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German Pages 261 [264] Year 1967
J A H R B U C H FÜR
VOLKSLIEDFORSCHUNG
Zwölfter Jahrgang
JAHRBUCH FÜR VOLKSLIEDFORSCHUNG
Im A u f t r a g
des Deutschen Volksliedarchivs herausgegeben von
Rolf Wilh. Brednich
Zwölfter Jahrgang
WALTER DE G R U Y T E R & CO • BERLIN vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp. 1967
A r d i i v - N r . 46 29 68/1
© Copyright
1968 by W a l t e r de Gruyter & C o . ,
vormals G . J . Göschen'sdie Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • K a r l J . Trübner • Veit & Comp. — P r i n t e d in G e r m a n y — Alle Rechte des Nadidrudks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, v Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44
INHALT I. AUFSÄTZE H I N R I C H SIUTS Das Verhältnis von Volkslied und Modelied im deutschen Volksgesang (mit 5 Melodiebeispielen)
Seite
1
ERNST KLÜSEN Das Gruppenlied als Gegenstand
21
WALTHER L I P P H A R D T Adam Reißners handschriftliches Gesangbuch von 1554 als Quelle deutscher Volkslied weisen des 16. Jahrhunderts (mit 33 Melodiebeispielen) . .
42
HELLMUT ROSENFELD Die Brautwerbungs-, Meererin- und Südeli-Volksballaden und das Kudrun-Epos von 1233
80
PAUL ALPERS Weltliches im Wienhäuser Liederbuch
93
LEANDER PETZOLDT Volksballade, Sage und Exempel. Zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte der Volkserzählung vom ,beleidigten Totenschädel' (mit 10 Melodiebeispielen und 4 Faksimiles) 103 ROGER PINON Philologie et Folklore Musical. Les Chants de Patres avant leur Émergence Folklorique (mit 7 Melodiebeispielen und 3 Abbildungen) 141 HELLMUT ROSENFELD Ach Gott, wem soll ich's klagen... Betrachtungen zu einer 1481 aufgezeichneten unbekannten Fassung 173
II. BERICHTE JÔZSEF FARAGÔ Die Erforschung der ungarischen Volksballaden in Rumänien
177
WOLFGANG SUPPAN Die seit 1945 erschienene deutschsprachige Literatur zum Jazz
182
VI
Inhalt
III. BESPRECHUNGEN Seite
SUPPAN, W.: Volkslied, Stuttgart 1966 (WERNER DANCKERT)
197
SEEMANN, H.: Volkslied und Urheberrecht, Freiburg 1965 (ROLF WILH. BREDNICH) 199 LIPPHARDT, W.: Der Karolingische Tonar von Metz, Münster i. W. 1965 (WOLFGANG SUPP AN) 200 KLÜSEN, E.: Das Bonner Gesangbuch von 1550 (MARKUS JENNY)
201
SPERONTES: Die Singende Muse an der Pleiße, Leipzig 1964 (ROLF WILH. BREDNICH) 204 LEFFTZ, J.: Das Volkslied im Elsaß Bd. 1, Colmar 1966 (ROLF WILH. BREDNICH) 204 ANDERLUH, A.: Kärntens Volksliedschatz II/l: Balladen — Romanzen — Erzählende Lieder, Klagenfurt 1966 (ROLF WILH. BREDNICH) . . . . 207 KLÜSEN, E.: Das Mühlrad, Kempen 1966 (WOLFGANG SUPP AN)
209
MARTIN, B.: Alte Lieder aus dem Hinterland, Biedenkopf 1964 (ROLF WILH. BREDNICH) 210 HEIMAT GALIZIEN. Ein Gedenkbuch, Stuttgart-Bad Cannstatt (ROLF WILH. BREDNICH)
1965 210
GÄRTNER, J.: Heiligenbluter Sternsinger-Lieder, Klagenfurt 1965 (WOLFGANG SUPPAN) 211 KAMPMULLER, O.: Oberösterreichische Kinderspiele, Linz 1965 (VOLKER HESS) 212 ELBERS, W.: Das Soldatenlied als publizistische Erscheinung, Münster i. W. 1963 (WOLFGANG SUPPAN) 213 HOERBURGER, F.: Musica vulgaris, Erlangen 1966 (ERNST KLÜSEN) . . 214 DANCKERT, W.: Das Volkslied im Abendland, Bern und München 1966 (BRUNO NETTL) 215 JAHRBUCH FÜR MUSIKALISCHE VOLKS- UND VÖLKERKUNDE Bd. 2, Berlin 1966 (WALTER SALMEN) 216 SONG. Zeitschrift für Chanson, Folklore, Bänkelsang Nr. 1, Erlangen 1966 (ROLF WILH. BREDNICH) 216 NETTL, B.: Folk and Traditional Music of the Western Continents, Englewood Cliffs 1965 (WOLFGANG SUPPAN) 217 HET LIEDBOEKJE VAN MARIGEN REMEN, Utrecht 1966 (ROLF WILH. BREDNICH) 219
Inhalt
VII Seite
THE FABER BOOKS OF BALLADS, London 1965 (KLAUS ROTH)
219
MUIR, W.: Living With Ballads, London 1965 (KLAUS ROTH)
220
LEACH, M.: Folk Ballads and Songs of the Lower Labrador Coast, Ottawa 1965 (ROLF WILH. BREDNICH) 221 LEHMANN, Th.: Negro Spirituals, Witten und Berlin 1965 (WOLFGANG SUPPAN) 222 DANMARKS GAMLE FOLKEVISER. Prevesider af Optrykket, Kobenhavn 1966—67 (ROLF WILH. BREDNICH) 223 PROFETA, G.: Canti nuziali nel folklore italiano, Firenze 1965 (INAMARIA GREVERUS) . 224 CIRESE, A.M.: Struttura e origine morfologica dei mutos e dei mutettus sardi, Cagliari 1964 (FELIX KARLINGER) 225 BRONZINI, G.: Il mito della poesia popolare, Roma 1966 (FELIX KARLINGER) 226 VOLKSMUSIK SÜDOSTEUROPAS. Beiträge zur Volkskunde und Musikwissenschaft, München 1966 (2MAGA KUMER) 227 BARTÓK, B.: Slovenské l'udove piesne, Bratislava 1959 (KARL-HEINZ POLLOK) 230 HUDEC, K. — POLOCZEK, F.: Slovenské l'udove piesne Bd. I—IV, Bratislava 1952—1964 (KARL-HEINZ POLLOK) 231 ERDELY, St.: Methods and Principles of Hungarian Ethnomusicology, Bloomington 1965 (BENJAMIN RAJECZKY) 233 FOCHI, A.: Miorita. Tipologie, circulatie, genezä, texte, Bucurefti 1964 (ION TALO§) 234 ALEXICI, G.: Texte din literatura poporanä romàna Bd. II, Bucurejti 1966 (HELGA STEIN) 235 VRABIE, Gh.: Baiada popularä romana, Bucure§ti 1966 (ION TALO§) . . . . 237 HORÄK, J. und PLICKA, K. : Zbojnicke piesne slovenského l'udu, Bratislava 1965 (JOSEF LANSKY) 239 MUZYKA HUCULSZCZYZNY, Krakow 1965 (JOSEF LANSKY)
240
GRAFENAUER, I.: Spokorjeni gresnik, Ljubljana 1965 (ROLF WILH. BREDNICH) 240 GRAFENAUER, I.: Slovensko-hrvaska ljudska pesem Marija in brodnik, Ljubljana 1966 (ROLF WILH. BREDNICH) 242 MERSlC, M.: Jackar. Hrvatske narodne jacke iz Gradisca, Cakovec 1964 (WOLFGANG ESCHKER) 243
VIII
Inhalt Seite
DOBROVICH, J.: Druga pjesmarica. Narodne jacke gradiscanskih Hrvatov, Stikapron 1964 (HELGA STEIN) 244 PESIC, R.: Novije crnogorske narodne pjesme, Titograd 1964 (ZMAGA KUMER) 245 VASILJEVIC, M. A.: Narodne melodije Crne gore, Beograd 1965 (ZMAGA KUMER) 245 WERNER, W.: Die männlichen Personennamen in den bulgarischen Volksliedern, Berlin 1965 (J. ZAIMOV) 246 STOCKMANN, D., FIEDLER, W., STOCKMANN, E.: Albanische Volksmusik, Berlin 1965 (WOLFGANG SUPPAN) 250 C H I ANIS, S.: Folk Songs of Mantineia, Greece, Berkeley und Los Angeles 1965 (STAVROS CARACASSIS) 250 Verzeichnis der Mitarbeiter
252
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied im deutschen Volksgesang"' Von H I N R I C H SIUTS (Münster i. W.) Stellt man heute vorurteilslos die Frage, was vom Volk in seiner Gesamtheit am meisten gesungen wird, so muß die Antwort ,der Schlager' lauten. In einer Umfrage des Schulfunks von Radio Bremen schrieb dazu ein zwölfjähriges Mädchen: „Volkslieder mag ich nicht, weil wir sie in der Schule singen. Außerdem singt man die nicht mehr. Mir gefällt der Schlager Tom Dooley (ihre Schreibweise ,Tom Duli') am besten, weil da die Hinrichtung so schön geschildert wird 1 ." Die in dieser Antwort wiedergegebenen Gedanken sagen Wesentliches zur Begründung der heutigen Situation aus. Der Satz „Volkslieder mag ich nicht, weil wir sie in der Schule singen" bezeugt, daß großenteils die Musikpädagogen nicht in der Lage sind, eine solche Freude am Volkslied zu erwecken, daß es für die Schüler gleichwertig neben den gerade modernen Schlagern existieren könnte. Ganz im Gegenteil, dadurch, daß es im Musikunterricht gesungen werden muß und der Lehrer dabei oftmals mit erhobenem Zeigefinger auf den — im Vergleich zum ,seichten Schlager' — großen Wert dieses Liedes hinweist, vergeht den meisten Schülern jede Lust an diesen Liedern, die ihnen nur ,Bildungsgut', aber nichts Singbares für den eigenen Gebrauch bedeuten. Die Aussage, daß „man" sie nicht mehr singt, beruht auf der verbreiteten Vorstellung, früher habe man sie ganz allgemein gesungen. Unter anderem ist dabei wohl auch an die Generation der Eltern gedacht, deren Ideale für die meisten Jugendlichen sowieso verdächtig sind. Im übrigen möchte man sich aber vor allem mit seinem Gesang der Allgemeinheit anpassen und nicht als Außenseiter der Richtungen Wandervogel oder Kulturbeflissenheit gelten. Die Vorliebe für den eigentlich ganz harmlosen Schlager vom Tom Dooley, der ein Mädchen gemordet hat und deswegen gehängt wird, ist verständlich, wenn man bedenkt, daß eine derartige Thematik spätestens seit Beginn der Neuzeit auch im Volks- und Modelied in unzähligen Variationen, die ungemein häufig gesungen wurden, immer wieder begegnet. Allerdings erscheinen diese Lieder aus angeblich pädagogischen Gründen fast nie in den modernen Volksliedausgaben, die bewußt * D e r Aufsatz wurde in verkürzter Form als Antrittsvorlesung vor der Philosophischen Fakultät der Universität Münster i. W . im Sommersemester 1966 gehalten. 1 H . Chr. Worbs, Der Schlager. Bestandsaufnahme, Analyse, Dokumentation. Ein Leitfaden, Bremen 1963, S. 127. 1
Jahrbuch f. Volksliedforschung X I I
2
Hinrich Siuts
alles Grausame und Erotische unterdrücken u n d damit ein völlig falsches Bild vom lebendigen Volkslied bieten. Hinzu kommt als ganz besonders gravierend, daß in vielen Schullieder- und bearbeiteten Volksliederbüchern die Melodien oftmals so edel und getragen geboten werden, d a ß sie außerhalb der Schule häufig parodiert wiederertönen. Von dem Reichtum der Volksliedmelodien, unter denen viele es in Rhythmus, Schwung und Betonung der Stimmung mit dem gerade gängigen Schlagertypus aufnehmen können, ist meistens nichts zu verspüren. So ist es letztlich gar nicht verwunderlich, wenn sich das befragte Mädchen zum Schlager bekennt, der rein quantitativ das Volkslied verdrängt hat. In einer sehr interessanten, aber methodisch ebenso anfechtbaren Studie hat H e r m a n n Fischer 1965 das lebendige volkstümliche Liedgut des Kreises Reutlingen untersucht. Er gelangt zu dem Ergebnis, daß es aus Volksliedern und Schlagern besteht und f ä h r t fort 2 : „Beide haben ihre Funktion darin, daß sie sich als vorgeprägte Hohlsteine anbieten, einem ungeklärten und unbewältigten Erlebnis oder Gefühl des Inneren Ausflucht und Ausdruck zu geben." D a beide den gleichen Zweck erfüllten, dürfe man vielleicht nicht nur sagen, daß der Schlager das Volkslied verdrängt, sondern daß er es auch vertritt 3 . Ganz anders wertet das Phänomen des dominierenden Schlagers der in der Literatur immer wieder zitierte Musikpädagoge Georg Götsch 4 . Er erklärt: „Jazz und Schlager zählen nicht, denn sie sind Produkte der Ungestalt. . . Von diesen Kindern des Ungeistes ist keine Heilung zu erwarten." Eine solche erhofft er sich vom Volkslied, von dem wenig später W. Wiora sogar schreiben sollte 5 : „Gute Volkslieder sind ein Ausdruck heiler Menschen." Äußerungen wie die letzten beruhen auf der seit Liliencron weitverbreiteten Ansicht 8 , d a ß in früheren Zeiten das wertvolle Volkslied ganz allgemein geherrscht habe, vor allem in seiner Blütezeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Besteht diese These aber zu Recht? Wir wollen uns schrittweise um die Lösung dieses Problems bemühen, indem wir zunächst eine Klärung des Begriffes Volkslied zu erreichen suchen7. Dieser 2 3
4
5 6
7
H. Fischer, Volkslied, Schlager, Evergreen, Tübingen 1965, S. 144. So auch H. Bausinger, der diese Arbeit als Dissertation angeregt hat, in seinem Aufsatz ,Volkslied und Schlager', in: Jb. d. österr. Volksliedwerkes 5 (1956) S. 76. Georg Götsch, Musische Bildung. Zeugnisse eines Weges Bd. I, Wolfenbüttel 1948; zit. nach Worbs, S. 11. W. Wiora, Das echte Volkslied, Heidelberg 1950, S. 60. R. Frh. von Liliencron, Deutsches Leben im Volkslied um 1530, Stuttgart o. J. (1884), Einleitung; als ein Beispiel für neuere Repräsentanten dieser Auffassung vgl. die Darstellung von P. Alpers, Alte niederdeutsche Volkslieder mit ihren Weisen, 2. Aufl. Münster 1960. Die folgenden Ausführungen zur Definition beruhen in ihrem Kern auf einem Vortrag des Verf. über ,Das deutsche Volkslied. Sein Lehen in den verschiedenen Gattungen und Schichten.' Gehalten 1963 in Basel vor der Schweizer Ges. f. Vkde und der Musikforsdhenden Gesellschaft. — Zur Begriffsbestimmung vgl. man auch die eben erschienene ausgezeichnete Arbeit von Heinridi Seemann, Volkslied und Urheberrecht, Diss. jur. Freiburg i. Br. 1965, vor allem auf den Seiten 51—131.
3
D a s Verhältnis von Volkslied und Modelied
wurde erst 1773 von Herder 8 eingeführt zur Bezeichnung der liedhaften Volkspoesie, die bis dahin Liedlein, Reuterliedlein, Reihen, Bergreihen oder Gassenhauer genannt wurde. Herder wollte in seinen theoretischen Schriften und mit seiner 1778/9 in zwei Teilen erschienenen Anthologie von Volksliedern verschiedenster Völker zeigen, daß das allenthalben vom einfachen Volk geschaffene schlichte Lied mindestens den gleichen Wert besitzen kann wie die beste Kunstpoesie. Galt doch in jener Zeit nur diese als Kunstwerk, während die einfache Volkspoesie nicht beachtet wurde. Aber eine klare und einleuchtende Definition des Begriffes gab Herder nicht. Sie fehlt wegen der vielschichtigen Materie bis heute, und die herbe Kritik, die 1933 Julian von Pulikowski an der Volksliedforschung übte, besteht eigentlich immer noch zu Recht. Er schrieb 9 : „Die wohl naheliegende V e r m u t u n g , d a ß bei der .wachsenden' Volksliederforsdiung die Wissenschaft sidi immer klarer und einiger wird, erweist sich als ein Trugschluß. G r u n d hierfür ist, d a ß t r o t z aller Gelehrsamkeit und großen "Wissens die Volksentfremdung der Gelehrten immer größer wird, d a ß sie immer weniger ihr , V o l k ' wirklich kennen! M a n sammelt, katalogisiert, redet von allen möglichen ,Phänomenen', ,Prinzipien', P e r s p e k t i v e n ' und ähnlichen deutschen wissenschaftlichen' Fachausdrücken, verliert aber dabei i m m e r mehr die Fühlungsnahme mit dem , V o l k ' und urteilt dann einfach v o m Gelehrtentisch über Dinge, die m a n gar nicht wirklich kennengelernt hat. E s gibt wohl keinen Z w e i g in der Wissenschaft, w o solches L a i e n t u m und solche Unkenntnis sich erhalten haben wie in der Volksliedkunde."
Immerhin hat man sich in der Volkskunde dahingehend geeinigt, für das Volkslied die beiden Merkmale Variationsfähigkeit und Volksläufigkeit zu fordern. Die Variationsfähigkeit beruht auf dem besonders von J . Meier herausgearbeiteten Herrenrecht des Volkes, das ihm gestattet, Lieder zu formen und umzuformen, um sie seinem Empfinden anzupassen, während unter der Volksläufigkeit das Singen eines Liedes in verschiedenen Gegenden wenigstens eine Reihe von Jahren oder Jahrzehnten hindurch verstanden wird. Fragt man heute diejenigen, die diese Lieder singen, was sie sich unter einem Volkslied vorstellen, so erfährt man aus den Antworten, daß es „alt", einfach gehalten und in seiner Ausdrucksweise dem Wesen der Sänger adäquat sein muß. Betrachtet man die von ihnen als Volkslieder bezeichneten Lieder, so lassen sich in stilistischer Hinsicht zwei Arten unterscheiden. Als Beispiel für die eine Kategorie diene die Ballade vom Grafen und der Nonne 1 0 . Sie gehört zur Schicht der bis ins ausgehende Mittelalter zu verfolgenden Lieder und hat sich bis heute gehalten. Es dürfte sich dabei auch gleichzeitig um die am meisten verbreitete handeln, von der über 2000 Aufzeichnungen existieren.
8
I m ,Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter V ö l k e r ' .
9
Julian von Pulikowski, Geschichte tum, Heidelberg 1 9 3 3 , S. 5 1 4 .
10
l*
des
Begriffes
Volkslied
im
musikalischen
Vgl. dazu die in ihren Ergebnissen überholte Diss. von H . H e l b r o n , Das Graf und Nonne, Kiel 1 9 3 6 ; E r k - B ö h m e , Deutscher Liederhort I, N r . 89.
SchriftLied
von
Hinrich Siuts
4
Die erste Fassung entspricht der ältesten überlieferten Form und ist in Deutschland sehr häufig:
2. Der erste v o n den Grafen, der in dem Schifflein war, |: der gab mir einmal zu trinken roten Wein aus einem Glas.:) 3.
Was gibst du mir zu trinken roten Wein aus deinem Glas? |: Das tu ich aus lauter Liebe, aus lauter Lieb' und Treu! : |
4. Ich weiß v o n keiner Liebe, w e i ß auch von keiner Treu. |: In ein Kloster will ich ziehen, will werden eine Nonn' 1 1 . : |
Der Eingang ,Steig hinauf auf hohe Berge' ist — mannigfach variiert — mehreren Liedern zu eigen, ebenfalls einige Formeln, Wendungen und selbst einzelne Strophen, wie z. B. die dritte. Audi formal sind die Wiederaufnahme der letzten Worte der Endzeile einer Strophe in der Eingangszeile der anschließenden sowie textliche und musikalische Zeilenwiederholung typisch für diese Kategorie. Im übrigen weichen die einzelnen Fassungen schon innerhalb kleiner Räume mehr oder minder stark in Text und Melodie voneinander ab12. Der hier gebotene Text hat die folgenden Strophen im Zuge der üblichen Verkürzung langer Lieder zu Kurzformen fallen lassen. Sie berichten, daß der Graf dem Mädchen sein Vorhaben nicht glaubt und es verläßt. Später kommen ihm Bedenken, und er reitet zum Kloster. Doch er kommt zu spät, sie ward bereits zur Nonne geweiht. Vor Gram bricht sein Herz. 11
12
Quelle: Deutsche
Volkslieder. Eine Dokumentation des Deutschen Musikrates Teil I (1961), I V , 3 (aus Bühlerzell/Württemberg). Vgl. dazu z. B. die Fassungen bei F. W . Frh. v. Ditfurth, Fränkische Volkslieder II, Leipzig 1855, N r . 18—21; E. Roese, Lebende Spinnstubenlieder, Berlin 1911, S. 130 ff., N r . 13; Heeger-Wüst, Volkslieder aus der Rheinpfalz I, Kaiserslautern 1909, S. 69 ff., N r . 29 a—e; M. Thill, Singendes Volk. Volkslieder aus Luxemburg, Esch-Alzette 1937, S. 76 ff., N r . 18 a—e.
5
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
Nun ist das Lied in einigen Landschaften aufgrund inhaltlich ähnlicher Strophen mit einem verbreiteten Liebeslied13 kontaminiert worden, dem es die beiden ersten Strophen entlehnte, um dann mit der Drohung, ins Kloster zu gehen, mit dem üblichen Strophenbestand fortzufahren, der der neuen Melodie folgt. Die 1. Strophe lautet: (Qu. : Quart
I m
tiefer;
J -* 138 und
rascher) ztz
Du hast al-le-weil
*
g'sagt, du
nimmst
'
mi,
s *
(
ja
wenn der
du
hast
C_f)
So m-mer
r
kommt.
$ Der
Som - mer
ist
ge
- ko m — men,
P S ^
schön's
Schaf-z'/, nimm mi
mt nidn mmge
— nom
—
nur.
Wiederum wegen ähnlicher Grundstimmung entstand eine dritte Redaktion durch Kontamination mit einem anderen Liebeslied15, von dem neben der neuen Melodie nur die 1. Strophe übernommen wurde. Diese Redaktion findet sich heute vor allem in Franken, Hessen, der Rheinpfalz und Luxemburg 16 und wurde wegen des Marschrhythmus' anscheinend besonders durch das Militär verbreitet: (Qu. : übermäßige
Quart tiefer. J um 92)
2. Ins Kloster wollt sie gehen, will werden eine Nonn'! |: So muß ich die Welt durchreisen, bis daß ich zu ihr komm 1 7 !: | 13 14
15 16
17
Erk-Böhme Nr. 552 a; vgl. v. Ditfurth, Frank. Vldr. II, S. 20 f. Nr. 22. Quelle: D V A Mag 47, Nr. 1660, aufgenommen vom Verf. 1957 von Frau Kübler und deren Mutter aus Solymar bei Budapest, jetzt in Schwab. Hall. Erk-Böhme Nr. 683; die Str. findet sich u. a. auch bei Erk-Böhme Nr. 527 a, Str. 3. Vereinzelt auch in anderen Landschaften, wie z.B. Ostpreußen: Roese, Spinnstubenlieder S. 139 ff., Nr. 14. Quelle: D V A Mag 73, Nr. 2350, aufgenommen vom Verf. 1959 in Windheim bei Hafenlohr/Unterfranken.
6
Hinrich Siuts
Diese drei stark variierten Formen eines Liedes sind wegen ihrer verbreiteten Formeln, Wendungen, Strophen 18 und einiger Formgesetzlichkeiten typisch für eine bestimmte Liedkategorie, deren einzelne Fassungen nicht nur variieren, sondern auch mit anderen Typen Kontaminationen eingehen können, wodurch — wie bei den angeführten Beispielen — besondere Redaktionen entstehen. Diese Kategorie möchte ich ,stilechtes Volkslied' nennen. Ich bin mir dabei im klaren, daß dieser terminus wegen seiner Verbindung mit dem wertenden ,echt' keine sehr glückliche Prägung ist. Aber trotz jahrelanger Beschäftigung mit diesem Problem vermag ich keine treffendere Bezeichnung zu finden, die den realen Gegebenheiten gerecht wird. ,Stilechtes Volkslied' beabsichtigt keine Wertung des Liedes an sich, wie sie z. B. beim ,echten Volkslied' Wioras zu finden ist 19 , sondern weist es nur einer bestimmten stilistischen Kategorie des Liedes zu, neben der noch andere mit mindestens dem gleichen Wert für den Volksgesang stehen. Schließlich zeigten die Beispiele, daß ein Volkslied nach verschiedenen Melodien gesungen werden kann. Diese Feststellung gilt für fast alle Lieder, was die Erforschung eines einzelnen Liedes, das notwendigerweise aus Text u n d Melodie besteht, ungemein erschwert. Denn grundsätzlich kann man einen Typ entweder unter dem Aspekt des Textes oder dem der Melodie aufstellen. Im ersten Fall sind zu einem relativ einheitlichen Text die verschiedenen Melodien in ihrer Herkunft und Verbreitung — auch zu anderen Texten — zu untersuchen, im zweiten zu einer Melodie die verschiedenen Texte. Im folgenden wird der erste Weg beschritten. Neben dem stilechten Volkslied gibt es stilistisch eine zweite Kategorie, zu der das in ganz Deutschland verbreitete und noch heute gern gesungene Abschiedslied ,Wie die Blümlein draußen zittern' gehört 2 0 : (Qu.
: kleine
Terz tiefer;
J = um 66,
gedehnt)
Hu J'ejtt JTJij t J jlp^l jin',rti{ > jinTfn t 4 H— i '
Wie Und
die du
(8) Ach, bleib bei
Blüm - /am willst mir
mir
und
dreu-ßan z/t — tarn 's Herz er - bit - tarn,
geh
nicht
fort,
in und
der du
mein
A — willst
Herz
bend-füf — te Schon wie-der
ist ja
ja
18
19
dem
j
Hei-mat
Wehn. gehn.
-
ort
rt
dain
L-e
Hei
—
mat
ort.
Vgl. O. Stückrath, Deutsche Volksliedwanderstrophen, in: Euphorion 20 (1913) 8—38, 303—332. Wiora meint in seinem Buch Das echte Volkslied (1950) S. 39, der Rahmenbegriff Volkslied umfasse drei Arten: 1. die im Volk entstandene = die genuine, 2. die vom Volk als Eigentum behandelte = die heimische, 3. die, welche seiner Eigentümlichkeit oder der Grundschicht am besten Ausdruck gebe = die stileigene. In jedem Lied sei nun ein
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
7
Die Sprache wirkt gekünstelt, man merkt ihr die literarische Herkunft 2 1 aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an. Zitternde Blümlein, Wehen der Abendlüfte, verbittertes Herz, Heimatort — die Ausgangsform hatte dafür noch ,der schönste O r t ' — sind Ausdrucksformen, die in der schlichter gehaltenen Kategorie des stilechten Volksliedes nicht erscheinen, weswegen zu ihr auch nur geringfügigere Beziehungen möglich sind. Der Aufbau des Liedes in seinen folgenden Strophen ist derart einmalig und aufeinander bezogen durchgeführt, daß der Variierung in mündlicher Tradition gewisse Grenzen gesetzt sind. Lieder dieser Art bezeichnet man am besten mit dem eingebürgerten Begriff ,volkstümliche Kunstlieder'22. Diese nebeneinanderstehenden stilistischen Kategorien sind der Funktion nach jedoch gleichwertig, sind also beide Volkslieder und werden von den Sängern nicht unterschieden. Innerhalb ihres Volksliedschatzes 23 dominiert das volkstümliche Kunstlied, das von den Sängern in der Regel höher geschätzt wird als das stilechte Volkslied. Dessen Bevorzugung durch die Wissenschaft entspricht also nicht dem Geschmack des Volkes. Zwischen dem stilechten Volkslied und dem volkstümlichen Kunstlied liegt jedoch noch eine Gruppe, bei der man zweifelt, ob sie noch der einen oder schon der anderen Kategorie zuzurechnen ist. Es sind die Lieder, bei denen der Assimilationsprozeß an das Formgut des stilechten Volksliedes noch nicht vollendet ist. Man findet sie z. B. häufig bei Liebes- und Abschiedsliedern, in denen die 1. Strophe eventuell noch eindeutig die Hand eines Dichters verrät, während die folgenden Wanderstrophen sind, die in vielen Liedern erscheinen. Genetisch kann man nämlich bei den stilechten Volksliedern zwei Schichten unterscheiden. Zum einen diejenige, die sich aus volkstümlichen Kunstliedern entwickelt hat, und daneben eine andere, die von vornherein nur mit den Formprinzipien aus dem vorhandenen vorgeprägten Motivmaterial erstellt wurde. In ihren Endformen sind beide Schichten ohne Kenntnis der Vorformen nicht mehr zu unterscheiden. Neben die beiden Hauptgruppen des Volksliedes tritt im Volksgesang außer dem Kirchen- und Kunstlied noch das Gesellschafts- oder Modelied, das auch den
20
21
22
23
Mehr oder Minder dieser drei Arten enthalten. Diese Differenzierung nützt jedoch nur einer historischen und stilistisdi-aesthetischen Betrachtungsweise, nicht der funktionellen, die allein der Bedeutung der Lieder im Volksgesang gerecht wird. Quelle: D V A Mag 103, N r . 3332, aufgenommen vom Verf. 1960 von Familie Rathmann; s. weiter unten S. 10 ff. Verf. C. O. Sternau = O. J . Inkermann, um 1840; Hoffmann-Prahl, Unsere volkstümlichen Lieder, 4. Aufl. Leipzig 1900, N r . 1267; Köhler-Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar I, Halle 1896, Nr. 167 (im Kommentarteil Abdruck des Originals). Er ist hervorgegangen aus der Bezeichnung ,volkstümliche Lieder', die wohl erstmals 1836 Frh. von Erlach in seinen Volksliedern Bd. 5, S. 5 prägte, die sich aber erst durch den Buchtitel von Hoffmann v. Fallersleben, Unsere volkstümlichen Lieder ( l . A u f l . 1857, 4. Aufl. durch Prahl 1900) und F. M. Böhmes Volkstümliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert (1895) durchsetzte. 1906 erschienen dann J . Meiers Kunstlieder im Volksmunde, womit die Voraussetzungen für die Wortprägung ,volkstümliche Kunstlieder' gegeben waren. Diese beiden stilistischen Schichten sind in allen Gruppen des Volksliedes, wie z. B. erzählenden Liedern, Liebes-, Abschieds- und Kinderliedern zu finden.
8
Hinridi Siuts
Schlager umfaßt, gekennzeichnet durch seine fast unveränderliche Form. Es wird von den Sängern normalerweise nicht als ihr Lied oder als altes Lied bezeichnet, also von den Volksliedern abgehoben. Trotz dieser reinlichen Trennung in einzelne Kategorien des Volksgesanges muß man sich jedoch stets vor Augen halten, daß unentwegt Beziehungen untereinander stattfinden, wodurch in vielen Einzelfällen eine Klassifizierung ungemein erschwert wird. So ist z. B. in früheren Jahrhunderten aufgrund der dünnen Quellenlage manchmal nicht klar ersichtlich, ob ein Mode- oder Kunstlied oder bereits ein volkstümlich gewordenes Kunstlied vorliegt, da in diesen beiden Fällen die Grenzen am meisten fließen. Die Stellung der einzelnen Liedkategorien im Volksgesang und ihr Verhältnis zueinander soll die folgende Skizze deutlich machen: Stilechtes ^
^ Volkstümliches ^
Volkslied
y Mode- ^
U
^ Kunst- ^
lled
Kunstlied
1
Volkslied
$ Kirchen-
Üed
lied
Volksgesang
Das Repertoire ist von Generation zu Generation verschieden. Die heute Siebzigjährigen und Älteren singen besonders gerne die volkstümlichen Kunstlieder der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einschließlich der Heimatlieder, Modelieder, Soldatenlieder ihrer Zeit und stilechte Volkslieder. Die Fülle der Modelieder zeigt ein etwa um 1880 entstandener Liederkranz 24 . Jede Zeile ist ein Liedoder Refraineingang 25 : (Qu.'.
Quint
tiefer
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Sprechrhythmus)
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Quelle: D V A Mag 82, Nr. 2629, aufgenommen vom Verf. 1959 von M. Kuchler aus der Gegend von Ellwangen/Württemberg. Die am Zeilenende gebotenen Abkürzungen bedeuten: Böhme = Fr. M. Böhme, Volkstümliche Lieder der Deutschen..., Leipzig 1895; H . P. = Hoffmann-Prahl, Unsere volkstümlichen Lieder, 4. Aufl. 1900; K. = Erk-Silcher, Schauenburgs allgemeines deutsches Kommersbuch, 50. Aufl. Lahr o. J.; L. = R. Link, Waldlerisch g'sunga II, Grafenau 1953; Refr. = Refrain; W. = Als der Großvater die Großmutter nahm (1.—4. Aufl. von G. Wustmann), 5. Aufl. von A. Kippenberg und Fr. Michael, Leipzig o. J.
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied Wo ist des Deutschen Vaterland Stimmt an mit hellem Chor Ich nehm ein Gläschen in die Hand Gaudeamus igitur Im tiefen Keller sitzt ich hier Verflucht und zugenäht Ein freies Leben führen wir Wenn's Mailüfterl weht Es braust ein Ruf wie Donnerhall Ach, komm mein Schatz gesdiwind Es singt im Hain die Nachtigall Du bist verrückt mein Kind Der Schäfer schmückte sich zum Tanz Wenn der Mondschein schien so schön Wir winden dir's den Jungfernkranz Ach, wie ist's möglich denn Wenn ich dir in die Äuglein gudi Du holder Abendstern Ei Mädle ruck, ruck, ruck Das ist der Tag des Herrn Soweit des Deutschen Zunge klingt Was kommt dort von der Höh Wenn der Hund mit der Wurscht übern Eckstein springt Am grünen Strand der Spree Wer weiß, ob wir uns wiederseh'n Die Welt ist kugelrund Es sah ein Knab' ein Röslein stehn Nachts um die zwölfte Stund Was fang ich armer Teufel an Es hat hier keinen Zweck O heiliger Sebastian Mein Schlüssel der ist weg Ich komme vom Gebirge her Es hat nicht sollen sein Wenn ich einmal der Herrgott war So mutterseelenallein Es lebe hoch die Turnerei Juchheirassasa sa An der Frau, an der Magd, an der Bank vorbei Die Wachtparad ist da Mein Lieb ist eine Alplerin Leb wohl, du altes Haus Jetzt leg ich meinen Hobel hin Der Liederkranz ist aus!
9 ( H . P . 1192) (H. P. 1078 a) (H. P. 653) (H. P. 480) (K..S.215) ( H . P . 313) (Böhme Nr. 256) (H. P. 373)
(H. P. 221) ( H . P . 1313) (H. P. 26) ( H . P . 838) (H. P. 155) ( H . P . 1192) ( H . P . 1199) (Refrain) (Refrain) ( W „ S. 538; L., 11,31) (H. P. 986) (H. P. 906) ( H . P . 1181b)
(H. P. 640) ( H . P . 1228 b)
(Refrain) (H. P. 864) (H. P. 1056)
Unter den 42 aufgeführten Liedern sind aber nur wenige, die von der Generation der Fünfzigjährigen gesungen werden. Bei ihnen dominieren die volkstümlichen Lieder der zwanziger und dreißiger Jahre und v o r allem Soldatenlieder des zweiten Weltkrieges, unter denen sich auch stilechte Volkslieder wie ,Der Jäger aus K u r p f a l z ' oder das Lied von der schönen Müllerin befinden. Gerade an letzterem zeigen sich in Melodie und Refrain oftmals Unterschiede zur Singweise des gleichen Liedes bei ihren Eltern.
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Hinrich Siuts
Bei den Dreißigjährigen und Jüngeren wird des öfteren außer den stets wechselnden Modeliedern oder Schlagern nichts mehr gesungen. Aber gerade hier ist eine verallgemeinernde Aussage nicht möglich, da sich bei genauerem Forschen einige Gegenden doch noch als ungemein liedreich — auch bei der Jugend — erweisen. Die heutige Situation entspricht in Süddeutschland im wesentlichen derjenigen der dreißiger Jahre. In Bayern, Franken, Württemberg und Hessen wird übereinstimmend berichtet, daß bis zum Beginn dieser Jahre abends und sonntag nachmittags auf den Straßen und in den Feldern, in den Wirtshäusern und im ,Vorsitz', d. h. im kleineren Rahmen vor den Häusern, noch viele Volkslieder gesungen wurden. Dann sei man davon abgekommen, und durch Hitlerjugend, BDM und Wehrmacht verbreitetes Liedgut wäre erklungen. Heute tritt das alte Lied meistens nur abends zu Hause, im Wirtshaus oder beim Tanz auf. — In Norddeutschland trat dieser Umbruch im intensiven Singen des Volksliedes bereits am Ausgang des 19. Jahrhunderts ein. Der knappe Uberblick zeigte — abgesehen von den Modeliedern — das Nebeneinander der stilechten Volks- und der volkstümlichen Kunstlieder, wobei die letzteren überwogen und von Generation zu Generation einem starken Wechsel unterworfen waren, denn die Jüngeren lehnten diese Lieblingslieder der Älteren ab, die nun ihrerseits wieder deren Liedgut verdammten. Diese recht allgemein gehaltenen Feststellungen sollen im Folgenden an Repertoire- und Liederbuchuntersuchungen erhärtet werden. An den Anfang möchte ich einen Sänger stellen 26 , dessen 814 Lieder ich 1959 und 1960 in der Gegend von Sdiwäbisch-Hall aufnehmen konnte. In diesem Fall ist es notwendig, ausführlicher auf den Lebensweg des Mannes einzugehen, da dieser wesentlich für die Zusammenstellung seines Repertoires und seine Einschätzung der einzelnen Lieder ist. Der Sänger wurde 1888 in Chicago geboren, wohin seine Eltern erst wenige Jahre zuvor ausgewandert waren. Der Vater arbeitete als ,Weißputzer' (ein Spezialist im Decken weißen). Im Alter von anderthalb Jahren zog der Junge mit seinen Eltern wieder in ihre Heimat, das Hohenlohische, zurück, wo der großelterliche Hof übernommen wurde. Er besuchte die Volksschule und mußte nach dem frühen Tode seines Vaters bis zur Wiederverheiratung der Mutter auf dem Hof bleiben. Seine auffallende musikalische Begabung und die enorme Fähigkeit, Gehörtes rasch zu behalten, ließen ihn schon früh viele Lieder lernen. Die Quellen waren neben den Liedern des Dorfes vor allem auch die seiner Eltern, die manches von Deutschen in Amerika gelernt hatten, und sehr viel hat er auch seinem Großvater abgehört, der ein reicher Schäfer war. Daneben lernte er viele Soldatenund Reservistenlieder von den Dorfburschen, die ihre Militärdienstzeit abgeleistet hatten. Mit achtzehn Jahren trat er dem Gesangverein bei, dem er noch heute angehört. Hier erlernte er ebenfalls manche Lieder.
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Karl Rathmann. Storchsnest, Post Geisseihardt bei Oehringen/Hohenlohe.
D a s Verhältnis von Volkslied und M o d e l i e d
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Zwanzigjährig wurde er Portier, „um Geld zu verdienen". Er arbeitete in Heidelberg, Mannheim, Frankfurt a. M. und in der Schweiz und lernte überall die Lieder, die ihm gefielen. Beim Kriegsausbruch 1914 mußte er die Schweiz verlassen und wurde in Ulm eingezogen. Dort kam er unter anderem mit Soldaten aus der Reutlinger Gegend zusammen, von denen er wiederum viele — und oft auch recht anrüchige — Lieder seinem Bestand einverleibte. Nach dem Kriege konnte er, von der Westfront heimgekehrt, einen eigenen Bauernhof zu einem günstigen Preis erwerben. Seiner Liebe zum Lied blieb er auch weiterhin treu. So war er nicht nur ein sehr aktives Mitglied des Gesangvereins, sondern auch der Tonangebende auf dem Tanzboden und bei anderen Zusammenkünften. Vor und während des zweiten Weltkrieges übernahm er noch manche Soldaten- und Parteilieder von seinen Söhnen. Er besitzt eine — für einen Bauern — erstaunliche Bibliothek und verfügt darin auch über eine Reihe von Liederbüchern. So finden sich bei ihm acht Soldatenliederbücher aus dem ersten und drei aus dem zweiten Weltkrieg, vier Bücher mit dem Liedgut der N S D A P , fünf handschriftliche Liederbücher, zehn Gesellschaftsliederbücher, fünf alte und neue Schulliederbücher, vier volkskundliche Anthologien, drei Kommersliederbücher, zwei Bände mit geistlichen Gesängen, vier Konvolute mit Einzeldrucken und acht Sängerliederbücher. Alles zusammen ergibt das die stolze Zahl von 56. Doch benutzt er die darin abgedruckten Lieder nur als Korrektiv seiner vom Hören erlernten Lieder, von denen er in der Regel die meisten Strophen beherrscht, auch wenn es sich um mehr als achtstrophige Gebilde handelt. Beim Vortrag bemühte er sich, einen sinnvollen Text und eine richtige Melodie zu bieten; trotzdem war auch er nicht gegen Zersingungserscheinungen gefeit. Als geübter Sänger liebt er die Lieder mit großem Tonumfang, wobei er besonders die hohen Tonlagen schätzt, um, wie er sagte, „mehr Effekt" zu haben. Dies sind vor allem Gesangsvereinslieder oder volkstümliche Kunstlieder in Gesangvereinsätzen, die er auch gegen den Willen seiner Kinder bewahrt wissen möchte und die er den stilechten Volksliedern bei weitem vorzieht. Diese sind ihm meist zu „leirig" und werden abwertend mit „un das is a so an alt's Ding" kommentiert. Trotzdem versteht er es glänzend, wenn ihm ihr Text unpassend erscheint, ihn der Zeit entsprechend „umzuorgeln". So machte er aus dem Eingang eines beliebten Vierzeilers „Wenn mi mein Leben nimmer freut / dann nehm ich mir ein Judenweib" nach 1945 aus „Judenweib" ein „junges Weib", um nur ein Beispiel zu nennen. Im übrigen werden diese Lieder, wie es im Schwäbischen heißt, „wild" gesungen, d. h. außerhalb und oftmals auch gegen das strikte Verbot der Gesangvereine. — Der Sänger ist in seiner Gemeinde hochgeachtet und wird von vielen um Rat und Tat gebeten. Er steht also völlig im Leben seiner Umgebung und gilt keineswegs als Außenseiter. Gerade wegen seiner bewegten Jugend und der überall erlernten Lieder, deren Herkunft er in der Regel noch anzugeben vermag, erscheint mir sein Repertoire in gewisser Weise typisch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Untersuchung der 814 Lieder ergibt folgende Gruppierung:
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150 sind stilechte Volkslieder, 51 volkstümliche Kunstlieder, aber mit so starken Variationserscheinungen, daß ihre Zuordnung zur vorgehenden oder nachfolgenden Gruppe schwer fällt. Dies ist die der 455 volkstümlichen Kunstlieder. Ihr folgen: 124 Kirchen- und Weihnachtslieder, 16 Modelieder und alte Schlager (wie z . B . ,Es war in Schöneberg, im Monat Mai'), und 18 Partei- und HJ-Lieder des dritten Reiches.
Nehmen wir die 51 nicht eindeutig einzuordnenden Lieder zu den 150 stilechten Volksliedern hinzu, so steht diesen 201 eine Zahl von 613 volkstümlichen Kunst-, Mode-, Kirchen- und Parteiliedern gegenüber. Dies bedeutet, daß nur ein Viertel des Repertoires stilechte Volkslieder sind. Schlägt man, um genauer zu sein, die zweifelhafte Gruppe zu den rein volkstümlichen Kunstliedern und Modeliedern, so ergibt sich sogar, daß weniger als ein Fünftel aller Lieder als stilecht bezeichnet werden kann. Der Prozentsatz der Modelieder und Schlager, die fast alle vor 1920 entstanden sind (mit Ausnahme der Parteilieder), ist deswegen so gering, weil der Sänger aus dem Gesangverein mit wenigen Ausnahmen nur volkstümliche Kunstlieder übernahm. Immerhin hat er davon dort etwa 6327 gelernt, eine im Vergleich zu anderen Landschaften sehr große Zahl, die damit zu erklären ist, daß gerade im Südwesten Deutschlands die Silcher-Sätze von Volksliedern gerne in Vereinen gesungen wurden. Dem Namen nach kannte er noch weitere Schlager, aber er bezeichnete sie nicht als seine Lieder und mochte sie auch nicht singen. Vergleichen wir jetzt dieses Ergebnis mit einigen Untersuchungen aus anderen Landschaften. Zwar gibt es eine ganze Reihe von landschaftlichen Anthologien und noch näher begrenzten Spezialerhebungen, doch davon krankt der größte Teil für unser Ziel daran, daß in der Regel nur die altertümlichen Lieder aufgenommen und nicht nur die Modelieder, sondern auch viele volkstümliche Kunstlieder als wertlose Gebilde fortgelassen wurden. Um auch die unterschiedliche Situation in einzelnen Landschaften wenigstens andeuten zu können, werden je zwei Beispiele aus Lothringen, Westfalen und den deutschen Siedlungsgebieten in Ungarn genommen. Spieser28 hat 1934 in mustergültiger Weise das Liedgut des Arbeiter- und Kleinbauerndorfes Hambach, Kr. Saargemünd, durch eine Befragung von 300 Gewährspersonen erarbeitet und ist dabei auf einen Gesamtbestand von 790 Liedern gekommen. Von den 300 Befragten fielen jedoch etwa 100 aus, da sie zu wenig kannten. Von dem verbleibenden Rest umfaßte der größte Liedbestand eines Einzelsängers 450, der zweitgrößte 259 Nummern, und diesen folgten noch fünf weitere mit jeweils über 200. Die Analyse der Lieder ergab:
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Im Verein lernte er daneben noch Kirchen- und Weihnachtslieder in Chorsätzen, die in der oben genannten Zahl nicht enthalten sind. Fr. Spieser, Das Leben des Volksliedes im Rahmen eines Lothringer Dorfes (Hambach, Kr. Saargemünd), Bühl/Baden 1934.
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
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220 stilechte Volkslieder, 26 zweifelhafte, 480 volkstümliche Kunstlieder 55 Modelieder und 9 Kirchenlieder.
Rechnet man die zweifelhaften Lieder zu den stilechten Volksliedern, so ergibt sich, daß in diesem Kerndorf einer reichen Liedlandschaft weniger als ein Drittel aller Lieder stilecht ist, schlägt man sie zu den volkstümlichen Kunstliedern, zeigt sich ein noch schlechteres Verhältnis. In Ittenbach^ 2 9 1932 erschienener Studie über die Mehrgesetzlichkeit sind 10 handschriftliche Liederhefte von sozial und altersmäßig unterschiedenen Einzelpersonen aus mehreren Landschaften Lothringens abgedruckt. Diese Liederhefte dürfen nun — vor allem, wenn sie in jüngerer Zeit geschrieben wurden — nicht mit dem Gesamtrepertoire der Sänger gleichgesetzt werden, da sie ins Heft oder Buch nur die Lieder eintragen, die ihnen besonders gefallen. Der Umfang der Liederhefte schwankt zwischen 96 und 43 Nummern mit einer Ausnahme, die 189 aufweist. Nur in drei Fällen kann etwa ein Drittel des Gebotenen als stilecht beurteilt werden, in den übrigen haben diese einen Anteil von x / 4 — 1 / 1 0 , wobei die niedrigsten Zahlen in Kleinstädten und bei Jugendlichen im Alter von etwa 20 Jahren zu finden sind, die eine Vorliebe für das sentimentale Lied zeigen. Aus Westfalen liegt von M. Bringemeier 30 aus dem Jahre 1931 die Untersuchung des Repertoires einer Sängerin aus der katholischen Gemeinde Riesenbeck vor. Sie verfügte neben 17 Kinder- und Wiegenliedchen über 185 geistliche und weltliche Lieder. Bei der starken Rolle des geistlichen Kunstliedes sei dieses extra gezählt. Dabei ergibt sich dann ein Verhältnis von 41,66 % geistlichen Liedern zu 41,66 % volkstümlichen Kunstliedern und 16,66 % stilechten Volksliedern. Das von Hagemann 3 1 im gleichen J a h r untersuchte evangelische Nordravensberger Gebiet weist 160 häufiger gesungene Lieder auf. Audi hier halten sich geistliche und volkstümliche Kunstlieder mit je 45 % die Waage, während das stilechte Volkslied nur einen Anteil von 10 % aufweisen kann. An Hand von persönlichen Aufnahmen und handschriftlichen Liederbüchern 32 habe ich mich bemüht, das Liedgut der ungardeutschen Gemeinde St. Peter bei Oedenburg/Heideboden für die Zeit vor der Aussiedlung 1945 festzustellen. Es beträgt — außer 20 bis 30 ungarischen Liedern — etwa 340 Nummern. Hier stehen 6 /io katholisch-geistliche Lieder und 3/io volkstümliche weltliche Kunstlieder
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30 31 32
M. Ittenbach, Mehrgesetzlichkeit. Studien am deutschen Volkslied in Lothringen, Frankfurt a. M. 1932. M. Bringemeier, Gemeinschaß und Volkslied, Münster 1931. G. Hagemann, Bäuerliche Gemeinschaftskultur in Nordravensberg, Münster 1931. D V A : A 192 7 9 3 — 8 3 6 ; A 192 9 0 4 — 9 1 1 ; A 199 4 9 8 — 5 9 9 ; F 4055; F 4 0 5 6 ; Mag 22, 23, 45, 8 6 ; V 2 1900 = Hs. Ldb. des Stefan Masdll, publiziert durch W . Suppan, Eine Liederhandschrift aus St. Peter am Heideboden (Westungarn), in: Südostdeutsches Archiv 8 (München 1965) 152—176.
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nur 1 / 1 0 3 3 stilechten Volksliedern gegenüber. Der starke Anteil geistlichen Liedgutes prägt vor allem auch die Melodien und die Vortragsweise der weltlichen Lieder, bei denen eine starke Vorliebe der Sänger für Wiener-Lieder und Couplets festzustellen ist. Das Liedgut der Ungardeutschen der Gemeinde Mösz, Komitat Tolna (Schwäbische Türkei), wo 1930 die eine Hälfte der Einwohner aus Deutschen und die andere aus Slowaken und Ungarn bestand, hat 1964 I. Weber-Kellermann 3 4 dargestellt. Außer 19 ungarischen Liedern kommt sie zu einem Bestand von 194 Typen, bei denen das religiöse Lied keine starke Rolle (26 Lieder) spielt. Hier beträgt allerdings der Anteil der stilechten Volkslieder ein Viertel. Fassen wir die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zusammen, so zeigt sich unter Beachtung der unterschiedlichen landschaftlichen Verhältnisse, daß nur in wenigen Fällen die stilechten Volkslieder ein Drittel des Repertoires ausmachen. In der Regel muß man einen Anteil von 1 l i bis ' / 5 noch als recht hoch bezeichnen; im übrigen schwankt er zwischen 1 / s — 1 /i 0 3 °Dabei ist festzuhalten, daß meistens gerade die guten Sänger dem in Text und Melodie sentimental gehaltenen volkstümlichen Kunstlied den Vorzug geben und eine Auswahl daraus als ihre liebsten Lieder an den Beginn des Vortrages setzen. Es mag erstaunen, daß die bei den Verhältnisrechnungen dem volkstümlichen Kunstlied zugezählten Modelieder immer nur einen geringen Prozentsatz ausmachten. Dies ist aus der schon beim ersten Repertoire erwähnten Haltung der Sänger zu verstehen, daß sie diese Lieder, obwohl sie sie im Gesangverein oder auch bei abendlichen Zusammenkünften singen, nicht als ihre eigenen Lieder bezeichnen und deswegen dem Aufzeichner auch nicht mitteilen, wenn sie nicht besonders darauf angesprochen werden. Das bislang behandelte Material stammt aus dem Ende des 19. und vor allem der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und das 18. Jahrhundert sind wir weit schlechter unterrichtet. Zwar wurde seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach dem Aufruf Herders in vielen Landschaften gesammelt und auch publiziert, aber die Sammler bemühten sich in der Regel nur um stilechtes Volkslied mit besonderer Berücksichtigung der Balladen und ließen oftmals alles andere außer acht, eine Situation, die bisweilen auch heute noch anzutreffen ist. Dennoch können wir — unter Vorbehalt — doch einiges über das Repertoire jener Zeit aussagen, da wir seit dem 18. Jahrhundert aus mehreren Landschaften handschriftliche Liederhefte überliefert haben. Diese sind nun allerdings in der Regel von Gebildeten, auf jeden Fall aber schon des Schreibens Kundigen angelegt, die sich darin aus einer Fülle des Angebots die für ihren eigenen Geschmack schönsten Lieder notiert haben. Insofern geben die Hefte, die
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Diesen wurden bei der Berechnung die zweifelhaften Lieder zugerechnet.
34
I. W e b e r - K e l l e r m a n n ,
Der
Volksliedbestand
in
einem
ungardeutschen
Dorf,
in:
Jb.
d. österr. Volksliedwerkes 13 ( 1 9 6 4 ) 9 8 — 1 3 0 . 35
Diese Zahlen können natürlich nichts über die Intensität des Singens einzelner Lieder aussagen.
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
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in der Regel zwischen 4 0 — 8 0 Nummern enthalten 36 , kein eindeutiges Bild von dem Gesamtrepertoire des Einzelnen, aber sie vermögen doch Tendenzen aufzuzeigen. U n d so fällt eine Freude an Mode- und volkstümlichen Kunstliedern auf, die den weitaus größten Teil des Inhalts ausmachen. In sechs von mir überprüften Liederbüchern aus diesem Zeitraum 3 7 betrug der günstigste Anteil des stilechten Volksliedes etwa 1 / 5 3 8 .
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Ditfurth berichtet in seiner Vorrede zu den Fränkischen Volksliedern, daß die meisten der ihm bekannten Sänger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Repertoire von etwa 100 Liedern besaßen. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, doch dürfte ihre Durchsicht das Ergebnis nicht wesentlich verändern. Ausgewählt wurden folgende Liederbücher und -hefte: 1. 2. Hälfte des 17. Jh.s: A 128 163—180. Hs. Ldb. aus dem Besitz Wielands, Cod. 384 Nr. 28 aus dem Nachlaß A. von Arnims, 599 Seiten. Wohl von einem Studenten angelegt, der Beziehungen zu Schlesien und Münster hatte. Eine Gesamtinhaltsliste wurde im D V A nicht angelegt; abgeschrieben wurden nur 18 Lieder. Hiervon sind 17 volkstümliche Kunstlieder, 1 steht zwischen den beiden Volksliedgruppen. 2. a. 1760 ff. Hs. Ldb. des Jochen Hinrich Beulcke aus Voigsthagen (Kr. Greifenberg oder Kr. Naugard), Pommern. A 191 869—899, 110 Bll. Es enthält neben vielen Gebeten vor allem Flugblätter mit Moritaten, verwunderlichen Ereignissen und Geschichten. Von den Liedern sind 3 stilecht, 20 volkstümliche Kunstlieder (fast alles Flugblätter), 1 zweifelhaft und 8 geistliche Lieder. 3. a. 1779 ff. Hs. Ldb. des Joh. Nie. Baumert aus Gellershausen Kr. Hildburghausen (jetzt im Besitz des Instituts für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin). A 200 854—863. 185 Seiten und 48 verlorene. Der Sdireiber war gebildet. Aufgrund eines Melodienvergleichs muß Ditfurth das Liederbuch für seine Editionen als Quelle benutzt haben. Auszuwerten waren: 3 stilechte, 72 volkstümliche Kunstlieder, 1 zweifelhaftes und 2 geistliche Lieder. 4. a. 1794 ff. Brienzwiler Liederheft aus der Schweiz. A 203 300—340. Das Liederheft enthält 43 Lieder, von denen eines in die Abschriften nicht aufgenommen wurde. Es fällt eine Vorliebe für Soldatenlieder, historische Lieder und das Erotische auf. Von den abgeschriebenen Liedern sind: 2 stilecht, 34 volkstümliche Kunstlieder, 4 zweifelhaft, 2 obszöne Lieder. 5. a. 1800 ff. Hs. Ldb. des Hans in der Buochen aus Prättigau/Graubünden. A 205 093—232. 181 Seiten und 4 verlorene. Die vorhandenen Seiten enthalten 139 Lieder. Davon sind: 1 stilecht, 136 volkstümliche Kunstlieder, 2 zweifelhaft. 6. a. 1810 ff. Ersteiner Ldb. von Babst/Elsaß. A 127 814—854. 184 S. In Abschrift vorhanden sind:
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Hinrich Siuts
Ein ähnliches Verhältnis wird uns auch in den zuvorliegenden Jahrhunderten wiederbegegnen, doch gehen wir zunächst noch weiter bis ins 14. Jahrhundert zurück. Für diese Zeit berichtet die Limburger Chronik 3 9 neben den Hauptereignissen der großen Politik von den stets wechselnden Kleidermoden und Liedern. So heißt es unter dem J a h r e 1 3 5 6 : „Item in dieser Zeit sang man dies Tagelied von der heiligen Passion und war neu, und machte es ein R i t t e r : O starker G o t t , all unsre N o t etc." Für 1357 wird berichtet: „Item in dieser Zeit sang und pfiff man in allen diesen Landen dies Lied: ,Mancher wähnet, daß niemand besser sei denn e r . . U n d so geht es weiter für die J a h r e 1359, 1360, 1361, 1363, 1367 u. s. f., wo jeweils andere Lieder im Gesang dominieren. E t w a für 1370 wird von einem aussätzigen Barfüßermönch erzählt: „Der machte die besten Lieder und Reihen in der Welt, von Gedichten und von Melodien, daß dem niemand auf Rheinesstrom oder in diesen Landen wohl gleichen mochte. U n d was er sang, das sungen die Leute alle gern, und alle Meister, Pfeifer und andere Spielleute führten den Sang und Gedichte." D a v o n werden dann drei aufgeführt, die alle den Eindruck eines Modeliedes machen. Das bedeutet, daß schon im 14. Jahrhundert neben die wohl vorhandenen langlebigeren Volkslieder Modelieder von kürzerer Dauer traten, die von allen gern aufgenommen und gesungen wurden 40 . Wie sieht es nun mit diesem Verhältnis zur „Blütezeit des Volksgesanges im 15., 16. und 17. Jahrhundert" 4 1 aus? Repertoires Einzelner, von Gemeinden oder Landschaften existieren nicht. Das Liedgut dieser Zeit ist uns nur aus Handschriften, Chroniken, Flugblättern und Liederbüchern überliefert, von denen vor allem die letzteren einen gewissen Anhaltspunkt zur Beantwortung unserer Frage bieten. Aus dem 15. Jahrhundert liegt aus seinem letzten Viertel neben geistlichen Liederbüchern wie dem Wienhäuser, die ihrer Anlage nach nur wenige weltliche Volkslieder enthalten, im Rostocker Liederbuch 42 eine von Studenten geschriebene
1 stilechtes, 86 volkstümliche Kunstlieder, 2 geistliche Lieder. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber dem Deutschen Volksliedarchiv und namentlich Herrn Dr. Brednich zum Ausdruck bringen für die Gelegenheit, die Liederbuchabschriften einzusehen, und vor allem für die Transkriptionen der Melodien von den Bandaufnahmen. 38 Im vierten Liederheft. Bei der Berechnung wurden die zweifelhaften und obszönen Lieder zu den stilechten, die geistlichen zum volkstümlichen Kunstlied hinzugenommen. 39 Die Limburger Chronik. Eingeleitet von H. Brandt, Jena 1922. 40 Fr. Ranke (Zum Begriff Volkslied im ausgehenden Mittelalter, in: Mitteilungen der Schles. Ges. f. Vkde. 33 [1933] 100—129) schlägt nach einem Überblick über die Lieder in den Hss. und Ldb. des ausgehenden Mittelalters vor, für die häufiger belegten Lieder statt „Volkslieder" „Lieder der Namenlosen" zu sagen. 4 1 Typisch für viele: P. Alpers, Alte niederdeutsche Volkslieder mit ihren Weisen, 2. Aufl. Münster 1960, S. 8. 42 Fr. Ranke, J. M. Müller-Blattau, Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben, Halle 1927 ( = Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geistesw. KL, 4. Jg., H. 5) S. 193—306.
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
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Sammlung mit 60 Nummern vor, von denen Vs der Texte stilechte Volkslieder sind. (Dort findet sich z. B. auch die älteste Fassung der ,Nachtfahrt'.) Aus der Fülle der Sammlungen des 16. Jahrhunderts können nur einige herausgenommen werden. Zwischen 1531 und 1574 erschienen — teilweise in mehreren Auflagen — drei Teile der Bergreihen 43 , die alle Liedkategorien umfassen und sich besonders an ein bergmännisches Publikum wenden. Hier können von 103 Texten 10 als stilechte Volkslieder angesprochen werden, also Vio des Gesamtinhalts. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen dann die fünf Teile von Georg Forsters Frischen Teutschen Liedlein 44 . Diese Anthologie mit insgesamt 370 Liedern enthält in ihren einzelnen Teilen unterschiedlich viele Volkslieder 4 ' und ist aus zwei Gründen für unsere Frage besonders ergiebig. Zum einen hat gerade in den ersten Teilen der Autor noch die Sorge, daß das Publikum die Lieder allzu einfach und altmodisch finden könnte, und zum andern zeigt der erhebliche Anteil erotischer Fassungen, daß der Herausgeber trotz seiner redaktioneller Arbeit eine ,ungesäuberte' Gebrauchssammlung geschaffen hat. Es finden sich neben 12 fraglichen 53 stilechte Volkslieder, so daß sie, wenn man die ersteren hinzuzieht, etwa Ve des Bestandes ausmachen. Eine in ihrem Kern häufig nachgedruckte Ausgabe ist das Ambraser Liederbuch von 1582 4 6 mit 260 Liedern, von denen Vs a ' s stilechte Volkslieder anzusprechen sind. — Unseren Überblick mag das um 1700 im Raum des Erzgebirges gedruckte „Bergliederbüchlein" 47 beschließen, das zwar recht liederlich zusammengestellt ist, aber vielleicht gerade deswegen einen guten Überblick über das im Volk gesungene Liedgut gibt. Es reicht vom bergmännischen Choral bis zum obszönen Lied und stellt altüberlieferte Volkslieder neben Gesellschafts- und Modelieder. Von den 213 Typen sind 1 / 5 stilechte Volkslieder. Wir haben versucht, das Liedgut eines Zeitraumes von 200 Jahren mit einer handschriftlichen und vier gedruckten Anthologien zu erschließen. Der Überblick ergab einen Anteil von maximal V 5 bis minimal 1 / 1 0 stilechter Volkslieder an einem Liedschatz, der im wesentlichen aus Gesellschaftsliedern und geistlichen Gesängen bestand. Eine Analyse der weiteren Liederbücher, Flugblätter und handschriftlichen Aufzeichnungen aus dieser Zeit würde dieses Ergebnis nur bestätigen. Es ist also keineswegs so, daß in der von der Forschung als Blütezeit des Volksliedes hypostasierten Zeit ausschließlich dieses erklang; denn seit dem späten Mittelalter gab es ein Nebeneinander von Volkslied und Modelied im Volksgesang wohl nicht nur der bürgerlichen, sondern auch der bäuerlichen Schichten.
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Bergreihen. Eine Liedersammlung des 16. Jh. mit drei Folgen. Hrsg. von G. Heilfurth, E. Seemann, H . Siuts, H . Wolf, Tübingen 1959. Die einzige bislang vollständige Ausgabe der Texte von M. E. Marriage, G. Forsters Frische Teutsche Liedlein in 5 Teilen, Halle/S. 1903. Die meisten stehen in den Teilen II und V. Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582, hrsg. v. J . Bergmann, Stuttgart 1854 ( = Bibl. Litt. Ver. Stuttgart Bd. X I I ) ; anastat. Neudruck Hildesheim 1962. Bergliederbüchlein. Historisch-kritische Ausgabe hrsg. v. E . Mincoff-Marriage unter Mitarbeit von G. Heilfurth, Leipzig 1936 ( = Bibl. d. Lit. Ver. Stuttgart Bd. 285). Jahrbuch f. Volksliedforsdiung X I I
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Hinrich Siuts
Zwar hat Wiora 4 8 mit einigem Recht darauf hingewiesen, daß diese Liederbücher nur die eine Hälfte des Volksliedes, nämlich die städtische, repräsentieren, während die Lieder der bäuerlichen Schichten hier fast gar nicht in Erscheinung treten und nur aus ihrem Fortleben in späteren Jahrhunderten erschlossen werden können. Dies trifft höchstwahrscheinlich in einem stärkeren Maße für die Melodien als für die Texte zu. Andererseits scheinen mir die Quellen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts dagegen zu sprechen, daß die sozialen Schichten stark gegeneinander abgegrenzte Liedrepertoires besaßen. Das traf sicher für eine Reihe von Liedern zu, deren Inhalt und Melodien eben so wesentlich der städtischen oder bäuerlichen Welt verhaftet waren, daß ihr Vortrag nur im entsprechenden Kreise sinnvoll war. Aber der größte Teil, denken wir nur an die fast unendliche Zahl von Flugblättern mit Moritaten und wunderbaren Ereignissen, wurde sowohl in der Stadt als auch auf dem Land gesungen. Im übrigen gab es zwischen ihnen bis ins 20. Jahrhundert derartig starke Querverbindungen, daß — vielleicht mit Ausnahme vieler Gesellschaftslieder 40 — aufs Ganze gesehen im Liedgut doch weitgehende Übereinstimmung herrschte, auch wenn das Land bei einzelnen Liedern länger verharrte als die Stadt. Das Nebeneinander von Volks-, volkstümlichem Kunstlied und Modelied in der bäuerlichen Welt bestätigt für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts im Elsaß Goethe, der 1771 an Herder Lieder mit folgendem Begleitschreiben sandte: „Ich habe noch aus dem Elsaß 12 Lieder mitgebracht, die ich auf meinen Streifereien aus den Kehlen der ältesten Mütterchens aufgehascht habe. Ein Glück! denn ihre Enkel singen alle: ,Ich liebte nur Ismenen'." 5 0 Hierbei handelt es sich um ein typisches Modelied der damaligen Zeit 5 1 , das im Gegensatz zu den von Goethe aufgezeichneten Liedern inzwischen längst verklungen ist. Die Repertoireuntersudiungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts erwiesen neben dem nun schon für frühere Zeiten belegbaren Nebeneinander von stilechten Volksliedern und volkstümlichen Kunstliedern, daß letztere nicht nur dominierten, sondern von den Sängern oftmals auch für die besseren und wertvolleren gehalten wurden. Wir haben unsere Untersuchung nicht auf das Volkslied beschränkt, sondern der Realität des Singens entsprechend den ganzen Volksgesang einbezogen, zu 4S
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2 . B. in seinem Beitrag Volkslied, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Aufl., Bd. II, Berlin 1960, S. 385 f. Vgl. dazu Verf. Herr Oluf, in: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift z. 90. Geburtstag Fr. v. der Leyens, München 1963, S. 229. Trotzdem sollten später noch viele Volkslieder in dieser Landschaft gesammelt werden: Aug. Stöber, Elsässisches Volksbüchlein 1. Bändchen, 2. Aufl. Mülhausen 1859; J . B. Weckerlin, Chansons populaires de l'Alsace 2 Bde., Paris 1883; C. Mündel, Elsässische Volkslieder, Straßburg 1 8 8 4 ; Elsässischer Liederkranz, 2. Aufl. Nixheim 1 9 0 2 ; KasselLefftz, Elsässische Volkslieder I (während des 2. "Weltkrieges ausgedruckte, aber nicht veröffentlichte Ausgabe); F. Wilhelm, Vieilles chansons alsaciennes, Colmar 1947; J . Lefitz, Das Volkslied im Elsaß Bd. 1 ff., Colmar—Paris—Freiburg 1966 ff. Abgedruckt in: Als der Großvater die Großmutter nahm (Wustmann) 5. Aufl. o. J., S. 217 f.; gedichtet 1766 vom Grafen von Schlieben.
Das Verhältnis von Volkslied und Modelied
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dem auch das Modelied zählt. Die Repertoireuntersuchungen zeigten die vorherrschende Rolle der volkstümlichen Kunstlieder, bei denen es sich — genetisch betrachtet — um Kunst- oder Modelieder handelt, zu denen auch der Schlager gehört 52 . Hieraus ergibt sich dessen inhaltliche und formale N ä h e zu den volkstümlichen Kunstliedern, die in der Mehrzahl weitgehend vom Zeitgeschmack bestimmt und deswegen auch einem steten Wechsel unterworfen sind. Die schon f r ü h belegbare Vorliebe der Sänger f ü r diese Lieder zeigt also bereits die Richtung an, in der sich das Liedgut entwickelt hat. Wir sind also keinesfalls berechtigt, von einem völligen Umbruch im Singen zu sprechen. Im übrigen ist es falsch, den Schlager als neue oder gar unheilvolle Liedgattung hinzustellen. Sein Alter und seine Beliebtheit kennen wir nicht nur aus der Limburger Chronik, sondern auch von der Entwicklung des Marlborough-Liedes (1709) 53 , das sich 1781 epidemiehaft verbreitete und dem James Dean- oder James Bond-Kult vergleichbare Erscheinungen, wie Stoff, K o p f p u t z , Wagen und Schmuck, hervorrief. Der ,unheilvolle' Einfluß ist bislang den vorurteilslosen Betrachtern noch nicht aufgefallen. Bedenken wir in diesem Zusammenhang nur, daß die meisten Schlager der Jahre 1933—1945 im Vergleich zu denen der vorangehenden und nachfolgenden Zeiten einen stark sentimentalen Charakter besaßen 54 und damit einen Ausgleich zu den bejahenden und kämpferischen Parteiliedern jener Jahre bildeten. Sie boten also gleichsam ein notwendiges Ventil f ü r die sonst zu kurz kommenden gefühlsbetonten Stimmungen. U n d schließlich waren es gerade die Modelieder und volkstümlichen Kunstlieder, nach deren Vorbild in den Jahren der N o t nach 1944 von einfachen Menschen neue Lieder geschaffen wurden, durch deren Vortrag sie ihrer Angst und Verzweiflung befreienden Ausdruck zu geben vermochten 55 . Die Singgelegenheiten sind — besonders nach 1948 — durch die Veränderungen der Lebensgewohnheiten stark zusammengeschrumpft, und R u n d f u n k , Fernsehen und Platten beengen sie noch weiter. Dadurch wird das lebendige Volkslied, wo sa
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Zur Definition des Begriffes, der wohl 1881 das erste Mal verwendet wurde, vgl. die vorne angeführte Arbeit von Worbs, Der Schlager S. 11 ff. Während Worbs im wesentlichen vom Inhalt und der unter kommerziellem Aspekt stehenden Gestaltung her definiert, möchte W. Suppan, Volkslied, Stuttgart 1966, S. 53 f. stärker die soziologischen Gegebenheiten in den Vordergrund stellen. — Zum Verhältnis von Volkslied und Schlager vgl. man den anregenden Aufsatz von H. Bausinger, Volkslied und Schlager, in: Jb. d. österr. Volksliedwerkes 5 (1956) 59—76. Erk-Böhme, Deutscher Liederhort II, Nr. 325; zur Geschichte und Verbreitung vgl. ferner neben anderen M. Friedländer, Das Lied von Marlhorough, in: Zs. f. Musikwissenschaft 6 (1928), 28 S.; ders. auch in Deutsche Rundschau 199 (1924) 46—65; R. W. Brednich, Eine frühe schweizerische Fassung des Marlborough-Liedes, in: Schweiz. Arch. f. Vkde. 60 (1964) 73—84; W. Brückner, „Marlhorough" als Spottlied auf Bilderbogen, in: Schweiz. Arch. f. Vkde. 60, 141 — 143. Worbs, Schlager S. 60—64; Beispiele dafür sind: „Es geht alles vorüber . . . " , „Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt'. . .", „Bei mir bist du schön . . .", „Am Abend auf der Heide . ..", „Nur nicht aus Liebe weinen . . .", „Mein Herz hat Heimweh . . . " , „Drum kauf dir einen bunten Luftballon . . . " Vgl. Verf., Das Volkslied unserer Tage, in: Zs. f. Vkde. 55 (1959) 67—84.
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Hinrich Siuts
es noch gesungen wird, immer mehr zurückgedrängt. Ferner fördern diesen Prozeß Volkslieddarbietungen auf Feiern oder Schallplatten, die in ihren bearbeiteten Chorsätzen das Lied zum schönen, aber toten Museumsstück machen 56 und durch ihre Perfektion den vielen mittelmäßigen und schlechten Sängern den Mut nehmen, noch selber zu singen. Trotz des dadurch bedingten starken Übergewichts des Modelieds oder Schlagers im Volksgesang möchte ich dennoch keinen Nekrolog halten. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert klagen Dialektwörterbuchherausgeber und Volksliedsammler, daß nun das Leben der Mundarten oder der Volkslieder in wenigen Jahren vorbei sei, und dennoch leben beide, wenn auch in gewandelten Formen, noch heute!
ss W . Wiora spricht in: Das Volkslied heute, Kassel-Basel 1959, S. 9 — 2 5 vom Untergang des Volksliedes und seinem zweiten Dasein. Bei diesem angeblichen zweiten Dasein in der Form der Volksliedbearbeitungen übersieht er jedoch, daß diese dem Volkslied das Wesentliche nehmen, nämlich die notwendige Möglichkeit des steten Wandels entsprechend der jeweiligen Umwelt.
Das Gruppenlied als Gegenstand Von ERNST KLÜSEN (Neuß) Angelockt durch ein Plakat, das ein „Concert folklorique" versprach, betrat ich eines Sommersonntagmorgens den Marktplatz eines französischen Landstädtchens. Doch ehe ich midi zum Zentrum des Geschehens durchgewunden hatte, wurde ich auf dem Vorplatz der Kirche Zeuge einer kleinen Begebenheit. Vor dem Kirchenportal wartete eine Gruppe von Männern und Frauen mittleren Alters, ein paar Kinder darunter, und schon trat eine junge Frau aus der Kirche, ihr soeben getauftes Kind auf dem Arm. Die Wartenden drängten der jungen Mutter entgegen, ihr den Weg versperrend und die Begleiter der jungen Frau warfen in dieser*. Augenblick flache Bonbons, überzuckerte Mandeln, unter die Gruppe. Während die Jüngeren die Süßigkeiten aufsammelten, wich die Gruppe etwas zurück und die Mutter zeigte ihr stolz das Kind. In der Nähe der „Groupe folklorique" angelangt, bemerkte ich etwa ein Dutzend junger Leute in grauen Lederjacken, Bundhosen, roten Westen, weißen Hemden und kleinen Lederkalotten. Sie saßen mit ihren Akkordeons vor Notenpulten und spielten „Rosen aus dem Süden". Hier wurde in unmittelbarem Nebeneinander deutlich wie verschieden das ist, was wir als Folklore zu bezeichnen pflegen: einmal das nicht für eine große Öffentlichkeit bestimmte Agieren einer geschlossenen Gruppe — Nachbarn, Freunde und Verwandte — die das Ereignis der Familienerweiterung mit einem festen Ritual zur Kenntnis — und das neue Glied damit in ihre Gruppe nahmen. Ein andermal die öffentliche, durch Plakate angekündigte und durch eine Brauerei finanzierte Trachtengruppe, eine Musik exekutierend, die mit ihrem Kostüm nichts zu tun hatte. Entwickelte die erste Gruppe eigene Initiative durch Bewältigung einer akuten Gruppensituation — Aufnahme eines neuen Gliedes der Gruppe — nach überliefertem Ritual, so standen sich beim Volkskonzert ein mehr oder minder zufällig zusammenströmendes Publikum und die initiative Gruppe aktiv Tätiger gegenüber. Kein akutes Anliegen war zu bewältigen, sondern es wurde Musik zur fakultativen Betrachtung dargeboten. An der Gestaltung gemeinsamen Lebens wirkte die Begebenheit vor dem Kirchenportal, von einer geschlossenen Gruppe im Zusammenwirken aller gestaltet. „Die Gemeinschaft freut sich bei Geburt und Hochzeit über den Zuwachs . . . schützt das Kind und das junge Paar" 1 . Ein Anschauungserlebnis dagegen vermittelt das folkloristische Konzert der Trachten1
H . Naumann, Grundzüge der deutschen Volkskunde,
Leipzig 1922, S. 79.
Ernst Klüsen
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gruppe einem Publikum, in dem jeder für sich hinnahm, was man ihm ungebeten gab. Beides bezeichnet man als „Volksbrauch", und sehr deutlich wird im Nebeneinander dieser Begebenheiten die zweifache Funktion, die Volksbrauch und Volksgut haben können: Lebensgestaltung und Anschauungserlebnis. Unter diesem doppelten Aspekt soll der Begriff des Volksliedes von seiner Funktion her betrachtet und dies versucht werden: diesen Begriff, der seit zweihundert Jahren mehr zur Verwirrung als zur Klärung von Sachverhalten beigetragen hat, auf das Gebiet seiner tatsächlich begründeten Verwendbarkeit zu beschränken und für das, was man gemein- und leichthin Volkslied zu nennen pflegt, den Ausdrude „Gruppenlied" einzuführen. Widerstand gegen den Abschied von Altvertrautem ist ein Reflex, der als N a t u r ereignis hingenommen werden muß. Die Argumente jedoch, mit denen häufig emotional aufgeladene Reflexe rational gerechtfertigt werden sollen, bedürfen genauer Analyse. Zunächst sollen Wesen und Anwendung des Begriffes „Gruppenlied" dargestellt, anschließend die Unzulänglichkeiten
des Begriffes „Volkslied"
erörtert
werden. * These
I: Das Volkslied lebt konkret nur als Gruppenlied und ist in seiner Primärfunktion „dienender Gegenstand" zur Lebensgestaltung.
Festzustellen, daß jene Lieder, die wir als Volkslieder zu bezeichnen uns gewöhnt haben, nie im ganzen V o l k , sondern nur in bestimmten, jeweils
verschieden
strukturierten Gruppen leben, bedeutet eine Binsenweisheit aussprechen,
deren
Konsequenzen aber weithin unbeachtet geblieben sind. Will man das Leben dieser Lieder in den Gruppen genauer darstellen, ergibt sich als erstes, den Begriff der Gruppe, der in der Volkskunde noch keine genaue Festlegung gefunden hat, exakt zu formulieren. Zwar wird der Ausdruck seit W . H. Riehl immer wieder in der volkskundlichen Literatur verwendet, nie aber in einem eindeutigen Sinn. Meist faßt man darunter die Gesamtheit jener Menschen eines Volkes zusammen, die sich unter einen bestimmten Gesichtspunkt gruppieren lassen. Riehl begreift darunter abwechselnd eine Bildungsschicht, einen Beruf, einen Stand 2 , die Menschen einer Landschaft3 aber auch die Familie 4 . Flitner spricht von einer Gruppe der „Kundigen" im Gegensatz zu den „Laien" 5 . Sdiwietering und Bringemeier sehen in den Bauern eine „Volksgruppe" 6 . Peuckert faßt den Begriff ähnlich, wenn 2
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W. H . Riehl, Die Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik Bd. II: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 1851. Ders., Die Naturgeschichte . . . , Bd. IV: Die Pfälzer, Stuttgart 1857. Ders., Die Naturgeschichte . . . , Bd. I I I : Die Familie, Stuttgart 1854. Wilh. Flitner, Laienbildung2, Langensalza 1931. Jul. Schwietering, Die sozialpolitische Aufgabe der deutschen Volkskunde, in: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 7 (1933). M. Bringemeier, Die soziologische Methode in der Volkskunde, in: Handbuch der deutschen Volkskunde ed. W. Pessler, Potsdam 1935.
Das Gruppenlied als Gegenstand
23
er von Berufen als Gruppen sprich: 7 , und auch Freudenthal bezeichnet als „Gruppe" oder „Volksgruppe" oder „Schicht" den Bauern, den Bürger, den Städter 8 . Als konstitutives Element der Gruppe wird ihre „Geistigkeit" benannt. „Gruppengeistigkeit" und „Mentalitätsgruppen" sind Bezeichnungen, die immer wieder auftauchen; zuerst, wie ich sehe, bei Naumann 9 , kurz darauf bei Spamer 1 0 . Fischer spricht von der in Gleichnis- und Formenwelt begründeten gemeinsamen Geistigkeit einer Gruppe 1 1 , und audi für "Weiß erfüllt sich „gruppengeistiges Gemeinschaftsleben" in Sachkreisen einzelner T r a ditionsgüter 12 , während Peuckert auf die Tatsache hinweist, daß der Einzelne „im Schnittpunkt mehrerer Gruppengeistigkeiten" stehen kann 1 3 . Neben dem Begriff der Gruppe, sozusagen synonym mit ihm in der globalen Auffassung des Terminus, wird in den frühen dreißiger Jahren der Ausdrude „Lebenskreis" verwandt. Auch hier handelt es sich zunächst um eine globale Bezeichnung für Schichten. Günter und Helbok sprechen in diesem Sinne von Lebenskreisen des Alpenraumes 14 , und Haberlandt will diese Bezeichnung als Mittel der Differenzierung des Allgemeinbegriffs der Primitiven Gesellschaft verwendet wissen, um so „die ganze Volksgemeinschaft systematisch zu erfassen" 1 5 . Hier wird zum erstenmal die globale Unbestimmbarkeit des Terminus „Gruppe" bewußt. Zwar hat sich der Ausdruck „Lebenskreis" in der Volkskunde nicht durchgesetzt, doch wurde seitdem verschiedentlich versucht, den Begriff „Gruppe" auf konkrete Art einzuengen. Bringemeier spricht von „Zellen", die sich zur Gesamtstruktur des Volkskörpers sinnvoll zusammenschließen 16 , und auch Koren bedient sich dieses Begriffs, wobei er auf die verschieden große Durchlässigkeit, Beständigkeit und Aktivität hinweist 17 . Weiss hingegen präzisiert den Begriff „Traditionskreise", indem er von „größeren" und „kleineren" spricht und sie als Untergliederung der „Gemeinschaft" versteht 1 8 . So bahnt sich in der Volkskunde die Auffassung an, den globalen Begriff der G r u p p e auf kleinere Einheiten einzuengen; kein Zufall, d a ß die A n s t ö ß e
von
Volkskundlern ausgehen, die sich soziologischen Methoden verbunden wissen. D e n n in der Soziologie wie auch in der Psychologie w i r d der Begriff „ G r u p p e " bereits als Bezeichnung eines kleineren überschaubaren Zusammenschlusses v o n Menschen angewendet. In der Musiksoziologie ist es weniger der theoretische als der empirische Zweig der Wissenschaft, der zu einer Konkretisierung des Gruppenbegriffs drängt. Während Adorno, 7 8
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16 17 18
W.-E. Peuckert und O. Lauffer, Volkskunde. Quellen und Forschungen, Bern 1951. Herbert Freudenthal, Die Wissenscbaflstheorie der deutschen Volkskunde, Hannover 1955. A. a. O., vgl. Anmerkung 1. A. Spamer, Um die Prinzipien der deutschen Volkskunde, in: Hessische Blätter für Volkskunde 23 (1924). G. Fischer, Der Einzelgänger in der Volkskunde, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 7 (1933). Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz, Erlenbach-Zürich 1946. A. a. O., S. 18. A. Günter, Soziologie, Volkskunde und Soziographie. Beiträge zur Terminologie der Sozialwissenschaflen, in: Archiv für angewandte Soziologie 3 (1930/31). A. Helbok, Zur Soziologie und Volkskunde des Alpenraums, in: Zeitschrift für Volkskunde 41 (1931). A. Haberlandt, Lebenskreise als ein Forschungsziel der Volkskunde. Ein Beitrag zur Methodenlehre, Breslau 1933. A. a. O., Bd. I, S. 21. H . Koren, Volkskunde in der Gegenwart, Graz, Wien, Altötting 1952. A. a. O., S. 257.
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Ernst Klüsen
Engel und Blaukopf 19 gar keinen oder nur einen sehr globalen Gebrauch von diesem Begriff machen, unterscheidet Silbermann20 scharf zwischen „Primär"- und „Sekundär"-Gruppen, wobei er die Primärgruppen durch die „vollständigen und engen Beziehungen" zwischen den Personen charakterisiert, im Gegensatz zu den „brüchigen" Beziehungen der Sekundärgruppen, die, wie Konsumenten und Produzenten den oben erwähnten Globalbezeichnungen entsprechen, während „Familie" den Primärgruppen zuzuordnen ist. Am deutlichsten hat die empirische Psychologie den Begriff in den Terminus „face-toface-group" gefaßt 21 . Hier wird die Stärke einer Gruppe exakt zwischen 2 bzw. 3 und ca. 30 Personen angegeben. Gegenüber dem Terminus „Lebenskreise", „Traditionskreise" hat die Bezeichnung „Gruppe" den Vorteil größerer Präzision: es handelt sich um eine genau fixierte Einheit Zusammenwirkender. Gegenüber dem emotional aufgeladenen Begriff „Gemeinschaft" hat er den Vorteil größerer Sachlichkeit: eine Gruppe braucht keine Gemeinschaft zu sein, schon deshalb nicht, weil ihr nicht immer die menschliche Bindung zwischen den Gliedern eignet und auch nicht immer die längerdauernde konstitutive Zweckbindung, die man bei einer Gemeinschaft voraussetzt, gegeben ist. Gruppen können ad hoc gebildet und von sehr unterschiedlicher Lebensdauer sein, wie z. B. eine Reisegruppe, ein Kegelklub oder ein Arbeitsteam. Sdiwietering legt durch seinen Begriff der Gemeinschaft22 den Untersuchenden zu einseitig auf solche Gruppen fest, die durch die Gemeinsamkeit religiösen oder heimatgebundenen Zusammenhaltes konstituiert sind, wie etwa bäuerliche Gruppen bis zur Jahrhundertwende. Es ist zudem nicht sicher, daß in diesen bäuerlichen Gruppen „Gemeinsamkeit der Gefühls- und Phantasiewelt" stärker gruppenbildend wirkt als Kräfte der „Lebensziele und Lebensordnungen". Mit solchen Einschränkungen verengt sich die Forschung selbst ihr Blickfeld. Im folgenden wird der Begriff Gruppe ausschließlich im Sinne einer Primärgruppe der Soziologie bzw. einer face-to-face-group der Psychologie verstanden. Es muß gewährleistet sein, daß jeder jeden kennt, daß alle sich direkt miteinander verständigen und in direktem Zusammenspiel handeln können, eben zwei bis einige Dutzend Personen. Notwendig ist jeder Gruppe zu ihrer Konstitution und Funktion zumindest ein dominantes Element, eben das, was die Volkskunde den „zeugenden Gedanken" 2 3 genannt hat. U m die Gruppen nach ihrer Mentalität und Funktion zu systematisieren, wird es nützlich sein, auf die „Systematik des Gegenstandes" volkskundlicher Forschung zurückzugreifen, wie sie Freudenthal 2 4 für das Gruppengefüge des deutschen Volkes ähnlich Spamers „Mentalitätsgruppen" 2 5 entwirft, bezogen allerdings auf den bereits dargelegten Begriff einer kleinen überschaubaren Gruppe. Es würde sich um Gruppen mit zumindest einem dominanten Konstitutionselement nach der folgenden Zusammenstellung handeln:
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23 2S
21 25
Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt 1962. H. Engel, Musik und Gesellschaft, Berlin 1960. K. Blaukopf, Musiksoziologie, Köln und Berlin o. J . A. Silbermann, Wovon lebt die Musiki, Regensburg 1957, S. 147. E. Schmalohr, Artikel „Gruppendynamik" und „Bezugsgruppe", in: Lexikon für Pädagogik, Ergänzungsband, Sp. 282 und 106, Freiburg 1964, vgl. auch Geck, Artikel „Gruppe", ebda. Bd. 2, Sp. 544 f. Dort auch weitere Literatur. J . Sdiwietering, Das Volkslied als Gemeinscbaftslied, in: Euphorion 30 (1929) S. 242. W.-E. Peuckert, Probleme einer Volkskunde des Proletariats, in: Zeitschr. f. Volkskunde 55 (1952) S. 18. A. a. O., S. 204. A. a. O.
Das Gruppenlied als Gegenstand
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Familie — Alter — Wohnung — Arbeit — Stand — Religion — Politik — Wohlfahrt — Geselligkeit. Dabei werden in der Regel zwei oder gar mehrere konstitutive Elemente zu beobachten sein, die in wechselnd starkem Zusammenspiel die Gruppengeistigkeit bestimmen. So hat die Nachbarschaftsgruppe als konstitutive Elemente Wohnung, Arbeit, Wohlfahrt und Geselligkeit, wobei die Wohnung dominant ist, Geselligkeit heutzutage stärker hervortritt als Wohlfahrt und Arbeit. Als Drittes ist neben überschaubarer Zahl und konstitutiven Elementen für die Gruppe wesentlich, daß eine Person, die durchaus verschiedenen Gruppen angehören kann, um so stärker und ausschließlicher in ihrer Haltung durch die Gruppengeistigkeit bestimmt wird, je undifferenzierter sie mental organisiert ist. Zum Instrumentarium des Gruppenlebens gehört auch das Lied. In solchen Gruppen — und fast nur in ihnen — wird jenes Lied gehandhabt, das wir Volkslied zu nennen gewohnt sind und das besser Gruppenlied hieße. Gewinnt es doch sein Leben erst dadurch, daß eine Gruppe es in sich hineinnimmt, weil sie des Liedes bedarf, zur Bewältigung aktueller Situationen. Es hat dort sein Leben, weil es einen Zweck erfüllt und diese Zweckerfüllung unauswechselbar ist. Die Gruppe ist nicht des Liedes wegen da, sondern das Lied der Gruppe wegen. „Sie kommen nicht zusammen, um zu singen, sondern sie singen, weil sie beisammen sind" 26 . Das Lied hat in der Gruppe seine festumrissene Funktion. N u n ist der Begriff Funktion durch vielerlei Gebrauch so abgegriffen und unbestimmt geworden, daß wir nicht umhin können, ihn wenigstens en passant zu umreißen. Silbermann führt die verschiedenen Bedeutungen des Wortes — in der Riemann'schen Harmonielehre, im täglichen Leben als Feier, nach angelsächsischem Sprachgebrauch (Begräbnis), als Berufsbezeichnung, als mathematischen und biologischen Begriff — an und präzisiert v o n der Soziologie her 27 im Anschluß an Merton 2 8 den Begriff der Funktion als eine Zusammenführung der mathematischen und biologischen Bedeutung des Wortes: eine Größe, die von einer anderen abhängig ist, weil sie, gleich der Wirkungsweise eines Körperorgans, eine notwendige Aufgabe erfüllt, die aber nur Teilaufgabe ist und als solche in einen Gesamtzusammenhang hineinwirkt.
Dem Gruppenlied eine Funktion zusprechen, heißt also, ihm eine Aufgabe zuweisen, die zwar nur eine Teilaufgabe darstellt — wie etwa die Galle im Organismus — deren Erfüllung aber zum gesunden Gedeihen des Ganzen notwendig ist. Das Wesentliche dieser Funktion des Gruppenliedes liegt in seiner gegenständlichen Verwendung. Das Gruppenlied wird als Gegenstand gehandhabt, der etwas außer ihm selbst Liegendes verwirklicht. Das Gruppenlied ist somit nicht Selbstzweck. Es ist ein „dienender Gegenstand". Der Ausdruck stammt von Hans Freyer, der den „dienenden Gegenstand" folgendermaßen charakterisiert: „Alle (Gegenstände) sind in das Ganze. . . eingefügt, haben darin ihren Ort, erfüllen da ihre Bedeutung und finden da ihren Gebrauch 29 ." 26 27 28
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J. Dünninger, Volkswelt und geschichtliche Welt, Leipzig 1937, S. 191. A. a. O., S. 141 f. R. K. Merton, Social theory and social structure, Free Press, Glencoe 1951. ders., Elements de methode sociologique, Plön, Paris 1953. H a n s Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965, S. 36.
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Ernst Klüsen
Das Gruppenlied ist als dienender Gegenstand folgendermaßen zu fassen. Gleichgültig ist, woher es stammt; es kann in der Gruppe entstanden oder von außen in sie hineingetragen und dem Gruppenbedürfnis angepaßt sein. Alle kennen es und handhaben es gegenständlich, will sagen: es dient wie ein Werkzeug der Bewältigung von Gruppenaufgaben. Das ist seine Funktion. Sein Zweck liegt, wie eben bei einem Werkzeug, außerhalb seiner selbst, es ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. U n d nur von der Frage her, inwieweit es dem Gruppenbedürfnis dient, wird seine Qualität bestimmt. Das Lied der Grönländer ist ein Gegenstand, der dazu dient, Seehunde zu fangen: „Den Geist der Luft / flehe ich an / flehe ich an / Ich schluchze Kehllaute / die aus meinem Innersten kommen / Ich stehe und singe meine Lieder / hier draußen vor meinem kleinen Haus / Ich flehe an / Ich flehe an / Den Geist der Luft / gib mir Speck, den du besorgst / gib mir Speck / gib mir Speck 3 0 ." Das älteste geistliche Lied in deutscher Sprache, das Petrus-Lied 3 1 , ist ein Gegenstand, Feinde zu besiegen; das „should auld aquaintance be f o r g o t " ist ein Lied, mit dessen H i l f e man Freunde verabschiedet, und das „Gustav wir danken dir, für diese Runde B i e r " zu der Melodie „Heil dir im Siegerkranz" ist ein Gegenstand, mit dem man Dankbarkeit bezeugt. Ebenso ist das die Bewegung eines Kollektives koordinierende Arbeitslied ein Werkzeug, wie das Zeitungslied ein Instrument der Kommunikation und das Rügelied ein Instrument der Züchtigung ist — dienende Gegenstände, insofern sie den Intentionen einer Gruppe sich fügen. U n d von ihrer Tauglichkeit für Gruppenintentionen her bestimmt sich ihr Wert — nicht von aesthetischen Kategorien her. U m dies ganz deutlich zu machen, habe ich mit Absicht oben in ihrer aesthetischen Qualität ganz unterschiedliche Beispiele aufgeführt. Zwar ist die musikalische Gestaltung schon eines einfachen Rufes durch Rhythmus und Melodie ein aesthetischer A k t und diese aus dem Alltag gehobene Form der Stilisierung macht diese Gebilde sogar zu besonders dienlichen Werkzeugen — aber aesthetische Qualitäten sind als solche nicht intendiert. Sie sind vielmehr völlig gleichgültig für die Funktion des Gruppenliedes als „dienender Gegenstand". Selbstverständlich können wir im Nachhinein feststellen, daß dieses oder jenes Lied seine aesthetischen Qualitäten hat, aber es ist nicht auf diese Qualitäten hin sondern — völlig unabhängig von ihnen — auf seine Gruppentauglichkeit hin geschaffen. Mit anderen Volksgütern ist das nicht anders. Man betrachte eine Kirchenwand mit Votivbildern: als Weihegaben mit bestimmten Darstellungen sind sie intendiert und nicht als Kunstwerke. D a ß es hin und wieder bezaubernde Kunstwerke unter ihnen gibt, ist eine Sache für sich. Aber die Funktion ist hier wesentlich, nicht die aesthetische Qualität. Täuschen wir uns nicht: das war immer so. Es fällt nur schwer, das einzusehen, da ja durch ein Ausleseverfahren, das die aesthetisch Gebildeten handhabten, seit Jahrhunderten nur das auf uns kam, was diese Gebildeten für würdig hielten, bewahrt zu werden. So scheint es, als ob
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Knut Rasmussen, ed. Schneehüttenlieder, Essen und Freiburg 1947. W. Baumker, Das katholische deutsche Kirchenlied Bd. I, Anhang 1, Faksimile 1, Freiburg 1862.
Das Gruppcnlied als Gegenstand
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vergangene Jahrhunderte nur Schönes hervorgebracht hätten und unsere Zeit — deren ganze Produktionsbreite wir kennen — soviel des Minderwertigen. Wir brauchen aber nur einige der alten Handschriften aufzuschlagen und nüchtern zu prüfen: was ist denn, um nur einige wahllos zu nennen, an der Hohenfurter Handschrift32, im Liederbuch der Anna von Köln 33 , in den Handschriften des als Blütezeit des Volksliedes immer wieder gepriesenen Mittelalters aus Wien, Utrecht 34 und Tongern 35 an so hervorragend schönen Melodien? Wieviel Hölzernes, Schematisches, handwerklich Nüchternes ist unter ihnen, und wieviel ist uns gar nicht erst bekannt geworden, weil man es des Bewahrens nicht für wert hielt. Solche Lieder waren Gegenstände im Dienst von Gruppen und verschwanden, wenn andere Gegenstände die Funktion nach Meinung der Gruppe besser erfüllten. Denn die Lebensdauer ist für das Gruppenlied als Gegenstand unerheblich; im übrigen hängt sie auch von der Verfügbarkeit von Ersatzgegenständen ab und es scheint — aber das wäre durch Vergleich mit den Sachgütern festzustellen — daß die Musik ohnehin das am ehesten Austauschbare, das am leichtesten Ersetzliche und Verletzliche unter den Volksgütern ist. Jede Gruppe hat — für ihre eigenen Zwecke — ihr eigenes Liedgut. Es lebt in ihr und ist von dem Liedgut anderer Gruppen, das unbeachtet bleibt oder gar verachtet wird, abgegrenzt. Liedgut anderer Gruppen ist „apokryphes", uneigentliches Liedgut. Lieder der eigenen Gruppe sind das eigentliche, das kanonisierte Liedgut 36 . Volkslieder anderer Gruppen — „Bezugsgruppen" — sind entweder Störfaktoren 37 oder aber auch umgekehrt Vorbilder und Vermittler von Leitbildern. Gegenständlich werkzeuglich genutzt dient das Lied dem Leben der Gruppe. An sich ist es ein Nichts, gleichwie die Galle an sich ein Nichts ist, doch ist es unentbehrlich zur Funktion des Gesamtorganismus gleich dem Körperorgan. In solcher Funktion fassen wir das Gruppenlied in seiner Primärfunktion als Lebensgestaltung. Solche Anschauung war der Volkskunde, was die „Sachgüter" anging, zu denen man das Volkslied allerdings nicht rechnete, durchaus geläufig. Spamer wies darauf hin, daß im Umgang mit den Volksgütern der „Verbraucherstandpunkt" in den Vordergrund zu rücken und auch der Umgang mit den Volksgütern von ihrer Funktion her zu klären sei38. Schwietering wollte das Volksgut auf die Bedingungen hin geprüft wissen, „die es als Gerät stiftet" und von der 33 33 34
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W. Baumker, ed., Ein deutsches geistliches Liederbuch, Leipzig 1895. W. Salmen und J. Koepp, Das Liederbuch der Nonne Anna, Düsseldorf 1954. E. Brüning, M. Veldhuyzen, H . Wagenaar-Nolthenius, ed., Het Geestelijk Lied van Noord-Nederland in de XV. Eeuw, Monumenta musica Neerlandica VII, Amsterdam 1963. E. Brüning, ed., De middelnederlands liederen van het onlengs ontdekte handschrifl van Tongeren, Gent 1955. E. Klüsen, Das apokryphe Volkslied, in: Jahrbuch f. Volksliedforschung 10 (1965). W.-E. Peuckert, Probleme einer Volkskunde des Proletariats, in Zs. f. Vkde. 55 (1959 S. 18. A. Spamer, in: Oberdeutsche Zs. für Volkskunde 2 (1928) S. 10.
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Ernst Klüsen
Gemeinschaft her die Frage an das Volksgut richten 39 , und Bringemeier sieht in den Volksgütern, deren Form preisgegeben werden und dem jeweiligen Anliegen der Gemeinschaft entsprechend gewandelt werden kann, die Zeichen der Gruppe „die es handhabt 4 0 ". Diese Prinzipien auf den Gruppengesang angewendet, führen zu eben jener Definition des Liedes in seiner Primärfunktion als gegenständlich genutztes Gruppenlied, von dem N a u m a n n schon feststellte, daß es weder „alt noch schön — noch auch besonders langlebig" sein müsse 41 . Es muß in seiner Primärfunktion nur eines sein: tauglich, das Leben einer Gruppe mitzugestalten. Diese Primärfunktion ist sicherlich die ursprüngliche und bis auf den heutigen Tag lebendige; jedoch ist sie nicht die einzige. These
II:
Das Gruppenlied führt als „triumphierender Gegenstand" zur Sekundärfunktion des Anschauungserlebnisses.
Der dienende Gegenstand ist ein einfacher Gegenstand. Ganz auf Zweckhaftigkeit hin entworfen, will er nichts weiter, als Mittel sein, Zwecke zu bewirken, die außerhalb seiner selbst liegen. Gelegentlich freilich — und schqn sehr f r ü h — wird er zum Träger aesthetischer Qualitäten, ohne sich aber im Wesen zu verändern. „Die Gegenständlichkeit des hergestellten Dinges tritt am offensten zu Tage, wenn es über seine gebrauchsnotwendigen Merkmale hinaus ausgearbeitet: verziert, bemalt oder in einen Mantel von zusätzlichen Linien eingehüllt wird. . . . Es handelt sich nicht um den triumphierenden Gegenstand, zu dieser Transzendenz greift erst die hohe Kultur aus 42 ." Der triumphierende Gegenstand aber ist „ein selbstgenügsamer Gegenstand" 4 3 , . . .„er stößt mit seiner Erscheinung sieghaft durch alle Zwecke, damit auch durch alle funktionalen Deutungen durch . . . Er ist kraft seiner Schönheit unsterblich 44 ." Hier spricht Freyer vom Kunstwerk. Aber das Wesentliche, das hier gezeigt wird, geschieht auch dem Gruppenlied dann, wenn es sich vom dienenden zum triumphierenden, selbstgenügsamen Gegenstand dadurch wandelt, daß es nicht mehr einem außerhalb seiner selbst liegenden Zwecke dient, sondern in sich, aus sich besteht, wenn das Ding als solches angeschaut und durch Schönheit, nicht durch werkzeugliche Zweckhaftigkeit existiert. Zu solcher Anschauung kann es aber nur kommen, wenn das Ding selbstgenügsamer Träger aesthetischer Qualitäten ist. Sie geben dem Triumphierenden Gegenstand seine Eigenständigkeit. Unwesentlich geworden ist die werkzeugliche Handhabung, die Gruppenfunktion. „Mag es auch von mancherlei Motiven, die aus dem Bereich des tätigen Lebens stammen, zum Beispiel vom Willen, Macht zu repräsentieren, umrankt sein, mag sogar die Verwendbarkeit f ü r einen praktischen 39
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J. Schwietering, Wesen und Aufgabe der deutschen Volkskunde, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 5 (1927) S. 748 ff. A. a. O., S. 23. A. a. O., S. 123. Freyer, a. a. O., S. 35 f. Ders., a. a. O., S. 78. Ders., a. a. O., S. 79.
Das Gruppenlied als Gegenstand
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Zweck als zusätzliches Valeur in seine Form hineingebracht sein, es stößt mit seiner Erscheinung sieghaft durch alle Zwecke45." Ein solcher Triumphierender Gegenstand, wie wir ihn beispielsweise sehr deutlich ausgeprägt im mehrstimmig komponierten Volksliedsatz haben, ist nicht mehr von den außerhalb seiner selbst liegenden Zwecken einer Gruppe abhängig. Seine Selbstgenügsamkeit bedarf nicht mehr werkzeuglicher Funktion zu seiner Existenz, ja er wird im hier beschriebenen Sinne der Primärfunktion weitgehend funktionsuntüchtig. Solche Untüchtigkeit des Triumphierenden Gegenstandes beschrieb Lessing in seiner Fabel vom Bogen, den sein Besitzer durch Schnitzereien verzieren ließ und der zerbrach, als er gespannt wurde. Der Triumphierende Gegenstand, das geschmückte Gruppenlied als Träger aesthetischer Qualitäten, gewinnt nun eine andere Funktion, die wir als Sekundärfunktion bezeichnen. Darunter verstehen wir: der geschmückte Gegenstand will angeschaut sein und bewirkt dadurch, daß er angeschaut wird, ein Erlebnis seiner aesthetischen Qualitäten, das wir Anschauungserlebnis nennen wollen. Die Gruppe gewinnt dieses Erlebnis nicht, indem sie den Gegenstand aktiv handhabt, wie einen dienenden Gegenstand ergreift, sondern indem sie sich ihm hingibt, ihn begreift und in hingebender Anschauung aufnimmt, was er kündet. Damit wird das Gruppenlied zum Verkündeten, oder, mit einem anderen Wort aus dem gleichen Stamm, zur Kunst. Das Anschauungserlebnis hat zwei Komponenten, eine Bildungs- und eine Genußkomponente. Die Bildungskomponente ist mehr intellektuell akzentuiert und vermittelt Zuwachs an Wissen. Die Genußkomponente ist mehr emotional akzentuiert und vermittelt Freude an der Schönheit. Wohl kaum fällt beim Anschauungserlebnis eine Komponente gänzlich aus, doch ist jedes Anschauungserlebnis durch die jeweils verschiedene Stärke der Komponenten charakterisiert. So ist zum Beispiel bei einer vergleichenden Stilbetrachtung mehrerer Volksliedsätze in einem Rundfunkvortrag die Bildungskomponente stärker als die Genußkomponente. Umgekehrt ist die kommentarlose Darbietung des Elslein-Liedes im Satz des 15. Jahrhunderts oder des Lönsliedes „Grün ist die Heide" stärker von der Genußkomponente bestimmt. Hier können leicht zwei Mißverständnisse entstehen. Einmal ist festzuhalten, daß auch ein einstimmiges Lied Triumphierender Gegenstand sein kann — mehrstimmige Struktur ist keine unabdingbare Voraussetzung, wohl ein sehr deutliches äußeres Kennzeichen. Zum anderen ist folgendes zu bedenken: ein werkzeuglich gehandhabtes Gruppenlied, ohne aesthetische Intention geschaffen und solche wirkend, kann von höheren künstlerischen Graden sein als ein selbstgenügsames, mit aesthetischen Zielsetzungen gefertigtes aber mißlungenes Kunstwerk. Entscheidend ist, ob ein Lied Primär- oder Sekundärfunktion erfüllt: ob es gehandhabt oder betrachtet, ergriffen oder begriffen wird. Wenn man von den aesthetischen Qualitäten des geschmückten Gegenstandes spricht, muß bewußt sein, daß der Begriff 15
Ders., a. a. O., S. 79.
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Ernst Klüsen
Qualität nur relativ zu den normativen Kräften zu verstehen ist; mit Absicht wurde deshalb „Grün ist die Heide" und „Elslein" in einem Atem genannt. Freyer begründet diese Relativität des Aesthetischen folgendermaßen: „Der gestaltete Raum von hoher Kultur ist auf die Menschen, die in ihm zu leben haben, nicht in dem Sinne abgestimmt, daß er ihnen bestätigt, was sie schon sind . . . sondern er stellt seine Anforderungen an sie, überfordert sie sogar beständig . . . Wenn also mit jedem hohen Stil sofort auch seine Bagatellisierungen und Verkitschungen, seine Anpassungen an die Fassungskraft der Menschen . . . einhergehen, so hat das an sich noch nichts mit Verfall zu tun, es ist eine Art Selbstkorrektiv der Hochspannung, die von ihnen a u s g e h t . . . Es ist unmöglich, daß ein breites Kulturleben von dieser Hochspannung ganz durchwirkt sein könnte 46 ." Ist nun der dienende Gegenstand immer und seinem Wesen nach Werkzeug einer handelnden Gruppe, so ist der Triumphierende Gegenstand selbstgenügsam auch in dem Sinne, daß er einer Gruppe, die mit ihm umgeht, nicht bedarf. „Die bildenden Künstler haben ihre schönsten Figuren zuweilen an Stellen plaziert, wo nur der liebe Gott sie s i e h t . . Wenn aber eine Gruppe sich des Triumphierenden Gegenstandes als Lied annimmt, geschieht ein Entgegengesetztes wie im Umgang mit dem dienenden Gegenstand: nicht der Gegenstand dient der Gruppe, sondern die Gruppe dient dem Gegenstand. Das ist die Situation des Liedes in Gesangvereinen und Singkreisen. Und nicht wie der dienende Gegenstand in seiner Primärfunktion ist ohne Gruppe ein Leben des Liedes nicht möglich, — der Triumphierende Gegenstand bedarf der Gruppe nicht, er kann zu jedem einzelnen reden, er kann in anonymes, amorphes Publikum hineinwirken, und selbst im Publikum ist jeder eigentlich ein Einzelner. Mit anderen Worten: bei der Primärfunktion schafft die Funktion das Lied als dienenden Gegenstand, bei der Sekundärfunktion schafft der Triumphierende Gegenstand die Funktion. Sekundär ist diese Funktion nicht nur als später erscheinende, quasi historisch, sondert auch deshalb, weil sie aus der Primärfunktion abgeleitet ist, insofern ein Gruppenlied in der Sekundärfunktion nur dann erscheinen kann, wenn es zuvor primärfunktional gelebt hat. Schließlich ist es aber auch im materiellen Sinne sekundär, weil im gewissen Sinne entbehrlich. Das Ornament des Gegenstandes macht den Gegenstand selbst zum Ornament: zum nicht unbedingt Existenznotwendigen, zum transzendenten Schönen — Schmuck an der Wand, aber es geht auch ohne. Nicht wie in Lessings Fabel wird das Lied als Triumphierender Gegenstand durchs Ornament vernichtet — untauglich wird es lediglich zur Primärfunktion — und es gewinnt die abgeleitete, sekundäre Funktion der Vermittlung eines Anschauungserlebnisses, dem eine Gruppe sich hingeben kann, das aber auch genau so gut dem Einzelnen wie dem aus einer Ansammlung von Einzelnen sich bildenden Publikum zugänglich ist. Solches Herauswachsen des Triumphierenden Gegenstandes aus dem dienenden geschah schon sehr früh. Zweifellos früher als bei materiellen Gegenständen er46
Ders.,a. a. O., S. 116. " Ders., a. a. O., S. 89.
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gaben sich aus dem flüchtigeren spezifischen Stoff des Liedes — Wort, Ton, Geste — stärkere Möglichkeiten, das Material nicht nur hinsichtlich seines Zweckes, sondern auch — durch den Zwang zur Stilisierung alltäglicher Ausdrucksäußerung — in seiner Eigengesetzlichkeit zur Darstellung zu bringen. Hinzu kommt, daß die konzentriert-affektive Realisierung des Materials in der Zeit — hic et nunc — und im sozialen Verband Möglichkeiten zur Steigerung individuell erlebter Ausdruckselemente eröffnet, die dem materiellen, im Raum beständig gegenwärtigen Gegenstand nicht so unmittelbar eignen. Es ist deshalb nur natürlich, daß in dem Augenblick, da unsere schriftlich fixierte Überlieferung einsetzt, bereits neben den Gruppenliedern der Primärfunktion solche geschmückten Lieder sekundärer Funktion erscheinen, ja, daß — weil nur die kundigen Gebildeten in der schriftlichen Fixierung erfahren waren — mit Beginn der Überlieferung das Lied als Triumphierender Gegenstand voll entwickelt neben dem Lied als dienendem Gegenstand erscheint. Häufig müssen wir sogar seine Primärfunktion erst aus seinem Erscheinungsbild in der Sekundärfunktion erschließen, wie etwa beim Hildebrandslied den Rezitationston des Nachrichtenliedes aus seiner mehrstimmigen Einkleidung. Einmal in ihrem Wesen dargestellt, werden die beiden Funktionen des Gruppenliedes nun in ihrer Beziehung zueinander und in ihrer praktischen Anwendung zu zeigen sein, denn These
III:
P r i m ä r - und S e k u n d ä r f u n k t i o n mit ihren Vermischungen, Vertauschungen und Überschneidungen kennzeichnen e x a k t u n d u m f a s s e n d das Leben des Gruppenliedes.
Primär- und Sekundärfunktion des Gruppenliedes sind, wie gezeigt, theoretisch klar zu scheiden; sie erscheinen auch praktisch oft in dieser klaren Scheidung. Nichtsdestoweniger aber sind verschiedene Beziehungen zwischen Primär- und Sekundärfunktionen festzustellen; zur exakten Analyse der Lebensformen und der Lebensbereiche des Gruppenliedes sind diese Beziehungen von besonderer Bedeutung. Innerhalb der Primärfunktionen kann eine U m f u n k t i o n i e r u n g stattfinden. So, wie beispielsweise eine Windmühle von einem vorindustriellen Handwerksbetrieb zu einer neuzeitlichen Wohnung werden kann — das Gehäuse bleibt erhalten, wechselt aber die Funktion. So kann auch ein Lied innerhalb der Primärfunktion seine Bestimmung wechseln, wenn es, wie zum Beispiel das Lied „Es, es, es und es" von einem Handwerksburschenlied zum Lied der wandernden Jugend wird. Als Abschiedslied der Gesellen war es dienender Gegenstand, der eine aktuelle Situation mitgestaltete, als Wanderlied in der Jugendgruppe wurde es zum hilfreichen Gegenstand des Wanderns. Es wechselte die Gruppe und die Funktion. Ganz selbstverständlich geschieht eine W a n d e r u n g von der Primär- zur Sekundärfunktion und umgekehrt. Das Lied von den Königskindern, einstmals in der Spinnstube von allen gesungen und gegenständlich zur Lebensgestaltung — des gemeinsamen Feierabends — genutzt, ist aus dieser Primärfunktion in die Se-
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kundärfunktion gewandert, wenn es im Konzertsaal dargeboten und als Anschauungserlebnis dargeboten und als Anschauungserlebnis aufgenommen wird. Umgekehrt war das Lied „Das Wandern ist des Müllers L u s t " auf die Sekundärfunktion der Konzertdarbietung hin entworfen, aber es wurde bald als geselliges Lied und Wanderlied gegenständlich in der Primärfunktion genutzt, bis auf den heutigen Tag. U n d gerade diese Fälle sind heute zahlreich: ein Lied wird im Rundfunk, auf der Schallplatte als Anschauungserlebnis oder mit didaktischem Zweck in der Schule dargeboten, wird aber anschließend von einer Gruppe als dienender Gegenstand aktiv in das Gruppenleben hineingenommen — dann ist es von der Sekundärfunktion zur Primärfunktion gewandelt, vom Anschauungserlebnis zum lebensgestaltenden Gegenstand geworden. Vermischungen von Primär- und Sekundärfunktionen kommen dann zustande,wenn eine Primärfunktion nicht durch dienende sondern durch triumphierende Gegenstände gestaltet wird. Dies ist heutzutage in kleinen und mittleren Gemeinden häufig festzustellen: ein Gesangverein tritt mit seinem artifiziell aufgemachten Programm triumphierender Gegenstände — „Kunstchöre" — in Situationen ein, die ehemals vom Gruppenlied als dienendem Gegenstand gestaltet wurden, wie etwa das Ansingen bei Hochzeiten. Dann ist die Form primärfunktional, das Liedgut jedoch stammt aus der Sekundärfunktion 4 8 . Überschneidungen von Primär- und Sekundärfunktion haben statt, wenn beide Funktionen bei der gleichen Gelegenheit zusammentreffen. Als Beispiel: In den Jugendgruppen lebt heute das Lied durchwegs primärfunktional als dienender Gegenstand zur Bewältigung akuter Gruppensituationen. Wandern, Feierabend, Rast, Fest usw. Findet nun im Rahmen eines Treffens ein Singwettstreit verschiedener Gruppen statt, so ist solche Darbietung zweifellos als Anschauen des triumphierenden Gegenstandes sekundärfunktional, als Ausgestaltung gemeinsamen Lebens dagegen primärfunktional zu werten. H i e r überschneiden sich die Funktionen ebenso wie beim Probenabend eines Gesangvereins, der nicht nur der Anschauung des Triumphierenden Gegenstandes, sondern auch der gruppenmäßigen Lebensgestaltung — nicht nur an der Theke — sich widmet. Schließlich sind V e r t a u s c h u n g e n von Primär- und Sekundärfunktion dann zu beobachten, wenn in gewissen Situationen, die traditionsgemäß die eine Funktion erwarten lassen, die andere eintritt. Eine Kränzergruppe bei der V o r bereitung eines dörflichen Festes würde traditionsgemäß singen. Wenn nun statt der Handhabung des Gruppenliedes als dienendem Gegenstand zur aktiven G e staltung der Situation ein Tonband abläuft und die Lieder, die sonst aktiv gesungen, nun als Anschauungserlebnis vorgeführt werden, dann ist ein Austausch von Primär- und Sekundärfunktion eingetreten 49 .
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Vgl. dazu M. Fischer, Volkslied, Schlager, Evergreen, Tübingen 1965, S. 103. G. Wurzbacher, Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung, Stuttgart 1954. E. Klüsen, Das Volkslied im niederrheinischen Dorf. Studien zum Lebensbereich des Volksliedes in der Gemeinde Hinsbeck, Bad Godesberg 1968. E. Klüsen, a. a. O.
Das Gruppenlied als Gegenstand
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Audi das Umgekehrte geschieht: Eine Reisegruppe im Omnibus, gewohnt, sich durch den Lautsprecher Lieder als Triumphierende Gegenstände in Sekundärfunktion vorsingen zu lassen, drängt zu eigenem Singen in aktiver Bewältigung der gegebenen Situation und vertauscht so die Sekundär- mit der Primärfunktion. Die Einrichtung der „Offenen Singen" im R u n d f u n k nutzt bewußt die Neigung der Hörer, sich durch den Lautsprecher Lieder als Triumphierenden Gegenstand vorführen zu lassen, indem es die ein Anschauungserlebnis erwartenden Hörer zu eigener Aktivität verführt. Wenn eine solche bewußt didaktisch angelegte Singstunde — wie übrigens auch in der Schule — nicht als primärfunktionales Singen anzusehen ist, so erweist sich doch, in der Schule durch die Erfahrung, beim R u n d f u n k durch die Hörerpost, d a ß durch solche Veranstaltungen primärfunktionales Singen wieder entstehen kann 5 0 . Wenn auch — wie wir zu zeigen versuchten — schon sehr früh, f ü r unsere Quellenlage gleichzeitig mit dem dienenden Gegenstand, der triumphierende auch im G r u p penlied erscheint, so ist doch festzustellen, daß sich in den letzten Jahrhunderten das Lied als Triumphierender Gegenstand bedeutsam in den Vordergrund gespielt hat. Zwei Tatsachen, die in Analysen bisher nicht auseinandergehalten wurden, gilt es freilich dabei scharf zu scheiden. Die eine: Ganz ohne Zweifel ist in den letzten 500 Jahren die Bedeutung des Gruppenliedes als triumphierender Gegenstand außerordentlich gewachsen. Das hängt mit der Entwicklung unserer Kultur ursächlich zusammen. Dieses Wachstum des Anschauungserlebnisses ist in unserem Jahrhundert noch enorm gesteigert worden durch die Entwicklung der Massenkommunikationsmittel von Presse, R u n d funk, Schallplatte und Fernsehen. Dadurch ist das Gruppenlied als triumphierender Gegenstand in einem bisher nicht möglichen Maße als Anschauungserlebnis in das Bewußtsein weiter Kreise gelangt. Auf der anderen Seite ist ohne Zweifel das Gruppenlied in Primärfunktion eingeschränkt und Lebensgestaltung durch werkzeuglich gehandhabtes Lied als dienender Gegenstand in vielen Fällen durch das Anschauungserlebnis ersetzt worden. Zu diesem Ergebnis f ü h r t jede Feldforschung, und f ü r das Studentenlied hat Stephenson das ausdrücklich festgestellt 51 . Daraus aber den Schluß ziehen, die Primärfunktion wäre überhaupt erloschen, es existiere ein Gruppenlied als Lebensgestaltung nur noch in kümmerlichen Reliktformen, deren Ende in absehbarer Zeit bevorstünde, läßt eine andere Tatsache außer Betracht. Diese: Die Primärfunktion des Gruppenliedes als dienender Gegenstand entzieht sich weitgehend der öffentlichen Darstellung durch die technischen Mittler. Einmal, weil solche Funktionen, umstandsbedingt, spontan sich ergeben und f ü r unsere präfabrizierenden Kommunikationstechniken nur sehr schwer greifbar sind. Wie will der R u n d f u n k , das Fernsehen, die Schallplatte ein lebensgestaltendes, situationsbeding50
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W. Trader, Offenes Singen in der Großstadt, in: Musikalische Zeitfragen VII, Das Volkslied heute, Kassel 1959. Stephenson, Der heutige Student und das Studentenlied, in: Musikalische Zeitfragen VII, Das Volkslied heute, Kassel 1959, S. 79. Jahrbuch f. Volksliedforsdiung X I I
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tes Singen erhaschen? Es gibt Ausnahmen von life-Aufnahmen, zufälligen Plattenmitschnitten, aber es bleiben Ausnahmen. Häufig werden aus Unkenntnis der Materie oder um „wirkungsvoller" Einstellungen willen selbst life-Aufnahmen verfälscht 52 . Wichtiger aber ist zum anderen, daß solche lebensgestaltenden Situationen einer Gruppe eben auf dem Aktualitätenmarkt keinen Kurswert haben — und keinen beanspruchen. U n d aus diesem Zusammentreffen von geschwächter Primärfunktion und zugleich unverhältnismäßig starker Darstellung von Sekundärfunktionen entsteht der falsche Eindruck, die Primärfunktion wäre dem endgültigen und baldigen Untergang geweiht und nur in seiner Sekundärfunktion habe das Volkslied noch eine Überlebenschance. Wenn Wiora vom „zweiten Dasein" spricht, dann bezeichnet er damit das starke Inerscheinungtreten der Sekundärfunktionen, die es aber nicht erst seit Herder gegeben hat, sondern spätestens in der Musikübung, f ü r die das Lochamer Liederbuch ein Zeugnis ist, vor einem halben Jahrtausend. Das Zurücktreten der Primärfunktion bedeutet nicht, daß das Volkslied in seinem „ersten Dasein" „unrettbar dem Untergang verfallen sei" 53 . Freilich sind Äußerungen der Primärfunktion nicht nur den Massenmedien, sondern auch der Forschung, besonders der theoretischen, nur sehr schwer zugänglich. Die Feldforschung dagegen findet immer wieder primärfunktionales Singen — und häufiger als vermutet. Hier wäre noch auf zahlreiche Erscheinungen hinzuweisen, die weitgehend bei der Betrachtung der gegenwärtigen Situation unbeachtet geblieben sind, deren vollständige Bestandsaufnahme als eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Volksliedforschung anzusehen ist. In der gleichen Publikation, in der Wiora vom Untergang des Volksliedes spricht, weisen Watkinson und Träder in ihren Beiträgen zum Singen der Jugend bzw. zum offenen Singen in der Großstadt auf Formen des Gruppensingens in der Primärfunktion hin, und auch Siuts führt Beispiele f ü r das primärfunktionale Singen unserer Tage an, stellt eine Liste von aktuellen Texten mit kontrafazierenden Melodien zusammen und kommt zu dem Schluß, daß „das Volk heute nicht bloß rezeptiv verharrt, sondern immer noch produktiv sein kann" 5 4 . Auch die im Zusammenhang mit dem Gruppensingen und der gegenständlichen H a n d h a b u n g der Lieder anzutreffenden Uberlieferungsformen — orale Tradition, Anlage von hs. Liederheften, Umsingeerscheinungen und Variantenbildung — finden sich bei der Feldarbeit immer wieder. Solche Umsingeerscheinungen geschehen im heutigen Jugendlied quasi unter den Augen des Komponisten — und werden geduldet 55 . Nicht zu übersehen ist auch, d a ß die Schallplatte, einst als der Feind N r . 1 primärfunktionalen
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K l a u s W e i l e r , Chanson Folklore international. Bericht über eine Fernsehsendung, in: ad m a r g i n e m . R a n d b e m e r k u n g e n zur musikalischen V o l k s k u n d e 5, N e u s s 1966. W . W i o r a , Der Untergang des Volksliedes und sein zweites Dasein, in: M u s i k a l i s d i e Z e i t f r a g e n V I I , D a s V o l k s l i e d heute, Kassel 1959, S. 10. W . T r ä d e r , a. a. O . , S. 33. — G. W a t k i n s o n , ebda., Volksliedpflege und Strukturwandel der Jugend, a. a. O., S. 53. — H . Siuts, Das Volkslied unserer Tage, in: Zs. f . V k d e . 55 (1959) S. 6 7 ff. — V g l . auch H . Fischer, a. a. O., S. 96. E. Klüsen, Zur Typologie des gegenwärtigen Jugendliedes, i n : Festschrift f . W . W i o r a , Kassel 1 9 6 7 , S. 485 ff.
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Singens betrachtet, immer stärker zum Mittel oraler Tradition wird. Manche Komponisten lehnen es ab, ihre Lieder gedruckt herauszugeben, das politische Lied wird in Spanien wegen der strengen Versammlungsvorschriften fast ausschließlich über die Schallplatte bekannt und durch ihre Vermittlung gesungen 56 . Das sind neue Mittel und neue Mittler, aber sie wirken innerhalb der alten Funktionen, und unter dem Bezugssystem von Primär- und Sekundärfunktion betrachtet, haben sich nur die Quantitäten gewandelt. Eines ist freilich anzumerken. J e umfangreicher und intensiver das Gruppenlied als Triumphierender Gegenstand erlebt wurde, je stärker sich die Sekundärfunktion des Anschauungserlebnisses entwickelte, um so deutlicher wurde die Forderung nach aesthetischer Qualität auch für das Gruppenlied in der Primärfunktion erhoben. Der im Umgang mit dem Lied als geschmücktem Gegenstand Erfahrene, stellt auch aesthetische Ansprüche an das Lied, mit dem er primärfunktional umgeht. Darauf weisen die ständigen Polemiken gegen die „rohen", „schlechten" und „einfältigen" Gesänge, Einwände, die nicht auf moralische Kategorien zielen — sie sollen hier außer Betracht bleiben — sondern auf aesthetische. In der Zeit nach Herder wurde das Vokabular noch um die Termini „Schlamm", „unecht", „sentim'ental", „kitschig" charakteristisch erweitert. Entscheidend für unsere Zeit sind die aesthetischen Forderungen, die der singende Wandervogel an das primärfunktionale Singen stellte; aus dieser Forderung erwuchs die Wiederbelebung des alten Volksliedes. Ganz deutlich ist hier das Lied in seiner lebensgestaltenden Primärfunktion gemeint, aber für jene Gruppen konnte es nur primär funktionieren, wenn von ihm auch ein aesthetisch begründetes Anschauungserlebnis ausging 57 . Auch Studenten lehnen „gewisse Lieder" als unmöglich ab 58 , und die breite Diskussion um das neue religiöse Lied wird weitgehend unter aesthetischen Gesichtspunkten geführt 59 , wie ja auch schon Beuttner 1602 aesthetische Forderungen an das Gruppenlied mit dem Rückgriff auf alte Traditionen erfüllen wollte gleich dem Wandervogel später 80 . Doch ist auch hier wieder eine Einschränkung zu machen. Erfahrungen bei der Feldforschung erweisen immer wieder, daß auch unter aesthetisch Anspruchsvollen in gewissen primärfunktionalen Singsituationen solche Ansprüche zurückgestellt werden. Ein Kegelklub von Beamten des gehobenen Dienstes verfügt über ein Gruppenliedgut ohne jeden Anspruch auf aesthetische Qualität, und das Singen einer Lehrergruppe im Omnibus bei der Rückfahrt von einer Tagung begann zwar 56
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58 5a 60
3*
Interview auf der Tagung der A B W (Arbeitsgemeinschaft Burg 1966, Tb. 11/8 b im Institut für Musikalische Volkskunde an der Neuß (vgl. Anm. 52). H . Breuer, Wandervogel und Volkslied, Vorwort zur 5. Auflage 1911, abgedruckt bei Ziemer-Wolf, Wandervogel und freideutsche berg 1961, S. 219. Stephenson, a. a. O., S. 69. L. Zenetti, Heiße (W)Eisen, München 1966, S. 158 ff. S. Meister (-Baumker), Das katholische deutsche Kirchenlied Bd. S. 93.
Waldeck), Pfingsten P H Rheinland, Abt. des Zupfgeigenhansl, Jugend, Bad Godes-
I, Freiburg/Br. 1862,
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Ernst Klüsen
mit dreistimmigen Madrigalen — der geschmückte Gegenstand in Primärfunktion — endete aber mit einem Repertoire gängiger Rhein-Wein-Operetten- und Soldatenlieder 61 . So muß man sich vor einseitigen Feststellungen sichern und sich stets bewußt halten, wie komplex der Umgang mit dem Lied sein kann. Es wäre beispielsweise genauer zu untersuchen, ob der Gebildete vielleicht einen Unterschied zwischen Trivialfunktionen (Kegelklub, Omnibusfahrt) und gehobenen Funktionen (festliches Singen in der Öffentlichkeit) macht und seine aesthetischen Ansprüche an das Lied als dienenden Gegenstand von Fall zu Fall modifiziert. Was aber ist — nachdem wir das Gruppenlied nach seinen Lebensformen und Lebensbereichen umrissen haben — mit dem Volkslied? These
IV:
Der Begriff Volkslied ist eine Fiktion und kann nur als abstrakte Globalbezeichnung für die Gesamtheit aller Gruppenlieder verwendet werden.
Es gibt kein Lied unter jenen, die wir Volkslieder nennen, das von der Allgemeinheit, will sagen quer durch alle Generationen und soziale Schichten gesungen wird. Wer „Die Wacht am Rhein" singt, singt nicht die „Internationale". Wer singt ein Wiegenlied? Und wem das Lied „Ach Elslein, liebes Elslein" ans Herz gewachsen ist, mag das Lied „In München steht ein H o fbräuhaus" nicht singen. Klingt es von hüben „Ein feste Burg ist unser Gott", so schallt es von drüben „Fest soll mein Taufbund immer stehen". Goethe hat 1806, als die Bezeichnung „Volkslied" erst wenige Jahre gebräuchlich war, anläßlich der Rezension von „Des Knaben Wunderhorn" in der Jenaischen Literaturzeitung den fiktiven Charakter des Begriffs schon mit den Worten gekennzeichnet: „Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk noch für's Volk gedichtet sind" 6 2 , und die ganze Diskussion um den Begriff, wie sie von Levy und v. Pulikowski ausgebreitet 63 und bis auf den heutigen Tag fortgeführt wurde 64 , bezeugt die verwirrenden Bemühungen, Herders Volksliedbegriff mit den Fakten in Übereinstimmung zu bringen. Das, was Herder „Volkslied" nannte, hatte für ihn zwei Eigenschaften: Universalität der Verbreitung („im Volke") und Homogenität der aesthetischen Qualität („Gold", „Natur"). Beide Eigenschaften aber fehlen den in der Bevölkerung umlaufenden Liedern. Herder hat das selbst erkannt und sah in den von ihm als solche anerkannten Volksliedern, wie alle Romantiker bis auf den heutigen Tag, die letzten Reste des goldenen Zeitalters, die Reste des erhaltenen Goldes unter Schlamm, die 61 62
63
64
Näheres in meiner demnächst erscheinenden Studie, vgl. Anm. 48. Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 1806. Abgedruckt bei Müller-Blattau, Deutsche Volkslieder, Königstein 1959, S. 227. P. Levy, Die Geschichte des Begriffs Volkslied, Acta Germanica Bd. V I I / 1 3 , Berlin 1911. J. v. Pulikowski, Geschichte des Begriffes Volkslied im musikalischen Schrifttum, Heidelberg 1933. H . J. Moser, Um den Volksliedbegriff, in: Jb. f. Volksliedforschung 4 (1934). W. Hensel, Auf den Spuren des Volksliedes, Kassel o. J . (1944). W . Wiora, Das echte Volkslied, Heidelberg 1951.
Das Gruppenlied als Gegenstand
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Naturpoesie schlechthin. Solche aesthetischen Qualitäten sind aber, wie wir sahen, nicht wesensgemäß jenen dienenden Gegenständen eigen, die lebensgestaltende Funktion haben. Herder, der dies sehr wohl aus dem ihm vorliegenden Material erkannte, rettete sich in die Fiktion, indem er das ihm Passende als die Reste des in früheren Zeiten allein existenten Schönen erklärte. Auf seinen zweiten Irrtum, die Universalität, ist Herder von dem zu Unrecht so viel geschmähten Nicolai durchaus mit Recht aufmerksam gemacht worden. Die Kontroverse Herder / Nicolai dreht sich ja neben dem Streit um die aesthetische Qualität der Lieder — einem Streit, den Nicolai in der Sache nicht falsch, wohl aber, zugegeben, mit läppischen Mitteln führte — im wesentlichen darum, daß Nicolai das Gruppenlied als solches erkennt und es der Gruppe in seiner Primärfunktion belassen will. In diesem Sinne ist sein Hinweis auf die Handwerksburschenlieder durchaus vernünftig und keineswegs beschränkt 65 . Zweifellos hat es vor Herder keinen einheitlichen Begriff für die überall umlaufenden Lieder gegeben; sie waren eben unterschiedlicher Qualität, in verschiedenen Gruppen heimisch und dienten verschiedenen Zwecken. Kein Zweifel deshalb auch, daß das kühne Zusammenraffen dieser Gebilde im Volksliedbegriff Herders das Zerstreute, Inhomogene nicht binden konnte. Kein Wunder deshalb, daß es auch nach Herder nicht gelang, seinen aesthetische Homogenität und soziale Universalität suggerierenden Begriff auf die konkreten Erscheinungen exakt anzuwenden. So mußte man jene Lieder, die sich dem Begriff nicht fügten, ausscheiden, damit das übrig blieb, was sich mühelos unter ihn subsummieren ließ: das „echte" Volkslied, das „eigentliche" Volkslied, das „stilreine" Volkslied, das „schöne" Volkslied. Diese, nun zwei Jahrhunderte dauernden Bemühungen erinnern in fataler Weise an die Versuche zur Quadratur des Kreises oder zur Erfindung des Perpetuum mobile: eine Sache intellektuell einsichtig und praktisch darstellbar zu machen, die es gar nicht geben kann. Solche Verkennung der Tatsachen hatte zwei Folgen, eine gute und eine böse. Auf der einen Seite war Herders Irrtum durchaus schöpferisch. Dadurch daß er die Existenz der von ihm Volkslieder genannten Gebilde ins Bewußtsein der Gebildeten hob, die nun ihrerseits darangingen, diese Lieder zu sammeln und bekannt zu machen, hat er gegen Nicolai Recht behalten. Durch seine Begriffsprägung hat er in gewissem Maße das geschaffen, was es vorher in diesem Ausmaß nicht gegeben hatte: einen Schatz von weit bekannten, gruppenübergreifenden Liedern, das Bewußtsein ihrer Existenz und Möglichkeiten, sie in umfassendem Maße zu handhaben. Das bedeutet ohne Zweifel eine Bereicherung des geistigen Besitzes einer Nation, und darin liegt Herders Bedeutung und das Verdienst derer, die nach ihm ihr Interesse an diese Lieder wandten. Die von Herder angenommene soziale Universalität und aesthetische Homogenität wurde aber durch solche Bemühungen nicht verwirklicht. Das Gruppenlied 65
F. Nicolai, Eyn feyner kleyner Jg. 1, Vorwort S. 13 f.
Almanach
1777, Neudruck v. J . Boke, Weimar 1918,
Ernst Klüsen
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blieb Gruppenlied und seine aesthetischen Qualitäten blieben unterschiedlich bis auf den heutigen Tag. Watkinson spricht in seiner Enquete über das Singen Jugendlicher66 mit Recht von der „Fiktion des gemeinschaftsbezogenen Jugendlichen" heute — nur: in diesem abstrakten Sinn hat es ihn auch vorher nicht gegeben. Die „kleinen Gruppierungen" die Watkinson beobachtet, waren seit jeher jene Zusammenschlüsse, in denen das Lied als dienender Gegenstand werkzeuglich gehandhabt wurde. Der Begriff „Gemeinschaft" ist ebenso eine Fiktion wie der Begriff „Grundschicht"; sie bezeichnen keine konkret faßbaren Zusammenschlüsse, in denen Lieder wirklich leben können. Indem man — da daran tatsächlich nichts zu ändern war — nach Gründen für diese Erscheinung suchte, zeigte sich die andere — mißliche — Folge der Verkennung des Gruppencharakters umlaufender Lieder: Man suchte Schuldige und fand sie — in der Stumpfheit der Menschen, in der industriellen Arbeitswelt, im Management der Unterhaltungsindustrie, in den technischen Mittlern, in der Vermassung. Und so entstand das Märchen vom sterbenden Volkslied als das Märchen vom Tod eines Dinges, das es nie gegeben hat. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die Bezeichnungen für umlaufende Lieder vor und nach Herder deutlich auf ihren Gruppencharakter hinweisen: Lieder der Reiter (Reuterliedlein), Lieder der Bergleute (Bergreihen), Lieder der Gassenläufer (Gassenhauer). Sehr bedeutsam scheint mir, daß der Begriff Volkslied gerade im Volke selbst eine vielsagende Änderung erfahren hat. Volkslieder werden bis auf den heutigen Tag im Munde des Volkes, soll heißen: im Munde der unreflektiert mit diesem Begriff Umgehenden, nur solche Lieder genannt, die durch die Manipulation der Fachleute — durch die „Pflege" — gruppenübergreifenden Charakter erhalten haben, wie „Das Wandern ist des Müllers Lust", „Sah ein Knab ein Röslein stehn" usw. Höchst charakteristisch wird dieser Volksliedcharakter durch das Volk durch Hinweis auf die im vorigen Jahrhundert bis heute üblichen Medien zur gruppenübergreifenden Bekanntmachung von Liedern gekennzeichnet: „Lieder die man aus Büchern singt", „Lieder von Gesangvereinen", „Lieder die man übt", „Lieder die man in der Schule lernt". Dieser Tatbestand ist eine Erfahrung aller Volksliedsammler, genau wie jene, daß man, will man andere Lieder bei den Liedträgern hervorlocken als die „Volkslieder" des vorigen Jahrhunderts, nie nach „Volksliedern" fragen darf, sondern nach „alten Liedern", „Wirtshausliedern", „Soldatenliedern", „Fahrtenliedern" 6 7 : Man muß nach G r u p p e n liedern fragen, denn als Gruppenlied leben diese Lieder, wie auch ihre jüngsten Bezeichnungen dartun, bis auf den heutigen Tag. Dabei kann man außerdem noch die Erfahrung machen, daß die nun fast zwei Jahrhunderte währende Arbeit der Volksliedpflege dazu geführt hat, die älteren Gruppenlieder — vollkommen zu Unrecht wie jeder Sammler weiß — in der 6,5
67
G. Watkinson, Volksliedpflege und Strukturwandel der Jugend, in: Musikalisdie Zeitfragen V I I , Kassel 1959, S. 53.
H. Pfautz, Das Volkslied
in der höheren
Das Volkslied heute, Kassel 1959, S. 70.
Schule
II, in: Musikalische Zeitfragen VII,
Das Gruppenlied als Gegenstand
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Meinung der Liedträger gegenüber den gruppenübergreifenden neueren Liedern herabzusetzen. Durch die Volksliedpflege w u r d e nämlich der Vorgang des Übergreifens von Liedern von einer G r u p p e zur anderen verstärkt. Gruppenübergreifende Lieder h a t es z w a r schon immer gegeben, aber stärkeres Ubergreifen durch b e w u ß t e Pflege seit etwa 150 J a h r e n ist nicht zu übersehen — u n d hat die Fiktion H e r d e r s a m Leben gehalten. So behaupte ich schlicht, d a ß es ein Volkslied in dem Sinne, wie wir seit H e r d e r den Begriff a n g e w a n d t haben, gar nicht gibt. Es gibt nur Gruppenlieder, u n d das was wir Volkslieder nennen, ist eine theoretische Abstraktion v o n Gruppenliedern, die hin u n d wieder verschiedenen, nie aber allen G r u p p e n gemein sind.
Realisierbare Möglichkeit: G r u p p e n ü b e r g r e i f e n d e Lieder
Freudenthal bezeichnet den Ausdruck „Volksseele", so wie ihn Spamer im Anschluß an H e r d e r gebraucht, lediglich als einen „arbeitshypothetischen Begriff", der erst zusammen mit anderen Ausdrücken f ü r das W i r k g a n z e volkshafter Eigenart seinen letzten Sinn erhält 6 8 . Von gleichem hypothetisch-fiktivem C h a r a k t e r ist auch der Begriff Volkslied, und dieser C h a r a k t e r ist nicht nur darin begründet, wie Fischer ausführt 6 9 , d a ß jede Zeit ihr eigenes Lied hat, sondern, innerhalb derselben Epoche auch jede G r u p p e grundsätzlich über eigenes Liedgut v e r f ü g t . D e r fiktive Volksliedbegriff h a t sich zur exakten u n d vorurteilslosen Analyse sowohl der Gestalt wie des Lebensbereiches der u m l a u f e n d e n Lieder als untauglich erwiesen. In der Gestaltanalyse plagt m a n sich bis auf den heutigen T a g mit irrelevanten aesthetischen Wertbegriffen, bei der Analyse des Lebensbereiches mit der ebenso irrelevanten allgemeinen Verbreitung. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium w a r eine klare Gestalt- u n d Situationsanalyse nicht, möglich, daher die V e r w i r r u n g um die Begriffe „Volkslied" u n d „volkstümliches Lied", „Volkslied" u n d „Kunstlied". H i e r h a t die Schule J o h n Meiers Klarheit geschaffen 70 , indem sie die Irrelevanz des Aesthetischen betonte. I n d e m aber der Begriff „volkläufig" betont wurde, hielt m a n die Fiktion der allgemeinen Verbreitung fest. Die endlosen Debatten über „Volkslied u n d Schlager" aber konnten zu keinem Ergebnis führen, weil nicht nur mit ungeklärten Emotionen, sondern auch mit ungeklärten Begriffen gearbeitet
6S 69 70
Freudenthal, a. a. O., S. 145 f. A. a. O., S. 74. J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde,
Halle 1906.
Ernst Klüsen
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wurde. Das in einer geschlossenen Gruppe lebende, als dienender Gegenstand werkzeuglich gehandhabte Lied und das aus dem Management der Unterhaltungsindustrie stammende Schlagerlied sind im Prinzip unkompatibel, weil sie zwei verschiedenen, soziologisch genau zu definierenden Ebenen angehören. Jedes lebt in seiner W e l t ; sie berühren sich gelegentlich. D a n n kann ein Schlager wie „Auf Wiedersehn"
zum werkzeuglich
gehandhabten
Gruppenlied werden 11 ,
und ein
Gruppenlied kann, seines gegenständlichen Charakters entkleidet, in entsprechender Umstilisierung im Nachtlokal gesungen werden 12 . I n Ihrer Gesamtheit leben diese Bereiche getrennt. D e n n : Wieviele Schlager werden wirklich gesungen und als Gruppenlied werkzeuglich gehandhabt? Wohl dringt der Schlager als eine bastardisierte Form des Triumphierenden Gegenstandes in Bereiche, die früher dem Gruppenlied gehörten —
aber er wird dort nur gelegentlich als
Gruppenlied
assimiliert. Somit muß der Begriff Volkslied als eine Fiktion bezeichnet und kann allenfalls als eine Globalbezeichnung für die im besonderen M a ß e gruppenübergreifenden Lieder verwendet werden.
Zusammenfassung Vorurteilslose Gestalt- und Situationsanalyse ergibt, daß das umlaufende Singgut nur in festumrissenen primären Gruppen lebt — entweder als dienender Gegenstand werkzeuglich gehandhabt oder als triumphierender Gegenstand angeschaut; damit ist die Primär- und Sekundärfunktion des Liedes in der Gruppe grundsätzlich
gekennzeichnet. Die konkrete Einzelsituation
des Liedes in
der
Gruppe ist durch das für jeden Einzelfall zutreffende Bezugssystem von Primärund Sekundärfunktion exakt darzustellen. Das Märchen vom sterbenden Volkslied konnte nur in die Welt kommen, weil die Sammler das, von dem sie glaubten, daß es ehemals Besitz des ganzen Volkes war, nur in einzelnen Gruppen — wie sie meinten „noch" — antrafen. Dabei waren diese Lieder nie etwas anderes als Gruppenlieder. Was an Liedgut in der Gesamtbevölkerung umläuft ist — früher wie heute — bestimmtes Liedgut zu bestimmten Gelegenheiten in bestimmten Gruppen, mit der Möglichkeit gelegentlichen Austausches, versteht sich. D e r Begriff „Volkslied" im Sinne von nationalem Liedbesitz aller erweist sich als eine für die exakte Gestalt- und Situationsanalyse ungeeignete Fiktion.
11
12
H. Bausinger, Volkslied und Schlager, in: Jb. d. Österreich. Volksliedwerkes 5 (1956) S. 65 ff. H. Fischer, a. a. O., S. 37 ff. und 82 ff. Brüderlein und Schwesterlein ( = Schwesterlein, wann gehn wir nach Haus) Dany Mann und Heli Pagel, Vogue L DVS 17 102.
Das Gruppenlied als Gegenstand
41
Dabei ist zu beachten: Verschiedene Bevölkerungsdichte bedingt verschiedene Kommunikationsmethoden und veränderte Ökonomik, das heißt, veränderte Lebenstechnik. Veränderte Lebenstechniken bedingen veränderte psychologische und soziale Reaktionen, will sagen, veränderte Verhaltensweisen auch der Gruppen. Diese Binsenweisheit muß konsequent auf die Technik der Gruppenliedanalyse angewendet werden. Es werden interessante und weitreichende Veränderungen zu beobachten, aber es wird eines unverändert sein: der singende Mensch.
Adam Reißners handschriftliches Gesangbuch von 1554 als Quelle deutscher Volksliedweisen des 16. Jahrhunderts Von WALTHER L I P P H A R D T (Frankfurt am Main) Adam Reißner aus Mindelheim (ca. 1496 bis ca. 1582) 1 , den Hymnologen bekannt als Verfasser des evangelischen Kirchenlieds In dich hab ich gehoffet Herr, den Historikern als Verfasser der lebensvollen Biographie des Jörg von Frundsberg, dessen Sekretär er auf dem italienischen Feldzug 1525—1527 war, später Stadtschreiber von Mindelheim, als Schüler Reuchlins Freund humanistischer Studien, in theologischen Fragen Anhänger Caspar Schwenckfelds, ist uns seit kurzem auch als der Verfasser eines 63 Lieder umfassenden Gesangbuchs für die Schwenckfeldianer bekannt, von dem zwar Abschriften in großer Zahl vorlagen, dessen Original aber längst verloren schien. Dieses Gesangbuch ist, wie die Schriftproben ergaben, ein Autograph des Mindelheimer Stadtschreibers. Ich fand es im Frühjahr 1965 in der Fürstlich-OettingenWallersteinschen Bibliothek auf Schloß Harburg. Sein Titel lautet: Gesang buch/ Des Edlen Hoch-\\gelerten Christenmans Aurelij Pru-\\dentij Clementisl das er vor taußent \\Jarnl Jn latinischenversen geschrib[e]n || Jetz gründtlich geteutscht. || Auch etliche andrer neue gaystliche || liederf vnd gsang zum seligmachend\en] || erkantnuß Jesu Chr[ist]j/ vnd zu of-\\fenbarung des Antichrists dienstlich. || — [Das Datum am Ende der Vorrede:] Datum am tag Innocentum/ nach der gehurt des Herrenl Im angeenden fünfzechenhundertl fünf vnd fünfzigisten Jar [Natalstil, also 28. 12. 1554] 2 . — Die sorgfältige Anlage des Buches und die saubere Schrift deuten darauf hin, daß es sich um ein Druckmanuskript handelt. Ob es aber wirklich gedruckt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis; da noch im Jahre 1709 ein schlesischer Schwenckfeldianer, Kaspar Weiß, der nach Amerika auswanderte, eine 1
Die Schreibweise ,Reusner' ist falsch, da sie nur auf der späten Wolfenbüttler Hs von 1596 beruht. D. Sudermann schreibt ,Reißner', und diese Form des Namens findet sich auch auf allen Veröffentlichungen, die mit dem vollen Namen zu Lebzeiten Reißners bezeichnet sind. Sie wird auch vom Corpus Schwenckfeldianorum so gebraucht. — Ober die Biographie A. R.s s. Otto Bucher, Adam Reissner. Ein Beitrag zur Gesch. der dt. Reformation, in: Münchener Hist. Stud. Abt. Neuere Gesch. Bd. II., Kallmünz, 1957.
2
Walther Lipphardt, Das wiedergefundene Gesangbuch-Autograph von Adam Reißner aus dem Jahre 1554, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie ( J b L H ) 10 (1965), S. 55—86. — In diesem ersten Bericht über den Fund findet sich die genaue Beschreibung der Hs. (Harburg, Fürstl. Oettingen-Wallersteinsche Bibliothek Ms. I. 3, 4° 10) und der Abdruck vieler Melodienbeispiele in Faksimile.
Adam Reißners handschriftliches Gesangbuch von 1554
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Abschrift des Buches anlegte, ist das Vorhandensein eines Druckes durchaus als möglich anzunehmen 3 . Wir besitzen eine ganze Reihe von Gesangbüchern kleinerer Denominationen (Schwärmer, Wiedertäufer, Schwenckfel dianer). Sie alle unterscheiden sich von den Gesangbüchern der in der Reformationszeit sich herausbildenden größeren Konfessionsgemeinschaften dadurch, daß sie keine Noten haben. Das ist für uns um so bedauerlicher, als die Tonangaben dieser Gesangbücher viel stärker auf Kontrafakta von Volksliedern schließen lassen, die uns nur zum Teil bekannt sind. In Reißners Gesangbuch gibt es nicht nur solche Tonangaben in großer Fülle, sondern daneben auch noch die sorgfältige, mit geübter Hand durchgeführte Aufzeichnung der Melodien (zu 38 Liedern). Sie machen dieses Gesangbuch über seine hymnologische Bedeutung hinaus zu einem einzigartigen Dokument der Liedgeschichte des 16. Jahrhunderts. A. R. zeigt sich in diesem Gesangbuch als ein großer Meister der geistlichen Kontrafaktur, der seine neu gedichteten Lieder nicht unbedacht — etwa aus Sensationslust oder aus Gründen der Popularität — nach bestimmten vorgegebenen Melodien schreibt. Die Melodiequellen, die er als Vorlagen wählt, sind verschiedener Herkunft. Sie entstammen dem Hymnenschatz der lateinischen Kirche, den Cantiones und geistlichen Liedern des Mittelalters, den Humanistenoden, dem Meistersang, dem Gesangbuch der Böhmischen Brüder (1531)4, den Gesangbüchern der Wittenberger, der Straßburger und der Konstanzer Reformation, Liedblättern und Gesangbüchern der Schwärmer und Wiedertäufer, vor allem aber dem reichen Volksliedschatz des 16. Jahrhunderts. In dieser vielfältigen Schichtung der Quellen spiegelt sich die große Vielseitigkeit des Verfassers, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Zeit gewesen sein muß. Keine dieser Quellen läßt er textlich unverändert. Allen prägt er durch seine Kontrafakturen das Siegel seiner Persönlichkeit auf, auch dort, wo er sich nur als Übersetzer gibt. Das ist vor allem im ersten Teil seines Werkes der Fall, der meisterhaften Übersetzung des Cathemerinon von Aurelius Prudentius 5 . In drei Fällen hält er sich dabei in der Wahl seiner Strophen an das klassische Vorbild. In fünf Fällen ändert er die Strophen, weil ihm eine bestimmte musikalische Vorlage geeigneter erscheint. Für zwei der Hymnen wählt er eine Choralmelodie als Vorlage (Nr. 7 und 8), für drei Lieder eine aus dem Gesangbuch der Böhmischen Brüder, für eine den Tenor einer humanistischen Odenkomposition und für eine andere die Melodie einer mittelalterlichen Cantio. Weltliche Kontrafacta sind aus diesem Teil des Gesangbuchs, der einen geradezu sakralen Eindruck macht, ausgeschlossen. Um das Verfahren der Kontrafaktur in diesem rein geistlichen Teil studieren zu können, behandeln wir zunächst die einzelnen hier auftauchenden Stilschichten und 3 4 5
S. W. Lipphardt, ebda. S. 66 f. Michael Weiße, Ein New Gesengbuchlen, Jungbunzlau 1531. A. R. (so die Abkürzung unseres Aufsatzes für Adam Reißner) übersetzt von der umfangreichen Hymnenfolge des Prudentius: Cathemerinon I, 1—25, II, 1—28; III, 1—28; IV, 1—34; V, 1—42; VI, 1—32; IX, 1—38; XII, 1—52.
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Walther Lipphardt
ziehen zum Vergleich jene Lieder des zweiten Teils heran, die auch zu diesen Schichten gehören. Den Titel der Melodie geben wir jeweils mit allen Tonangaben, die Reißner dabei für notwendig hielt.
A. K o n t r a f a k t u r e n z u l a t e i n i s c h e n
Hymnenmelodien
1. [Nr. 7] Hymnus ante somnum Prudentij. || Ades pater supreme. || Lobgesang || Ehe den man schlaffen ghet. || ]n der Melodia || Christ d[er] du bist tag und liecht. |j D[er] han verkindet vns die zeyt. A. R . gibt die Melodie des Hymnus (Stäblein: Mel. 9 2 ) 6 , läßt aber durchaus die Möglichkeit offen, die Melodie aus dem GB der Böhm. Br. zu verwenden, die er seinem ersten Prudentiushymnus zugeordnet hat (s. u.). Er hält hier nicht am Versmaß des Prudentius (Siebensilbler = katalektischer jambischer Dimeter) fest, sondern wählt das bekanntere Versmaß des achtsilbigen ambrosianischen Dimeters 7 .
Hüft
vns
uns — , o —
sein
wort,
Herr
Va - ter,
Je
hoch - ster
— su
Christ,
Gott,
hilf,
den
hei1
nie
kein
— ger
mensch
Geist,
ge - se - chen
du
trö
- Star
hat,
hilf
bist.
(39 Str.)
2. [Nr. 8] De miraculis Christi Hymnus Pruden-\\tij ad omnes horas. || Da puer plectrum. || Von den Wundertaten/ vnd wol-\\thaten Christi/ Lobgesang auf al-\\le stund. Prudentius hat für diesen Hymnus die Strophe aus drei trochäischen Fünfzehnsilblern (trochäischer Senar genannt), die auch Pange lingua-Strophe genannt wird. Mittelalterliche Praxis hat einen Teil dieses Hymnus, beginnend mit Corde natus durch einen Siebensilbler-Refrain: seculorum secuta erweitert und dazu eine Melodie geschaffen, deren sich A. R . hier in bewußter Anknüpfung an die mittelalterliche Prudentius-Uberlieferung aber ohne Beachtung des Refraincharakters der 7. Kurzzeile bedient 8 . Eine Melodieaufzeichnung dieser Melodie zu einem deutschen Text
6
Hymnenmelodien werden zitiert nach Monumenta Monodica (I), herausgegeben von Bruno Stäblein, Kassel 1956.
7
Prudentius, Cathemerinon
8
Prudentius, Cathemerinon Nr. 38):
Medii
Aevi
I, Hymnen
I, 1 (nach An. hymn. Bd. 50, N r . 4 6 ) : Ades pater supreme, Quem nemo vidit unquam, Patrisque sermo Christe Et spiritus benigne. I X , 1 (nach Ph. Wackernagel, Das deutsche
Kirchenlied
I,
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Adam Reißners handschriftliches Gesangbuch von 1554
stand wohl zuerst in dem verschollenen Bonnischen Gesangbüchlein von 1544. Nach dessen zweiter Auflage 1550 hat Zahn die Melodie unter Nr. 3682 aufgezeichnet. Sie stimmt bis auf kleine Unterschiede mit Reißners Fassung überein.
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J ijjj-jfipi det
— ne
wun
— dar
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that
(50 Str.)
3. [Nr. 26] Jambicus Ambrosü. || Morgengsang Ambrosij/ dasd[er] || Herr den tagvor sund behüeten |j vnd in seynem dienst erhalten wöll. [am Rand:] In der Melodia: Der han verbindet vns die zeyt. Es soll die sünd vnd reich der nacht. Die Melodie fehlt. Der Anfang aber macht deutlich, daß A. R . sich hier an das Vorbild des Hymnus Jam Iuris orto sidere hielt, zu dem er die beiden vorausgehenden Mein, von Nr. 2 und 3 vorschlägt, was aber die originale Hymnusmelodie nicht ausschließt. Wir geben hier nur den Text der 1. Strophe: So nu das liecht aufgangen ist, Bitten wir fleissig Jesum Christ, das er behüt vnß disen tag vor allem, das vns schaden mag. 4. [Nr. 59] Von der gemeinschaffl Christ']. || Inder Melodia j| Pange lingua gloriosi || o[der\ || Dein armer häuf hie thut klagen. || Vrbs beata Hierusalem. — Welche der verschiedenen Melodien zu dem Kirchweih-Hymnus A. R . meinen mag, ist nicht ganz klar. Das deutsche Lied in der Tonangabe stammt von M. Stiefel und erscheint mit eigener Melodie bei J . Walter, Wittenberg 1524, in Konstanz wurde es nach dem Gesangbuch von Zürich 1540 zu der Weise des Fronleichnamsliedes gesungen, offenbar mit stark parodistischer Tendenz. A. R . scheint diese Tendenz nicht zu billigen, sondern wählt das Lied als Abendmahlslied und gibt es damit seiner ursprünglichen Bestimmung wieder zurück. Die Melodie A. R.s richtet sich in der Ligaturen-Setzung nach dem lat. Vorbild (Stäblein Mel. 56 1 ) und nicht
Da puer plectrum, choreis, ut canam fidelibus, Dulce carmen et melodum gesta Christi insignia. Hune camoena nostra solum pangat, hune laudet lyra.
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Walther Lipphardt
nach der vereinfachten Schreibung, welche die lutherischen Quellen seit 1525 zu dem Text: Mein Zung erkling haben (Zahn 3682 a).
0
Vat - ter, im him - mais - thro - na
A in hoch -zeyt
bay
dam
mit