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German Pages 197 Year 2016
Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Friedhelm Kraft, Hanna Roose, Bert Roebben, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Elisabeth E. Schwarz
»Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt« Kindertheologie im Unterricht Jahrbuch für Kindertheologie Band 15
Herausgegeben von Hanna Roose und Elisabeth E. Schwarz
Calwer Verlag Stuttgart
eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4409–5 ISBN 978–3–7668–4407–1 © 2016 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com
Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen
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Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Hanna Roose Kindertheologie und schulische Alltagspraxis Eine rekonstruktive Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . 13 Juliane Schrader »Manna ist also etwas, was sozusagen von den Schildläusen ausgeschieden wird …« – Ein Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Arndt Elmar Schnepper Gute Gründe – Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Oliver Reis »Öffnen kann ja jeder!« – von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Hanna Roose Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?. . . . . . 56 Anke Wischmann / Cornelie Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht – Ein Beitrag zur Kontextualisierung von Differenzierungspraktiken. . . . . . . . . . . . . 62 Irene Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht: Das Vorlesegespräch. . . . . . . . . . . . . . . . 75 Gerhard Büttner Theologisch kommunizieren – geht das?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Nancy Vansieleghem Parrhesia (Wahr-Sprechen) als Prinzip des Philosophierens mit Kindern. . . . . . . . 102
6 Sturla Sagberg Theologie mit Kindern: Mahnungen und Ausblicke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
II. Pädagogische Anregungen
Johan G. Valstar Theorie und Praxis in einer realistischen Verbindung – Ausbildungsdidaktische Bemerkungen zum flämisch-niederländischen DVD-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Norbert Brieden »Was da in der Lerngruppe rausgekommen ist, hat mich echt überfordert.« Kindertheologie in der Begleitung von Praxisphasen im Lehramtsstudium . . . . . 133 Christian Dern Das Lesen von Ganzschriften im Religionsunterricht der Sekundarstufen – konkrete Einblicke in den Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Gerlinde Hämmerle »Gott, Jesus und der Heilige Geist wollen alle nur Frieden« Theologisieren mit Kindern in der ersten Schulstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Anika Loose »(…) in der Bibel kann alles sein, auch Sachen, die für uns nicht möglich sind« – Grundschulkinder als Rezipienten der biblischen Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Jacqueline de la Motte / Norbert Brieden Gottesbilder von Kindern im Religionsunterricht wahrnehmen – Religionsdidaktische Schlussfolgerungen aus zwei Fallbeispielen. . . . . . . . . . . . . . . 176 III. Buchbesprechung
Annike Reiß: »Man soll etwas glauben, was man nie gesehen hat« – Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik. . . . . . . . . . . . . . 191 Anhang
Wie führe ich ein Literarisches Gespräch?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Vorwort
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Vorwort
In ihrer Anfangszeit hat die Kindertheologie einen Schwerpunkt auf die »Theologie von Kindern« gelegt. In den ersten Jahrbüchern für Kindertheologie finden sich zahlreiche explorative Untersuchungen, die Kinderäußerungen zu bestimmten theologischen Fragen erheben und auswerten. Im Fokus stand das Interesse zu zeigen, wozu bereits Kinder in theologischer Hinsicht fähig sind. Viele dieser Bände wurden breit rezipiert. Gerade der niederschwellige, explorative Zugang ermöglichte den ersten Jahrbüchern für Kindertheologie ihre Strahlkraft in die religionspädagogische Praxis hinein. Sie machten sich dadurch aber auch angreifbar: Bedurfte es nicht (höherer) Standards empirischer Forschung im Bereich der Kindertheologie?1 Wie repräsentativ und zuverlässig waren die Ergebnisse? Beschränkten sich die Erhebungen nicht nur auf eine kleine Gruppe intelligenter und aufgeweckter (Professor/innen-) Kinder?2 Inzwischen haben unterschiedliche Jahrbücher neue Akzente gesetzt, die über die anfängliche Fokussierung auf explorative Studien zu einer Theologie von Kindern deutlich hinausführen: 2011 widmete sich ein Sonderband dem Verhältnis von Kindertheologie und Kompetenzorientierung. Damit rückte die Frage in den Blick, was Kindertheologie zur Ausbildung von Kompetenzen im Religionsunterricht beitragen kann bzw. inwiefern Kindertheologie als ein Produkt nachhaltiger Lernprozesse ver-
standen werden kann. Folgerichtig erhielt damit auch die Frage nach einer Theologie für Kinder stärkeres Gewicht. Ihr ging der Band 12 (2013) nach. Im darauf folgenden Jahr thematisierte Band 13 das Theologisieren mit Kindern aus bildungs- und religionsfernen Milieus. Der vorliegende Band greift diese Aspekte auf und verortet sie im Rahmen schulischer Alltagspraxis. Was bedeutet Kindertheologie unter schulischen Bedingungen? Was ist da (überhaupt) möglich? – Mit einer Lehrkraft, die 20–30 Kinder unterrichtet (und keine Einzeloder Gruppeninterviews durchführen kann)? Mit einer zeitlichen Taktung von 45 oder 90 Minuten, eingefügt in andere schulische Fächer? Mit einer Zielorientierung, die es nicht erlaubt, sich darauf zu beschränken, Kinderäußerungen einzuholen und zu bestaunen? Mit Kindern, die unterschiedlichste Voraussetzungen mitbringen? Mit Lehrkräften, denen begrenzte (Zeit-) Reserven für die Vorbereitung des Unterrichts zur Verfügung stehen? Mit einer Lehr-Lerngemeinschaft, in der sich bestimmte Routinen eingeschliffen haben, die sich nicht so leicht verändern lassen? 1 Mirjam Zimmermann, Wie mache ich gute kindertheologische Forschung?, in: JaBuKi 5, Stuttgart 2006, 69–78. 2 Marcel Saß, »Maria war die Frau von Jesus?« – Chancen und Grenzen kindertheologischer Zugänge, in: JaBuKi 10, Stuttgart 2011, 133– 152.
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Vorwort
In Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen will der Band einen Beitrag zur schulischen Praxistauglichkeit von Kindertheologie leisten. Er nimmt dazu einerseits die Prozessqualität von schulischem Religionsunterricht (auch im Vergleich zu anderen Fächern), andererseits die (Aus-)Bildungserfordernisse für (angehende) Lehrkräfte in den Blick. Die einzelnen Einblicke in die schulische (oder auch universitäre) Praxis mögen für den oder die kindertheologisch geschulte Leser/in zuweilen ernüchternd wirken. Demgegenüber ist unseres Erachtens zu betonen: dass zwei Beiträge die Anschlussfähigkeit kindertheologischer Forschung an qualitative Forschung aus den Bereichen der Deutschdidaktik sowie der allgemeinen Erziehungswissenschaften unter Beweis stellen, dass eine Beschränkung auf positive »best practice« Beispiele – die in kindertheologisch inspirierten Beiträgen deutlich überwiegen – bei (angehenden) Lehrkräften zu der Wahrnehmung führen kann, dass Kindertheologie unter den je vorgefundenen unterrichtlichen Alltagsbedingungen ohnehin nicht durchführbar sei, dass schulische Alltagspraxis in all ihrer kindertheologischen »Unvollkommenheit« durchaus wichtige Anschlussstellen für die Anliegen der Kindertheologie bietet, die es differenzierter als bisher zu erkennen gilt, dass es nicht im Sinne der Kindertheologie sein kann, als »besondere Zugabe« nur dann zum Zuge zu kommen, wenn der »eigentliche« Unterricht Raum dafür lässt. Wenn Kindertheologie in der schulischen Alltagspraxis Relevanz bean-
spruchen will, dann muss sie sich an der schulischen Alltagspraxis messen lassen. Dieser Herausforderung stellt sich der vorliegende Band. Vorschau auf die einzelnen Beiträge
Hanna Roose bietet zunächst einen ersten Einblick in die Alltagspraxis des Religionsunterrichts und fragt, wie sich die sichtbaren Normen und Regeln dieses Unterrichts zu kindertheologischen Normen verhalten. Sie definiert dabei als Kernanliegen einer kindertheologischen Religionsdidaktik, dass Chancen zur Thematisierung »großer Fragen« genutzt werden und dass das »Theologisieren mit Kindern« gefördert wird. Erstaunlicherweise wird in den analysierten Unterrichtsstunden zum Thema Gott als König oder Hirte die sich anbietende Gelegenheit, die »große Frage« nach dem eigenen Gottesbild zu stellen, nicht genützt – bei aller zu beobachtenden Bereitschaft mit Kindern in ein offenes Gespräch zu treten. »Die praxeologisch inspirierte Analyse lässt vermuten, dass es sich dabei nicht um ein schlichtes ›Versehen‹ oder gar ›Unvermögen‹ der Lehrkraft handelt, sondern dass sich dieses Phänomen als (impliziter) Normenkonflikt deuten lässt. Die Rekonstruktion dieses Normenkonfliktes kann den Blick für die Frage schärfen, wo möglicherweise Grenzen der Thematisierung großer Fragen im RU liegen.« Auch Juliane Schrader analysiert anhand von Videovignetten mehrere Unterrichtssequenzen in einer dritten Grundschulklasse zur Exoduserzählung im Blick auf Vorschläge von Frieder Harz zur kindertheologischen Erarbeitung dieses The-
Vorwort
mas. Sie wählt dafür wie Hanna Roose erfahrene Lehrkräfte, die nicht explizit kindertheologisch arbeiten wollen. Die genaue Dokumentation der Gesprächsverläufe zeigt, wo Chancen zum Theologisieren vertan wurden, weil die Lehrkraft Fragen der Schüler/innen zu wenig förderte und weil das Wundern über Wundererzählungen kaum zugelassen wurde. Stattdessen bemühte die Lehrkraft naturwissenschaftliche Erklärungen und arbeitete zielorientiert und auf der Sachebene mit entscheidbaren Fragen. Liegt hier mit einer möglichen Konzentration auf abfragbares Wissen für die zu schreibende Klassenarbeit eine weitere Grenze kindertheologischen Arbeitens? Immer wieder zeigt sich, dass das Theologisieren im Unterricht deshalb unbefriedigend bleibt, weil Schüler/innen zu wenig argumentieren oder der Abschluss der Gespräche nicht zufrieden stellend gelingt. Arndt Schnepper greift den verschiedentlich diagnostizierten Mangel an Argumentationstechniken im Religionsunterricht auf (entgegen der in verschiedenen Lehrplänen festgehaltenen Aufgabe des RU, Schülerinnen und Schüler zu einem begründeten Urteil in Glaubens- und Lebensfragen zu befähigen). In seinem Beitrag beschreibt er verschiedene Argumentationsmodelle nach einer Systematisierung von Perelman und Olbrechts-Tyteca und zeigt an Beispielen aus der religionspädagogischen Literatur, dass grundsätzlich schon Volksschulkinder alle drei Hauptkategorien begründeten Redens anwenden könn(t)en. Sie bedürfen aber ganz sicher der Förderung durch die Lehrkräfte. Im darauf folgenden Beitrag fragt Oliver Reis: »Wie kann das Theologisieren
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mit Kindern am Leben gehalten werden und gleichzeitig noch orientiert sein – und wo liegt überhaupt der Zielpunkt?« Dazu beschreibt er zunächst ganz allgemein »Öffnen« und »Schließen« als Grundmuster des Unterrichts und des Lernprozesses und differenziert im Anschluss sechs verschiedene Lernformate im Hinblick auf »Öffnen« und »Schließen« am Beispiel des Themas »Schöpfung«. Das passende Lernformat für die Anliegen der Kindertheologie ist seiner Meinung nach das Diskurslernen. In ihm erfolgt »nach der Öffnung für den Diskurs verschiedener Positionen die Schließung auf der Verfahrensebene nicht für eine bestimmte Position, sondern für eine reflektierte Positionalität an sich«. Ausführlich wird im Weiteren das Typische des Diskurslernens beschrieben und mit der Kindertheologie vernetzt. Ziel des Theologisierens wäre demnach mehrperspektivische Theologiebildung, wo sie vom Thema her angemessen ist. Ob die in solchen Gesprächen vom einzelnen Kind errungene Positionalität dauerhaft, nachhaltig eingenommen werden sollte, ist die zur Diskussion gestellte Frage im zweiten Beitrag von Hanna Roose. Sie argumentiert dafür, dass Nachhaltigkeit kein Kriterium gelungenen Lernens im Bereich »unentscheidbarer Fragen« sein muss (soll), listet gleichzeitig aber auch auf, inwiefern Nachhaltigkeit dennoch ein Qualitätskriterium in der Kindertheologie allgemein sein kann. Nebenbei wird als eine weitere Grenze des (kritischen) Theologisierens das emotionale Bedürfnis eines Kindes nach Sicherheit in Krisensituationen genannt (seelsorgerlicher Bereich). Es folgen grundsätzliche Beiträge zum Wesen des RU und des Gesprächs mit Schüler/innen.
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Vorwort
Anke Wischmann und Cornelie Dietrich stellen Überlegungen zur Genese von Heterogenität im Fachunterricht an und bieten einen Beitrag zur Kontextualisierung von Differenzierungspraktiken. Am Beispiel von zwei Unterrichtseingangssequenzen einer dritten Grundschulklasse in den Fächern Deutsch und Religion, die mit der dokumentarischen Methode ausgewertet werden, veranschaulichen und kontrastieren sie exemplarisch die Praktiken fachspezifischer Heterogenität. Schüler/innen erleben im Schulalltag viele Gesprächsangebote. Unterscheiden sich diese essentiell, je nachdem, in welchem Schulfach sie erfolgen? Exemplarisch kreisen im Folgenden die Beiträge um das »literarischer Gespräch«, das »theologische Kommunizieren« und das »Philosophieren mit Kindern«. Irene Pieper skizziert aus der Sicht der Literaturdidaktik das »literarische Gespräch«. Sie fokussiert dabei das Vorlesegespräch, das seinen Raum in der Grundschule hat. Während das literarische Gespräch auf eine Meta-Ebene zielt, führt das Vorlesegespräch an das literarische Verstehen heran. Die Übergänge sind fließend. Insgesamt bewegt sich das literarische Gespräch – wie das theologische Gespräch – zwischen einer Ergebnisoffenheit und einer Text- (bzw. Sach-) Orientierung. Gerhard Büttner diskutiert in seinem Beitrag die Frage, was das Spezifische des theologischen Kommunizierens sein kann und spielt dabei drei mögliche Perspektiven durch: Die Theologizität des Religionsunterrichts hängt demnach davon ab, ob diese von der Lehrkraft zum Rahmen der Unterrichtsaktivität und Unterrichtskommunikation gezählt
wird, oder ob die theologische Kommunikation an der Leitdifferenz ImmanenzTranszendenz ausgerichtet wird, oder ob eine Korrelation von theologischen Inhalten und Glauben vorliegt. Büttner plädiert schließlich für die Ausrichtung an der genannten Leitdifferenz, um bei der Planung und Analyse von Unterricht der Theologizität gerecht zu werden. Nancy Vansieleghem plädiert im philosophischen Gespräch mit Kindern für Parrhesia, im Gegensatz zu den beiden anderen Gesprächstechniken, wie sie Michel Foucault beschreibt, nämlich Schmeichelei und Rhetorik. Parrhesia meint »die Freimut, Freiheit und Offenheit in der Rede […]. d.h. man sagt, was man zu sagen hat, wie und wann man es sagen möchte und in der Form, die man für notwendig hält«. Es wird genauer zu diskutieren sein, welchen dieser drei diskursiven Gestaltformen das Philosophieren oder Theologisieren mit Kindern an unseren Schulen tatsächlich zugeordnet werden müsste. Sturla Sagberg reflektiert in seinem Beitrag den theologischen Inhalt einer Theologie mit und für Kinder(n), indem er Mahnungen formuliert und Ausblicke gibt. Mit Anton Bucher und Friedrich Schweitzer beobachtet er, dass eine Theologie für Kinder noch ein Entwicklungsdesiderat darstellt und sieht die Kindertheologie daher am Scheideweg. Die Zukunft der Kindertheologie betrachtet er als abhängig von ihrer Beziehung zur Spiritualität der Kinder. Die pädagogischen Anregungen gelten einerseits der Lehrerausbildung, andererseits dem konkreten kindertheologischen Arbeiten im Religionsunterricht. Johan G. Valstar gibt in seinem Beitrag einen Einblick in ein flämisch-nieder-
Vorwort
ländisches DVD-Projekt und stellt ausbildungsdidaktische Bemerkungen an, indem er mit Fred Korthagen und seinem realistischen Ansatz das Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert. Er plädiert dafür, die subjektiven Konzepte angehender Lehrkräfte als Ausgangspunkt für berufliche Lernprozesse ernst zu nehmen und angesichts der großen Bedeutung von inzidentem und implizitem Lernen im Alltag angehenden Lehrkräften auch diese Lernprozesse bewusst zu machen. Das DVD Projekt soll realistische Ansätze bieten, um der beruflichen Kernqualität von Lehren und Lernen, der dreifachen Einheit des Lernens (wahrnehmen / interpretieren / begleiten), gerecht zu werden. Norbert Brieden sondiert an konkreten Erfahrungsberichten von Studierenden Chancen und Grenzen einer kindertheologisch orientierten Reflexion zum Umgang mit theologisch relevanten Kinderäußerungen. Deutlich wird zunächst, wie sehr sich Studierende durch kritische Anfragen der Kinder herausgefordert fühlen und wie intensiv sie um eine kompetente Reaktion / Antwort darauf ringen. Was aber hilft Studierenden, was ist in der Begleitung von Praxisphasen zu verstärken? Unter anderem weist der Autor in seinem Résumée auf die Bedeutung der theologischen Fachlichkeit in der universitären Begleitung der Praxisphasen hin; sie sollte die Wahrheitsfrage gegen eine vorschnelle Tendenz zur Relativierung immer wieder neu stellen. Christian Dern bietet einen sehr konkreten Einblick in seinen Religionsunterricht in einer sechsten und elften Jahrgangsstufe gemäß der dialogischen Bibeldidaktik. Ganzschriften der Bibel werden gelesen, die Schüler/innen üben
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es, hermeneutische Fragen an den Text zu stellen und versuchen diese möglichst selbst mit Hilfe des Textes zu beantworten – und theologisieren dadurch gemäß der Definition Härles ganz im Sinne der Kindertheologie. Er bricht eine Lanze für das »Theologisieren im Unterricht, aber auf der Grundlage der biblischen Bücher, dem Fundament christlicher Lehre und kirchlichen Glaubens, und nicht im luftleeren Raum«. Gerlinde Hämmerle erlaubt einen Einblick in den Religionsunterricht eines ganzen ersten Schuljahres, der bewusst gemäß der kindertheologischen Grundhaltung erfolgt. Ausführlich beschreibt sie Äußerungen von Kindern am Ende des Schuljahres im Rahmen ihres Evaluierungsprojektes. Als wichtiges Ziel gilt für sie nach vielen Jahren kindertheologischen Arbeitens neben der Frage, was die Kinder gelernt haben, auch: Was ist ihnen wichtig geworden? Und: Finden die Kinder bildliche und sprachliche Ausdrucksformen für innere Vorstellungen? Wagen sie den Austausch? Gehen sie auf einander ein? Und stellen sie eigenständige Fragen? Anika Loose erfasst durch eine empirische Studie, wie Grundschulkinder mit der Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok umgehen. Erstaunlich sind die pragmatisch-lebensnahen Sichtweisen mancher Kinder dazu. Sie belegt mit der detaillierten Wiedergabe der Interviews die immer wieder zu beobachtende Tatsache, dass spezielle Forschungssettings in sich die Qualität haben, das Theologisieren der Kinder anzuregen und auch für Lehrende, die nicht forschen, methodische Anregungen bieten können. Das gilt auch für den letzten Aufsatz dieses Bandes, in dem Jacqueline de la
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Vorwort
Motte ihre empirisch-wissenschaftliche Analyse kindlicher Gottesbildzeichnungen an zwei exemplarischen Beispielen vorführt. Zuletzt wird gefragt: Was bedeuten die Forschungsergebnisse für den Unterricht? Und (wie) könnten die individuellen Gottesvorstellungen der Schülerinnen und Schüler auf methodisch ähnliche Weise aktiviert werden, um daran das Theologisieren mit Kindern und die Theologie für Kinder anzuschließen? Karla und Julius haben nämlich sehr le-
bendige und vertrauensvolle Bilder von Gott, aber sehr unterschiedliche symbolische Zugänge zu ihm – entsprechend ihrer ganz individuellen Lebenserfahrungen und inneren Prozesse im Lauf des Heranwachsens. Was würden sie wohl im Unterricht auf die Frage antworten: Wie kommt es eigentlich, dass unsere Vorstellungen von Gott so unterschiedlich sind? Wir wünschen viel Freude beim Lesen und viele Impulse dafür, wie Kindertheologie im Unterricht möglich ist! Hanna Roose und Elisabeth E. Schwarz
Roose Kindertheologie und schulische Alltagspraxis
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Hanna Roose Kindertheologie und schulische Alltagspraxis Eine rekonstruktive Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht 1. Empirische Forschung im Bereich der Kindertheologie
Empirisch hat sich die kindertheologische Forschung bisher v.a. auf drei Bereiche fokussiert: Sie hat erstens in umfassenderen Studien1 und in kleinen Beiträgen, abgedruckt in den »Jahrbüchern für Kindertheologie« (seit 2002), versucht zu erheben, was Kinder zu bestimmten theologischen Themen (z.B. Jesus Christus oder Auferstehung) im Sinne einer Theologie von Kindern denken. Sie hat zweitens – in Verbindung mit konzeptionellen Überlegungen – das Verhältnis von Kindertheologie und Kompetenzorientierung bedacht.2 Sie hat drittens ein Programm zur »Professionalisierung Studierender« entwickelt.3 Kindertheologisch inspirierte, empirische Untersuchungen im Bereich der (Alltags-) Unterrichtsforschung gibt es bisher jedoch nicht. Im Gegenteil: Die empirischen Studien klammern die Bedingungen des Unterrichts im schulischen Alltag bewusst aus: Theologie von Kindern wird meist in Gruppen- oder Einzelgesprächen erhoben, unterrichtliche Kriterien der Zielorientierung und Leistungsbeurteilung sind ausgesetzt. Die Untersuchungen zur Kompetenzorientierung nehmen keine Unterrichtsprozesse in den Blick, sondern deren »output«. Die Forschungen zur Professionalisierung reduzieren die Komplexität unterrichtlicher
Praxis bewusst durch die (Team-)Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in Kleingruppen mit flexibler Zeitstruktur und ohne Leistungsbeurteilung.4 2. Die Fragestellung
Der Frage, wie das Leitbild der Kindertheologie in die Unterrichtspraxis »kommt« (wie es sich also umsetzen lässt), schaltet das hier beschriebene Projekt die Frage vor, auf welche Unterrichtspraxis das Leitbild im schulischen Alltag trifft. Es fokussiert damit eine Frage, die von VertreterInnen der Kindertheologie bisher weitgehend ausgeblendet wurde, die aber für die Frage nach Chancen der Umsetzbarkeit des kindertheologischen Leitbildes im Sinne einer Habitualisie1 Gerhard Büttner, »Jesus hilft!« Untersuchung zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002. Christian Butt, Kindertheologische Untersuchungen zu Auferstehungsvorstellungen von Grundschülerinnen und Grundschülern, Göttingen 2009. 2 Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern, Neukirchen-Vluyn 2010. »Jesus würde sagen: Nicht schlecht!« Kindertheologie und Kompetenzorientierung, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2011. 3 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 4 Ebd., 84–88.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
rung von zentraler Bedeutung ist. Denn: »Praktizierende Lehrkräfte haben in der Regel ihren eigenen Stil gefunden … Auch wenn er vielleicht ›erfolgreich‹ ist, so muss er dennoch nicht unbedingt förderlich sein für ein Projekt ›Theologisieren‹.«5 Ich frage also nach den Routinen des Religionsunterrichts im schulischen Alltag und ihrem Verhältnis zu den Anforderungen der Kindertheologie. 3. Methodologie: Der praxeologische Ansatz
Da der praxeologische Ansatz in der Religionspädagogik bisher nicht breit rezipiert ist, stelle ich ihn zunächst etwas ausführlicher dar. Praxen sind geregeltes Verhalten, das hinsichtlich der sozial tradierten und eingeschliffenen Muster – nicht der je individuellen Realisierung – von Interesse ist. Sie sind damit Träger impliziten Wissens und Könnens.6 Der praxeologische Ansatz geht davon aus, dass »die Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen«7. Die Regeln, die Praxen als »geregeltes Verhalten« organisieren, können als offizielle Gesetze festgelegt sein, sie können aber auch in normativen Vorgaben oder auch – informeller – in »rules of thumb«, also erfahrungsgeleiteten Regeln – bestehen.8 Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle expliziten schulischen Normen in Praxen sichtbar werden müssen. Eine Lehrkraft kann sich entscheiden, bestimmte Normen bewusst zu unterlaufen, z.B. die Norm der Leistungsbeurteilung, indem sie allen Kindern in Religion eine »2« gibt. Sie kann auch explizit Normen vertreten – z.B. die Kinder zum Fragen zu ermutigen – die sich in ihrem Unterricht kaum beobachten lassen.
Das Projekt konzentriert sich auf Normen, die im Alltagsunterricht sichtbar werden (und die explizit oder implizit, offiziell oder inoffiziell sein können).9 Vorausgesetzt ist, dass Routinen ein hohes Maß an impliziten Regeln und Normen enthalten, die durch die Untersuchung überhaupt erst bearbeitbar werden. Die sichtbaren Normen befragt das Projekt auf ihre (fehlende) Kompatibilität mit den programmatischen Normen der Kindertheologie – ohne (!) die Frage mit einzubeziehen, ob die betreffenden Lehrkräfte (oder gar die Kinder) das Programm der Kindertheologie kennen und befürworten. 4. Die dokumentarische Methode
Im Anschluss an Bonnets Überlegungen zur Dokumentarischen Methode in der Unterrichtsforschung10 betrachte ich RU 5 Gerhard Büttner, Theologisieren: Einübung in einen Habitus, in: Katechetische Blätter 2, 2013, 138–143; 140. 6 Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, 24. 7 Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 82010, 198. 8 Theodore R. Schatzki, Practice mind(ed) orders, in: ders. / Karin Knorr Cetina / Eike v. Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, Abingdon 2001, 42–55; 51–52. 9 Sabine Reh / Kerstin Rabenstein, Normen der Anerkennbarkeit in pädagogischen Ordnungen, in: Norbert Ricken / Nicole Balzer (Hg.), Judith Butler: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden 2012, 225–246. 10 Andreas Bonnet, Die Dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungskonzept für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse, in: ZQF 10, 2009, 219–240; ders., Erfahrung, Interaktion, Bildung, in: Wolfgang Meseth / Matthias Proske/
Roose Kindertheologie und schulische Alltagspraxis
einerseits als institutionell organisierten, kommunikativen Erfahrungsraum, in dem es um Normen im Sinne einer (Nicht-)Befolgung offizieller und inoffizieller Regeln geht. Andererseits deute ich RU als (zumindest potenziellen) konjunktiven Erfahrungsraum mit einem oder mehreren Orientierungsrahmen, deren Normen im Sinne einer Regelhaftigkeit in einer reflektierenden Interpretation11 zu erheben sind. Der doppelte Interpretationsrahmen, in dem Unterricht analysiert wird (als kommunikativer und konjunktiver Erfahrungsraum), entspricht der Definition von Praxen als »geregeltem Verhalten«, deren Regeln als offizielle Gesetze festgelegt sein können, aber auch in normativen Vorgaben oder – informeller – in erfahrungsgeleiteten Regeln bestehen können.12 Ich gehe davon aus, dass der Schüler- und der LehrerHabitus »als Ergebnis von rituellen Prozessen der Habitualisierung und Inkorporierung von regelgeleitetem Handeln bezeichnet werden [kann], die durch Wiederholung allmählich praktisches, rituelles Wissen hervorbringen, das der Erinnerung an die exterioren (kommunikativen) Regeln bzw. ihrer bewussten handlungspraktischen Umsetzung nicht mehr bedarf«13. Mit anderen Worten: Routinen schleifen sich allmählich ein. Ich untersuche daher Unterricht, in den sowohl die Kinder (als 3.-Klässler/innen) als auch die Lehrkräfte (keine Berufsanfänger/innen) mehrjährige Schulerfahrung einbringen. Die Beteiligten gelten als kompetente Fachleute für Interaktionen, die in konkreten Situationen Sinn herstellen und sich die Situation verstehbar machen.14 »Nicht das intentionale Bewusstsein der Teilnehmenden, sondern ihre praktischen Methoden der interakti-
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ven Sinnproduktion werden untersucht. Eine Befragung der Teilnehmenden würde da nicht weiterhelfen, da diese Herstellungspraxen nicht als explizites Wissen vorliegen.«15 Die Regelhaftigkeit des Habitus ist dem subjektiv gemeinten Sinn der Akteure vorgelagert. Mit dieser ethnomethodologisch orientierten Fundierung stellt die deskriptive Analyse der normativen (oft defizitorientierten) eine alternative Lesart von Unterrichtsszenen an die Seite. Die Lehrkräfte und die Schüler/innen gelten als Experten ihres Unterrichts. Besonders interessant sind dabei »Bruchstellen« im Unterrichtsgeschehen, in denen die Routinen nicht glatt ablaufen. Der praxeologische Blick suspendiert damit die Frage nach »gutem« RU. Er zielt darauf, Regeln und Normen zu beschreiben, die in unterrichtlichen Praxen beobachtbar sind. 5. Das methodische Vorgehen
Ich bearbeite meine Forschungsfrage in drei Schritten:
Frank-Olaf Radtke (Hg.), Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre, Bad Heilbrunn 2011, 189–208. 11 Ralf Bohnsack (wie Anm. 7), 34. 12 Theodore R. Schatzki (wie Anm. 8), 51–52. 13 Monika Wagner-Willi, Kinderrituale zwischen Vorder- und Hinterbühne – Der Übergang von der Pause zum Unterricht, Wiesbaden 2005, 90–91. 14 Vgl. Harvey Sacks / Emanuel Schegloff / Gail Jefferson, A simplest systematics for the organization of turn-taking for conversation, in: Language: journal of the Linguistics Society of America 50, 1974, 696–735. 15 Michael Hecht, Selbsttätigkeit im Unterricht: Empirische Untersuchungen in Deutschland und Kanada zur Paradoxie pädagogischen Handelns, Wiesbaden 2009, 126.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Im ersten Schritt verwende ich das Leitbild der Kindertheologie als normatives Instrument, um RU des schulischen Alltags zu analysieren und zu bewerten. Dieser Schritt soll zeigen, wie viel Kindertheologie in der schulischen Alltagspraxis »steckt«. An diesem Punkt ist eine bestimmte Differenzierung von größter Bedeutung: Die Analyse zielt nicht auf eine generelle Bewertung des beobachteten Unterrichts. Die betreffenden Lehrkräfte werden nicht dazu aufgefordert, kindertheologisch inspirierten Unterricht zu zeigen, sondern ich bitte sie, so zu unterrichten »wie immer«. Es geht mir um die Beobachtung von Alltagsunterricht. Der kann »gut« sein, auch ohne kindertheologisch ambitioniert daher zu kommen. Das heißt: Die Kriterien, die ich im ersten Schritt normativ an den Unterricht anlege, sind der Lehrkraft vielleicht nicht bekannt, oder sie entsprechen nicht ihrer Überzeugung. Für meine Forschungsfrage ist das ohne Belang. Denn ich möchte nicht wissen, wie gut oder schlecht bestimmte Lehrkräfte das Leitbild der Kindertheologie umsetzen, sondern wie sich die sichtbaren Normen und Regeln ihres Unterrichts zu kindertheologischen Normen verhalten. Die Auswahl der mikrologisch zu analysierenden Szenen erfolgt in einem ersten Zugriff vom kindertheologischen Leitbild aus. Insbesondere folgende Fragen sind dabei leitend: In welchen Szenen wird die »Chance« zur Thematisierung »großer« Fragen genutzt oder vertan? Was müsste in bestimmten Situationen geschehen, um die »Chance« zum »Theologisieren« (besser) zu nutzen?
Für den weiteren Verlauf der Untersuchung sind nun die »verpassten Chancen« von besonderem Interesse. Was läuft hier aus kindertheologischer Sicht »falsch«? Welche kindertheologischen Normen werden verletzt? Werden diese Normen durchgängig verletzt, oder lassen sich andere markante Szenen finden, in denen sie beachtet werden? Was ist in diesen Szenen anders? Im zweiten Schritt frage ich daher, welche Normen und Regeln im Unterrichtsgeschehen sichtbar werden. Dadurch kommen einige Selbstverständlichkeiten von RU besser in den Blick. Im Anschluss an die konversationsanalytisch inspirierte These, dass die Teilnehmenden in konkreten Situationen Sinn herstellen und sich die Situation verstehbar machen, fragt eine erste Analyseperspektive danach, wie eine Situation von den Beteiligten gedeutet wird. Geht es z.B. um ein Abfragen oder um ein forschendes Fragen, um »echtes Interesse« oder um »Zeitschinden«? Zentral ist dabei die Frage nach dem normativen Horizont. Er lässt sich niemals vollständig erheben, weil immer eine Vielzahl von Normen in einer Situation wirken. Reh / Ricken formulieren dazu folgende Fragen: »a. Wie und als welche Situation wird die vorliegende gedeutet oder definiert? b. Welche normativen Horizonte werden darin beansprucht und damit auch als gültig behauptet? … c. Welche Normen der Anerkennbarkeit werden in besonderer Weise unterstellt und sichtbar vertreten?«16 16 Sabine Reh / Norbert Ricken, Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation, in: Ingrid Miethe / Hans-Rüdiger Müller (Hg.), Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Opladen 2012, 35–56; 44.
Roose Kindertheologie und schulische Alltagspraxis
Im dritten Schritt setze ich die Ergebnisse der Schritte eins und zwei ins Verhältnis und frage, wie sich das normative Leitbild der Kindertheologie zu den eingeschliffenen Routinen von RU verhält. Das Projekt kann so den Blick dafür schärfen, was die Umsetzung des Programms der Kindertheologie im RU des schulischen Alltags möglicherweise befördert oder behindert und welche eingeschliffenen Routinen davon berührt sind. 6. Fallvignette: König und Hirte
Die Fallvignette stammt aus einer Unterrichtseinheit in einer 3. Klasse. Sie wurde von Juliane Schrader aufgezeichnet. Die UE umfasst vier Doppelstunden. Die erste Doppelstunde beschäftigt sich mit dem guten König und dem guten Hirten. Ein stummer Impuls eröffnet die Stunde. Dazu heftet die Lehrkraft eine Krone und einen Hirtenstab an die Tafel. Anschließend sollen die Kinder arbeitsteilig überlegen, wie ein guter König bzw. wie ein guter Hirte ist – zunächst in Einzelarbeit, dann in Gruppen, dann im »Kugellager«. Im anschließenden Plenum entsteht durch die Beiträge der Kinder folgendes Tafelbild: Der gute König
Schloss, Diener, streng, teilen, gerecht, Aufgaben verteilen
Der gute Hirte
aufpassen, nett, kümmern, viele Schafe
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Die Lehrkraft kommentiert das Tafelbild folgendermaßen: Lk: Einige haben geschrieben, was ein guter König oder ein guter Hirte HABEN muss. Das war nicht gemeint. Luis, alles hinlegen, David auch. Sie leitet dann zur Abschlussdiskussion über: Lk: Jetzt schaut euch die Wörter einmal an. Wo würdet ihr euch mmh geborgen fühlen oder wem würdet ihr MEHR vertrauen, wenn ihr was hättet, z.B.? Wo würdet ihr hingehen, schaut euch das einmal an. Wem würdet ihr vertrauen? Wem würdet … bei wem würdet ihr geborgen sein, wenn ihr sagt, ich habe irgendwas, wo würdet ihr hingehen? Pauline. Pauline: Hirten. Lk: [Nebenbei zu Marco, der »kippelt«: Mach mal nicht.] Zum? Pauline: Hirten. Lk: Warum? Pauline: Weil mmh der Hirte, der is ja auch nett, äh das steht da ja auch, und ähm, ich glaub dem könnt man auch vertrauen. Lk: Ok. Kyr … äh, Kyra sag ich schon. Laura. Laura: Ich wär auch zum Hirten lieber gegangen, weil ehm, wenn ich zum König gegangen wär, dann hätt ich ehm Angst gekriegt. Lk: Warum? Laura: Weil, äh, vielleicht, da muss ich dann auch alles machen, was er sagt. Lk: Hm, ok, weil er n bisschen mächtiger ist als … als der Hirte, meinst du, dass, was er sagt, das muss man machen? Ok. Regina. Regina: Ich würde zum Hirten gehen, weil der auch ganz nett ist und, ähm, weil n König hm der hat ja ganz viel Macht und ähm dann kann man ja machen, oder wenn er einem anderen was sagt, dass ich das z.B. gar nicht will, dann kann ich ja nichts dagegen tun. Lk: Ja, ok. Kyra. Kyra: Hm, ich würd auch zum Hirten gehen, weil ähm, wenn ich z.B. bei dem König geborgen wär, ja, dann würd ich auch
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langsam ähm vielleicht auch fies sein, dann würd ich auch, wenn ich erwachsen wär und beim König wär, dann würd ich auch, dann würd ich auch nie teilen wahrscheinlich, und ähm … Lk: Aber ein guter König teilt ja, das haben wir ja aufgeschrieben. Kyra: Ja, aber wenn ich wenn ich ANDERS [auf] gewachsen bin, anstatt so nett gewachsen bin, dass dass mir z.B. mein Vater nie ein … was gegeben hat, wenn wir was brauchen oder so. Wenn ich was kaufen wollte, zum Essen, dann würd ich auch sehr viel lieber zum Hirten gehen. Lk: Nela. Nela: Ähm, ich würde zum König gehen, weil ähm, weil äh der äh, weil wenn ich da kommen würde, dann … der der HAT ja eigentlich schon Dieners und wenn ich jetzt NEU wär, der hat ja eigentlich schon Dieners und das sind dann seine Dieners und dann muss ich nicht Diener sein … Lk: Ne. [schmunzelt] Nela: und der, ja und der teilt mit mir auch Gold und ja, und wenn der Aufgaben verteilt, ähm, vielleicht sind das ja auch ganz tolle Aufgaben. Lk: Es geht nicht darum, dass ihr bei jemandem jetzt arbeiten müsst, darum geht das grad nicht, sondern wenn ihr n Problem habt zum Beispiel, zu wem würdet ihr hingehen. Das war die, das war die Frage… (Aus der Klasse): Ach SO. Lk: Nicht, bei wem ihr arbeiten wollt, das habt ihr falsch verstanden. Aber wenn ihr ein Problem habt oder so, zu wem würdet ihr LIEBER hingehen, das war die Frage. Joran. Joran: Ich würde auch zum König gehen, weil, weil ich finde [unverständlich] dann muss man nicht so viel arbeiten, weil … Lk: Ok. Würdest du aber auch zum König gehen, wenn du ein Problem hättest? Joran: Ja. Lk: Ok. Das wollt‹ ich, das war meine Frage. Joran: Weil er kann das ja erFÜLLen und der Hirte nicht so richtig.
6.1 Erster Analyseschritt: Wie viel Kindertheologie »steckt« (für die Beteiligten bewusst oder unbewusst) in dieser Szene?
Die Lehrkraft lässt die Kinder zu Wort kommen und nimmt ihre Beiträge an der Tafel auf – selbst wenn sie eigentlich nicht ihrer Fragestellung entsprechen. Sie arbeitet mit den Beiträgen der Kinder weiter und stellt eine Frage, die die Schülerinnen und Schüler (zumindest hypothetisch) selbst betrifft und ihnen einen echten Entscheidungsspielraum eröffnet. Die Kinder müssen für sich entscheiden, ob und warum sie mit eigenen Problemen lieber zum König oder zum Hirten gehen würden. Keine der beiden Optionen ist seitens der Lehrkraft präjudiziert. Die Kinder begründen ihre Meinungen. Die Lehrkraft lässt die begründeten Meinungen dann weitgehend unkommentiert stehen. Sie gibt den Kindern und ihren Beiträgen viel Zeit. Sie fordert Ruhe und Konzentration ein. Sie moderiert das Gespräch, ohne inhaltlich die Positionen zu bewerten, beharrt aber auf ihrer Fragestellung und erteilt das Rederecht. Inhaltlich liefert die Doppelstunde aus kindertheologischer Sicht eine Steilvorlage zur Thematisierung des Gottesbildes: Stellst du dir Gott eher als guten Hirten oder als guten König vor? Dem Hirten kann man vertrauen, man ist bei ihm geborgen. Der König macht Angst, er ist mächtig, man muss ihm gehorchen – aber er ist auch reich und fähig, Wünsche zu erfüllen und Probleme zu lösen. Diese Gedanken könnten im Rahmen der Frage nach persönlichen Gottesbildern als eine »Theologie von Kindern« qualifiziert werden. Im Sinne einer »Theologie für Kinder« ließe sich die Thematik einerseits mit Psalm 23,
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andererseits mit Psalm 89 biblisch-theologisch anreichern.
Denkbar wäre z.B. als Strukturierungshilfe zur ersten Stunde folgende Tabelle:
Der gute König Mensch
Gott
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Der gute Hirte
Flößt Angst ein. Man muss Nett, ihm kann man veralles machen, was er sagt. trauen, ist nicht so mächtig, Hat viel Macht. Ich kann Geborgenheit. nichts dagegen machen, wenn er sagt, dass ich etwas machen muss. Hat Gold. Hat Diener. Man muss bei ihm nicht so viel arbeiten. Er kann Wünsche erfüllen. (Ps 89)
Die Doppelstunde zeigt also kindertheologisches Potenzial. Und doch sind aus kindertheologischer Sicht insbesondere zwei Defizite zu benennen: Bei der Gesprächsführung fällt auf, dass die Lehrkraft die Gesprächsbeiträge der Kinder nicht miteinander verknüpft. Die Kinder selbst nehmen zwar z.T. durch ein »auch« aufeinander Bezug, verknüpfen aber nicht explizit ihre Argumentationen. Die dialogische Dimension (z.B. einer »Theologie mit Kindern«) kommt insofern zu kurz. In inhaltlicher Hinsicht fällt auf, dass das theologische Potenzial des ganzen Settings letztlich nicht genutzt wird. Die Fragestellung wird im Rahmen der UE gar nicht auf die Gottesfrage bezogen. In der anschließenden Stunde geht es um die Frage, welche Vor- und Nachteile ein König mit sich bringen kann. 6.2 Zweiter Analyseschritt: Welche expliziten und impliziten Normen und Regeln schulischer Alltagsroutinen werden sichtbar?
Ich konzentriere mich hier auf die Rekonstruktion von zwei Normenkonflikten.
(Ps 23)
Schülerbeteiligung vs. Themenbezogenheit
Die Lehrkraft kommentiert das Tafelbild zum guten König und guten Hirten damit, dass einige etwas geschrieben hätten, was nicht gemeint gewesen sei. Trotzdem haben die entsprechenden Beiträge Eingang in das Tafelbild gefunden, und sie werden auch nicht entfernt oder auch nur im Einzelnen (negativ) hervorgehoben. Das sichtbare Verhalten der Lehrkraft lässt sich als Ausdruck zweier, konfligierender Normen deuten: Eine anerkannte Norm ist diejenige der Schülerbeteiligung, eine andere diejenige der Themenbezogenheit. Dort, wo sich Schülerinnen und Schüler (nach Einschätzung der Lehrkraft) nicht zum Thema äußern, treten diese beiden Normen in Konflikt. Sie werden in unserer Szene so ausbalanciert, dass die Lehrkraft pauschal darauf hinweist, dass sich einige Schülerbeiträge nicht auf das bezögen, was gemeint gewesen sei, ohne dass diese Beiträge konkret benannt oder von der Tafel entfernt würden. Das sozial distribuierte Wissen, das sich als »Gemeinschaftsprodukt« an der Tafel findet,
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
bleibt so als Ganzes bestehen.17 Ähnlich lässt sich die Szene rekonstruieren, in der die Lehrkraft darauf hinweist, dass sie nicht danach gefragt habe, bei wem die Schülerinnen und Schüler arbeiten wollten. Sie bezieht diese Kritik nicht individuell auf Nela, die sich unmittelbar vorher entsprechend geäußert hatte, sondern auf die ganze Klasse (»Das habt ihr falsch verstanden.«). Und sie quittiert die anschließende Äußerung von Joran, nach der er lieber zum König gehen würde, weil er da nicht so viel arbeiten müsse, mit einem OK, fragt dann aber nach, ob Johann auch lieber zum König gehen würde, wenn er ein Problem habe. Positionierungsgebot vs. Distanzgebot
Die Lehrkraft fordert die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich begründet zu positionieren, und zwar zu einer durchaus persönlichen Frage: Zu wem würdet ihr lieber gehen, wenn ihr Probleme hättet? Eine ähnliche Aufforderung zur Positionierung findet sich an weiteren Stellen innerhalb der Unterrichtseinheit. Die Kinder sollen – in der Rolle der Israeliten – überlegen, ob sie trotz der Warnung durch Samuel noch einen König möchten. Sie sollen sich dazu äußern, ob sie Saul an Davids Stelle getötet hätten, als sich ihm die Chance bot. Die Fragestellung eröffnet den Kindern dabei jeweils echte Entscheidungsspielräume. Beide angebotenen Positionen haben ihre Berechtigung. Viele Kinder beteiligen sich. Sie entscheiden sich nicht einheitlich und begründen ihre Wahl. Begründete Positionierungen werden damit als anerkannte Norm sichtbar. Aber: An keiner Stelle in der gesamten Unterrichtseinheit eröffnet die Lehrkraft
den Kindern Entscheidungsspielräume, die sich auf eine »große Frage«18 beziehen; auch dort nicht, wo es aus kindertheologischer Sicht nahe gelegen hätte. Dabei gilt der RU offenbar durchaus als Ort, an dem die Rede von Gott seinen Ort hat. Er erwählt David, er hilft David gegen Goliath. Von Gott – so scheint es – ist durchaus die Rede, nicht aber dort, wo die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert werden, sich zu positionieren. Eine Szene aus der 6. Stunde ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich. Einige Kinder aus der Klasse erstellen ein Standbild: David tritt vor Goliath und seine Soldaten. David will allein und ohne Rüstung gegen Goliath kämpfen. Lk: Was dann sein könnte, das machen wir jetzt als Standbild. Die anderen Kinder dürfen nach vorne kommen und bestimmten Figuren ihre Stimme leihen. In diesem Zusammenhang bringen die Kinder Gott ins Spiel. Ein Kind lässt David ein Bittgebet sprechen: »Bitte Gott, hilf mir!«. Ein anderes lässt David zuversichtlich sein: »Mit Gottes Hilfe schaffe ich es.« Die Lehrkraft fasst die Phase mit den Worten zusammen: Lk: Ich hab aber herausgehört, bei ganz vielen, die gesagt haben, David wird das auf jeden Fall gewinnen, weil er hat einmal ne Schleuder [zählt mit dem Daumen auf] und auf jeden Fall hat er Gott hinter sich stehen 17 Vgl. Wolfgang Meseth / Matthias Proske / Frank-Olaf Radtke, Was leistet eine kommunikationstheoretische Modellierung des Gegenstandes »Unterricht«? in: Dies. (Hg.): Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre, Bad Heilbrunn 2011, 223–240; 234. 18 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995.
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[zählt mit dem Zeigefinger auf] – »mit Gott schaff ich das« habt, haben einige von euch gesagt, ANDERE [zählt mit dem Mittelfinger auf] sind auch der Meinung, Saul äh Goliath denkt: »Der kleine da [zeigt mit dem Finger nach unten] will gegen mich [zeigt auf sich] kämpfen [schüttelt den Kopf] – niemals, schafft der niemals.« Außerdem hab ich ja noch meine Soldaten hinter mir. Ob er wirklich gewinnt, DAS möchte ich euch jetzt vorlesen. Diese Zusammenfassung ist aufschlussreich. Sie spitzt die Szene auf die Alternative zu: Wird David gewinnen oder verlieren?, nicht auf die Alternative: Gewinnt David aus eigener Kraft – oder weil er Glück hat – oder weil Gott ihm hilft?19 Die Frage einer möglichen Mitwirkung Gottes ist durch die Art der Zusammenfassung nicht mehr Teil der Positionierung der Kinder. Sie wird nicht problematisiert oder auch nur weiter thematisiert. Der anschließende Lückentext zum Kampf zwischen David und Goliath erzählt lapidar: »Mit seiner Steinschleuder schießt er den spitzen Stein durch die Luft. Er trifft Goliath mitten an der Stirn, dieser fällt sofort zu Boden.« Statt einer kontroversen Diskussion zum Eingreifen Gottes in die Welt folgt ein Lückentext mit einer richtigen Lösung. Ich deute die durchgängige Trennung zwischen der Aufforderung zur Positionierung und der Frage nach Gott – oder anderen »großen Fragen« – als Ausdruck der Bearbeitung eines Normenkonfliktes zwischen Positionierungsgebot einerseits und einer Norm, die ich als »Distanzgebot«20 bezeichne, andererseits. In der gezeigten Szene eröffnet die Lehrkraft mehrere Distanzierungsmöglichkeiten: Es geht um eine hypothetische Frage (»wem würdet ihr MEHR vertrauen, wenn ihr was hättet«) und eine Alternative, die
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den Kindern von ihren eigenen Erfahrungen her sehr fern liegen dürfte (Hirte oder König). Das heißt: In diesem Religionsunterricht kommt Gott zwar vor. Die Gottesfrage ist aber offenbar keine, zu der sich die Kinder im halb-öffentlichen Raum der Schule persönlich positionieren sollen. Während der erste Normenkonflikt auch den Unterricht in anderen Fächern prägen dürfte, zeigt sich im zweiten Normenkonflikt eine fachspezifische Herausforderung. 6.3 Dritter Analyseschritt: Wie verhalten sich die sichtbaren Normen des beobachteten Alltagsunterrichts zu den erwarteten Normen der Kindertheologie?
Der erste skizzierte Normenkonflikt zwischen Schülerbeteiligung vs. Themenbezogenheit markiert eine Herausforderung, die auch die Durchführung von theologischen Gesprächen mit Kindern prägt. Der Normenkonflikt zwischen Positionierungs- und Distanzgebot stellt dagegen ein wesentliches Hindernis für die Umsetzung des kindertheologischen Leitbildes im Unterricht dar. Er lässt die UE als eine Sequenz von ver19 Vgl. Gerhard Büttner u.a.: Unterrichtsplanung im Religionsunterricht – eine konstruktivistische Perspektive, in: Dies. (Hg.): Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 5: Religionsunterricht planen, Babenhausen 2014, 9–27; 15–16. 20 Ich sehe diesen Normenkonflikt als eine bestimmte Spielart des Konfliktes zwischen Positionierungsgebot und Überwältigungsverbot, das ich anhand einer anderen Unterrichtseinheit rekonstruiert habe. Hanna Roose, Unentscheidbare Fragen zwischen Überwältigungsverbot und Positionierungsgebot. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zur Frage einer »Fachkultur« Religion, in: Evangelische Theologie 73, 2013, 450–462.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
passten Chancen erscheinen. Denn aus kindertheologischer Sicht bleibt gerade die Gottesfrage in ihrem Bezug auf die Kinder unterbelichtet. Die praxeologisch inspirierte Analyse lässt vermuten, dass es sich dabei nicht um ein schlichtes »Versehen« oder gar »Unvermögen« der Lehrkraft handelt, sondern dass sich dieses Phänomen als (impliziter) Normenkonflikt deuten lässt. Die Rekonstruktion dieses Normenkonfliktes kann den Blick für die Frage schärfen, wo möglicherweise Grenzen der Thematisierung großer Fragen im RU liegen. 7. Ertrag
Das Forschungsprojekt zu Kindertheologie und schulischer Alltagspraxis erlaubt eine differenzierte Abgrenzung dessen, was sinnvoll als Kindertheologie qualifiziert werden kann, zu dem, was sich nicht sinnvoll als Kindertheologie bezeichnen lässt. Dabei ist voraus gesetzt, dass nicht alles, was religionspädagogisch gut und sinnvoll ist, Kindertheologie heißen muss. Die untersuchte Szene zeigt kindertheologisches Potenzial, sie ist aber kein Beispiel für Kindertheologie im Unterricht. Die Analysen können zeigen, wo das Leitbild der Kindertheologie in der schulischen Alltagspraxis entweder offene Türen einrennt oder aber in Konflikt mit bestimmten Normen gerät. Sie schärfen so den Blick für die unterrichts praktischen Herausforderungen von
Kindertheologie (und somit für ihre Praxistauglichkeit). Sie machen die Herausforderungen z.T. erst bearbeitbar, weil einige schulische Routinen, die durch kindertheologische Normen in Frage gestellt werden, zunächst sichtbar gemacht werden müssen. In dem Forschungsprojekt begegnen sich Leitbild und Alltagspraxis auf Augenhöhe. Das heißt: Das Leitbild stellt (kritische) Fragen an die Praxis, die Praxis stellt aber auch (kritische) Fragen an das Leitbild – in unserem Fall die Frage nach Grenzen der Thematisierung »großer Fragen« im schulischen Unterricht. M.E. lässt sich die unterrichtliche Wirksamkeit eines religionsdidaktischen Leitbildes durch einen solchen Dialog zwischen Leitbild und Praxis deutlich erhöhen. Die Metapher des Dialogs ist derjenigen der Einbahnstraße, in der ein Leitbild präskriptive Vorgaben dazu formuliert, was »guten« Religionsunterricht ausmacht und von diesem Standpunkt aus (überwiegend) Defizite in der Praxis diagnostiziert, vorzuziehen. Die Umstellung auf einen Dialog macht es erforderlich, dass die religionsdidaktische Forschung sich verstärkt der Frage nach der Leistungsfähigkeit vorfindlicher unterrichtlicher Routinen widmet, gegen die die Normen eines Leitbildes möglicherweise »antreten«.21
21 Vgl. Hanna Roose, Kinder- und Jugendtheologie im hochschuldidaktischen Kontext, in: theo-web 14 (2015), S. 41–53.
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
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Juliane Schrader »Manna ist also etwas, was sozusagen von den Schildläusen ausgeschieden wird …« – Ein Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive 1. Hinführung und Fragestellung
»Kindertheologie ist ein erfolgreiches religionsdidaktisches Konzept«1 – mit diesem Statement beginnt das 2014 erschienene Handbuch »Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden«. Um die erfolgreiche Umsetzung dieses Konzepts zu unterstützen, bietet es – neben einführenden und grundlegenden Überlegungen zur Theologie von, mit und für Kindern und der Vorstellung möglicher Methoden – zu einer Vielzahl von in den Lehrplänen und Curricula für den Religionsunterricht enthaltenen Themen Beispiele kindertheologischer Erschließungen. Auch zu »Mose« bzw. der Exoduserzählung findet sich hier ein Beitrag von Frieder Harz.2 Neben Abraham, Jona, Noah oder Josef nimmt Mose und seine Geschichte mit dem Volk Israel eine prominente Rolle im Repertoire alttestamentlicher Texte im Religionsunterricht der Grundschule ein und findet sich in fast allen Lehrplänen für die dritte oder vierte Klassenstufe. Zu vermuten ist, dass diese – nicht nur für die Geschichte Israels so bedeutsame – Erzählung im überwiegenden Teil des deutschen Grundschulreligionsunterrichts (noch) nicht in Form (kinder-) theologischer Gespräche erschlossen wird. Ohne diese religionspädagogische Praxis des alltäglichen Religionsunterrichts als defizitär herabzusetzen, son-
dern mit der Intention, einen Einblick in die unterrichtlichen Prozesse zu bekommen, innerhalb derer das Konzept der Kindertheologie seinen festen Platz finden will, sollen im Folgenden am Beispiel der Thematisierung des Mannawunders zwei Unterrichtsszenen3 dahingehend befragt werden, ob sich in ihnen die kindertheologischen Anregungen von Harz finden lassen bzw. ob und wie sie von Lehrkräften und Schüler/innen gemeinsam bearbeitet werden. Ebenso gilt der Blick auf die schulische Alltagspraxis der Frage, wo sich Anknüpfungspunkte für Harz’ Überlegungen zu der »Frage nach den Wundern« und damit für den Ansatz des (kinder-) theologischen Gesprächs ergeben.
1 Gerhard Büttner / Petra Freudenberger-Lötz / Christina Kalloch / Martin Schreiner (Hg.): Handbuch Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden. Stuttgart 2014, 9. 2 Frieder Harz, Mose, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm.1), 371–375. 3 Die hier verwendeten Unterrichtsszenen stammen aus Unterrichtseinheiten zum Thema »Mose«, welche im Rahmen meines Dissertationsprojektes in Klassen der dritten Jahrgangsstufe von mir videographisch aufgezeichnet wurden. Sie wurden nicht unter der Voraussetzung aufgenommen, dass die Lehrkräfte den Ansatz der Kindertheologie kennen oder ihn in ihrem Unterricht anwenden sollen.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
2. Frieder Harz – Anregungen für die Praxis: »Mose«
Harz gliedert seine »Anregungen für die Praxis« nach einem kurzen Überblick über »theologische Aspekte« in vier »Fragen nach …«.4 Mit ihnen gibt er für die Themenbereiche Gott, Gerechtigkeit, Gebote und Wunder anhand von ausgewählten Szenen der Exoduserzählung theologische Denk- und Gesprächsanstöße. 2.1 Die Frage nach Gott
Für die Frage nach Gott sind die Geschehnisse der Berufung Moses am brennenden Dornbusch Ausgangspunkt. Die Offenbarung des Gottesnamen auf heiligem Boden im »unaufhörlichen Feuer des brennenden Dornbuschs« könne zum Öffner für theologische Gespräche zum »Verhältnis von Gegenwart und Zukunft des Erscheinens Gottes, […] von Verhüllung und Offenbarung, von heilig und profan, von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit Gottes […]« sowie »[…] insgesamt [zu] dem Spannungsverhältnis von Transzendenz und Immanenz Gottes« werden.5 Auch dem Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wirken kann sich ausgehend von dieser Szene mit Hilfe von Fragen wie: »Wie rettet Gott?«, »Wozu braucht Gott überhaupt Mose?« und »Inwiefern ist es noch göttliches Wirken, wenn es Menschen tun?« im gemeinsamen Gespräch genähert werden.6 2.2 Die Frage nach der Gerechtigkeit
Die Frage nach der Gerechtigkeit und dem gerechten Handeln Gottes beschäftigt den Menschen nach Harz seit jeher und stellt sich innerhalb der Exoduser-
zählung besonders in der Plagenerzählung und dem Ereignis am Schilfmeer: »Warum lässt Gott das zu? Warum müssen so viele Unschuldige durch die Gewalt eines Einzelnen sterben?«.7 Hier können, so Harz, auch Parallelen zu aktuellen Geschehnissen in der Welt zur Sprache kommen. Es müsse jedoch »[…] nicht nur um die unlösbaren Fragen nach Gottes Allmacht und Ohnmacht, nach seiner Gerechtigkeit und dem Dulden des Ungerechten gehen […]«, man könnte sich in diesem Kontext auch auf das Wirken und Tun der auftretenden Personen, besonders Mose, konzentrieren: Welche Motive leiten sie? Wie wirkt ihre Beziehung zu Gott?8 2.3 Die Frage nach den Geboten
Im Kontext der Erzählung zu den Geboten regt Harz ein theologisches Nachdenken über die Bedeutung ihrer göttlichen Autorität an, wie sie von Mose wiedergegeben wird: »Muss man daran glauben, dass die Gebote von Gott sind […]? Hat das Auswirkungen auf unser Verhalten?«9 Weiterführend könnte hier nach Harz darüber gesprochen werden, inwiefern diese Gebote in die heutige Zeit passen, sie eventuell zu ergänzen wären und wer hierzu die Autorität hätte. 2.4 Die Frage nach den Wundern
Die vierte »Frage nach …«, mit der Harz ins theologische Gespräch kom4 5 6 7 8 9
Vgl. Frieder Harz (wie Anm. 2), 372f. Ebd., 374. Ebd., 373. Ebd., 374. Ebd., 375. Ebd., 374.
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
men möchte, richtet sich auf die Wunder innerhalb der Exoduserzählung. Am Beispiel der Meeresteilung zeigt er den fragenden Einstieg in ein Gespräch zum Wunderverständnis der Schüler/innen auf. Nach der Frage, welches Wunderverständnis sich in den Gesprächsbeiträgen der Schüler/innen erkennen lässt und inwiefern sie sich in ihren Stellungnahmen gegenseitig beeinflussen, gibt Harz den Anstoß zu Überlegungen, was ein sog. »Wunder« zum Wunder macht, wo es entsteht (objektives Ereignis vs. subjektive Deutung) und welche Intention dazu geführt haben könnte, »[…] das ›wunderbar‹ befreiende Ereignis in späteren Überlieferungen so ›wunderhaft‹ zu steigern.«10 3. Kindertheologie im Unterricht?
Ausgehend von diesen Fragen nach den Wundern sollen nun im Folgenden exemplarisch zwei Szenen aus unterschiedlichen Unterrichtseinheiten zur Exoduserzählung betrachtet werden, in denen die wundersame Versorgung der durch die Wüste ziehenden Israeliten mit Manna und Wachteln thematisiert wird. 3.1 Blick in die Praxis (A)11 Lehrkraft: Gut, jetzt wollen wir mal schauen, wie die Israeliten klargekommen sind in der Wüste – denn Gott hat ja was gesagt zu den Israeliten? Marco: Ich bin da! Lehrkraft: So! Jetzt wollen wir mal gucken, also wir sehen, wenn wir jahrelang durch die Wüste laufen müssen, also haben wir ein Problem was das Essen und das Trinken [betrifft …] Marco: [und schlafen] Lehrkraft: Äh schlafen auch, ich muss also
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Zelte aufbauen – hör auf damit … ja? Zelte aufbauen und wie auch immer aber ich muss wie gesagt erstmal was zu essen bekommen und ich kann ja auch nicht irgendwas anbauen, ich kann ja kein Getreide anbauen oder so etwas – und da gibt es … […] (Lehrkraft legt eine Folie mit einer Abbildung eines Tamariskenzweiges auf den Overhead-Projektor auf) Lehrkraft: So! Was ist da passiert? Jeremias: Oh! Lehrkraft: In der Wüste gibt es Sträucher [und dieser Strauch hier…] Jasper: [(leise) mit Dornen] Lehrkraft: der heißt Tamariske. Also Tamariske ein Strauch und auf diesem Strauch äh können sich Läuse aufhalten… Jasper: Oh. Lehrkraft: und diese Läuse … bohren sozusagen die Pflanze an. Ihr wisst ja, ihr müsst eine Pflanze gießen und dann äh läuft also durch den Stängel auch Wasser durch, die Pflanze ernährt sich ja von dem Wasser und von dem, was sie so aus dem Boden rausholt, und diese Schildläuse oder diese Läuse bohren die Pflanze an und ernähren sich von dem, was in der Pflanze in Leitungsbahnen hoch läuft. … Und wenn man etwas gegessen hat, dann scheidet man natürlich auch etwas aus, das heißt also die Schildläuse geben auch wieder etwas ab, und das sehen wir hier (zeigt auf die Abbildung), da kommen also aus dem Hinterleib, kommen kleine Kügelchen raus und diese kleinen Kügelchen, die sind süß, und die nennt man Manna. Manna ist also 10 Ebd. 11 Im Sinne der Anonymisierung wurden die Namen der Schüler/innen in den im Folgenden wiedergegebenen Unterrichtsgesprächen geändert. Legende des Transkripts: [Text] = gleichzeitiges Sprechen verschiedener Personen; (Text) = nonverbale o. paraverbale Handlung; … = Sprechpause; […] = Auslassung in der dargestellten Passage des Transkripts; auffällige Betonungen durch Sprechende sind kursiv hervorgehoben.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
etwas, was sozusagen von den Schildläusen ausgeschieden wird. Ähm [und dieses] Jasper: [Ist das Kacka?] Lehrkraft: So, Getränk bitte wegpacken! Marco: (leise) Ist das Kacka? Lehrkraft: Dieses … dieses Manna ist so, dass man das essen kann, das heißt, die Israeliten (räuspert sich) können also diese Tropfen in der – also wenn das also Nacht wird, dann kühlt – wer knackt da immer irgendwie rum mit irgendwas? (Ein Schüler murmelt unverständlich.) Also in der Nacht, wenn es kühl wird, dann äh trocknen also diese Kügelchen, dieses Manna, was zum Boden fällt, auf den Boden fällt, und äh die Israeliten können sich davon ernähren. Das ist süß und das gibt Kraft, das ist wie, wenn ich sozusagen Brot esse. Und genau das (räuspert sich) macht Gott auch, er führt sie also an Lagerplätze, wo ähm diese Schildläuse sind und wo diese Tamarisken sind, und dann fällt also dieses äh Manna, dieser süße Kot sozusagen, fällt heraus und ich kann also mich morgens davon ernähren. Wenn ich aber etwas Süßes und Klebriges tagsüber mit mir herumschleppe, was passiert dann, wenn ich jetzt sage: »Och ich geh jetzt mal hin und ich sammle mal ganz viel, weil heute, am nächsten Morgen habe ich keine Lust, was zu sammeln, ich will länger schlafen!«, was passiert mit diesem Süßen und Klebrigen, was ich so am Tag durch die Wüste transportieren würde, Justus? Justus: Ähm, das schmilzt. Lehrkraft: Ja, ne? Und das wird dann, wenn du dir das in die Taschen packst, dann packst du in die Tasche und hast was Klebriges da an deinen Fingern. Das geht also nicht, das heißt, das Volk Israel musste sich also darauf verlassen, dass es jeden Morgen wieder neues Manna bekommt. Das heißt also, Gott hat ja gesagt: »Ich bin da«, das heißt, es muss sich drauf verlassen, am nächsten Morgen ist wieder Manna da. Wolltest du noch etwas sagen?
Michael: Ja. Und die Kügelchen sind doch voll klein, wie kann man die denn dann essen? Lehrkraft: Indem man mehrere zusammen nimmt. Michael: Aber wenn man, wenn die zum Beispiel jetzt so viele wie die, wenn eine so viel macht und das so drei Leute sind… Lehrkraft: Hm_hm’ Michael: in einer Familie, reicht das? Lehrkraft: Das hat ausgereicht. So steht es zumindest in der Bibel, dass es dann ausgereicht hat und äh man konnte sich drauf, die Israeliten konnten sich drauf verlassen, dass Gott ihnen ausreichend viel von diesem Manna gibt. Aber du hast recht, da kommt natürlich nicht so ganz viel runter, da müssen schon ordentliche Dornenbüsche, Tamarisken sein, damit da ordentlich was runterfällt, ne? Da muss man sich drauf verlassen.
Die hier aufgeführte Szene stammt aus der achten von insgesamt elf 45-minütigen Unterrichtsstunden einer Einheit zum Thema »Mose« in einer dritten Grundschulklasse. Nachdem die Lehrkraft mit den Schüler/innen ein Brainstorming zum Begriff »Wüste« durchgeführt und im Anschluss über die Gefahr des Verdurstens in der Wüste gesprochen sowie davon erzählt hat, wie Gott den Israeliten in dieser Situation hilft, schließt das obige Gespräch an. Nach der Erinnerung an die Zusage Gottes an das Volk der Israeliten – welche bereits in den beiden vorangegangenen Stunden im Kontext der Dornbusch- und Plagenerzählung besprochen wurde – legt die Lehrkraft eine Folie mit einer Abbildung eines Tamariskenzweiges und einer darauf sitzenden »Schildlaus«12 auf den Overhead-Projektor und beginnt 12 Die schwarz-weiß Zeichnung zeigt einen dornigen Ast und eine Lupe, welche die Stelle, auf der die Schildlaus sitzt »vergrößert«. Aus dem
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
mit der Erklärung, »[…] wie denn eigentlich die Israeliten klargekommen sind in der Wüste […]«. In ihren Ausführungen dazu, was Manna ist, bleibt sie – visuell durch die Abbildung unterstützt – ausschließlich auf einer naturkundlichen bzw. wissenschaftlichen Ebene, sodass die Rettung der hungernden Israeliten (zunächst) kaum »wunder«-sam erscheint. Auch das in der biblischen Erzählung geschilderte Verderben von auf Vorrat gesammeltem Manna wird sachlogisch aus der Beschaffenheit des Mannas abgeleitet. Nicht der Unglaube oder mangelndes Vertrauen der Israeliten auf Gott stehen hier als Auslöser für das verderbende Manna und damit die Notwendigkeit, jeden Tag erneut auf Manna zu hoffen und dieses zu sammeln, sondern die fehlende Praktikabilität, »[…] etwas Süßes und Klebriges […]« in Anbetracht der klimatischen Bedingungen durch die Wüste zu transportieren. Für Michael scheint diese Erklärung dennoch verwunderlich und er stellt mit seiner Erkundigung darüber, wie man diese »voll« kleinen Kügelchen essen solle, ihre Plausibilität in Frage. Die Antwort der Lehrkraft, dass dazu mehrere der Kügelchen zusammengenommen werden müssten, löst Michaels Bedenken noch nicht auf. In Anbetracht der auf der Abbildung dargestellten Menge des von der Schildlaus ausgeschiedenen Mannas (»[…] wenn eine so viel macht […]«) und ausgehend von der Erzählung der Lehrkraft, dass es sich bei den Israeliten um ein Volk handelt, welches aus mehreren Familien besteht (»[…] so viele wie die […]«) sowie seiner Schätzung, dass es sich im Schnitt (»[…] und das so: drei Leute sind […]«) um dreiköpfige Familien handelt, scheint ihm die ausreichende Ver-
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pflegung zweifelhaft (»[…] reicht das?«). Auf diese Nachfrage führt die Lehrkraft die Bezeugung der hinreichenden Versorgung durch die Bibel an. Dort stehe, dass sich die Israeliten »drauf verlassen« konnten, »[…] dass Gott ihnen ausreichend viel von diesem Manna gibt.« Der Zusatz »zumindest« beim Verweis auf die Bibel als Informationsquelle – im Sinne »auch wenn es unrealistisch oder unglaubwürdig erscheint« –impliziert, dass die Lehrkraft nicht aus eigener Überzeugung argumentiert, sondern lediglich die biblische Aussage wiedergibt. Als wenn sie vermuten würde, dass auch diese Antwort Michaels Zweifel nicht vollends auszuräumen vermag, setzt die Lehrkraft nach, dass es vor Ort eine ganze Menge Tamariskensträucher gegeben haben müsse, damit genug Manna für alle herunterfallen könne und sich eben darauf »verlassen« werden musste. So wird der Ansatz einer theologischen Begründung der ausreichenden Versorgung der in der Wüste hungernden Israeliten – weil sich die Israeliten auf Gott und darauf, dass er ihnen genug gibt, verlassen konnten – in Form einer naturkundlichen Argumentation fortgeführt: um ausreichend Manna sammeln zu können, braucht man viele Tamariskenbüsche. 3.2 Die Frage nach dem theologischen Gespräch (A)
Schaut man nun durch die »kindertheologische Brille« auf diese Unterrichtsszene, ereignet sich hier kein Gespräch zum
Hinterleib der Laus fallen kleine Kügelchen zu Boden und bilden einen kleinen Haufen. In die Abbildung sind die Beschriftungen: »MannaTamariske«, »Schildhaus saugt zuckerhaltigen Saft« und »scheidet süßes klebriges Manna aus«, eingefügt.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Wunderverständnis, wie es Frieder Harz in seinen Anregungen für die Praxis vor Augen hat. Zunächst lässt sich dies auf struktureller bzw. interaktionaler Ebene ausmachen: ein Gespräch im engeren Sinne, dessen grundlegendes Merkmal ein dialogisch ausgerichteter Sprecherwechsel ist,13 findet kaum statt, da sich die Szene überwiegend durch monologisches Vortragen der Lehrkraft auszeichnet. Erst am Ende gibt es einen kurzen Dialog zwischen Michael und der Lehrkraft. Bis zur Abgabe des Gesprächsturns an Michael unterbricht die Lehrkraft ihre Ausführungen zweimal mit einer Frage an die Schüler/innen. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um sog. Wissens- oder entscheidbare Fragen, auf die es eine eindeutige Antwort gibt bzw. für welche die Lehrkraft »richtige« Antworten im Kopf hat (»Denn Gott hat was gesagt zu den Israeliten?«; »Was passiert mit diesem Süßen und Klebrigen …?«).14 15 Als Ausgangspunkt für ein ergebnisoffenes, gemeinsames Nachdenken, Begründen und Abwägen eignen sie sich damit nicht. Wie die Fragen an die Schüler/innen, sind auch die Ausführungen der Lehrkraft inhaltlich geschlossen und eng geführt, sodass es kaum Anlass oder Möglichkeit zu Nachfragen oder Schüler/innenbeiträgen gibt. Indem die biblische Erzählung zum Manna (Ex 16,4–36) den Schüler/innen bereits in einer spezifischen Deutung (hier einer naturkundlichen) präsentiert wird, bleibt für diese weniger Spielraum, eigene Überlegungen anzustellen und Deutungen zu entwickeln. Durch die von vornherein naturkundliche Erklärung, wird das in der Bibel durchaus wundersam geschilderte Ereignis des von Gott versprochenen Brotes, welches vom Him-
mel »regnet«, weniger wundersam. Überlegungen zur theologischen Bedeutung dieser Erzählung, etwa über den Weg der von Harz vorgeschlagene Frage, welches Interesse hinter einer solchen »wunderhaften« Schilderung – eines auch naturkundlich erklärbaren Phänomens16 – stecken könnte, werden durch die fehlende »Wunderhaftigkeit« erschwert. Eine »[…] eigenverantwortliche Deutung der biblischen Wundergeschichte[n] […]« wird so nicht angeregt und kann kaum stattfinden.17 Einen weiteren Aspekt, der in diesem Fallbeispiel aus kindertheologischer Perspektive das Zustandekommen eines solchen Gesprächs hindert, bildet die Art und Weise, wie die Lehrkraft auf Rückfragen der Schüler/innen reagiert bzw. wie diese von ihr wahr- und aufgenommen werden. Eine Kompetenz von zentraler Bedeutung für das Führen theologischer Gespräche seitens der Lehrkraft ist die Wahrnehmung dessen, was die Schüler/ 13 Vgl. Klaus Brinker / Sven Sager, Linguistische Gesprächsanalyse, Berlin 1989, 10, 59ff. 14 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern – Chancen und Herausforderungen für die Lehrer/innenausbildung, in: Theo-Web, 6. Jg. 2007, Heft 1, 14. 15 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Kinder fragen nach der Wahrheit. Herausforderungen und Chancen für den Religionsunterricht, in: Grundschule. Das Magazin für Aus- und Weiterbildung 2012, Heft 6, 8. 16 Vgl. Jehuda Feliks, Manna, in: Bo Reicke / Leonhard Rost (Hg.), Biblisch-historisches Handwörterbuch, Bd. 2, Göttingen 1964, 1141ff; siehe auch: Werner Grimm, Manna, Calwer Bibellexikon, Bd. 2, Stuttgart 2003, 871; Paul Maiberger, Das Manna. Eine literarische, etymologische und naturkundliche Untersuchung, Wiesbaden 1983, 356–409; A. van den Born, Manna, in: Herbert Haag (Hg.), Bibel-Lexikon, Zürich 1968, 1090. 17 Annike Reiß, Wunder/Wundergeschichten, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 1), 534.
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
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innen bewegt, wie sie ein Thema verstehen und welche Fragen und Deutungen sie im Laufe des Unterrichtsgesprächs einbringen, um diese dann für alle Gesprächsteilnehmer/innen bewusst machen zu können.18 Diesem Wahr- und Aufnehmen stehen jedoch häufig die Orientierung an und Konzentration auf geplante Unterrichtsverläufe und -ziele im Weg. »Wenn die Reaktion abweicht oder wenn unerwartete Fragen kommen, werden diese entweder nicht wahrgenommen oder als so irritierend erlebt, dass sie nicht in die Stundenkonzeption eingebaut werden können.«19 Ähnliches scheint auch für die obige Szene zutreffend. Die Selbstverständlichkeit ausdrückende Intonation und Knappheit der Antwort der Lehrkraft (»Indem man mehrere zusammen nimmt.«) lassen darauf schließen, dass sie den Zweifel Michaels nicht nachvollziehen kann bzw. nicht beabsichtigt, die dahinter steckende Verwunderung über die Art der Nahrung in diesem Moment ausführlicher zu thematisieren. Das Potential der für Michael drängenden Frage, wie dieses Manna für ein ganzes Volk gereicht haben kann (er meldet sich durchgehend ab der Aussage der Lehrkraft: »[…] das ist süß und das gibt Kraft, das ist, wie wenn ich sozusagen Brot esse.«), bleibt an dieser Stelle ungenutzt. Es hätte zu einem Ausgangspunkt für ein gemeinsames Gespräch darüber werden können, wieso dies so verwunderlich erscheint und aus welchen Gründen dennoch in der Bibel erzählt wird, dass es für alle Israeliten ausreichend Manna gab.
kommen. »Da findet ihr«, ne, »morgen früh steht auf und schaut vor das Zelt, da findet ihr zu essen was vom Himmel fällt«, … steht im Text … ne? das hat Gott zu den Israeliten gesagt … was haben sie denn jetzt gefunden? Jeden Morgen, was lag denn vor dem Zelt? … Frieda. Frieda: Essen, was vom Himmel gefallen ist? Lehrkraft: Hm_hm’, was könnte das denn sein? Mira. Mira: Fleisch. Lehrkraft: Hm_hm’. … Meinst du so ein gebratenes Kotelett, was da so runterfällt? Lasse: Ja! mehrere SuS: (Gekicher) Lehrkraft: Oder wie meinst du das? Mira: Ähm so äh … nein so richtiges Fleisch (leiser) mein ich. Lehrkraft: … (leiser) Du hast gar nicht dumm gedacht, Mira. Du bist auf dem richtigen Weg. … Äh Marie. Marie: Brot. Lehrkraft: Brot fällt vom Himmel, hm_hm’. Jan: Das geht gar nicht! Lehrkraft: Das geht gar nicht, sagt Jan. Christoph: Und warum geht es dann bei Fleisch? Mira: Hm?! Lehrkraft: Warum geht das bei Fleisch, warum geht´s nicht bei Brot? … Brot das vom Himmel fällt – ist eine tolle Idee, ne? … Marie? auch du bist auf dem richtigen Weg. … Ich erklär’s gleich nochmal genauer … ne? … Und … äh, Noah. Noah: Wasser und alle möglichen Früchte. Lehrkraft: … Meinst du, sie kommen so… (macht mit beiden Händen eine herabfallende Bewegung, schaut weiter Noah an) Noah: (zuckt mit den Schultern) (zögernd) Nä. Christoph: (murmelt sehr leise) Nein, so in Gläsern dann.
3.3 Blick in die Praxis (B) Lehrkraft: Jetzt haben wir die Geschichte aber noch nicht zu Ende erzählt, denn so weit sind wir in der letzten Stunde gar nicht ge-
18 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche führen, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern (wie Anm. 1), 69–75, 71f. 19 Ebd., 71.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Lehrkraft: (zu Noah) Gott ist ja nun kein Zauberer, ne? Noah: Neh, in Kelchen, oder [so …] Lehrkraft: [Hm_hm’] was die beiden Kinder hier gesagt haben das stimmt schon. Es kommt Fleisch – wie auch immer – und es kommt eine Art Brot […]. Du hast Recht Mira, weil Gott etwas schickt. … Er schickt einen Schwarm Vögel, Wachteln, ne? Wachteln, das sind kleine Vögel, die schickt er und die kommen vom Himmel – da hast du recht – [und landen im Lager der Israeliten.] Sascha: [(flüstert) (unverst.) gefressen!] Lehrkraft: Und sie sind so erschöpft von ihrem Flug von ihrer Reise, dass die Israeliten die so einfangen können – und du hast recht – Vögel, ne? [Da kriegt man auch gutes Fleisch.] Sascha: [Geben Fleisch.] Lehrkraft: Ne? Da hast du recht gehabt. Seht ihr? Also nicht in Form von gebratenen Koteletts [oder Schnitzeln …] mehrere SuS: [(Gelächter)] Lehrkraft: sondern als Vögel, [die im Lager der Israeliten sind.] Lasse: [… und die kann man dann braten.] Ole: [Also Schnitzel, das fände ich aber gut!] Lehrkraft: Ne? Und davon können sie sich wieder ernähren. Und jetzt kommen wir zu Marie. Marie sagte, Brot fällt vom Himmel. … Die Israeliten haben das, was sie am Morgen vor ihren Zelten fanden, aufgesammelt und das waren so weiße Kügelchen. … Die waren ganz süß und die sagten dazu Manna. Man könnte das übersetzten mit: »Was ist das?« Noah: Manna. Lehrkraft: Ne? Manna. Und das ist Brot, das vom Himmel fällt. Es ist aber kein richtiges Brot, sondern … ja, es ist ganz knusprig, ganz weich, ganz fein oder ganz, ganz leicht, ganz zart – … aber das muss man sofort essen, das darf man nicht liegen lassen, denn sonst verdirbt es. Man muss es am gleichen Tag aufessen, man kann es einsammeln und aufessen und sich davon
ernähren. … Dann hat man für einen Tag genug. Aber Gott lässt seine Israeliten nicht im Stich, am nächsten Morgen finden sie wieder dieses Manna. Sie sammeln es wieder ein und essen es auf und am nächsten Morgen gibt’s neues. Noah. Noah: Kann man das Manna selber machen? Lehrkraft: Nein, das kann man nicht selber machen. Jetzt ist die Frage: Was ist denn dieses Manna, was sind das denn für Kügelchen? Da gibt es ganz unterschiedliche Erklärungen, aber eines – und jetzt müsst ihr gut aufpassen, das finden vielleicht einige nicht so schön, was das ist, aber vielleicht ist es das gewesen – in der Wüste gibt’s manchmal auch so Sträucher, so Dornensträucher … Noah: Jaha! Lehrkraft: Ne? Und auf diesen Sträuchern leben manchmal auch so Schildläuse, … ne? Und diese Schildläuse, die scheiden eine Flüssigkeit aus … und wenn das dann aber nachts in der Wüste kalt wird, dann wird diese Flüssigkeit hart und knusprig, die schmeckt süß … und das wird wohl das gewesen sein, was die da gefunden haben als Manna [und das war genug, dass …] mehrere SuS: [Uä, urgh, uäh.] alle sich davon ernähren konnten. Es war süß, also Manna hatte da auch Zucker, was auch wichtig ist … Dennis: Ih! Lehrkraft: für die Menschen. Jonas: (flüstert zu Jacqueline) Ich dachte, die essen jetzt die [Läuse, buä!] Lehrkraft: [Und … es …] Lasse: [Aber das wussten die ja nicht. Hauptsache, die hatten was zu essen.] Lehrkraft: Das ist es, genau. Weißt du viele Sachen, die essen wir alle, aber wir wissen gar nicht, was das ist, aber es schmeckt lecker, [… ne? Und] Jonas: [Haifischflossensuppe] – weiß man auch nicht unbedingt, dass das Haifischflossensuppe ist. Lehrkraft: Viele Sachen, die wir essen und denken, die sind lecker, möchte ich auch gar
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
nicht wissen, was da alles drin ist, ne? Aber ähm du hast recht, [es war vielleicht …] Lasse: [Hauptsache, es ist was zu essen.] Lehrkraft: Es ist was zu essen und damit haben sie überlebt. So steht es in der Bibel.
Auch diese Unterrichtsszene ereignet sich in der achten von zwölf 45-minütigen Schulstunden einer Unterrichtseinheit zur Exoduserzählung in einer dritten Klasse. Zu Beginn dieser Stunde erinnert die Lehrkraft die Schüler/innen daran, dass sie zuletzt über die Gefahren und Nöte gesprochen hatten, in welche man in einer Wüste geraten kann und wie sich die Israeliten in dieser Situation bei Mose beschweren. Im Anschluss an das gemeinsame Sprechen des – in der vorangegangenen Stunde als Lückentext bearbeiteten – »Rap«, in welchem das Volk Israel Mose anklagt und Gott ihnen Hilfe zusagt, wiederholt die Lehrkraft noch einmal die letzte Zeile des Rap (»[…] da findet ihr zu essen was vom Himmel fällt […]«) und fragt die Klasse dann, was die Israeliten denn vor ihren Zelten gefunden haben könnten. Für die Beantwortung der Frage kommen mehrere Schüler/innen zu Wort (Frieda, Mira, Marie, Noah, Christoph), wobei die Lehrkraft die Ideenentwicklung durch ihre Rückmeldungen zu einem bestimmten – ihr aus der biblischen Erzählung bekannten – Ergebnis leitet. Während Mira und Marie ermutigt werden, dass sie mit ihren Überlegungen (Fleisch, Brot) auf dem »richtigen Weg« seien und »Brot, das vom Himmel fällt« als »tolle Idee« bezeichnet wird, lautet die Reaktion auf Noahs Beitrag (»Wasser und alle möglichen Früchte.«), dass Gott »[…] ja nun kein Zauberer […]« sei. Was die Lehrkraft damit genau meint bzw. warum Brot und Fleisch vom
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Himmel weniger »zauber«-haft sind als Wasser und Früchte, bleibt offen. Auch die von Jan aufgeworfene These, dass es »nicht geht«, dass Brot vom Himmel falle und die darauf folgende Gegenfrage Christophs, warum »es denn bei Fleisch« ginge, wird zwar von der Lehrkraft zusammengefasst und an die Klasse zurückgegeben, jedoch gibt sie keine Gelegenheit, hierüber weiter nachzudenken, da sie direkt mit der positiven Würdigung von Maries Beitrag fortfährt. Die Erklärung der Versorgung der Israeliten mit Fleisch seitens der Lehrkraft erfolgt anfangs theologisch – Gott »schickt einen Schwarm Vögel« – die Möglichkeit diese zu fangen und zu braten, wird dann aber sachlogisch mit der Erschöpfung dieser Vögel in Folge ihrer »Reise« begründet. Das Manna wird zunächst weiterhin als »das Brot, das vom Himmel fällt« bezeichnet und ähnlich der Schilderung im biblischen Text (Ex 16,14.31) als kleine süße »Kügelchen« beschrieben. Wie in der ersten Unterrichtsszene wird die Notwendigkeit, jeden Tag erneut Manna zu sammeln, mit der Beschaffenheit dieser Speise erklärt und nicht im Zusammenhang mit Gottes Gebot an die Israeliten und ihrem mangelnden Vertrauen. Die Frage Noahs, ob man das Manna »selber machen« könne, verneint die Lehrkraft, nimmt sie aber zum Anlass genauer zu ergründen, was dieses Manna ist. Der Gültigkeitsanspruch der nun folgenden naturkundlichen Erklärung wird jedoch – anders als in der ersten hier dargestellten Unterrichtsszene – abgeschwächt, da die Lehrkraft anmerkt, dass »es ganz unterschiedliche Erklärungen« hierzu gäbe, sowie dass es das »vielleicht« gewesen sei (»[…] aber vielleicht ist es
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
das gewesen […]«; »[…] das wird wohl das gewesen sein.«). Wie die anderen Erklärungen lauten und warum es mehrere Erklärungen gibt, bleibt offen. Auf die Erstaunen und z.T. Ekel ausdrückenden Ausrufe seiner Mitschüler/innen reagiert Lasse mit dem pragmatischen Gedanken, dass das Wichtigste die Versorgung mit etwas Essbarem sei und die Israeliten zudem nicht gewusst hätten, worum es sich bei diesem Manna gehandelt habe. Die Lehrkraft stimmt dieser Aussage zu und schließt die Überlegungen mit der zusammenfassenden Aussage: »Es ist was zu essen und damit haben sie überlebt.« Das von ihr nachgesetzte: »So steht es in der Bibel«, wirkt – wie auch bei der Lehrkraft der ersten Unterrichtsszene – wie eine Art zusätzliche Legitimation ihrer Erklärung und beendet zugleich diese Phase des Unterrichtsgesprächs. 3.4 Die Frage nach dem theologischen Gespräch (B)
Blickt man nun wie bereits zuvor aus kindertheologischer Perspektive auf diese Unterrichtsszene, lassen sich auch hier zunächst einige Aspekte erkennen, die einem gemeinsamen Theologisieren entgegenstehen oder es zumindest erschweren. Zwar ist die Form der Interaktion zwischen Schüler/innen und Lehrkraft dynamischer als in der ersten Unterrichtsszene, sodass die Schüler/ innen häufiger dazu kommen, ihre Gedanken zu äußern bzw. auf andere Wortmeldungen zu reagieren. Da aber auch hier das Gespräch fast ausschließlich auf der Sachebene der biblischen Erzählung bleibt, die gemeinsam besprochenen Fragen »entscheidbare« sind (z.B. »Was haben sie denn jetzt gefunden?«) und der Schwerpunkt auf der natura-
listischen Darstellung und Begründung der eigentlich wunderhaften Erzählung liegt, gibt es kaum Anlass, theologische Inhalte zu hinterfragen. Trotzdem lassen sich auch in diesem Unterrichtsgespräch Momente ausmachen, von denen aus ein gemeinsames »Fragen nach dem Wunder«, wie es Harz vorschlägt, möglich ist. In der Phase der Interaktion, in der die Schilderung der Versorgung der Israeliten noch wundersame Züge enthält (»Essen, was vom Himmel gefallen ist«; »Brot fällt vom Himmel«), äußert sich Jan – konkret-operationalen Überlegungen entsprechend – ablehnend gegenüber der Vorstellung, dass Brot vom Himmel fallen könne. Die Lehrkraft nimmt diese Wortmeldung zusammen mit der Gegenfrage von Christoph auf und gibt sie als vermeintlichen Gesprächsöffner an die gesamte Klasse zurück, ohne bereits eine eigene Antwort zu geben. Dabei verwendet sie eine Erstaunen ausdrückende Intonation, welche Christophs und auch Miras Verwunderung (»Hm?!«) über die scheinbare Diskrepanz ähnlich eines »Gesprächsförderers« spiegelt und gibt der Frage durch die nachfolgende Redepause kurz Zeit, nachzuklingen.20 An dieser Stelle könnte nun gemeinsam überlegt und diskutiert werden, warum Jan davon ausgeht, dass »das […] gar nicht [geht]«, was ihn verwundert und warum es gerade so wunderlich und nicht anders in der Bibel erzählt wird. Auch in dem Moment, als es zu der Frage kommt, was genau Manna ist und die Lehrkraft andeutet, dass dies nicht mit absoluter Sicherheit gesagt werden kann (»[…] da gibt es ganz unterschiedli20 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 18), 72.
Schrader Blick in die religionsunterrichtliche Praxis aus kindertheologischer Perspektive
che Erklärungen […]«, »[…] vielleicht ist es das gewesen.«), wäre der Einstieg in ein theologisches Gespräch über Wunder und ihre Deutung möglich: Wie wird das Manna im biblischen Text beschrieben? Warum gibt es »unterschiedliche Erklärungen« bzw. warum erklärt der biblische Text es nicht mit Hilfe von Tamarisken und Schildläusen? Warum wird die Versorgung der Israeliten für uns so ver-»wunderlich« erzählt? Was »wundert« uns daran? »Was macht eigentlich ein Wunder aus?«21 4. Resümee
Die hier für die Betrachtung zugrunde gelegten Unterrichtsszenen wurden nicht unter der Prämisse aufgenommen, dass die Lehrkräfte den Ansatz der Kindertheologie kennen oder ihn in ihrem Unterricht anwenden sollen. Die Klassen wurden in ihrem alltäglichen Religionsunterricht zu dem Zeitpunkt im Schuljahr gefilmt, für welchen die Lehrkraft eine – nach eigenen Vorstellungen und selbstständig geplante – Unterrichtseinheit zur Exoduserzählung vorgesehen hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auf den ersten Blick in beiden Szenen die kindertheologischen Anregungen von Harz zur Thematisierung der in der Erzählung enthaltenen Wunder nicht erkennen lassen. Dennoch können diese Szenen des religionspädagogischen Alltags m.E. interessante Einsichten in die Praxis gewähren, auf welche der kindertheologische Ansatz trifft und Denkanstöße bieten, welche Chancen und vielleicht auch Begrenzungen sich hier ergeben. Auffällig ist, dass sich Harz’ »Frage nach dem/n Wunder/n« kaum stellen
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kann, da es in den unterrichtlichen Darstellungen der biblischen Erzählung nur wenig gibt, über dass sich ge-»wundert« werden müsste. Zudem bleiben die Lehrkräfte bei der (gemeinsamen) Bearbeitung fast ausschließlich auf der Sachebene der Erzählung, sodass am Ende Protagonisten und Handlungen seitens der Schüler/innen wiedergegeben werden können, theologische Überlegungen und Reflexionen auf einer Metaebene jedoch nicht stattfinden. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die Lehrkraft hinsichtlich theologischer Inhalte und Fragen nicht sicher fühlt und wie hier in der ersten Szene versucht, das scheinbar »unsichere Terrain« wundersamer Erzählelemente aufgrund der »[…] Erwartung kritischer Anfragen und zweifelnder Äußerungen […]« von vornherein zu umgehen.22 Auch könnten entwicklungspsychologische Bedenken hinsichtlich einer gelingenden theologischen Auseinandersetzung und »sachgemäßen« Vermittlung des Wunders zu dieser Form des Unterrichtsverlaufs geführt haben.23 Weiterhin fällt auf, dass – ob nun aufgrund der meist hohen Redeanteile der Lehrkraft, des zielorientierten »fragendentwickelnden Unterrichtsgesprächs« oder der fehlenden Vertrautheit der Schüler/innen mit dem Stellen von Nachfragen und einer gemeinsamen Antwortsuche – wenige Momente zu beobachten sind, in denen die Schüler/innen von sich aus Überlegungen anstellen bzw. sich mit Fragen an der inhaltlichen Erarbeitung
21 Frieder Harz (wie Anm. 2), 347. 22 Annike Reiß (wie Anm. 17), 529. 23 Vgl. ebd.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
beteiligen.24 Für das Zustandekommen eines theologischen Gesprächs ist daher nicht nur die Wahrnehmungskompetenz der Lehrkraft in der konkreten Situation entscheidend, sondern auch, inwiefern die zumeist habitualisierte Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler/innen im Allgemeinen die Äußerung von Fragen und Gedanken zulässt und zu selbstständigem Überdenken und Reflektieren anregt.25 Haben die Schüler/innen das Gefühl, dass ihre Beiträge wertgeschätzt werden? Sind sie mit einer Frage-Antwort-Praxis vertraut, bei der es nicht nur eine Lösung gibt und bei der sich die Antwortsuche gemeinsam und nicht nur zwischen der Lehrkraft und einer/m Schüler/in vollzieht? Bringen Schüler/innen sich dann (doch) mit Fragen und Bemerkungen in das Unterrichtsgespräch ein, lässt sich in den hier dargestellten Szenen ein auch schon in anderen kindertheologischen Abhandlungen angesprochenes Verhalten von Lehrkräften erkennen: Auf den ersten Blick nicht in das geplante Stundenkonzept passende, abweichende oder als irritierend empfundene Beiträge werden übergangen, die dahinter stehenden Überlegungen nicht erkannt oder ihr Potential für eine gemeinsame Auseinandersetzung nicht genutzt, indem sie in knapper Form von der Lehrkraft selbst beantwortet werden.26 Ein möglicher Grund hierfür ist, dass die Aufmerksamkeit der Lehrkraft so auf den von ihr im Vorfeld geplanten Stundenablauf, die Unterrichtsziele, das Einhalten der zeitlichen Rahmenbedingungen und die Vorbereitung der Schüler/innen auf die am Ende der Einheit
zu schreibende Klassenarbeit gerichtet ist, dass die Kapazitäten für die Wahrnehmung von potentiellen theologischen Fragen sehr begrenzt sind. Vor allem dann, wenn sie sich – wie oben beschrieben – in den die Schülerfrage berührenden theologischen Themenfeldern unsicher ist oder aber das theologische Wissen in der konkreten Situation nicht entsprechend zur Verfügung steht bzw. genutzt werden kann.27 Es lässt sich an den vorgestellten Szenen aber dennoch zeigen, dass sich auch in einer vom Konzept der Kindertheologie noch unberührten unterrichtlichen Praxis Ansatzpunkte finden lassen, von denen aus kindertheologische Gespräche entwickelt werden können. Praktische Anregungen wie die von Harz können – selbst wenn sie nicht in der ursprünglichen Form in den Unterricht einbezogen werden – bei der Vorbereitung auf mögliche Schüler/innenfragen helfen, für diese sensibilisieren sowie neue oder bisher übersehene theologische Aspekte und Perspektiven der vielleicht manchmal zu »bekannt« scheinenden Exoduserzählung eröffnen.
24 Vgl. Gesa Menzel, Praxis der Frage(-erziehung) im Religionsunterricht – empirische Befunde, in: Heike Lindner / Mirjam Zimmermann (Hg.), Schülerfragen im (Religions-) Unterricht. Ein notwendiger Bildungsauftrag heute?!, Neukirchen-Vluyn 2011, 195. 25 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 18), 71. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Handbuch Theologisieren mit Kindern. (wie Anm. 1), 9.
Schnepper Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht
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Arndt Elmar Schnepper Gute Gründe – Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht
Der im vergangenen Juli in Birmingham verstorbene Religionspädagoge John Hull schildert in seinem Buch »Wie Kinder über Gott denken« einen bemerkenswerten Dialog zwischen einem fast sechsjährigen Kind und seinen Eltern: »Kind: Ich hab’ vier unsichtbare Freunde. Vater/Mutter: Wen denn? Kind: Maria, Jesus, Gott und den Heiligen Geist. Vater/Mutter (lachend): Wer hat dir denn das gesagt? Kind: Das hat mir mein Herz gesagt. (Pause) Mein Gehirn hat mir das gesagt. (lacht) Redet mein Gehirn mit mir? Sagt es hallo (Name des Kindes).«1
Solch eine Argumentation aus dem Mund eines Kindes ist für Erwachsende entwaffnend. Ihre Unbekümmertheit und Frische berühren – ohne Zweifel. Doch sie ist zugleich gebunden an das Alter seines Sprechers. Stammte dieselbe Begründungsstruktur von einem Teenager oder gar von einem jungen Erwachsenen, würde sie Bedenken, wenn nicht Sorge provozieren. Gewiss ist subjektive Erfahrung ein gewichtiges Argument, doch um im vernünftigen Gespräch dauerhaft zu bleiben, ist sie unzureichend. Der skizzierte Dialog führt zum Themenfeld der Diskursivität. Es ist heute ein Gemeinplatz, die argumentative Fähigkeit als eine wichtige Kompetenz im Umfeld der demokratischen Gesellschaft
zu würdigen. Doch sie ist darauf nicht zu beschränken. Es dürfte Konsens darin bestehen, dass ein geübter Umgang im Begründen und Schlussfolgern auch einen wesentlichen Bestandteil der religiösen Kommunikation darstellt. 1. Entwicklungen
2005 formulierten Gerhard Büttner und Anton Bucher ihre sogenannte »Zwischenbilanz« für die Kindertheologie. Unter anderem dokumentieren sie die Impulse, die die Kinderphilosophie für die Genese der Kindertheologie bereithielt. Und sie skizzierten damals, wie die Begegnung vielerorts verlief: »Der Fokus auf die Philosophie mit ihren argumentativen Ansprüchen traf auf eine Religionspädagogik, die sich eher auf erlebnis- und handlungsorientierte Vorgehensweisen konzentriert hatte und der die diskursiven Muster der Theologie eher verdächtig waren.«2 Und so kam der Kindertheologie eine wichtige Rolle bei der Neuorientierung der damaligen Religionspädagogik zu. 1 John Martin Hull, Wie Kinder über Gott reden! Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende, Gütersloh 1997, 39. 2 Gerhard Büttner / Anton A. Bucher, Kindertheologie – eine Zwischenbilanz, in: ZPT 1/2005, 37.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Eine wichtige kirchenpolitische Resonanz erhielt das argumentative Gesprächsideal im selben Jahr seitens der Deutschen Bischofskonferenz.3 In ihrer Denkschrift zu den Aufgaben und Zielen des katholischen Religionsunterrichts hielten die Bischöfe fest: »Schülerinnen und Schüler zu einem begründeten Urteil in Glaubens- und Lebensfragen zu befähigen, gehört […] zu den anspruchvollsten Zielen des Religionsunterrichts in der Schule.«4 Einerseits gelte es, religiöses Grundwissen zu vermitteln, andererseits komme es auf eine »Schulung des Denkens und Argumentierens in »religiös-weltanschaulichen und ethischen Fragen« an. »Religiöse Sprach- und Urteilsfähigkeit«, so hieß es, »ist auch unerlässlich für das Gespräch und die Verständigung mit Menschen anderer religiöser oder säkularer Überzeugungen.«5 Aufmerksamkeit erlangte dann allerdings das kritische Statement von Bernhard Grümme. 2006 schrieb er, man reibe sich bei der Durchsicht der Literatur »verwundert die Augen«: »Das Thema Argumentation im RU erfährt«, so Grümme, »kaum nachweisbaren Niederschlag.«6 Heute, nach zehn Jahren, liegen mittlerweile erste Forschungsergebnisse zur Empirie der Argumentation vor. Pars pro toto nenne ich die Habilitationsarbeit von Thomas Weiß, der an einem Wiener Gymnasium untersuchte, wie Oberstufenschüler das Spannungsfeld Schöpfung und Evolution erörtern.7 Hierbei greift er auf die Argumentationstypologie des österreichischen Sprachwissenschaftlers Manfred Kienpointner zurück. Im Ergebnis hält Weiß fest: Die Schüler und Schülerinnen argumentieren – ohne Zweifel. Doch es mangelt ihnen offensichtlich an einer bewussten Nutzung
argumentativer Strukturen. Dieser Eindruck ergibt sich aus der Wahrnehmung, dass sie lediglich einen Ausschnitt der möglichen Begründungsmuster in Anspruch nehmen.8
3 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn 2005. Fünf Jahre später griff die EKD diesen Akzent in ihren beiden Texten hinsichtlich des Religionsunterrichts in den weiterführenden Schulstufen auf. Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe. Themen und Inhalte für die Entwicklung von Kompetenzen religiöser Bildung (EKD-Text 109), Hannover 2010; Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.), Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen (EKD-Text 111), Hannover 2010. 4 Ebd., 15. 5 Ebd. 6 Bernhard Grümme, Nicht mehr als ein »Laberfach«? Argumentative Gesprächsmethoden im RU; in: Elke Grundler / Rüdiger Vogt (Hg.), Argumentieren in Schule und Hochschule. Interdisziplinäre Studien, Tübingen 2006, 131. 7 Die Arbeit wurde 2014 von der Universität Wien als Habilitationsschrift angenommen. Vgl. Thomas Weiß, Fachspezifische und fachübergreifende Argumentationen am Beispiel von Schöpfung und Evolution. Theoretische Grundlagen – Empirische Analysen – Jugendtheologische Konsequenzen (ARP 63), Göttingen 2016 [in Vorbereitung]. Wichtige Ergebnisse finden sich bereits bei Thomas Weiß, Argumentationen gymnasialer OberstufenschülerInnen zum Thema Schöpfung und Evolution. Dokumentation eines interdisziplinären Forschungsprojektes, in: Wilfried Engemann (Hg.), Glaubenskultur und Lebenskunst. Interdisziplinäre Herausforderungen zeitgenössischer Theologie, Göttingen 2014, 195–216. 8 Ebd., 206–208.
Schnepper Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht
2. Technische Defizite
Thomas Weiß stellte ebenso die provozierende Frage, ob ein evangelischer Religionsunterricht die argumentativen Fähigkeiten überhaupt fördern könne.9 Sein Fazit: Argumentative Kompetenzen fallen nicht vom Himmel, sondern bedürfen der Anleitung. Wo die Lehrenden konkret eine Begründung einfordern oder gar eine Pro-contra-Debatte eröffnet wird, dort entsteht auch ein argumentatives Klima. »Erst mit der Bewusstmachung,« so schließt Weiß, »dass gerade eine Kommunikation in Form einer Argumentation stattfindet, dürfte eine Förderung einer solchen Fähigkeit gelingen.«10 Mit anderen Worten: Wie können wir Kinder und Jugendliche befähigen, ihr religiöses Wissen plausibel und überzeugend darzustellen? Wie lassen sich adäquate Begründungsstrukturen fördern? Und wie eröffnen wir Räume, in denen es jungen Menschen gelingt, im Horizont ihrer religiösen Bildung andere Weltdeutungsmuster angemessen beurteilen zu können? Von Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr stammt bekanntlich die Feststellung, dass das Erziehungssystem unter einem »Technologiedefizit« leide. Darunter verstehen sie die Unmöglichkeit seitens des Lehrkörpers, das pädagogische Verfahren so zu steuern, dass die Ergebnisse vorhersagbar seien. Diesen Umstand sehen Luhmann und Schorr vor allem in der »doppelten Systemreferenz« des Lehrenden begründet, der sich gleichzeitig an die Klasse als auch an den individuellen Schüler richtet.11 Ich möchte den Begriff von seinem abstrakten Ursprung auf die etwas konkretere Ebene führen und verstehe unter »Technologiedefizit« in unserem Kontext die fehlende »Tech-
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nik«, argumentative Gesprächsprozesse zu initiieren und bewusst zu gestalten. Ich plädiere daher für einen Anschluss an die rhetorischen und dialektischen Wissenschaften mit ihren Diskursen zur begründenden Sprachkompetenz. Religiöse Kommunikation ist auf argumentative Verständigung angewiesen und hier bieten sich beachtliche Theorieangebote an. 3. Argumentationstheorie
Als wesentliche Inventoren und Impulsgeber der zeitgenössischen Argumentologie gelten heute Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca. Beide aus Belgien stammende Wissenschaftler veröffentlichten 1958 ihren »Traité de l'argumentation«. Dort entwickelten sie ein grundlegendes System von Argumentationsmustern, das Überlegungen der klassischen Topik aufnimmt und sie für die Moderne funktional erneuert.12 9 Thomas Weiß, Fördert evangelischer Religionsunterricht die Fähigkeit zu argumentieren? – Beschreibung und Interpretation einer Stundenbeobachtung an einem Wiener Gymnasium, in: »Der Urknall ist immerhin, würde ich sagen, auch nur eine Theorie«, JaBuJu 2, Stuttgart 2013, 118–124. 10 Ebd., 124. 11 Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt am Main 1988, 123. Vgl. hierzu auch Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Religion als Unterricht. Ein Kompendium, Göttingen 2004, 41 und 198. 12 Chaim Perelman / Lucie Olbrechts-Tyteca, Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Herausgegeben von Josef Kopperschmidt (Problemata 149), 2 Bände, Stuttgart 2004. Eine übersichtliche Zusammenfassung findet sich bei Chaim Perelman, Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Ein elementarer Bestandteil ihrer Überlegungen ist ihr Bruch mit René Descartes und seiner Vorstellung von schlüssigem Denken und Folgern, die für die europäische Geistesgeschichte so lange prägend war. Galt im Gefolge des Cartesianismus die unwiderlegbare Schlüssigkeit als das vornehmste Merkmal rationaler Verständigung, so plädieren Perelman und Olbrechts-Tyteca für das Verfahren des Wiegens und Abwägens. Also nicht mehr die Mathematik oder gar die Logik bilden in ihren Augen die Leitkriterien einer vernünftigen Argumentation, sondern – und das ist neu und zugleich sehr klassisch – der forensische Prozess stellt das Modell eines zeitgemäßen argumentativen Verfahrens dar. Die Wahrheit wird nicht »more geometrico«, sondern im dialektischen Vorgang erschlossen.13 Die Faszination ihrer Überlegungen erscheint nach wie vor ungebrochen. Ein besonderer Reiz liegt in der vielseitigen Anwendbarkeit ihres Entwurfes. Dank ihres Bemühens um eine Verwurzelung in der klassischen Argumentologie und in den modernen Sprachwissenschaften scheint ihr Argumentationsmodell sowohl für die Deutung antiker respektive biblischer Texte14 als auch moderner Gesprächsformen praktikabel. Und ihr Konzept mit seinen drei Großklassen und etwa 30 Argumentationsschemata eröffnet ebenfalls den Raum, ein elementares didaktisches Modell zu entwerfen, das zur Förderung argumentativer Strategien im Religionsunterricht zweckmäßig ist.15 4.1. Erste Klassifizierung: Quasi-logische Argumente
Diese erste Gruppe der Argumente umfasst solche Beweisführungen, die »logisch« im landläufigen Sinne scheinen,
es aber im strengen Verständnis der formalen Logik freilich nicht sind. Perelmann und Olbrechts-Tyteca nennen sie daher »quasi-logisch«. Ihre Plausibilität beruht weitestgehend auf semantischen Relationen; sie sind das, was man wohl im Alltag »in sich stimmig« nennt. Folgende beispielhafte Merkmale benennen Perelmann und Olbrechts-Tyteca näher, die ich mit Beispielen erläutere: Inkompatibilitäten: Ein solcher Fall wäre gegeben, wenn etwa ein Lehrer seine Schüler vor den gesundheitlichen Schäden des Nikotins warnt, von diesen aber später selber rauchend in der Freizeit beobachtet wird. Das Aufzeigen eines solchen oder ähnlichen Widerspruchs wiegt schwer. Einführung von Definitionen und ihre Analyse: Dass Begriffsbestimmungen über einen argumentativen Charakter verfügen, ist offensichtlich. Zu unterscheiden sind dabei etwa normative oder deskriptive Definitionen. Während letztere die Bedeutung eines Begriffes zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschreibt, bezieht die erste ihre Beschreibung aus einer Ordnung, die für die teilnehmenden Gesprächspartner einsichtig ist. Es ist auffällig, dass insbesondere Grundschulkinder gerne und ohne Mühe solche de13 Chaim Perelman / Lucie Olbrechts-Tyteca, Die neue Rhetorik, Band 1, 1–2. 14 Vgl. hierzu Folker Siegert, Argumentation bei Paulus. Gezeigt an Röm 9–11 (WUNT 34), Tübingen 1985. 15 Vgl. zur Einführung Manfred Kienpointner, Die Argumentationsmuster der Neuen Rhetorik, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman, München 2006, 212–225.
Schnepper Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht
finitorischen Begründungen in ihre Gespräche einführen. So etwa im Fall von Katrin, die auf eine christologische Formulierung rekurriert: »I[nterviewer]: Was bedeutet Jesus für dich? Katrin: Eigentlich sehr viel, weil ich mich, wenn ich Schwierigkeiten habe, an den wenden kann. Weil er der Sohn Gottes ist.«16
Reziprozität: Die Argumente der Gegenseitigkeit setzen zwei verschiedene Gegebenheiten gleich und führen sie zueinander, sie werden somit symmetrisch angeglichen. Als prägnantes Beispiel ist hier die »Goldene Regel« der synoptischen Überlieferung anzuführen: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch« (Matthäus 7,12). Sie leuchtet – trotz ihres Alters – in negativer Form auch heute noch auf jedem Schulhof als Maßregel ein: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Transitivität: Transitive Argumente entsprechen dem klassischen Syllogismus wohl am ehesten. Hier wird von einer Aussage auf eine weitere Aussage geschlossen. Zumeist geschieht dies unter der Voraussetzung, dass das einzelne Element seinem zugewiesenen Pendant entspricht. Klassischerweise spräche man hier von einem argumentum a pari bzw. einem argumentum e contrario, also einem Gleichheits- bzw. Umkehrschluss. So schließt etwa der Schüler Matthias aus der hervorgehobenen Stellung der Maria auf die Gottessohnschaft ihres Sohnes Jesus: »[…] da war die Maria und dann ist so ein Engel gekommen und […] der hat gesagt:
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›Du wirst ein Kind kriegen.‹ Und ich schätze mal, das ist von Gott gewesen, weil die Maria ja auch zu Gott gehört.«17
Transitive Relationen sind daher auch oft an dem Gebrauch solcher Ausdrücke wie »gleich wie« oder »entspricht« ersichtlich. Probabilität: Zuvorderst ist hier an die hard facts zu denken – Statistiken, Umfrageergebnisse, Kaufverhalten oder Wetterprognosen. Nichtsdestotrotz weisen Perelmann und Olbrechts-Tyteca darauf hin, dass es auch jenseits der modernen Wahrscheinlichkeitsberechnungen Eindrücke gibt, die einen Sachverhalt plausibel erscheinen lassen. Es sind die Erfahrungen oder die kleinen Rechenexempel, die wir zu Rate ziehen, um eine Vermutung zu erhärten. 4.2. Zweite Klassifizierung: Strukturelle Argumente
Begründungen dieser Kategorie fußen auf weithin angenommenen Strukturen der Wirklichkeit. Diese sind so fundamental, dass ihnen in aller Regel eine allgemeine Einsichtigkeit zugesprochen wird. Zu ihnen gehören erstens Kausalverbindungen wie die Beziehung von Ursache und Wirkung, zweitens Koexistenzverbindungen wie das Verhältnis von Person und Handlung oder Symbol und Evoziertem. Kausalbeziehungen: An dieser Stelle werden zwei gleichartige Elemente aufeinander bezogen und in ein Verhältnis gesetzt. Diese Form der Beweisführung findet ihren Niederschlag vor allem in 16 Ursula Arnold / Helmut Hanisch / Gottfried Orth, Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997, 187f. 17 Ebd., 113.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
den Naturwissenschaften. Doch sie bietet sich auch dort an, wo keine experimentelle Forschungssituation hergestellt werden kann. Anhand von Indizien wird auf das Geschehen geschlossen. Ein Beispiel hierfür ist folgendes Gespräch von Anton A. Bucher: I: Was hat der liebe Gott alles gemacht? X: Er hat die Häuser gemacht, aber ein paar nicht, die haben Leute gebaut. I: Und welche Häuser hat denn der liebe Gott gemacht? X: Die großen Blocks I: Und warum? X: Weil sie (die Menschen) nicht so lange Leitern machen können.18
Koexistenzverbindungen: Im Gegensatz zu den Kausalbeziehungen wird hier eine Beziehung zwischen Wirklichkeiten unterschiedlicher Ebenen eingeführt, etwa eine zwischen Handlung und Person. Ein gängiger Topos dieser Art liegt vor, wenn vom Handeln auf das Wesen eines Menschen geschlossen wird. Wie etwa bei Matthias, der versucht, das Wesen von Jesus näher zu erläutern: »Ja, das war ein guter Mann. Der hatte da so Kräfte und konnte damit Leute heilen, und deswegen ist der okay. Naja, er ist nicht böse.«19
Es geht allerdings auch vice versa, indem vom Ruf einer Person auf ihre Meinung geschlossen wird. Hier läge dann das klassische argumentum ad verecundiam, d.h. das Autoritätsargument vor. Freilich kann der Blick auch vom Individuum auf eine größere Gruppe gelenkt werden. Symbolische Verbindungen: Auch hier liegt eine Koexistenz zwischen zwei Wirklichkeiten vor, nämlich eine Beziehung
zwischen einem Symbol und dem Symbolisierten. Für Kinder ist diese Argumentationsstruktur einleuchtend: Das Kreuz erinnert an Jesus und in einer Kirche hält sich Gott auf. Appelle an eben solche Symbole beinhalten oft eine Beweiskraft, die abstrakte Ideen nicht so rasch erlangen können. Doppelte Hierarchien: Eine weitere Variante der Koexistenz betrifft solche Beziehungen, in denen zwei unterschiedliche Wertereihen ineinander gesetzt werden. Dazu zählen sämtliche Argumente a maiori und a minori. Was für den einen Fall gilt, hat umso mehr – a fortiori – Geltung für den anderen. Wenn Jesus etwa sagt: »Wenn nun Gott das Gras, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wie viel mehr wird er euch kleiden, ihr Kleingläubigen« (Lukas 12,28), so ist dies ein locus classicus dieser Begründungsstruktur. Auch Kindern ist diese Art der Argumentation durchaus geläufig, wie John Hull zeigt: »Erstes Kind (6 Jahre): Sind die Bakterien überall? Vater/Mutter: Ja, ich glaube Bakterien sind überall. Ganz bestimmt überall in diesem Haus. Erstes Kind: Dann sind Bakterien wie Gott (triumphierend). Gott ist nämlich überall. Guck (es stupst mit dem Finger aufs Tischtuch), da ist eine Bakterie, und da ist Gott. (lacht) Vater/Mutter: Ja, so gesehen ist Gott wie die Bakterien. Und woran liegt es, dass Gott nicht zugleich ist wie die Bakterien? 18 Anton A. Bucher, Das Weltbild des Kindes, in: Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, Stuttgart 2000, 210. 19 Arnold / Hanisch / Orth (wie Anm. 16), 113.
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Zweites Kind (8 Jahre): Bakterien sind viele, aber Gott ist bloß einer.«20
4.3. Dritte Klassifizierung: Exemplarische Argumente
Die dritte Großklasse schließt Begründungsmuster zusammen, die auf Einzelfällen beruhen, etwa das Beispiel, die Illustration oder das Modell. Mittels des Exemplarischen wird auf eine Struktur oder ein allgemeingültiges Prinzip geschlossen. Beispiele und Illustrationen: Perelmann und Olbrechts-Tyteca differenzieren die Einzelfälle: Während das Beispiel Teil der Argumentation ist, verschafft die Illustration eine bessere Wahrnehmung einer bereits akzeptierten Vorstellung. So ist dann auch das Beispiel in vielen Fällen eine Begebenheit – mal wahr oder fiktiv, in jedem Fall fassbar. Die Illustration kann dagegen auch stark metaphorische Züge tragen. So vergleicht die zehnjährige Doris Gottes Präsenz wie folgt: »… da weiß man, dass jemand da ist, der einem bestimmt zuhört, das ist genau wie ein Kuscheltier, bei Kuscheltieren findet man Geborgenheit, denen kann man alles erzählen. Die haben immer Zeit für einen. Die hören einem immer zu.«21
Findet die Illustration eine weitere Ausgestaltung ist von einer Analogie zu sprechen. Modelle und Antimodelle: Die biblischen Schriften kennen viele Argumentationen mit Modellcharakter. »Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr«, lautet etwa die Aufforderung im Buch der Sprüche (6,6). Neben den Pflanzen sind es auch die Personen, ja sogar Gott, die als Idealbegründungen
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fungieren. Auf religionspädagogischer Ebene muss nicht immer soweit gedacht werden. Kirchenhistorische Ausnahmeerscheinungen wie Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Mutter Theresa und natürlich die biblischen Personen füllen solche Modellrollen aus. 5. Analyse
Im Rückblick lässt sich festhalten, dass sich die Argumentationstypologie von Chaim Perelman und Lucie OlbrechtsTyteca erstaunlich leicht für Kommunikationen im Grundschulalter verwenden lässt. Sicher liegen Welten zwischen ihnen und den Gesprächen der Erwachsenen. Dennoch argumentieren Kinder – so das vorläufige Fazit – auf einem komplexen und anspruchsvollen Niveau. Dabei greifen sie auf bekannte und verifizierbare Stilfiguren zurück. Im folgenden Schritt soll nun der Versuch unternommen werden eine zusammenhängende Textpassage auf befindliche Begründungsstrukturen zu analysieren. Dazu wähle ich ein Skript aus Gerhard Büttners Forschungsarbeit »›Jesus hilft!‹. Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern« aus. Konkret handelt es sich um eine Unterrichtssequenz aus einer ersten und zweiten Klasse in einer ländlichen Schule.22 Ihr Ausgangspunkt ist eine erdachte 20 John Martin Hull (wie Anm. 1), 26f. 21 Helmut Hanisch, »Wenn eine Wolke vorbeizieht, könnte ich mir vorstellen, dass er da auf die Erde guckt und sich denkt: ›Nanu, was ist denn da los …‹«. Die schöpferische Kraft der religiösen Phantasie von Kindern, ru 28/1998, 87. 22 Gerhard Büttner, »Jesus hilft!«. Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002, 129–130.
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Dilemmageschichte, in der die Kinder vor die Frage gestellt wurden, wie Jesus in einer bedrohlichen Situation eingreifen würde.23 Auf die Frage der Lehrerin, wie wohl Jesus reagiert hätte, antworten die Schüler unisono mit einer übereinstimmenden Auskunft: Er hätte selbst eingegriffen. Auf den ersten Eindruck erscheinen ihre Begründungen ein wenig stereotyp und einförmig – doch die Perelmansche Typologie lässt genauer sehen und differenzieren. Nicolai ist der erste, der sich äußert. »L: Mhm, warum, glaubst du, dass Jesus selbst hilft? * Nicolai Nicolai […]: Weil er Vaters Sohn ist. L: Gottes Sohn meinst du. Nicolai […]: Ja.«24
Seine Erklärung »Weil er Vaters Sohn ist« ist offensichtlich eine Definition, die er einführt. Der Sohn Gottes hat – ganz orthodox gedacht – teil an der göttlichen omnipotentia, mittels der er den Sturm bezwingen kann. Hier liegt offensichtlich eine quasi-logische Argumentation vor. Die zweite und dritte Antwort von René und Jennifer sind eher dem Beispiel, also einer exemplarischen Begründung zuzuordnen. »L: Und warum? René […]: Weil er mit den anderen schon den Fischern g’holfen hat und den anderen Kindern noch g’holfen hat. […] Jennifer […]: Ich glaub auch, dass er das allein schafft […], weil der hat nämlich ein Mädchen / des hat er mal von selber geheilt, wo er’s auf de Arm genomme hat.«25
Sowohl René als auch Jennifer führen Begebenheiten an, bei denen Jesus schon
einmal Menschen half. Hier handelt es sich folglich um ein Argumentationsmuster aus der dritten Großklasse. Die nächsten drei Antworten entspringen wiederum der zweiten Kategorie, also den strukturellen Begründungsweisen, die auf eine allgemein anerkannte Sequenzverbindung rekurrieren. Bei den vorliegenden drei Fällen handelt es sich um koexistenzielle Verbindungen: Von den Handlungen wird auf die Person geschlossen. Steffen konstatiert: »Weil er jedem hilft«, Heiko unterstreicht: »Weil er den andern hilft« und Janine resümiert: »weil er Wunder vollbracht hat«. In allen der angeführten Antworten wird vom allgemeinen Wissen über Jesus auf seine wahrscheinliche Handlung in der Zukunft geschlossen. Den Schluss der Antworten bilden Miriam mit einem Beispiel (»der hat mal n’Blinden geheilt«) und Ann-Kristin mit einer koexistenziellen Verbindung: »Ann-Kristin […]: Ich glaub au, dass er’s allein macht, weil / der hat schon so viele Wunder vollbracht.«28
6. Fazit
Die Aussagekraft der Argumentologie von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca tritt auf dem Hintergrund der Analyse deutlich hervor. Sie bewährt sich als bedeutsames Instrument zur rhe23 Ebd., 115–116. 24 Ebd., 129. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., 130.
Schnepper Zur Struktur theologischer Argumentation im Religionsunterricht
torischen Untersuchung von Alltagskommunikation. Wirken die Antworten der Kinder auf den ersten Blick eher schlicht, so lässt das dreigliedrige Argumentationsmuster eine neue Tiefenstruktur entdecken. Die Überraschung liegt auf mindestens zwei Ebenen: Zum einen decken die Repliken der Kinder alle drei Hauptkategorien der Begründungsrede ab. Kindliche Argumentation ist keineswegs schlicht, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausgesprochen variationsreich. Und: Religiöse Argumentation erschöpft sich keinesfalls in Illustrationen, Metaphern oder in der Berufung auf Autoritäten,29 sondern spiegelt durchaus das breite Spektrum dialektischer Optionen wider. Aufgrund dieser Beobachtungen erscheint es reizvoll, die Topik von Perelman und Olbrechts-Tyteca als ein Instrument in den Blick zu nehmen, um die argumentative Kompetenzentwicklung in religiösen Bildungsprozessen zu begleiten. Ein wichtiger Schritt dürfte an dieser Stelle in dem Entwurf eines für Schüler applikablen Argumentationsschemas liegen. So forderte schon Manfred Kienpointner hinsichtlich einer zukünftigen Didaktik argumentativer Fähigkeiten:
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»Eine Übersicht über Muster und Schemata des Argumentierens, die in einer Sprechgemeinschaft üblich und mehr oder weniger akzeptiert sind, wird hier wohl zum unverzichtbaren Bestandteil des Unterrichts zu zählen sein.«30 Gute Gründe sind kein Zufall, sondern sie gedeihen dort, wo ihre Formulierung bewusst gefördert wird. Wünschenswert wäre daher ein überschaubares und einprägsames Verzeichnis der gebräuchlichsten Begründungsmuster, die in der schulischen Praxis anwendbar sind. Freilich kann es hier nicht um eine Aufzählung der besten Argumentationstechniken gehen, die jede Diskussion angeblich gewinnen lassen – so wie es allzu oft in der Ratgeberliteratur suggeriert wird. Vielmehr sollte es das Ziel sein, einen nachvollziehbaren Schlüssel zu erstellen, der den Horizont für die mögliche Varietät des Argumentationsvermögens weitet. 29 Vgl. Elke Kohler, Mit Absicht rhetorisch. Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche (APTh 47), Göttingen 2006, 188. 30 Manfred Kienpointner, Alltagslogik. Struktur und Funktion von Argumentationsmustern (problemata 126), Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 417.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Oliver Reis »Öffnen kann ja jeder!« – Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
1. Ausgangslage: Theologisieren mit Kindern – wie von Zauberhand?
Das Theologisieren mit Kindern gilt unter Lehramtsstudierenden und Referendaren als gutes, aber auch heikles Unterrichtsvorhaben.1 Es verspricht motivierte Kinder, engagierte Gespräche und vor allem ein gemeinsames Tasten nach der Bedeutung überkommener Inhalte. Allerdings sind auch die Klippen nicht ohne: das offene Gespräch am Leben zu halten und gleichzeitig noch orientiert zu sein – und wo liegt überhaupt der Zielpunkt? Wie viel Steuerung ist erlaubt und an welcher Stelle? Und auch hier: mit welchem Ziel? Die in den »Jahrbüchern für Kindertheologie« abgedruckten Unterrichtsvorhaben scheinen geradezu auf einen tiefen, bedeutsamen Punkt zuzusteuern, so als würde das Theologisieren selbst für eine Zentrierung sorgen, in der am Ende die im Spiegel der Tradition sinnvoll generierten Erkenntnisse stehen. Für diejenigen, die das Unterrichten lernen, liegt darin eine große Verheißung, weil ein solcher Automatismus natürlich immens entlasten würde. Aber so einfach ist es nicht, vielmehr steht hinter der Theologisierungsdynamik eine komplexe Rhythmisierung von Impulsen.2 Und das, was die einen als beeindruckende Gruppenreflexion bewundern, wird sofort von den anderen kritisch beobachtet: Denn zeigt sich nicht an dieser Art theologi-
scher Gesprächsführung ein normativer Rahmen, dessen Normativität durch den Bezug auf die wissenschaftliche Theologie das scheinbar freie Gespräch »hypertroph« vereinnahmt und differente Perspektiven ausblendet?3 Andersherum kann dagegen gefragt werden, ob denn das religiöse Lernen auf irgendeine Form solcher normativer Verengung verzichten kann. Und liegt das Problem der Kinderund Jugendtheologie nicht vielmehr darin, dass die eigene Form im Umgang mit der Normativität in den Öffnungen auf das Schülerdenken und den theologisch motivierten Schließungen zu wenig didaktisch reflektiert ist?4 Vielleicht ist es notwendig, diese spezifische Form von Religionsunterricht genauer und auch abgrenzend von anderen Formen zu erfassen, damit die Stärken und die Gren1 Vgl. hierzu den Beitrag von Norbert Brieden in diesem Band. 2 Vgl. auch Manfred L. Pirner, Für uns gestorben – Theologisieren mit Kindern über die Bedeutung des Todes Jesu, in: »Manche Sachen glaube ich nicht«, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2008, 80. 3 Vgl. Burkhardt Porzelt, Differenz oder Vereinnahmung? Anfragen an eine hypertrophe Jugendtheologie, in: RpB 70/2013, 28–30; Christian Butt, Kindertheologische Untersuchungen zu Auferstehungsvorstellungen von Grundschülerinnen und Grundschülern, Göttingen 2009, 272. 4 Vgl. Hanna Roose, Das religionspädagogische Leitbild der Kinder- und Jugendtheologie in kontingenzsensibler Perspektive, in: ZPT 1/2015, 41–43.
Reis Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
zen transparent zu beschreiben sind. Das würde vielleicht ein wenig die Verheißungen schmälern, aber schließlich auch die Lernbarkeit verbessern. Der folgende Beitrag möchte im ersten Schritt »Öffnen« und »Schließen« als Grundformen des Unterrichtens beschreiben und so auf der einen Seite das Steuerungs- und auf der anderen Seite das Normativitätsproblem neu fassen. Im zweiten Schritt versuche ich, die Rhythmisierung im Theologisieren als Lernformat mit einer spezifischen Form des Öffnens und Schließens zu rekonstruieren. Schließlich frage ich im dritten Schritt nach den besonderen Bedingungen des Theologisierens im Spannungsfeld zwischen individuellen Vorstellungen, Theologie und Kirchlichkeit, denn hier liegt aus meiner Sicht die besondere Leistungsfähigkeit, aber auch der spezifische Anspruch des Theologisierens. 2. Öffnen und Schließen als Beobachtungskategorien von Unterricht
Wenn man in didaktischer Hinsicht von Öffnen und Schließen spricht, ist es sinnvoll, drei Ebenen zu unterscheiden, die mit dieser Metapher verbunden sind und die unterschiedliche Auswirkungen auf das Theologisieren mit Kindern haben: 1. die interaktionale Ebene des Unterrichtsstils und die Frage nach der Kontrolle über das Lernen, 2. die systemische Ebene der Rhythmisierung von Konstruktion und Instruktion und 3. die mikroanalytische Ebene des Lernens. 2.1 Offener und geschlossener Unterricht
Die erste Ebene betrifft die Unterrichtsgestaltung: den geöffneten Unterricht.
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Mit Eiko Jürgens meint ein geöffneter Unterricht, dass der Unterricht von den Kindern her, ihren Arbeitsrhythmen, ihren methodischen Lernwegen und letztlich auch inhaltlichen Schwerpunktsetzungen her gedacht wird.5 Auf dieser Ebene grenzt sich ein geöffneter Unterricht vom geschlossenen Frontalunterricht ab, der die Entscheidungen vorstrukturiert, was wann für wie lange mit welchem Ziel vom Kind gelernt werden soll. Deshalb meint die Öffnung des Unterrichts in erster Linie die Verlagerung von Lernentscheidungen auf Seiten des Kindes und eine Abschwächung des Lernrahmens.6 Diese radikale Form des offenen Unterrichts gibt es in der Schulrealität selten, häufiger anzutreffen sind geöffnete methodische Formen, die zu einem vorgegebenen Ziel einen Rahmen an verschiedenen Hilfsmitteln und Lernwegen vorgeben, innerhalb dessen sich die Lernenden eigenständig bewegen.7 Die Kindertheologie hat durchaus eine Nähe zu diesen methodisch geöffneten Unterrichtsformen. Wenn das Theologisieren ein formal gesteuerter, aber in sich freier Aushandlungsprozess ist, in dem sich die Akteure auf der Verfahrensebene symmetrisch begegnen und auch der Zeitpunkt an die aktuell vor5 Vgl. Eiko Jürgens, Die »neue« Reformpädagogik und Bewegung Offener Unterricht. Theorie, Praxis und Forschungslage; Sankt Augustin, 62004, 34. 6 Vgl. Basil Bernstein, Über Klassifikation und Rahmung pädagogisch vermittelten Wissens, in: Ders., Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses, Frankfurt 1977, 129. 7 Vgl. Falko Peschel, Offener Unterricht. Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Band 1: Allgemeindidaktische Überlegungen, Baltmannsweiler 2002, 76–78.
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handene Bereitschaft gebunden bleibt, dann schwächt die Kindertheologie den pädagogischen Rahmen zugunsten eines offenen Geschehens mit einer erhöhten Kontrolle des Lernfortgangs bei den Lernenden. Andererseits: Gerade wenn die Kindertheologie ein Modell für den normalen, curricularen Unterricht sein will, liegt schon auf der Ebene der zielführenden Verfahrenssteuerung eine Asymmetrie vor, die sich immer auch auf die inhaltliche Seite des Theologisierens auswirkt.8 Der »offene Unterricht« ist mit Sicherheit ein relevanter Kontext der Kindertheologie, aber er ist nicht geeignet, um die Kindertheologie als unterrichtliches Konzept weiter zu profilieren. 2.2 Kontingenzeröffnung und -reduktion
Mit Norbert Brieden lässt sich in konstruktivistischer Perspektive feststellen, dass der »offene Unterricht« die wesentliche Paradoxie ausblendet, dass selbst ein radikal geöffneter Unterricht, der von den individuellen Konstrukten und deren Weiterentwicklung her denkt, nicht umhin kann, Instruktionen von außen mitzudenken, auf die sich die Konstruktionen beziehen können.9 »Offener Unterricht« ist deshalb auch nur einfach Unterricht, der immer davon lebt, dass durch Interventionen eigene Produktionen vorstrukturiert werden. Öffnen und Schließen sind auf dieser zweiten Ebene keine Unterrichtsstile mehr, die normativ als positiv oder negativ bewertet werden, sondern Elemente in der Lernrhythmisierung überhaupt. Matthias Proske formuliert dies systemtheoretisch so: »Das Unterrichtssystem ist in eine dauerhafte Dynamik von Schließung und Öffnung eingebettet, die darauf aufmerksam macht, dass
Ordnung die Voraussetzung und Folge einer systemspezifischen Geschichte von Kontingenzeinschränkungen im Umgang mit Kommunikationsereignissen ist.«10
»Öffnen« meint auf dieser Ebene das eine operative Element, das in die vorgedachte Ordnung des Lernens offene Potenzialität (= Kontingenz) einfügt. Durch die Öffnung auf das Mögliche hin wird im Lernen Aktivität und Konstruktivität erzeugt. Aus der Sicht Proskes leben Unterrichtssysteme von dieser Aktivität, an die sich wieder Schließungsprozesse anschließen können, in denen die Produktionen erneut geordnet, kommentiert, korrigiert und durch Instruktionen weiterentwickelt werden. Lernen geht in dieser Perspektive nicht von außen nach innen überschreibend, sondern indem in die kontingent gesetzten Produkte subkutan gearbeitet wird.
Abb. 1: Die Grundstruktur von öffnenden und schließenden Interventionen
8 Vgl. Hanna Roose (wie Anm. 4), 45f. 9 Vgl. Norbert Brieden, Instruktion ist Konstruktion, oder: Was bedeutet Jesu »Piercing«?, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 3: Lernumgebungen, Hannover 2012, 61–64. 10 Matthias Proske, Die Innovierung der empirischen Unterrichtsforschung und das Problem der Kontingenz. Zur Reichweite neuerer theoretischer und methodologischer Ansätze, in: Sibylle Rahm / Ingelore Mammes / Michael Schratz (Hg.), Schulpädagogische Unterrichtsforschung. Perspektiven innovativer Ansätze, Innsbruck / Wien / Bozen 2006, 145.
Reis Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
Auch der geschlossene Unterricht der ersten Ebene ist auf diese Dynamik von Öffnen und Schließen angewiesen, wenn z.B. die Vorerfahrungen zu einem Thema aktiviert (Öffnen) und dann zu den Lernzielen einer Unterrichtseinheit in Beziehung gesetzt werden (Schließen) oder in der Sicherungsphase das an der Tafel erarbeitete Lernergebnis (Schließen) noch einmal in eigenen Worten ausgedrückt wird (Öffnen). Gut aufeinander abgestimmte Rhythmen von Kontingenzöffnung und Kontingenzreduktion bilden das Grundschema eines Unterrichts, der Schülerproduktionen mit vorgegebenen Schemata verbindet. Schaut man auf den (katholischen) Religionsunterricht, dann lassen sich nach Rudolf Englert11 zwei Grundmuster im (katholischen) Religionsunterricht beobachten: durchlaufende Orientierung an den subjektiven Meinungen der Schülerinnen und Schüler, die von den Lehrkräften moderiert werden. Orientierung an Sachinformationen, die strukturiert präsentiert werden und von den Schülerinnen und Schülern rezipiert werden. Während das erste Muster darauf setzt, die geöffneten Konstruktionen sauber weiter zu verwalten, ohne sie inhaltlich durch äußere Normen zu beschädigen, setzt das zweite Muster auf eine konsequente Schließung und Disziplinierung. Beide Muster sind keine geeigneten Rhythmisierung. In der Praxis ergeben sich auch oberflächliche Kopplungen: »Szene 1: Stummer Impuls In einer 2. Klasse legt die Lehrkraft eine Orange in die Mitte des Sitzkreises und wartet – im Sinne des stummen Impulses kom-
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mentarlos – auf Beiträge. Ein Kind sagt, dass es keine Orangen mag. Die Kinder äußern sich nun lebhaft dazu, was sie essen mögen und was nicht. Schließlich greift die Lehrkraft ein und fragt, ob den Kindern noch mehr zur Orange einfällt. Ein Kind erzählt davon, dass es mit seinen Eltern in Spanien gewesen sei und dort Orangen am Baum gesehen habe. Daraufhin fangen andere Kinder an zu erzählen, wo sie schon überall waren. Schließlich beendet die Lehrkraft die Phase, steht auf und schreibt das Wort »Schöpfung« an die Tafel. Die Beiträge der Kinder spielen in der anschließenden Unterrichtsstunde keine Rolle mehr.«12
In dem Schema von Abb. 1 lässt sich diese Szene so darstellen:
Abb. 2: Öffnen und Schließen am Beispiel
In der Szene werden zwar Öffnen und Schließen aneinandergefügt, aber die Kontingenzeröffnung bleibt folgenlos, weil keine Produktion in den Zielhorizont fällt, um daran subkutan anzuschließen. Auf dieser Ebene lässt sich die Kindertheologie als eine Unterrichtsform beschreiben, die signifikant viel Wert 11 Vgl. Rudolf Englert, Religion reflektieren – nötiger denn je, in: Kirche und Schule 139/2006, 9–14. 12 Gerhard Büttner / Hans Mendl / Oliver Reis / Hanna Roose, Unterrichtsplanung im Religionsunterricht – eine konstruktivistische Perspektive, in: Dies. (Hg.), Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 5: Religionsunterricht planen, Babenhausen 2014, 14.
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auf die Öffnung für die Schülerproduktionen legt und gerade für sich beansprucht, daran eine zielführende und produktionserhaltende Rhythmisierung anzuschließen. Nach Hanna Roose sind die bisherigen Strategien der Kontingenz- und damit auch der Komplexitätsreduktion aber noch nicht zu Ende gedacht.13 Dieses Schließen ist ein sensibler Punkt, weil die Kontingenzeinschränkung nicht nur ein funktionaler Akt ist, sondern die Normfrage berührt. Wenn die Kindertheologie sinnvoll die individuelle Konstruktion, den theologischen Rahmen und einen pädagogischen Zielhorizont zueinander in Beziehung setzen will, dann reicht es eben nicht, die individuellen Konstruktionen mit formalen Gesprächstechniken zu verwalten. Es braucht ein Steuerungskonzept, das sich mit der Normfrage auseinander setzt. Um diese Normfrage anzugehen und die Kindertheologie vielleicht auch zu entlasten, ist es hilfreich, noch eine Ebene tiefer anzusetzen. 2.3 Öffnen und Schließen als analytische Identität im Lernen
Schaut man noch genauer auf den Lernvorgang, dann wird deutlich, dass im Grunde schon die Vorstellung des Nacheinanders von Öffnen und Schließen unterschlägt, dass ein lernbezogenes Öffnen ohne einen Rahmen gar keinen Sinn macht. Die Wörter einer öffnenden Intervention stehen in einem Zusammenhang, sie bilden einen Zielhorizont. In einem soteriologischen Gespräch fragt die Lehrerin »Wie kann der dann für unsere Sünden sterben? Wie funktioniert das?« und formt z.B. durch »Wie« und das »funktioniert« einen rationalisierenden Erwartungsrahmen, der zur Modellbil-
dung auffordert. Im Unterricht wird jede Frage, die den Lernfortgang unterstützen soll, so gestellt, dass die Antwort mal mit mehr mal mit weniger Kontingenz der zweiten Ebene vorstrukturiert wird. Die zentrale These ist deshalb: Die auf der zweiten Ebene vorgesehene Schließung, die die Kontingenz wieder einschränkt, erfolgt schon in der Intervention selbst.14 Dieser identitive Zusammenhang gilt auch umgekehrt: Jede pädagogische Schließung ist auf Verstehen aus und denkt sich deshalb offen für die Elaboration in die Wissenskonstrukte der Lernenden, die die in der Schließung verdichtete Lernerfahrung weiter verändern wird.
Abb. 3: Der schließende Horizont einer öffnenden Intervention
In offenen Settings (1. Ebene) kann durch öffnende Lehrinterventionen (2. Ebene) dieser scheinbare Zielhorizont unsichtbar sein, es kann sogar explizit auf diese normative Erwartung verzichtet werden, aber selbst dann wird genau diese freie Kommunikation zum gewünschten Gegenstand selbst. Aus systemtheoretischer Sicht überrascht diese Einsicht nicht, denn Lernen ist der Aufbau von internen Kommunikationsmustern in gespiegelten Erwartungen. D.h., die Ausdifferenzierung interner Strukturen geschieht durch die 13 Vgl. Hanna Roose (wie Anm. 4), 44–46. 14 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Norbert Brieden (wie Anm. 9), 65.
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selbst vorgenommene Beobachtung von Erwartung in der Umwelt.15 Lernen geschieht im Modus der Fremdreferenz. Kinder finden nicht plötzlich Zahlen in sich und können sie in Rechenoperationen miteinander verbinden, sie werden aber auch nicht von außen in sie hineingeschrieben. Kinder beobachten andere im Umgang mit den Zahlen und differenzieren Mengen und Ordnungsvorstellungen formalisiert aus, um selbst an Kommunikation teilzuhaben. Öffnende Interventionen (2. Ebene) aktivieren die fremdreferentielle Selbstbeobachtung genauso wie schließende Interventionen die selbst-
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referentielle Selbstbeobachtung aktivieren. Pädagogische Interventionen realisieren Potenziale und formatieren dafür gleichzeitig die Potenziale. Auf dieser Ebene besteht die Kunst nicht nur darin, Öffnen und Schließen sinnvoll aneinander zu hängen, sondern in dieser Rhythmisierung schon die öffnende Intervention so zu bauen, dass sie einen sinnstiftenden Rahmen für anschlussfähige Reaktionen setzt. Wie schwer das gerade in geöffneten Lernsituationen (Ebene 1) ist, die darauf drängen, dass der pädagogische Rahmen stark abgeschwächt ist, zeigt das folgende Beispiel16:
Szene 2: Ziel: das Boot der Sturmstillungserzählung als Symbol für Bedrohung und Sicherheit
15 Vgl. Oliver Reis, Der lernende Gott braucht lernende Menschen, in: KatBl 2/2015, 140–142. 16 Vgl. Herbert Kumpf, Leitunterscheidungen und ihre Funktion im Religionsunterricht, in:
Gerhard Büttner / Hans Mendl / Oliver Reis / Hanna Roose, Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Bd. 5: Glaubenswissen, Babenhausen 2015, 149–151.
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Diese Ebene erzeugt systematisch eine Asymmetrie in den Rollen, weil Unterricht die Ziele außerhalb der direkt Verfügung der Lernenden setzt und die Lehrkräfte zur stellvertretenden Deutung auffordert.17 Die Formatierung ist folglich in der Fremdreferenz in die Hände der Lehrkräfte gelegt, selbst wenn diese die Rollenaufgabe zurück an die Lernenden delegieren (Öffnung 1. Ebene). Unterricht kann deshalb um seiner selbst willen weder die Formatierungsaufgabe noch die Asymmetrie aufgeben. Die dritte Ebene macht jedoch zugleich darauf aufmerksam, dass der Erwartungsrahmen von den Lernenden selbst eingehalten werden will und kann oder auch nicht. So sind die Lehrenden genauso abhängig von Lernenden. In dieser doppelten Asymmetrie liegt ein wesentliches Moment an Kontingenz oder auch an Freiheit, die nicht an sich kontrolliert, höchstens in persönlichen Arbeitsbündnissen oder formalen Handlungsschemata stabilisiert werden kann.18 Die Kindertheologie hat bisher für das Paradigma des freien Theologisierens sowohl das Schließen der 2. Ebene als auch die Formatierung der 3. Ebene in der Öffnung wenig programmatisch entfaltet. Die öffnenden und zugleich formatierenden bzw. die schließenden und zugleich freigebenden Interventionen sind in den mit den Jahrbüchern vorliegenden Transkripten beobachtbar, werden aber nicht weiter ausgewertet. Der Fokus liegt auf den Kinderäußerungen und leider nicht auf den sie erzeugenden Bedingungen. Dabei wird durch das Aufdecken der konstituierenden Bedingungen nicht die Freiheit des inhaltlichen Kinderdenkens eingeschränkt,
sie ist deren Voraussetzung, damit sich die im momentanen Kontext erzeugten Theologien einstellen.19 Und deshalb kann die Kindertheologie auch nicht die Asymmetrie in der Steuerung abstreifen – wie Hanna Roose zu Recht feststellt.20 Der »Markenkern« der Kindertheologie ist aus meiner Sicht die sichtbar gemachte und in dem Lernprozess weiterentwickelte Polyphonie der Kindervorstellungen. Die Frage ist nun, wie dieser Kern in ein sinnvolles Verfahren integriert werden kann, das erstens eine Rhythmisierung von Öffnen und Schließen (2. Ebene) entwickelt, die zum freien Charakter der Äußerungen passt, zweitens Rahmenvorgaben für die Formatierungen der Öffnungen vorgibt (3. Ebene), die inhaltlich aber auch die Polyphonie unterstützen, und drittens die doppelte Asymmetrie betont (1. Ebene), da sonst das überraschende und unverfügbare Moment der Kindertheologie verloren geht. Dieses Verfahren zu entwickeln, ist Aufgabe des nächsten Schrittes.
17 Vgl. Dietrich Benner, Schule im Spannungsfeld von Input- und Outputsteuerung, in: Ders., Bildung und Kompetenz, Paderborn u.a. 2012, 108f. 18 Vgl. Werner Helsper, Antinomien, Widersprüche, Paradoxien. Lehrerarbeit – ein unmögliches Geschäft?, in: Barbara Koch-Priewe / Fritz-Ulrich Kolbe / Johannes Wildt (Hg.), Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung, Bad Heilbrunn 2004, 65, 73–76. 19 Vgl. Hanna Roose (wie Anm. 4), 45. 20 Vgl. ebd. 46.
Reis Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
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Um systematisch einen konkreten unterrichtlichen Lernweg von abstrakten Rhythmisierungen des Öffnen und Schließens unterscheiden zu können, benutze ich den Begriff des »Lernformats«.21 Das Lernformat ist das Modell eines zielgerichteten und geschlossenen Interaktionsmusters, das eine Phasierung von Öffnung und Schließung beschreibt. Insofern ist es die Tiefenstruktur der 2. Ebene unterhalb der konkreten methodisch-medialen Ebene, es entwickelt seine spezifische Phasenstruktur aus einem bestimmten Anliegen heraus. Was für ein Format einem konkreten Lernweg zugrunde liegt, entscheidet sich
meist im Zusammenspiel von Thema und den Annahmen über die Schülergruppe. Gerade wenn man das Thema in seiner Mehrperspektivität auffächert, wird gut sichtbar, dass konkrete Lernwege ein oder auch mehrere Verständnisse nebeneinander realisieren und dafür ein passendes Format wählen, das sie für die Zielgruppe attraktiv halten. So kann z.B. Schöpfung als Konzept der Weltentstehung, als Ankerpunkt moralischer Forderungen oder als Perspektive der Gesellschaftsbeobachtung verstanden werden. Je nach Zielgruppe (entwicklungspsychologische Voraussetzungen, Erfahrungen mit dem Thema usw.) lassen sich deutlich andere Schwerpunkte beobachten, die entsprechend andere Ziele verfolgen. Beim Thema »Schöpfung« unterscheide ich z.B. die folgenden Lernformate:22
21 Vgl. Oliver Reis, Was ist heute »Schöpfung«? Schöpfungsdidaktik an der Grenze von Theologie und Schülerdenken, in: RelliS 4/2014, 19; ders., Didaktik eines Systematisch-theologischen Themas: Anthropologie für das Berufskolleg, in: Florian Bruckmann / ders. / Monika Scheidler (Hg.), Kompetenzorientierte Lehre in der Theologie. Konkretionen – Reflexionen
– Perspektiven, Berlin 2011, 177–181; ders., Mit Glaubensaussagen Lernprozesse gestalten, in: KatBl 2/2009, 112–121; ders., Gott der Schöpfer im Religionsunterricht? Wenn der Gebrauch der Rede zum Gegenstand wird, in: Kontakt. Informationen zum Religionsunterricht im Bistum Augsburg 2/2008, 17f. 22 Vgl. ebd. 17.
3. Kindertheologie als spezifisches Lernformat 3.1 Lernformate als skriptartige Öffnungs- und Schließungsrhythmisierung
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Alle diese Lernformate haben ihren Sinn, ihre Stärke und Schwäche. Von links nach rechts nimmt die geschlossene inhaltliche Verbindlichkeit ab und die Eigentätigkeit bzw. Auonomie im Denken der Lernden zu. Die inhaltliche Geschlossenheit der Formate links überträgt sich auch auf die Verfahrenssteuerung. Je weiter rechts die Formate stehen, umso wichtiger ist nur noch der geschlossene Ankerpunkt, danach kommt eine größere Freiheit in bestimmten Leitplanken, die vor allem auf der Verfahrensebene erhalten werden. Von links nach rechts nimmt schlließlich auch der Druck ab, sich zu dem Inhalt verhalten zu müssen. Eine Ausnahme in dieser Logik bildet das Diskurslernen23, das auf besondere Weise Pluralität und Positionalität durch ein straffes Verfahren miteinander verbindet. Nach der Öffnung für den Diskurs verschiedener Positionen erfolgt die Schließung auf der Verfahrensebene hier nicht für eine bestimmte Position, sondern für eine reflektierte Positionalität an sich. Die Interventionen in der öffnenden Phase (1. Positionierung, Positionsvielfalt, Rationalität der anderen Positionen aufnehmen), müssen so formatieren, dass die Äußerungen der Kinder modellerzeugend oder modellbeziehend sind. Die Statements müssen für eine möglichst konsistente Perspektive im Spiel der Stimmen stehen, damit der Diskurs der Perspektiven mit der nötigen Spannung überhaupt möglich wird. Die Interventionen in den schließenden Phasen (eigene Position als Modell mit Stärken und Schwächen erfassen, 2. Positionierung) nutzen diesen Modellbezug explizit und verflüssigen ihn am Ende auch wieder. Bei diesen Modellierungen des eigenen Denkens ist es wichtig, im
Blick zu behalten, dass diese Äußerungen »Moment«-Theologien sind, inhaltlich geprägte Überzeugungen, die in diesem Augenblick formatiert generiert werden. Die Person kann mit diesen Modellierungen weiterarbeiten, aber sie ist nicht identisch damit – das ist pädagogisch für beide Seiten entlastend. 3.2 Lernformat Kindertheologie?
Eine Grundsatzfrage für die Kindertheologie ist sicher, ob sie eine Methode sein will, die sich mit Oberflächenmerkmalen beschreiben lässt (theologisch sensible Grundfrage / argumentatives (Kreis-)Gespräch / maximale Erörterung der Grundfrage) oder ob sie mit Rudolf Englert24 ein programmatischer Ansatz sein will, der Tradition und plurale subjektive Religiosität durchdringt und dabei auch eine eigenständige Lernform bzw. Lernformat entwickelt. Ich würde 23 Für dieses Format orientiere ich mich am Projekt »Diskurslernen« des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), bei dem das Diskurslernen als soziale Positionsaushandlung im Habermas’schen Sinne innerhalb eines mehrperspektivischen wissenschaftsnahen Diskurses angelegt ist (siehe www.diskurslernen.de). Übernommen habe ich davon den mehrperspektivischen Diskurs relevanter (theologischer) Modelle als Formatkern, ich habe aber die soziale konsensuale Urteilsbildung zugunsten der Struktur »Positionierung 1 – Diskurs – Perspektivwechsel – Positionierung 2« zurückgenommen (vgl. Oliver Reis, Anthropologie für das Berufskolleg [wie Anm. 21], 179f). Auf dieser Basis hat Irina Leukert das Lernformat für den Religionsunterricht weiter etabliert (vgl. Irina Leukert, Lernen in Pluralität durch Diskurs im Religionsunterricht der Grundschule, Masterarbeit an der TU Dortmund, 2015, erscheint in Kürze: https://eldorado.tu-dortmund.de). 24 Vgl. Rudolf Englert, Bloß Moden oder mehr?, in: KatBl 3/2011, 299–301.
Reis Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
die Kindertheologie als Ansatz mit einem »Markenkern« verstehen, der die Polyphonie des Kinderdenkens und das plural gedachte theologische Diskursarchiv als substantielle Ressourcen sieht und der die Theologie der Kinder und die wissenschaftliche Theologie mit Blick auf die Kontrolle der Referenzen in einem analogen und mit Blick auf die Äußerungen selbst in einem strukturell graduellen Verhältnis einander zuordnet. Diese eigenartige Koppelung verbindet die religiöse Überzeugungswelt der Kinder in sich mit der Tradition und eröffnet gleichzeitig Freiräume zu eigener Strukturbildung, wie sie der Theologie selbst zukommen. Dieser Ansatz besitzt schon Elemente einer Lernform/eines Lernformats: a) das Sichtbarmachen der Kinderkonstrukte, b) das Zueinandersetzen der Kinderkonstrukte und c) das Weiterführen der Kinderkonstrukte. Allerdings sind die Übergänge (2. Ebene) und das Anliegen noch nicht geklärt, um von einem Lernformat zu sprechen, in dem die formatierenden Interventionen konsistent ausgerichtet sind. Es ist kein Zufall, dass in den Jahrbüchern durchaus Transkripte zu finden sind, bei denen die Kindertheologie im Format der »konstruktiven Erschließung« funktioniert, weil die Interventionen so ausgerichtet sind, dass sie eine traditionelle Aussage (z.B. »für uns gestorben«) noch einmal aktualisierend vom Kontext der Kinder erschließen. Es gibt aber auch dokumentierte Gespräche, die wie im Diskurslernen die Modellbildung unterstützen und die erarbeiteten Modelle aufeinander beziehen, um über die Modellvielfalt etwas z.B. über Jesus als Christus zu lernen.
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Aus meiner Sicht bietet sich das Lernformat des Diskurslernens an, um die Kindertheologie weiterzuentwickeln: Es lebt wesentlich von dem Diskurs der Positionen, die aber nicht mehr isoliert nebeneinander stehen und so verwaltet werden müssen, sondern modelliert und in den Zusammenhang geführt werden müssen. Die Norm liegt nicht mehr in der einen, zu »vermittelnden« Sachstruktur, auf die hin der Lernprozess immer wieder gedrückt werden muss, sondern im Diskurs, dem perspektivischen Ringen um Wahrheit. Diesem Format liegt eine mehrperspektivische Wahrheitsvorstellung zugrunde. Wahrheit ist nicht mehr subjektivistisch isolierend, sondern wird im Diskurslernen auf die Konsistenz des eigenen Denkens als einer legitimen Perspektive bezogen. Pluralität wird modellhaft erzeugt, im Diskurs wird niemandem etwas genommen, jede Perspektive trägt wirklich etwas ein. Überhaupt wird durch den Modellcharakter Distanz zur Person ermöglicht, die schützt. Die kirchliche und theologische Denktradition ist in diesem Format im Diskurs mit voller Wucht präsent, der Perspektivwechsel auch in diese Position ist Teil des Lernens, so dass die Tradition ein gewichtiges und Wahrheit beanspruchendes Medium ist. Sie überformt aber deshalb nicht das Verfahren. In diesem Format wird überhaupt das Verfahren nicht unter der Hand mit inhaltlichen Zielen überfrachtet und die Sorge vor Manipulation bleibt gering. Es gibt ein nachhaltiges religionspädagogisch begründbares Lernziel
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
– und es ist nicht nur wichtig, dass man überhaupt mal Kindertheologie an sich gemacht hat. Gleichzeitig bleibt die soziale Theologiebildung im Moment erhalten. Diese ist durch den Bezug auf die Modelle nicht mehr vollständig fluide, da es durchaus Muster in dieser Modellbildung gibt.25 Gerade weil der Diskurs in einem starken Rahmen die Norm selbst ist, kann auf falsche Symmetrien verzichtet werden. Das ganze Verfahren lebt davon, dass die Lehrkräfte die doppelte Asymmetrie sowohl in der formalen als auch in der inhaltlichen Steuerung offen sichtbar machen. Wenn bestimmte Schritte im Format des Diskurslernens nicht von den Lernenden gemacht werden, können sie nicht erzwungen werden, dieses Moment der Freiheit bleibt. Die Interventionen formatieren die Modellbildung des eigenen Denkens, die Modellvernetzung, den Modellwechsel und die Modellverdunstung zugunsten des eigenen Denkens. Sie berühren nicht den Denkinhalt selbst und vereinheitlichen auch nicht unnötig, weil Pluralität für den Diskurs notwendig ist.26 4. Kindertheologie als theologische Reflexion im Format Diskurslernen
Eine offene Frage ist, ob das Anliegen des Diskurslernens, die eigene Position im Spiegel anderer Denkformen zu reflektieren, zu der Kindertheologie passt. Reicht es nicht, den Diskurs an sich zu führen? Die Kindertheologie wird gut daran tun, eine Aufgabe zu verfolgen, für die der Diskurs als Medium genutzt wird.
Es muss nicht immer die eigene Positionalität sein, sie kann auch für Sachfragen analytisch benutzt werden (»Was haltet ihr davon, wenn x meint …?«), bei denen die Mehrperspektivität in den Positionen zur Lösung beitragen kann. Grundsätzlich aber sollte die Positionaliät ein hohes Gut der Kindertheologie sein, weil sie verhindert, dass die Kindertheologie als argumentativer Selbstzweck geführt wird. Sie führt die Kindertheologie an ihren theologischen Bestimmungsort, Reflexion des Glaubens der Vielen vor einem Rahmen zu sein, in dem es zu klären gilt, was der eine Glaube sein könnte.27 Diese Situation sorgt für eine quasi-ekklesiale Situation im guten Sinne28, damit die Auseinandersetzung überhaupt sinnvoll ist. Aber wie in der Theologie insgesamt ist der Modus des Theologisierens das Vehikel dafür, Kommunikation mit einer geschickten Ryhthmisierung von Öffnen und Schließen in Gang zu setzen. Theologisches Wissen wird gerade nicht zum Ziel an sich – das entspricht gar nicht der Aufgabe der Theologie, selbst mit ihrem Wissen vom Stil her ein dienender Vermittlungsvorgang zu sein.29 Kindertheologie ist in 25 Vgl. Gerhard Büttner / Oliver Reis, Die Bedeutung theologischer Strukturen für das Elementarisierenlernen, in: ZPT 3/2010, 248–257. 26 Z.B. Oliver Reis, Art. »Angst/Mut«, in: Handbuch Theologisieren mit Kindern, Stuttgart / München 2014, 111–113. 27 Vgl. Gerhard Büttner / Oliver Reis, Glaubenswissen – konstruktivistisch gelesen, in: Gerhard Büttner / Hans Mendl / Oliver Reis / Hanna Roose (Hg.), Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik. Bd. 6: Glaubenswissen. Babenhausen 2015, 9–12. 28 Vgl. Gerhard Büttner, Braucht Jugendtheologie eine »ekklesiologische« Fundierung?, in: Veit Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2012, 70–78. 29 Vgl. Gerhard Büttner / Oliver Reis (wie Anm. 28), 13–16.
Reis Von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern
diesem Sinne auch nicht hypertroph, sie ist ein Ansatz mit einem Format, das dann die 1. Wahl ist, wenn explizit schon in den Lernzielen eine mehrperspektivische Theologiebildung als Gegenstand oder als Instrument für etwas anderes vorausgesetzt wird wie bei der Gottesfrage, der Christologie oder der Frage nach Wundern. Dann ist die Kindertheologie im Sinne des Diskurslernens ein der Sache und den Zugangsvoraussetzungen nach angemessenes didaktisches Verfahren – auch schon für die Grundschule!30 Würde sich die Kindertheologie auf ein solches Lernformat festlegen, dann sind nicht mehr alle Unterrichtsvorhaben, die Kinder zu offenen Fragen zu Wort kommen lassen, sofort Kindertheologie. Aber es würde das Schließungsproblem durch die Rhythmisierung kleiner (2. Ebene), ohne die Kontingenz der doppelten Asymmetrie aufzuheben (1. Ebene). Vor allem aber wären die öffnenden Interventionen trainierbar (3. Ebene). Es könnte außerdem geübt werden, den Diskurs der Modelle zu Themen abzustecken, ohne damit die spontane Theologiebildung zu kontrol-
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lieren. Dies führt dazu, dass einerseits die Kontrollmöglichkeiten steigen und andererseits der Kontingenzüberschuss dahin gelenkt wird, wo er hingehört: in die diskursive Theologiebildung.31 Von den empirischen Dokumentationen wird etwas der Druck genommen, die nicht als Erhebungen repräsentativ abbilden müssen, was Kinder zu einem Thema denken, um als quasi-normative Schablonen für weitere Lernprozesse dienen. Vielmehr kontrastieren sie die wissenschaftlichen theologischen Strukturen, zeigen die Präferenzen der Kinder und deren Zugriffswege. Sie bieten vor allem Material, die Wirkung des Interventionsrahmens zu studieren, der fast wichtiger ist als die Äußerung an sich. Kindertheologie in diesem Sinne wäre keine neue religionspädagogische Leitkonzeption, aber ein erkennbares, unterscheidbares und für bestimmte Unterrichtsvorhaben zu präferierendes Format.
30 Vgl. Irina Leukert (wie in Anm. 23). 31 Vgl. Hanna Roose (wie Anm. 4), 46.
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Hanna Roose Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?
1. Die Fragestellung
Was zeichnet »gute« Kinder- und Jugendtheologie aus? Mirjam Zimmermann hat sich dankenswerter Weise dieser wichtigen Frage intensiv gewidmet. Sie profiliert Nachhaltigkeit als ein Qualitätskriterium für gute Kinder- und Jugendtheologie: »Nachhaltigkeit als Gegensatz zur Zufälligkeit einer Theologie der Kinder wird als Aspekt guter Kindertheologie konstatiert.«1 Das klingt überzeugend – wer will schon eine »Zufälligkeit« bei der Theologie von Kindern? Insgesamt steht Nachhaltigkeit – auch pädagogisch – derzeit hoch im Kurs. Allerdings: Im Zusammenhang mit seiner Spielart einer performativen Religionsdidaktik plädiert Hans Mendl für Ergebnisse, die dezidiert nicht nachhaltig sein dürfen. »Das spezifische Feld eines performativen Religionsunterrichts würde ich als Handeln mit subjektiver Bedeutungszuweisung ohne verbindliche Nachhaltigkeit bezeichnen.«2 Ich nehme diese Beobachtung zum Anlass, auch bei der Kinder- und Jugendtheologie genauer nachzufragen, worauf sich das Qualitätskriterium der Nachhaltigkeit beziehen sollte – und worauf nicht. Diese Frage kann dazu beitragen, das Profil der Kinder- und Jugendtheologie weiter zu schärfen.
2. Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium »guter« Kinder- und Jugendtheologie bei Mirjam Zimmermann
Zimmermann bezieht sich bei ihren Überlegungen auf eine von ihr initiierte und ausgewertete Fragebogenerhebung aus dem Jahr 2012 zum Thema Eschatologie. 143 Schülerinnen und Schülern der Klassen 3–10 wurde im Abstand von 20 Wochen derselbe Fragebogen vorgelegt, ohne dass in der Zwischenzeit inhaltlich zu dem Thema gearbeitet wurde. Der Fragebogen umfasste Wissensfragen (z.B. »Kennst du die biblische Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus?«) und »Glaubensfragen«3 bzw. »große«4 oder »unentscheidbare«5 Fragen (z.B. »Was 1 Mirjam Zimmermann, Zur Dialektik einer aufgeklärten Kindertheologie. Die Notwendigkeit einer »Theologie für Kinder« im Blick auf Zielgruppe, Basiswissen, Nachhaltigkeit und Inhalt, in: »Darüber denkt man ja nicht von allein nach …« Kindertheologie als Theologie für Kinder, JaBuKi 12, Stuttgart 2013, 40–56; 45. 2 Hans Mendl, Religion erleben. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 2008, 67 (Hervorhebung im Original). 3 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 71. 4 Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen, München 1995. 5 Heinz von Foerster, Lethologie. Eine Theorie des Erlernens und Erwissens angesichts von
Roose Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?
passiert deiner Meinung nach mit einem Menschen, wenn er gestorben ist?«). Zimmermann kommt zu dem Ergebnis, »dass mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen ihre Meinung grundlegend verändert«.6 Als Beispiel führt die Autorin zwei Aussagen eines 12-jährigen Mädchens an:7 »Ich glaube, der Mensch, der gestorben ist, wird von Gott in den Himmel geholt, also nur die Seele des Menschen.« (Antwort Durchgang 1) »Ich glaube, wenn ein Mensch gestorben ist, dann passiert gar nichts, nur, dass man bestattet wird. Außerdem weiß ich es nicht genau.« (Antwort Durchgang 2)
Zimmermann deutet die Diskrepanz zwischen beiden Antworten so, dass es sich jeweils um zufällige Momentaufnahmen – und nicht um »gute« Kindertheologie – handele. Denn: »Wenn Kindertheologie … für die Kinder selbst orientierend und sinnstiftend sein soll, dann muss sie auch nachhaltig abrufbar sein, also als Ergebnis eines Orientierungsprozesses als kindertheologische Kompetenz entwickelt sein.«8 Diese Begründung leuchtet sofort ein. Kinder und Jugendliche sollen in ihrer Auseinandersetzung mit »unentscheidbaren« Fragen theologisch kompetent unterstützt werden und darüber Orientierung und Sinnstiftung erfahren. Dennoch bin ich skeptisch, ob Nachhaltigkeit in diesem Sinne als schulisches Qualitätskriterium für »gute« Kinderund Jugendtheologie gelten kann. Ein Blick in die Diskussion zur performativen Religionsdidaktik kann hier m.E. die Sicht schärfen.
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3. Fehlende Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium »guten« performativen Religionsunterrichts bei Hans Mendl
In seinen Thesen zu performativem Religionsunterricht hält Hans Mendl u.a. fest: »Performative Unterrichtsformen laden zu einem echten religiösen Handeln ein, das aber geprägt ist von subjektiven Bedeutungszuweisungen und das nicht auf eine verbindliche Nachhaltigkeit zielt.«9 Mendl führt dazu aus: »Wir laden zum Vollzug einer ernsthaften Praxis ein, deren subjektive Bedeutungszuweisung je verschieden ausfallen und deren nachhaltige Praktizierung selbstverständlich nicht vorgeschrieben werden kann. Schülerinnen und Schüler sollen etwas ausprobieren aus dem Angebot christlicher Tradition, sie sollen sich auf neue, manchmal für sie fremde Erfahrungen einlassen, ohne dass daraus eine dauerhafte existenzielle Haltung werden muss.«10 Nun könnten wir vermuten, dass sich die Frage der Nachhaltigkeit bei Zimmermann und Mendl auf ganz unterschiedliche Bereiche bezieht: einerseits auf die reflexive Auseinandersetzung mit der biblisch-christlichen Tradition, andererseits auf den Vollzug religiöser Praxis. Wir könnten dann folgern, dass Nachhaltigkeit im Bereich der Reflexion als Qualitätskriterium ausgewiesen werden könne, ohne Unwissbarem, Unbestimmbarem und Unentscheidbarem, in: R. Voß (Hg.), Die Schule neu erfinden, Neuwied / Kriftel 42002, 14–32. 6 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 1), 46. 7 Ebd. 8 Ebd., 47. 9 Vgl. Hans Mendl (wie Anm. 2), 85–86. Hervorhebung HR. 10 Ebd., 68.
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mit den Überlegungen von Mendl im Bereich des praktischen Vollzugs in Konflikt zu geraten. Aber es geht Zimmermann hier ja nicht »nur« um Reflexion, sondern um Orientierung und Sinnstiftung. Und für Mendl gehört zum »Vollzug einer ernsthaften Praxis« auch die Teilnahme an einem »Diskurs« (der hier gleichrangig neben der Teilnahme an »einem Sozialprojekt, einer Gebetsform, … einem kreativen Projekt«11 steht. Insofern sehe ich durchaus einen Widerspruch zwischen den Ausführungen von Zimmermann und von Mendl. Nachhaltigkeit meint in beiden Fällen Ähnliches: bei Mendl »eine dauerhafte existentielle Haltung«, bei Zimmermann das »Ergebnis eines [existentiellen?] Orientierungsprozesses«, das über einen längeren Zeitraum hinweg stabil abrufbar ist. Zimmermann fordert Nachhaltigkeit. Es gelte, das sinnstiftende Potenzial von Kindertheologie zur Entfaltung zu bringen. Das gehe nur, wenn Kinder und Jugendliche je individuelle, relativ stabile Aneignungsformen der biblisch-christlichen Tradition ausbildeten. Mendl lehnt Nachhaltigkeit ab. Es gelte, die subjektiven Bedeutungszuweisungen offen zu lassen und eine auf Dauer gestellte existentielle Haltung bei den Kindern und Jugendlichen aus den Intentionen schulischen Unterrichts auszuklammern. Inwiefern kann diese Grenzziehung von Mendl das Profil der Kinder- und Jugendtheologie schärfen? 4. Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?
Drei Aspekte scheinen mir hier weiterführend:
4.1 Nachhaltigkeit in entscheidbaren, nicht in unentscheidbaren Fragen
Religionsunterricht steht – das dürfte unstrittig sein – unter dem Überwältigungsverbot, das 1976 für die Politikdidaktik festgelegt wurde12 und das besagt: Keine Lehrkraft darf ihren Schülerinnen und Schülern ihre Meinung aufzwingen. Den Schülerinnen und Schülern muss vielmehr Raum gegeben werden, je eigene Positionen auszubilden. Das bedeutet auch, dass alles, was kontrovers ist, im Unterricht kontrovers dargestellt werden muss. Lenhard und Zimmermann beziehen dieses Überwältigungsverbot folgendermaßen auf den Religionsunterricht: »Kein Schüler darf genötigt werden, im RU Handlungen auszuüben, Positionen einzunehmen oder religiöse Erfahrungen zu machen, denen er nicht zustimmt.«13 Mendl spricht in diesem Zusammenhang von »offenen Strukturen«: »Bei religiösen Handlungen, die von ihrer Eigenart her den Glauben voraussetzen, [müssen] unterschiedliche individuelle Füllungen möglich sein.«14 So weit stimmen beide überein. Und doch begegnen uns hier unterschiedliche Auslegungen des Überwältigungsverbotes. Denn während Zimmermann fordert, dass Schülerinnen und Schüler ihre je eigene Position – auch in unentscheidbaren Fragen – nachhaltig vertreten, ist Mendl der Meinung, dass wir genau dies nicht verlangen dürfen. Die 11 Ebd., 67. 12 Online unter: http://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html. 13 Hartmut Lenhard / Mirjam Zimmermann, Praxissemester Religion. Handwerkszeug für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger, Göttingen 2015, 101. 14 Vgl. Hans Mendl (wie Anm. 2), 69.
Roose Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?
offenen Strukturen dürfen immer wieder neu gefüllt werden. Was könnte das für die Kinder- und Jugendtheologie bedeuten? Die Differenzierung zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Fragen führt hier weiter. Im Bereich der entscheidbaren Fragen ist nachhaltiges Wissen wünschenswert und dient als Qualitätskriterium. Im Bereich der unentscheidbaren Fragen ist dies m.E. nicht der Fall. Hier dürfen Positionierungen immer wieder anders ausfallen. Bezogen auf die Fragebogenerhebung bedeutet das: Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium greift dort, wo es um das Kennen der biblischen Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus geht. Es greift aber nicht dort, wo es um die unentscheidbare Frage geht, was uns nach unserem Tod erwartet. In diesem Bereich sind andere Qualitätskriterien in Anschlag zu bringen, z.B. das Kennen unterschiedlicher (christlicher u.a.) Optionen zu dieser Frage; die Qualität der Argumentation für oder gegen eine Position; die Einbettung des Wissens: Was würde sich bei einer bestimmten Antwort option im Blick auf das Lebensgefühl ändern? Was ist mir (gerade jetzt) an einer Position sympathisch, was nicht? die Vernetzung der Positionen (im Sinne einer Theologie mit Kindern und Jugendlichen): Was meint x zu dieser Frage und wie verhält sich meine Meinung dazu? Vor diesem Hintergrund wird die Hochschätzung des Gedankenexperiments plausibel, wie Büttner sie stark gemacht hat: »Im Hinblick auf den probierenden Umgang mit liturgisch-gottesdienstlichen Formen wäre ich in Bezug auf Schüler/innen ohne christlichen
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Hintergrund eher vorsichtiger zugunsten einer Hochschätzung von Gedankenexperimenten, die im Prinzip allen Schüler/innen zuzumuten sind.«15 Experiment meint eben auch: fehlende Nachhaltigkeit in der eigenen Positionierung. 4.2 Seelsorge als Grenze von Kinder- und Jugendtheologie
Ein Lehrer berichtet von seiner Arbeit mit Franz, einem unheilbar an Krebs erkrankten, 12-jährigen Jungen, der im Krankenhaus beschult wird. Er thematisiert mit ihm, was nach dem Tod passiert. »Franz schien mit seiner Deutung der Wiedergeburt sehr zufrieden zu sein; seine Vorstellung schien ihn zu beruhigen und zu trösten. Einen weitergehenden Gesprächsbedarf hatte er anscheinend nicht. Hier wird ein wichtiges Kriterium des Theologisierens mit kranken Schülerinnen und Schülern deutlich: Die Gespräche mit ihnen, die Denkwege und ihre Ergebnisse sollten nicht zusätzlich verunsichern. Sie sollten zu Ergebnissen führen, die für die Kinder und Jugendlichen zufriedenstellend sind.«16 Das Vertrauen auf die eigene Wiedergeburt erweist sich für den Jungen in dieser Situation als nachhaltig, als sinnstiftend und orientierend. Trotzdem werden wir hier m.E. nicht Zeugen von (gelungener) Kinder- und Jugendtheologie. Im Gegenteil: In dieser Situation 15 Gerhard Büttner, Kinder-Theologie, in: Evangelische Theologie 67/2007, 216–229; 223. 16 Alexander Wertgen, Spirituelle Bedürfnisse längerfristig und schwerwiegend erkrankter Kinder und Jugendlicher als Herausforderung für Kindertheologie und Seelsorge, in: Katharina Kammeyer / Erna Zonne / Annebelle Pithan (Hg.), Inklusion und Kindertheologie, Münster 2014, 126–148; 137.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
kommt Kinder- und Jugendtheologie an ihre (legitime) Grenze. Der Gesprächsbedarf ist erschöpft, das Testen anderer Optionen wäre der Situation – wegen möglicher Verunsicherung – inadäquat. Wir werden vielmehr Zeugen gelungener Seelsorge. Das heißt: Seelsorge markiert m.E. eine Grenze von Kinder- und Jugendtheologie. Seelsorge bedarf der nachhaltigen Sinnstiftung und existentiellen Orientierung. Kinder- und Jugendtheologie lebt vom In-Frage-Stellen, vom kritischen Widerspruch, vom Austesten mehrerer Möglichkeiten, von (kognitiver) Verunsicherung. 4.3 Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium von Kinder- und Jugendtheologie in systemtheoretischer Perspektive
Gerhard Büttner hat jüngst17 dafür plädiert, Kinder- und Jugendtheologie unter dem Paradigma der »Kommunikation des Evangeliums« zu verorten und dabei »Kommunikation« systemtheoretisch (in Anlehnung an Niklas Luhmann18) zu verstehen. Durch diese Perspektivierung verschiebt sich der Fokus: weg von den (planvoll handelnden) Akteuren hin zur Kommunikation an sich. Nicht die Akteure kommunizieren, sondern die Kommunikation. »Die Kommunikation kommuniziert«.19 Zu fragen wäre demnach: Wie wird Kommunikation nachhaltig? Da es in diesem Band um Kinder- und Jugendtheologie im schulischen Unterricht geht, perspektiviere ich die Frage in diese Richtung: Wie wird schulischer (Religions-) Unterricht nachhaltig? Wir berühren damit die Frage des Wirkungsproblems von Unterricht.20 Auf dieses Problem haben Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke mit einer kommunikationsbasierten, system-
theoretisch informierten Unterrichtstheorie reagiert.21 »Das viel beschworene Wirkungs- und Technologieproblem der Erziehung wird im sozialen System Unterricht gelöst, indem über institutionell-organisatorische Rahmungen thematische Kontinuität hergestellt, die Habitualisierung von Verhaltensnormen begünstigt und auf ständige Wiederholung gezielt, also letztlich auf Zeit gesetzt wird.«22 Gerade dieses »Setzen auf Zeit« ermöglicht es Unterricht, auch mit problematischen oder instabilen Positionierungen seitens der Schülerinnen und Schüler gelassen umzugehen. »Im Unterricht kann es nur um das GeschehenLassen (»laisser-faire«) von Lernen und erst auf lange Sicht um den Erwerb von Urteilsvermögen gehen. Weil man in der Schule Zeit hat, kann man selbst auf unangemessene kognitive und sozialmoralische Positionierungen der Schüler gelassen reagieren – und je nach Geschmack auf Sozialisation oder Bildung setzen.«23 17 Gerhard Büttner, Kinder- und Jugendtheologie als »Kommunikation des Evangeliums und des Glaubens« – im Lichte der Kritik von Bernhard Dressler, in: »Man kann es ja auch als Fantasie nehmen«. Methoden der Kindertheologie, JaBuKi 14, Stuttgart 2015, 9–18. 18 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1. Tb., Frankfurt a.M. 1998, 190–412. 19 Peter Fuchs, Kommunikation, in: Oliver Jahraus / Armin Nassehi u.a. (Hg.), LuhmannHandbuch, Stuttgart / Weimar 2012, 90–92; 90. 20 Vgl. Niklas Luhmann / K.-E. Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: dies., (Hg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz, Frankfurt a.M. 1982, 11–40. 21 Wolfgang Meseth /Matthias Proske / FrankOlaf Radtke, Kontrolliertes Laisser-faire. Auf dem Weg zu einer kontingenzgewärtigen Unterrichtstheorie, in: Zeitschrift für Pädagogik 2012, 223–241. 22 Ebd., 235. 23 Ebd., 235.
Roose Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?
Beziehen wir nun diese Modellierung auf kinder- und jugendtheologisch inspirierten Religionsunterricht, so zeigt sich Folgendes: Nachhaltigkeit lässt sich neu verorten: nicht mehr bei den einzelnen Akteuren, also den Schülerinnen und Schülern und ihren Positionierungen, sondern in der (Unterrichts-) Kommunikation selbst. Damit wird Nachhaltigkeit in einem neuen Sinn zum Qualitätskriterium von Kinder- und Jugendtheologie: Nachhaltigkeit betrifft erstens den unterrichtlichen Rahmen, in dem theologische Gespräche stattfinden können. Hier fällt auf, dass der institutionellorganisatorische Rahmen, der für die langfristige Wirkung von Unterricht wesentlich ist, im Blick auf Religionsunterricht fragiler erscheint als im Blick auf andere Fächer. In der Praxis wird Religionsunterricht oft nicht in allen Schuljahren erteilt, er fällt oft aus, wird fachfremd erteilt, Schülerinnen und Schüler können abgemeldet werden bzw. sich selber abmelden. Es ist fraglich, inwieweit diese Fragilität durch bestimmte didaktisch-methodische Ausgestaltungen einzelner Lernsequenzen aufgefangen werden kann. Insofern wird man wohl auch im Blick auf langfristige (messbare) Wirkungen bestimmter religionsdidaktischer Konzeptionen zurückhaltend sein müssen. Religionsunterricht kann nicht im selben Umfang wie andere Fächer auf Zeit setzen. Nachhaltigkeit betrifft zweitens die thematische Gestaltung des Religionsunterrichts. Nachhaltigkeit meint dann in erster Linie: (begrenzte) Anschlussfähigkeit.24 Es gilt, die Unterrichtskommunikation zu einem biblisch-christlichen25, theologischen
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Thema anschlussfähig zu halten, so dass Kinder und Jugendliche sich an verschiedenen Stellen ein- und wieder ausklinken können. Thematische Kontinuität setzt freilich Kontinuität im institutionell-organisatorischen Rahmen voraus. Nachhaltigkeit betrifft drittens die Habitualisierung von Praxen innerhalb der Lerngemeinschaft. Gerhard Büttner hat das Theologisieren als Einüben in einen Habitus charakterisiert.26 Damit ist gesagt, dass es beim Theologisieren nicht nur um kognitive Wissensbestände geht, sondern um das Einüben eines bestimmten Umgangs mit (religiösen) Fragen und Meinungen in der (Lern-) Gemeinschaft. Entscheidend für Qualität wäre dann nicht so sehr die Nachhaltigkeit der individuellen Position, sondern die Art des Umgangs mit einer Position angesichts weiterer Positionen. Nachhaltigkeit betrifft viertens – paradoxerweise – das Aushalten nichtnachhaltiger Positionen. Gerade weil Unterricht auf Nachhaltigkeit gestellt ist, kann er individuelle »Irrungen und Wirrungen« verkraften. Anders formuliert: »Zufällige« Theologien können ein Unterrichtsgespräch durchaus bereichern – gerade weil sie nicht als nachhaltige Positionierungen behandelt werden müssen.
24 Vgl. Hanna Roose, Kinder- und Jugendtheologie in kontingenzsensibler Perspektive, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2015. 25 Vgl. Tanja Schmid, Die Bibel als Medium religiöser Bildung, Göttingen 2008, 209. 26 Gerhard Büttner, Theologisieren: Einübung in einen Habitus, in: Katechetische Blätter 2, 2013, 138–143.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Anke Wischmann / Cornelie Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht – Ein Beitrag zur Kontextualisierung von Differenzierungspraktiken1
Heterogenität lässt sich nicht als eine ontologisch gegebene Vielfalt, mit der es in möglichst kompetenter Weise umzugehen gilt, auffassen, sondern vielmehr als eine Folge sozialer Differenzierungspraktiken und -diskurse, welche sozial wirksame Unterscheidungsraster produzieren, reproduzieren und transformieren.2 Die »heterogene Lerngruppe« – für viele Forschungen und pädagogische Argumentationen unhintergehbar evidenter Ausgangspunkt – ist in dieser Perspektive immer schon Resultat eines kulturellen Aushandlungsprozesses, an dem ganz unterschiedliche symbolische Unterhändler beteiligt (gewesen) sind: Pädagoginnen, Ökonomen, Politiker, Erziehungswissenschaftlerinnen, Eltern sowie die Kinder selbst. Was als heterogen, vor allem als problematisierungsbedürftig heterogen gilt, ist je nach Kontext durchaus selbst wieder sehr verschieden. In den inzwischen schon vielfältigen erziehungswissenschaftlichen Debatten über Heterogenität werden erkenntnisleitende Interessen in der Regel nicht explizit mitdiskutiert. Ein Teil der Forschungen versucht – vor dem Hintergrund von Erfahrungen gesellschaftlicher Hierarchien – die Ungleichverteilung von Bildungschancen aufzuklären und strebt danach, verborgene Mechanismen der Reproduktion legitimer Kulturen zu rekonstruieren. Dabei ist – mal mehr, mal weniger – die regulative Idee sichtbar, die Viel-
gestaltigkeit gesellschaftlicher Teilgruppen als weniger hierarchisch geordnet zu gestalten. Das Eingebettetsein des Heterogenitätsdiskurses in Fragen der Macht und Hierarchie gilt hier als eine wichtige, Voraussetzung für die eigene Forschung.3 Ganz andere Rahmungen stellen große Teile der empirischen Bildungsforschung her, wenn sie rekurrierend auch auf soziale Differenzkategorien versuchen, die hohe Varianz messbarer Leistungsheterogenität aufzuklären. Das Interesse besteht hier, folgt man Koch4, darin, in der »Solidargemeinschaft von Administration, Ökonomie und Wissenschaft« zu einer global nutzbaren Standardisierung von kulturunabhängig 1 Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung zuerst in 2014 in der Zeitschrift bildungsforschung unter: http://bildungsforschung.org/ index.php/bildungsforschung/article/view/166. 2 Vgl. Erving Goffman / Hubert Knoblauch, Interaktion im öffentlichen Raum, Frankfurt a.M. / New York 2009. 3 Vgl. Isabell, Diehm / Melanie, Kuhn / Claudia, Machold, Ethnomethodologie und Ungleichheit? Methodologische Herausforderungen einer ethnographischen Differenzforschung, in: Jürgen Budde (Hg.), Unscharfe Einsätze. (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld, Studien zur Schul- und Bildungsforschung 42, Wiesbaden 2013, 29–51. Online verfügbar unter: http://link.springer.com/boo k/10.1007%2F978-3-531-19039-6. 4 Vgl. Lutz Koch, Normative Empirie, in: Marian Heitger (Hg.), Kritik der Evaluation von Schulen und Universitäten, Würzburg 2004.
Wischmann / Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht
gedachten Kompetenzen zu gelangen. In einer stärker pragmatischen Unterrichtsforschung geht es im Anschluss daran um die Entwicklung von Unterrichtsstrategien und -methoden, die eine Minderung der Leistungsheterogenität versprechen. Ein drittes, der praktisch-pädagogischen Tätigkeit näherstehendes Interesse ist die Verringerung zu starker beruflicher Belastung bzw. die Vermehrung professioneller Strategien im alltäglichen pädagogischen Umgang mit den als immer heterogener werdend wahrgenommenen Lerngruppen. Die aktuellen Varianten der alteuropäischen Vision, alle alles zu lehren bzw. alle zum Lernen von Allem zu befähigen, verfolgen also durchaus unterschiedliche Ziele und Interessen. Im Folgenden möchten wir die Notwendigkeit einer stärkeren Kontextualisierung von erziehungswissenschaftlicher Heterogenitätsforschung diskutieren, indem wir die zwei prominenten Forschungskontexte der sozialwissenschaftlichen und der schulpädagogischen Schul- und Unterrichtsforschung um den bisher wenig ausdifferenzierten Kontext verschiedener fachlicher Kulturen ergänzen (1.). Im zweiten Abschnitt werden wir dies anhand eines Beispiels aus einer schulethnografischen Untersuchung diskutieren; im Fallvergleich einer Deutsch- und einer Religionsstunde werden fachspezifische Fragen an den Diskurs um Praktiken der Differenzierung gestellt (2.).
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1. Kontextualisierungen von Heterogenität in Schul- und Unterrichtsforschung 1.1 Schulische Interaktionen als Teil der gesellschaftlichen Differenzierungspraktiken
In einem sozialwissenschaftlichen Forschungskontext sind die am häufigsten anzutreffenden Kategorien der Heterogenität solche der sozialen Ordnung (z.B. Gender, Klasse, Ethnizität). Sie werden in allen gesellschaftlichen Kontexten, also auch in pädagogischen, wirksam. In diesem Kontext fokussiert man auf Schule und Unterricht als einem gesellschaftlichen Teilsegment, besonders hervorgehoben wird ihre Funktion der Reproduktion sozialer Ordnung. In der qualitativen Schul- und Unterrichtsforschung dieses kontextuellen Rahmens steht die Frage nach dem »wie« der Reproduktionsprozesse und -mechanismen im Mittelpunkt. In Anlehnung an bzw. Anwendung der verschiedenen »doingAnsätzen« (doing gender, ethnicity, culture)5 erweitern solche Untersuchungen einen quantitativen Ansatz der Ungleichheitsforschung um die genaue Analyse der Interaktions- und Performativitätsprozesse auf der Mikroebene. Allerdings wird mit Begriffen wie Vergeschlechtlichung, Ethnisierung oder Kulturalisierung6 darüber diskutiert, dass hier Kategorien sozialer Ungleich5 Vgl. Candace West / Sarah Fenstermaker, Doing Difference, in: Gender & Society. Official publication of sociologists for women in society, (9) 1/1995, 8–37. 6 Vgl. Helma Lutz / Norbert Wenning (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
heit erneut einer essentialisierenden Zuschreibung von Differenzkategorien seitens der Forschenden dienen. Ungleichheitsverhältnisse und deren Effekte für (vermeintlich) Betroffene werden zugleich unterstellt wie manifestiert. Dem kann nur mit einer qualitativ-rekonstruktiven Forschungsperspektive entgegengewirkt werden, in welcher die Präskriptionen systematisch reflektiert werden.7 In Bezug auf Heterogenität in Schule und Unterricht rücken dabei die in der konkreten Situation, unter den aktuell wirksamen institutionellen Bedingungen handelnden Akteure ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird rekonstruiert, wie soziale Differenzen hergestellt und dann als kulturelle Ordnungsmuster (oder Kategorien) wirksam werden. Dazu ist ebenfalls danach zu fragen, wie sich bestimmte Differenzlinien durchsetzen und andere nicht, wie sich Machtverhältnisse stabilisieren oder ins Wanken geraten. Allerdings stehen empirische Studien im Kontext von Schule und Unterricht in diesem Bereich noch aus. 1.2 Schule als Ort mit eigenen pädagogischen Differenzierungspraktiken (Schulkulturforschung)
In einem stärker schulpädagogischen Kontext stehen solche Forschungen, die die Schule nicht so sehr in ihrer Funktion der Reproduktion gesellschaftlich dominanter Ordnungen, sondern stärker auf die darin wirkende pädagogische Eigensinnigkeit fokussieren. Die Schulkulturforschung8 richtet ihr Augenmerk auf die Ebene der Institution Schule und den ihr je spezifischen Habitus, der wiederum die schulischen Praxen – sei es das Unterrichtsgeschehen, organisatorische Strukturen oder Lern-
prozesse – zumindest mit hervorbringt. So kann das Selbstbild einer Schule in Konflikt geraten mit einer sich verändernden Schülerschaft und deren Erwartungen oder mit alltäglichen Unterrichtspraktiken. Gesellschaftliche Differenzen werden innerhalb der Schulkultur pädagogisch transformiert in einen mehr oder weniger konfliktträchtigen Schulhabitus, der seinerseits wieder soziale Differenzen zwischen den Akteuren hervorbringt. Mit einem Schwerpunkt auf Vermittlungs- und Aneignungspraktiken (schulischen) Wissens untersuchten Kolbe et al.9 konkrete Unterrichtspraktiken. Darin würden, so die Autoren, drei spezifisch pädagogische Differenzen bearbeitet, wodurch unterschiedliche Lernkulturen im Unterricht erzeugt würden: 1. Die »Herstellung beziehungsweise Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im Unterricht« 2. Die »Differenz zwischen Aneignung und Vermittlung« 3. Die Differenz zwischen »schulisch relevantem und dem schulisch nicht-relevantem Wissen und Können«.10 7 Vgl. Ralf Bohnsack / Iris Nentwig-Gesemann / Arnd-Michael Nohl (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Opladen 2001. 8 Vgl. Werner Helsper, Schulkulturen – die Schule als symbolische Sinnordnung, in: Zeitschrift für Pädagogik 54 (1/2008), 63–80. Online verfügbar unter: http://www.pedocs.de/ volltexte/2011/4336/pdf/ZfPaed_2008_1_Helsper_Schulkulturen_Sinnordnung_D_A.pdf. 9 Vgl. Fritz-Ulrich Kolbe / Sabine Reh / Bettina Fritzsche / Till-Sebastian Idel / Kerstin Rabenstein, Lernkultur: Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Grundlegung qualitativer Unterrichtsforschung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11 (1/2008), 125–143. Online verfügbar unter: http://link.springer.com/article/10.1007%2 Fs11618-008-0007-5. 10 Ebd., 133.
Wischmann / Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht
Daraus ergibt sich, dass bestimmte Machtverhältnisse wirksam sind und dass damit zusammenhängt, welches Wissen und Können anerkannt wird. Das Problem stellt sich dabei im Prozess der Vermittlung und dem angesprochenen Bruch, der sich ergibt zwischen Vermittlung und Aneignung im Unterricht, der schwerlich zu kontrollieren ist, auch wenn genau das in unterrichtlicher Praxis angestrebt wird – oder auch behauptet wird. Die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung führt zu einer Kontingenz des Wissens und Könnens, das sich aus dem Lernen ergibt. Nicht jedes Wissen und Können wird als schulisch relevant anerkannt. Damit kann Anerkennung nicht garantiert werden und auch nicht, dass (das Richtige richtig) gelernt wird. Fachspezifika werden in dieser Forschung nicht beleuchtet, vielmehr geht es um allgemeindidaktische Fragen der Unterrichtsforschung und -entwicklung. 1.3 Differenzierungspraktiken im Kontext von Fachkulturen
Die Relevanz unterschiedlichen Fächer rückte dabei zumeist nur am Rande in den Blick der Forscher/innen. In der – noch nicht sehr etablierten – Fachkulturforschung geht man jedoch davon aus, dass fachspezifische Habitus sich auf Diskurse und Praktiken des Unterrichts auswirken bzw. diese immer mit hervorbringen.11 Damit sind zum einen fachliche Traditionen und sich daraus ergebende Erwartungen an das Schüler/innenverhalten gemeint; zum anderen werden damit zusammenhängende didaktische und methodische Vorgehensweisen thematisiert, innerhalb derer sich eine Fachkultur reproduziert. Allgemeine bzw. vergleichende Fachkulturforschung bezieht sich in der Re-
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gel auf die Kulturen wissenschaftlicher Fächer oder Disziplinen12 und nicht so sehr auf schulische Kontexte. Uns interessiert in diesem Zusammenhang eine vergleichende Perspektive auf spezifische Fachkulturen und deren Bedeutung für Unterrichtspraxen insbesondere im Hinblick auf die Herstellung und Bearbeitung von Heterogenität. Willems13 spricht in diesem Zusammenhang vom doing discipline. Um den Blick auf die Schulfächer zu schärfen, unterscheidet sie zwischen Disziplinen (der Wissenschaft) und Fächern (der Schule). Des Weiteren geht Willems praxeologisch davon aus, dass die Fachkulturen performativ hergestellt, reproduziert und transformiert werden.14 Innerhalb dieser Praxen werden notwendigerweise immer auch Differenzen hergestellt und damit heterogene Subjektpositionen hervorgebracht. Doing culture kann somit nicht unabhängig gedacht werden von doing difference. Dies bezieht sich auch auf die Abgrenzung des Fachs von anderen Fächern (z.B. der Differenz zwischen Deutsch und Physik) als auch auf inner11 Vgl. Ernst Liebau / Ludwig Huber, Die Kulturen der Fächer, in: Neue Sammlung, 25 (3/1985), 314–339; Jenny Lüders (Hrsg.), Fachkulturforschung in der Schule. Opladen & Farmington Hills 2007; Uwe Gellert, Heterogen oder hierarchisch? Zur Konstruktion von Leistung im Unterricht, in: Budde, Jürgen (Hg.): Unscharfe Einsätze. (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld. Wiesbaden 2013, 211–227. Online verfügbar unter: http://link.springer.com/book/10.1007 %2F978-3-531-19039-6. 12 Vgl. Ernst Liebau / Ludwig Huber (wie Anm. 11). 13 Vgl. Katharina Willems, Schulische Fachkulturen und Geschlecht. Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? Bielefeld 2007. 14 Vgl. ebd., 30.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
halb einer Fachkultur wirksame Differenzierungen. Hericks15 rekonstruiert hier fachspezifische Anerkennungsmodi: Was als angemessener Gegenstand, als relevanter Beitrag, als übliche Methodik oder normales Schüler/innenhandeln gilt, wird im Sinne einer strukturierenden Struktur im Sinne Bourdieus16 hergestellt und gleichzeitig angewendet. Im Anschluss an Bourdieus Arbeiten zur feldspezifischen Illusion17 geht Hericks davon aus, dass den beteiligten Akteuren die Regeln des Feldes bekannt sind, und dass sie entweder in der Lage sind »mitzuspielen« oder ausgeschlossen werden. Gerade in Bezug auf Fachkulturen als einem sozialen Feld, das Kinder in der Grundschule erst kennenlernen und in dem sie zu allererst zu Schüler/innen bestimmter Fächer gemacht werden und sich selbst machen, muss auch danach gefragt werden, wie sie sich die jeweilige Illusio erstmals aneignen und diese möglicherweise auch handelnd reifizieren.18 Anstatt einer vorgängigen Unterstellung einer wirksamen fachspezifischen Illusio, müssten daher die sich zeigenden Symbolisierungspraktiken zunächst einmal rekonstruiert werden. Dabei sind nicht nur diskursive oder rationale, sondern auch präsentative19 und implizite Praktiken, die den Fachunterricht konstituieren, gemeint. In Bezug auf Religionsunterricht in der Grundschule, fragt Roose20 nach Heterogenität in Zusammenhang mit fachspezifischer Themenkonstitution. Sie nimmt eine anerkennungstheoretische Perspektive ein, um konkrete Adressierungen in den Blick zu nehmen. Dabei geht sie davon aus, dass das Schulfach Religion einerseits unter einem erheblichen Legitimationsdruck stehe, andererseits aber der Selektionsdruck im
Gegensatz zu anderen Fächern sehr gering sei. Doch wird man dem Nebenfach Religion dadurch in seiner Eigenart keineswegs gerecht. Weiterhin rekonstruiert sie ein fachspezifisches Spannungsfeld, das sich für den Religionsunterricht aus dem Überwältigungs- (oder »Missionierungs«)verbot einerseits und dem Positionierungsgebot andererseits ergibt, und das in jeder Unterrichtsstunde – vor allem wenn es um unentscheidbare Fragen geht21 – praktisch neu austariert werden muss. Uns interessiert in diesem Zusammenhang, ob und wie sich solche fachkulturellen Eigenschaften in pädagogischen Arrangements und unterrichtskulturellen Praktiken wiederfinden. Willems22 beschäftigt sich mit den Fachkulturen der Unterrichtsfächer 15 Vgl. Uwe Hericks, Anerkennung im Fachunterricht, in: Jenny Lüders (Hg.), Fachkulturforschung in der Schule. Opladen & Farmington Hills 2007, 209–228. 16 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. 17 Vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, 210ff. 18 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. 19 Vgl. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuen Wegen. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1984. 20 Vgl. Hanna Roose, Zur Frage nach bedeutsamen Differenzen im Fachunterricht – ein Beitrag zum Thema Heterogenität in der Schule, in: Pädagogische Rundschau (98) 5/2013, 507–516; Hanna Roose, Unentscheidbare Fragen zwischen Überwältigungsverbot und Positionierungsgebot. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zur Frage einer »Fachkultur« Religion, in: Evangelische Theologie. (73) 6/2013, 450–462. 21 Vgl. Hanna Roose, Unentscheidbare Fragen (wie Anm. 20). 22 Vgl. Katharina Willems, Schulische Fachkulturen und Geschlecht. Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? Bielefeld 2007.
Wischmann / Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht
Deutsch und Physik unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht. Das Fach Deutsch nimmt demzufolge eine zentrale Position in der Schul- und Unterrichtsstruktur in Deutschland ein. Dabei wird allgemein akzeptiert, dass es sich um ein Hauptfach handelt, dessen Leistung als grundlegend im Kontext allgemeiner Schulbildung zu betrachten ist. Inhaltlich bilden sowohl die Sprache (und deren im akademischen Kontext »angemessene« Beherrschung) als auch Literatur (und wiederum deren »angemessene« Rezeption) die Schwerpunkte. Allerdings – und dies wird insbesondere mit Blick auf doing gender deutlich – wird Deutsch gemeinhin im Gegensatz zu MINT-Fächern, eher als weiches also weibliches Fach wahrgenommen. Das Fach muss sowohl als weiches, als auch als zentrales Hauptfach immer wieder konstituiert, die Illusio immer wieder stabilisiert werden. Demnach ist Deutsch (a) ein Hauptfach, dem eine zentrale Rolle in Schule und Bildungssystem zukommt, das (b) den Anspruch erhebt, von Bedeutung für die Bildung der individuellen (Schüler/innen-) Persönlichkeit zu sein. 2. Fallvergleich zwischen Deutsch und Religion
In unserer Pilotstudie sind wir diesen Fragen in einer dritten Grundschulklasse nachgegangen. Methodisch verortet sich die vorliegende Pilotstudie in der ethnografischen Unterrichtsforschung, die sich der Komplexität des Alltagshandelns, der Sperrigkeit der durch z.B. habitualisierte Körperpraktiken und tacit knowledge wirksamen Interaktionsmuster anneh-
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men sowie der notwendigen Einbeziehung eines niemals objektiven Blicks der forschenden Personen nicht verschließen will.23 Die Auswertung der Materialien erfolgt mit Hilfe der dokumentarischen Methode24, die es ermöglicht, auch implizite Orientierungen zu ermitteln, d. h. methodisch kontrolliert zu tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungszusammenhängen durchzudringen und diesen Rekonstruktionsvorgang intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Es werden nun jeweils die Eingangsszenen einer Deutsch- und einer Religionsstunde rekonstruiert und die Praktiken fachspezifischer Heterogenität exemplarisch verdeutlicht und anschließend kontrastiert.25 2.1 Aufwärmspiel als Wettbewerb: Wortformen im Deutschunterricht, 3. Klasse »So. Wir machen ein kleines Aufwärmspiel. Ihr kennt das. Ich stelle euch eine Aufgabe, du stellst dich vorher hinter deinen Nachbarn und gehst eine Position weiter, wenn du schneller bist.« Während des Sprechens geht die Lehrerin einen Schritt nach vorn, in das Zentrum des Klassenzimmers hinein. Dabei 23 Vgl. Bettina Hünersdorf / Christoph Mäder / Burkhard Müller (Hg.), Ethnographie und Erziehungswissenschaft. Methodologische Reflexionen und empirische Annäherungen, Weinheim 2008. 24 Vgl. Ralf Bohnsack / Iris Nentwig-Gesemann / Arnd-Michael Nohl (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen 2001. 25 Die Daten stammen aus dem Kleinforschungsprojekt »Diskurs und Präsenz im Fachunterricht«, das 2012 an der Leuphana Universität Lüneburg mit Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur durchgeführt worden ist.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
zeigt sie gestisch das Weitergehen von Platz zu Platz, indem sie die Handflächen zueinander, mit ca. 30 cm Abstand auf und ab, von einer Seite zur anderen, die Hände schnell auf und ab bewegt, als würde sie die Luft in kleine Abschnitte zerteilen und gleichzeitig anordnen. Die Kinder wenden sich der Lehrerin zu und sehen sie an. Einige melden sich. Die Lehrerin geht einen Schritt zurück, so dass sie alle Kinder im Blick hat und lässt ihn durch die Klasse schweifen. »Wo fangen wir denn heute mal an?« Sie beschließt, dass heute mit Franz begonnen wird. Daraufhin nimmt Franz den Arm herunter und die Lehrerin schickt ihn hinter Lutz. »Oh«, sagt sie, »da muss ich gleich mit was ganz Schwerem anfangen.« Sie wendet sich den beiden zu und stellt ihnen die erste Aufgabe. Dabei hebt sie die Stimme, die Kinder blicken sie an: »Nenne mir die Grundform von »malt«.« Franz antwortet als erster, aber falsch (»du malst«), Lutz antwortet richtig (»malen«) und darf weitergehen. Franz stöhnt und setzt sich, Lutz lächelt und stellt sich hinter die nächste Schülerin, Lisa. Sie besiegt im Folgenden einige Mitschüler/innen. Dann steht sie hinter Ayshe, die von der Lehrerin zur Konzentration aufgerufen wird, weil sie in dem Moment zur Seite geblickt hat. Ayshe blickt die Lehrerin daraufhin an und lächelt, versteckt sich jedoch dabei hinter ihrer Hand, auf die sie ihr Kinn stützt. Wieder siegt Lisa. Die Lehrerin steht weiter im Zentrum und nickt ihr zu. Die Lehrerin spricht den Jungen an, der als nächstes dran ist: »Mats, warum stehst du?« »Oh!« sagt er und setzt sich sogleich, Lisa stellt sich hinter ihn. (Mats stand bereits vorher über die gesamte Spieldauer an seinem Platz.) »Nenne mir einen Umlaut!« fordert die Lehrerin auf. Darauf erfolgt nicht unmittelbar eine Antwort, es entsteht eine Pause. Während Lisa und Mats nachdenken, wirken sie angespannt. Die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse ist auf sie gerichtet. Mats: »au«. Die Lehrerin wiederholt: «Einen UMlaut«. Lisa ruft »Ä!« und geht weiter. Daraufhin zählt die Lehrerin die Umlaute auf. Mats
bleibt sitzen und schaut auf seine Hände, die auf dem Tisch ruhen. Ein Junge in der ersten Reihe, der vorher zu den Spielenden geschaut hatte, dreht sich um, meldet sich und sagt, dass Mats schon vorher »au« gesagt habe. Er sitzt direkt vor der stehenden Lehrerin und blickt zu ihr auf. Ja, aber das sei ja nicht richtig gewesen, gibt diese zurück. Daraufhin sackt der Junge in sich zusammen, stützt sein Kinn auf die Hand und sagt: »Hm«. »Hm« wiederholt die Lehrerin und zuckt mit den Achseln. […] Das Spiel geht weiter wie zuvor, bis die letzte Schülerin an der Reihe ist. Richtige Antworten werden von der Lehrerin gelobt. Oft deutet sie dabei auf das entsprechende Kind, lächelt und nickt. Wenn Wörter mehrfach genannt werden, tadelt sie dies und fordert die Kinder auf, andere Beispiele zu finden, etwa nicht immer »Hund« als Beispiel für ein Nomen zu nennen, dafür dürfen die Kinder die Tafel, auf der Beispiele angeführt werden, benutzen. Auf falsche Antworten der Kinder reagiert die Lehrerin zumeist damit, dass sie die Wortgruppe, die sie hören möchte, wiederholt. Richtige Antworten werden lobend kommentiert. Als ein Junge in der vorderen Reihe dran ist, springt er beim Antworten auf und wirft die Arme nach vorn. Nach zwei »ungültigen« Antworten, gibt er eine richtige. Nachdem jedes Kind einmal an der Reihe war, beendet die Lehrerin das Spiel und alle Kinder gehen wieder zurück an ihre Plätze.
Das Spiel und seine Regeln sind allen Kindern bekannt. Es entsteht eine spannungsgeladene Wettbewerbsatmosphäre, die sich sowohl auf sprachlicher (lautes Ausrufen der Antworten) als auch auf körperlich-gestischer (Hochreißen der Arme, Vorspringen beim Antworten) Ebene manifestiert. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass es für die Kinder darum geht, Leistung zu zeigen und sich im Klassengefüge im Hinblick auf bestehende Leistungshierarchien zu posi-
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tionieren. So bestimmt die Lehrerin einen Jungen, der anfangen soll, der sich wiederum hinter einen anderen Jungen stellt, und kommentiert: »Oh, da muss ich mir ja etwas Schwieriges überlegen!« Damit wird zumindest einer der beiden als leistungsstarker Schüler adressiert. Als richtig bewertete Antworten werden gelobt, was durch Lächeln und Zunicken unterstrichen wird. Aber auch die gesamte Choreografie des Spiels zeugt von einer räumlichen und materiellen Ordnung, die den Wettbewerb erst ermöglichen: Störungen der Spiel- und Klassenordnung werden sofort »behoben«. Kinder, die nicht ordnungsgemäß auf einem Stuhl an einem Tisch sitzen solange sie nicht an der Reihe sind, werden aufgefordert sich zu setzen. Manche Kinder, die gegeneinander antreten, brauchen länger, um eine Antwort zu finden und es wird sehr still im Klassenraum bis eine Antwort gegeben wird. In diesen Situationen wird deutlich, dass es nicht nur um richtige, sondern auch um schnelle Antworten geht: Im entstehenden Schweigen, manifestiert sich eine spürbare Spannung, die bis zum Ende des Spiels erhalten bleibt. Während des Spiels steht die Lehrerin vorn und stellt ihre Fragen, wobei sich die Aufmerksamkeit der Klasse auf das jeweils befragte Duo richtet. Neben den leistungsbezogenen Zuschreibungen der Lehrerin fällt auf, dass sie, obwohl sie die Klasse als Kollektiv anspricht, oder zumindest immer zwei Schüler/innen, das »Du« verwendet (z.B.: »Nenne mir ein Nomen!«). Damit wird die Relevanz des Individuums als Leistungsträger/in wiederum untermauert. Insgesamt vollzieht sich diese Unterrichtssequenz im Modus des Wettbe-
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werbs, der zugleich auch als (Aufwärm-) Spiel markiert ist. Das ludisch-agonale Moment dieses Arrangements26 rekurriert auf die Fähigkeit, Wortbeispiele für bestimmte Wortarten zu finden und schnellstmöglich zu äußern. Im Grunde wird diese Fähigkeit hier mehr geübt, als dass ihr Vorhandensein in einem sportlichen Wettkampf zur Aufführung käme. Die Lehrerin agiert so, dass die Fähigkeit zur Klassifizierung einigen unterstellt und anderen abgesprochen wird. Außerdem erfolgt eine klare Differenzierung zwischen richtigen und falschen Antworten und ein Bestreben, die Kinder mit abstrakten Begriffen der Klassifikation (Verben statt Tuwörter, Adjektive statt Wie-Wörter etc.) vertraut zu machen. So ist es bspw. nicht akzeptabel immer die gleichen Beispiele (etwa für Nomen) anzuführen und schon gar nicht, die Antworten von den Wandtafeln abzulesen; wer diesen Erwartungen nicht entspricht wird ermahnt. Heterogenität wird in diesem Deutschunterricht zusammenfassend auf mindestens vier Ebenen hergestellt: 1. in Bezug auf Leistung, 2. nach der Geschwindigkeit der gegebenen Antworten (die mit der Leistung korreliert), 3. bezüglich der Unterscheidung zwischen sehr treffenden und weniger treffenden Antworten (richtig-falsch; gut-besser), 4. Zwischen Schüler/innen und Lehrerin, also zwischen Kindern und Erwachsenen.
26 Vgl. Gunter Gebauer / Christoph Wulf, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, 187ff.
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Auf allen Ebenen stellen die Differenzierungspraktiken nicht nur Unterschiede zwischen (gleichwertigen) Individuen, sondern immer auch Hierarchien zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schüler/innen, schnellen und langsamen, Dazugehörigen und Anderen, Lehrerin und Schüler/innen in unterschiedlichen Machtpositionen her. Diese dichotomisierende Unterscheidungspraxis verweist auf unvereinbare Gegensätze, die sich im Unterrichtsverlauf als Diskontinuität widerspiegeln: Es wird permanent begrenzt, unterschieden, beendet und neu begonnen, geordnet, sprachlich wie gestisch. So gibt es klare thematische Einheiten, Ein- und Übergangspraktiken und auch die Ordnung des Raumes ist klar festgelegt. Des Weiteren besteht eine klare und wiederum hierarchische Differenz zwischen Kindern und Lehrerin. Die Autorität führt sich in den (Sprech-)Handlungen der Lehrerin, auch in ihrer Körpersprache auf. Sie steht immer sehr aufrecht, spricht laut und klar und ist den Kindern immer zugewandt, agiert als Spielleiterin und Schiedsrichterin. 2.2 Instituierung des kulturellen Gedächtnisses im Religionsunterricht
Ganz anders gestaltet sich demgegenüber der Beginn einer Religionsstunde in der gleichen Klasse. Auch hier geht es zunächst um einen Stundeneinstieg in einem bekannten Format, nämlich der Wiederholung dessen, was in der letzten Stunde besprochen worden ist. Gegenstand waren dort die 10 Plagen, die Gott über Ägypten schickt, als der Pharao sich weigerte, Moses mit den Israeliten ins gelobte Land ziehen zu lassen (vgl. 2. Moses 7,1–11,10).
Die Lehrerin eröffnet den Unterricht: »Was haben wir denn letzte Stunde gemacht, wer kann das noch einmal ganz kurz zusammenfassen?« Während sie spricht, dreht sie sich zur Tafel um, klappt den einen Seitenflügel ein, so dass sie eine freie Fläche vor sich hat (der Rest der Tafel ist bereits beschrieben) und greift nach der Kreide. Drei Kinder melden sich, ohne Blickkontakt zur Lehrerin zu haben. Diese dreht sich wieder zur Klasse und steht nun hinter dem Lehrerpult. Sie stützt sich mit beiden Händen auf die Lehne des vor ihr stehenden Stuhls, so dass der Oberkörper leicht nach vorn gebeugt ist. Der linke Fuß ist etwas nach innen gedreht, die ganze Haltung wirkt etwas instabil und entspannt. Sie nimmt Maxi dran, der beginnt: »Wir hatten, wir sollten …« Während Maxi spricht, wendet die Lehrerin den Kopf leicht nach rechts, blickt an Maxi vorbei und sagt: »Sag mal, Peter, kannst Du das mit dem Stuhl mal lassen, das stört.« Sie wendet ihren Blick wieder zu Maxi und nickt ihm zu. Maxi fährt fort: »Wir hatten die Bibeln und in Ägypten hat Gott zehn Plagen über das Land gebracht und wir sollten in den Bibeln lesen, welche Plagen das waren.« Erneut wendet sich die Lehrerin an die Tafel, während Maxi spricht und schreibt als Überschrift: »10 Plagen« mittig an den oberen Rand der Tafel, danach links an den Rand darunter eine 1. Während sie schreibt, kommentiert sie Maxi: »Genau«. Sie dreht sich wieder um, blickt in ein Buch auf dem Lehrerpult und fragt, ohne hochzusehen: »Was war die erste Plage? Wisst ihr das noch?« Ein Kind meldet sich, die Lehrerin blickt kurz hoch und nimmt es dran. »Das Wasser wurde zu Blut«. Wieder wendet sich die Lehrerin zur Tafel und schreibt das vom Kind Gesagte an die Tafel. Dabei sagt sie: »Wir haben das schon aufgeschrieben, ich schreibe das noch mal auf. Ihr dürft in eure Mappen gucken.« Jetzt holen alle Kinder ihre Mappen hervor, teils aus der Schultasche, teils liegen sie im Fach unter dem Tisch, teils müssen sie aufstehen und zu ihrem Ablagefach auf der Fensterbank oder an der gegen-
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überliegenden Wand laufen. In die dadurch entstehende Unruhe ruft die Lehrerin, nachdem sie sich kurz umdreht: »Zweite Plage?«. Sofort dreht sie sich wieder zur Tafel, geht ein paar Schritte nach rechts, nimmt sich einen Schwamm und wischt etwas weg, währenddessen melden sich einige Kinder, eines sagt unaufgefordert: »Frösche«. Die Lehrerin dreht sich erneut ganz kurz zu Klasse, nimmt ein Kind dran, welches sagt: »Frösche«. Die Lehrerin hat sich schon wieder an die Tafel gewendet, schreibt und sagt zugleich: »Frösche überall« Sie dreht sich mit einer Vierteldrehung seitlich zur Klasse, steht nun so, dass sie eine Verbindung zwischen der Tafel und den Kindern bildet und kommentiert: »In den Betten, in den Vorratskammern, in den Duschen (!), … überall, wo man hintritt: Frösche!« Bei diesem letzten Teilsatz stellt sie sich aufrecht hin und öffnet die Arme und Hände etwa auf Höhe der Hüfte zu einer zeigenden Geste, die etwa sagen könnte: Da seht ihrs. Prompte Antwort eines Kindes: »Iiihhh«: In dieser Weise schreitet die Gruppe voran bis zur 7. Plage, dann ist die Erinnerung an die letzte Stunde abgeschlossen, die Bibeln werden verteilt und die Kinder lesen erneut, von welchen Plagen noch berichtet wird.
Was an dieser Szenerie besonders auffällt, ist zunächst das Verhalten der Lehrerin, die hier einerseits ein Unterrichtsgespräch inszeniert, andererseits dabei aber sowohl semantisch als auch prosodisch sowie körpersprachlich merkwürdig abwesend wirkt. Sie stellt Fragen, ohne die Gefragten anzusehen, sie kommentiert Antworten mit dem Rücken zum Sprecher, sie ist mit dem Tafelanschrieb beschäftigt, während ein Kind redet, und scheint darüber eine bestätigende oder kommentierende Reaktion zu vergessen, die normalerweise von der Lehrerin erwartet wird. Sie stellt die Fragen quasi nebenbei, ohne einen
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Aufforderungscharakter in ihre Stimme zu geben; die Fragen haben auch inhaltlich keinerlei Geheimnischarakter, es geht offenbar wirklich um eine pure Wiederholung. Auch dies wird explizit (»Wir haben das schon aufgeschrieben, ich schreibe das nochmal auf …«). In den Kommentaren werden die Antworten der Kinder weder als falsch noch als richtig, weder als gut noch als weniger gut oder treffend bezeichnet. Die Kinder scheinen dieses Gesprächsformat zu kennen, sie sprechen mit minimalen vokalen Gesten nur als Stichwortgeber für die dabei entstehende Liste an der Tafel. Die Lehrerin nutzt diese Stichworte (die Plagen) an manchen Stellen für erläuternde Kommentare, die alle so wie der oben beschriebene (»Überall Frösche, in den Betten, in den Vorratskammern, in den Duschen …«) die je genannten Begriffe für die Jetztzeit veranschaulichen und dramatisieren. Sie stört sich im Übrigen auch nicht daran, dass sich einige Kinder frei im Raum bewegen und andere sich in ihre Mappen vertieft allein dem Lesen hingeben, während wieder andere von der Tafel abschreiben. Dennoch herrscht eine konzentrierte Atmosphäre des gemeinsamen Arbeitens. Was sich hier ereignet, ist das kollektive Sammeln von Erinnerungen. Mit dem Sammeln hat die Lehrerin ein Setting gewählt, das sich zu dem Stoff, um den es geht, kongruent verhält. Betrachtet man das Sammeln als eine kulturelle Lesetätigkeit27, wie es öffentlich z.B. in Museen, 27 Vgl. Ludwig Duncker / Corinna Kremling, Sammeln, in: Ludwig Duncker / Gabriele Lieber / Norbert Neuß / Bettina Uhlig (Hg.), Bildung in der Kindheit. Das Handbuch zum Lernen in Kindergarten und Grundschule, Seelze 2010.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
privat in den unterschiedlichsten Formen der Kinder- und auch Erwachsenenkultur auftaucht, wird damit immer die Aneignung eines historisch wirksamen und in eine sicht- oft auch fühlbare Form gebrachten kulturellen Gedächtnisses instituiert. So auch hier. Dass es sich dabei um eine gemeinsame Arbeit am kulturellen Gedächtnis handelt, die zwar von der Lehrerin angeleitet und moderiert wird, an der aber alle sich beteiligen können und sollen, lässt sich durch die folgenden Gesten belegen: Die Szenerie ist eher dezentriert. Jeder sitzt an seiner Aufgabe bzw. bereitet sich darauf vor (Mappe holen, hervorholen, lesen); manche Kinder verhalten sich wie in einem zentrierten Unterrichtsgespräch und melden sich, auch wenn die Lehrerin sie gar nicht sehen kann, andere lesen in ihrer Mappe mit, beteiligen sich aber nicht am gemeinsamen Gespräch, wieder andere sind mit Schreiben beschäftigt. Es entsteht eine Werkstattatmosphäre, niemand wird ermahnt, etwas anderes zu tun als er/sie gerade tut und auch die Lehrerin ist sehr beschäftigt mit lesen, schreiben, reden, kommentieren. Sie nimmt sich beiläufig einen kleinen Teil freier Tafelfläche, so wie man eine Skizze auf einem Blatt anfertigt, das auch schon an anderen Stellen beschrieben ist. Offenbar vertraut sie darauf, dass in dieser Erinnerungswerkstatt jede und jeder zu seiner gültigen Version der Mosesgeschichte bzw. der 10 Plagen gelangt, obwohl sie auf eine synchronisierende Ordnung verzichtet. Sie wiederholt den Inhalt der Geschichte auf eine Weise, die Leerstellen erzeugt: Durch knappe Fragen einerseits, dramatisierendes Weitererzählen andererseits, regt sie die Phantasie der Kinder an. Das sicht-
bare »Werk« (der Tafelanschrieb) besteht lediglich aus den 10 Stichworten auf dem »Skizzenblock«, von denen jedes für eine Plage steht. Diese gemeinsame Arbeit am kulturellen Gedächtnis bezieht sich dabei auf zwei Gegenstände der Erinnerung. Zum einen erinnert sich die Klasse an das in der letzten Stunde Gewesene (diese liegt gerade mal einen Tag zurück), zum anderen bezieht sie sich mit der Sammeltätigkeit auf die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, einer zentralen Erinnerungsfigur der jüdisch-christlichen Kultur, die von einer über dreitausend Jahre zurückliegenden Zeit berichtet. Mit den 10 Plagen ist der Kampf der weltlichen gegen die göttliche Macht in eine fassbare Sprache und anschauliche sowie dramatische Symbolik gebracht. Mit der kollektiv organisierten Erinnerungsarbeit stiftet die Religionslehrerin in dreifacher Hinsicht Kontinuität statt Differenz: Sie schlägt die Brücke zum gestrigen Tag bzw. zur letzten Religionsstunde, sie holt die zeitlich weit entfernte biblische Erzählung ins Klassenzimmer, indem sie bei der Nennung der Plagen immer wieder auf Alltagserfahrung der Kinder rekurriert (so wie sich vermutlich die Erzähler auch in dramatisierender Weise auf alltägliche Plagen bezogen haben); und sie verbindet die Kinder untereinander sowie sich selbst mit der Klassengemeinschaft, indem sie das Format des gemeinsamen Zusammentragens wählt und auf eine hierarchisierende Gesprächsorganisation weitgehend verzichtet. Differenzen entstehen hier nicht in sozialer, sondern in Form von Differenzierung überwiegend in inhaltlicher Hinsicht.
Wischmann / Dietrich Genese von Heterogenität im Fachunterricht
2.3 Vergleich der beiden Szenen
All die Differenzen, die wir in der Deutschstunde beobachten konnten, spielen in diesem Religionsunterricht offenbar keine Rolle (zugehörig-fremd, leistungsschwach-leistungsstark, schnelllangsam, Gewinner-Verlierer, LehrerinSchüler/in). Im Deutschunterricht werden Kategorien sozialer Ordnungen genutzt, die zusammengenommen auch diejenigen des Leistungsdispositivs strukturieren. Ein solches Wettbewerbsspiel begegnet uns ebenso in anderen Fächern, die als »Hauptfächer« verstanden werden (Schnellrechnen in Mathematik, Vokabelwettspiele in den Fremdsprachen), die Spielregeln ergeben sich nicht aus dem Stoff (Wortarten), sondern aus der Position des Faches im schulischen Kanon. Hier, in der dritten Klasse einer Grundschule lässt sich das Format lesen als Initiationsveranstaltung in die Leistungsgesellschaft hinein, für die ganz bestimmte Fächer als Medien genutzt werden. Die als Spiel inszenierten Wettbewerbe fungieren dabei als Exemplifikation der das Leistungsdispositiv konstituierenden Prinzipien: Jeder Sieger braucht einen Verlierer, darüber hinaus gibt es Exkludierte, die weder verlieren noch gewinnen können; Leistung ist messbar nur am Individuum; die Regeln sind von der Autorität vorgegeben und nicht verhandelbar. Die Kinder lernen diese Prinzipien nicht nur kennen, sie lernen »mehr noch: an sie zu glauben und sich emotional für sie zu engagieren«28. Ähnliches ereignet sich, nur ganz anders im Religionsunterricht: Hier ergibt sich das Format des Stundeneinstiegs aus dem Gegenstand selbst: Da es sich bei der Mosesgeschichte um einen für heuti-
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ge Kinder sehr weit entfernten Stoff handelt, besteht das Format der Vermittlung überwiegend darin, Kontinuität herzustellen. Die Lehrerin tritt hier vielmehr als Agentin einer Erinnerungskultur auf, die die Narrativität (und ungewisse Fiktionalität) des Stoffes zum Gegenstand hat, über deren Wahrheitsgehalt sie zu entscheiden gleichwohl nicht befugt ist. Die Mosesgeschichte muss in jeder Generation wieder erzählt und damit bestätigt werden. Da aber niemand weiß und auch nicht zu wissen vorgeben darf, wie es »wirklich« war, bedarf es dazu der Partizipation aller, mithin einer NeuErzählung, die inhaltliche Differenzen notwendig macht. Welche Differenzen jeweils wirksam werden, hängt demnach einerseits mit der Fachkultur zusammen und andererseits mit Stellung des Fachs im Fächerkanon der deutschen Schule. Deutschunterricht wird als zentrales Fach auf unterschiedlichen Ebenen29 verstanden und die Schüler/innen erwerben neben Wissen auch den der Leistungsgesellschaft angemessenen Schüler/innenhabitus. Heterogenität wird zuerst und explizit erzeugt über (schnelle) Leistung, diese sind verschränkt mit anderen Kategorien sozialer Differenzierung. Im Religionsunterricht geht es demgegenüber um die Produktion von Gemeinschaft und Kontinuität, die sich in Unterrichtsmethode und -organisation widerspiegeln. Statt der individualisierenden 28 Vgl. Gunter Gebauer / Christoph Wulf, Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, 196. 29 Vgl. Katharina Willems, Schulische Fachkulturen und Geschlecht. Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? Bielefeld 2007.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Spielregeln des Wettbewerbs, ist hier die Orientierung an einer Werkstattatmosphäre rekonstruierbar. Darin lenkt und kommentiert zwar eine »Meisterin« die
Arbeiten einiger »Lehrlinge«, die geteilte Aufmerksamkeit und Tätigkeit jedoch gilt der stoffgebundenen Differenzierung von Erinnerungstätigkeit.
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
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Irene Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht: Das Vorlesegespräch
1. Einführung: Zum spezifischen Anspruch literarischer Gespräche
Mit guten Gründen stehen Gespräche über Literatur immer wieder im Fokus des literaturdidaktischen Diskurses:1 Unter erwerbsbezogener Perspektive lässt sich ein solcher Fokus dadurch begründen, dass in der literarischen Sozialisation das Gespräch über Literatur in familiären und anderen Kontexten eine zentrale Rolle spielt. Gerade im frühen Literaturerwerb sind Vorlesegespräche für den Zugang zur Literatur konstitutiv. Auch in späteren Jahren stellen anregende und lohnende Kommunikationen im Zusammenhang mit Leseerfahrungen offenbar einen zentralen Motivationsfaktor dar: Viele Jugendliche und Erwachsene – auch solche mit einer eher sporadischen Lesepraxis – tauschen sich gern über Bücher (und andere Medien) aus und geben sich Anregungen.2 Des Weiteren ist das Lernen im Klassenzimmer bei aller potentiellen Methodenvielfalt immer wieder auch auf das Unterrichtsgespräch angewiesen.3 Im Falle des Literaturunterrichts hat dieses Gespräch naturgemäß häufig literarische Texte zum Gegenstand. Dass die Auseinandersetzung mit ästhetischen Texten dabei spezifische Herausforderungen birgt, ergibt sich aus den Eigenheiten des literarischen Sinnangebots und des Literaturverstehens. In besonderer Weise sind
literarische Texte durch Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit gekennzeichnet, sie inszenieren Erwartungsbrüche und arbeiten mit mehr oder weniger deutungsoffener Symbolik. Insofern verlangen sie in besonderer Weise das Engagement ihrer Leser/innen, die den Spielregeln der literarischen Kommunikation folgen und auch die entsprechenden Bereitschaften ausbilden können sollen.4 Gerade das Gespräch sollte entsprechend das »Interpretieren als Verständigung übers Ver1 Gerhard Härle / Marcus Steinbrenner (Hg.), Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht, Baltmannsweiler 2004. Vgl. auch Cornelia Rosebrock / Daniel Nix, Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung, Baltmannsweiler 2014. 2 Als sehr bedeutsam erwies sich die Dimension der Anschlusskommunikation in Studien zu Schüler/innen aus schriftfernen Lebenswelten; vgl. Irene Pieper / Cornelia Rosebrock/ Steffen Volz und Heike Wirthwein, Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten: Lektüre und Mediengebrauch von Hauptschüler Innen. Unter Mitarbeit von Katrin Kollmeyer, Daniel Scherf und Olga Zitzelsberger, Weinheim 2004 (Lesesozialisation und Medien). 3 Eine die literaturdidaktische Diskussion nachhaltig prägende Studie dazu legte Petra Wieler vor: dies., Sprachliches Handeln im Literaturunterricht als didaktisches Problem, Bern u.a. 1989. 4 S. Michael Kämper-van den Boogaart / Irene Pieper, Literarisches Lesen, in: Martin Böhnisch (Hg.): Didaktik Deutsch. Sonderheft. Beiträge zum 16. Symposion Deutschdidaktik »Kompetenzen im Deutschunterricht«, 2008, 46–65.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
ständnis« (mit einer Formel Kaspar H. Spinners von 1987) ermöglichen.5 Zur sozialisationsbezogenen (Literaturerwerb), institutionsbezogenen (Unterrichtskommunikation) und gegenstandsbezogenen (Literatur und Literaturverstehen) Perspektive tritt viertens eine professionsbezogene Perspektive hinzu: Was zeichnet gelungene literarische Gespräche aus, welche Anforderungen stellen sie an die Lehrer/innen und wie lässt sich deren Moderation ggf. anleiten? Angesichts der spezifischen Rahmung, die das Lernen in der Institution Schule kennzeichnet, stellt sich diese Frage mit besonderer Dringlichkeit: Das Ideal des Literarischen Gesprächs, das gerade in den 1980er Jahren auch von der frühromantischen Salonkultur und ihrer Funktion für die Genese bürgerlicher Öffentlichkeit hergeleitet wurde, steht offensichtlich einer Unterrichtspraxis entgegen, die bewertungsbestimmt ist und die regelhaft über die Transformation von kooperativ zu lösenden »echten« Problemen in Aufgaben, über deren Lösung die Lehrperson bereits verfügt, gekennzeichnet ist.6 Literaturdidaktisch gewendet, ist das Verhältnis zwischen der Teilhabe an literarischer Kultur und dem Teilnehmen an Unterrichtsgesprächen durchaus spannungsvoll: Bei letzteren fungiert vor allem das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch als Gegenpol zum Literarischen Gespräch. Idealiter hat hier die Lehrperson einen Pfad entworfen, der in Verständnis und Interpretation führen soll und der leicht in der Weise realisiert wird, dass die Schüler/innen vor allem die lehrerseitig angezielte Interpretation erschließen – oder erraten. Anders zielt das Literarische Gespräch darauf, sich mit anderen über literarische
Erfahrungen und Textbedeutungen auszutauschen und sich über das Verstehen zu verständigen. In diesem ko-konstruktiven Prozess der Bedeutungsbildung werden also Lesarten entwickelt und zum Gegenstand des Gesprächs. Dabei muss die Verständigungsorientierung keineswegs so weit getrieben werden, dass sich die Gruppe auf ein Verständnis einigt. Vielmehr kann das Literarische Gespräch als ein Ort des Einübens in eine Interpretationspraxis verstanden werden, in der verschiedene Interpretationen Geltung beanspruchen können. Insofern können Schüler/innen in diesen Gesprächen potentiell erfahren, was es bedeuten kann, »sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses ein[zu]lassen«7. Dies wird umso bedeutsamer sein, je bedeutungsoffener der Text erscheint – etwa durch symbolische, metaphorische und parabolische Strukturen – und je vielfältiger die Deutungshorizonte erscheinen, die er eröffnet und in die er sich einrücken lässt. Die Schüler/innen lernen, die Argumente, die für die je spezifische Lesart sprechen, sowohl einzufordern als auch zu prüfen. Das Literarische Gespräch in diesem Sinne schließt es ein, die Argumente gegebenenfalls zu 5 Kaspar H. Spinner, Interpretieren im Deutschunterricht (1987), in: ders., Kreativer Deutschunterricht. Identität – Imagination – Kognition, Seelze 2002, 57–72. 6 S. die funktional-pragmatische Unterscheidung von Ehlich und Rehbein zur Bestimmung der charakteristischen Notwendigkeiten des akzelerierten Wissenserwerb durch Unterricht: Konrad Ehlich / Jochen Rehbein, Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation, Tübingen 1986. 7 So lautet eine von elf Dimensionen literarischen Lernens, die Spinner unterscheidet; vgl. Kaspar H. Spinner, Literarisches Lernen, in: Praxis Deutsch 200/2006, 6–16, hier S. 12.
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
entkräften oder zu falsifizieren: Mit Umberto Eco lässt sich das Interpretieren von Texten von deren Ingebrauchnahme genau dahingehend unterscheiden, ob eine textuelle Begründung gewonnen werden kann oder nicht. Ecos Modell der intentio operis folgend, zielt diese »Textstrategie« genau darauf, »jenen Leser hervorzubringen, der die Freiheit hat, alle Interpretationen zu wagen, nach denen ihm der Sinn steht, aber gezwungen ist nachzugeben, wenn der Text seine lustvoll-riskantesten Interpretationen nicht bestätigt.«8 Folgt man diesem Verständnis textangemessener Deutung, so können nicht alle Äußerungen zum Text in Hinblick auf die Interpretation des Textes gleichermaßen gelten. Die Geltungskraft von interpretativen Urteilen zum Gesprächsgegenstand zu machen, bedeutet aber, dass deren Evaluation nicht allein in den Händen der Lehrperson liegt, sondern in geteilter Verantwortung vorgenommen wird. Insofern fordert das Literarische Gespräch potentiell anspruchsvolle Argumentationen heraus. Dabei werden auch Interpretationsnormen dem Gespräch zugänglich. Die Ausführungen zur Stützung und Geltung von Interpretationsaussagen verdecken möglicherweise eine andere Dimension, die in Literarischen Gesprächen zum Tragen gebracht werden soll: Auf die Bedeutung des Austauschs von Leseerfahrungen wurde bereits hingewiesen. Die angezielte Kommunikation über einen Text geht dezidiert von den Leseerfahrungen der Schüler/innen aus. Die subjektive Annäherung an den literarischen Text, der Gefühle, Wertungen und unterschiedlichste Vorstellungsbilder evozieren kann, ist mehr als ein Aufhänger für die argumentative Auseinandersetzung. Im Sinne der klassischen
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Position Jürgen Krefts ist die »Verstrickung« des Subjekts in den Text für das literarische Verstehen konstitutiv, der Link zwischen Text und Subjekt soll auch dann tragend bleiben, wenn die elaboriertere und mitunter distanzierende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ins Zentrum tritt.9 Idealerweise gehen aus dieser Verstrickung auch Fragen und Deutungsanliegen der Schüler/innen hervor. Im Literarischen Gespräch soll also der Text zu einem relevanten Aushandlungsgegenstand für die Lerner/in nen werden bzw. ein solcher bleiben. Nicht die interpretativen Einsichten der Lehrperson leiten diese Auseinandersetzung, sondern nach Möglichkeit die Fragen der Schüler/innen. Die potentiellen Verstehensperspektiven der Schüler/innen wird die Lehrperson in ihre vorgängige didaktische Analyse des Mediums zwar einbeziehen. Über die Deutungshorizonte der Schüler/innen kann sie aber nicht zuletzt in solchen Gesprächen Anderes und Neues erfahren. Dies ermöglicht im Idealfall einen produktiven Umgang mit der literaturdidaktisch herausfordernden Spannung zwischen text- und lernerangemessener Interpretation. Um diesem Programm zu begegnen, bedarf es einer Gesprächsstruktur, die 8 Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen von Günter Memmert, München 1995, 50. Zur Diskussion um die Interpretation im Literaturunterricht auch angesichts radikalkonstruktivistischer Positionen s. Michael Kämper-van den Boogart, Art. Interpretation, in: H.-J. Kliewer / Inge Pohl (Hg.), Lexikon Deutschdidaktik, Bd. 1: A-L, Baltmannsweiler 22006, 269–275. 9 Jürgen Kreft, Grundprobleme der Literaturdidaktik. Eine Fachdidaktik im Konzept sozialer und individueller Entwicklung und Geschichte, Heidelberg 1977, 379.
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Textwahrnehmung und Subjektorientierung in diesem Sinne miteinander ins Spiel bringt. Der Frankfurter Literaturdidaktiker Valentin Merkelbach hat mit seiner Arbeitsgruppe in den 1980er Jahren ein Vorgehen entwickelt, das sich dafür bewährt und eingeübt werden kann: Das Literarische Gespräch beginnt mit einer Vorleserunde, zu der alle Beteiligten beitragen können, indem sie vorab ausgewählte Textstellen zu Gehör bringen. An diese Runde schließt sich ein Blitzlicht an, in dem alle Beteiligten ihre zentralen Leseeindrücke in einem kurzen Statement formulieren. Von diesem Blitzlicht nimmt dann das Gespräch seinen Ausgang.10 Die in der Akzentuierung des Subjekts sichtbare Lernerorientierung ist inzwischen in Hinblick auf die kognitiven Prozesse der Bedeutungskonstruktion beim literarischen Lesen weiter entfaltet worden. Das Literarische Gespräch kommt nun verstärkt als ein Setting in den Blick, das zur Entwicklung eines differenzierter modellierten Textverständnisses beitragen kann. In Bezug auf die Modellierung Vorlesegespräch
von Gesprächsimpulsen lässt sich genauer fragen, welche textverstehenden Operationen wie initiiert und welche Aspekte literarischen Lernens in welcher Form unterstützt werden können.11 Vor diesem Hintergrund ist die genauere Auseinandersetzung mit der Sonderform des Vorlesegesprächs besonders aufschlussreich: Innerhalb solcher Gespräche, die die Erstbegegnung mit dem Text durch Gesprächsanteile intensivieren, wird das Textverständnis sukzessive und über weite Teile dialogisch entwickelt. Dabei wird die literarische Sinnbildung gezielt befördert. Der Übergang in die Verständigung über Verstehen ist fließend, aber betont wird zunächst die Annäherung an den literarischen Gegenstand, weniger die diskursive Auseinandersetzung über dessen Deutung. Eine Gegenüberstellung der beiden Gesprächsformen bietet Tabelle 1. Gerade die genauere Betrachtung des Vorlesegesprächs zeigt, dass Gespräche zur Literatur im Unterricht in allen Jahrgangsstufen Anlässe für eine lernförderliche literaturbezogene Verständigung bieten und zum literarischen Lernen beitragen können. Literarisches Gespräch
Ko-Konstruktion von Bedeutung Den Prozess der Textbegegnung begleitend
An die (Erst-)Lektüre anschließend
Akzente: Partizipative Textbegegnung Literarisches Lernen Unterstützung der literarischen Sinnbildung Verständigung über Verstehen Übergänge 10 Zusammenfassend: Valentin Merkelbach, Das literarische Gespräch, in: Jakob Ossner / Cornelia Rosebrock / Irene Pieper (Hg.): Interpretationen und Modelle für den Deutschunterricht zu 130 Schulklassikern und Jugendbüchern (CD-ROM), Berlin 2002. Zur Moderationsfunktion vgl. Härle/Steinbrenner (wie Anm. 1). Eine
Strukturierungshilfe für Literarische Gespräche findet sich im Anhang, S. 194f. 11 Thomas Zabka, Konversation oder Interpretation? Überlegungen zum Gespräch im Literaturunterricht, in: Leseräume 2/2015 (http:// leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr -2015-1-zabka.pdf).
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
2. Vorlesen in der Familie
Als Teil der familialen Lesekultur bildet eine entwickelte Vorlesepraxis eine zentrale Basis für die weitere Entwicklung literaler – allgemein auf Schrift bezogener – und literarischer Praktiken innerhalb und außerhalb der Schule. Sie ist Teil der sogenannten prä- und paraliterarischen Kommunikationsformen: Bevor Kinder selbst lesen können, treten sie in Vorlesesituationen in intensiven Kontakt mit der Schriftlichkeit und erfahren Geschichten, Kinderverse und Sprachspiele als lohnende Anregungen für die eigene ästhetische Imagination und das Sprachhandeln. Eine positive Einstellung zu Schrift und Literatur wird dadurch wesentlich fundiert. Über das Vorlesen werden Kinder mit erzählenden und anderen Gattungen vertraut. Insbesondere für den Erzählerwerb ist der Umgang mit fiktionalen Erzählungen ganz offensichtlich förderlich, denn was eine gute Erzählung ist, wird quasi nebenbei erfahren. In den intensiven Kommunikationssituationen zwischen Kind und kompetentem Anderen wird literarisches Lernen möglich. Dabei entsteht eine Form der Zusammenarbeit, die sich als ko-konstruktive Etablierung von Bedeutung bezeichnen lässt:12 Wie Petra Wieler gezeigt hat, bieten Eltern – im Fall ihrer Studie: Mütter – den Kindern passgenaue Gesprächsanlässe, die nicht nur die Rekonstruktion der Geschichte ermöglichen, sondern auch Verbindungen zwischen Geschichte und eigener Lebenswelt anregen oder die Aufmerksamkeit auf spezifische ästhetische Gestaltungsformen lenken.13 Wieler beobachtete Vorlesegespräche zu Janoschs Kinderbuchklassiker Oh wie schön ist
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Panama (erstmals 1978). Wie selbstverständlich lenkt eine Mutter die Aufmerksamkeit auf Bildelemente der Erzählung (mit Blick auf den Rucksack des kleinen Tigers: »Was hat er denn da auf dem Rücken?«), geht auf assoziative Ausflüge des Kindes ein, das sich an die Ofenheizung der Oma erinnert, und nimmt dessen Miterzählen auf: M: (vorlesend:) »›Wohin geht’s denn hier nach Panama?‹ fragte der kleine Bär. ›nach links‹, sagte die Kuh, ›denn rechts wohnt der Bauer, und wo der Bauer wohnt, kann nicht Panama sein‹. Das war wieder falsch, denn wenn man immer nach links geht,/ K: (())kom/ M: Wo kommt man da hin? K: Wo man wieder war. M: Wo man wieder war, ne? Wo ma herkommt. »Richtig! Nämlich dort, wo man hergekommen ist […].«14
Das Kind kann sich hier in die Handlungsstruktur der Erzählung einfügen: Die wiederholten Fragen nach dem Weg erhalten die wiederholte Antwort »nach links«, was handlungslogisch zwangsläufig in eine Kreisbewegung führt. Entsprechend steigt das Kind selbst antwortend ein. Unauffällig korrigiert die Mutter auch die Formulierung des Kindes in diejenige, die der Vorlage (und der Sprachnorm) entspricht: Aus »wo man wieder war« wird erst nach der Bestätigung durch die Mutter das »Wo ma herkommt«. 12 Ausführlicher in: Ursula Bredel / Irene Pieper, Integrative Deutschdidaktik, Paderborn 2015 (Reihe StandardWissen Lehramt). 13 Petra Wieler, Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen, Weinheim 1997. 14 Ebd., S. 246, Z. 17–21.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Auch auf andere Dimensionen der Literarizität geht die Mutter ein und lenkt die Aufmerksamkeit des Kindes zum Beispiel auf eine doppelsinnige Darstellung:15 M. Was ist das denn? K: Ne Birne. M: [lachen] Ne Birne am/eh/von oben, ne? Weißte, wieso ne Birne? Mir ham doch auch immer Birnen in den Lampen. K: Nööö M: Nööö? [leise lachen] Aber andere, ne? »Der kleine Bär […]«
Hier richtet die Mutter die Aufmerksamkeit auf die metaphorische Darstellung der Birne (Frucht statt Glühbirne), amüsiert sich offenbar selbst, belässt es aber dabei, das Kind nicht über den Witz aufzuklären; vermutlich ein Hinweis darauf, dass sie eine bestimmte Verständnisgrenze wahrnimmt und nicht überschreiten will. Die Vorlesesituation zeigt, wie die Mutter die Verstrickung des Kindes in die Geschichte unterstützt und dessen Generierung von Sinnbezügen weiterführt. Noch die Transkription der Gespräche macht das gemeinsame Vergnügen an der Vorlesesituation wahrnehmbar. Zur Spezifik familialer Vorlesesituationen und ihrer Erfahrungsdichte gehört in der Regel eine Atmosphäre der Geborgenheit und Intimität. Das Vorlesen ist eine auch physische Erfahrung, mit dem Hören der Stimme, dem Wahrnehmen von Gestik und Mimik verbunden und häufig durch körperliche Nähe (auf dem Schoß sitzen, im Bett liegen) unterstützt. Ein wichtiges Ergebnis der Studie Wielers liegt darin, dass die in dieser
Weise strukturierten Vorlesegespräche sich in bildungsnahen und vergleichsweise gut situierten Familien fanden. Analog zu Ergebnissen zum Erzählerwerb von Kindern lässt sich hier ein ko-konstruktiver Modus vom direktiven Modus unterscheiden, der sich eher in bildungsfernen Familien findet. 3. Das Vorlesegespräch in der Schule
Die Spezifik von Vorlesegesprächen im schulischen Raum lässt sich vor dieser Folie gut entwickeln: Sie können als solche Interaktionen gefasst werden, die die Vertrautheit mit der kulturellen Praxis »Literatur« stärken oder allererst schaffen können. Die Interaktionen sollten im Sinne des literarischen Lernens gestaltet werden. Dabei gilt es, einen Rahmen zu etablieren, der dem unterrichtlichen Setting entspricht. Zwangsläufig unterscheidet er sich von familial strukturierten Interaktionen: Vorlesegespräche finden in der (begrenzten) Öffentlichkeit der 15 Ebd., S. 247, Z. 33–37. Die Abbildung findet sich in: Janosch, Oh wie schön ist Panama, Minimax Ausgabe 2004, 28.
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
größeren Gruppe bzw. der Klasse statt. Auch hier wird Kontakt durch physische Präsenz hergestellt: durch die Stimme, den Blickkontakt, Mimik und Gestik. Ein Stuhlkreis kann diese Präsenz in besonderer Weise zum Tragen bringen. Wie in der familialen Lesekultur auch, gehört zur Etablierung einer solchen Praxis Regelmäßigkeit. Gerade angesichts der größeren Gruppe wird es häufig nicht nur um die Entwicklung eines Textzugangs und eine »Verstrickung« in die Geschichte gehen, sondern bis zu einem gewissen Grade auch um die Verständigung über das Verstehen. Die Lehrperson hat dabei als Expertin, die nicht zuletzt die Entscheidung über die Textauswahl treffen kann, besondere Möglichkeiten, Textpotenziale zur Geltung zu bringen. Zu den professionellen Herausforderungen gehört es, die »Kongruenz der Vorlesesituation«16 und die Zentrierung des Gesprächs durch die Textbegegnung zu sichern. Gerade diese Gestaltungslinie umzusetzen, fällt jüngeren Lehrkräften oder Studierenden im Fachpraktikum erfahrungsgemäß schwer: Gesprächs impulse, die die Aktivierung eigener Erfahrungen im Zusammenhang der Erzählung anzielen, können die Textbegegnung leicht in die Ferne rücken lassen. Dass gerade im Bereich der Professionalisierung des Vorlesens Handlungsbedarf besteht, zeigt die von Iris Kruse vorgenommene Analyse einer größeren Videostudie zur Bilderbuchrezeption im Anfangsunterricht: Zu keiner der unterschiedenen Qualitätsdimensionen wurden befriedigende Werte erreicht.17 Der ausgeprägten literaturdidaktischen Diskussion rund um die Kommunikation zur Literatur und das Vorlesen in Forschung und Lehrerbildung entspricht
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demnach offenbar noch keine in der Weise professionalisierte Praxis, wie es vor dem Hintergrund der (natürlich auch normativen) Zielsetzungen wünschenswert wäre. Auch deshalb lohnt sich die genauere Analyse eines Beispiels, das die Möglichkeiten des Vorlesegesprächs im Unterrichtsraum zeigt. 4.1 Anaïs Vaugelades Steinsuppe: Ein Vorlesegespräch im ersten Schuljahr
Das Bilderbuch Steinsuppe der Französin Anaïs Vaugelade18 war Gegenstand eines Vorlesegesprächs in einer Grundschule im städtischen Umfeld von Frankfurt am Main. Das etwa halbstündige Gespräch wurde von einer erfahrenen Lehrerin gegen Ende des ersten Schuljahrs durchgeführt und mit einem Audiogerät aufgezeichnet. Die Lehrerin unterrichtet die Klasse zum ersten Mal. 13 der 17 16 Iris Kruse, Gut vorlesen. Textpotenziale entfalten, in: Anja Pompe (Hg.), Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen, empirische Befunde, unterrichtspraktische Entwürfe, Baltmannsweiler 2012, 102–121. 17 Ebd. 18 Anaïs Vaugelade, Steinsuppe. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Frankfurt a.M. 2012.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
Schüler/innen dieser Klasse haben einen Migrationshintergrund, wobei ihre Familien in der Regel seit mehr als einer Generation in Deutschland leben – ein für die Region typisches Bild. Die Klasse kann als heterogen bezeichnet werden. Die bisherigen literarischen Erfahrungen sowie insgesamt die schriftsprachlichen Voraussetzungen der Schüler/innen sind nach Auskunft der Klassenlehrerin sehr unterschiedlich. Wie das Gespräch zeigt, erweist sich das gewählte Medium als ausgesprochen anregender Gegenstand für die Lerngruppe. 4.2 Zur Auswahl des Bilderbuchs
Steinsuppe ist ein reizvolles literarisches Medium, das sich nicht zuletzt durch das differenzierte Zusammenspiel von Bild und Text als Gegenstand eines Vorlesegesprächs sehr eignet. Hauptprotagonist der Geschichte, deren Titel auf verschiedene Märchenüberlieferungen verweist, ist ein alter Wolf, der nachts in »das Dorf der Tiere« kommt.19 Das Cover zeigt ihn als magere Gestalt, gebeugt unter dem Gewicht eines geschulterten Sackes. Im Dorf bittet der Wolf bei der Henne um Einlass, um fürs Abendessen seine Steinsuppe kochen zu können. Die erschrockene, zugleich aber neugierige Henne lässt ihn herein und er macht sich ans Werk. Nach und nach kommen weitere Tiere, die den Wolf haben eintreten sehen und sich Sorgen um die Henne machen. Nach und nach ergänzen diese das minimalistische Suppenrezept des Wolfs – Wasser und Stein werden im Kessel zum Kochen gebracht – um verschiedene Gemüse, die sie heranschaffen. Schließlich versammeln sich alle gemeinsam am Kaminfeuer um den großen Kessel und essen reichlich. Der Wolf testet den Stein und nimmt
diesen, da immer noch nicht gar, heraus. Er bittet um die Erlaubnis, den Stein für das kommende Abendessen wieder mitnehmen zu dürfen. Die Gruppe lässt ihn nur ungern ziehen und fragt nach seiner Wiederkehr. Der Wolf antwortet nicht, verlässt die Tiere und zieht davon. Der Erzähler kommentiert am Ende »Aber wahrscheinlich ist er nicht wiedergekommen.« Ein letztes Bild zeigt den Wolf erneut an einer Tür, hinter der nun nicht eine Henne steht, sondern ein Truthahn. Die Erzählung ist, anders als gerade für den Prototypen des Märchens üblich, im Präsens verfasst, was ihr dramatischen Aufführungscharakter verleiht. Charakteristisch für das Bild-TextVerhältnis in Steinsuppe ist zunächst, dass die Bilder – bunte, zum Teil aquarellierte Zeichnungen – ausgesprochen raumgreifend sind, der Text hingegen nur sehr wenig Platz auf den Seiten einnimmt. Tiere und Umfeld sind schlicht, aber ausdrucksstark gezeichnet und bleiben – märchentypisch – unausgeführt. In der Regel weisen die Bilder auf die erzählte Handlung voraus. So zeigt eine linke Bildseite, wie die Henne ihre Tür bereits einen Spalt öffnet, bevor auf der rechten Seite zu lesen ist, dass sie erschrickt und den Wolf erst nach einigem Zögern hineinlässt. Während die Gemütszustände der anderen Tiere in der Regel gut zu erkennen sind, ist die Darstellung des 19 Das Märchen heißt auf Französisch La soupe au caillou. Eine aus Ungarn stammende Fassung ist im französischen Sprachraum stark verbreitet: Ein Soldat erwirkt sich mit der gleichen Strategie ein gehaltvolles Abendessen. Eine irische Überlieferung erzählt die analoge Geschichte eines Mönchs. Vgl. z.B. die Seiten der »Märchenwirkstatt« Ulm: http://www.maerchenwirkstattulm.de/steinsuppe.htm, 16-5-1.
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
Wolfs rätselhaft: Gerade die überzeichnete Kopfform mit der langen spitzen und stets geschlossenen Schnauze sowie seine Augen, die durchweg als Schlitze erscheinen, tragen dazu bei, dass man über seine Gemütslage und Motive nur spekulieren mag. Das Bilderbuch spielt dezidiert mit dem Märchenmotiv des bösen Wolfs und hält die Figur bildnerisch und erzählerisch auch dann noch in der Schwebe, als deutlich wird, dass die Aktivität des Wolfs eine harmonische Mahlgemeinschaft gestiftet hat: Auf die Bitte der Ente, »ein paar dieser schrecklichen Wolfsgeschichten zu erzählen, um zu hören, wie er darüber denkt«, antwortet der Wolf nicht. Das Ziehen des Messers wird erzählerisch durch drei Pünktchen, die eine Spannungspause anzeigen, als Moment der Gefahr inszeniert und dann bildlich vorsichtig umbesetzt: Getrennt von der Gemeinschaft, die aufgehört hat zu essen, wendet sich der Wolf schließlich der Tür zu. Lediglich das Messer ist noch auf die Gruppe gerichtet, wird aber nicht vom Wolf geführt, sondern klemmt unter seinem Arm, während er mit dem Einpacken des Steins beschäftigt ist. Die Märchenparodie ist erkennbar literarisch strukturiert: Das narrative Muster des Märchens tritt deutlich hervor, die Protagonisten sind typisiert, die Handlungsstruktur arbeitet mit Wiederholung und Variation: Dreimal kommen weitere Tiere dazu, dreimal gibt der Wolf auch Suppe aus. Das Motiv des Türöffnens birgt ebenso wie das gemeinsame Mahl symbolische Qualität für das riskante Überwinden von Misstrauen. So ist Steinsuppe einerseits ein Bespiel für literarische Einfachheit im Sinne Maria Lypps: Mit »Einfachheit« wird ein »literarisches Verfahren [bezeichnet], das un-
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ter dem Aspekt des Literaturerwerbs von zentraler Bedeutung ist. Einfach wird ein Text genannt, der durch eine begrenzte Zahl elementar-poetischer Mittel strukturiert ist und auf diesem Weg Themen und Gegenstände von hoher Komplexität in vereinfachter Form darbietet.«20 Zugleich führt Steinsuppe aber über die einfachen literarischen Strukturen hinaus: In erheblichem Maße wird mit Erwartungsbruch und Mehrdeutigkeit gespielt: Vom Wolf wird in Märchen anderes erwartet: Er erschleicht sich im Grimm’schen Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein im Wege der Täuschung Vertrauen und Einlass, ist auch in Rotkäppchen und der Wolf ein gefährlicher Betrüger und auf ganz andere Weise durch Steine belastet als in Steinsuppe: Mithilfe der Steine muss er erlegt werden. Vaugelade spielt hier mit überaus präsenten Bildern des in der Gut-Böse-Polarität des Märchens fest platzierten Protagonisten.21 Da dieser selbst kaum je das Wort ergreift und seine Figur uneindeutig gezeichnet ist, müssen die Rezipient/innen sich mit einem eher schwebenden Bild des Wolfs auseinandersetzen, das sich erst am Schluss – und auch nicht vollständig – klären lässt: Der Erzähler hält sich mit seinem Urteil zurück. Anders als der auktoriale Erzähler des Märchens tritt er nicht als ordnend und wissend hervor. So inszeniert Steinsuppe das paro20 Maria Lypp, Artikel »Einfachheit«, in: HeinzJürgen Kliewer / Inge Pohl (Hg.): Lexikon Deutschdidaktik Band 1, Baltmannsweiler 2 2006, 93–95, hier 93. 21 Leicht zugängliches Bildmaterial zum Wolf als Motiv historischer Postkarten etwa von Oskar Herrfurth (um 1920) hält das Goethezeitportal bereit: http://www.goethezeitportal.de/ho me.html.
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Theoretische Grundlagen und empirische Einblicke
distische Spiel mit Erwartungen, entfaltet dabei auch erzählerischen Witz und hält für seine Rezipient/innen Herausforderungen bereit, die gerade in kommunikativen Zusammenhängen bearbeitet werden können. Im Folgenden sollen die Anfangspassage des Gesprächs, die Passage, die die Wendung hin zu einer erwartungswidrigen Entspannung thematisiert, und die Schlusspassage, die eine Evaluation vornimmt, untersucht werden. Dabei wird genauer betrachtet, welche Möglichkeiten der Textbegegnung die Schüler/innen im Dialog mit der Lehrerin entwickeln können und wie das Bilderbuch im Vorlesegespräch zum Gegenstand literarischen Lernens wird. Das Gesprächsverhalten und die Impulse der Lehrerin verdienen besondere Aufmerksamkeit. Letztere sind in der Regel – neben den Vorlesepassagen – für die Sequenzierung entscheidend.22 Die Lehrerin hat einen Halbkreis vor der Tafel stellen lassen und wird das Buch zumeist auf der Kreideablage der Tafel ablegen. Gelegentlich geht sie mit dem Buch herum, um es allen Schüler/ innen zu ermöglichen, die Bilder genauer zu betrachten. 4.3 Der Einstieg ins Gespräch
Die Lehrerin zeigt den Schüler/innen zunächst das Cover. Dabei hat sie den Titel abgedeckt. 11 LP guckt euch mal das buch an 12 SuS ((lachen)) 13 LP was seht ihr denn da 14 (-) °h gut 15 was meint ihr was in dem buch vorkommt
Die dreifache Aufforderung führt immer spezifischer auf die Entwicklung von
Antizipationen hin. Zwischen den Aufforderungen macht die Lehrerin jeweils eine kleine Pause, lässt das Lachen der Schüler/innen zu und probiert das Buch so auszurichten, dass es für alle sichtbar ist, was sie mit »gut« (14) abschließt. Die Schüler/innen greifen zunächst die Frage auf, was sie sehen, und entwickeln Vorstellungen des dargestellten Protagonisten: »da istn wolf«, »eine maus«, »ich denke an ne ratte«, »ich finde, dass das auch n wolf is«, »ein werwolf«. Die Antworten spiegeln einerseits die Uneindeutigkeit der Darstellung des Tieres, zugleich findet die Annahme, es handle sich um einen Wolf, die größte Akzeptanz, was sich auch am letzten, bereits argumentativ ausgerichteten Beitrag der Sequenz zeigt: »ich denk dass das n wolf is (.) weil ne maus (-) maus hat hat ja n schwanz (.) kann jetzt nicht sehen ob das n schwanz hat« (38). Die Lehrerin hält die Protagonisten-Frage nun noch kurz in der Schwebe:23 40 LP lasst uns doch mal überlegen was das wohl (.) wie der wohl is guckt euch mal dieses bild an ich nehms noch mal n bisschen nach [vorne] damit ihrs [besser seht] 22 Die Analyse erfolgt unter Rückgriff auf gesprächsanalytische Verfahren. Zentrale Analyseeinheit ist jeweils die Sequenz. Sie wird in ihrer zeitlichen Entfaltung untersucht. Ein Akzent gilt der Gegenstandskonstitution (zum Vorgehen Bredel / Pieper 2015, wie Anm. 12). Der Beitrag konzentriert sich hier auf zentrale Ergebnisse. 23 Die Transkription folgt dem GAT-Basistranskript. ›Sunb‹ bedeutet unbekannte/r Schüler/ in (die Identifikation ist anhand der Audioaufnahme nicht immer möglich). Die eckigen Klammern zeigen gleichzeitiges Sprechen an, Großschreibungen markieren Betonungen. Alle Namen sind geändert.
Pieper Literarische Gespräche im Literaturunterricht
41 Sunb