist diese „gender gap“ zwar deutlich kleiner, allerdings immer noch in allen Altersgruppen zu beobachten (Abb. 9b). Die deutsche Medienforschung unterscheidet, im Einklang mit fast allen heimischen Statistiken, eher zwischen Ost und West als zwischen den Geschlechtern (Abb. 9c). Diese kulturellen und regionalen Differenzen sind größer und entsprechen auch der föderalen Struktur des Landes. In der Tat liegt der Fernsehkonsum in Ostdeutschland etwa 15 Prozent über dem im Westen, vor allem wegen der höheren Arbeitslosigkeit. Viele junge Leute wandern ab, die alternde Bevölkerung bleibt zurück. 144
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Abbildungen 9a-c: Sehminuten pro Tag 2009 in Tokyo, London, Deutschland
Video Research Tokyo, Attentional London, ARD Medienforschung
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In Japan werden für jede Radiominute fünf Fernsehminuten konsumiert, ein durchschnittlicher Haushalt betriebt den Fernseher etwa acht Stunden pro Tag. Hinter diesen enormen individuellen Reichweiten verbergen sich daher noch weitere Nutzungsparameter, die schwerer zu erfassen sind. Das Fernsehprogramm wird häufig mit anderen geteilt oder mit anderen Handlungen kombiniert. Während Männer stärker dazu neigen, Arbeit und Freizeit klar zu trennen, nähen, bügeln, reden oder telefononieren Frauen gerne vor dem Fernseher. Schon etwa ein Drittel aller Fernsehminuten sind derartigen Übergangshandlungen gewidmet.77 Der Bildschirm erfüllt dann die Funktion jener bereits erwähnten sprechenden Mustertapete. Gleichzeitig steigt stetig die Neigung, allein fernzusehen, ohne Partner oder andere Familienmitglieder.78 Eindeutig unterstreicht die Geschlechterdifferenz in den japanischen Fernsehdauern diese unterschiedlichen Geschlechterrollen im Arbeitsalltag. Allerdings ist sie im Segment der Teenager noch nicht zu sehen und verschwindet auch wieder im Segment der Älteren und der Ruheständler. Die Sehdauer wächst mit dem Alter und mit der alternden Gesellschaft. Japaner über 60 Jahre verbringen mehr als fünf Stunden pro Tag vor oder mit dem Fernseher. Überraschenderweise konkurriert das Internet nicht direkt mit dem Fernsehen.79 Das Fernsehen verspricht einen hohen Grad an Entspannung für Nutzer zwischen 20 und 40 Jahren, aber die Anzahl der verfügbaren Programme und Medien (Telefon und Internet) reduziert auch den Grad an Aufmerksamkeit und Konzentration, den die Zuschauer aufbringen können.80 Deswegen macht mehr Fernsehen und eine größere Programmauswahl die Zuschauer auch nicht automatisch glücklicher, so wie auch größerer materieller Reichtum nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit oder Lebensfreude führt. Die Reichweiten zeigen zwischen allen drei Ländern signifikante Unterschiede in der Verteilung der Fernsehzeit im Tagesverlauf, wenn auch nur bis zum frühen Nachmittag. Von dem Zeitpunkt an gleichen sich die Reichweiten fast vollständig an (Abb. 10). Die typischen japanischen Spitzen am Morgen und am Mittag sind in Deutschland und Großbritannien unbekannt. Die Zuschauer in Großbritannien schauen nur in den fünf Vormittagsstunden intensiver als die Deutschen (im Gegensatz zum Radiokonsum, vgl. Abb. 4). Am Nachmittag sinken die Reichweiten in Großbritannien leicht unter das deutsche Niveau. Die genauen Gründe dafür bedürfen weiterreichender Untersuchungen. In Großbritannien und Deutschland hat das Radio bis etwa um 16 77 Nakano et al. 2009a: 44. 78 Hara/Terui 2007: 156; Nakano/Watanabe 2008: 196; Morofuji et al. 2010: 4. 79 Shiraishi 2008: 523. 80 Nakano et al. 2009a: 52.
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Uhr mehr Konsumenten als das Fernsehen, während in Japan das letztere klar den gesamten Tag dominiert - mit Ausnahme der „golden time“ zwischen 10 und 12 Uhr. Die japanischen Reichweiten haben drei tägliche Spitzen um 8 Uhr, um 12 Uhr und um 21 Uhr für die tägliche Abendunterhaltung. Deshalb müssen diese Reichweiten genauer betrachtet werden: Im folgenden werden sie für Werktage nach Alterskohorten und Geschlechtern (danjonensōbetsu) aufgeschlüsselt. Abbildung 10: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf in Japan, Großbritannien und Deutschland 2009 in Prozent
Video Research Tokyo, Attentional London, ARD London, ARD Medienforschung
Vergleicht man den Fernsehkonsum von Kindern in Japan und Großbritannien (Abb. 11: 4-12 Jahre, diese Kohorte wird in Deutschland nicht gemessen), zeigt sich, wie früh Konsummuster in Japan erworben werden. Die beiden Spitzen um 7 und um 19 Uhr zeigen bereits Gewohnheiten, welche die jungen Zuschauer für den Rest ihres Lebens beibehalten werden. Kinder in Großbritannien dagegen, die ebenfalls schon ein eigenes Zeitfenster morgens um 8 Uhr besetzen, verlieren als Teenager offenbar diese Präferenz wieder, und die Spitze um 8 Uhr verschwindet fast (Abb. 12). Viele werden wohl zum Radio wechseln. Weitere Forschungen müssen zeigen, warum Kinder und Teenager in Japan in vergleichbarer Weise fern sehen, während die Teenager in Großbritannien ihre Konsummuster umstellen. Auch widmen sich die japanischen Kinder und Teenager am Abend früher und ausgiebiger dem Fernsehen als die europäischen.
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Abbildung 11: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für Kinder in Japan und Großbritannien 2009
Abbildung 12: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für Teenager in Japan, Großbritannien und Deutschland 2009 in Prozent
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Abbildung 13: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für junge Erwachsene in Japan 2009 in Prozent
Abbildung 14: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für junge Erwachsene in Großbritannien und Deutschland 2009 in Prozent
Video Research Tokyo, Attentional London, ARD Medienforschung
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Abbildung 15: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für Erwachsene in Japan 2009 in Prozent
Abbildung 16: Fernsehreichweiten im Werktagesverlauf für Erwachsene in Großbritannien und Deutschland 2009 in Prozent
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Abbildung 17: Fernsehreichweiten im Werktagsverlauf für ältere Erwachsene in Japan 2009 in Prozent
Abbildung 18: Fernsehreichweiten im Werktagsverlauf für ältere Erwachsene in Großbritannien und Deutschland 2009 in Prozent
Video Research Tokyo, Attentional London, ARD Medienforschung
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Die Sehdauer der jungen Japaner zwischen 20 und 34 Jahren stagniert. Twens sehen nicht mehr fern als Teenager, ganz im Gegensatz zu den komplementären Kohorten im Westen (Abb. 9a-c). Allerdings restrukturieren sie ihre Sehzeiten während der ersten beiden Tagesspitzen und wechseln auch am Abend häufig zu anderen Medien (Abb. 13 und 14). Das zeigt sich besonders bei Erwachsenen ohne Kinder. Sie gehen häufiger aus, surfen im Internet, hören Musik oder lesen, und sie investieren auch mehr Zeit in die Auswahl ihrer Medien. Zwar schalten sie oft spontan den Fernseher ein, wenn sie nach Hause kommen (toriaezutsuke), aber sie „zappen“ auch häufig per Fernbedienung durch die Kanäle (rimokonkirikae). Schließlich nehmen sie viele Programme auf in der Absicht, sie später in Ruhe und mit voller Konzentration anzuschauen. In ihrer Studie über die Sehgewohnheiten junger, kinderloser Japaner an Montagen unterscheidet Morofuji Emi drei Gruppen: zum einen die „Fernsehliebhaber“ (terebi suki), zum anderen die „coolen, abgeklärten Seher“ (kankyōteki), schließlich die „Desinteressierten“ (kihaku). 81 Die ersten beiden Gruppen haben eine positive Einstellung gegenüber den Medien und ihrer Unterhaltung und genießen sie bis spät in die Nacht. Die „Desinteressierten“ aber arbeiten lange und haben nicht allzu viel Zeit zum Medienkonsum. Deshalb schalten sie auch früh ab und lesen Printmedien oder gehen zu Bett. In Japan wie auch in Großbritannien zeigt sich in der Kohorte der jungen Erwachsenen die Geschlechterdifferenz über den gesamten Tag. Die Briten sehen in dieser Altersgruppe deutlich mehr, auch die Spitze ihres Graphen liegt zehn Prozentpunkte über der japanischen. Zudem sind die Spitzen am Morgen und Mittag in der japanischen Reichweite nun fest etabliert und ausgeprägt und markieren klar die wichtigste japanische Besonderheit. Westliche Zuschauer schalten eine Stunde früher ab als die Japaner, von denen viele dann ihren Schlaf im Pendlerzug oder später beim business meeting nachzuholen versuchen. Diese typischen Merkmale des japanischen Fernsehkonsums werden noch deutlicher in den Reichweiten im Alterssegment der Erwachsenen zwischen 35 und 49 Jahren (Abb. 15). Die „gender gap“ erreicht ihr Maximum, und weibliche Zuschauer besetzen eindeutig die Zeitfenster um 7 und 12 Uhr für ihre täglichen „Fernsehdramen“ (terebidorama). Der Graph für die Zuschauerinnen steigt morgens um 7 Uhr (40 Prozent) fast so hoch wie abends um 21 Uhr (45 Prozent). Bestätigt hat diese „gender order“ (seichitsujo) im Medienkonsum noch einmal Saitō Kensakus rezente Studie zu den morgendlichen Sehgewohnheiten von 16 ja81 Morofuji 2009: 48-51.
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panischen Hausfrauen und Müttern zwischen 30 und 59 Jahren. Sie pflegten habituelle und „fraktale“ (bubunteki oder „zapping-basierte“) Sehstile, die sie mit Pflichtarbeiten im Haushalt kombinierten.82 Während das Fernsehen am Morgen als Uhr und als Informationsbox für Verkehrs- und Wetternachrichten dient, haben viele Hausfrauen das Programmschema im Kopf und kennen sogar die besten Zeitpunkte zum Umschalten. In Großbritannien dagegen verringert sich die „gender gap“ in dieser Alterskohorte (von 40/30 Prozent auf 45/40 Prozent zur Hauptsendezeit), wie auch die Differenz zu Deutschland (Abb. 16). Die Ähnlichkeit zwischen den Reichweiten in diesen beiden Ländern in diesem Segment ist ebenso deutlich wie der strukturelle Unterschied zwischen Europa und Japan. Im Segment der Zuschauer über 50 Jahre (Abb. 17 und 18) zeigt sich keine qualitative Veränderung im Fernsehverhalten mehr. Weil diese Zuschauer allerdings länger sehen, steigen auch die drei Spitzen an: von 40/20 auf 40/30 Prozent, von 16/7 zu 30/23 Prozent und von 45/30 zu 60/50 Prozent. Die Japanerinnen dehnen sogar ihren intensiven Konsum am Morgen bis 8 Uhr aus, denn hier sendet der staatliche Sender NHK seine morgendlichen Serien mit weiblichen Hauptpersonen. Während die japanische „gender gap“ sich allmählich verringert, bleibt sie in Großbritannien stabil. Weil die Bevölkerung aller Industrieländer rapide altert, ist der Medienkonsum der „silver generation“ längst ein wichtiges Forschungsthema. 83 Während die älteren Japanerinnen ihre Sehdauer allmählich im Laufe ihres Lebens ausdehnen, holen die Japaner das nach ihrem Rückzug aus dem Arbeitsleben abrupt nach. Teilweise verstärkt wird dieser Effekt durch Depressionen, Unsicherheit, Langeweile, Frustration, aber auch durch die relativ gute soziale Integration dieser Kohorte. Jene, die im höheren Alter gerne und viel fern sehen, haben das allerdings nicht unbedingt schon früher getan. Vielmehr hat die Gruppe der passionierten älteren Zuschauer auch eine positive Einstellung zu anderen Freizeitaktivitäten. Sie hat zumeist einen größeren Freundeskreis, kann Probleme von Angesicht zu Angesicht besprechen und zeigt Vorbehalte gegen modische TV-entertainment-shows. Daher bevorzugt sie sogar oft noch den Hörfunk, vor allem für die Nachrichten des staatlichen Senders NHK.84 Die japanische baby boomer-Generation (dankai sedai, geboren 1945-1950) erreicht nun ihr Verrentungsalter. Dann werden insbesondre die Männer ihre Sehdauern ausdehnen. Daher wird sich die traditionelle Phasenabfolge im Leben der Medienkonsumenten (Jugend Heirat 82 Saitō 2011: 41, 47. 83 Shiraishi 2008: 513. 84 Saitō 2008: 17.
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und Kindererziehung erwachsene Kinder ziehen aus das ältere Paar hat mehrere Fernseher in verschiedenen Räumen zur Verfügung und entdeckt und wählt jeweils unterschiedliche Programme) verändern.85 Schon heute stehen in fast allen japanischen Haushalten mehrere Fernseher oder Computer mit Digitalempfängern. All diese Innovationen eröffnen die Frage: Was woollen die Zuschauer in der Zukunft sehen, was werden sie bevorzugen und warum? Die wechselnden Präferenzen der Älteren sind schwer zu vermessen, und ihre Interessen und Bedürfnisse sind so multipel und komplex wie die Aufgabe der Medienschaffenden, sie zu befriedigen. Man weiß, dass die Älteren sich gerne mit den Medien ablenken und entspannen, aber auch gerne dazulernen, durch Sprachkurse, Dokumentationen oder Sendungen zur Körpergesundheit. Gleichzeitig würdigen sie kürzere, verständliche Erklärungen. Kommerzielle Sender, die auf „infotainment“ spezialisiert sind, werden daher den Löwenanteil ihrer wachsenden Sehzeit abgreifen.
Schluss Dieses Kapitel unternahm einen trilateralen Vergleich von Hörfunk- und Fernsehreichweiten, um die wichtigsten kulturellen Spezifika des Medienkonsums in Japan zu benennen. Wie erwartet, gibt es bereits große Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien, aber noch wesentlich größere zwischen Europa und Japan. a) Die klare Dominanz des Fernsehens über das Radio in Japan steht im Gegensatz zur annähernden Gleichberechtigung der beiden Medien in Deutschland und Großbritannien. Außer im Segment der älteren Hörer über 60 Jahre hat das Fernsehen den Hörfunk fast verdrängt. Der Hauptgrund dafür liegt in der frühen Etablierung des morgendlichen Fernsehprogramms in Japan seit dem Jahre 1956. Schon im Jahre 1961 definierte NHK das Zeitfenster für Fernsehserien für (Haus-)Frauen um 8 Uhr morgens mit dem berühmten Oeuvre musume to watashi (Meine Tochter und ich).86 Dieses Zeitfenster erfüllt seine Funktion noch heute. In Deutschland und Großbritannien dagegen wurde ein vergleichbares „Frühstücksfernsehen“ erst in den 80er Jahren eingeführt. Das gab dem Radio die Zeit, seine Position als führendes Massenmedium vom Morgen bis in den Nachmittag mit verbesserten und zielgruppengenauen Programmen zu festigen. b) Die Geschlechterdifferenz im Medienkonsum, deutlich schon in Großbritannien, ist in Japan besonders signifikant. Männer hören wesentlich mehr Radio, während Frauen eindeutig dem Fernsehkonsum 85 Saitō 2008a: 79. 86 Furuta 2002: 150, 158; Yoshimi 2003: 478.
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zugeneigt sind. Das entspricht der strengen „Geschlechterordnung“ der japanischen Tagesabläufe und Arbeitswelten. Die Annäherung der Verhaltensweisen der Geschlechter wird heute durch die andauernde ökonomische Krise und die harte Konkurrenz um feste Positionen weiter verzögert und erschwert.87 In diesem Klima erodieren auch das Stereotyp und das Ideal der traditionellen japanischen Hausfrau (sengyōshufu) nur langsam. c) Die Mediennutzung differiert in Japan besonders stark zwischen den Alterskohorten. Zwar wächst in allen Segmenten und Ländern der Medienkonsum mit dem Alter, aber in Japan wächst er schneller und abrupter. Der Grund liegt in der raschen Alterung der Gesellschaft. Während die Jüngeren weitgehend von mobilen Medien und dem Internet eingenommen sind, oft kinderlos bleiben und viel ausgehen, konnten die Älteren ihr Arbeitsleben in einer stetig wachsenden Ökonomie hinter sich bringen. Sie üben Zurückhaltung gegenüber den neuen Digitalmedien und verlängern stattdessen ihre Sehzeiten, insbesondere nach ihrem Ausscheiden aus dem Beruf.88 Aus dem vorliegenden trilateralen Vergleich lässt sich folgern, dass die Globalisierung, Hybridisierung und Komplexität der Medienlandschaft die nationalen und kulturellen Spezifika des Medienkonsums keineswegs verwischen. Insbesondere die Daten aus Japan belegen das Gegenteil, und die neuen Medien unterstützen eher noch den Rückzug ins Private, in das Reich des japanischen uchi: Takahashi konstatiert: „Mit den mobilen Kommunikationstechnologien schließen sich die Leute nicht als ,Öffentlichkeit‘, sondern als uchi dauernd miteinander kurz. Anders als der ,öffentliche Raum‘ bietet uchi soziale Intimität und ontologische Sicherheit.“89 Die wichtigsten geschlechtsspezifischen Merkmale des japanischen Medienkonsums, welche die Forschung schon für die ersten beiden Jahrzehnte der Fernsehkultur konstatierte, lassen sich noch heute empirisch belegen.90 Eindeutig bleibt das Fernsehen das „nationale Medium“ der japanischen Gesellschaft. Der Hörfunk führt ein Schattendasein und kämpft heute um seine wenigen Hörer unter 40 Jahren. Das japanische Publikum erwirbt seine Konsumgewohnheiten früh: Die landestypischen Spitzen der Reichweiten im Tagesverlauf zeigen sich schon im Alterssegment der Kinder und Teenager. Im Gegensatz zu den europäischen Reichweiten haben die japanischen drei tägliche Spitzen. Die dortigen Programme kennen sogar getrennte Zeitfenster für Männer 87 Shire 2008: 965, 972. 88 Morofuji et al. 2010a: 14, 20. 89 Takahashi 2010: 179. Aus dem Englischen. 90 Chun 2007: 308.
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und Frauen. Letztere sehen deutlich mehr und okkupieren auch die Zeitkorridore am Morgen und am Mittag, die zumeist mit fiktionalen Unterhaltungsgenres gefüllt sind. Diese Geschlechterdifferenz verringert sich allerdings auch wieder im Segment der älteren Konsumenten jenseits ihres Berufslebens. Von hier aus lassen sich drei wichtige Forschungsthemen eingrenzen: erstens die historische Phase der Medienentwicklung in den 50er und 60er Jahren, als das japanische Fernsehen sich anschickte, das Radio als dominantes Medium abzulösen. Dieser mediale „switch“ bedarf eines empirischen Ansatzes, der gezielt die Konsumenten jener Zeit und die (verbliebenen) Hörer nach ihren Wahrnehmungen und Entscheidungen befragt, um die Gründe und Umstände für die radikale Umstellung der Medienkonsumgewohnheiten in kurzer Zeit zu verstehen. Zweitens bedarf die Geschlechterdifferenz in den japanischen Medienreichweiten weiterer Klärung. Auch Japan kann die Gleichberechtigung nicht aufhalten. Viele junge Frauen weigern sich, wie die Generation ihrer Mütter als Hausfrauen zu leben, und die Scheidungsraten steigen ebenfalls. Dennoch hält das Fernsehen über weite Strecken am „gendering“ seiner Programme fest, die oft nur eine Hälfte des Publikums ansprechen. Ein Vergleich der Konsumgewohnheiten und -präferenzen zwischen verheirateten Hausfrauen (oder in einer festen Partnerschaft lebenden Frauen) mit alleinstehenden Frauen könnte diese Geschlechterordnung normativ entkoppeln und stattdessen die Bedürfnisse und Wünsche des weiblichen Publikums ins Zentrum des Interesses stellen. Drittens verändert sich der japanische Medienkonsum auch jenseits der hier präsentierten Reichweitenanalyse. Wie die Hörer-/Seherschaft rapide altert, so ist auch die Medienlandschaft selbst der Globalisierung und Diversifizierung ausgesetzt. Ein japanisches Symbol dafür ist der neue Fernsehturm „Tokyo Sky Tree“ und der digitale „switchover“ vom April 2011. Im Zuge dieser technischen Entwicklung verschmelzen zumal visuelle Medien rasch miteinander. Seit Jahren wächst das Zeitbudget für den „hybriden Konsum“ von Videospielen, Mobiltelefononen und Internet.91 Zumal die japanischen Konsumenten aller Altergruppen haben diese portablen Technologien verinnerlicht und als „Daumenkultur“ ihren Körpern einverleibt. Schon heute nutzen die jungen Japaner zwischen 20 und 30 Jahren die Spielekonsolen oft länger als das traditionelle Fernsehen und das Mobiltelefonon länger als das gute alte Radio. Gleichzeitig sinkt die Konzentration der Seher. Sie betreiben oft mehrere Bildschirme gleichzeitig, stellen das Fernsehen stumm und 91 Mitsuya et al. 2002: 20; Nakano/Watanabe 2008: 198.
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kombinieren seine visuellen Reize dann mit Gesprächen auf Twitter oder per Telefon.92 Das Netz setzt sie schließlich einer Masse von Informationsströmen aus, die kein Gehirn mehr verarbeiten kann. Und genau diese sinkende Intensität und Qualität des Fernsehens und -hörens kann noch nicht empirisch gemessen oder quantifiziert werden. Statt die Lebenswelten zu öffnen und zu erweitern, stützt und stabilisiert das globale Internet den „schützenden Kokon“, die Innenwelt uchi, und verstärkt medial die kulturgebundenen Lebens- und Konsummuster. Der hier ausgeführte trilaterale Vergleich von Medienreichweiten kann also nur der erste Schritt sein in Richtung eines umfassenden Forschungsprogramms zu Medieninhalten und Genres, die kulturübergreifend Zuschauer und Fans begeistern. Geeignete Fallstudien wären global erfolgreiche (amerikanische) Fernsehserien wie CSI oder Ugly Betty, die auch schon in Japan gesendet wurden. Miura Motois Umfrage unter den japanischen Zuschauern von Ugly Betty hat bereits erstaunliche Gründe für ihre Popularität zutage befördert. Die Befragten lobten die Schauspieler, schätzten die menschliche Sicht auf Beziehungen und Gefühle und erfreuten sich auch am besonderen Blick auf die Gast-Stars und Nebenrollen. Überraschenderweise gefiel ihnen das unkonventionelle Drehbuch, das als Hauptperson eben keine schöne Heldin (bijin) vorsah, sowie der allgemeine Optimismus der Serie und ihr gänzlich unjapanisches happy end.93 Aber nur ein umfassender Forschungsansatz mit einem multimethodischen Design, der die empirische Reichweitenanalyse mit der Befragung und ethnographischen Beobachtung der Konsumenten kombiniert, könnte den „schützenden Kokon“ der einsamen Masse vor dem Bildschirm nachhaltig durchdringen.
Danksagung Der Autor dankt den Institutionen, die für den vorliegenden trilateralen Reichweitenvergleich Daten zur Verfügung gestellt haben: ARD Medienforschung Hamburg: Interview und Recherche am 13. Oktober 2010. Attentional London. Interview und Recherche am 30. September 2010. NHK Broadcasting Culture Research Institute: Interview und Recherche am 25. Juni 2009 und 28. Juni 2010. Video Research Tokyo. Interview und Recherche am 30. Juni 2009 und am 29. Juni 2010.
92 Miura/Kobayashi 2010: 93. 93 Miura/Kobayashi 2009: 86-88.
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2.4 Werbetexte und Bildmetaphern im Reich der Zeichen Werbung im kommunikativen Milieu Japans In Japan findet die Werbung ihr ideales psychosoziales Milieu. Nirgends liegen Hin-Sehen und Weg-Sehen, Aussprechen und Andeuten, Schenken und Verpflichten so nahe beieinander wie in dieser Verpackungskultur (hōsōbunka).94 Zurecht wird die japanische Gesellschaft auch als besonders zeichen-, medien- und bildschirmaffin beschrieben. Hier springen die Botschaften der Werbung hemmungslos von jedem Gebäude, in jeder U-Bahn und auf jedem öffentlichen Platz ins Auge, verpacken und verwischen die Spur des Geldes. Mit der Werbung omnipräsent ist ihre Ambivalenz (besser: Polivalenz), Vielschichtigkeit und Komplexität. Sie verschmilzt die offene Lüge mit der verdeckten Wahrheit, Verklärung mit Enthüllung, Überredungskunst mit Selbstironie und Frivolität mit Augenzwinkern. Sie balanciert auf dem dünnen Eis des Grenzflusses zwischen dem Reich der (Geldwert-) Zeichen und der (Gebrauchs-) wertlosen, überflüssigen Warenwelt. Dank dieser inneren Spaltung und Imperfektion kreiert das Werbesystem, natürlich und paradox, eine perfekte mediale Innenwelt. Seine endlose Akkumulation von Zeichen mündet nicht im Einsturz des Turmbaus zu Babel, sondern im ruhigen Strom Escherscher Zirkularität. Japans Staat ist zwar der größte Schuldner weltweit, aber seine Kultur ist keine der Schuld, sondern eine des Verzeihens und der Ent-Schuldigung. Auf diesem kommunikativen Nährboden blüht daher die Werbung auf: als absolute Lüge und repetitives, selbstreferenzielles Medienkonstrukt. Jenseits der pazifischen Mauer saugt sie alle alteuropäischen, werttheoretischen Vorbehalte in ihren Strudel aus hyperrealer Simulation. Als Massenmedium der Ökonomie schöpft die Werbung aus dem breiten Fundus aller visuellen Programme mit dem Fernsehen als ideales technisches Vehikel. Für Japan nennt Michael Prieler ihre Präferenz für Stars und Prominente (celebrities und tarento) als ihr wichtigstes kulturspezifisches Merkmal. 95 Auch jeder westliche Filmstar muss sich mindestens einmal wie Bill Murray in Sofia Coppolas Film Lost in Translation (2003) für einen japanischen Werbespot lächerlich machen. Diese und andere Eigenschaften lassen sich natürlich leicht auch in anderen Ländern aufspüren. Denn über die kulturellen Grenzen hinweg setzt das Weltwerbesystem auf sanfte Beeinflussung durch Witz, Ironie und harmonische (musikalische) Untermalung. Es kreiert jenseits aller Differenzen in Sprache, Schrift, Farbpräferenz und Design seine eigene, 94 Heinze 2006: 100-108. 95 Prieler 2008: 35.
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künstliche Welt fernab der Realität. Prieler zählt in 2972 vermessenen japanischen Werbespots aus den Jahren 1997 bis 2007 wesentlich mehr junge Menschen als im Durchschnitt der Bevölkerung.96 Die Werbespots verleugnen also schlicht die rapide demographische Alterung - und doch harmoniert in diesem Falle das Werbestereotyp „Lüge“ recht gut mit dem Japanstereotyp „Höflichkeit“. Die Frage, wie die Werbung ihre Adressaten „erreicht“ oder ihre Produkte „verkauft“, veharrt in der Innenperspektive (des „Marketings“) des Wirtschaftssystems. Doch im Falle der Werbung ist Zahlung nicht impliziert. Sie ist als veritables Geschenk Teil des Mediensystems, dem sich niemand durch Nicht-Zahlung entziehen kann. Übersetzt auf die soziologische Außenperspektive lautet daher die Frage: Wozu leistet sich das Wirtschaftssystem diese überflüssige, luxuriöse Verpackung seiner Warenwelt? Offenbar muss es sich selbst belügen, selbst entblößen und selbst darstellen. Die Motive der Werbeindustrie sind nur zu transparent, gerade deshalb muss sie ihre Spuren aufwändig verwischen. Strukturfunktionalist Niklas Luhmann wundert sich: Im gesamten Bereich der Massenmedien gehört Werbung zu den rätselhaftesten Phänomenen. Wie können gut situierte Mitglieder der Gesellschaft so dumm sein, viel Geld für Werbung auszugeben, um sich ihren Glauben an die Dummheit anderer zu bestätigen? Es fällt schwer, hier nicht das Lob der Torheit zu singen, aber offenbar funktioniert es, und sei es nur in der Form der Selbstorganisation der Torheit. (...) Man wirbt mit psychologisch immer komplexer eingreifenden Mitteln, die die zur Kritik neigende kognitive Sphäre umgehen. (...) Der bewussten Täuschung sind rechtliche Grenzen gezogen, aber das gilt nicht für die eher unübliche Beihilfe zur Selbsttäuschung des Adressaten.97
Wer der Werbekommunikation etwas abgewinnen will, darf sie daher nicht als Teil der Akkumulation materieller Werte betrachten. Im Werbesystem endet jede Form von Wertäquivalenz, von materiellem Stoffwechsel oder sinnvoller Warenzirkulation. Es ist vielmehr überflüssig und vergeudet, denn es transferiert keine messbaren Werte (auf die Ware) und überträgt auch keine Materie oder Information (zum Konsumenten). Auf der immateriellen Ebene der Zeichen kommuniziert es eine medientheoretische Erkenntnis/einen Vergleich/eine Gleichung über das Verhältnis zwischen Ware und Arbeitskraft: Das Weltwerbesystem ist ein selbstreferenzielles Reich metastasierender Metaphern.
Die Theorie der Bildmetapher in der Werbung Vorsichtig verpackt und beschriftet sich das System der Ökonomie und belügt sich selbst über seine Identität und Funktion - mit Werbung. 96 Prieler 2008a: 26. 97 Luhmann 1996: 85-86.
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Auch ihre Kommunikation beruht nicht auf Summenkonstanz, sondern auf Differenz, auch ihre Prozesse erfordern nicht Identifikation, sondern Selektion, Schnitt und Bruch. Erst Ver-gleich, Ver-zerrung und Verflüssigung rücken das kalte, käufliche Objekt ins rechte Licht. Daher kommuniziert sie indirekt bis zur Perfektion. Keiko Tanaka bezeichnet die Werbung als „verdeckte, nicht offene Kommunikation“, welche möglichst unauffällig auf ihre Rezipienten einzuwirken versucht. 98 Diese Verführungskunst muss daher die rationale Ebene von Text und Sprache verlassen und auf die visuelle Ebene wechseln. Das Medium Fernsehen hat diese Entwicklung in seiner Frühphase wie eine Kinderkrankheit durchlaufen: Tsuji Daisuke hat den kommunikativ-strategischen Wandel von der direkten Belehrung des Zuschauers zu seiner indirekten Überredung nachgezeichnet. Das neue Muster machte im Laufe der 50er Jahre den Zuschauer zum Zeugen eines Gesprächs auf dem Schirm, aus dem er sich dann seine eigene freie Meinung bilden durfte. Tsuji misst empirisch eine Abnahme von verbalen Bitten, Aufforderungen und Imperativen.99 Die Werbung verfeinerte sich und verließ die sprachlich-rationale Ebene oder „kognitive Sphäre“. Ein wichtiger Meilenstein dorthin war die Geburt der Bildmetapher (pictorial metaphor) in der Werbung. Ihre Funktionsweise hat Charles Forceville auf der Grundlage der „interaction theory of metaphor“ von Max Black ausgearbeitet. Metaphern sind Vergleiche zwischen einem primären und einem sekundären Subjekt (term), verbunden durch eine Kopula: /Menschen sind Wölfe/, /Chirurgen sind Metzger/, /Japaner sind cyborgs/. Aber erst aus dem allgemeinen Kontext „entscheiden“ die Kommunikanten, welches Subjekt das primäre ist und welche Eigenschaften es aus dem sekundären Subjekt auf sich zieht.100 Diesen komplexen Kommunikationsprozess untersucht Forceville anhand von Plakatwerbungen, die ihrem Produkt ein sekundäres Subjekt dotieren. So verstärken sie ihre Botschaften im jeweiligen verbalen, bildlichen und kulturellen Kontext: /Schokolade ist schwarzes Gold/, /Benzinzapfhahn ist Selbstmordwaffe/, /Regenreifen ist Rettungsring/.101 Noch aus dem Mittelalter der Fernsehwerbung (1968) in Japan stammt diese Bildmetapher einer Autoversicherung: /Sicherheit ist 98 „covert versus ostensitve communication“. Tanaka 1994: 41. 99 Tsuji 2010: 48. 100 Forceville 1996: 108, 201. 101 A.a.O. 117, 123, 150.
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Ritterrüstung/. Sie entspricht den auch in Deutschland geläufigen Metaphern für Versicherungen wie Burg, Schild oder Phalanx. Mehr als 40 Jahre später kreiert eine Fluggesellschaft eine wunderschöne Bildmetapher, zu der nationale Images und Stereotype einladen. Österreich lockt japanische Touristen mit dem Bild eines Flugzeugflügels als Klaviertastatur. Unübersehbar/unüberhörbar ist die Assoziationskette „Musik = Wien = Austria(n Airlines) = Flugzeugflügel = Konzertflügel = Musik“. Das geflügelte Wortspiel geht leider in der Übersetzung verloren. +(CB" $,C38?'ie Von Wien aus beginnen. Austrian Airlines Allerdings ist die Zuordnung der Subjekte im Falle der Plakatwerbung oder frühen Fernsehwerbung noch recht offensichtlich. Komplizierter, unterschwelliger aufgebaut sind zeitgenössische Fernsehspots, denn sie verlangen als Kurzfilme stets eine Bewegung und Handlung. Schon Forceville nimmt an, dass „künstlerische Manifestationen mit narrativem Charakter sich besser eignen für Identifikationen und Interpretationen über Metaphern als (...) solche ohne“.102 Die Sprache und Semantik der bewegten Bilder erfordern einen Akteur.
(Ver)Schmelzende Subjekte in der Bildmetapher: Körper und Ware im Werbetext Im Falle des Werbespots kommt daher die vertraute celebrity wieder ins metaphorische Spiel. Sie tritt gerade in Japan auch stets ohne Starallüren auf: als Nachbar, Freund, Helfer oder einfacher Zeitgenosse.103 Dieses (sekundäre) Subjekt kann/muss dann das primäre Subjekt/das Objekt/die Ware sichtbar genießend konsumieren. Daher ersetzt die bewegte Bildmetapher im Augenwinkel die Formel [Ware] [primäres Subjekt1] [Konsum des Subjekts1] [Subjekt2/(1) (celebrity) ]
ist [Vergleichsobjekt] ist [sekundäres Subjekt2] ist [Genuss des Subjekts2] is(s)t [Subjekt1/(2) (Ware)]
oder durch oder .
Diese Zuordnung aber vertauscht die Rollen der Subjekte: Der „Genuss des Subjekts“ ist doppeldeutig. Im Kontext und Rahmen der Konsumhandlung erfordert der metaphorische Genuss ein genießendes (agierendes) sekundäres Subjekt und degradiert das primäre Subjekt zum Objekt 102 A.a.O. 203. Aus dem Englischen. 103 Prieler 2008: 36.
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seiner Begierde. Und nur sein Körper kann beide auf der Ebene der Zeichen miteinander verkleben und so der Bildmetapher Leben einhauchen. Er genießt und inkorporiert die Ware und lässt so beide Subjekte miteinander verschmelzen. Für diesen Rollentausch kommt daher der grammatikalischen ersten Person und dem Begriff des Selbst schon auf der Textebene eine Schlüsselrolle im Werbekosmos zu. 104 Ein Standardbeispiel ist die weltweite und jahrelange Werbekampagne von L’Oréal. Für sie posierte auch in Japan Claudia Schiffer mit einer klugen, fast historisch(materialistisch)en Aussage: & GI $" Weil ich es (mir) wert bin. Die Variationsbreite des primären Subjekts lässt keine Wünsche offen. Wie die zahlreichen japanischen Personalpronomen (atashi für Frauen, boku für Männer) fungieren auch das Selbst (jibun) und das Selbstvertrauen (jishin) gerne im Slogan und in der Metapher, denn die Betonung der ersten Person ist Voraussetzung für die Verschmelzung von Subjekt und Ware: Beide sprechen mit einer Stimme. In dieser Version aus dem Jahre 1983 kokettiert der Sänger Matsuyama Chiharu sogar mit dem jugendlichen Personalpronomen ore:
H0C. YTMX Ich bin Coke. Matsuyama Chiharu Genuss erfordert ein sinnliches Erleben. So nimmt der Körper mit der Ware Hautkontakt auf und schleicht sich im Schatten der Bildmetapher ins Zentrum der Fernsehwerbung. Erst das Bild des körperbezogenen Genusses öffnet die Schleusen für Assoziationen und für den „image transfer“ von S2 auf S1. Der Körper verschwimmt mit der Ware, beide werden ununterscheidbar: die Ware als Subjekt2, das inkorporiert wird, der Körper als handelndes Subjekt1. Seine drei japanischen Ausdrücke: karada, shintai und bodi, finden sich daher im japanischen Werbesystem im Überfluss und erklären seine unübersehbare Präferenz für Flüssigkeiten aller Art: Getränke, Parfums, Mundwässer, Deos. Sogar Tiere posieren und trinken: für das Wasser From Aqua ein Pinguin mit Plastikflasche: 104 Heinze 2006: 139-148.
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->5 R_\ Für den Körper das sanfte, natürliche Wasser. Die Dose Asahi-Bier spricht zwar für sich selbst, setzt aber den Gaumen oder Rachen (nodo) wie den Körper (karada) zur Betonung in Katakana: ->54A:9fo4A Dem Körper die Null, dem Gaumen den Geschmack. Null Kohlenhydrate Auch der Softdrink Pocari Sweat wirbt seit Jahren aggressiv und hat Film- und Fernsehstar Beat Takeshi für sich eingespannt. Der erinnert sich immerhin an seinen Status als grimmiger Killer und Kommandeur in diversen Spielfilmen und drückt sich konsequent vorm Trinkgenuss: E [D$ \!#EpFq\ Menschen werden schneller durstig, als sie merken. Ein Wasser, das näher am menschlichen Körper ist als Wasser. Eine zweite Fassung nutzt geschickt das Schriftzeichen mit dem sansui(drei Wassertropfen-) Radikal für das japanische Wort ase (Schweiß): ]F %1)B Schweiß ist ein Zeichen des Körpers. Ein Deo für Jungs macht im Fernsehen und im Internet auf sich aufmerksam, indem es für den Körper das englische Wort body benutzt:
(TV-Fassung) Ln