Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84 [1 ed.]
 9783412522544, 9783412522520

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Jahrbuch84 DES KÖLNISCHEN GESCHICHTSVEREINS e.V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius

Jahrbuch 84 des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Kölnischer Geschichtsverein e. V. Geschäftsführender Vorstand: Vorsitzender: Notar Konrad Adenauer Stellvertretender Vorsitzender: Dr. Ulrich S. Soénius Schatzmeister: Dipl.-Kfm. Jacobus Sombroek Schriftführerin: Dr. Frauke Schlütz Ehrenvorsitzender: Dr. Hans Blum Stifterin: Lioba Braun Geschäftsstelle des Kölnischen Geschichtsvereins e. V.: Dr. Ulrich S. Soénius Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Unter Sachsenhausen 10–26, 50667 Köln Tel.: (0221) 1640-4800, Fax: (0221) 1640-4829, Mail: [email protected] Jahrbuch 84 des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius Redaktion: Philipp Schaefer, Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln Die Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins können über den Buchhandel oder den Böhlau Verlag GmbH & Cie bezogen werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ansicht der Kunibertstorburg, Stahlstich von Wenzel Hollar, 1643–1645 (Bestand Irene und Sigurd Greven-Stiftung, RWWA 538-174-1) Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52254-4 ISSN 0341-9320

Inhalt Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in Köln von Klaus Gereon Beuckers  

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Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter: Chronologie, Aussehen, wirtschaftliche und soziale Aspekte von Klaus Militzer  

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„Bleibet Capitulum bei alsolcher gefhelter Urtheill und … befhollener Execution“ – Ein Kölner Verfahren zur Hexenverfolgung in Zons von Jost Auler  

127

Hoffmann von Fallersleben als Bonner Student zu Besuch in Köln von Georg Schwedt 



147

180 Jahre Kölns erste Eisenbahn. Aus den Anfängen der Eisenbahn­ geschichte der Stadt von Brian-Scott Kempa  

173

Von Mannheim über Köln bis nach China. Der Reeder und Unternehmer Rudolph Wahl junior (1858–1901) von Sebastian Parzer 



185

Laura Oelbermann und der evangelische Kölner Verein der Frauenhilfe „unter dem Protektorate Ihrer Majestät der Kaiserin“ von Sabine Eichler 



205

Heraus aus dem Chaos – Die Kölner Familie Schmitz am Ende des Zweiten Weltkriegs von Jürgen Brautmeier 



261

Autorinnen und Autoren 

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Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in Köln von Klaus Gereon Beuckers 1977 erschien in diesem Jahrbuch ein grundlegender Aufsatz zu den Skulpturenfragmenten des Westbaus von St. Pantaleon aus der Feder von Matthias Untermann, dem 1981 ebenfalls hier ein Beitrag zur Lokalisierung des im Testament von Erzbischof Brun (amt. 953–965) erwähnten Privatus-Oratoriums an St. Pantaleon folgte.1 In beiden Aufsätzen hielt Untermann an der damals gängigen Datierung des Westbaus in das ausgehende zehnte Jahrhundert fest.2 20 Jahre später äußerte er 2001 dann Zweifel: Auch die Baugeschichte der Abteikirche St. Pantaleon ist keineswegs in allen wichtigen Details geklärt. […] die Datierung der zweiten Bauphase („nach 984“, „vor 996“ oder „vor 1002“) beruht dann auf ganz freien, keineswegs tragfähigen Kombinationen mit historischen Ereignissen. […] die wieder neu zu prüfende Spätdatierung des zweiten Westwerks in die ersten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts, die A. Verbeek bereits 1940 erwogen hatte: sie würde zwar dieses Westwerk von der Verbindung mit Theophanu und Goderamnus lösen, aber die Einzigartigkeit der Wandgliederung und die Fortschrittlichkeit seiner Raumgestaltung etwas mildern.3 Diese Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon ist somit keine marginale Frage von wenigen Jahren früher oder später, sondern die Frage einer Einbettung des Bauwerks in einen vollkommen anderen historischen Kontext. Aus dem ‚ottonischen‘ Bau würde ein ‚frühsalischer‘ Bau, bei dem der Bezug zu Theophanu neu gedacht werden muss. Darum soll es im folgenden Beitrag gehen. *** 1 Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der am 18. März 2015 im Rahmen des 1000. Weihetages der Werner-Kathedrale an der Universität Straßburg gehalten wurde. Für diese schriftliche Fassung wurden die Ausführungen auf St. Pantaleon fokussiert und dazu etwas erweitert sowie aktualisiert. Matthias Untermann: Die ottonischen Skulpturenfragmente von St. Pantaleon, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 48 (1977), S. 279– 290; ders.: Das „oratorium“ des hl. Privatus bei St. Pantaleon in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 52 (1981), S. 211–228. 2 So bei Untermann, Skulpturenfragmente (Anm. 1) an vielen Stellen und schon im Titel mit der Bezeichnung „ottonisch“. Bei Untermann, Oratorium (Anm. 1), S. 218, Anm. 41: „Neubau wohl nach 984“. 3 Matthias Untermann: Memleben und Köln, in: Stefanie Lieb (Hg.): Form und Stil. Festschrift für Günther Binding zum 65. Geburtstag, Darmstadt 2001, S. 45–55, hier S. 50. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 7–42

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Klaus Gereon Beuckers

Untermann stand mit seinem Sinneswandel nicht allein. Vielmehr haben sich seit der Jahrtausendwende alle profilierten Bauhistoriker, die sich mit dem Westbau von St. Pantaleon beschäftigt haben, einer Spätdatierung angeschlossen: so Werner Jacobsen, der in seinem Überblick über die ottonischen Großbauten 2004 eine Datierung in das zweite Viertel des elften Jahrhunderts andeutet,4 wie er schon 2001 an der Seite von Uwe Lobbedey und Dethard von Winterfeld das „perfekte, vollständig umlaufende, aus zwei Schichten von Pilastern und Lisenen mit Bogenfriesen bestehende System von St. Pantaleon in Köln eindeutig in das 11. Jahrhundert“ datiert hatte.5 Dezidiert nutzte Günther Binding 2010 seine Rekapitulation des Forschungsstandes zu St. Pantaleon und dem Alten Kölner Dom zu einer Stellungnahme: „Die stilistischen Beobachtungen an den überkommenen Resten von St.  Pantaleon geben zu erkennen, daß die Saalverlängerung und das Westwerk II nicht mit der Weihe von 980 in Verbindung zu bringen sind, sondern erst in den 1020/30er Jahren entstanden sind.“6 Diese Spätdatierung hatte nicht nur bereits 1940 Albert Verbeek vermutet, sie war in der Folge auch von Albrecht Mann und Friedrich Oswald erwogen worden.7 1976 mit dem Korpuswerk zur Romanik an Rhein und Maas von  4  Werner Jacobsen: Ottonische Großbauten zwischen Tradition und Neuerung. Überlegungen zum Kirchenbau des 10. Jahrhunderts im Reichsgebiet (919–1024), in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 58 (2004), S. 9–41, hier S. 20: „Nachträglich wurde der Bau nach Westen verlängert und ihm ein zweites Westwerk vorgesetzt (Bau Ia), welches heute noch besteht und zu den ästhetisch hochwertigsten Leistungen der damaligen Baukunst gehört. Auf die Frage, wann dieses Westwerk entstand, möchte ich hier nicht eingehen; der üblichen Datierung 984–991 steht die reiche Verblendung der Außenhaut mit Lisenen und Rundbogenfriesen entgegen, die wir nördlich der Alpen erst vom zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts an kennen; das Problem hängt aber nicht zuletzt von der Beurteilung des Theophanu-Grabes in diesem Westwerk ab († 991).“  5  Werner Jacobsen/Uwe Lobbedey/Dethard von Winterfeld: Ottonische Baukunst, in: Matthias Puhle (Hg.): Otto der Große. Magdeburg und Europa. Eine Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg vom 27. August–2. Dezember 2001. Katalog der 27. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt, 2 Bde., Mainz 2001, hier Bd. 1: Essays, S. 250–282, hier S. 265.  6  Günther Binding: Karolingisch oder ottonisch? Der Alte Dom und St. Pantaleon in Köln, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 43 (2010), S. 113–138, hier S. 136; ein Forschungsüberblick zur Diskussion ibid., S. 130 f. Vgl. auch ders.: Die Michaeliskirche in Hildesheim und Bischof Bernward als sapiens architectus, Darmstadt 2013, S. 77.  7 Vgl. Albert Verbeek: Die Kirche St. Georg in Köln und die niederrheinische Baukunst des XI. und XII. Jahrhunderts, in: Wilhelm Schorn/Albert Verbeek: Die Kirche St. Georg in Köln, Berlin 1940 (Denkmäler deutscher Kunst), S. 113–242, hier S. 132: „Das Westwerk von St. Pantaleon, für das eine Entstehung erst im frühen 11. Jahrhundert immer wahrscheinlicher wird, […]“; Albrecht Mann: Kölns ottonische Kirchen, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 29/30 (1954/55), S. 99–130, hier S. 120 f.: „Seine Entstehungszeit kann kaum vor der Jahrtausendwende angenommen werden, wofür nicht nur die Profile der Pfeilerkapitelle, sondern auch die im Verhältnis zu den Ostteilen weitaus kompaktere Bauweise in Quadertechnik und nicht zuletzt die reichere Ausschmückung

Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon

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Hans Erich Kubach und Albert Verbeek, das ihre Sicht auf die Bauten für weite Teile der Forschung maßgeblich machte, wurde diese Spätdatierung verdrängt. Sie sahen den Bau zum Zeitpunkt der Bestattung Kaiserin Theophanus 991 im Entstehen und bei der Aufbahrung ihres Sohnes, Kaiser Ottos III., in St. Pantaleon 1002 vollendet.8 Dagegen trat 1986 an versteckter Stelle in seinem Buch zu den Ausgrabungen des Paderborner Domes Uwe Lobbedey auf und datierte den Westbau von St. Pantaleon aufgrund der entwickelten Außenbaugliederung (Abb. 1) in die 1030/40er Jahre.9 Resonanz fand er darauf erst, als er dies in einem ausführlichen Vortrag zu ottonischen Westbauten 1999 in Auxerre wiederholte.10 Lobbedey verwies dabei auch auf die Adaption der Gesamtanlage in dem dendrochronologisch auf 1048 datierten Westbau von Münstereifel. So homogen die Zustimmung zu einer Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon in das 11. Jahrhundert derzeit ist, so schwierig ist ihre Begründung, da datierte Außenbaugliederungen dieser Art im fraglichen Zeitraum sonst nicht vorkommen. Der von Lobbedey konstatierten Nähe zu Münster­ eifel, die in den Bauvolumen des heutigen Baubestandes (der keine Außengliederung wie St. Pantaleon aufweist) offenkundig ist,11 ist schon Dagmar von der Außenpartien sprechen; Ost- und Westabschnitt trennt eine deutliche Zäsur.“; Friedrich Oswald/Leo Schaefer/Hans Rudolf Sennhauser (Bearb.): Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 3), München 1966–1971 (ND 1991), S. 153: „Auch für das Westwerk [ist] die von A. Verbeek ursprünglich vorgeschlagene, später zugunsten der Frühdatierung aufgegebene Datierung in das ‚frühe 11. Jh.‘ zu erwägen“; vgl. auch Binding, Karolingisch oder ottonisch (Anm. 6), S. 130.  8 Hans Erich Kubach/Albert Verbeek: Romanische Baukunst an Rhein und Maas. Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, 4 Bde., Berlin 1976–1989, hier Bd. 1, S. 585. Die Frühdatierung vorher bereits bei Albert Verbeek: Kölner Kirchen. Die kirchliche Baukunst in Köln von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 1959.  9  Uwe Lobbedey: Die Ausgrabungen im Dom zu Paderborn 1978/80 und 1983, 4 Bde. (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 11), Bonn 1986, hier Bd. 1, S. 175 f., Anm. 348: „Allgemein hat sich in neuerer Zeit eine Datierung des Westwerks im Anschluß an die Reliquienstiftung der Kaiserin Theophanu von 984 durchgesetzt […]. Auch Rudolf Wesenbergs Beurteilung der Skulpturenfragmente von der Westfassade […] geht von einer Datierung vor 996 aus. Albert Verbeek hatte sich in seiner Dissertation […] für eine Datierung des Westwerks in das frühe 11. Jh. ausgesprochen. Das späte Datum für Münstereifel, Mitte des 11. Jh., bestätigt durch die dendrochronologische Datierung eines Gerüstriegels auf 1048 […], weckt Bedenken, denn eine so isolierte, dabei so genaue Wiederholung ist bei einem Zwischenraum von mehr als einem halben Jh. nicht mehr wahrscheinlich. Hinzu kommt die Schwierigkeit, für die differenzierte Wandgliederung an St. Pantaleon im späten 10. Jh. Parallelen zu finden“. 10 Uwe Lobbedey: Les Westwerke de l’époque ottonienne en Allemagne du Nord, in: Christian Sapin (Hg.): Avant-nefs et espaces d’accueil dans l’église entre le IVe et le XIIe siècle (Mémoires de la Section d’Archéologie et d’Histoire de l’Art 13), Paris 2002, S. 67–75. 11 Zu St. Chrysanthus und Daria in Münstereifel vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 2, S. 802–807. Eine Datierung des Westbaus ist durch Schriftquellen

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Klaus Gereon Beuckers

Abb. 1: Westbau von St. Pantaleon, (Foto: Ulrich Knapp, 2001).

Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon

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Schönfeld entgegengetreten, da die Bauformen dort ein Konstrukt der parallelen Restaurierungen um 1880 seien.12 Kubach/Verbeek schätzen die Rekon­ struktion jedoch als „im wesentlichen getreu“ ein.13 Unabhängig davon datiert dieser Bau sein Kölner Vorbild nur als terminus ante quem – und eine Entstehung des Kölner Westbaus vor 1048 ist sowohl bei einer Früh- als auch einer Spätdatierung unstrittig. Man muss also nach anderen Vergleichen Ausschau halten. Hierfür bedient sich die Forschung gerne des Materials, das Susanne Hohmann in ihrer Dissertation zu Blendgliederungen zusammengetragen hat, die selbst der alten Frühdatierung folgt, die Außengliederung des Westbaus von St. Pantaleon in dieser Zeitebene kunsthistorisch aber auch nicht einordnen konnte.14 *** Der Bau von St. Pantaleon, in dem 991 Kaiserin Theophanu bestattet wurde, ist ein im 12. Jahrhundert zur Basilika erweiterter, im 17. Jahrhundert umgebauter Saalbau mit zwei Querannexen im Osten, die den ursprünglich apsidial geschlossenen Chorraum flankieren.15 Im Mittelgang der Umgangskrypta unter der Apsis, die dem Vorbild der Westkrypta des Kölner Domes folgt und Parallelen zu der in den 1020/30er Jahren errichteten Ostkrypta von Vilich aufweist,16 steht der Sarkophag von Erzbischof Brun (amt. 953–965), der als nicht möglich. Beschädigungen durch einen Brand, der um 1100 für den Neubau der Stiftskirche unter Beibehaltung des Westbaus Anlass gab, belegen eine Datierung in das 11. Jahrhundert; die Würfelkapitelle werden von Kubach/Verbeek (ibid., S. 805) mit St. Maria im Kapitol (Weihen 1049 und 1065) in Verbindung gebracht. Vgl. zur dendrochronologischen Datierung eines Holzes auf das Jahr 1048 Ernst Hollstein: Mitteleuropäische Eichenchronologie. Trierer dendrochronologische Forschungen zur Archäologie und Kunstgeschichte (Trierer Grabungen und Forschungen 11), Mainz 1980, S. 101, Probe Nr. 12. 12 Dagmar von Schönfeld de Reyes: Westwerkprobleme. Zur Bedeutung der Westwerke in der kunsthistorischen Forschung, Weimar 1999, S. 107–110. 13 Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 2, S. 804. 14 Susanne Hohmann: Blendarkaden und Rundbogenfriese der Frühromanik. Studien zur Außenwandgliederung frühromanischer Sakralbauten (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28: Kunstgeschichte 345), Frankfurt am Main 1999, zu St. Pantaleon S. 220–225; vgl. zuletzt auch C. Edson Armi: The Brick System of Romanesque Architecture. The Lombard Band and its Transformation in Catalonia and France (Bibliotheca Archaeologica 56), Rom 2017, mit zahlreichen Abbildungen. 15 Zu St. Pantaleon vgl. grundsätzlich Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 1, S. 582–594; Bd. 4, S. 595–597; Helmut Fussbroich: St.Pantaleon, in: Hiltrud Kier/ Ulrich Krings (Hg.): Köln. Die romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg (Stadtspuren. Denkmäler in Köln 1), Köln 1984, S. 447–473. 16 Vgl. Irmingard Achter: Die Stiftskirche St. Peter in Vilich (Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes, Beiheft 12), Düsseldorf 1968, insb. S. 171 f. u. 181–186; Ulrich Rosner: Die ottonische Krypta (Veröffentlichungen der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln 40), Köln 1991, S. 80–85 u. Kat. Nr. 22/23, S. 227 f. (St. Pantaleon).Vgl. auch Uwe Lobbedey: Ottonische Krypten. Bemerkungen zum Forschungsstand an Hand ausgewählter Beispiele, in: Gerd Althoff/Ernst Schu-

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Klaus Gereon Beuckers

Gründer des Klosters verehrt wird. Der Bau und seine Vorgänger sind aufgrund diverser archäologischer Untersuchungen mehrfach kontrovers diskutiert worden.17 Die jüngste Aufarbeitung durch Sebastian Ristow von 2009, der sich die Forschung beispielsweise in der Person von Günther Binding anschließt,18 sieht in den Ostteilen der heute stehenden Baustruktur einen karolingischen Saalbau mit einer Winkelgangkrypta und seitlichen Annexen, der auch einen ersten Westbau (I) besessen hat, von dem ein Fundamentrost ergraben ist (Abb. 2). Westlich vorgelagert lag ein kleiner Kreuznischenzen­ tralbau unbestimmter Funktion. Während die Bauphasen schon seit Längerem bekannt sind, wird die Datierung des Saalbaus unterschiedlich angesetzt: Hatte die Forschung lange Jahre in Bau I den brunonischen Gründungsbau des Klosters gesehen, so belegen die Untersuchungen Ristows – teilweise in Anknüpfung an Fried Mühlberg –, dass dieser der 866 in der Guntharschen Güterbeschreibung erwähnte karolingische Kirchenbau ist,19 dem in römischer Zeit eine suburbane Villa vorangegangen war. Unter Erzbischof Brun erfolgten nach der Klostergründung 964 in den bert (Hg.): Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen

46), Sigmaringen 1998, S. 77–102; Klaus Gereon Beuckers: ad altare S. Petri infra Coloniam in principali loco fundatum. Zu den Ringkrypten römischer Prägung im Alten Kölner Dom, ihrer Datierung und zu der Frage ihrer Reliquien, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 75 (2004), S. 9–41. Zum Kölner Dom vgl. zuletzt Ulrich Back/Thomas Höltken/Dorothea Hochkirchen: Der Alte Dom zu Köln. Befunde und Funde zur vorgotischen Kathedrale (Studien zum Kölner Dom 12), Köln 2012. 17 Vgl. vor allem Helmut Fussbroich: Die Ausgrabungen in St. Pantaleon zu Köln (Kölner Forschungen 2), Mainz 1983; Fried Mühlberg: Köln: St. Pantaleon und sein Ort in der karolingischen und ottonischen Baukunst (Stadtspuren. Denkmäler in Köln 17), Köln 1989; Sven Schütte: Geschichte und Baugeschichte der Kirche St. Pantaleon, in: Colonia Romanica 21 (2006), S. 81–136. 18  Sebastian Ristow: Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln. Archäologie und Geschichte von römischer bis in karolingisch-ottonische Zeit (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 21), Bonn 2009; ders.: St. Pantaleon in Köln. Ausgrabungen, Bauund Forschungsgeschichte der Lieblingskirche von Kaiserin Theophanu, in: Michael Altripp (Hg.): Byzanz in Europa. Europas östliches Erbe. Akten des Kolloquiums „Byzanz in Europa“ vom 11. bis 15. Dezember 2007 in Greifswald (Byzantios 2), Turnhout 2011, S. 50–64. Zusammenfassend auch ders.: Kirchengrabung Sankt Pantaleon in Köln. Von der römischen Villa suburbana zur ottonischen Stiftskirche, in: Thomas Otten et al.: Fundgeschichten. Archäologie in Nordrhein-Westfalen (Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 9), Mainz 2010, S. 210–213; Binding, Karolingisch oder ottonisch (Anm. 6), S. 138. 19 Zur Guntharschen Güterbeschreibung vgl. Friedrich Wilhelm Oediger (Bearb.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter Bd. 1: 313–1099, Bonn 1954/58, Nr. 213, S. 71. Zur Quellenüberlieferung und Geschichte von St. Pantaleon vgl. Hans Joachim Kracht: Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965–1250 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 11), Siegburg 1975; vgl. auch Rudolf Schieffer: Erzbischof Bruno, Kaiserin Theophanu und die Kirche des hl. Pantaleon in Köln, in: Colonia Romanica 21 (2006), S. 25–32.

Bemerkungen zur kunsthistorischen Spätdatierung des Westbaus von St. Pantaleon

Abb. 2: Grundriss von St. Pantaleon mit Eintragung der Grabungsergebnisse (aus: Jacobsen et al., Vorromanische Kirchenbauten 1991, S. 226).

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Klaus Gereon Beuckers

Ostteilen Veränderungen, von denen vor allem der Umbau der Ostkrypta zu einer Umgangskrypta sowie Reste des neu gebauten Kreuzgangs erhalten sind.20 Dieser Umbau ist wohl mit der schriftlich überlieferten Weihe von 980 abgeschlossen gewesen. Später wurde dann der Saal verlängert und mit einem neuen Westbau (II) versehen.21 Dieser Bauphase, die im Aufgehenden erhalten und deshalb archäologisch unstrittig ist, widmet sich Ristow nicht mehr, er erwähnt sie nur summarisch im Ausblick und referiert dabei die ältere Datierung in die Zeit um 1000.22 Der Westbau (II) von St. Pantaleon ist in der 1890/92 entstandenen, teilrekonstruierenden Fassung, bei der auch seine im 12. Jahrhundert eingebrachte Vermauerung zum Kirchenschiff herausgenommen wurde, fast ohne Beschädigungen durch den Zweiten Weltkrieg gekommen.23 Er wird aus einem mittleren, quadratischen Schachtraum gebildet, der sich in einer großen Ostarkade zum Langhaus hin öffnet. Auf beiden Seiten schließen sich zweigeschossige 20 Zum Kreuzgang vgl. Hartwig Beseler: Fragen zum ottonischen Kreuzgang des Pantaleonklosters in Köln, in: Friedrich Gerke/Georg von Opel/Hermann Schnitzler (Hg.): Karolingische und ottonische Kunst. Werden, Wesen, Wirkung. 6. Internationaler Kongreß für Frühmittelalterforschung. Deutschland, 31. Aug.–9. Sept. 1954 (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 3), Wiesbaden 1957, S. 159–166; Kubach/ Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 1, S. 597; Clemens Kosch: Zur spätromanischen Schatzkammer (dem sog. Kapitelsaal) von St. Pantaleon. Eine vorläufige Bestandsaufnahme, in: Colonia Romanica 6 (1991), S. 34–63, insb. S. 34–37; Ristow, Ausgrabungen von St. Pantaleon (Anm. 18), S. 99–103. 21 Hier wird der neutralere Terminus ‚Westbau‘ und nicht ‚Westwerk‘ genutzt, da ‚Westwerk‘ aufgrund seiner nationalistischen Herkunft als neutraler Terminus für eine vornationale, übernational verbreitete Bauform prinzipiell ungeeignet erscheint, vor allem aber angesichts der Heterogenität der Bauten, die aufgrund heute teilweise unhaltbarer Rekonstruktionen zu einem Typus zusammengefasst wurden, so dass der Begriff eine Gemeinsamkeit suggeriert, die weder den Bauanlagen noch den unterschiedlichen Funktionen gerecht wird, vgl. von Schönfeld de Reyes, Westwerkprobleme (Anm. 12). Die an der Apsis aufgefundenen Ecklisenen, die auf eine zweigeschossige Gliederung hinweisen – vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 4, S. 590 – entsprechen den Lisenen von Westbau II. Möglicherweise wurde die Apsis von 980 im Zuge der Errichtung von Westbau II also noch einmal umgestaltet. 22  Ristow, Ausgrabungen von St. Pantaleon (Anm. 18), S. 94; ders., Kirchengrabung (Anm. 18), S. 213. Etwas ausführlicher ders., St. Pantaleon in Köln (Anm. 18), S. 60–63. 23 Zur Vermauerung des 12. Jahrhunderts und dem Westbau insgesamt vgl. Clemens Kosch: Vorromanische Westwerke und ihre Veränderungen in der Stauferzeit. Das Beispiel St. Pantaleon, in: Colonia Romanica 14 (1999), S. 79–102; ders.: Überlegungen zu vorromanischen Westwerken und ihrer in der Stauferzeit veränderten Gestalt und Funktion (ausgehend von St. Pantaleon in Köln), in: Nicolas Bock et al. (Hg.): Kunst und Liturgie im Mittelalter. Akten des internationalen Kongresses der Bibliotheca Hertziana und des Nederlands Instituut te Rome, Rom, 28.–30. September 1997 (Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 33, Beiheft), München 2000, S. 101–120. Zur Restaurierung im 19. Jahrhundert vgl. Godehard Hoffmann: Rheinische Romanik im 19. Jahrhundert. Denkmalpflege in der Preußischen Rheinprovinz (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 33), Köln 1995, S. 187–196.

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Querflügel an, die im unteren Geschoss, das einige Stufen tiefer als der Mittelraum liegt, in zwei Arkaden an den Kernraum angebunden sind und durch östliche, in der Wandstärke liegende Apsiden als Kapellen ausgewiesen werden. Ihr Obergeschoss ist als Empore mit hoher Brüstung angelegt. Auch hier finden sich Apsiden. Im Westen war dem Schachtraum eine langgestreckte Vorhalle mit seitlichen Sitznischen vorgelagert, die man im 19. Jahrhundert nur zur Hälfte ihrer Tiefe rekonstruierte. Im Obergeschoss öffnet sich auch hier durch drei Arkaden eine Empore, deren Fußbodenniveau sich von den Querarmemporen unterscheidet. Im Grundriss erscheint der Bau insgesamt also kreuzförmig. Zu den vier baulich angelegten Altarstellen in den Querarmen und dem Kreuzaltar dürften mindestens noch ein zentral westlich des Langhausbogens angeordneter, ebenerdiger Altar und ein Altar auf der Westempore hinzugekommen sein. Beide sind allerdings nicht nachgewiesen, was mit den einschneidenden Umbauten schon des 12. Jahrhunderts zusammenhängen dürfte. Clemens Kosch, der sich mit der Sakraltopographie von St. Pantaleon am intensivsten beschäftigt hat, lokalisiert ebenerdig in Übereinstimmung mit der Forschung den vielfach bezeugten Albinusaltar,24 in dem die aus Rom nach Köln translozierten Gebeine des Priesterheiligen geborgen waren. Die Reliquien waren im Auftrag von Kaiserin Theophanu um 985 zur Ausstattung des Altares an ihrem Grab geholt worden, weshalb Altar und Grab eine feste konzeptionelle und wohl auch bauliche Einheit bildeten.25 Der Westbau von 24 Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Große Kunstführer 207), Regensburg 22005 (OA 2000), insb. S. 87–98. 25 Die Abtchronik von St. Pantaleon von 1667 (Adam Schallenberg: Sillabus Reverendissimorum Dominorum Abbatum Monasterii S. Pantaleonis Colonia, HAStK, Geistl. Abt. Nr. 205, fol. 17; eingesehen 2005, Zitat bei Klaus Gereon Beuckers: Der Essener Marsusschrein. Untersuchungen zu einem verlorenen Hauptwerk der ottonischen Goldschmiedekunst (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen 12), Münster 2006, S. 72, Anm. 316) berichtet im Abschnitt zu Abt Heinrich von Horn (amt. 1169–1196) von der überraschenden Wiederfindung der vergessenen Reliquien, für die daraufhin der heute noch erhaltene Schrein angefertigt worden sei. Die Wiederfindung dürfte beim Abbruch des alten Altares anlässlich der Vermauerung des Westbaus stattgefunden haben. Dies lässt sich durch das früheste Zeugnis von Albinus-Reliquien bei der Hochaltarweihe von Groß St. Martin 1161 zeitlich als terminus ante quem eingrenzen. 1186 wurden sie – einem spätmittelalterlichen Nachtrag der Translatio s. Albini martyris nach – in der Pauluskapelle, dem südlichen Ostquerarm, in den heute noch erhaltenen Reliquienschrein erhoben, vgl. Hugo Rahtgens (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. Minoritenkirche, S. Pantaleon, S. Peter, S. Severin (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 7. Bd., 2. Abteilung; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 2.2), Düsseldorf 1929, S. 331. Dorthin hatte man sie also zusammen mit dem Theophanu-Grab transloziert. Der Schrein wurde dann offenbar vor der Mauer zum vermauerten Westbau aufgestellt, denn eine Quelle von 1503 besagt, dass die Albinusreliquien am neu errichteten Kreuzaltar unter dem Lettner aufgestellt wurden, nachdem sie vorher under dem Klockenthorn dae man herin kumpt auff die lyncke hant

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St. Pantaleon war in seinem Kernraum somit von dem Kaiserinnengrab und dem zugehörigen Altar geprägt. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die Wegeführung ansieht. Ort der konventualen Versammlung und damit wohl auch des Stundengebetes war in St. Pantaleon der Ostchor – wie auch immer hier ein Chorbereich eingeschrankt gewesen und ab wann auch immer hier ein ortsfestes Chorgestühl aufgestellt worden sein mag.26 Grundsätzlich ist für die ottonische Zeit mit einem ortsflexiblen Stationswesen innerhalb der Kirche zu rechnen, bei dem den Nebenaltären eine größere Bedeutung zukam. Innerhalb der Reformklöster sehr ausgeprägt war zudem die sonntägliche Weihwasserprozession im Anschluss an die Morgenmesse durch das gesamte Klosterareal, die von Westen her die Kirche wieder betrat.27 Vor der Türe des Westbaus vollzog der under dem zweitten bagen aufgestellt waren, zit. nach ibid., S. 125. Wenn dies einen der kleinen Eingänge in den (damals abgemauerten) Westbau meint, dann hätten die Reliquien im Westbau, also außerhalb des Kirchenraumes, auf der Nordseite gestanden. Dies ist nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich bezieht sich die Quelle deshalb auf den seit der Vermauerung des Westbaus üblichen und heute noch genutzten Nordeingang. Dann standen die Reliquien vor der Wand des 12. Jahrhunderts im zweiten westlichen Bogen. Der erste Bogen dürfte der zum Seitenschiff hin sein, womit der zweite als die Vermauerung der Hauptarkade des Westbaus identifiziert werden kann. Damit hätte der Schrein axial am westlichen Ende des Mittelschiffs gestanden, unter dem Glockenturm (also dem Mittelturm des Westbaus) – und somit nur wenige Meter östlich von der ursprünglichen Aufstellung des Albinusaltars im Westbau. 26 Vgl. Kosch, Romanische Kirchen (Anm. 24), S. 92 und in den Plänen; vgl. auch Klaus Gereon Beuckers: Die liturgische Binnentopographie der romanischen Kirchen in Köln. Anmerkungen zu einem Buch von Clemens Kosch, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 72 (2001), S. 187–194, insb. S. 192. 27 Die Liturgie ist für Cluny durch die Hirsauer Überlieferung gesichert und dürfte in vergleichbarer Form auch in den anderen benediktinischen Klöstern wie St. Pantaleon gefeiert worden sein. Der (spätmittelalterliche) Liber ordinarius aus St. Pantaleon, der sich heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (Cod. theol. 1565) befindet, ist bisher noch nicht ediert. Vgl. Hans-Walter Stork: Handschriften aus dem Kölner Pantaleonskloster in Hamburg. Beobachtungen zu Text und künstlerischer Ausstattung, in: Heinz Finger (Hg.): Mittelalterliche Handschriften der Kölner Dombibliothek. Erstes Symposion der Diözesan- und Dombibliothek Köln zu den Dom-Manuskripten, 26. bis 27. November 2004 (Libelli Rhenani 12), S. 259–285, hier S. 271 f. Im cluniazensischen Rituale von Biburg lautet der Passus: Ad introitum ecclesie. [17] V.: Introibo in domum tuam, domine. Adorabo ad sanctum. [18] Oratio. Domine Ihesu Christe, qui ad introitum portarum Ierusalem valuas sanctificasti, dum splendore gemmarum duodecim totidem apostolorum nomina presignasti, et qui per organum propheticum promsisti: Lauda, Ierusalem, dominum, quoniam confortavit seras portarum tuarum, benedixit filiis tuis in te, te quesumus, ut ponas omnes fines domus istius pacem, ut velociter currens interius sermo tuus adipe frumenti saciet eos, spiritus sanctus defendat illos, ut nunquam eis nocere prevaleat inimicus, sed omnes interius, voce, corde et opere decantent dicentes: Magnus dominus noster Ihesus Christus et magna virtus eius et sapientie eius non est numerus. Qui vivit et regat, zit. nach Walter von Arx: Das Klosterrituale von Biburg (Budapest, Cod. lat. m. ae. Nr. 330, 12. Jh.) (Spicilegium Friburgense 14), Freiburg im Üechtland 1970, S. 158 f.; vgl. auch ibid., S. 81. Ulrich von Cluny benennt in den Consuetudines von Cluny die

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Konvent den Memorialdienst für seine verstorbenen Mitglieder, Förderer und die durch Gebetsverbrüderungen angeschlossenen Klöster und Personen, weshalb etliche benediktinische Klöster aufwendige Westbauten errichteten, die dies witterungsunabhängig und in repräsentativer Gestalt zum Nachweis der Seriosität des Fürbittgebetes ermöglichten. Kristina Krüger hat dies beispielhaft für die cluniazensischen Kirchen untersucht.28 Auch in Köln besaßen beide Abteien eine Westvorhalle – an Groß St. Martin sogar noch in staufischer Gestalt.29 In St. Pantaleon war die besonders tiefe Vorhalle durch die seitlichen Sitznischen ein in Stein manifestiertes Zeugnis des monastischen Selbstverständnisses: Wie in der Mitte des 11. Jahrhunderts die in Köln weit verbreitete Form des salischen Langchores über einer Hallenkrypta die Separierung des Chorbereiches und damit die – ganz im Sinne der Kirchenreform – ungestörte Pflege des Chorgebetes baulich signifikant machte,30 so zeigte dies die Vorhalle von St. Pantaleon für die konventuale Prozession und den Memorialdienst. Der zentrale, westliche Eingang durch die Vorhalle in den Westbau war also für die monastische Identität des Konventes von großer Bedeutung und musste stationes der Prozessionen und hebt neben dem Abschluss im Chor nur die statio vor dem Betreten der Kirche durch die Nennung der Orationen hervor: Cap. X. De processione Dominicali: Missa matutinali finita, confestim a sacerdote qui majorem missam cantabit, sal et aqua consecratur; […]. Conventus eum expectando facit primam stationem in ecclesia Sanctae Mariae, ubi et una collecta de ipsa tonali est pronuntiatione dicenda; secunda ante dormitorium; tertia ante refectorium; quarta simul cum ipso in vestibulo ecclesiae; quinta a pascha usque ad Pentecosten ad sanctam crucem, ubi rursus mos est ut de illa una collecta dicatur. Singulas collectas hic nominare non vacat, quia satis sunt notae, nisi de duabus, nescio si apud Teutonicos ita sunt in usu; una quae ante portam ecclesiae dicenda est inter cantandum, id est ‚Domine Jesu Christe‘; altera quae in choro ‚Via Sanctorum omnium‘, zit. nach Udalricus Cluniacensis Monachis: Consuetudines Cluniacensis, in: Jacques Paul Migne (Bearb.): Patrologiae Cursus Completus. Series Latina Prior, Bd. 149, Paris 1882, Sp. 633–778, hier lib. I c. 10, Sp. 653 f. 28  Kristina Krüger: Die romanischen Westbauten in Burgund und Cluny. Untersuchungen zur Funktion einer Bauform, Berlin 2003. 29 Vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 1, S. 578. 30 Zu den Langchören vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Ezzonen und ihre Stiftungen. Eine Untersuchung zur Stiftungstätigkeit im 11. Jahrhundert (Kunstgeschichte 42), Münster 1993, S. 240–244; Reitze Johann Stöver: De Salvator- of Oudmunsterkerk te Utrecht. Stichtingsmonument van het bisdom Utrecht (Clavis. Kunsthistorische Monografieën 16), Utrecht 1997, S. 117–126; Klaus Gereon Beuckers: Der Chor des Bonner Münsters und die salischen Langchöre des 11. Jahrhunderts. Zur Entstehung einer architektonischen Sonderform im Umkreis der Kanonikerreform, in: Andreas Odenthal/Albert Gerhards (Hg.): Märtyrergrab, Kirchenraum, Gottesdienst II: Interdisziplinäre Studien zum Bonner Cassiusstift (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 36), Siegburg 2008, S. 33–82, hier S. 63 f. u. 73–80; ders.: Sakraltopographie um Grab und Schrein. Zum Ostabschluss der salischen Krypta von St. Severin in Köln, in: ders./Elizabeth den Hartog (Hg.): Kirche und Kloster, Architektur und Liturgie im Mittelalter. Festschrift für Clemens Kosch zum 65. Geburtstag, Regensburg 2012, S. 31–51; ders.: Monumentum Annonis? Der salische Langchor von St. Gereon in Köln und seine Weihen, in: Colonia Romanica 34 (2020), S. 24–43.

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für feierliche Einzüge sowohl bei den Prozessionen als auch bei anderen festlichen Anlässen geeignet sein. In dieser Topographie nahm das Grab Theophanus eine wichtige Position ein: Alle feierlichen Einzüge des Konventes oder von Gästen bis zum Umbau des 12. Jahrhunderts führten von Westen unmittelbar auf das Grab der Kaiserin und den zugehörigen Albinusaltar zu. Dort dürfte sich die Prozession in zwei Züge geteilt haben, um zur nächsten statio am Kreuzaltar oder im Sanktuarium zu kommen. Jede feierliche Prozession bezog somit Theophanu prominent mit ein. Liturgisch und funktional war der Westbau ein TheophanuBau. Das Ensemble aus Grab und Altar lag wohl im östlichen Bereich der Westbauvierung unter dem Mittelturm. Zwar hat Helmut Fußbroich eine auf der Mittelachse liegende Grabgrube, die nur 1,20 Meter östlich vom Westeingang liegt, für das Grab in Anspruch genommen.31 Abgesehen davon, dass der dokumentierte Befund der Grabgrube recht problematisch ist,32 wäre dies aber nur bei einer bodenebenen Grabplatte möglich, da sonst der Zugang völlig verstellt wäre. Ob ein solches, ungerahmtes Grab ohne Aufbau bei dieser Prominenz im frühen 11. Jahrhundert überhaupt denkbar ist, muss dahingestellt bleiben. Berücksichtigt man jedoch, dass das Grab mit dem Altar eine Einheit bildete, so hätte allein schon die Altaranlage – mit ihrem mindestens einstufigen Podest für den Zelebranten – in einem viel zu geringen Abstand mitten vor dem Westportal gestanden und wäre bei allen feierlichen Prozessionen im Weg gewesen. Das ist undenkbar, zumal der Westbau genügend Platz für eine angemessene Aufstellung von Grab und Altar weiter östlich bot. Theophanu dürfte in einem oberirdischen Sarkophag bestattet gewesen sein, der deshalb archäologisch keine Spuren hinterlassen hat. Grab und Altar waren wohl im östlichen Bereich der Westbauvierung angeordnet, ihre Bedeutung für den Westbau somit auch aus dem Kirchenschiff heraus unverkennbar.

31  Fussbroich, Ausgrabungen (Anm. 17), S. 255; ders.: Metamorphosen eines Grabes. Grabstätten der Theophanu in der Kirche der ehemaligen Benediktinerabtei St. Pantaleon, in: Anton von Euw/Peter Schreiner (Hg.): Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin, 2 Bde., Köln 1991, hier Bd. 2, S. 231–241, hier S. 233. Ihm schließt sich Ristow, St. Pantaleon in Köln (Anm. 18), S. 62 an. 32 Der Befund bei Fussbroich, Ausgrabungen (Anm. 17), S. 346, Fig. 34, Profil 758 zeigt eine Rücksichtnahme der Baugrube des Westbaufundamentes auf das Grab, das mithin älter als der Bau sein muss. So wird es auch in der Dokumentation der Ausgräber als Rest einer „älteren Bestattung“ gelesen. Fußbroich meint hier aber einen Lesefehler der Ausgräber aufgrund des Kunstlichts bei den Untersuchungen zu erkennen. Vgl. auch Fussbroich, Metamorphosen (Anm. 31), S. 233, Anm. 17. Der Befund bleibt insgesamt in seinem zeitlichen Verhältnis zum Westbau also problematisch.

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Dies gilt noch mehr, wenn man die Funktion der Emporen einbezieht. Liturgische Quellen hierfür gibt es keine, jedoch ist für St. Pantaleon die seit der wilhelminischen Kaiserzeit um 1900 weit verbreitete These einer herrscherlichen Thronanlage nach Aachener Vorbild angesichts der hohen Brüstungen besonders unglaubwürdig. Wie bei anderen Westemporen ottonischer Zeit auch wird man vielmehr mit einer primär liturgischen Nutzung rechnen dürfen wie beispielsweise in der Osterliturgie.33 Clemens Kosch hat darauf hingewiesen, dass St. Pantaleon bis in das 12. Jahrhundert ein Doppelkonvent war und die Auslagerung der Frauen nach Königsdorf um 1136 zeitlich kurz vor der Vermauerung des Westbaus stattfand.34 Möglicherweise wurden die Westemporen bis dahin durch die Frauen genutzt. Dies könnte schon auf die ottonische Zeit zurückgehen, als die meisten Mitglieder der ottonischen Familie sich in Damenstiftskirchen bestatten ließen, wo ihre Memoria von den Frauen gepflegt wurde.35 Theophanu soll sich der Legende nach kurz vor ihrem Tod als Sanktimoniale nach St. Pantaleon zurückgezogen haben; eine Gründung des Frauenkonventes in diesem Kontext oder bei der Einsetzung der Memorialstiftungen durch Otto III. ist wahrscheinlich.36 Sein Zweck dürfte die Pflege von Theophanus Memoria gewesen sein, weshalb sein Sitz auf den Emporen, wo er oberhalb des Grabes eine besonders exponierte Räum-

33 Vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Westbauten ottonischer Damenstifte und ihre liturgische Funktion. Eine Skizze, in: Andreas Ranft/Wolfgang Schenkluhn (Hg.): Kunst und Kultur in ottonischer Zeit. Forschungen zum Frühmittelalter (more romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums 3), Regensburg 2013, S. 73–118. 34 Kosch, Romanische Kirchen (Anm. 24), S. 90; Beuckers, Binnentopographie (Anm. 26), S. 192 f. Zu Königsdorf vgl. Heinz Wolter: Geschichte des Benediktinerinnen-Klosters Königsdorf 1136–1802 (Pulheimer Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde, Sonderveröffentlichung 11), Pulheim 1995, insb. S. 25 f. 35 Die wichtigsten Memorialorte für die Ottonen waren die Damenstifte Gandersheim (mit den Gräbern der Familiengründer Oda und Liudolf, † 866, sowie des Herzogs Heinrich II. von Bayern, der Zänker, † 995), Quedlinburg (mit den Gräbern des ersten ottonischen Königs Heinrich I., † 936, und seiner Frau Mathilde, † 968, sowie der Memorie für Kaiser Otto II., † 983, auf dem Münzenberg) und Essen (mit den Memorien für Kaiser Otto II., † 983, und Herzog Otto von Schwaben und Bayern, † 982). Köln bildete durch die Gräber von Erzbischof Brun († 965) und Kaiserin Theophanu († 991) in St. Pantaleon sowie der Memoria für Kaiser Otto III. († 1002) in Deutz einen weiteren memorialen Schwerpunkt der Ottonen. Vgl. auch Winfrid Glocker: Die Verwandten der Ottonen und ihre Bedeutung für die Politik. Studien zur Familienpolitik und zur Genealogie des sächsischen Kaiserhauses (Dissertationen zur mittelalterlichen Geschichte 5), Köln u. a. 1989, passim. 36 Vgl. Laurentius Schlieker: Sterben. Memoria in St. Pantaleon, in: Marcel Aubert (Hg.): Benediktinisches Leben in Köln (Studien zur Kölner Kirchengeschichte 39), Siegburg 2010, S. 97–117, hier S. 108 mit Verweis auf Waltraud Weiss: Eine Königin aus Tausendundeiner Nacht oder Eine Weiberwirtschaft?, in: Günter Heidecke (Hg.): Romanik in Köln. Eine Anthologie über die Kirchen, Köln 2001, S. 230–235, hier S. 234.

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lichkeit für das Gebetsgedenken besessen hätte, naheliegt. Doch dies ist leider nicht näher überliefert. *** Kaiserin Theophanu hat ihre Bestattung in Köln frühestens Mitte der 980er Jahre geplant. Nach dem frühen Tod ihres Gatten Otto II. 983 in Italien war sie zunächst mehrere Jahre mit der Niederschlagung verschiedener Aufstände und Thronansprüche beschäftigt. Für Köln war vor allem der Anspruch des Bayernherzogs Heinrich des Zänkers auf den Thron am problematischsten.37 Er hatte schon 973 bei der Übernahme der Alleinherrschaft durch Otto II. rebelliert und dafür 976 auch den französischen Karolinger König Lothar mobilisiert, der über seine Mutter Gerberga – eine Schwester Kaiser Ottos des Großen – als ottonischer Verwandter selbst Ansprüche auf eine Beteiligung an der Herrschaft äußerte.38 Vor allem trachtete Lothar nach der Anbindung Lothringens an das Westreich, was für Köln weitreichende Folgen gehabt hätte. 980 versöhnten sich Otto II. und Lothar in Margut-sur-Chiers; das damals wohl als Sühnegabe angefertigte Lotharkreuz im Aachener Dom zeugt bis heute von der Anerkennung des Kaisertums Ottos durch den Karolinger.39 Heinrich der Zänker war inzwischen seines Herzogtums Bayern enthoben worden und saß in Utrecht in Haft, bis 983 dies alles wieder aufbrach. Theophanu hatte große Mühe, um für ihren damals erst dreijährigen Sohn Otto III. die Herrschaft zu sichern, was ihr 985 durch einen Ausgleich mit dem Zänker und mit Lothar gelang. Erst damit war auch Köln für das Reich gesichert. Wesentlichen Anteil an der Etablierung Ottos III. hatte die von Theophanu in Köln gebildete Allianz aus Erzbischof Everger (amt. 985–999) und dem an Mittel- und Niederrhein umfassend begüterten Geschlecht der Erenfriede/ 37 Vgl. hierzu Franz-Reiner Erkens: „…more Grecorum conregnantem instituere vultis?“ Zur Legitimation der Regentschaft Heinrichs des Zänkers im Thronstreit von 984, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 273–289. 38 Für die historischen Geschehnisse vgl. zusammenfassend Karl Uhlirz: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III. Bd. 1: Otto II. 973–983 (Jahrbücher der deutschen Geschichte 10,1), Leipzig 1902 (ND Berlin 1967); Mathilde Uhlirz: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto II. und Otto III. Bd. 2: Otto III. 983–1002 (Jahrbücher der deutschen Geschichte 10,2), Leipzig 1902 (ND Berlin 1954); Ludwig Falkenstein: Otto III. und Aachen (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 22), Hannover 1998, insb. S. 56–64. Vgl. zusammenfassend auch Klaus Gereon Beuckers: Die Stiftungen der Ezzonen. Manifestationen politischer und geistlicher Stellung unter den späten Ottonen und frühen Saliern in Lothringen, in: Jens Lieven/Bert Thissen/ Ronald Wientjes (Hg.): Verortete Herrschaft. Königspfalzen, Adelsburgen und Herrschaftsbildung in Niederlothringen während des frühen und hohen Mittelalters (Schriften der Heresbach-Stiftung Kalkar 16), Bielefeld 2014, S. 255–285. 39 Vgl. zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Das Lotharkreuz im Aachener Domschatz. Zur Datierung mit ikonologischen, stilistischen und historischen Methoden, in: Kristin Marek/Martin Schulz (Hg.): Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke, Methoden und Epochen Bd. 1: Mittelalter, Paderborn 2015, S. 78–107.

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Ezzonen, denen Theophanu die Pfalzgrafenschaft und damit die Verwaltung der kaiserlichen Stationsorte einschließlich des Krönungsortes Aachen und der strategisch wichtigen Orte Duisburg und Kaiserswerth sowie vielleicht auch der alten Römerkastelle in Deutz und Bonn(-Dietkirchen) übertrug.40 Entgegen der Gewohnheit der ottonischen Familie, die ihre Töchter sonst für geistliche Ämter reservierte, gab Theophanu Ezzo sogar ihre Tochter Mathilde zur Gemahlin, obwohl diese in Essen wohl für die Übernahme des Abbatiates erzogen wurde und zum Zeitpunkt des Eheversprechens noch minderjährig war. Theophanu wusste ihr Grab in Köln also nach 985 breit abgesichert, ihre Memoria damit zuverlässig eingesetzt. 991 wurde sie wunschgemäß in St. Pantaleon bestattet, worüber unter anderem die bald nach 1049 in Köln verfasste Translatio des heiligen Albinus berichtet.41 Schon die ältere Literatur hat den Westbau von St. Pantaleon deshalb immer im Zusammenhang mit Theophanu gesehen. Daher kommt auch die Idee, ihn um 1000, oft vor die Kaiserkrönung Ottos III. 996, zumindest vor dessen Aufbahrung in St. Pantaleon 1002 zu datieren und ihn aus den reichen Schenkungen Ottos für das Grab seiner Mutter von 991 finanziert zu sehen, obwohl es dafür keine expliziten Quellen gibt.42 Egal ob der komplexe Bau, für den eine mehrjährige Bauzeit anzusetzen ist, bereits nach der Übertragung der AlbinusReliquien 984/985 begonnen, erst aus den Mitteln Ottos III. nach 991 finanziert oder noch später erbaut worden ist: Der Westbau war 991 noch nicht vollendet, Theophanu konnte hier noch nicht bestattet werden und wurde erst 40 Vgl. Beuckers, Stiftungen (Anm. 38), S. 263. Vgl. zur Argumentation für eine Verleihung von Duisburg und Kaiserswerth in den 980er Jahren ders.: Heinrich II. und Köln. Die Gründung von Kloster Deutz im (kunst)historischen Kontext, in: Andreas Ranft/Wolfgang Schenkluhn (Hg.): Herrschaftslandschaft im Umbruch. 1000 Jahre Merseburger Dom (more romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums 6), Regensburg 2017, S. 79–112, hier S. 106 f., Anm. 31. 41 Sic imperatrix devota demum voti compos Coloniam venit et in loco quo veneratur adhuc sacrum pigus deposuit umbraculumque capitis sui superposuit sibique post obitum ante ipsum altare, sicut hodieque cernere licet, sepulchrum constitui iussit, zit. nach: L.  von Heinemann (Bearb.): Translatio sancti Albini martyris auctore Stephano, in: Monumenta Germaniae Historica Scriptores (MGH SS) XV,2, Leipzig 1925 (ND Stuttgart 1963), S. 686–688, hier S. 688. Zur Vita vgl. Heinz Erich Stiene: Kölner Heiligenlegenden im 10. und 11. Jahrhundert, in: von Euw/Schreiner, Kaiserin Theophanu (Anm. 31), Bd. 1, S. 125–135, insb. S. 127–131. Ausführlich berichten zur Bestattung Theophanus auch die Quedlinburger Annalen (MGH SS III, S. 68), vgl. Kracht, Geschichte (Anm. 19), S. 62. 42 Die Schenkungen sind bei Thietmar von Merseburg überliefert: [Kaiserin Theophanu] sepulta est ab Ewergo […] in monasterio sancti Pantaleonis […] presente filio [Otto III.] ac multa pro remedio matris his confratribus largiente, zit. nach: Robert Holtzmann (Bearb.): Chronicon Thietmari Merseburgensis episcopi, neu übertragen und erläutert v. Werner Trillmich (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 9), Darmstadt 51974, lib. IV. c. 15, S. 130. Vgl. auch Oediger, Regesten Bd. 1 (Anm. 19), S. 168, Nr. 551.

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später hierhin transloziert. Man darf deshalb davon ausgehen, dass sie bei einer Bauzeit des Westbaus in den 980/990er Jahren angesichts dieser bevorstehenden Umbettung nicht in einem Erdgrab, sondern in einem oberirdischen Sarkophag bestattet wurde – wie es ja auch für andere Herrscherbestattungen bezeugt ist. Sollte die Spätdatierung zutreffen, so wäre eine längerfristige Bestattung an einem anderen Ort der Kirche zu erwarten, da es den Westbau II ja noch nicht gab. Möglicherweise fand auch dann eine Bestattung in einem oberirdischen Sarkophag statt, weil man einen Neubau des Westbaus mit den Mitteln Ottos III. plante, der sich dann aus politischen Gründen bis in das 11. Jahrhundert verzögerte. Die fehlenden archäologischen Nachweise sowohl des Theophanu-Grabes als auch des zugehörigen Albinus-Altares wie auch die offenbar unproblematische Translozierung im 12. Jahrhundert aus dem Westbau in den Südquerarm (Pauluskapelle) weisen jedenfalls darauf hin, dass Theophanu auch später im Westbau II kein Erdgrab besessen hat, sondern in einem Sarkophag oberirdisch Aufstellung gefunden hat. Wo 991 die Bestattung der Kaiserin vorgenommen wurde, ist nicht überliefert. Eine zur späteren Lokalisierung analoge Aufstellung im Westbau I wäre denkbar, hätte aber dem bereits begonnenen oder gegebenenfalls geplanten Westbau II im Wege gestanden, weshalb eine Aufstellung im Südquerarm, wo das Grab nach der Abmauerung des Westbaus im 12. Jahrhundert für Jahrhunderte stand, naheliegender erscheint.43 *** Der zeitliche Abstand zwischen Theophanus Bestattung und der Errichtung ihres Grabes im Westbau verlängert sich noch erheblich, wenn man den aktuell meistvertretenen Datierungen des Westbaus im 11. Jahrhundert folgt, die vor allem kunsthistorisch begründet wird. Dies ist jedoch schwierig; typologisch steht der Westbau in der Nachfolge der karolingischen, komplexen Westbauten Corveyer Art und wurde schon von Alois Fuchs und ihm folgend Carol Heitz als Idealtypus der ottonischen Reduktionsform dieses ‚Westwerkes‘ angeführt.44 Für eine Feindatierung im 10. oder 11. Jahrhundert ist dies allerdings wenig aussagekräftig. 43 Im Südarm ist der Sarkophag Theophanus seit dem 15. Jahrhundert mehrfach belegt, vgl. Rahtgens, Denkmäler (Anm. 25), S. 138. Auf diese Aufstellung ist auch der spätromanische Umbau des Querarmes zu beziehen, vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 1, S. 586. Seit einigen Jahren steht der Sarkophag ahistorisch in der nördlichen Kapelle des Westbaus, vgl. auch Fussbroich, Metamorphosen (Anm. 31). 44 Vgl. Alois Fuchs: Die karolingischen Westwerke und andere Fragen der karolingischen Baukunst, Paderborn 1929, S. 51; Carol Heitz: Recherches sur les rapports entre architecture et liturgie à l’époque carolingienne (Bibliothèque Générale de l’Ecole Pratique des Hautes Études 6), Paris 1963, S. 47. Zur Westwerkfrage vgl. von Schönfeld de Reyes, Westwerkprobleme (Anm.12); Rezension von Klaus Gereon Beuckers, in:

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Abb. 3: Westbau von St. Pantaleon, Südwand des Südquerarms (Foto: Ulrich Knapp, 2001).

Spezifischer ist die Außengliederung (Abb. 3), auf die sich auch alle Befürworter einer Spätdatierung beziehen. Hier wird der Baukörper durch eine Lisenengliederung strukturiert, die ihn – gemessen an den weitgehend im Original erhaltenen Querflügeln – mit Ecklisenen und Mittellisenen in (an den Querarmen) zwei bzw. (an der Westfassade) drei Achsen und zwei Geschosse plus Giebelfeld gliedern. Die Lisenen sind durch regelmäßige Rundbogenfriese von je sechs Bogenachsen miteinander verbunden,45 wobei die Bögen auf separaten Konsolen liegen, deren Höhe in den Lisenen Kämpfer entsprechen. Die Lisenengliederung wurde in üblicher Weise mit dem Tuffmauerwerk aufgesetzt, architectura. Zeitschrift für Geschichte der Baukunst/Journal of the History of Architecture 29 (1999), S. 233–236; Lobbedey, Les Westwerke (Anm. 10). 45 Die Westfassade ist eine vollständige Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts, greift dafür auf historische Ansichten wie insbesondere die insgesamt zuverlässige aus dem Skizzenbuch von Justus Finckenbaum von 1660/1665 zurück (Abb. 4). Dort stimmt die Feldeinteilung, jedoch weichen Details wie die Bogenanzahl der Rundbogenfriese von den erhaltenen Bauteilen ab. Die Rekonstruktion des Westarms hat sich um eine vergleichbare Größe der Rundbögen bemüht und daraus die Anzahl ermittelt. Sie besitzt im unteren Geschoss heute einen durchlaufenden Rundbogenfries – Finckenbaum zeigt hier zwei Achsen mit je vier Bögen – und im Obergeschoss jeweils einen Fries aus vier Bögen – bei Finckenbaum jeweils nur drei. Zum Skizzenbuch vgl. Günther Binding: Köln- und Niederrhein-Ansichten im Finckenbaum-Skizzenbuch 1660–1665, Köln 1980, S. 121 f.

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ihre Bögen sind durch den Wechsel von Tuff und roten Ziegeln ausgezeichnet. Den Lisenen aufgelegt ist eine Pilastergliederung aus rotem Sandstein, die die geschosstrennenden Horizontalgesimse trägt. Die Basen und Kapitelle weisen gewisse Variationen auf, jedoch finden sich hier an den westlichen Ecken der Querbauten Formen von Würfelkapitellen, die sich relativ eng an die Würfelkapitelle der 1033 geweihten Klosterkirche St. Michael in Hildesheim anschließen lassen.46 Hierher bestanden auch historische Verbindungen, da der Pantaleoner Propst Goderamnus 1022 erster Abt von St. Michael in Hildesheim geworden war, worauf die Forschung schon lange hingewiesen hat.47 Die Komplexität der Außengliederung von St. Pantaleon ist allein schon deswegen überraschend, weil Lisenen- und Pilastergliederungen Ende des zehnten bzw. Anfang des 11. Jahrhunderts überhaupt erst im bekannten Denkmälerbestand auftreten. Allen Verlustraten wichtiger Großbauten zum Trotz scheinen sie erst in dieser Zeit überhaupt entwickelt worden zu sein, wie zuletzt Susanne Hohmann herausgearbeitet hat.48 Seit der Spätantike wurde vor allem die Blendarkade als Wandgliederungsmotiv beispielsweise am Obergaden ravennatischer Bauten gewählt, woraus sich letztlich auch noch die Speyerer Wandgliederung im 11. Jahrhundert ableiten lässt. Ihr verpflichtet sind auch die in karolingischer Zeit auftretenden Reihungen von Blendarkaden auf Pilastern, die etwa im Obergeschoss der Lorscher Torhalle statt Arkaden auch Giebelformen tragen können.49 Vorformen für eine Lisenengliederung entwickelten sich um 1000 aus diesem Vokabular im erhaltenen Denkmälerbestand erstmals an den Westturmgeschossen von St. Cyriakus in Gernrode, dort aber immer noch als eng gestellte, schlanke Arkadenreihen.50 Zur gleichen Zeit 46 Vgl. Günther Binding: Köln oder Hildesheim? Die ‚Erfindung‘ des Würfelkapitells, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 66 (2005), S. 7–38, insb. S. 29 f. 47 Vgl. Rudolf Wesenberg: Frühe mittelalterliche Bildwerke. Die Schulen rheinischer Skulptur und ihre Ausstrahlung, Düsseldorf 1972, S. 25 f.; Mühlberg, St. Pantaleon (Anm. 17), S. 147; zuletzt vgl. Binding, Michaeliskirche (Anm. 6), insb. S. 47–61 u. 75–78. Die ältere Literatur ging von einer Berufung Goderams bereits 996 oder 1010 nach Hildesheim aus, was inzwischen nicht zuletzt durch die Forschungen von Binding widerlegt ist. 48 Vgl. Hohmann, Blendarkaden (Anm. 14). 49 Zu Lorsch vgl. zuletzt Annette Zeeb/Bernhard Pinsker (Hg.): Kloster Lorsch. Vom Reichskloster Karls des Großen zum Weltkulturerbe der Menschheit, Ausst.-Kat. Museumszentrum Lorsch, Petersberg 2011 mit diversen Beiträgen. 50 Zu Gernrode vgl. Klaus Voigtländer: Die Stiftskirche zu Gernrode und ihre Restaurierung 1858–1872, Berlin 1980 (ND 1982), zu den Türmen insb. S. 58–64; Wolfgang Erdmann et al.: Neue Untersuchungen an der Stiftskirche zu Gernrode, in: Martin Gosebruch/Frank N. Steigerwald (Hg.): Bernwardinische Kunst. Bericht über ein wissenschaftliches Symposium in Hildesheim vom 10.10. bis 13.10.1984 (Schriftenreihe der Kommission für Niedersächsische Bau- und Kunstgeschichte bei der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 3), Göttingen 1988, S. 245–285. Eine ausführliche Monographie zu Gernrode ist seit Jahren durch Werner Jacobsen angekündigt.

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traten an den Treppenspindeln am Ostbau des Mainzer Domes regelmäßig verteilte, flache Pilaster auf, welche die Geschossgesimse tragen. Ihnen fehlen verknüpfende Rundbogenfriese, die aus Quadern gemauerte Pilasterform nähert sich aber durch den flachen Querschnitt sowie die Reduzierung der Kapitelle, die teilweise fast die Form von Schmiegenkämpfern haben, an Lisenen an. Die Treppentürme gehören zu dem 1009 in der Weihenacht abgebrannten Willigis-Dom bzw. seinem 1036 geweihten Wiederaufbau. Frühformen für Lisenengliederungen, die durch Rundbögen verbunden sind, gibt es – meist in zweiachsiger Form als Doppelbögen – insbesondere in Oberitalien beispielsweise am Nordturm des Domes von Ivrea, am Baptisterium von Galliano, an S. Paragorio in Noli oder S. Pietro in Acqui. Keine dieser Gliederungen reicht sicher bis in das 10. Jahrhundert zurück, jedoch lässt die Fülle überlieferter Beispiele an eher unwichtigeren Kirchen auf eine Formierung an prominenteren Bauten vielleicht schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts schließen.51 Mehrachsige Rundbogenfriese treten in Oberitalien erst viel später, z. B. am 1067 geweihten Dom von Acqui oder an der noch etwas jüngeren Kirche S. Michele Arcangelo in Nonantola, auf.52 Zu diesem Zeitpunkt sind sie auch bereits in Frankreich zu finden. Immer wieder benanntes Beispiel dort ist der Westbau der Abteikirche von St-Philibert in Tournus in Burgund, auf dem sich Lisenen mit unterschiedlichen Bogenzahlen finden. Mehr noch als die Existenz von zwei-, drei-, vier- und siebenachsigen Rundbogenreihen ist dort die einheitliche Proportionierung der Bögen auffällig, die die Geschosse der Fassade über die Lisenentrennungen hinaus zusammenbinden. Der um 1009 begonnene, 1019 erstmals geweihte Bau wurde unter Abt Ardain (amt. 1028–1056) vollendet und erhielt noch 1120 eine päpstliche Weihe; der Westbau dürfte aus dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts stammen.53 In Burgund und der erweiterten Region hat er mit dieser Gliederung kaum Parallelen. Eine Ableitung der Außengliederung von St. Pantaleon aus diesen Bauten ist deshalb nicht überzeugend, auch wenn es vielleicht oberitalienische Vorformen gegeben haben mag. Allerdings hat schon Albert Verbeek die Gliederung an St. Pantaleon als eine Weiterentwicklung karolingischer Strukturen in Wiederaneignung römisch-antiker Formen gelesen.54 Auch Susanne Hohmann betont die 51 Vgl. Hohmann, Blendarkaden (Anm. 14), S. 118–143. 52 Vgl. ibid., S. 169 f. 53 Vgl. ibid., S. 184 f. Zu Tournus vgl. Jacques Thirion (Hg.): Saint-Philibert de Tournus. Histoire, Archéologie, Art. Actes du Colloque du Centre International d’Études Romanes, Tournus 1995; Jacques Henriet: Saint-Philibert de Tournus. L’abbatiale du XIe siècle (Bulletin monumental, Supplément 2), Paris 2008. 54 Verbeek, St. Georg (Anm. 7), S. 132.

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Andersartigkeit gegenüber den oberitalienischen Formen, von denen sie St. Pantaleon als nicht ableitbar sieht.55 Der Kreis der Bauten, die für die frühen Lisenengliederungen des 11. Jahrhunderts herangezogen werden, ist begrenzt. So hat Günther Binding 2010 insbesondere auf den Westbau von Kloster Mittelzell auf der Reichenau (um 1048) sowie auf Kloster Limburg an der Haardt (nach 1025) verwiesen und damit implizit Uwe Lobbedeys Datierung in die 1030/40er Jahre zugestimmt.56 Die Westwand des Westbaus der Mittelzell ist durch vier kastige Lisenen in drei Achsen gegliedert, die mit jeweils vierachsigen Rundbogenreihen auf zwei Geschosshöhen verklammert werden, wobei die Rundbögen zwischen die durchlaufenden Lisenen ‚eingehängt‘ wurden und keine gleichwertige Struktur bilden. Der Ostbau von Limburg zeigt auf den Ostseiten der Querarme eingetiefte Wandfelder, die oben durch einen vielachsigen Rundbogenfries geschlossen sind. Da die Felder von den Gebäudekanten zurückversetzt sind, entsteht dort so etwas wie eine lisenenartige Anmutung. Gleiches gilt für die drei nur im unteren Bereich erhaltenen Blendfelder auf dem Chorhaupt. An den steilen Querarmapsiden wird dieses Motiv mit fünf Bogenachsen aufgegriffen und die dünnen Vorlagen bekommen hier wirklich den Charakter von Lisenen. Auch die Überleitung zum Rundbogenfries ist hier organisch. Solche Lisenenvorlagen, die sich vielleicht aus den kastigen Vorlagen am Tambour des Aachener Oktogons oder gemeinsamen antiken Vorbildern ableiten mögen, hatten schon um 1000 an der Ostapsis von Gernrode sehr kastige Vorläufer, die noch an der Apsis der Abteikirche von Hersfeld in den 1040er Jahren Parallelen besitzen.57 Die erste meisterhafte Ausformulierung einer Lisenengliederung hatte aber schon Verbeek an dem vor 1046 erbauten Westbau des Trierer Domes erkannt, 55  Hohmann, Blendarkaden (Anm. 14), S. 235 f.: „Die früheste erhaltene, in das Ende des 10. Jahrhunderts datierte Rundbogenfries-Außengliederung im Kerngebiet des deutschen Kaiserreiches befindet sich am Westwerk von St. Pantaleon. Aufgrund ihrer Charakteristika […] konnte eine Abhängigkeit von oberitalienischen Rundbogenfries-Außengliederungen, die zudem später entstanden sind, ausgeschlossen werden. Dies betrifft insbesondere den Rundbogenfries an sich, der hier, anders als in Italien, in der mehrteiligen und einer sehr qualitätvollen Form auftritt. Als Quelle kommen römische Mauerwerksdekorationen und steile Blendarkaden-Gliederungen (Gernrode) in Frage. Auch die Mehrzahl der ab dem 2. Viertel des 11. Jahrhunderts folgenden Rundbogenfries-Gliederungen unterscheidet sich von den südlichen Beispielen. Vorherrschend ist hier nämlich nicht die ‚einfache‘ Lisene, die aufgrund des zu den ‚Rücklagen‘ analogen Mauerwerks, der Bündigkeit mit einem Sockelstreifen und des Fehlens von Kopf- und Fußgliedern eindeutig aus einer Eintiefung der Wandoberfläche zu entstehen scheint und somit als Teil der Wand zu interpretieren ist. Vielmehr besitzen die ‚deutschen‘ Lisenen […] Elemente, durch die sie aus dem Wandzusammenhang herausgelöst sind. […] Diese Charakteristika lassen die Abstammung der deutschen ‚Lisene‘ vom antiken Pilaster vermuten […].“ 56  Binding, Karolingisch oder ottonisch (Anm. 6), S. 133–137. 57 Zu Hersfeld vgl. zuletzt Verena Smit: Die Baugeschichte der salischen Abteikirche in Hersfeld (Studien zum Kulturerbe in Hessen 4), Regensburg 2018.

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wo die Treppentürme in vier Geschossen die verschiedenen Typen von Wandgliederungen durchdeklinieren. Zeigt das unterste Geschoss eine aus Quadern gebildete Pilastergliederung mit Schmiegenkapitellen in großer Ähnlichkeit zu der Gliederung der Osttürme des Mainzer Domes (in Trier aber durch Konsolen unter dem Gesims ergänzt), so greift dies das zweite Geschoss in vergleichbar proportionierten, hier aber im Lagenverband mit gemauerten Lisenen auf, die zwar immer noch die Andeutung eines hier korinthisierenden Kapitells besitzen, aber dreiachsige Rundbogenfriese stützen. Das darüberliegende, mit einem besonders kräftigen Gesims abgegrenzte Geschoss zeigt Blendarkaden, die axial aber auf die Lisenen darunter abgestimmt sind, das vierte Geschoss mit Schallarkaden wird nach oben von einem Rundbogenfries abgeschlossen, das nicht durch Lisenen vorbereitet wird. Bemerkenswert ist, dass die antikisierende Form des untersten Geschosses, die durch die Konsolen noch unterstrichen wird, im unteren Geschoss der Westapsis von den Pilastern her aufgegriffen wird, hier aber einen vielachsigen Rundbogenfries (im Wechsel vier- und sechsachsig) trägt wie das Hauptgeschoss die im Lagenverband mitgemauerten Lisenen mit sehr flachen, korinthisierenden Kapitellen (hier im Wechsel fünf- und siebenachsig). Insgesamt sind hier sowohl die Lisenen- als auch Pilasterformen von St. Pantaleon ausgereift vertreten, wenn auch nicht zweilagig übereinandergeschichtet. Nicht nur wegen der Kapitelle und der klaren Geschossbildung wird hier ein antikischer Duktus deutlich, der typologisch oft zwischen Lisenen und Pilastern nicht klar differenzieren lässt. Trier zeigt jedenfalls ein ausformuliertes Gliederungssystem, dem das folgende Jahrhundert gehörte. Alle Bauten zusammen weisen das Bemühen um eine variationsreiche, auszeichnende Wandgliederung vor. Aber sie alle sind – höchstens mit Ausnahme von Limburg – selbst bei der von verschiedenen Autoren vertretenen Spätdatierung, die in keinem Fall über 1030/40 hinausreicht und alleine schon durch die Rezeption der Gesamtanlage in Münstereifel (1048) auch nicht hinausreichen kann – jünger als St. Pantaleon und zudem nicht wirklich schlagende Vergleiche. Schon ganz grundsätzlich fehlt ihnen allen die Zweischaligkeit aus Lisenen- und Pilastergliederung, die an St. Pantaleon nicht nur den Farbwechsel, sondern vor allem die Komplexität ausmacht. Das von Hohmann vorgeschlagene Modell einer unvorbereiteten Ableitung aus der römischen Antike, für die sie selbst aber keine Vergleichsbeispiele benennen kann, ist eher eine Verlegenheitslösung und kunsthistorisch nicht befriedigend. Zwar zeigt der Trierer Dom, wie antike Elemente Eingang finden, und auch an der Gliederung der Konchen von St. Maria im Kapitol, wo sich Halbsäulen mit Pilastern abwechseln, die das Traufgesims zusammen mit Konsolen wie einen Architrav

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zu tragen scheinen (Weihen 1049 und 1065),58 zeigt sich in Köln eine antikische Anmutung, doch entbehren diese Bauten alle der zweischaligen Gliederung von St. Pantaleon. Insgesamt zeigen diese Bauten der 1030/40er Jahre, die zwar Lisenengliederungen und Rundbogenfriese besitzen, aber ganz anders angelegt sind, einen zeitgenössischen Horizont auf, liefern aber weder eine überzeugende Herleitung noch schlagende zeitgleiche Parallelen. Auffallend wenig Resonanz hat in der Literatur hingegen der Verweis von Fried Mühlberg auf St. Johannes Evangelist in Lüttich gefunden, den offenbar nur Günther Binding aufgegriffen hat.59 Die in der Aachen-Nachfolge stehende Stiftskirche, in der Bischof Notger (amt. 972–1008) als Gründer 1008 bestattet wurde, ist in ihrer mittelalterlichen Außengliederung durch einen Stich von Remacle Le Loup von 1738 überliefert – bevor man den Bau mit Ausnahme der Westturmgruppe zwischen 1752 und 1770 durch einen barocken Neubau ersetzte.60 Dem Stich nach zeigte der Kernbau eine an den Polygonkanten liegende Lisenengliederung mit Rundbogenfries. Im Oktogon des Tambours wurde dies aufgegriffen, wobei dort den Ecklisenen – nach Mühlberg – eine Pilastergliederung aufgelegt wurde. Dies sollte offenbar der Auszeichnung gegenüber dem Gliederungssystem unten dienen, was in den Fenstern Parallelen hatte, denn die unten einfach in das Mauerwerk eingeschnittenen Fenster waren am Tambour durch rechteckige Wandeintiefungen gerahmt. Eine solche Gliederung ist aus dem Aachener Vorbild nicht direkt abzuleiten, 58 St. Maria im Kapitol besaß an den Seitenflanken des Westbaus jeweils ein Joch, das mit Ecklisenen und einem vierachsigen Rundbogenfries gegliedert war. Dieses Motiv findet sich auch an der Westfassade des Essener Münsters, dort allerdings heute rekonstruiert. Die Rundbogenfriese der Obergeschosse der Konchen in St. Maria im Kapitol scheinen ganz dem 12. Jahrhundert zugehörig zu sein; heute ist das weitgehend Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum Baubestand von St. Maria im Kapitol vor dem Krieg und der Rekonstruktion des salischen Ursprungsbaus vgl. Hugo Rahtgens: Die Kirche S. Maria im Kapitol zu Köln, Düsseldorf 1913. 59  Mühlberg, St. Pantaleon (Anm. 17), S. 150 f.; Binding, Karolingisch oder ottonisch (Anm. 6), S. 133 f. 60 Vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 2, S. 712–714; ibid., Bd. 4, S. 609; Luc F. Genicot: L’octogone de Notger et son avant-corps, in: Joseph Deckers (Hg.): La collégiale Saint-Jean de Liège. Mille ans d’art et d’histoire, Lüttich 1981, S. 47–56 (dasselbe ausführlicher in: Albert Jeghers (Hg.): Millénaire de la collégiale Saint-Jean de Liège. Exposition d’art et d’histoire, Ausst. Kat. Saint-Jean de Liège, Lüttich 1982, S. 43–58); Florent Ulrix: A la recherche du tombeau de Notger, in: Deckers (Hg.), Saint-Jean de Liège (s. o.), S. 141–147; ders.: Étude comparative des plans de la Collégiale Saint-Jean de Liège et du ,Dom‘ d’Aix-la-Chapelle, in: Jeghers (Hg.), Millénarie (s. o.), S. 63–67. Die Einflüsse der Heiliggrab-Architektur in Jerusalem auf den Bau betont Elizabeth den Hartog: Romanesque Architecture and Sculpture in the Meuse Valley (Maaslandse monografieën. Groot formaat 8), Leeuwarden 1992, S. 40 f. Zur Aachen-Nachfolge vgl. immer noch grundlegend Albert Verbeek: Die architektonische Nachfolge der Aachener Pfalzkapelle, in: Wolfgang Braunfels/Percy Ernst Schramm (Hg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben Bd. 4: Das Nachleben, Düsseldorf 1967, S. 113–156.

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denn in Aachen ist das karolingische Sechzehneck ungegliedert.61 Im Tambour hat die Aachener Pfalzkapelle jedoch eine Pilastergliederung, deren Pilaster von den Polygonkanten etwas nach innen versetzt sind, so dass die Kante freibleibt. Eine Verbindung der Pilaster zum Traufgesims scheint es in Aachen dem Befund nach nicht gegeben zu haben. Dennoch könnte die Aachener Gliederung aus karolingischer Zeit für den Lütticher Bau die Anregung gegeben haben, indem die Pilaster zu Ecklisenen umgedeutet wurden, welche die Polygonkanten besonders markierten. Im Tambour hätte man dann zur hierarchischen Staffelung dieser Lisenengliederung noch Pilaster aufgelegt und so auch die Plastizität erhöht. Allerdings ist Günther Binding dieser Lesart der Tambourgliederung vehement entgegengetreten und hat die vermeintlichen Pilaster als Eckpfeiler gelesen und beispielsweise mit den Formen am spätstaufischen Dekagon von St. Gereon in Köln verglichen.62 Wenn er damit recht hat, dann wäre der Lütticher Tambour einer späteren Bauphase zuzuordnen. Unabhängig davon bleibt jedoch immer noch die Lisenengliederung mit Rundbogenfries im Umgangsgeschoss aus dem Ende des zehnten oder Anfang des 11. Jahrhunderts. Letztlich wäre die zweischichtige Gliederung des Tambours hierfür eine logische Steigerung, jedenfalls wäre sie das einzige Parallelbeispiel für eine zweischalige Außengliederung wie an St. Pantaleon. Dies steht jedoch mit der allein zeichnerischen Überlieferung in einem nur eingeschränkt auf Genauigkeit angelegten Stich auf sehr tönernen Füßen. Für die Umwandlung der Aachener Pilaster- in eine Lisenengliederung gab es innerhalb der Aachen-Nachfolge allerdings auch in Köln eine zeitgenössische Parallele: Der Außenbau der 1020 geweihten Abteikirche von Deutz, die ebenfalls die Gesamtanlage der Aachener Pfalzkapelle kopierte, scheint am Tambour eine der Lütticher Untergeschossgliederung sehr ähnliche Form besessen zu haben; zumindest hat Gundolf Precht die Deutzer Polygonseiten durch Ecklisenen mit einem vielachsigen Rundbogenfries gegliedert rekon­ struiert.63 Dies wird durch die bauliche Nachfolge von Deutz in der deutlich bescheideneren Marienkirche auf der Marienfeste von Würzburg gestützt, wo 61 Zum Aachener Münster vgl. Felix Kreusch: Kirche, Atrium und Portikus der Aachener Pfalz, in: Wolfgang Braunfels/Hermann Schnitzler (Hg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben Bd. 3: Karolingische Kunst, Düsseldorf 1965, S. 463–533; zuletzt vgl. Hans-Karl Siebigs: Der Zentralbau des Domes zu Aachen. Unerforschtes und Ungewisses, Worms 2004; Ulrike Heckner/Eva-Maria Beckmann (Hg.): Die karolingische Pfalzkapelle in Aachen. Material, Bautechnik, Restaurierung (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 78), Worms 2012, zur Gliederung des Oktogons dort insb. S. 189 f. u. 199. 62 Binding, Karolingisch oder ottonisch (Anm. 6), S. 134. 63  Gundolf Precht: Das römische Kastell und die ehemalige Benediktinerklosterkirche St. Heribert in Köln-Deutz, in: Rechtsrheinisches Köln. Jahrbuch für Geschichte und Landeskunde 14 (1988), S. 1–34. Zu Deutz vgl. auch Beuckers, Heinrich II. und Köln (Anm. 40), zur Lisenengliederung S. 99–102.

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der Tambour des Rundbaus eine Lisenengliederung mit fünfachsigem Rundbogenfries zeigt.64 Beide Bauten in der Aachen-Nachfolge haben demnach in Lüttich und Deutz eine Lisenengliederung besessen, die mit der Struktur und dem Erscheinungsbild der Lisenengliederung von St. Pantaleon vergleichbar ist. Bereits Mühlberg hatte sowohl auf Lüttich als auch auf Würzburg verwiesen, und auch Hohmann behandelte Würzburg – stellte aber keine Verbindung zu St. Pantaleon her.65 Relativ eindeutig handelt es sich bei der von Precht rekonstruierten Deutzer Klosterkirche um den 1020 geweihten Bau. Würzburg, für das in der Literatur teilweise abenteuerlich frühe Datierungen bis in das 8. Jahrhundert kursieren, dürfte als Nachfolgebau einige Jahre jünger sein, wobei die Forschung meist mit Bezug auf Friedrich Oswald (ohne Verweis auf Deutz) zu einer kaum überzeugenden Ansetzung um 1000 tendiert.66 Zutreffender dürfte die schon von Bernhard Hermann Röttger vorgeschlagene Datierung unter Bischof Adalbert von Würzburg (amt. 1045–1090) sein, als es besonders enge Beziehungen zwischen Köln und Würzburg gab.67 Jedenfalls ist aufgrund der Deutz-Rezeption hier eine Datierung vor um 1020 undenkbar.68 St-Jean in Lüttich wird meist bereits in das Ende des 10. Jahrhunderts datiert. Historisch erlebte Lüttich seit 983 in den Jahren der Durchsetzung Ottos III. krisenhafte Zeiten, die sich mit der Festsetzung Herzog Karls von Niederlothringen in der Festung Chèvremont bei Lüttich zuspitzten, wo er durch den französischen König Hugo Capet mit Unterstützung von Kaiserin Theophanu belagert wur64 Zur Marienkirche vgl. Friedrich Oswald: Würzburger Kirchenbauten des 11. und 12. Jahrhunderts (Mainfränkische Hefte 45), Würzburg 1966, S. 11–32; Stefan Kummer: Kunstgeschichte der Stadt Würzburg 800–1945, Regensburg 2011, S. 26 f. Den Vorbildcharakter von Deutz für Würzburg hat erstmals Mühlberg, St. Pantaleon (Anm. 17), S. 153 f. erkannt. Zur Vorbildhaftigkeit von Deutz für Würzburg vgl. auch Beuckers, Heinrich II. und Köln (Anm. 40). 65  Mühlberg, St. Pantaleon (Anm. 17), S. 153 f.; Hohmann, Blendarkaden (Anm. 14), S. 229 f. 66  Oswald, Kirchenbauten (Anm. 64), S. 11–32; Oswald/Schaefer/Sennhauser, Vorromanische Kirchenbauten (Anm. 7), S. 383 f.; Werner Jacobsen/Leo Schaefer/Hans Rudolf Sennhauser (Bearb.): Vorromanische Kirchenbauten. Katalog der Denkmäler bis zum Ausgang der Ottonen. Nachtragsband (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 3,2), München 1991, S. 465 f. mit jüngerer Literatur. 67  Bernhard Hermann Röttger: Felix Ordo. Würzburger Beiträge zur Architekturgeschichte des Mittelalters, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 11/12 (1949/50), S. 5–84, hier S. 31 f. 68 Das wesentliche Gegenargument gegen die von Oswald ausschließlich stilistisch argumentierte Frühdatierung ist die Rezeption der Deutzer Abteikirche nicht nur im Nischenzentralbau, sondern auch in der ungewöhnlichen Chorform, die in Deutz erst als Planwechsel unter dem Kölner Erzbischof Pilgrim (amt. 1021–1036) zur Inszenierung des Grabes des als heilig verehrten Klostergründers Erzbischof Heribert (amt. 999–1021) erbaut wurde und aus den anderen Aachen-Nachfolgen nicht herleitbar ist.

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de.69 Erst als 987 die als uneinnehmbar geltende Festung vermutlich durch Verrat fiel und vollständig geschliffen wurde, war die Position Bischof Notgers und Lüttichs gesichert. Die Kanoniker der abgetragenen Marienkirche von Chèvremont wurden an das Aachener Marienstift verlegt, mit dem sie schon seit 972 eine organisatorische Einheit gebildet hatten. St-Jean dürfte als Ersatz für das 987 aufgelöste Marienstift in der Festung seine Form nach Aachener Vorbild erhalten haben. Damit dürfte der Bau knapp vor der Jahrtausendwende errichtet worden sein. Insgesamt leisten diese Bauten auch keine eindeutigen Argumente für die Datierung von Westbau II von St. Pantaleon. Immerhin belegen sie die Verbreitung von Lisenengliederungen um 1000 oder 1020 im Kölner Umkreis. Nimmt man jedoch die kunsthistorischen Vergleiche in ihrer ganzen Problematik zusammen, so ist die Ansetzung der komplexen, zweischaligen Gliederung von St. Pantaleon erst in das 11. Jahrhundert kunsthistorisch nachvollziehbar und bietet eine stringente Entwicklungslinie, bei der auf der Formgrundlage der Lisenengliederungen, wie sie in Deutz und Lüttich erscheinen, der Westbaugliederung von St. Pantaleon mit der in dieser Zeit ebenfalls vorkommenden Pilastergliederung eine zweite Auszeichnungsebene hinzugefügt wurde. Vorbilder hierfür könnten vor allem karolingische Pilasterauszeichnungen wie beispielsweise an der Lorscher Torhalle gewesen sein, aber auch an Bauten wie dem Mainzer Dom wären dafür aktuelle Vorbilder benennbar. *** Dem stehen aber auf den ersten Blick aktuelle Ergebnisse entgegen, die bei baubegleitenden Untersuchungen 2020/2021 im Westbau von St. Pantaleon gemacht wurden.70 Hier wurden im Südquerarm des Untergeschosses am östlichen Schildbogen des Gewölbes unter dem Putz liegende Schalbrettreste aus dem originalen Mörtelbett geborgen, die nach der 14C-Bestimmung zwischen

69 Zu den historischen Gegebenheiten vgl. Falkenstein, Otto III. (Anm. 38), S. 61–70; vgl. auch Bernd Schneidmüller: Ottonische Familienpolitik und französische Nationsbildung im Zeitalter der Theophanu, in: von Euw/Schreiner (Hg.), Kaiserin Theophanu (Anm. 31), Bd. 2, S. 345–359, insb. S. 354 f. 70 Für den Hinweis darauf danke ich Sebastian Ristow. Ulrike Heckner vom LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland hat mir auf Anfrage bereitwillig die Ergebnisse der noch laufenden Gesamtuntersuchung des Westbaus zur Einsicht gegeben. Vgl. inzwischen Ulrike Heckner: Über 1000 Jahre altes Bauholz aus dem Westbau von St. Pantaleon, in: Denkmalpflege im Rheinland 38, Heft 2 (2021). Nach Abschluss der Maßnahme ist ein größerer Beitrag im Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege geplant. Für die freundliche Möglichkeit, diese Ergebnisse zur Überarbeitung meines bereits 2019 verfassten Beitrags kurz vor seiner Drucklegung nutzen zu dürfen, und für einen kollegialen Austausch dazu danke ich Ulrike Heckner sehr.

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892 und 990 (Probe 1) und 892 und 992 (Probe 2) gewachsen sind.71 Die bei beiden Brettern relativ übereinstimmenden Kurven weisen eine starke Einkerbung um 930/940 zwischen zwei Plateaus auf, deren Höhepunkte zwischen den 890er und 920er Jahren sowie zwischen den 950er und 980er Jahren liegen, am Beginn der 990er Jahre aber noch einmal in einem Pik zeigen. Mit der Radiocarbonmethode wird der Zerfall der 14C-Atome gemessen, also der Zeitpunkt bestimmt, an dem das Holz noch gewachsen ist. Dabei gibt es aufgrund von Schwankungen immer Unsicherheiten, die umso mehr ins Gewicht fallen, je jünger die Proben sind. Zudem ist der Gehalt der 14C-Atome auch innerhalb eines Baumes in Kern- und Splintholz unterschiedlich, was bei den geringen Mengen Unschärfen zur Folge haben kann. Nicht zuletzt bestimmt das gemessene Wachstum des Holzes nur eingeschränkt dessen Fällzeitpunkt, der auch Jahre später liegen kann. Aus diesem Grund sind von den Messlaboren zur Kontrolle immer parallele dendrochronologische Untersuchungen gewünscht, die hier jedoch leider nicht vorliegen. 14C-Daten sind deshalb immer Annäherungswerte und nicht als absolute Datierungen zu verstehen, wenn auch in den letzten Jahren die Genauigkeit erheblich zugenommen hat. Für die Interpretation ist zudem entscheidend, wie schlagfrisch das Holz in den Bau eingebracht wurde. Im Fall des Westbaus von St. Pantaleon handelt es sich bei den beiden Schalbrettern um in aller Regel nicht abgelagertes Bauholz, das normalerweise nur einige Jahre alt war, wenn auch eine Wiederverwertung älterer Bauhölzer nie auszuschließen ist. Überträgt man die Höhepunkte der Kurven unmittelbar auf Baudaten, so machen sie eine Errichtung des Westbaus vor der Weihe von 980 nahezu unmöglich und datieren ihn frühestens in die 990er Jahre. Bei einer aufgrund der Untersuchungsmethode gebotenen Vorsicht in der direkten Übertragung ist eine Spätdatierung des Baus in das 11. Jahrhundert zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wird aber durch die Kurven auch nicht gestützt. Damit ergibt sich ein Problem für die kunsthistorische Datierung, die einer Frühdatierung aufgrund der Gliederungsformen an den erhaltenen Bauten entgegensteht. Hier treten naturwissenschaftliche und kunsthistorische Ergebnisse in Widerspruch, der auch nicht ohne Weiteres aufzulösen ist. Bei einer Bauzeit in den 990er Jahren verbindet sich der Westbau historisch eng mit der ab Mitte der 980er Jahre geplanten und 991 vollzogenen Bestattung von Kaiserin Theophanu. Im Typus einer ebenerdigen Westbaustruktur mit zentralem Eingang, offenem Mittelraum und durch je eine Mittelstütze abge71 Gutachten des Leibniz-Labors für Altersbestimmung und Isotopenforschung der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel vom 9. Februar 2021 (Dr. Christian Hamann). Frau Heckner danke ich für Einsicht in das Gutachten, Herrn Hamann für Erläuterungen.

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teilten seitlichen Annexen, über denen sich Emporen befanden oder befunden haben könnten, folgte er benediktinischen Westbauten wie in Essen-Werden (Mitte 10. Jahrhundert) und St. Patroklus in Soest (zweite Hälfte 10. Jahrhundert).72 Zwar ist die Rekonstruktion des Aufgehenden in Soest aufgrund der geringen Befunde sehr problematisch und erfolgt meist in Analogiebildung zu St. Pantaleon, was hier ein Zirkelschluss wäre, aber allein schon Werden belegt die Funktionalität dieses Bautypus für eine Abteikirche, wo über die Aufstellung des Grabes hinaus eine Nutzung vor allem für die Konventliturgie insbesondere am Osterfest zu erwarten ist, wie sie auch an anderen Bauten belegt werden kann.73 Das Kloster St. Pantaleon wurde bei seiner Gründung mit Mönchen aus dem Reformkonvent St. Maximin vor den Toren Triers besiedelt; seine ersten Äbte Christian (amt. 964–1001) und Reginbert (amt. 1011–1015) stammten von hier. St. Maximin und Kloster Fulda, vielleicht noch die wegen ihrer prominenten Gründung bedeutenden Abteien St. Mauritius in Magdeburg und Memleben waren im 10. Jahrhundert die wohl wichtigsten benediktinischen Leitbauten im bezüglichen Umfeld von St. Pantaleon. Der bald nach 934 begonnene Neubau von St. Maximin, in dem die Altäre 942 und 949 sowie 952 geweiht wurden,74 besaß einen monumentalen Westbau mit einer großen Westnische, der innen eine Westapsis entgegengesetzt war.75 Die zwischen 937 und 948 wiederaufgebaute, ursprüngliche karolingische Ratger-Basilika in Fulda war eine zweichörige Anlage.76 Dies gilt genauso für das unter Kaiser Otto II. (zusammen mit Kaiserin Theophanu) 979 in der Pfalz Memleben, wo sein Vater Kaiser Otto der Große und sein Großvater Heinrich I. gestorben waren, begründete Kloster, dessen Kirche mit zwei Querhäusern im Osten und Westen sowie Apsiden zu beiden Seiten stark an den Alten Kölner Dom erinnert.77 Da Kaiser Heinrich II. dem Kloster bereits 1015 weitgehend seine Rechte entzog, muss die heute noch teilweise erhaltene Kirche im letzten Viertel des 10. Jahrhun72  Vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 2, S. 1219–1231, insb. 1220– 1223 (Werden); Jacobsen/Schäfer/Sennhauser, Vorromanische Kirchenbauten (Anm. 66), S. 389–391 (Soest) u. 453 f. (Werden); von Schönfeld de Reyes, Westwerkprobleme (Anm. 12), S. 206–213. 73 Vgl. Beuckers, Westbauten (Anm. 33). 74 Vgl. Adolf Neyses: Die Baugeschichte der ehemaligen Reichsabtei St. Maximin bei Trier (Kataloge und Schriften des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Trier 6), Trier 2001, S. 100–190, zum Westbau S. 178–184. 75 Vgl. Helge Wittmann (Hg.): Memleben. Königspfalz, Reichskloster, Propstei, Petersberg 2001. 76 Vgl. Eva Krause: Die Ratgerbasilika in Fulda. Eine forschungsgeschichtliche Untersuchung (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und Diözese Fulda 27), Fulda 2002, S. 17 f., zum Westbau S. 71–110. 77 Vgl. ibid.

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derts entstanden sein. Stark umstritten sind die Befunde zum Mauritiuskloster, das Otto der Große 937 in Magdeburg gründete und in dem 946 Kaiserin Edith bestattet werden konnte, bevor sich die aus St. Maximin stammenden Mönche 963 in das Kloster Berge zurückzogen. Wenn sich die nördlich des heutigen Domes ergrabenen Reste auf die alte Mauritiuskirche beziehen lassen, dann besaß sie die sehr charakteristische gegenständige Apsidenlösung von St. Maximin.78 Bemerkenswert ist, dass alle diese Klosterkirchen bis zum Ausgang des 10. Jahrhunderts keine Außenbaugliederung zeigten. Es ist müßig, die weiteren prominenten Bauprojekte des 10. Jahrhunderts durchzugehen, denn das Bild ändert sich nicht: Der Westbau II von St. Pantaleon hat mit seinem komplexen Gliederungsreichtum im bekannten Denkmälerbestand des 10. Jahrhunderts unter den Bauten seines bezüglichen Umfeldes überhaupt keine Vorbilder oder Parallelen, selbst wenn man berücksichtigt, dass nicht für alle Leitbauten aufgehendes Mauerwerk aller Bauteile erhalten ist. Bezeichnend ist aber vielmehr, dass auch die Klosterkirche von St. Michael in Hildesheim, die in engster personeller Verflechtung mit St. Pantaleon ab 1010 unter der gleichen leitenden Person, Propst bzw. Abt Goderamnus, entstand, trotz höchstem Anspruch und großer Innovationslust keinerlei Außengliederung aufweist. In der Außengliederung des Westbaus von St. Pantaleon finden sich Frühformen des Würfelkapitells, die Günther Binding als „Übergang vom Kegelstumpf- zum Halbkugel-Würfelkapitell“ bezeichnet hat.79 Das Würfelkapitell tritt in seiner sonst frühesten Form in St. Michael in Hildesheim auf, weitere Beispiele finden sich seit den 1010/20er Jahren. Als früheste Vorformen benennt Binding (neben einem vollkommen vereinzelten Kapitell in der Regensburger Ramwold-Krypta) die Kapitelle in Zyfflich, die in den 1010/20er Jahren versetzt wurden und seiner Meinung nach vom eingestürzten Bau in Deutz von 1000/1003 stammen sollen.80 Eine allgemeine Verbreitung der Kapitellform findet sich ab den 1030er Jahren, wofür die ab 1028 erbaute Krypta des Speyerer Doms als Vorbild eine größere Rolle gespielt hat. Eine Datierung der Würfelkapitelle von St. Pantaleon in die 990er Jahre würden sie an den 78 Vgl. Rainer Kuhn: Die ottonische Kirche am Magdeburger Domplatz. Baubefunde und stratigraphische Verhältnisse der Grabungsergebnisse 2001–2003, in: ders. Et al. (Hg.): Aufgedeckt. Ein neuer ottonischer Kirchenbau am Magdeburger Domplatz (Archäologie in Sachsen-Anhalt, Sonderband 3), Halle 2005, S. 9–49; zum Magdeburger Dom und den umstrittenen Bauten des Domhügels vgl. zuletzt die Beiträge in Wolfgang Schenkluhn/ Andreas Waschbüsch (Hg.): Der Magdeburger Dom im europäischen Kontext. Beiträge des internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums zum 800-jährigen Domjubiläum in Magdeburg vom 1. bis 4. Oktober 2009 (more romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums 2), Regensburg 2012. 79  Binding, Köln oder Hildesheim (Anm. 46), S. 29. 80 Vgl. ibid., Zusammenfassung S. 30 f. Gegen die Zyfflich-These u. a. Beuckers, Heinrich II. und Köln (Anm. 40), S. 91.

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Abb. 4: Ansicht von St. Pantaleon im Skizzenbuch von Justus Finckenbaum (um 1660/65), Stadtmuseum Köln (aus: Fußbroich, Ausgrabungen 1983, S. 27).

Anfang der Überlieferung stellen, bevor die Verbreitung erst zwei Jahrzehnte später anzusetzen ist. Deutlich besser passen sie kunsthistorisch zu der Spätdatierung in die 1020/30er Jahre. In die gleiche Richtung weist auch die figürliche Bauskulptur des Kölner Westbaus (Abb. 4). Sie gehört zu den ersten Beispielen monumentaler Fassadenskulptur seit der Antike. Grundlegend ist nach wie vor die Besprechung durch Rudolf Wesenberg, 1977 widmete ihr Matthias Untermann den eingangs erwähnten Aufsatz in diesem Jahrbuch, 1993 behandelte Rainer Kahsnitz das Ensemble umfassend im Rahmen der Hildesheimer Bernward-Ausstellung und 2006 katalogisierte Sven Schütte die erhaltenen Fragmente erneut – um nur die wichtigsten der vielen Beiträge zu nennen.81 Nachdem in der älteren Forschung mangels anderer Vergleiche immer auf das Gerokreuz im Kölner Dom, das in den 970er Jahren entstanden ist, und die Essener Madonna aus den 980er 81 Vgl. Wesenberg, Bildwerke (Anm. 47), S. 21–23; Untermann, Skulpturenfragmente (Anm. 1); Michael Brandt/Arne Eggebrecht (Hg.): Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst. Kat. Dom- und Diözesanmuseum u. Roemer- und Peli­ zaeus-Museum Hildesheim 1993, 2 Bde., Mainz 1993, hier Bd. 2, Kat. Nr. IV-54, S. 221– 224 (Rainer Kahsnitz); Schütte, Geschichte (Anm. 17), S. 118–127.

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Jahren82 verwiesen worden war, ist es vor allem Untermanns Aufsatz zu verdanken, dass diese vermeintliche Nähe zurückgewiesen wurde – worin ihm die Forschung bis zuletzt sogar Hermann Fillitz folgt.83 Die Stilformen sind sehr spezifisch, aber innerhalb der sehr dünnen Überlieferung von Großskulpturen im 10. und 11. Jahrhundert nicht datiert einzuordnen. Schütte und Fillitz haben deshalb eine Mailänder Werkstatt vermutet, allerdings basieren ihre Vergleiche auf allein motivischen Übereinstimmungen insbesondere zu Elfenbeinen, während die erheblichen stilistischen Unterschiede dabei ausgeblendet werden. Die Heranziehung solcher Vergleichsbeispiele ist der Seltenheit zeitgleicher Skulptur und dem vollständigen Fehlen von Großskulptur geschuldet. Umso aussagekräftiger ist das schon lange von der Forschung erkannte Verhältnis zur Bronzeplastik in Hildesheim, die dort ab 1015 wohl unter dem ehemaligen Probst von St. Pantaleon, Goderamnus, etabliert wurde.84 Aber auch im näheren Umfeld zu dem in nicht unerheblichen Teilen aus römischem Altmaterial erbauten Westbau II von St. Pantaleon gibt es einen direkt vergleichbaren Kopf: In (Bonn-)Dietkirchen wurde mitten im alten Römerkastell Anfang des 11. Jahrhunderts ein Benediktinerinnenkloster gegründet, das sich einer frühen Förderung durch Kaiser Heinrich II. erfreuen konnte.85 Die Frühgeschichte des Ortes hat Sebastian Ristow vor einigen Jahren anhand der archäologischen Befunde diskutiert.86 Zur Rekonstruktion der Kirche, die bei den auf das Römerlager zielenden Ausgrabungen unter Walter Sölter offenbar kaum interessiert hat, ist man auf die stiefmütterlich behandelten, wenigen Grundmauern angewiesen, die einen Saalbau mit polygonalem Chorschluss belegen, dem eine dreischiffige Außenkrypta vorgelagert war.87 82 Zur Goldenen Madonna vgl. Wesenberg, Bildwerke (Anm. 47), S. 17 f.; zuletzt Klaus Gereon Beuckers: Bemerkungen zum Filigran der Goldenen Madonna von Essen, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 69 (2015) S. 57–76. 83  Hermann Fillitz: Beobachtungen zu den Skulpturenfragmenten von St. Pantaleon in Köln, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 68 (2014) S. 295–296. 84 Zu Goderamnus vgl. zuletzt Binding, Michaelskirche (Anm. 6), S. 75–78; zur Hildesheimer Produktion immer noch grundlegend Rudolf Wesenberg: Bernwardinische Plastik. Zur ottonischen Kunst unter Bischof Bernward von Hildesheim, Berlin 1955. 85 Zur Geschichte Dietkirchens immer noch grundlegend Karl Friedrich Brosche: Die Geschichte des Frauenklosters und späteren Kanonissenstifts Dietkirchen bei Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1550, Diss. Bonn 1951. Vgl. auch Alheydis Plassmann (Hg.): 1000 Jahre Kirche im Bonner Norden, Neustadt an der Aisch 2015; Rudolf Schieffer: Königswinter, die Grafen von Weimar und die Ezzonen. Zum Verständnis von DH II 333, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 218 (2015) S. 7–14. 86  Sebastian Ristow: Die Dietkirche in Bonn. Archäologie und Geschichte ihrer Frühzeit, in: Plassmann (Hg.), 1000 Jahre (Anm. 85), S. 11–25. 87 Vgl. die Grabungsskizze mit den Grundmauern der Kirche bei Ristow, Dietkirche (Anm. 86), S. 17. Zur Kirche vgl. Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 1, S. 123 f.; Beuckers, Ezzonen (Anm. 30), S. 122–125. Vgl. auch Gundula EisingOellers: Archäologie zwischen Wohnbauten. Rekonstruktion der Bonner Dietkirche

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Aussagekräftiger ist ein Stich von 1588, den Kubach/Verbeek in die Diskussion eingebracht haben. Er zeigt den teilzerstörten Zustand der Anlage nach den Verwüstungen im Truchsessischen Krieg 1581/84 vor dem Neubau, der wiederum 1673 durch die Verlegung des Stiftes in die Stadt aufgegeben wurde. Obwohl für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts Sammlungen und Ablässe für die baufällige Kirche überliefert sind, scheint der Bau des 11. Jahrhunderts bis in das 16. Jahrhundert Bestand gehabt zu haben. Dem Stich nach handelte es sich um eine monumentale Saalkirche mit eingezogener Ostapsis. Im Westen ist eine ausgreifende Westwand mit Mittelgiebel über einem ruinösen Mittelteil zu sehen, deren zugehöriges Bauwerk in der Tiefe nicht angegeben ist. Es handelte sich entweder um ein durchgehendes Westquerhaus mit direkt anschließender Apsis oder um einen ursprünglich kreuzförmigen Westbau. Kubach/ Verbeek vermuten aufgrund des Petruspatroziniums und der zur gleichen Zeit auf der anderen Rheinseite und von der gleichen Äbtissin erbauten Vilicher Frauenkirche eine Nachfolge des Kölner Domes durch ein Westquerhaus.88 Ein kreuzförmiger Westbau hätte besonders enge Gemeinsamkeiten mit St. Pantaleon, von wo auch die monumentale Saalform eindeutig beeinflusst wurde. Zum Kirchenbau gehörte jedenfalls ein im Schutt gefundener, monumentaler Kalksteinkopf aus römischem Altmaterial, der sich heute im Rheinischen Landesmuseum in Bonn befindet.89 Rudolf Wesenberg, dem die bisher ausführlichste Behandlung zu verdanken ist, hat ihn in der Nachfolge der Westbauskulptur von St. Pantaleon motivisch und stilistisch besonders mit deren Hildesheimer Nachfolge verglichen. Beispielsweise in der Augenanlage mit fehlendem Lid sah er Parallelen zu den Werken der auf 1015 datierten Hildesheimer Bronzetüre und mittelbar in der um 1020 entstandenen dortigen Bronzesäule.90 Daraus hat er eine Datierung „um 1015“ abgeleitet, die jedoch his-

und des römischen Lagers für einen ‚Archäologischen Park‘ innerhalb eines Wohngebietes, in: Rheinische Heimatpflege 15 (1978), S. 274–276. 88 Zu Vilich vgl. Achter, Stiftskirche St. Peter (Anm. 16); Kubach/Verbeek, Romanische Baukunst (Anm. 8), Bd. 2, S. 1187–1191; Beuckers, Ezzonen (Anm. 30), S. 128–131; Helga Giersiepen: Das Kanonissenstift Vilich von seiner Gründung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 53), Bonn 1993. 89 Vgl. Wesenberg, Bildwerke (Anm. 47), S. 25 f.; Beuckers, Ezzonen (Anm. 30), S. 126 f. 90 Wesenberg, Bildwerke (Anm. 47), S. 25: „Der Kopf gehört zwar nicht zum Kölner Zyklus […], aber er gehört stilistisch eindeutig in deren Nachfolge. Der Vergleich mit den Köpfen Nr. 1 und 3 läßt keinen Zweifel daran.“ Zur Skulptur des Westbaus von St. Pantaleon vgl. ibid., S. 21–23; ders.: Die Fragmente monumentaler Skulpturen von St. Pantaleon in Köln, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 9 (1955), S. 1–28; Untermann, Skulpturenfragmente (Anm. 1); Brandt/Eggebrecht (Hg.), Bernward (Anm. 81), Bd. 2, Kat. Nr. IV-54, S. 221–224 (Rainer Kahsnitz); Schütte, Geschichte (Anm. 17), S. 117–130 mit einem Katalog der Skulpturenreste.

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torisch nicht haltbar ist, da das Kloster Dietkirchen erst 1015 gegründet wurde und mit dem Neubau der ambitionierten Kirche nicht vor den 1020/30er Jahren begonnen worden sein kann. Zu diesem Zeitpunkt war das junge Kloster bereits in die Hand der Pfalzgrafenfamilie übergegangen und erlebte unter Äbtissin Mathilde, die frühestens Mitte der 990er Jahre geboren sein kann und 1021 erstmals als Äbtissin von Dietkirchen überliefert ist, eine erste Blüte.91 Trotz einer gewissen Vereinfachung der skulpturalen Anlage etwa bei der Augenzeichnung ist das Haupt in der Kopfanlage und der Proportionierung der Skulptur von St. Pantaleon auffallend ähnlich. Die abweichende Bartzeichnung hat Wesenberg durch Hildesheimer Werke in kölnischer Tradition und den Kopf des Kruzifixus der Sammlung Neuerburg im Museum Schnütgen in Köln überzeugend erklärt. Ohne die Fassadenskulptur des Westbaus von St. Pantaleon ist der Kopf jedenfalls nach einheitlicher Einschätzung der Forschung nicht erklärbar. Damit steht der Bau der Dietkirche nicht nur in seiner Saalform und möglicherweise seinem Westbau, sondern auch in der Skulptur in der direkten Nachfolge von St. Pantaleon. Demnach muss der Kölner Westbau spätestens in den 1020/30er Jahren rezipierbar gewesen sein. Dies spricht einerseits gegen die Vorschläge einer Datierung des Kölner Westbaus erst in die 1030/40er Jahre, andererseits macht die große Nähe des Dietkirchener Kopfes zur Skulptur von St. Pantaleon dessen Bau bereits in den 990er Jahren eher unwahrscheinlich. Insgesamt spricht der überlieferte Denkmälerbestand kunsthistorisch in jedem dieser Aspekte für eine Datierung von Westbau II in das 11. Jahrhundert. Aufgrund der Rezeption in der Dietkirche liegt dabei eine Datierung in die 1020/30er Jahre nahe, wie sie die kunsthistorische Forschung zuletzt auch nahezu einheitlich vertreten hat. Der Bau wäre damit wohl im Episkopat von Erzbischof Pilgrim (amt. 1021–1036) erbaut worden. *** Das Kloster St. Pantaleon hatte im ausgehenden 10. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt. Unter seinem aus St. Maximin gekommenen Gründungsabt Christian (amt. 964–1001) war vor 980 die alte Abteikirche umgestaltet und offensichtlich ein Zentrum künstlerischer Betätigung etabliert worden. So haben die Ausgrabungen 1955–1962 eine Anlage zum Bronzeguss mit zugehörigem Ofen 91 Vgl. Beuckers, Ezzonen (Anm. 30), S. 38 f.; ders., Stiftungen (Anm. 38), S. 271 f. Die Unterstützung der Gründung durch Heinrich II. 1015 (MGH D[iplomata] H[enrici] II, 333) weist darauf hin, dass die Klostergründung nicht aus dem ezzonischen Umfeld heraus geschehen ist, obwohl für Ezzo als Graf im Bonngau und Pfalzgraf hier Verfügungsgewalt zu erwarten wäre. Offenbar geht die Gründung – wie die von Vilich eine Generation vorher – auf ein lokales Adelsgeschlecht zurück und wurde wenige Jahre danach schon 1021 durch die Ezzonen übernommen.

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nachgewiesen, dessen Holzkohlereste der 14C-Analyse nach vor 1030 datieren, während unter der Anlage Pingsdorfer Keramik des 10. Jahrhunderts dokumentiert ist.92 Unter Erzbischof Everger (amt. 985–999), der für Theophanus Grabstätte die Albinus-Reliquien besorgt hat, ihr zu Lebzeiten ein wichtiger politischer Rückhalt war und vermutlich auch ihre Bestattung in St. Pantaleon betrieben hat, erscheinen in Köln zwei Skriptorien, die Prachthandschriften hergestellt haben.93 Eine davon wird von einem Großteil der Forschung in St. Pantaleon lokalisiert. Nach der langen Regentschaft von Christian wurde das Kloster durch Abt Reginbert geleitet (amt. 1001–1015), der auch noch aus St. Maximin stammte und deshalb schon recht betagt gewesen sein dürfte. Über den dritten Abt, Kilian (amt. 1015–1019), ist wenig bekannt, jedoch scheint es Schwierigkeiten gegeben zu haben, die Erzbischof Heribert (amt. 999–1021) dazu bewegten, als vierten Abt seinen betagten Vertrauten Fulbert (amt. 1019–1021) einzusetzen, den er schon 1003 zum Gründungsabt von Kloster Deutz bestimmt hatte. Fulbert war dazu 1019 offenbar aber schon nicht mehr in der Lage und blieb ungeachtet seiner Kölner Würden vor allem als Abt von Mönchengladbach aktiv, wo er seit 1001 bezeugt ist und sein Grab fand. Mit der Leitung von St. Pantaleon betraute Heribert deshalb 1019 den Abt von Groß St. Martin in Köln, Elias (amt. 1019–1042). Elias war iroschottischer Mönch und brachte mehrere ‚Schottenmönche‘ nach St. Pantaleon, was zu Streitigkeiten innerhalb des Konventes und der Bitte an den Erzbischof um Absetzung von Elias führte. Bald nach der Übernahme durch Elias wechselte der Propst von St. Pantaleon, Goderamnus, 1022 auf den Abtsthron des neu gegründeten Michaelisklosters in Hildesheim.94 Ob es hier einen Bezug zu den Streitigkeiten im Konvent gibt, ist nicht überliefert. Nach der gut informierten, aber parteiischen Chronik von Marianus Scottus († 1082) soll Erzbischof Pilgrim (amt. 1021–1036) noch den Auszug der Schotten bestimmt haben, darüber aber verstorben sein; es könnte sich um eine Verwechslung mit Heribert

92 Vgl. Fussbroich, Ausgrabungen (Anm. 17), S. 399; Ristow, St. Pantaleon in Köln (Anm. 18), S. 159. 93 Zur Kölner Buchmalerei des 10./11. Jahrhunderts vgl. Peter Bloch/Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bde., Düsseldorf 1967–1970; Klaus Gereon Beuckers: Geschichte, Forschungsstand und Forschungsproblematik des Gerresheimer Evangeliars, in: ders./Beate Johlen-Budnik (Hg.): Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 1), Köln 2016, S. 13–64; Ursula Prinz: Die Ornamentik der ottonischen Kölner Buchmalerei. Studien zum Rahmenfüllwerk (Libelli Rhenani 71), Köln 2018; Klaus Gereon Beuckers/Ursula Prinz: Das Gießener Evangeliar und die „Malerische Gruppe“ der ottonischen Kölner Buchmalerei (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 7), Köln 2022. 94 Zu Goderamnus vgl. zuletzt Binding, Michaeliskirche (Anm. 6), S. 75–78.

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handeln.95 Was inhaltlich hinter den Streitigkeiten stand, kann kaum mehr geklärt werden. Marianus Scottus überliefert jedenfalls, dass Elias ein fertig geschriebenes Missale in das Feuer werfen ließ, weil der Mönch, der den Codex abgeschrieben hatte, dazu keine Erlaubnis eingeholt hatte.96 Insgesamt kam es nach dem Tod von Abt Christian 1001 zu einem Niedergang, der erst ab den 1020er Jahren unter Abt Elias wieder aufgefangen wurde, der jedoch seine Position zumindest in der Frühzeit gegenüber dem Konvent und dessen Traditionen zu verteidigen hatte. Ob damit die Abwanderung der Bronzewerkstatt (zusammen mit Goderamnus?) nach Hildesheim und die vorübergehende Unterbrechung der Buchmalerei-Produktion, die ab der Jahrtausendwende bis in die 1020/30er Jahre nicht mehr nachweisbar ist,97 zusammenhängt, kann offenbleiben. Keineswegs Zufall dürfte es sein, dass in dieser Zeit unter Kaiser Heinrich II. (amt. 1002–1024) die gesamte Entwicklung Kölns stagnierte und die Stadt sich politisch in eine Außenseiterposition manövriert hatte. In diesem Kontext dürfte an St. Pantaleon kaum ein exponierter Westbau erbaut worden sein, der sich zudem inhaltlich durch das Grab Kaiserin Theophanus dezidiert an die Goldene Zeit unter den sächsischen Ottonenkaisern anband. In den frühen 1020er Jahren kündigten sich allerdings das kinderlose Ende von Heinrich II. und damit ein Dynastiewechsel an. Köln brachte sich hierfür in Position. Die nächstverwandte Familie mit dem jetzt in männlicher Linie aussterbenden ottonischen Kaiserhaus war die ezzonische Pfalzgrafenfamilie, die durch die Heirat von Kaiserin Theophanus Tochter, Mathilde, mit Pfalzgraf Ezzo die einzigen direkten Nachfahren der sächsischen Ottonenkaiser waren und immer wieder dezidiert Bezug auf ihre ottonische Abstammung von Kaiserin Theophanu nahm. 1011 hatte sie im Streit mit Heinrich II. um das ottonische Erbe in der Schlacht von Odernheim (die auf beiden Seiten von Stellvertretern geführt wurde) der kaiserlichen Partei eine empfindliche Niederlage beigebracht, mit der Aussicht auf den kinderlosen Tod Heinrichs II. stabilisierte sich ihre Position und damit auch die Kölns und seines Erzbischofs wieder. In diese Situation fiel die Umsetzung des 1020 weitgehend abgeschlos95 Vgl. Kracht, Geschichte (Anm. 19), insb. S. 56 f. mit Zitat des betreffenden Passus (aus MGH SS V, S. 556 f.) in Anm. 7. Zur Chronik vgl. Anna-Dorothee von den Brincken: Marianus Scottus. Unter besonderer Berücksichtigung der nicht veröffentlichten Teile seiner Chronik, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 17 (1961), S. 191– 238. 96 Vgl. Kracht, Geschichte (Anm. 19), insb. S. 57. 97 Zur „Malerischen Sondergruppe“ der Kölner Buchmalerei, mit der die Produktion mit erkennbaren Anfangsschwierigkeiten wiedereinsetzt, vgl. Klaus Gereon Beuckers: Das Gundold-Evangeliar in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Bemerkungen zu einem Kölner Prachtcodex des 10./11. Jahrhunderts, in: Gabriella Rovagnati/ Peter Sprengel (Hg.): Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 2016, S. 41–65, insb. S. 62–64.

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senen Deutzer Bauvorhabens durch Erzbischof Heribert.98 Aufgrund der innerklösterlichen Probleme etwas später dürfte auch das Pantaleonskloster baulich aktiv geworden sein und mit dem Westbau II das Grab Theophanus inszeniert haben. Vermutlich fiel seine Bauzeit damit bereits unter die frühen Salier, die 1025/1028 ihre Bauten des Speyerer Doms und von Kloster Limburg an der Haardt begannen.99 In Köln bestand sowohl seitens der Pfalzgrafen als auch des Klosters ein großes Interesse an der Anknüpfung an ihre Bedeutung unter Theophanu und Otto III. Der noch von Heinrich II. aus dem fernen Bayern nach Köln geholte Erzbischof Pilgrim war mit dem Wegfall von dessen Protektion auf die regionalen Größen und damit die Nähe zu den Pfalzgrafen angewiesen. Es ist bezeichnend, dass er den Pfalzgrafensohn Hermann als Geistlichen förderte, der ihm dann auch 1036 bis 1056 im Amt nachfolgte.100 Zudem dürfte Pilgrim mit der Pfalzgrafenfamilie das gleiche Interesse an einer Rückkehr in die Herrschernähe und damit auf die Reichsbühne gehabt haben. Hierfür war die kaiserliche Tradition Kölns, die sich in dem Grab von Theophanu manifestieren konnte, ein wichtiges Argument. Nicht zuletzt hatte auch der neu eingesetzte Abt Elias von St. Pantaleon, dessen Position im Haus umstritten war, ein grundsätzliches Interesse an der Herausstellung seiner Abtei und insbesondere an dem Nachweis seiner persönlichen Aktivität und Leistungsfähigkeit, vielleicht auch dem Nachweis einer gewissenhaften Memorialpflege, die dem Kloster ja durch die Stiftungen Ottos III. auferlegt worden war. Der Rekurs auf die Tradition des Klosters, wie er über Theophanu möglich war, dürfte dafür ein besonders geeigneter Weg gewesen sein. Die Konkurrenz der „Schot 98 Vgl. Beuckers, Deutz (Anm. 40), S. 89–93.   99 Hierzu passt auch die späte Abfassung der Translatio sancti Albini (Anm. 41) in den 1040er Jahren, deren Text etwa 50 Jahre nach einer Aufstellung des Altares im Westbau erklärungsbedürftig wäre, bei einer Datierung des Westbaus und seiner Einrichtung in die 1020/30er Jahre jedoch einen Aktualitätswert besessen hätte, mit dem auch die Translation des Altares, die ja immer mit Besitzrechten verbunden ist, an diesen Ort legitimiert wurde. Aus diesem Legitimationswunsch erklärt sich auch der Passus zur Bestattung Theophanus, der den Zusammenhang von Grab und Altar unterstreicht. 100 Zu Hermann II. vgl. Oediger, Regesten Bd. 1 (Anm. 19), S. 225–242; Beuckers, Ezzonen (Anm. 30), S. 27–30 u. 176–222; ders., Stiftungen (Anm. 38), S. 278–283); Helmuth Kluger: Propter claritatem generis. Genealogisches zur Familie der Ezzonen, in: Hanna Vollrath/Stefan Weinfurter (Hg.): Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag (Kölner Historische Abhandlungen 39), Köln 1993, S. 223–258, hier S. 250–258. Vgl. zuletzt auch Christian Hillen: Zwischen Köln und Krakau, Klosterreform und Erzbistum. Zur Politik Erzbischof Hermanns II. von Köln (amt. 1036–1056), in: Klaus Gereon Beuckers/Andreas Bihrer (Hg.): Das Sakramentar aus Tyniec. Eine Prachthandschrift des 11. Jahrhunderts und die Beziehungen zwischen Köln und Polen in der Zeit Kasimirs des Erneuerers (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 3), Wien 2018, S. 261– 277.

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tenmönche“ zum Kloster Deutz mit seinem gerade fertiggestellten Bauprojekt dürfte hinzugekommen sein. Wie dort eine Stiftung Ottos III. umgesetzt worden war, so konnte sich auch der Westbau von St. Pantaleon auf die Einsetzung der Memorialaufgaben durch den letzten sächsischen Ottonen berufen; vielleicht stammten sogar Teile der finanziellen Mittel aus seinen Gaben oder seinem Erbe, über das die Pfalzgrafen seit der Schlacht von Odernheim 1011 erstmals verfügen konnten. Jedenfalls hatten alle Kölner Protagonisten seit Anfang der 1020er Jahre ein Interesse, durch einen exponierten, kaiserlich dimensionierten und ausgestalteten Westbau das Grab von Kaiserin Theophanu architektonisch herauszuheben. Man nutzte so die ottonische Tradition, um angesichts des anstehenden und dann vollzogenen Wechsels der Herrscherdynastie seine Position zu markieren – was ja auch erfolgreich war. Theophanu wurde dadurch zur Personifikation der Goldenen Zeit Kölns vor 1002 und zur Garantin der Blüte im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts. Hierfür wählte man in St. Pantaleon mit der zentralisierenden Architektur einen komplexen, in der Innenwirkung besonders monumentalen Bautyp mit Tradition, gestaltete diesen aber durch eine Adaption der aktuellsten und aufwendigsten Gliederungsformen der Zeit mit Lisenen und Rundbogenfriesen aus und legte darüber hinaus dieser noch eine antikisierende Pilastergliederung in rotem Sandstein aus erkennbar fernen Steinbrüchen auf, die an den antiken Inkrustationsreichtum erinnerte und so dem Bau eine kaiserliche Note gab. Man verdichtete also die bisherigen Formen zur Steigerung der Wirkung und des Anspruchs, schuf so einen Entwicklungsfortschritt in der Architekturgliederung, der auf Jahre hin markant und spezifisch blieb.

Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter: Chronologie, Aussehen, wirtschaftliche und soziale Aspekte von Klaus Militzer

Einleitung – Die Wehrhaftigkeit der Stadt Köln Wie im Einzelnen die Wehrhaftigkeit der Stadt Köln aussah, haben Toni Heinzen und im Anschluss an dessen Arbeit Brigitte Maria Wübbeke analysiert und beschrieben. Beide sehen in dem Ende der „Geschlechterherrschaft“ von 1396 einen Bruch mit einer älteren Tradition. Während vor 1396 die Wehrorganisation im Wesentlichen auf bestimmte städtische Orte bezogen war, wurde sie nach 1396 genossenschaftlich organisiert. Allerdings sollte man nicht übertreiben und die Prinzipien zu Tode reiten. Beide Autoren haben vielmehr darauf hingewiesen, dass auch nach dem Verbundbrief von 1396 das räumliche Prinzip im Wach- und Alarmwesen im Wesentlichen beibehalten worden sei.1 Während im Ernstfall die engagierten Söldner im Allgemeinen nicht ausreichten, mussten die Bürger und Eingesessenen selbst die Sicherung und Verteidigung der Stadtmauern in die Hand nehmen. Dazu dienten auch die Schießübungen, an denen die Bürger und Eingesessenen Kölns teilnahmen. Die an Turnieren beteiligten Bürger gehörten weitgehend der Vergangenheit vor 1396 an. Vor diesem Jahr nahmen Angehörige der „Geschlechter“ an ihnen, die meist Adlige veranstalteten, teil. Zwar gab es auch über den Verbundbrief von 1396 hinaus noch Turniere. Aber sie wurden vielfach ohne Beteiligung von Bürgern bestritten2, eben weil Angehörige der Geschlechter als Teilnehmer weitgehend ausgefallen waren. Die nach der „Revolution“ von 1396 lebenden

1 Toni Heinzen: Zunftkämpfe, Zunftherrschaft und Wehrverfassung in Köln. Ein Beitrag zum Thema „Zünfte und Wehrverfassung“ (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 16), Köln 1939, S. 60 f., 91ff.; Brigitte M. Wübbeke: Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 91), Stuttgart 1991, S. 56. Es sei auch auf den Eid aus dem Jahr 1467 verwiesen, den ein jeder Neubürger zu leisten hatte, Walther Stein (Bearb.): Akten zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 10), Bonn 1893–1895, hier I, S. 409 Nr. 213; Beschlüsse des Rates der Stadt Köln, bearb. von Manfred Huiskes und Manfred Groten, 6 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 65), Düsseldorf 1988–2003, hier I, S. 345 Nr. 1467,30. 2  Wolfgang Herborn: Die mittelalterlichen Kölner Fastnachtsturniere, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 36 (2005–2006), S. 25–44, hier S. 32ff.

Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 43–126

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Bürger und Eingesessenen übten vor allem das Schießen mit der Armbrust und später mit Büchsen. Es stehen für die Analyse der Befestigung Kölns vorwiegend im Mittelalter mehrere schriftliche Quellen zur Verfügung. Sie wurden weitgehend ausgewertet. Dagegen sind die archäologischen Überreste nur zum Teil herangezogen worden, weil die Auswertung derartiger Quellen den gelernten Archäologen vorbehalten bleiben sollte. Allerdings haben sich solche Wissenschaftler rar gemacht. Die Reste der Umwallung sind in die Darstellung eingeflossen. In neuester Zeit hat Dominik Greifenberg Fragen gestellt, die sich zwar vorwiegend auf Darstellungen zur Befestigung beziehen.3 Aber die Fragen und Anmerkungen sind doch grundsätzlicher und lassen viele, die als Allgemeingut in die Kölner Überlieferung eingeflossen sind, wieder fraglich erscheinen. Schon deshalb soll an geeigneter Stelle auf dessen Arbeit näher eingegangen werden. Die folgende Arbeit beruht fast ausschließlich auf schriftlichen Überlieferungen. Sie bilden jedenfalls das Rückgrat der Untersuchung vorzüglich zu der Stadtmauer und zu den Stadt- oder Tortürmen, und zwar vor allem nach 1180, dem Jahr, in dem der Mauerbau und der der Stadttore zur Feldseite hin begann. Trotz allem kann manche Frage an das überlieferte schriftliche Material zwar gestellt, aber keine eindeutige Antwort darauf gefunden werden, zumal die herangezogenen Quellen keine derartige Aussage erwarten lassen und auch in Zukunft ein eindeutiges Zeugnis verweigern werden. Die Untersuchung gliedert sich in folgende Unterpunkte. Erstens wird Kölns Befestigung im Überblick von den Anfängen unter den Römern bis zum Ende des Mittelalters beschrieben. Sodann wird in diesem ersten Teil der Untersuchung das Aussehen der Tortürme und Mauern auf der Feld- wie auch der Rheinseite behandelt. Dann beschreiben wir die Tortürme und die städtische Wirtschaft, soweit die Quellen dazu Aussagen erlauben, und auch die soziale Zusammensetzung an den Straßen zu den entsprechenden Türmen. Im zweiten Teil der Darstellung, der im folgenden Jahrbuch 85 des Kölnischen Geschichtsvereins publiziert werden wird, kommen wir auf die Wache an den Tortürmen auf der Feld- wie auch der Rheinseite und auf der Mauer zu sprechen. Darüber hinaus wenden wir uns der Bewaffnung auf den Toren, der Mauer und den Bürgern zu. Sodann kommen wir zu den Gefangenen auf den Tortürmen. Wir sagen etwas über die Übungen der Bürger, denn um den Wachdienst versehen zu können, mussten Bürger und Eingesessene sich mit den Waffen auskennen 3  Dominik Greifenberg: Die Stadtmauer als Objekt korporativer Identifikation? Zur symbolischen und soziokulturellen Bedeutung der Stadtmauer für die Kölner Kommune im Hoch- und Spätmittelalter, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 218 (2015), S. 45–94.

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und damit üben, wie oben schon beschrieben wurde. Am Schluss des zweiten Teils widmen wir uns dem Kölner Umland jenseits der Mauern. Mit dem vorgestellten Programm hoffe ich, die meisten Fragen zur Kölner Wehrhaftigkeit im Mittelalter beantwortet zu haben. Es ist nicht zu übersehen, dass Köln seit dem 11. Jahrhundert nicht mehr erobert wurde. Als das französische Heer 1794 kam, erklärte die Stadt Köln sich besiegt und lieferte die Schlüssel für die Stadttore aus. Bis zu dem Zeitpunkt war die Stadt nicht erobert worden. Das heißt nicht, dass Köln einem entschlossenen Feind mit ihren Befestigungsanlagen standgehalten hätte. Es ist wohl eher der klugen Schaukelpolitik Kölner Bürger oder seines Rats zu verdanken, dass in der angegebenen Zeit die Stadt nicht eingenommen wurde.4 Während des späten Mittelalters schloss der Rat mit benachbarten Adligen und Fürsten Verträge, die sie davon abhielten, Köln zu belagern oder gar zu erobern und auch den Handel zu benachteiligen.5 Jedenfalls konnte der Kölner Rat seit dem 11. Jahrhundert die Stadt vor einer gewaltsamen Eroberung bewahren. Wie das vor allem im 13.–15. Jahrhundert geschehen ist, soweit es sich um die Befestigungshoheit gehandelt hat, soll auf den folgenden Seiten beschrieben werden. Dabei wird das Augenmerk vor allem auf die Zeit nach 1180, also nachdem die heute noch sichtbare oder auch von den Preußen abgerissene Stadtmauer erbaut worden war, gerichtet sein.

Die Kölner Stadtmauer im Laufe der Zeit Wie die Römermauer ausgesehen hat, ist heute nur noch in Ansätzen zu erkennen. Es haben sich zwar Reste der alten Mauer erhalten, aber sie sind in der Regel von Anbauten schon während des Mittelalters verunstaltet worden. Immerhin haben sich auch Türme erhalten, von denen der Eckturm im nordwestlichen Viertel und der Helenenturm der Westmauer stehen geblieben sind. Die Türme der Römermauer sind in der Mehrzahl nach innen offen gewesen. Besonders hervorgehoben wird die Griechenpforte, die ein Tor innerhalb der römischen Stadtmauer gewesen ist.6 Die Römerstadt hatte allerdings mehrere Tore, von denen die Straße von der Hohen Pforte über den Domvorplatz den 4 Vgl. auch Hans-Wolfgang Bergerhausen: Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Ein Beitrag zur korporativen reichsständischen Politik 1555– 1616 (Veröffentlichung des Kölnischen Geschichtsvereins 37), Köln 1990, S. 22ff. 5 Hans J. Domsta: Die Kölner Außenbürger. Untersuchungen zur Politik und Verfassung der Stadt Köln von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Rheinisches Archiv 84), Bonn 1973, passim; vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 213 f. 6 Hans Vogts (Bearb.): Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln. Die profanen Denkmäler (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, hg. von Paul Clemen, 7. Bd., 4. Abteilung), Düsseldorf 1930, S. 61.

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Rhein abwärts, also von Mainz bis nach Neuss und jeweils über beide Orte hinaus führte. Es gab auch ein zentrales Westtor, das später von dem Stift St. Aposteln überbaut wurde und ursprünglich zum Forum führte. Daneben sind weitere Tore möglich, die aber auch dem Mittelalter, also einer späteren Zeit entstammen könnten.7 Allerdings ist auffällig, dass die Tore von Kölns zweiter oder dritter mittelalterlicher Stadtmauer seit 1106 bzw. 1180 zumindest in den Torbauten den römischen ähneln.8 Man wird also davon ausgehen können, dass die Bewohner die römischen Tore und Türme zum Vorbild genommen haben. Die Römermauer stammt aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., wurde aber, wie gesagt, immer wieder umgebaut oder durch Mauerdurchbrüche verändert.9 Ob die Römermauer auf ihrer höchsten Erhebung Zinnen gehabt hat, wissen wir nicht genau. Es ist immerhin möglich, wenn die Darstellungen der tatsächlichen römischen Mauer entsprechen. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts nahmen die Franken die römische Stadt Köln ein und setzten sich dort fest.10 Die Franken ließen die Befestigungswerke aus der Römerzeit unbeschadet und benutzten sie wohl weiter, aber wie die Eroberung stattfand und wie die Franken die Mauer benutzten, wissen wir ebenfalls nicht genau. Es ist in der Sekundärliteratur erörtert worden, dass die Eroberung Kölns durch die Franken mehr oder weniger friedlich verlaufen sei.11 Es sind in der Folgezeit keine wesentlichen neuen Ergebnisse hinzuge-

7  Joseph Hansen: Köln. Stadterweiterung, Stadtbefestigung, Stadtfreiheit im Mittelalter, Düsseldorf 1911, S. 1ff.; Otto Doppelfeld: Kölner Wirtschaft von den Anfängen bis zur Karolingerzeit, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Köln 1975, S. 13–86, hier S. 29 und die Abb. S. 30; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 60 f.; Peter Fuchs (Hg.): Chronik zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1400, Köln 1990, S. 47 mit der dortigen Abbildung. 8  Thomas Biller: Die mittelalterliche Stadtbefestigung im deutschsprachigen Raum. Ein Handbuch, 2 Bde., Darmstadt 2016, hier Bd. 1, S. 33. 9  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 60 f. 10 Otto Doppelfeld: Köln von der Spätantike bis zur Karolingerzeit, in: Herbert Jankuhn (Hg.): Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. Bericht über ein Symposium in Reinhausen bei Göttingen in der Zeit vom 18. bis 24. April 1972, Bd. 1 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, dritte Folge 83), Göttingen 1975, S. 110–129, hier S. 116 f.; Winfried Zäh: Machtwechsel am Rhein: Salvianus von Marseille beschreibt den Übergang zur fränkischen Herrschaft, in: Wolfgang Rosen/Lars Wirtler (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1: Antike und Mittelalter, Köln 1999, S. 59–63; Fuchs, Chronik, Bd. 1 (Anm. 7), S. 64. 11 Vgl. Doppelfeld, Köln (Anm. 10), S. 116; Doppelfeld, Wirtschaft (Anm. 7), S. 71; Eugen Ewig: Frühes Mittelalter (Rheinische Geschichte 1, 2. Teilbd.), Düsseldorf 1980, S. 9 f.; Friedrich Wilhelm Oediger: Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Geschichte des Erzbistums Köln 1), Köln ²1972, S. 71.

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kommen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass umstürzende Erkenntnisse aus dieser frühen Zeit noch zu Tage treten würden. Die Wikinger oder Normannen, wie sie auch genannt wurden, überwanden die alte Römermauer und eroberten Köln 881/82.12 Nachdem sie wieder abgezogen waren, wurde die im Wesentlichen römische Mauer ausgebessert und diente erneut der Verteidigung.13 Weshalb die Normannen die Stadtmauer so leicht, wie es scheint, überwinden konnten, wissen wir ebenfalls nicht genau. Es deutet aber viel darauf hin, dass die Römermauer ein für die vorhandene Bevölkerung zu großes Gebiet umschlossen habe.14 Wie auch immer die Reparaturarbeiten an der Mauer finanziert worden sind, wissen wir ebenfalls nicht, denn dazu fehlen alle Unterlagen. In der Folgezeit wurde die Rheinvorstadt besiedelt. Es ist nicht recht klar, seit wann die Vorstadt auf einer Insel mit einem verlandeten Rheinarm vor der Römermauer eingerichtet worden ist. Die Siedlungsanstrengungen reichten wohl in eine Zeit vor den Kaisern aus dem Haus der Ottonen, in die Zeit der Karolinger oder noch früher in die der Römer zurück. Die Vorstadt war im Übrigen hochwassergefährdet und ist wohl im Laufe der Zeit vom Fluss oft überflutet worden.15 Daher musste sie in jedem Fall erhöht werden. Das kann das Werk der interessierten Kaufleute oder der übrigen Bewohner der Vorstadt gewesen sein.16 Sicher ist oder scheint zu sein, dass Erzbischof Bruno I. (953– 12 Annales Fuldenses, hg. von Reinhold Rau, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Bd. 3 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 7), Darmstadt 1966, S. 20–177, hier S. 114; Edith Ennen: Kölner Wirtschaft im Früh- und Hochmittelalter, in: Kellenbenz (Hg.), Kölner Wirtschaft, Bd. 1 (Anm. 7), S. 87–150, hier S. 91; vgl. auch Ewig, Mittelalter (Anm. 11), S. 184; Oediger, Bistum Köln (Anm. 11), S. 96. 13 Annales Fuldenses (Anm. 12), S. 120, berichten zum Jahr 883 ausdrücklich von Reparationen, ohne allerdings Köln zu nennen; Ennen, Wirtschaft (Anm. 12), S. 91, spricht davon, dass 891 „der Wiederaufbau relativ abgeschlossen“ worden sei. 14 Klaus Militzer: Die Stadtmauer im Laufe der Zeiten. Das Kölner Beispiel, in: Fasciculi archaeologiae historicae 16–17, Łódź 2003/2004 (2005), S. 87–92, hier S. 87; vgl. auch Hermann Jakobs: Verfassungstopographische Studien zur Kölner Stadtgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: Hugo Stehkämper (Hg.): Köln, das Reich und Europa. Abhandlungen über weiträumige Verflechtungen der Stadt Köln in Politik, Recht und Wirtschaft im Mittelalter (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 60), Köln 1971, S. 49–123, hier S. 67. 15 Hansen, Köln (Anm. 7), S. 4ff.; vgl. Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde. (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung 2), Bonn 1910, hier Bd. 1, S. 35*. 16 Die Urkunde der Bruderschaft der omnes textorici operis cultores scilicet culcitrarum pulvinarum von 1149 mag davon noch zeugen, dass die Decklakenweber ursprünglich das Gelände ihres Bruderschaftshauses trocken gelegt haben; Heinrich von Loesch (Bearb.): Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 22), Bonn 1907, hier I, S. 25 f. Nr. 10; vgl. auch: Jakobs, Studien (Anm. 14), S. 76 f., der auf das sumpfige Gelände und die Auffüllungen verweist.

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965), der Bruder Ottos des Großen, die Herrschaft über die Stadt erhielt17 und das neu gewonnene Areal zu einem besonderen Hofzins ausgegeben hat.18 Ob der Zins dazu gebraucht wurde, die finanzielle Last des Mauerbaus in der Rheinvorstadt zu tragen, ist unbekannt. Auf weitgehenden Hypothesen beruht auch die Ansicht, dass dem Mauerbau in der sogenannten Rheinvorstadt die Anlegung von Gräben und Wällen vorausgegangen sei.19 Das ist im Übrigen dennoch als wahrscheinlich vorauszusetzen. Es deuten auch einzelne Angaben auf einen Mauerbau hin.20 Über die finanzielle Seite sind wir wie schon bei der Errichtung und Reparatur der Römermauer nicht informiert. Tatsache ist aber, dass Köln damals noch eine Bischofsstadt gewesen ist, in der der Erzbischof die unumschränkte Herrschaft und auch die finanziellen Mittel und Möglichkeiten für die Errichtung einer Mauer hatte.21 Auffällig ist nun, dass der sogenannte Saphirenturm zumindest seit dem 12. Jahrhundert dem Kloster St. Trond gehörte.22 Er stand an der Südostecke der Rheinvorstadt und diente, wie aus späterer Überlieferung hervorgeht, der Stadtverteidigung. Der Besitz des Klosters ist zwar erst für 1139 zweifelsfrei bezeugt23, muss allerdings älter sein. Es ist jedoch nicht mehr zu ermitteln, wie weit der Besitz in die Vergangenheit zurückzudatieren ist. Die Häuser in der Umgebung des Turms sollen von Erzbischof Everger (985–999) dem Kloster von St. Trond, das mit dem Kloster Groß St. Martin konkurrierte, geschenkt worden sein.24 Man könnte daran denken, dass der Erzbischof, insbesondere Bruno I., auswärtige und inwendige Stifte und Klöster zum Mauerbau herangezogen hat. Allerdings stößt diese These auf Schwierigkeiten, weil sich nicht nachweisen lässt, dass der Frankenturm im Nordosten der Rheinufersiedlung von geistlichen Institutionen errichtet worden ist. 17  Jakobs, Studien (Anm. 14), S. 59; Franz Steinbach: Der Ursprung der Kölner Stadtgemeinde, in: Franz Petri (Hg.): Collectanea Franz Steinbach. Aufsätze und Abhandlungen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, geschichtlichen Landeskunde und Kulturraumforschung (Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn), Bonn 1967, S. 659–670, hier S. 665ff. 18 Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter (im Folgenden: REK), bearb. von Friedrich Wilhelm Oediger et al., 12 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Bonn/Düsseldorf 1961–2001, hier I, Nr. 435; Jakobs, Studien (Anm. 14), S. 68ff. 19  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 62ff.; Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 45. 20  Hansen, Köln (Anm. 7), S. 6 f. 21  Jakobs, Studien (Anm. 14), S. 58 f.; Militzer, Stadtmauer (Anm. 14), S. 88; Hansen, Köln (Anm. 7), S. 5. 22  Keussen Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 63b Nr. 3; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 62 f. 23 REK (Anm. 18) II, Nr. 371; vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 63b Nr. 3; Hansen, Köln (Anm. 7), S. 6, datiert sogar bis in die Zeit um 1100 zurück. 24 REK (Anm. 18) I, Nr. 559; REK II, Nr. 371; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 63b Nr. 3.

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Im Gegenteil deutet nichts darauf hin, dass dieser Turm jemals im Besitz einer geistlichen Institution gewesen ist.25 Daher bleibt ungewiss, ob die Erzbischöfe seit etwa Bruno I. die Stifte und Klöster in ihrem Bereich zum Mauerbau herangezogen haben. Sicher scheint nur zu sein, dass die Bewohner des frühmittelalterlichen Kölns nicht in der Lage waren, die Kosten für einen wie auch immer gearteten Mauerbau zu übernehmen, und dass der erzbischöfliche Herr den Mauerbau gefördert haben muss. Im Laufe des 11. Jahrhunderts hat sich die Lage zugunsten der Bürger geändert. Nach Lampert von Hersfeld erhoben sich Einwohner Kölns 1074 gegen den Erzbischof und Herrn der Stadt, den Erzbischof Anno II. (1056–1074).26 Gewiss hat der Autor Lampert von Hersfeld die Kölner Bürger und Kaufleute karikiert und zu seinem Zweck auch lächerlich gemacht.27 Man kann aber davon ausgehen, dass sie schon in der Lage waren, ihre Interessen selbst gegenüber dem Erzbischof zu vertreten.28 Schließlich entkam Erzbischof Anno II. auf einem abenteuerlichen Weg den aufständischen Kölnern, weil er ein Tor benutzte, das ein Domkanoniker in die alte Römermauer innerhalb der Immunität geschlagen hatte.29 Damals und in der Folgezeit waren die Kölner dem Erzbischof und seiner Dienstmannschaft noch unterlegen.30 Anschließend hat 25  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 65*f., Sp. 121a-b Nr. 1; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 62 f. 26 Lampert von Hersfeld: Annalen, in: Monumenta Germaniae Historica Scriptores (im Folgenden: MGH SS) V (1844), S. 211–215; Lampert von Hersfeld: Annalen, neu übersetzt von Adolf Schmidt, erläutert von Wolfgang Dietrich Fritz (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13), Darmstadt 1962, S. 236–249; Uwe Neddermeyer: Der Aufstand gegen den Erzbischof 1074: Lampert von Hersfeld berichtet, in: Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen (Anm. 10), S. 109– 132; Klaus Militzer: Der Aufstand der Kölner gegen Erzbischof Anno II. von 1074, in: Tadeusz Grabarczyk et al. (Hg.): In tempore belli et pacis. Homines – Loca – Res. Prof. Jan Szymczak zum 60. Geburtstag, Warszawa 2011, S. 415–423; Hugo Stehkämper: Die Stadt Köln in der Salierzeit, in: Ders. (Hg.): Köln – und darüber hinaus. Ausgewählte Abhandlungen, 2 Bde. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 93), Köln 2004, hier Bd. 1, S. 353–445, hier S. 363ff. 27 Vgl. Tilman Struve: Art. „Lampert v. Hersfeld, Geschichtsschreiber“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp.1632 f. 28 Georg Jenal: Erzbischof Anno II. von Köln (1056–75) und sein politisches Wirken. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichs- und Territorialpolitik im 11. Jahrhundert, 2 Bde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 8), Stuttgart 1974–1975. Jenal spricht von „tiefer Erniedrigung“ (ibid., Bd. 1, S. 52) sowie von einem „glimmende[n] Hass der Kölner Bürgerschaft“ (ibid., Bd. 2, S. 396 f.). 29 Der Fluchtweg ist archäologisch fassbar und weitgehend rekonstruiert: Otto Doppelfeld: Die Domgrabung X. Die Ausgrabungen am Domkloster, in: Kölner Domblatt 14/15 (1958), S. 29 f.; Toni Diederich: Der Stadtherr, in: Anton Legner (Hg.): Monumenta Annonis, Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter. Eine Ausstellung des Schnütgen-Museums der Stadt Köln in der Cäcilienkirche vom 30. April bis zum 27. Juli 1975, Köln 1975, S. 30 f., vgl. seine Zeichnung auf S. 31. 30 Statt der zahlreichen Darstellungen vgl. Militzer, Aufstand (Anm. 26), S. 415ff.

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der Erzbischof die Stadt wieder in seine alleinige Botmäßigkeit gebracht und eine mehr oder weniger unumschränkte Herrschaft durchgesetzt. Der Kölner Gottesfrieden von 1083 zeigt klar, dass der Erzbischof und nicht das Bürgertum oder deren Repräsentanten das Sagen in der Stadt hatten.31 Nachdem Kaiser Heinrich IV. 1106 resigniert und die Herrschaft zwangsweise seinem Sohn Heinrich V. übergeben hatte, war ersterer entkommen und zunächst nach Köln und dann weiter nach Lüttich geflohen. Die Stadt samt ihren Bürgern schlug sich auf die Seite Heinrichs IV., Erzbischof Friedrich I. (1099–1131) unterstützte dagegen dessen Sohn Heinrich V. Der Erzbischof wurde auch deshalb aus der Stadt vertrieben.32 Die Bürger erweiterten 1106 und in der Folgezeit ihre Stadt zunächst um die Vorstädte Airsburg, Niederich und St. Aposteln, bezogen allerdings noch nicht so wichtige Stifte wie St. Severin, St. Gereon oder die Klöster St. Pantaleon und St. Mauritius ein.33 In ihnen hätte sich der Feind niederlassen und Stützpunkte für ein weiteres Vorgehen gegen die Stadtmauer schaffen können.34 Die seit 1106 errichteten Wälle oder Mauern waren nur schwer zu verteidigen, weil sie vielfältige Winkel für einen erfolgversprechenden Angriff boten. Gleichwohl konnte das anrückende Heer des neuen Königs Heinrich V. zwar die Stadt belagern, musste sich aber nach dem Tod seines Vaters zurückziehen, nachdem die Stadt Unterstützung vor allem von niederrheinischen Großen erhalten hatte. Zudem wirkte das Geld, das die Bürger dem neuen König Heinrich V. angeboten haben, so dass jener die Belagerung aufhob. Kaiser Heinrich V. hat also Köln zwar belagern, aber nicht erobern können. Sowohl die immerhin durch das Reichsheer erfolgte Belagerung als auch die Stadterweiterung bezeugen den nunmehr endgültigen Willen der Bürger nach Selbständigkeit.35 Sie gaben wohl das Geld sowohl für den neuen Bau der Verteidigungsanlagen wie auch für den Abzug des neuen Herrschers aus. Trotzdem wissen wir nicht, wie der Mauerbau von 1106 und der folgenden 31 Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, hg. von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, 6 Bde., Köln 1860–1879, hier I, S. 489ff. Nr. 31; REK (Anm. 18) I, Nr. 1152; vgl. Edith Ennen: Europäische Züge der mittelalterlichen Kölner Stadtgeschichte, in: Stehkämper (Hg.), Köln, das Reich und Europa (Anm. 14), S. 1–47, hier S. 16ff.; Stehkämper, Stadt Köln (Anm. 26), S. 386 f.; auch Hansen, Köln (Anm. 7), S. 9ff. 32  Oediger, Bistum Köln (Anm. 11), S. 131ff. 33 Nach der Kölner Königschronik und Lückerath ließ der abgesetzte König Heinrich IV. die Stadt mit Wall und Graben umgeben, Carl August Lückerath: Coloniensis ecclesia, Coloniensis civitas, Coloniensis terra. Köln in der Chronica regia Coloniensis und in der Chronica S. Pantaleonis, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 71 (2000), S. 1–41, hier S. 14. 34  Hansen, Köln (Anm. 7), S. 9ff.; vgl. auch Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 65ff. 35  Stehkämper, Stadt Köln (Anm. 26), S. 386ff. und besonders S. 389ff.; Bernd Fuhrmann: Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Darmstadt 2014, S. 65, 93.

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Jahre finanziert worden ist. Man kann höchstens vermuten, dass der Erzbischof als Stadtherr keinen Anteil daran gehabt haben wird.36 Die Stadt konnte sich sogar mit den errichteten Befestigungen gegen eine Belagerung ihres Stadtherrn und Erzbischofs Arnold I. 1139 behaupten.37 Ob die Belagerung mit einem Aufstand zusammenhing oder ob sie aus einem anderen Grund erfolgt sein könnte, wissen wir nicht. Allerdings geriet der Erzbischof zunehmend in eine finanzielle Abhängigkeit von den Kölner Bürgern, indem er von der Bürgerschaft 1.000 und vor allem von Gerhard Unmaze noch einmal 600 Mark Silber lieh und dafür Einkünfte und Liegenschaften in der Stadt am Rhein verpfändete.38 Nach der Stadterweiterung von 1106 ist ausdrücklich von der sogenannten „Judenpforte“ die Rede gewesen, die die in Köln ansässigen Juden zu bewachen hatten.39 Damals sind die Juden jedenfalls noch nicht aus der Gemeinschaft der Stadtbewohner ausgeschlossen worden, wie es später der Fall gewesen ist. Dafür spricht auch, dass die Kölner im 13. Jahrhundert ein eigenes Judenschreinsbuch einführten, in das Liegenschaften und Renten, die Juden gehörten, teilweise in hebräischer Sprache und Schriftzeichen mit lateinischer Übersetzung eingetragen wurden. Die Ghettoisierung der Juden und deren Wehrunfähigkeit sowie damit auch die Unmöglichkeit, sie zu Wachdiensten heranziehen zu können, setzten erst später ein. Im Laufe des 13. Jahrhunderts wurde dieser Prozess der Marginalisierung der Juden jedenfalls abgeschlossen. Es gab zwar noch eine „Judenpforte“. Aber sie wurde nicht mehr von Juden bewacht oder verteidigt. Die jüdische Gemeinde wurde vor der Schlacht von Worringen 1288 nur noch zu Geldabgaben für den Mauerbau herangezogen. Deren Beitrag für die Mauer wurde nach der genannten Schlacht deutlich erhöht.40 Allerdings haben Juden auch noch im 14. Jahrhundert – wenn auch 36 Hansen, Köln (Anm. 7), S. 10. 37 REK (Anm. 18) II, Nr. 366. 38 Quellen (Anm. 31) I, S. 570 f. Nr. 85; REK (Anm. 18) II, Nr. 1010; Sonja Zöller: Kaiser, Kaufmann und die Macht des Geldes. Gerhard Unmaze von Köln als Finanzier der Reichspolitik und der „Gute Gerhard“ des Rudolf von Ems (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 16), München 1993, S. 45ff. Übrigens hat der Kölner Erzbischof von Gerhard Unmaze noch mehr Geld geliehen; vgl. REK II, Nr. 1011; Robert Hoeniger (Bearb.): Kölner Schreinsurkunden des 12. Jahrhunderts. Quellen zur Rechtsund Wirtschaftsgeschichte der Stadt Köln, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 1), Bonn 1884–1894, hier I, Nr. 6. 39  Ennen, Wirtschaft (Anm. 12), S. 129; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 32*; Hans Planitz: Die Deutsche Stadt im Mittelalter. Von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, Graz/Köln ²1965, S. 278; Stehkämper, Stadt Köln (Anm. 26), S. 387 f.; vgl. auch Vogts, Denkmäler (Anm. 6) S. 70 f. 40 Planitz, Deutsche Stadt (Anm. 39), S. 278; Friedrich Lau: Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396 (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung 1), Bonn 1898, S. 177, 180ff.; vgl. auch den Vertrag des Erzbischofs mit

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vereinzelt – Wachdienste geleistet, und zwar immer dann, wenn es die Not erforderlich machte.41 Das Aussehen der Mauer um die Stadterweiterung von 1106 ist keineswegs eindeutig. Wir kennen nur etwas genauer die Tore, die die Erweiterung zum Feld hin öffneten, und einen Teil der Mauern. Die Gräben, die die Erweiterungen begrenzten, sind vereinzelt noch im heutigen Stadtbild vorhanden und auszumachen.42 Die Mauer um die Erweiterung von 1106 und auch die Tore wurden weitgehend bis auf Ausnahmen abgetragen. Es bleiben Ansichten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg von Toren, nämlich das Bach- und das Ehrentor sowie die Würfelpforte.43 Zudem sind in Einzelfällen auch noch die alten Gräben in Stadtansichten oder auch im Straßennetz bis in unsere Zeiten erhalten geblieben44, beispielsweise der „Alte Graben“ im Stadtteil Niederich. Jedoch ist die Stadterweiterung von 1106 im Lauf der Zeit hinfällig geworden. Der Kölner Erzbischof hatte sich damals und in der Folgezeit noch keineswegs aus Köln zurückgezogen. Erzbischof und Bürger arbeiteten vielmehr häufig zusammen, entzweiten sich aber auch, wenn die Interessen beider Seiten auseinanderzufallen drohten oder aus anderen Gründen, die nicht mehr eindeutig zu klären sind.45 Wir werden unser Augenmerk auf die Stadterweiterung von 1180 und die darauffolgenden Jahre und Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte und das Hauptinteresse auf die Mauer aus dem zwölften und 13. Jahrhundert und der folgenden Zeit richten, da die Überlieferung hierüber breiter und detaillierter ist als die für die alten Mauerzüge der Römerzeit und der Zeit der Stadterweiterung seit 1106. Vor allem ist deren Funktion in allen Teilen kaum jemals zu rekonstruieren. Nun also zu der Stadterweiterung von 1180 und der folgenden Zeit. 1180 hoben die Bürger einen Graben aus, der die Stadt auf der Feldseite in einem großen Halbkreis umgab und der Richtung folgte, die auch bis zur Preußenzeit die Stadt umschloss und nun die Stifte St. Severin, St. Gereon und die der Stadt von 1259 in Quellen (Anm. 31) II, S. 420 f. Nr. 402; REK (Anm. 18) III,1, Nr. 2080. Danach zahlten die Juden vier Schillinge jährlich für den Mauerbau. 41 Quellen (Anm. 31) V, S. 1ff. Nr. 1; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 66. 42 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 65 f. 43 Vgl. ibid., S. 66ff. Die Würfelpforte wird zur Verdeutlichung von Hypothesen immer wieder herangezogen: vgl. etwa Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 194. 44 An St. Aposteln erlaubte der Rat der Stadt 1378 einem Küster und Kanoniker den Gebrauch des Grabens und Platzes an seinem Haus, Quellen (Anm. 31) V, S. 259 Nr. 199, und 1389 wurde einem Kanoniker desselben Stifts erlaubt, eine Planke über den Graben beim Haus Benassis oder Benesis zu legen, ibid., S. 607 f. Nr. 435, vgl. auch Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 86 f. Nr. 70,3. 45 Vgl. beispielsweise Chronica regia Coloniensis (Annales maximi Colonienses), in: MGH, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum XVIII (1880), S. 75 zum Jahr 1138; vgl. auch REK (Anm. 18) II, Nr. 365.

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Klöster St. Mauritius und St. Pantaleon einbezog. Dem Erzbischof Philipp von Heinsberg (1167–1197) blieb nichts anderes übrig, als dem Vorhaben der Bürger zuzustimmen und sich für den Fall des Mauerbaus 2.000 Mark auszahlen zu lassen. Damit sollten das unrechtmäßige Vorgehen der Stadt und alle Rechtsansprüche insbesondere der Erzbischöfe abgegolten sein. Kaiser Friedrich Barbarossa bestätigte den Vertrag.46 Nun berichten alle Quellen, dass die Bürger entgegen der Zustimmung des Erzbischofs zunächst einen Graben ausgehoben und einen Wall aufgeschüttet hätten.47 Man wird auch davon ausgehen können, dass das Bauwerk 1180 noch nicht restlos fertig geworden ist. Allerdings können wir über das Ausmaß und die Schnelligkeit der Umwallung keine endgültige Klarheit erlangen.48 Immerhin ist den Quellen zu entnehmen, dass Rechte Dritter verletzt worden sind, derer sich der Erzbischof angenommen hat, ohne aber einen nachhaltigen Erfolg erzielen zu können. Da die Bürger der Stadt Köln die Zustimmung des Erzbischofs erkauften, wird man auch wieder unterstellen können, dass dieselben die Aushebung des Grabens, die Aufschüttung des Walles und später die Errichtung der Tortürme und der Mauer selbst finanzierten.49 Quellenangaben oder gar Rechnungen stehen dafür nicht zur Verfügung. Allerdings hat Kaiser Karl IV. den Kölnern zum Jahr 1355 zugestanden, dass sie wie bisher Steuern und Akzisen auch zum Mauerbau verwenden und erheben dürften.50 Ob die Privilegienbestätigung jedoch auch auf die Zeit um 1180 bezogen werden darf, bleibt ebenso ungewiss wie so vieles in der Kölner Geschichte. Nachdem 1187 der Kölner Erzbischof inzwischen wieder mit der Stadt versöhnt worden war, die Bürger Kölns dagegen fürchten mussten, dass der Kaiser mit Heeresgewalt wie früher gegen das Erzbistum und vor allem die Stadt Köln vorgehen könnte, haben die Kölner, wie berichtet wird, die Tore 46 Quellen (Anm. 31) I, S. 582ff. Nr. 94 f.; REK (Anm. 18) II, Nr. 1148 f.; vgl. auch Johannes Helmrath: Eine kaiserliche Urkunde für Köln: Die Stadterweiterung von 1180, in: Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen (Anm. 10), S. 154–162; Oediger, Bistum Köln (Anm. 11), S. 156ff.; kritisch, aber im Ganzen zustimmend Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 55ff. 47 Die Chronica regia Coloniensis (Anm. 45), S. 131 spricht nur von einem Graben. 48 Günther Binding: Zum Kölner Stadtmauerbau. Bemerkungen zur Bauorganisation im 12./13. Jahrhundert, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 47 (1986), S. 7–17, hier S. 9: Er vermutet ein Gremium der Bürgerschaft, das den Mauerbau vorangetrieben habe. Das ist durchaus plausibel. Aber wie das mutmaßliche Gremium aussah und welche Kompetenzen es hatte, weiß man nicht genau. Er vermutet ebenfalls (ibid., S. 13) umfangreiche Bauunternehmungen. Aber auch über die erfahren wir aus den Quellen wenig. 49 Hansen, Köln (Anm. 7), S. 15ff. 50 Theodor Josef Lacomblet (Bearb.): Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins oder des Erzstifts Cöln, der Fürstenthümer Jülich und Berg, Geldern, Meurs, Cleve und Mark, und der Reichsstifte Elten, Essen und Werden (1301–1400), 4 Bde., Düsseldorf 1840–1858, hier III, S. 453ff. Nr. 547; Quellen (Anm. 31) IV, S. 413 Nr. 376.

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verstärkt, den Graben erneut erweitert und die Wälle erhöht.51 Im Jahr darauf söhnten sich der Erzbischof und die Stadt mit Kaiser Friedrich Barbarossa aus. Die Stadt hatte allerdings ein Tor bis auf das Gewölbe abzureißen und an vier Stellen jeweils 400 Fuß des Grabens zuzuschütten.52 Während die Herrichtung des Torturms wohl eine längere Zeit in Anspruch genommen haben wird, war die Zuschüttung von 1600 Fuß des Grabens eher symbolisch gemeint. Denn 1600 Fuß entsprachen allenfalls wenig mehr als 500 Metern. Beide Seiten konnten auf diese Weise ihr Gesicht wahren. Während wir den Quellen entnehmen können, dass schon 1180 Tortürme wohl aus Stein standen – sie mögen wie auch immer ausgesehen haben und gebaut worden sein – ist dagegen von einer Mauer noch keine Rede gewesen, sondern die Dokumente sprechen immer nur von einem Wall. Eine wie auch immer geartete Mauer wird im 12. Jahrhundert jedenfalls die Türme der Tore noch nicht verbunden haben. Sicher ist auch, dass 1187 oder 1188 kein Reichsheer mehr vor der Stadt aufgetaucht ist, sondern dass der Kompromiss von 1188 fernab von Köln, und zwar in Mainz, gefunden wurde. Allenfalls kann man 1205 ein Reichsheer in der Nähe Kölns vermuten. Ein letztes Mal hat 1205 ein solches Heer Köln bedroht und den Rhein blockiert, so dass in der Stadt auch ein Mangel entstand. Wie dieser Mangel im Einzelnen ausgesehen hat und wie er behoben wurde, wissen wir nicht, da sich darüber keine Quellen erhalten haben.53 Namentlich ist unbekannt, ob in der Stadt eine Hungersnot geherrscht hat. Jedenfalls scheint König Philipp von Schwaben die Stadt Köln fünf Tage lang mit einem nennenswerten Heer wenn nicht belagert, so doch in der Nähe gelegen zu haben, ohne Köln allerdings einnehmen zu können.54 Ob das aber genauso stimmt, wie es geschildert worden ist, wissen wir nicht, denn wir haben als Quelle nur die Kölner Königschronik. Immerhin ist der Erzählung zu entnehmen, dass die Stadt und ihre Befestigungsanlagen im 13. Jahrhundert ihre Bewährungsprobe bestanden. Allerdings hatte Köln einen Preis zu zahlen und musste sich am 11. November des Jahres 1206 in Koblenz dem König Philipp unterwerfen, 51 REK (Anm. 18) II, Nr. 1286; vor allem Chronica regia Coloniensis (Anm. 45), S. 136. Ob das allerdings so zutraf, ist nach wie vor umstritten. 52 REK (Anm. 18) II, Nr. 1317; Chronica regia Coloniensis (Anm. 45), S. 139: Außerdem hatte die Stadt dem Kaiser und seinem Hof noch 2260 Mark zu zahlen. Dass die Stadt schon am folgenden Tag die zerstörten Tore und Wallanlagen habe herrichten können, ist eine eher euphemistische Deutung. Man wird wohl davon ausgehen müssen, dass die Stadt schon am folgenden Tag mit der Herstellung des Tores und der Wallanlagen beginnen durfte. 53 Zu den Hintergründen Manfred Groten: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung 36), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 10ff. 54 REK (Anm. 18) III,1, Nr. 6; Chronica regia Coloniensis (Anm. 45), S. 176, 222.

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während König Otto IV. aus Köln nach Braunschweig floh.55 Man wird vermuten dürfen, dass wieder Geld geflossen ist, das den König gnädig gestimmt haben wird. Im Jahr darauf, am 30. April 1207, bestätigte Philipp von Schwaben den Kölnern unter anderem auch den Bau ihrer Mauer und das Recht, weitere Befestigungsanlagen aus eigenen Mitteln zu errichten.56 Zu dem Zeitpunkt hatten eine wie auch immer aussehende Mauer oder Mauerabschnitte schon bestanden, wie dem Dokument auch zu entnehmen ist. Zudem muss die Stadt schon weitere Befestigungsanlagen errichtet haben. Ob darunter Tore oder nur einzelne von ihnen zu verstehen sind, weiß man nicht. Nach den Baubefunden zu urteilen, ist es für die Tortürme zur Feldseite hin eher unwahrscheinlich, dass sie einer späteren Zeit entstammen sollten. Zudem ist aus der Urkunde zu ersehen, dass die Kölner ihre Mauern und sonstigen Befestigungsanlagen selbst finanziert haben. Freilich ist auch in diesem Fall den Dokumenten nicht zu entnehmen, wie sie es gemacht haben. Jedoch hat Kaiser Otto IV. den Kölnern 1212 erlaubt, drei Jahre lang von jedem Malter Getreide, das gemahlen oder zu Bier verarbeitet wurde, eine Abgabe pro munitione et opere civitatis zu erheben.57 Damit war der Mauerbau gemeint. Man hat zur Erklärung des Sachverhalts auf den Mauerbau anderer Städte, namentlich von Koblenz, verwiesen.58 Allerdings helfen Analogien zum Mauerbau solcher Städte in diesem Fall nur bedingt weiter.59 Wie die Verteidigung der Mauern vor dem Mauerbau seit 1180 organisiert war, wissen wir auch nicht genau. Dass die Kirchspiele der alten Römerstadt und der Stadterweiterung um St. Aposteln sowie die Sondergemeinden der südlichen und nördlichen eingemeindeten Vororte dabei eine Rolle gespielt haben, ist möglich, aber nicht ausdrücklich erwähnt.60 Man wird sich aber vorstellen können, dass die Kirchspiele bei der Finanzierung und der Aushebung der Gräben sowie bei der Errichtung der Tore und der Stadtmauer eine

55 Philipp von Schwaben, in: MGH Diplomata regum Francorum e stirpe Merowingica (im Folgenden: MGH D) II (1872), S. 298ff. Nr. 132 (datiert im Unterschied zu den anderen Angaben auf 1207, zwischen 19. und 30. Januar); Quellen (Anm. 31) II, S. 26ff. Nr. 23; REK (Anm. 18) III,1, Nr. 24; Chronica regia Coloniensis (Anm. 45), S. 180 (jeweils zu 1206). 56 Quellen (Anm. 31) II, S. 28 f. Nr. 24; REK (Anm. 18) III,1, Nr. 28; Regesta Imperii (im Folgenden: Reg. Imp.) V, Nr. 144. 57 Quellen (Anm. 31) II, S. 41 f. Nr. 36; Reg. Imp. V, Nr. 470. 58  Max Bär (Bearb.): Der Koblenzer Mauerbau. Rechnungen 1276–1289 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 5), Leipzig 1888, passim. 59 Vgl. z. B. Hansen, Köln (Anm. 7), S. 18 f. vgl. dagegen etwa Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 48ff. 60 Vgl. dazu vor allem Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 10ff.; auch Groten, Köln (Anm. 53), S. 87, und auch Fuhrmann, Mauern (Anm. 35), S. 69.

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bedeutende Rolle gespielt haben. Ungewiss bleibt aber dennoch der Anteil der Kirchspielsgenossen am Mauerbau und deren Bewachung. Im Dezember 1259 soll Erzbischof Konrad von Hochstaden die Stadt aufgefordert haben, einen Vertrag mit den in Köln lebenden Juden zu erneuern. Laut diesem Vertrag hätten die Juden immer dann vier Schillinge zu entrichten, wenn der Erzbischof eine Mark erhalte. Da die Mark zwölf Schillinge enthielt, war der Löwenanteil dem Erzbischof vorbehalten. In dem Vertrag wurde ferner geregelt, dass die Juden ihren Betrag dem opus civitatis zu zahlen hätten.61 Wenn damit der Befestigungsring um die Stadt gemeint gewesen sein sollte, waren auch die in Köln ansässigen Juden gezwungen, zur Vollendung des Mauerbaus, und sei es auch nur mit Geld, beizutragen. Nachdem es schon vorher zu Streitigkeiten zwischen der Stadt und dem Erzbischof wegen der Mauer und vor allem wegen einiger Punkte der Stadtverfassung gekommen war, ließ Erzbischof Engelbert II. 1262 beide Stadttore am Rhein, sowohl den Bayen- als auch den Kunibertsturm, einnehmen und ausbauen. Zuvor waren die inhaftierten Schöffen aus ihrem Gefängnis in Al­­ ten­ahr entkommen.62 Der Erzbischof ließ beide Tore zu „Zwingburgen“ errichten. Beide Tore sollen laut einer Quelle firmissima castra gewesen sein.63 Gottfried Hagen spricht in seiner Chronik sogar davon, dass der Erzbischof den Bayenturm mit einem Graben, einer Mauer und Zinnen wie eine Burg ausgestattet habe. Er habe den Turm tatsächlich zu einer Zwingburg gegen die Stadt ausgebaut.64 Den Kunibertsturm habe er ebenfalls stark befestigt (Abb. 1).65 Beide Tortürme müssen allerdings schon vor dem Eingreifen des Erzbischofs bestanden haben. Er kann sie also nur stärker befestigt haben. Bald danach haben die Bürger beide Verteidigungswerke eingenommen und den Erzbischof vertrieben. Letzterer belagerte zwar die Stadt, konnte sie aber nicht mehr einnehmen. Die vom Erzbischof ausgebauten Türme blieben jedoch erhalten. Nun nutzten die Bürger sie.66

61 Quellen (Anm. 31) II, S. 420 f. Nr. 402; REK (Anm. 18) III,1, Nr. 2080. 62 REK (Anm. 18) III,2, Nr. 2202; vgl. Wilhelm Janssen: Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter. 1191–1515, 2 Bde. (Geschichte des Erzbistums Köln 2), Köln 1995–2003, hier Bd. 1, S. 175ff. 63 Catalogus archiepiscoporum Coloniensium, continuatio Caesaris Heisterbacensis, in: MGH SS XXIV (1879), S. 157; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 75. 64  Karl Hegel et al. (Bearb.): Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, XII-XIV (Die Chroniken der niederrheinischen Städte – Cöln, I-III), Leipzig 1875–1877, hier XII, S. 93ff.; ibid., XIII, S. 30; REK (Anm. 18) III,2, Nr. 2206, 2210. 65 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 87. 66 Wilhelmi Chronica Andrensis, in: MGH SS XXIV (1879), S. 736; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 75.

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Abb. 1: Der Kunibertsturm und Teile der Stadtmauer, Ansicht von der Feldseite. Stahlstich von Wenzel Hollar (1643–46), Graphische Sammlung Greven (RWWA 538–174–3).

Erzbischof Engelbert II. wurde gefangen genommen und söhnte sich 1263 mit der Stadt aus.67 Was in den Sühneurkunden jedoch nicht enthalten ist, ist wohl die Tatsache, dass die Kölner dem Erzbischof Geld in Höhe von 4000 Mark angeboten haben, auch wenn sie die volle Summe zunächst nicht gezahlt haben sollten.68 Obwohl der Erzbischof die Sühne bestätigt hatte, sann er einen neuen Anschlag gegen die Stadt aus und belagerte sie 1265 acht Tage lang oder auch eine kürzere Zeit. Er hob die Belagerung jedenfalls ergebnislos auf und söhnte sich wieder mit der Stadt aus.69 Ausgelöst wurden die Probleme nicht nur durch einen Gegensatz zum Erzbischof, sondern auch durch Interessenkonflikte innerhalb der Stadt mit sogenannten „Bruderschaften“ und auch in der Führungsschicht, vor allem mit den sogenannten „Weisen“.70 1265 sei die Koalition des Erzbischofs besonders mit dem Herzog von Kleve auch wegen dessen Traum geplatzt. Denn er glaubte, die heilige Ursula zu sehen, die mit ihren 11.000 Jungfrauen die Stadt beschütze.71 Am 14. und 15. Oktober 1268 fand 67 Quellen (Anm. 31) II, S. 482ff. Nr. 460, 462, 469, 475; Lacomblet, Urkundenbuch (Anm. 50) II, S. 304ff. Nr. 537; REK (Anm. 18) III,1, Nr. 2261, 2276, 2300, 2319 f. 68 Gottfried Hagen, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 114 f.; Gottfried Hagen: Reimchronik der Stadt Köln, hg. von Kurt Gärtner et al. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 74), Düsseldorf 2008, S. 123 f. 69 REK (Anm. 18) III,1, Nr. 2334, 2337; Gottfried Hagen, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 129–137; auch Gottfried Hagen, Reimchronik (Anm. 68), S. 147– 151. 70 Vgl. Groten, Köln (Anm. 53), S. 269ff. 71 Gottfried Hagen, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 133; Gottfried Hagen, Reimchronik (Anm. 68), S. 152 f.; so auch die Kölner Jahrbücher des 14. und

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die sogenannte Schlacht an der Ulrepforte (Abb. 2) vor allem zwischen den „Weisen“ und deren Verbündeten und den Overstolzen und deren Parteigängern statt.72 Die an der Ulrepforte Eingedrungenen konnten sich nicht halten. Die Partei der „Weisen“ war danach endgültig geschlagen und musste die Stadt verlassen. Die Partei der Overstolzen hatte sich durchgesetzt. Die ehemals an der Ulrepforte angebrachte Plastik (Abb. 3) soll an den Durchbruch für angeblich 5000 Mann samt einer Anzahl an Pferden im Oktober 1268 erinnern. Die Tafel selbst stammt wohl aus der Mitte des 14. Jahrhunderts.73 Sie zeigt in der unteren Ebene eine Schlachtszene, in die auch Engel und Teufel eingebunden sind. Darüber stehen hinter einer mit Zinnen bekrönten Mauer sechs weibliche und sechs männliche Heilige, wobei im allgemeinen St. Gereon mit zwei Gefolgsmännern, die Heiligen Drei Könige und St. Ursula mit fünf Gefährtinnen gemeint sein sollen. Über jenen steht das Kruzifix samt zwei anbetenden Personen, die als Bürgermeister gedeutet werden. Über allem befindet sich das Kölner Stadtwappen. Eine Inschrift bezeugt, dass die Plastik an der Kartäusermühle, also der Ulrepforte, angebracht worden sei. Allerdings fand man über dem Mauerfundament eine Inschrift, dass 1268 in der Mohrennacht (14. Oktober) die Mauer durchbrochen worden sei.74 Für den vergeblichen Durchbruch durch die Stadtmauer gibt es außer diesem Kunstwerk kein Zeugnis über den Schutz der Stadt durch die Heiligen. Im Übrigen hält sich die Darstellung eng an die Aussagen des einzigen Chronisten, nämlich Gottfried Hagen. In der Schlacht bei Worringen am 5. Juni 1288 schlugen der Herzog von Brabant, seine Verbündeten und die Stadt Köln den Erzbischof Siegfried von Westerburg und dessen Verbündete. Der Erzbischof wurde gefangen und kam erst am 6. Juli 1289 wieder frei, nachdem er erhebliche Zugeständnisse hatte machen müssen. Die Kölner zerstörten sowohl das vom Erzbischof errichtete Schloss Worringen als auch das Schloss in Zons und benutzten angeblich die erbeuteten Steine zum Mauerbau rings um ihre Stadt.75 Seitdem war die Macht 15. Jahrhunderts, Rez. D, in: Chroniken der deutschen Städte XIII, S. 128. Sie gibt allerdings das Jahr 1269 an; vgl. auch die Koelhoffsche Chronik, in: Chroniken der deutschen Städte XIII, S. 606 f. Dazu Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 64ff. 72  Groten, Köln (Anm. 53), S. 288; REK (Anm. 18) III,2, Nr. 2401. 73  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 126. In den Stadtrechnungen ist sie 1378 als pictura foraminis apud muros civitatis, ubi alias fuit intratum genannt, Richard Knipping (Bearb.): Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters mit einer Darstellung der Finanzverwaltung, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 15), Bonn 1897– 1898, hier II, S. 308. 74  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 124 f. 75 Vgl. Wilhelm Janssen/Hugo Stehkämper: Der Tag bei Worringen: 5. Juni 1288 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 72), Köln/Wien 1988, passim; Janssen, Erzbistum (Anm. 62), Bd. 1, S. 192ff.; ferner REK (Anm. 18) III,2, Nr. 3193–3195 und öfter.

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Abb. 2: Die Ulrepforte zur Zeit der Stadterweiterung der 1880er Jahre (RWWA 162–725–1–014).

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Abb. 3: Relief zur Erinnerung an die Schlacht an der Ulrepforte (Replik), Sachsenring, 2021 (Foto: Philipp Schaefer).

der Erzbischöfe zumindest in der Stadt Köln gebrochen. Sie kamen zwar hin und wieder mit Heeresmacht vor die Stadt, konnten sie aber nicht mehr ernsthaft gefährden. Die Behauptung, dass Steine der eroberten Schlösser in Worringen und Zons zum Mauerbau in Köln verwendet worden seien, bleibt hingegen unbestätigt. Es könnte so gewesen sein, aber in den Mauerresten sind bislang keine Hinweise für eine Herkunft aus den genannten Schlössern zu finden gewesen. Die Mauer zwischen den Toren war durch Hecken geschützt. Das war auch schon so, bevor der zweite Graben ausgehoben wurde. Denn 1377 verpflichtete sich der Stadtschmied Wetzel, eine vůrhecke zu errichten.76 Es ist anzunehmen, dass eine solche „Vorhecke“ auch andere Mauerabschnitte geschützt hat. Schon vorher, nämlich 1376, gab es offenbar ein zweites Tor vor der eigentlichen Eigelsteinpforte.77 Es muss sich allerdings um ein Vortor gehandelt haben, das heute nicht mehr existiert. Von Anfang an war der Wall und die später errichtete Mauer durch einen vorgelagerten Graben geschützt, über den in der Regel eine Brücke zum jeweiligen Tor führte.78 Bereits 1374 begann ein Mann namens Rost mit seinen Mitarbeitern einen Graben zwischen dem Severinstor und dem Bayentor auszu76 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 280. 77 Ibid., S. 214; vgl. Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 2, S. 150. 78 Klaus Militzer: Ein Wahrzeichen der Größe und Freiheit Kölns. Die Hahnentorburg im Mittelalter, in: Axel Schwarz/Marcus Leifeld (Hg.): Die Hahnentorburg. Vom mittel-

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heben. Sie nannten diesen Abschnitt „Rennegraben“.79 Die Arbeit zog sich hin und war 1376 noch lange nicht erledigt. Sie bewegte sich 1376 in der Gegend des Schafentores.80 Erst 1386 umrundete wahrscheinlich der zweite Graben die gesamte Stadt zur Feldseite hin.81 Bald darauf wird die stehengebliebene Dammkrone mit Büschen bepflanzt worden sein, so dass die Überwindung beider Gräben erschwert wurde.82 Die Gräben wurden sowohl durch Bürger als auch durch die Burggrafen selbst, die eigentlich die Tore bewachen sollten, gefährdet. Einmal wurde Feuerholz benötigt, um die Öfen in den Torburgen heizen zu können. Das Holz dafür lieferten beispielsweise die Hecken auf den Dammkronen und vor den Toren. Sodann jagten Kölner in den Gräben Kaninchen, unter anderem mit Hunden oder Netzen, und trieben anderes Vieh seit 1335 oder schon früher in den Graben zum Grasen. Beides wurde vom Rat verboten.83 1444 sollten sogar diejenigen, die Güter jenseits der Mauern besaßen, die beiden Gräben hüten und notfalls wiederherstellen. 1435 verbot der Rat auch, clotz und kruyt in die Gräben zu werfen und mit der Zeit deren Abwehrfähigkeit zu untergraben. Der Rat tat alles, um die beiden Gräben sauber und instand zu halten. Er wiederholte sein Verbot mit anderen Worten in der Mitte des 15. Jahrhunderts84, was immerhin darauf hindeuten könnte, dass das Verbot nur in geringem Maße beachtet wurde. Jenseits der beiden Gräben hatten die Kölner mindestens vor den Toren sogenannte hammeden, hamedae, hameyden, hameide oder hameiden errichten lassen, die zunächst wohl als hölzerne Brustwehren zu verstehen sind, da Zimmerleute sie bauten und Holz dafür einkauften.85 1469 ist wiederum von alterlichen Stadttor zum Domizil der EhrenGarde der Stadt Köln 1902 e. V., Köln 2008, S. 9–32, hier S. 12. 79  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 144, 148, 223. 80 Ibid., S. 223 f. 81 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 136; XIV, S. 726; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 78; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 196; Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 70 Nr. 61,1. Stein spricht nach 1386 von einem neuen Graben, der um die Stadt herum angelegt worden sei und davon, dass kein Weg über den Graben gelegt werden solle. Vgl. auch HAStK, 1149/11 (Zander), Bd. IVA, S. 19, 21, 51. 82  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 12 f. 83  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 42 Nr. 6,XIV,8; S. 43 Nr. 6,XV,5 (1341), S. 55 Nr. 14 (1375–80), S. 55 f. Nr. 6 (1375–1380), S. 252 Nr. 92,X,11, 13, 15; XI, 5–7 (1407); S. 278 f. Nr. 107,VII,10, 12, 14 f.; VIII,5–7 (1413–1414). 84  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 349 f. Nr. 214,13. 85  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 12, 26 (1370), 60, 63 (1371), 90, 96, 98 f., 103, 105 (1372), 184 (1375), 232–234 (1376), 292 (1378), 405 (1469), 407 (1475). Knipping versteht unter den hammeden aber eher „Verhaue“ oder „Schlagbäume“, ibid., S. 475. Vgl. auch Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 392 Nr. 1470,79. Manfred Huiskes meint, dass das Wort „Gatter“ heiße. Das mag immerhin möglich sein, wenn man berücksichtigt, dass die als hameyden oder wie auch immer bezeichneten Stücke der Verteidigung dienten und von

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solchen hameiden die Rede.86 Aber hin und wieder sind in den Stadtrechnungen auch der Schmied Wetzel und ein Schlossmacher genannt, die die sogenannten hameden errichteten. 1469 und 1475 ließ der Rat sogar die hameden durch sogenannte curwechter bewachen.87 1488 hatten Torschließer auch Schlüssel für die Tore und die hameyden.88 Sie waren zunächst wohl für die Möglichkeiten zur Abwehr von Feinden aus Holz, wurden aber mit der Zeit durch steinerne ersetzt, bildeten also die erste Abwehrlinie zur Verteidigung der Stadt und lagen nicht weit von den Gräben und der Stadtmauer entfernt. Aber im 15. Jahrhundert, spätestens 1444, verpflichtete der Rat Bürger, die außerhalb der Stadtmauern Land hatten, dazu, die beiden Gräben zu pflegen, wie schon angedeutet worden ist, und die angebauten Hagen und Zäune aus lebendem Holz zu erhalten. Die Tätigkeit der genannten Bürger bezog die Schlagbäume im Vorfeld der Tore mit ein.89 Bereits 1435, vielleicht schon früher, ist von einem Hagen am Graben die Rede gewesen.90 1469 sind sogar Wächter der Anlagen hinter dem zweiten Graben genannt, sogenannte hameiden wechter oder ähnlich.91 Sie hatten dafür zu sorgen, dass die Anpflanzung am äußersten Graben gepflegt wurde, aber auch für die Wache vor den Toren. Wichtig ist, dass die Zahl der Wächter am äußeren Graben der Zahl der Wächter an den „offenen Toren“ entsprach. Nur die offenen Tore hatten auch sogenannte Bastionen, die die eigentlichen Tore schützen sollten. Anlässlich der Fehde mit dem Herzog von Burgund und des beginnenden Neusser Kriegs 1476 ist der äußere Graben durch Hecken, Hagen und Zäune oder durch Dornengestrüpp geschützt worden.92 Der Bayenturm sollte durch einen mannshohen Zaun, dem ein weiterer halbmannshoher Zaun vorausging, bewacht werden. Beide waren durch Weiden und Stechpflanzen zu sichern. Der zweite Graben war mit Rasen zu besäen. Am Severinstor sei die hemeide zu reparieren. In den den eigentlichen Toren vorgelagerten Bollwerken sei eine Brustwehr von vier Fuß Dicke und fünf Fuß Höhe mit Öffnungen für die Schützen aufzumauern. Vor dem Pantaleons-, vor dem Hahnen- und am Friesentor seien die schon vorhandenen Bollwerke auszubauen. Dabei sei das Friesentor schon geschlossen worden. Das Gereonstor Zimmerleuten errichtet werden konnten; vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 321b Nr. h. 86 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 405. 87 Ibid., S. 405, 407. 88 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 536 Nr. 296. 89 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 309 Nr. 192,3. 90 Ibid., S. 282 f. Nr. 170,20. 91 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 405, 407. 92 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 349 f. Nr. 390; vgl. auch Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 243 f.

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sei durch eine noitwer zu sichern und auf dem äußersten Graben gegenüber dem Tor sei ein Bollwerk mit zwei Flügeln zu bauen. Der Eigelstein sollte ebenfalls ein Bollwerk erhalten. Der Mercatorplan von 1571 lässt übrigens die Anordnungen aus dem Jahr 1476 noch erkennen. Es wurde im selben Jahr ferner bestimmt, dass das vor den Toren liegende Gelände ausgebaut werden sollte und dass anstelle der Hecken und Hagen Zäune zu errichten seien. Ferner sollte niemand den äußeren Graben betreten. Man wird wohl sagen können, dass niemand die Befestigung auskundschaften durfte.93 Es hat auch Schlagbäume gegeben. 1473 ist die Rede davon gewesen: die slege, gemeint waren die Schlagbäume, seien zu bewachen.94 Ein Tilmann von Elverfelde, der auch auf dem Schafentor Wache hielt, bekam Geld von der Stadt für das Schließen des Schlagbaums zu Pfingsten.95 Auch später, seit 1474, wurde von einer warde gesprochen, die von Herren bewacht werden müsse.96 Da es sich um keine Torburg oder einen anderen Einlass in die Stadt handelte, muss es um Durchlässe im Vorland der Stadt gegangen sein. Vielleicht handelte es sich um Schlagbäume, die später errichtet wurden. Jedenfalls sind auf dem Mercatorplan von 1571 einige solcher Schlagbäume zu erkennen. Es wird sie zu der uns interessierenden Zeit auch gegeben haben, vielleicht an anderer Stelle. Über den Mauerbau 1370–1381 geben die Stadtrechnungen Auskunft, wie schon ausgeführt worden ist.97 Für das 15. Jahrhundert wissen wir weniger gut Bescheid, weil städtische Rechnungen weitgehend fehlen. Immerhin wurden in dem Jahrhundert die Tore ausgebaut und mit Vortoren und Zwingern versehen, wie auch der Mercatorplan erkennen lässt. Wo der Ausbau begonnen hat, ist den schriftlichen Quellen nicht mehr eindeutig zu entnehmen. In den Registern für die Rentmeister der Jahre 1446 und 1468 ist jedoch schon zu erkennen, dass vor den meisten Toren Vorburgen, Zwinger oder Vortore vorhanden waren. Sie müssen also in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts oder schon am Ende des 14. Jahrhunderts errichtet worden sein. Dazu kommen Hinweise auf Landwehren und Schlagbäume98, die ein ungehindertes Vorrücken einer wie auch immer gearteten Kavallerie oder einer Gruppe von Reitern erschwerten. Die Gräben mussten auch immer wieder repariert werden.99 93  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 550 Nr. 390,6. 94 Ibid., S. 500 Nr. 332,5. 95  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 409. 96 Ibid., S. 161, 233. 97 Ibid., passim, weil sehr oft; vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 186* f. 98  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 409. Dort steht zum Jahr 1475, dass ein Lohn für das Schließen eines Schlagbaums ausgegeben worden sei. 99 Ibid., S. 148 f. (1374), 224 (1376), 255, 257 (1377), 303 (1378). 1374 und 1376 wurde der Renegraven erwähnt. Er machte wohl nur ein Teil des städtischen Doppelgrabens aus.

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Allerdings waren damals nicht alle Tortürme mit Vorburgen, Zwingern oder Vortoren befestigt. 1469 begann der Rat erstmals, vor dem Severinstor ein Bollwerk zu bauen.100 Dazu musste die Stadt auch sogenanntes Briefgut (d. h. ein Gut, das nicht in den Schreinsbüchern verzeichnet war, sondern nur mit Hilfe von Urkunden verliehen wurde) vom Stift St. Severin erwerben.101 Vielleicht hat der städtische Rat den Bau des Bollwerks vor dem Severinstor hinauszögern müssen, weil sich die Grundstücke in geistlichen Händen befanden. Analoges wird man auch von mehreren anderen Toren vermuten müssen. Die Ausweitung der Tore durch Bollwerke und Vortore wurde jedenfalls seit 1475 vorgenommen102 und muss spätestens 1476 im Zuge der vermuteten Abwehr Karls des Kühnen abgeschlossen worden sein. Das war infolge der Veränderung der Waffentechnik ebenso erforderlich. Denn mit den Kanonen konnte ein Angreifer weiter schießen als mit den bis in das 14. Jahrhundert üblichen Wurfschleudern, den Bliden. Das gilt auch für Büchsenschützen gegenüber Pfeil und Bogen und Armbrüsten. Seit 1474 sollen sogar vor den beiden Gräben Mauern errichtet worden sein, die den Verteidigern Schutz vor Angreifern geboten hätten.103 Ob diese „Mauern“ allerdings überall zur Feldseite hin gebaut oder ob sie nur zum Teil an einzelnen Toren errichtet worden sind, wissen wir nicht genau, da die Quellen dazu fehlen. Die später zu datierenden Stiche, besonders der von Mercator aus der Zeit von 1571, lassen solche Verteidigungsanlagen nur andeutungsweise erkennen oder identifizieren. Analoges gilt für die Rheinseite. Hatte der Rhein allein schon wegen seiner Breite die Stadt beschützt, so dass vom rechten Ufer die Häuser kaum getroffen werden konnten und die Schiffstechnik noch nicht so weit fortgeschritten war, dass sie der städtischen Rheinseite hätte gefährlich werden können104, so änderte sich die Lage im Laufe oder am Ende des 15. Jahrhunderts. Nun waren Kanonen durchaus in der Lage, die Breite des Flusses von Deutz aus zu überbrücken und die Mauer so zu beschädigen, dass ein Angriff möglich erschien.105 Es ist daher durchaus denkbar, dass 1497 die Rheinmauer stärker befestigt und 100 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 823; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 371 Nr. 1469,47; S. 447 Nr. 1471,35. 101 HAStK, HUA 13063; vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 197a-b Nr. f. 102 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 408. 103 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 196. 104 Vgl. aber Hugo Stehkämper: Niederrheinische Schiffskriege und „Kriegs“schiffe im Mittelalter, in: ders. (Hg.), Köln – und darüber hinaus (Anm. 26), Bd. 1, S. 307–350, hier S. 325ff. 105 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 58. Die Redaktion B der Kölner Jahrbücher berichtet zum Jahr 1416, dass bergische Truppen von Deutz aus mit Kanonen die Stadt beschossen hätten, aber von Kanonenschüssen der Kölner vertrieben worden seien. Vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 220.

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dazu das Bußgeld von Festungsabschnitten verwandt wurde.106 Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Kanonen im Laufe des 15. Jahrhunderts Feuerkugeln in die Stadt schleudern und Häuser in Brand schießen konnten.107 Letztendlich verantwortlich für die Stadtmauer, deren Türme und Tore war der städtische Rat, seitdem das Befestigungsrecht den Erzbischöfen im 12. Jahrhundert genommen wurde und im gleichen Jahrhundert immer mehr auf die Bürger und deren politische Spitze, den Rat, überging. Der Rat konnte selbst die Durchführung seiner Entscheidungen nicht garantieren, sondern delegierte sie an die Rentmeister. Schon im ersten Eidbuch von 1321 sind Rentmeister erwähnt.108 Sie sollten keine Geschenke annehmen. Ebenso sollten die Pförtner oder Torwächter (parcenarii) solche nicht an die Rentmeister geben dürfen. Man wird voraussetzen können, dass letztere zumindest für die Tore und deren Bewacher zuständig waren. Bis zum Jahr 1437 waren beide Rentmeister lebenslang im Amt. Danach blieben ihnen jeweils zwei Jahre für ihre Tätigkeiten.109 Die beiden Rentmeister konnten neben ihren sonstigen Aufgaben den Arbeitsanfall an den Toren nicht bewältigen. Es entstand eine Unterbehörde, der „Umlauf“, der unter ihnen amtierte. Er hatte die Aufgabe, die privaten und städtischen Bauten, also auch die Befestigungsanlagen, zu besichtigen und eventuelle Fehler zu melden.110 Der „Umlauf“ war allerdings nicht nur den beiden Rentmeistern, sondern auch dem Rat verpflichtet, wie der Eid von 1450 belegt.111 Ein „Umlauf“ ohne Namen ist erstmals 1370 belegt, dürfte aber schon vorher vorgekommen sein.112 Dazu traten städtische Handwerker, insbesondere Steinmetze und Zimmerleute, für die Türme und Mauern. Ferner wurden auch Dachdecker, Schmiede, Glaser und andere herangezogen, falls der Bedarf solches ergab.113 Auch sie hatten wie der „Umlauf“ der Stadt einen Eid zu leisten, wie er zum Jahr 1450 überliefert ist.114 106 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 904. Dass die Rheinmauer dagegen durchgängig mit einem zinnenlosen Wehrgang versehen worden sei, dürfte kaum zutreffen, zumal der Woensamprospekt von 1531 ein anderes Bild nahelegt. 107 Vgl. Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 58, 164 f.; XIV, S. 770. 108 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 10 f. Nr. 19, 21. 109 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. Xff. 110  Hans Vogts: Das Kölner Wohnhaus bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde. (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz, Jahrbuch 1964–65), Neuss 1966, hier Bd. 1, S. 332 f.; Bd. 2, S. 672; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 159; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. XI; Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 317. 111  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 362 Nr. 166. 112 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 3 und öfter bis 1371. Der Umlauf wurde stets ohne Namen aufgeführt. 113  Vogts, Wohnhaus (Anm. 110), Bd. 1, S. 333 f.; Bd. 2, S. 677ff. Die Ausgaben der Stadt bieten in den Stadtrechnungen zahlreiche weitere Hinweise; vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 3ff. 114  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 362 Nr. 165.

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Die Söldner, die teilweise auch auf den Mauern, Türmen und Toren wachten, unterstanden anderen Beamten, die dem Rat eidlich verpflichtet waren. Im 15. Jahrhundert stiegen die beiden Stimmmeister zu den wichtigsten Amtsträgern für die Söldner auf. Daneben waren Wachtmeister, Schützenmeister, Hauptleute und Tirmmeister tätig, die teilweise schon im 14. Jahrhundert nachzuweisen sind. Sie sollen uns im vorliegenden Zusammenhang weniger interessieren.115 Während bis zum Ende der Geschlechterherrschaft ein Verteilungsprinzip nach Kirchspielen oder auch Örtlichkeiten innerhalb dieser gegolten hat, trat mit dem Verbundbrief von 1396 ein neues Prinzip an die Stelle des alten, nämlich das der Gaffeln, denen alle Bürger und Eingesessene Kölns einen Eid geschworen hatten. Die zwei Phasen der Wehrverfassung (vor und ab 1396) hat Toni Heinzen erläutert116 und Brigitte Maria Wübbecke117 erneut mit Vorbehalten bestätigt. Wir brauchen uns also nicht der Wehrverfassung von vor 1396 zu widmen. Denn erstens ist die Quellenbasis für die Zeit vor 1396 sehr schmal. Zweitens ist schon alles gesagt, was über die Wehrverfassung der Stadt Köln vor 1396 herausgefunden wurde. Nach dem Sturz der Geschlechterherrschaft hat Wübbeke darauf hingewiesen, dass keineswegs das gesamte Wehrwesen personell nach Gaffeln geordnet worden ist118, vielmehr ist das Wachwesen der Bürger und Eingesessenen nach Kirchspielen geregelt worden. Erst wenn die Stadt Köln in einen militärischen Konflikt, der sich außerhalb der Stadt abspielte, eingriff, war die Einberufung nach Gaffeln üblich. Wübbeke meint, dass die Wachtordnung von 1496 die erste sei, die auf Gaffeln beruhe.119 Aber es gibt noch eine andere, etwas frühere Ordnung, nämlich die von 1488. Die Zahl der Gaffeln wurde am 3. Mai 1488 festgelegt. Sie richtete sich nach dem Verbundbrief. Danach hatte das Wollenamt 23, der Eisenmarkt zwölf, das Schwarzhaus zwölf, die Goldschmiede 23, die Gaffel Windeck 23, die Buntwörter 15, die Gaffel Himmelreich 18, die Schilderer acht, die Gaffel Aren 15, die Steinmetze 15, die Schmiede 15, die Bäcker neun, die Brauer 15, die Gürtelmacher zehn, die Fleischer neun, das Fischamt 15, die Schneider neun, die Schuhmacher 15, die Sarwörter neun, die Kannengießer sieben, die Fassbinder 13 und das Ziechenamt sieben Männer zu stellen. Insgesamt also waren es 297 Männer. Sie sollten den Sold für andere, die nach Neuss gezogen waren, bezahlen. Nach der Taxe sollten sie 5940 oberländische Gulden geben. Gezahlt haben sie aber nur 5010 ½

115 Vgl. dazu Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 76ff., 93ff. 116 Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 9ff. 117 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1). S. 53ff. 118 Ibid., S. 55. 119 Ibid., S. 53 f.

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oberländische Gulden oder 20.042 Mark.120 Das Schuhmacheramt hat als einzige Gaffel ihren Beitrag voll beglichen. Alle anderen hinkten mehr oder weniger hinterher, jedenfalls wenn man der Taxe und der Quelle glauben darf. Gemäß einer anderen Liste vom 9. Oktober 1488 ergeben sich allerdings differierende Zahlen. Danach waren es 605 Männer, die vom Rat für die Wache auf den Mauern eingeteilt werden sollten. Die Liste unterscheidet sich also von der ersteren des Jahres. Wie in der ersten Liste wurden die Gaffeln gemäß den Vorgaben des Verbundbriefs aufgezählt.121 In den meisten Fällen handelte es sich um eine Verdoppelung der Männer, die eine Gaffel abstellen sollte, in einigen Fällen auch um eine Verringerung, aber in anderen auch um eine Vermehrung der angegebenen Anzahl der Männer. Namentlich die Gaffel Schwarzhaus, die fast so stark wie die Goldschmiedegaffel war122, hat über den Stand vom 3. Mai 1488 28 Mitglieder benannt, die Wache halten sollten. Ob unter ihnen dieselben waren, die ihren Beitrag geleistet hatten, ist dem Dokument nicht zu entnehmen. Am wenigsten hatte die Gaffel der Fassbinder beizutragen, nämlich nur 15 statt 26 Mitglieder, wie aus dem Vergleich mit den Angaben vom 3. Mai 1488 hervorgeht. Es ergeben sich noch andere Unstimmigkeiten, die aber auf sich beruhen können. Zusätzlich sollten der Stadt am 9. Oktober 1488 30 Männer zu Pferde dienen.123 Insgesamt wurden 30 Personen namhaft gemacht. Von ihnen sind sechs Bürgermeister gewesen, wie der Titel her andeutet.124 Auch sind einzelne Männer zusätzlich als solche Amtsträger zu identifizieren, obwohl sie erst nach 1488 das entsprechende Amt innehatten. Aber bei der Mehrzahl trifft das nicht zu. Sie gehörte vielmehr zu einer Gruppe von Männern, die sehr reich waren und dadurch aus der Menge der Bürger herausragten. Nur bei zwei Personen ist mir der Nachweis eines über das Normalmaß hinausgehenden Reichtums nicht gelungen. Es handelt sich um Joeris Tack und einen Mann, der nach einer Rheinpforte genannt worden ist, nämlich Haseportze. Ob sich dieser Mann wirklich nach dem Rheintor nannte, mag zweifelhaft erscheinen, ist aber in diesem Zusammenhang unerheblich. Er könnte nach der Lage seines Hauses bezeichnet worden sein wie etwa auch

120  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. 147. 121  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 633 Nr. 468,8. 122 Vgl. Klaus Militzer: Die vermögenden Kölner 1417–1418. Namenlisten einer Kopfsteuer von 1417 und einer städtischen Kreditaufnahme von 1418 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 69), Köln/Wien 1981, S. 22ff. und S. 94ff. Eine zeitlich näher liegende Quelle als die von 1417 gibt es leider nicht. 123  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 634 Nr. 468,9. 124  Wolfgang Herborn: Zur Rekonstruktion und Edition der Kölner Bürgermeisterliste bis zum Ende des Ancien Régime, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 36 (1972), S. 89–183, hier S. 112.

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Konrad zum Drachen, der mit Familiennamen „von Geilenkirchen“ hieß.125 Auf jeden Fall war er reich, ebenso wie die anderen Nichtidentifizierten, so dass sie Pferde halten konnten. Der doctor vanme Hirtze war niemand anderes als Doktor Johann vom Hirtze, der im engen Rat gesessen hat und 1492/93 erstmals Bürgermeister geworden ist.126 Jedenfalls gehörten die mit einem Pferd ausreitenden Bürger zu den wohlhabenden bis reichen Männern Kölns.127 Ob alle Kölner allerdings dem Gebot des Wachens auf der Mauer und den Türmen stets nachgekommen sind, ist nach der Arbeit von Brigitte Maria Wübbeke zweifelhaft. Zumindest zahlungskräftige Kunden haben ihre Pflichten ablösen können, indem sie einen Gesellen, Diener oder gleich einen Söldner mit der Aufgabe betrauten, ihn jeweils entsprechend ausstatteten und bezahlten.128 Daher ist die Zahl der bürgerlichen Wachen mit Vorsicht zu benutzen. Es könnte durchaus sein, dass die wohlhabenderen unter ihnen von der Wache durch Geld oder sonstige Gaben befreit worden sind. Die Stadt war jedenfalls nicht zu allen Zeiten bedroht. Daher ließ der Rat die Zügel schleifen und zog sie wieder an, wenn es die Lage außerhalb der Stadt gebot. Die schon erwähnte Arbeit von Brigitte Maria Wübbeke hat die in den Augen eines Rats bedrohlichen Situationen zusammengestellt.129 Es dürfte ausreichen, wenn in diesem Zusammenhang auf ihre Arbeit verwiesen wird. Es hat auch kein Heereszug im 14. oder 15. Jahrhundert die Kölner Stadtmauer erreicht oder auch nur bedroht. Karl der Kühne verängstigte die Stadtbevölkerung, hat aber Köln im Gegensatz zu Neuss nicht belagert. Es wäre möglicherweise zu einer Belagerung Kölns gekommen, wenn Karl der Kühne Neuss hätte einnehmen können.130 Aber die Geschichte hat, wie wir heute wissen, einen anderen Verlauf genommen.131 125 Bruno Kuske (Bearb.): Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter, 4 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 33), Bonn 1917–1934, hier III, S. 251 Nr. 92. 126 Herborn, Rekonstruktion (Anm. 124), S. 130; Hermann Keussen (Bearb.): Die Matrikel der Universität Köln, 3 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 8), Bonn 1919–1931, hier I, S. 266 Nr. 20. Keussen bietet zusätzliche Angaben. 127 So auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 63 f. 128 Ibid., S. 58, 206ff.; so auch schon Richard Knipping: Ein mittelalterlicher Jahreshaushalt der Stadt Cöln (1379), in: Beiträge zur Geschichte, vornehmlich Kölns und der Rheinlande. Zum 80. Geburtstag Gustav von Mevissens, dargebracht von dem Archiv der Stadt Köln, Köln 1895, S. 131–159, hier S. 144; und danach Franz Irsigler: Kölner Wirtschaft im Spätmittelalter, in: Kellenbenz (Hg.), Kölner Wirtschaft, Bd. 1 (Anm. 7), S. 217–319, hier S. 220. 129  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 217ff. Vgl. auch die Wachtordnungen in Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 433ff. Nr. 282 und ibid., S. 397 Nr. 260. 130 Zu ihm Willem Pieter Blockmans: Art. „Karl der Kühne (Charles le Téméraire, le Hardi), Herzog von Burgund (1433–1477)“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 989–991 mit weiterer Literatur. 131 Joseph Lange: Pulchra Nussia. Die Belagerung der Stadt Neuss 1474/75, in: ders. (Hg.): Neuss, Burgund und das Reich. Festgabe der Stadt Neuss zur 500-Jahrfeier der erfolg-

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Nun hat der Rhein hin und wieder den Handel der Stadt bedroht. Es bestand die Gefahr, dass sich zwischen Poll und Mülheim ein neues Flussbett östlich von Deutz bilden könnte. In Poll wurden deshalb von der Stadt Maßnahmen getroffen, damit der Strom weiterhin an Köln vorbeifließt, statt ihn oberhalb der Stadt an anderer Stelle fließen zu lassen.132 Dazu bedurfte es ständiger Anstrengungen, zumal der Kölner Erzbischof tangiert wurde. Die sogenannten „Poller Köpfe“ bildeten ein stetes Ärgernis auf beiden Seiten. Die Stadt Köln hat daher 1475 Zaunlatten und Befestigungen für Poll besorgen lassen.133 Dem gleichen Ziel scheint auch das Ansuchen des Kölner Rats 1471 an den Erzbischof von Köln und die Herzöge von Jülich und Berg, den Rheinlauf in seinem bisherigen Bett zu lassen und der Verwüstung des Rheinufers oberhalb von Rodenkirchen Einhalt zu gebieten, gedient zu haben. Besonders verwies der Rat auf die Weiden134, die er hat anpflanzen lassen. In gleicher Weise wurden die Weiden in Deutz gewartet.135 Denn auch durch die Freiheit Deutz fühlte sich Köln bedroht, wenn die Mönche oder ihre Familienangehörigen auf die Idee gekommen wären, den Rhein und sein angestammtes Flussbett umzuleiten. Wir wenden uns im Folgenden den Rentmeistern und anderen Ämtern zu, soweit sie für die Verteidigung der Stadt, den Mauerbau und die Tortürme ausschlaggebend gewesen sind.

Die Rentmeister und andere ihnen untergebene Ämter Die Rentmeister und andere Ämter, die ihnen unterstellt waren, sind nur zu untersuchen, soweit sie die Verteidigungsbereitschaft der Stadt betrafen. Die beiden Rentmeister hatten zumindest im 14. und 15. Jahrhundert nachweislich die Aufsicht über die Mauern und Türme. Sie versorgten die Verteidigungsanlagen mit Armbrüsten, Kanonen und sonstigem Gerät. Sie kontrollierten auch die Verteidigungsanlagen oder ließen sie überwachen. Sie versahen ebenso vorher die Bliden und das spätere Zeughaus mit ihren Kontrollen. Sie sorgten auch

reichen Abwehr der Belagerung durch Herzog Karl den Kühnen von Burgund 1474/75 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss 6), Neuss 1975, S. 9–190; Helmut Gilliam: Der Neusser Krieg. Wendepunkt der europäischen Geschichte, in: ibid., S. 201–254, hier S. 222ff.; Nicolaus Bömmels: Die Neusser unter dem Druck der Belagerung, in: ibid., S. 255–288, hier S. 272ff., Erich Wisplinghoff: Geschichte der Stadt Neuss Bd. 1: Von den mittelalterlichen Anfängen bis zum Jahre 1794, Neuss 1975, S. 102ff. 132 Vgl. Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 900 f., für das Jahr 1497. 133  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 406. 134  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 481 Nr. 313. 135 Ibid., S. 126 f. Nr. 83.

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für den Nachschub an Material. Aber seit wann sie die Aufgabe erfüllten, ist weitgehend unbekannt.136 Es ist dagegen bekannt, dass der Kölner Erzbischof einen oder zwei Kämmerer unterhielt. In der Anfangsphase dürfen wir davon ausgehen, dass der Erzbischof in der Stadt die dominierende Person war, ohne die nichts entschieden werden konnte. Der eine oder die zwei Kämmerer werden also im Auftrag des Erzbischofs, ihres Herrn, die Abgaben auch in der Stadt eingesammelt haben, auch wenn für die Frühzeit keine genauen Angaben zu machen sind.137 Ein solcher Kämmerer in der Schar der erzbischöflichen Ministerialen ist wenigstens für 1112 bezeugt, ein archicanmerarius sogar zum Jahr 1146 aus dem Geschlecht derer von Bachem.138 Das ist immer zu bedenken, wenn man von der Stadt und ihren Rüstungen spricht. Zur Zeit der römischen Mauer und der umfesteten Rheinvorstadt ist der Erzbischof noch übermächtig gewesen. Das gilt auch für die Einbeziehung der Vorstädte Airsburg, Niederich und Teilen von St. Aposteln. Es mag sein, dass der Erzbischof zeitweise auf die fällige Bede verzichtet habe, um den Mauerbau zu fördern. Aber das wissen wir nicht. Erst im Laufe des späten 12. Jahrhunderts ist es der Stadt gelungen, die erzbischöfliche Finanzhoheit zu beseitigen und an ihre Stelle eigene Männer zu setzen.139 Der Große Schied des Albertus Magnus vom 28. Juni 1258 spricht nur von solchen Männern, die die collecta und redditus der Stadt einzögen.140 Das könnte auf einen Rentmeister deuten, muss es aber nicht.141 Aber seit 1305 sind die beiden Rentmeister ausdrücklich erwähnt.142 Immerhin lassen sich die Ämter wohl ein paar Jahre weiter zurückdatieren. Es handelte sich in jedem Fall um die Zeit nach der Schlacht von Worringen.143 Im Eid der Rentmeister von 1320 ist noch nicht von den Mauern und Türmen, allerdings von Gebäuden die Rede, wenn den Rentmeistern verboten wurde, Geschenke von Steinmetzen, Zimmerleuten oder Dachdeckern anzunehmen.144 Im Eidbuch von 1341 ist allerdings ausdrücklich die Rede von der stede gewer, also von der

136 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 75ff. 137 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 67 f. 138 REK (Anm. 18) II, 92, 567. 139 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 331ff. 140 Quellen (Anm. 31) II, S. 383 Nr. 384 § 23. Mit Albertus Magnus hat sich Hugo Stehkämper in mehreren Aufsätzen auseinandergesetzt, vgl. etwa Hugo Stehkämper: pro bono pacis. Albertus Magnus als Friedensmittler und Schiedsrichter, in: ders. (Hg.), Köln – und darüber hinaus (Anm. 26), Bd. 2, S. 1033–1121. 141 So zu Recht Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 337. 142 Quellen (Anm. 31) III, S. 504 Nr. 528. 143 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 337 f. 144 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 11 Nr. 1,21.

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Wehrhaftigkeit der Stadt.145 Die Bestimmung ist im Wesentlichen in den anderen Eidbüchern übernommen worden.146 Allerdings trat nach der Revolution von 1396 ein Umbruch ein, der sich auch auf die Eide auswirkte. Nach 1396 ist anhand der Eide eindeutig zu belegen, dass die Verteidigungsanlagen der Stadt zu dem Aufgabenbereich der Rentmeister gehörten. Sie nahmen die Eide der Burggrafen entgegen, die die Türme und auch Mauern zu bewachen hatten, und auch die Eide von den Untergebenen der Burggrafen.147 Die Rentmeister hatten also die Mauern und Türme zu kontrollieren, sie gegebenenfalls mit Kanonen oder Armbrüsten sowie anderem Militärgerät auszurüsten und sich ein Bild von der Verteidigungsmöglichkeit der Stadt zu machen.148 Das Rentmeisteramt war stets mit zwei Personen besetzt. Die Stadt und ihr Rat gingen also von dem Kollegialitätsprinzip aus. Bis 1437 waren beide Rentmeister lebenslang im Amt, jedenfalls prinzipiell. Es sei denn, er oder beide wurden in ein neues, höheres Amt gewählt oder vom Rat abgesetzt. Ab 1437 wurde ein Rentmeister auf zwei Jahre gewählt und musste dann abtreten. Es galt die Regel, dass ein Rentmeister immer ein Jahr noch die Geschäfte führte und sich folglich darin auskannte, während der neue Rentmeister sein Amt erlernte.149 Die Kontinuität blieb also gewahrt, indem ein Rentmeister immer ein Jahr lang einen neuen einarbeitete. Es wurde außerdem festgelegt, dass niemand ein zweites Mal gewählt werden konnte. Seit 1452 gab es auch noch Personen, die Gewaltmeister genannt wurden. Sie hatten eine Aufgabe überantwortet bekommen, die vorher zum Teil jedenfalls die Gewaltrichter ausgeübt hatten.150 Die Gewaltmeister oder Gewaltrichter nach 1452 hatten Bürger zu überwachen, die Wache auf den Mauern halten sollten.151 Von diesen Gewaltmeistern ist nicht viel zu berichten, einmal weil sie relativ spät bezeugt sind und zweitens weil sie nur die Bürger in ihrem Aufgabenkatalog führten. Auch wenn ihre Aufgaben erweitert wurden, haben sie nicht in die Befehlsgewalt der anderen Amtsträger eingegriffen.

145 Ibid., S. 36 Nr. 6,V,8; vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 339. 146  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 90 f. Nr. 28,V. 147 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. XIf.; Wübbeke (Anm. 1), S. 75 f. 148 Vgl. Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 319ff. Nr. 202; S. 437ff. Nr. 284. 149 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. X, XXXIIff.; Vogts, Wohnhaus (Anm. 110), Bd. 1, S. 331 f. 150 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 114; Dieter Strauch: Das Hohe Weltliche Gericht zu Köln, in: Dieter Laum (Hg.): Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, Köln 1994, S. 743–831, hier S. 799. 151  Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 53 f.; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 76 f. Vgl. auch Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 397: Van den wachtmeisteren.

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Es blieben die Stimmmeister, die im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss gewannen.152 Zunächst waren sie zuständig für die Abschätzung der Pferde der Söldner. Das geht aus einem Erlass des Rats hervor.153 Dann, spätestens 1420, wurden die Stimmmeister neben anderen zuständig für Gefangene, aber das nur in seltenen Fällen. Seit dem Jahr 1432 erweiterten sie ihren Zuständigkeitsbereich um ihre Zustimmung zur Öffnung der Tore nach Einbruch der Dunkelheit.154 In den Wirren der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und besonders zu den Zeiten, als Karl der Kühne den Niederrhein bedrohte, weitete sich die Kompetenz der Stimmmeister aus. „In den neunziger Jahren“ waren sie laut Wübbeke unter anderem für die Aufsicht der „Gefangenen, den Einsatz der Söldner und für Maßregeln gegen Straßenräuber und Mörder“ zuständig. Dazu kamen militärische Kompetenzen, die die Verteidigung der Stadt betrafen.155 Aber über allen stand der Rat oder anfangs bis 1396 der enge Rat der Stadt, der die Rentmeister, die Wachtmeister und die Stimmmeister anwies und kontrollierte. Er konnte auch von sich aus tätig werden. Zumindest einer von den Rentmeistern durfte im engen Rat sitzen.156 Bereits vor dem Verbundbrief von 1396 blieben die Rentmeister durch einen Eid dem engen und auch dem weiten Rat verpflichtet. Nach der Verfassungsänderung von 1396 war der Rat schlechthin zuständig. Ebenso waren die Wachtmeister und die Stimmmeister durch einen Eid dem Rat auch nach 1396 verbunden. Alle genannten Männer konnten ihre Ämter nach der Verfassungsänderung von 1396 nur im Namen des Rats ausüben und haben es auch getan. Den Rentmeistern untergeben waren die Umläufe oder der Umlauf.157 Er hatte im Wesentlichen die städtischen Werkleute zu beaufsichtigen, aber auch sonst Aufgaben, die ihm der Rat auferlegte, zu befolgen. Insofern war er auch dem Rat verpflichtet. Das Amt scheint erst im Laufe des 15. Jahrhunderts wichtig geworden zu sein.158 Der Umlauf und seine Diener hatten vom Rat Kleidung und Wein zu erwarten, jedenfalls im 15. Jahrhundert. Allerdings ist das Amt schon im 14. Jahrhundert nachzuweisen. Wir wenden uns nun den Einzelheiten des Mauerbaus von 1180 und der Folgezeit zu und nehmen nicht nur Rücksicht auf die Feldseite, sondern auch auf die Befestigungen zum Rhein hin. Dabei ist auch die städtische Wirtschaft 152 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 77ff., die die Bedeutung der Stimmmeister und ihre Entwicklung zum ersten Mal beschrieben hat. 153 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 227 Nr. 73. 154 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 267 Nr. 157. 155 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 79. 156 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. X. 157 Vogts, Wohnhaus (Anm. 110), Bd. 1, S. 332 f.; Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 317. 158 Vgl. Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 374 Nr. 132; II, S. 274 f. Nr. 168,10, 168,18, und öfter.

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im späteren Mittelalter anzuschauen. Da die Quellen für das zwölfte und das 13. Jahrhundert nicht besonders zahlreich sind, wird die folgende Darstellung sich vor allem auf das 14. und das 15. Jahrhundert konzentrieren.

Das Aussehen der Kölner Türme und Mauern Wenn ein Wanderer, Reiter, Kutscher oder wer auch immer sich seit dem 13. Jahrhundert von der Feldseite her der Stadt Köln näherte, sah er zunächst die mit Türmen bewehrte und von Toren durchsetzte Mauer und darüber möglicherweise Kirchtürme der Stifte und Klöster. Ob er von den tiefergelegenen Straßen und Flächen überhaupt viele der Kirchtürme sehen konnte, mag dahingestellt sein. Man muss sich vor Augen halten, dass die beiden hohen Türme des heute weithin sichtbaren Doms erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt wurden. Von der Rheinseite, egal ob man mit dem Schiff ankam oder über die rechte Seite anreiste, war es anders. Man konnte den Dom und die Kirchen bzw. deren Türme erkennen, wie auch der Woensamprospekt zeigt. Die belebte Stadt war in jedem Fall, gleichgültig ob er von der Feld- oder Rheinseite kam, ein Ziel für einen Wanderer oder Kaufmann als ein bewohnter und damit sicherer und wohl geordneter Ort. Denn von der unbeherrschten Natur unterschieden sich die Stadt und auch das Dorf durch einen menschlichen Sinn für Ordnung.159 Aber die Stadt war gegenüber der unbeherrschbaren Natur noch sicherer als ein Dorf oder eine Ansammlung von Häusern oder Hütten. Schon im späten Mittelalter galt die Stadtmauer als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Stadt und Dorf: Einen burger und einen gebuer scheit nicht me wen ein czuhen und ein muer.160 Freilich ist dieses Merkmal nicht auf alle Städte und zu allen Zeiten anzuwenden. Jedoch gibt die Angabe einer Grenze, die von der Mauer gebildet wurde, einen Aufschluss über eine Vielzahl städtischer Siedlungen im mittelalterlichen Europa.161 Es lässt sich nicht leugnen, dass die Mauer allein nicht für eine Definition der Stadt im 159 Vgl. Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1973, S. 210ff. 160  Planitz, Deutsche Stadt (Anm. 39), S. 229; vgl. zusätzlich Karl August Eckhardt (Hg.): Das Landrecht des Sachsenspiegels, (Germanenrechte. Texte und Übersetzungen 14), Göttingen 1955, S. 252 Nr. III,66,2, vgl. auch Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 46ff. 161 Vgl. Edith Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters, Göttingen 1972, S. 11ff.; ganz ähnlich Felicitas Schmieder: Die mittelalterliche Stadt (Geschichte kompakt), Darmstadt 2005, S. 1ff.; vgl. auch Roland Gerber: Wehrhaft, heilig und schön. Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte im Südwesten des ­Reiches, in: Kurt-Ulrich Jäschke (Hg.): Was machte im Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte. Vorträge des

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Mittelalter ausreichend war.162 Das soll im Falle Kölns auch nicht getan oder versucht werden. Allerdings hat der mittelalterliche Mensch die Mauer und deren Befestigungsanlagen wertgeschätzt. Er nahm die Stadt als Ort der Heiligen an, wie auch die Kölner selbst ihre Stadt als Heimstatt für die Heiligen betrachteten.163 Zunächst begnügte sich die Stadt für den Mauerbau seit 1180 mit einem Graben und einem Wall mit einem Holzaufsatz, einem Wall mit Palisaden eben.164 Als erstes wurden in Köln die Tore gebaut, dann widmete man sich der Mauer, die auf dem Wall aufgesetzt worden war. Zuvor wurde das Bauwerk mit Hilfe von in den Boden eingelassenen Pfeilern gesichert.165 Die Höhe der Mauer betrug durchschnittlich 7,50 Meter, manchmal auch deutlich mehr.166 Sie ist, wie schon gesagt worden ist, auf Pfeilern gebaut worden. Die Pfeiler wurden im Allgemeinen mit Basaltsteinen fundiert.167 Ansonsten sind die Mauerteile zwischen den Pfeilern auf den Wall aufgesetzt worden. Allerdings waren die Pfeiler nach innen gerichtet, so dass die Mauer eine ebene Fläche im Gegensatz zu der Innenseite bildete. An der Innenseite ist durch die Pfeiler und die Bögen zwischen den Pfeilern oben ein Wehrgang entstanden, der es den Männern erlaubte, von der oberen Innenseite her die Mauer und damit die Stadt zu verteidigen. Ob dagegen die Brüstung von Anfang an Zinnen gehabt habe, ist wiederum umstritten.168 Das ist auch den schriftlichen Quellen nicht zu entnehmen. Erste Mauerteile sollen schon 1180–1200 oder sogar noch früher gestanden haben. Jedenfalls ist die Mauer durchgängig im 13. Jahrhundert fertig geworden.169 Sie erhielt Scharten für das Abfeuern von Pfeilen oder Kugeln170, allerdings weiß man über den Zeitpunkt der Einrichtung solcher Scharten oder Öffnungen wenig. Die Mauer wurde jedenfalls unterbrochen von Halbrundtürmen, die innen hohl waren und erst im Laufe der Zeit zu geschlossenen

gleichnamigen Symposiums vom 30. März bis 2. April 2006 in Heilbronn (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 18), Heilbronn 2007, S. 25–46. 162 Max Weber: Die Stadt. Begriff und Kategorien (1921), in: Carl Haase (Hg.): Die Stadt des Mittelalters, Bd. 1 (Wege der Forschung 243), Darmstadt 1969, S. 34–59. 163 Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 63. 164 Quellen (Anm. 31) I, S. 582ff. Nr. 94 f.; REK (Anm. 18) II, Nr. 1148, 1150 (mit weiteren Angaben); dazu Helmrath, Urkunde (Anm. 46), S. 154ff. 165 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 117; Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 24, 45, 52, 75. 77; Annales sancti Gereonis Coloniensis, in: MGH SS XVI (1859), S. 734. 166 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 117. 167 Ibid. 168 Ibid. 169 Udo Mainzer: Die staufischen Tore der landseitigen Stadtbefestigung Kölns, in: Colonia Romanica 1 (1986), S. 45–55, hier S. 45 f. 170 Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 271.

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Rundtürmen ausgebaut wurden, die schließlich auch die Mauer überragten.171 Jedoch blieb es bei den vorkragenden Türmen, bisweilen bei im Inneren offenen Halbtürmen.172 Man ist sich jedenfalls einig darüber, dass zunächst die Tore errichtet, dann die Mauer und noch später die die Mauer überragenden Rundtürme gebaut wurden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam an verschiedenen Stellen, die der Rat für besonders gefährlich hielt, eine sogenannte „Bastei“ bzw. ein „Bollwerk“, „Vortor“ oder „Vorhof“ hinzu. Die Befestigungsanlage heißt ursprünglich „buwe“173 oder ähnlich, auch „bolwerk“174 oder gleichlautend. Das war der Fall beim Severinstor, der Ulrepforte, dem Weiher-, Schafen-, Hahnen-, Ehren-, Friesen- und Gereonstor und dem Eigelstein.175 Davon ist jedoch die „Bastion“ oder das Außenwerk des Eigelsteins, die schon für 1402 nachzuweisen ist, zu trennen.176 Allerdings dürfte der Ausbau des „Außenwerks“ zu einer eigentlichen „Bastion“ erst der zweiten Hälfte des 15 Jahrhunderts angehören.177 Ob die „Bastei“ der Ehrenpforte dem 16. Jahrhundert angehört, weil der Vorbau 1503 erstmals erwähnt wird178, mag dahingestellt sein. Es spricht jedenfalls viel dafür, dass der Vorbau am Ehrentor auch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts oder an seinem Ende errichtet worden ist. Über das Aussehen der Tore geben die Schriftquellen nur eine geringe Auskunft. Immerhin scheinen die zur Feldseite hin gelegenen, sogenannten „offenen Tore“, nämlich das Severins-, das Weiher-, das Hahnen-, das Ehrentor und der Eigelstein, besonders hoch und breit gewesen zu sein. Unter ihnen ragte das Hahnentor mit einer Höhe von acht Metern und fast 6,5 Metern Breite hervor. Aber die auch später im 14. Jahrhundert ganz zugemauerten oder nur für Fußgänger zugänglichen Tore haben wohl wegen ihrer ursprünglichen Bestimmung als Durchlässe für Fuhrwerke oder Karren erhebliche Höhen und 171 Ibid., S. 93; Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 119 f. 172  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 120. 173  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. 159. 174 Ibid., S. 203, II, S. 406–408; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 196 f. 175  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 92 f., 97, 102 f., 105 f., 108 f., 112, 115. Ein Vortor an St. Kunibert hat es schon 1370, am Eigelstein 1376 gegeben. Das letztere ist wenigstens in dem Jahr bezeugt, es könnte aber älter sein: Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 6, 12, 214: Es hieß „neues Tor“ oder porta nova. Bei dem Schafentor hieß es dorlin. „Vortore“ gab es nach Knipping, Jahreshaushalt (Anm. 128), S. 145, auch 1379 vor dem Severins-, Weiher-, Hahnen-, Ehren- und Eigelsteintor. 176 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 115. 177 1474, als Karl der Kühne Neuss belagerte, befahl der Rat, Bollwerke vor dem Bayen- und vor dem Kunibertsturm und auch in Deutz zu bauen, so jedenfalls die Koelhoffsche Chronik von 1499: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 830. 178  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 108. Vgl. aber die porta nova des Kunibertstores von 1370; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 6, ebenso das dorlin am Schafentor aus demselben Jahr; ibid., S. 12.

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Breiten erlangt.179 Es ist durchaus damit zu rechnen, dass die Tortürme mindestens zwei Etagen oder im Laufe der Zeit sogar mehrere Geschosse hatten. Das Hahnentor besaß sogar drei Stockwerke und zusätzlich einen Umgang mit Zinnen über der dritten Etage.180 Interessant ist die Bauart des Ehrentores, weil sie etwas aus dem Rahmen fällt. Denn es hatte einen 4,80 Meter breiten Durchlass für Fuhrwerke und einen schmaleren und niedrigeren Einlass für Fußgänger.181 Alle Tortürme, ob zugemauert oder nicht, hatten sowohl nach innen zur Stadt hin wie auch nach außen zur Feldseite hin ein imponierendes Aussehen und waren mit Doppeltürmen versehen.182 Die Doppelturmtore, in Köln zuerst nach römischen Vorbildern verwirklicht, wurden ihrerseits zum Vorbild für zahlreiche rheinische Städte und auch darüber hinaus. Von ihnen stach das Hahnentor (Abb. 4) auch wegen seines Schmuckes, des Reichsadlers, hervor. Der Adler und vorangegangene Schmuckelemente mögen dazu geführt haben, dass vor allem Kölner davon ausgegangen sind, dass der deutsche König nach seiner Krönung in Aachen die Stadt am Rhein durch das Hahnentor betreten habe. Das ist nicht ganz ausgeschlossen. Aber alle Nachweise vor allem des 15. Jahrhunderts deuten darauf hin, dass die gekrönten Könige zuerst im Kloster Weiher beteten und danach die Stadt Köln durch das Weihertor (Weyertor) betraten.183 Dieser Nachweis schließt aber nicht aus, dass vor allem aus Aachen kommende Adlige durch das Hahnentor nach Köln gekommen sind. Kaufleute, die von Aachen heranzogen oder in diese Richtung Köln verließen, werden das Hahnentor benutzt haben. Zudem ist das Tor für die sogenannte „Holzfahrt“ von Bedeutung gewesen.184 Der Reichsadler am Hahnentor ist jedoch in jedem Fall missverständlich, weil er später angebracht worden ist, und zwar erst in der Zeit der Restaurierung von 1881 bis 1888.185 Im Mittelalter trug das Hahnentor noch nicht diesen Schmuck. Nach Gelenius befand sich allerdings schon 1645 das Bild eines

179 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 89ff. 180 Vgl. Wilhelm Schulte: Grundrisse und Schnitte der Hahnentorburg, in: Schwarz/Leifeld (Hg.), Hahnentorburg (Anm. 78), S. 180–184, hier S. 182 f. 181 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 107. 182 Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 203. 183 Ibid., S. 157, 344, 346 enthält den Hinweis auf die Könige nach ihrer Krönung in Aachen, die angeblich alle durch das Hahnentor gezogen seien. Dasselbe behauptet Udo Mainzer: Stadttore im Rheinland. Form – Funktion – Bedeutung (Veröffentlichung der Abteilung Architektur des kunsthistorischen Instituts der Universität Köln. Abteilung Architektur 3), Köln 1973, S. 37 f., und ders., Die staufischen Tore (Anm. 169), S. 51 f. 184 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 23 f. 185 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 105; vgl. auch Stefan Wunsch: Die Hahnentorburg als Erinnerungsort, in: Schwarz/Leifeld (Hg.), Hahnentorburg (Anm. 78), S. 171–179, hier S. 179.

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Abb. 4: Das Hahnentor 1894 (Foto-Album Köln, Verlag Römmler & Jonas, Dresden, RWWA 538–173–9–010).

Hahns am Tor.186 Dennoch beruht die Bezeichnung „Hahnentor“ auf einem Missverständnis, das sich mit dem Namen verband. Das Tor dürfte nach einem Personennamen, „Hagen“ oder ähnlich, benannt worden sein.187 Im 13. Jahrhundert hieß es auch gar nicht Hahnentor oder vergleichbar, sondern das „Neue Tor“ oder dergleichen. Aber schon im Mittelalter haftete dem Tor der Name „Hahnentor“ an, zweifellos eine Verballhornung des alten Namens „Hagenotor“, das an einem anderen Platz stand und einer vorhergehenden Zeit um 1106 angehörte.188 Da die Stadtrechnungen für die Jahre 1370–1381 erhalten sind, finden sich viele Angaben für Reparaturen, besonders für die Tore zur Feldseite hin. Seit den Anfängen der Rechnungsüberlieferung hatten die Rentmeister Ausgaben für magister Arnold, den Steinmetz, der auch besondere Steinsorten für die 186 Aegidius Gelenius: De admiranda, sacra et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum urbis, libri IV, Köln 1645, S. 80. Dazu die Abbildungen bei Mainzer, Stadttore (Anm. 183), Abb. 109–115. Das Hahnentor hatte jedoch auch nach dem Abriss der Mauer eine besondere Bedeutung; vgl. Otto Sarrazin/Hermann Eggert: Zur Kölner Stadterweiterung: Die Erhaltung des Hahnentores, in: Centralblatt der Bauverwaltung 1 (1881), Nr. 25, S. 215 f.; ibid., Nr. 37, S. 343 f. 187  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 10 f. 188  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 105; vor allem aber die Rekonstruktionen von Kristin Dohmen/Christoph Schaab: Von Steinen, Mörtel und Fugen, in: Schwarz/Leifeld (Hg.), Hahnentorburg (Anm. 78), S. 149–168.

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Ausbesserung der Tore beschaffte, magister Johann oder Hermann, die Zimmerleute, die für das benötigte Holz, auch Brennholz, und andere notwendige Gegenstände für die Tore sorgten, den Dachdecker, Lutgin, den Glaser, und für einen magister Hildebrand, der vorwiegend Blei und Zinn beigesteuert hatte, nachzuweisen.189 Jedenfalls hatten die Tortürme eigene Glasfenster. Dazu kam ein magister Wetzel, der vorwiegend Schlüssel, Schlösser, Haken oder Krampen, sogenannte pidel, vielleicht Dosen190, hergestellt hat. Auch ein Verputzer samt dem notwendigen Material wurde für die Türme herangezogen191, dazu zusätzlich ein Dachdecker.192 Sodann ist ein magister clustorum erwähnt, der Schlösser herstellte und nicht identisch mit dem Schmied Wetzel ist.193 Der magister clustorum besorgte gelegentlich Kanonen, auch wohl Pulver und anderes.194 Einmal wird eine Lafette für eine Kanone erwähnt, die mit dem Pulver angeschafft worden ist.195 Selbstverständlich wurde auch gelegentlich die Mauer zwischen den Toren ausgebessert, wie es beispielsweise 1371 und 1378 geschehen ist.196 Einmal ist auch ein Stein, das am Weihertor für die Ableitung des Regenwassers angebracht wurde, bezeugt.197 Diese Vorgänge und auch die vorher aufgeführten Männer sind allerdings in den Schreinsbüchern nicht auffindbar oder zu identifizieren, so dass sie einzig in den Rechnungen der Rentmeister zu finden sind. Ob das Baumaterial der Mauer von der alten Römerbefestigung, die nun überflüssig geworden war, genommen worden ist, bleibt umstritten198 und ist vermutlich für viele Teile nicht nachweisbar. Ebenso wenig sind die Steine der von den Bürgern 1288 zerstörten erzbischöflichen Schlösser von Worringen und Zons, die angeblich für den bürgerlichen Mauerbau verwendet worden seien, nachzuweisen. Beide Hinweise sind für die Stadtmauer sowohl auf der Feld- wie auf der Rheinseite jedoch plausibel zu machen, auch wenn ein direkter Nachweis zu fehlen scheint.

189  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 4ff.; vgl. auch Knipping, Jahreshaushalt (Anm. 128), S. 147. 190 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 6 f. 191 Ibid., S. 129, 154, 158, 227, 229, 247, 250, 266, 273, 287, 308. 192 Ibid., S. 152, 177, 204, 246. 193 Ibid., S. 194, 203, 220, 270, 325. 194 Ibid., S. 226, 229, 242. 195 Ibid., S. 242: pro sulphure et 1 banco ad balistas. Banko bedeutete in diesem Fall Lafette und balista eben Kanone. Später nannte man die Lafette auch Wagen; ibid., S. 405 (1469). 196 Ibid., S. 70, 302. Eine Mauerwache ist 1378 als Ausgabe in den Stadtrechnungen eingetragen, ibid., S. 317. 197 Ibid., S. 346 (1379): […] et pro 1 lapide ad aquas super porta Piscine. 198 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 74.

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Man verbaute nicht nur Hausteine, sondern brachte auch Sand und Kalk oder auch Ziegelsteine heran.199 Besonders Ziegelsteine mögen für den Bau der Mauern und Türme gebraucht worden sein. Jedoch können Einzelheiten der Ausbesserungsarbeiten ausgeklammert werden, da sie nur wenig zu dem Äußeren der Befestigungsanlagen beitragen können. Was die Tortürme betrifft, so ist nur das Hahnentor genauer untersucht. Es sei „aus den damals in Köln und im Rheinland gebräuchlichen Baumaterialien“ errichtet worden.200 Der Basalt sei allerdings mit „Römertuff“ gefüllt worden. Dazu sei in oberen Geschossen Trachyt aus dem Drachenfels gekommen.201 Der untere Teil sei in der Mode der Zeit mit Buckelsteinen gegliedert worden. Der mittelalterliche Mörtel sei noch nachzuweisen. Ursprünglich sei es ein „sehr heller Kalkmörtel“ gewesen.202 In den oberen Geschossen habe man Tuffstein verwandt, der allerdings nicht aus römischen Vorgängerbauten gestammt habe, sondern im 13. Jahrhundert gebrochen worden sei.203 Im Übrigen ist in der Zeit zwischen dem 13. und dem 20. Jahrhundert viel gebaut worden. Immerhin wird man sagen können, dass die meisten Tortürme des 12. und 13. Jahrhundert ungefähr so wie das Hahnentor ausgesehen haben werden, auch wenn sie sich im Detail unterschieden haben mögen. Wichtiger ist schon hervorzuheben, was den Rechnungen zum Aussehen der Tortürme zu entnehmen ist. Wohl jeder Turm über den sogenannten „offenen Toren“ hatte eine Stube, also einen heizbaren Raum mit einem Kamin, in dem sich zumindest der „Burggraf“ zeitweilig aufhalten konnte. Eine solche heizbare Stube ist für das Hahnentor bezeugt204, aber auch für das Severins-, das Ehrentor, den Eigelstein205 und Bayenturm zu belegen.206 Für den Bayenturm ist zum Jahr 1377 ausdrücklich zu lesen, dass der Steinmetz in der Stube Kacheln angebracht habe.207 Ebenso wichtig ist jedoch, dass die Stube beheizbar war. 1371 sorgten der „Umlauf“ und seine Mitarbeiter unter anderem für Kohle im Kunibertsturm.208 In den Kunibertsturm wurde im gleichen Jahr abermals Kohle gebracht.209 Im 199  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 49, 70. 200  Dohmen/Schaab, Von Steinen (Anm. 188), S. 149. 201 Ibid., S. 149 f. 202 Ibid., S. 151. 203 Ibid., S.155ff. 204  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 12; vgl. auch Dohmen/Schaab, Von Steinen (Anm. 188), S. 165 f., 168. 205 Vgl. dazu Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 113, zum Jahr 1373: für Kalk für die Stube. 206 Ibid., S. 210, 214, 216, 220, 222, 227, 249, 252, 256, 327, 359, 407. 207 Ibid., S. 224, 281. 208 Ibid., S. 45. 209 Ibid., S. 45.

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darauffolgenden Jahr war für alle Tore, vor allem solche zur Feldseite hin, Holz zum Heizen vorgesehen.210 Ein Jahr später wurde Holz zum Heizen dem Weihertor geliefert.211 1376 wurde Feuerholz für das Ehrentor und die Nächelskuhle und wieder für das Ehrentor bereitgestellt.212 Im gleichen Jahr wurde Kohle für die Heizung des Severinstores und für das Ehrentor gebracht.213 1380 lieferte man Feuerholz für den Bayenturm.214 Im Übrigen ist das häufige Vorkommen von Brennmaterial für die Tore sowohl zur Feldseite wie auch zum Rhein hin in den Stadtrechnungen bemerkenswert. Aber es ist genauso erwähnenswert, dass verschiedene Burggrafen selbst für Heizmaterial zu sorgen hatten. Für 1396 ist ferner angegeben, dass allen Tortürmen Holz oder Kohle für deren Heizung geliefert worden seien.215 Auch später ist von Holzund Kohlelieferungen zugunsten der Tortürme die Rede gewesen. Für 1495 ist nochmals Holz und Kohle für die Türme bezeugt. Die Heizung dürfte vor allem in der Winterzeit nur selten auf den Türmen gefehlt haben. Es ist außerdem noch zu beachten, dass Meister Arnold den Kunibertstorturm 1373 mit einem Estrich (ern) versah.216 Man wird vermuten dürfen, dass auch die anderen Tortürme mit einem Estrich oder Bodenbelag ausgestattet waren, der für die Behaglichkeit vor allem der Burggrafen sorgte. Ferner verfügte wohl jeder der Türme, vor allem die, in denen Gefangene gehalten und teilweise angekettet worden waren, über ein Kellergeschoss oder einen Raum im „unteren“ Teil des Turmes. Wie diese „Verliese“ jedoch ausgestattet waren, ist den verfügbaren Quellen kaum zu entnehmen, zumal einige Quellen darauf hindeuten, dass der Raum für Gefangene manchmal nicht in unteren Gemächern untergebracht war, wie es sonst in anderen Gegenden geschehen ist. Die Tortürme mussten gesäubert werden, ob darin Gefangene bewacht wurden oder ob sich dort nur die Burggrafen mit ihrem Personal aufhielten. In der Regel wird das Personal des Burggrafen den Befehl erhalten haben, den Turm zu säubern. Aber es gab auch Anlässe dazu, dass außenstehende Personen die Türme reinigen ließen. In erster Linie kam für eine solche Aufgabe der „Umlauf“ in Frage. Ihm und seinem Personal oblag es 1374, 1376 und 1378, sämtliche Türme zu säubern und zu putzen.217 Es mag durchaus öfter vorgekommen sein, dass der „Umlauf“ und dessen Personal aufgefordert wurde, die 210 Ibid., S. 102. 211 Ibid., S. 107. 212 Ibid., S. 210, 216 f., 220 f., 227, 253, 248, 277. 213 Ibid., S. 220, 222, 245, 249, 258. 214 Ibid., S. 378. 215 Ibid., S. 391 f. 216 Ibid., S. 122. 217 Ibid., S. 149, 223, 251, 289, 307.

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Tortürme zu reinigen, aber das ist den Stadtrechnungen nicht mehr zu entnehmen. Jedoch wurde nicht nur der „Umlauf“ verpflichtet, sondern auch der bereits erwähnte Mann namens Rost, der aber auch wohl nicht persönlich die Aufgabe übernahm, sondern seinen Mitarbeitern das Reinigen der Türme überließ.218 Rost übernahm nachweislich auch andere Aufgaben. Fast jeder Torturm hatte wohl seinen eigenen Abort oder Abtritt, auch wenn in den Stadtrechnungen nicht immer alle angegeben sind. Da es sich um Aborte gehandelt hat, die als Gruben oder Kammern ohne Kanalisation ausgestaltet waren, mussten sie regelmäßig gereinigt werden. Diese Tätigkeit verrichteten die „Umläufe“, ebenso die sogenannten cloacarii oder goltgrever219, die wahrscheinlich das Ergebnis ihrer Arbeiten in den Rhein geworfen haben. Solche Abtritte oder wenigstens deren Reinigungsarbeiter sind ausdrücklich für das Pantaleons-, das Ehrentor, den Kuniberts-, den Frankenturm, den Eigelstein und den Bayenturm bezeugt.220 Für die anderen Tortürme zum Feld hin ist dergleichen wohl vorauszusetzen. Einmal wurde sogar befohlen, den Abtritt des Eigelsteins zu reparieren.221 Das ist auch gar nicht anders zu erwarten, wenn diese Türme zumindest zeitweise Gefangene beherbergt haben, selbst wenn die Verliese oder Räume für Gefangene über keinen eigenen Abtritt verfügten. Einmal ist sogar von einer Reinigung des Severinstores die Rede gewesen.222 Im Frankenturm wurde 1376 die sedes des Abtritts, der hemelichen cameren. erneuert und 1380 für die privata camera, also für den Abort, Geld gegeben.223 Für das Reinigen der heimlichen Kammern waren Gebühren vorgesehen, damit den Schützen der Aufenthalt auf den Toren zumutbar war.224 Auch an der Rheinseite wurde der Abtritt gereinigt.225 Es wird vor allem um die Aborte gegangen sein, auch wenn vermerkt wurde, dass das ganze Tor gesäubert worden sei.226 1380 ist sogar einmal eine Dienerin Aleid genannt, die ein Urinal (minctorium) gereinigt haben soll.227 Ob sie allerdings auch auf den Türmen tätig geworden ist, ist in den Rechnungen nicht gesagt. Wichtiger für die Rentmeister war wohl, dass die Tortürme einen Durchlass aus Holz besaßen, der während der einbrechenden Dunkelheit geschlossen 218 Ibid., S. 253, 323. 219 Vgl. beispielsweise ibid., S. 37 f. 77, 79 f., 163, 226, 246, 332, 344. 220 Ibid., S. 12ff., 38, 40, 74 f., 76, 80, 128, 155, 163, 241, 246, 261, 263, 332, 344, 362, 368. 221 Ibid., S. 81. 222 Ibid., S. 145. 223 Ibid., S. 226, 378. 224  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 507 f. Nr. 341; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 513 Nr. 1474,19. 225  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 241, 344, 378. 226 Ibid., S. 251. 227 Ibid., S. 382.

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werden konnte. Zwar ist nur selten zu erahnen, wofür die Holzlieferungen der Zimmerleute bestimmt waren, aber es mag hin und wieder auch vorgekommen sein, dass frisches Holz für die Tore benötigt wurde. Ferner ist des Öfteren bezeugt, dass das Holz auch für das Verbrennen in einem Ofen genutzt wurde.228 Zumindest ist angegeben, dass öfter die Querbalken ausgebessert werden mussten, weil diese Balken sehr anfällig waren. Schon 1307 und dann 1370– 1371 und 1377 wurden die grindelen genannt, gemeint waren hölzerne Balken, die ausgewechselt oder repariert werden sollten.229 Zur Sicherung der Stadt ließ der Rat auch an den äußeren Toren zur Feldseite hin solche hölzernen Balken anbringen.230 1371 konnte sogar ein grindel bemalt werden231 und 1380 konnte ein Müller (molendinarius) einen grindel schließen.232 1466 schloss Johann von Turre zwei hölzerne Balken (gryndelen) vor dem Eigelstein.233 Damit war das Wort grindele für den hölzernen Balken an dem Vortor vor dem eigentlichen Stadttor benutzt worden.234 Dass das Wort „hölzerne Pforte vor den Stadttoren“ bedeutet haben soll, ist den Stadtrechnungen nicht zu entnehmen, zumal die grindele bereits vor der Entstehung der Bollwerke erwähnt sind und damit gar nicht die „hölzerne Pforte vor dem Stadttor“ gemeint sein kann.235 Man wird wohl annehmen müssen, dass das Wort grindele einen Balken bezeichnete, der das Tor zusätzlich sicherte, wie es noch heute einzelne Tortürme nahelegen.236 Das Wort bedeutet im Übrigen auch „Querbalken“. Es ist dabei weniger an Fallgatter zu denken237, wie sie auch noch heute an manchen Stadttoren zu finden sind. Zur Sicherung der Stadt ließ der Rat vielmehr die Querhölzer auch von einem Stadtschmied namens Wetzelo verstärken, aber meist war es der städtische Zimmermann, der die Querhölzer reparierte oder auswechselte.238 Es hat auch Fallgatter an den Toren gegeben, die allerdings in den erhaltenen Stadtrechnungen nicht vorkommen. Wenigstens für den Eigelstein ist 1370 angegeben, dass die callen, gemeint sind damit Regenabflussrohre, erneuert worden seien.239 Es scheint so gewesen zu sein, dass der Bayenturm eine Besonderheit im stadtkölnischen Verteidi228 Ibid., S. 17, 102, 107, 210, 227, 360. 229 Ibid., S. 11, 13, 38 f., 44, 92, 97, 265, 292, 375. 230 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 501 Nr. 332,9. 231 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 44. 232 Ibid., S. 375. 233 Ibid., S. 406. 234 Vgl. ibid., S. 474; auch Quellen (Anm. 31) III, S. 518 f. Nr. 543. 235 Vgl. aber Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 309 Nr. 192,3. 236 So auch Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 11; Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 501 Nr. 332,9. 237 Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 159ff. 238 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 11, 13, 39, 92, 97, 265, 292, 375. 239 Ibid., S. 9.

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gungssystem dargestellt habe. Denn für ihn rechnete der Glaser 1375 und 1376 für das Einströmen des Tageslichts und für andere Fenster ab.240 Auf dem Bayenturm, oder besser gesagt in dem Keller oder Erdgeschoss, ist offenbar ein Brunnen, ein Pütz, angelegt worden, der 1376 belegt ist und bereits im Jahr darauf gereinigt werden musste.241 Vergleichbare Brunnenanlagen scheint es auch am Pantaleons-, am Hahnen- und am Friesentor gegeben zu haben.242 Möglicherweise hat es solche Brunnen auch auf oder an anderen Tortürmen zur Feldseite hin gegeben. Im Bayenturm ist 1493 auch ein Sommerhaus (sommerhuiss) erwähnt.243 Was darunter zu verstehen ist, ist allerdings nicht ausgeführt. Nicht nur zu Zeiten der erhöhten Wachsamkeit wegen feindlicher Tätigkeiten benachbarter Fürsten oder anderer Herren wurden den Burggrafen und Wächtern auf den Toren zum Felde, aber auch zum Rhein hin Kerzen gereicht. Sie leuchteten zwar nicht in die Nachbarschaft der bewachten Mauern, gaben den Burggrafen und Wächtern aber die Möglichkeit, sich zu konzentrieren und während der Nacht wach zu bleiben. So wurden 1377 beispielsweise auf das Ehrentor Kerzen gebracht.244 1396 und 1475 erhielten Burggrafen auf ihren Toren ebenfalls Kerzen.245 Eine Besonderheit war die Verpfählung des Rheins am Bayenturm. Denn während des sogenannten Schöffenkriegs (1375–1377) befürchtete der Rat einen Angriff des Kölner Erzbischofs und wollte einer Annäherung an die Stadt vom Rhein her vorbeugen. In der Mitte des Jahres 1376 befahlen die Ratsherren daher, den Rhein zu verpfählen.246 Nachdem der Streit Anfang 1377 beigelegt war, musste der Zimmermann mit seiner Mannschaft die Pfähle wieder aus dem Rhein entfernen247, um die Schifffahrt nicht zu gefährden. 1418 haben die Kölner ein weiteres Mal den Rhein bei Bayen verpfählt.248 1465 ließ der Rat die rechte Rheinseite bei Deutz mit Pfählen unbrauchbar machen, um die Schiffer auf den an der linken Rheinseite gelegenen Leinpfad zu zwingen.249 Allerdings kam es durchaus häufiger vor, dass der Rhein gesperrt war und damit zumindest von einer Seite her die Rheinschifffahrt entweder von ober240 Ibid., S. 194, 245. 241 Ibid., S. 247 f., 257, 275. 242 Ibid., S. 168, 268, 308. 243  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 178b Nr. 13. 244  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 260, 407, 409. 245 Ibid., S. 394, 407. 246  Wolfgang Herborn: Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter (Rheinisches Archiv 100), Bonn 1977, S. 120; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 226; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 26, 41, 134; XIV, S. 719. 247 Vgl. etwa Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 261 und öfter. 248 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 147. 249  Kuske, Quellen (Anm. 125) II, S. 163 Nr. 390,I,3; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 326 f. Nr. 1465,27.

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halb oder unterhalb Kölns unterbrochen worden war, wie es 1492 und 1496 beispielsweise geschehen ist.250 Die Rheinseite war weniger aufwendig als die Feldseite gestaltet. Die Befestigungsanlagen an den einzelnen Toren und der Mauer am Rheinufer galten während des Mittelalters wohl als vergleichsweise ungefährdeter.251 Am ehesten ist der Frankenturm mit den Feldtoren vergleichbar. In ihm wurden auch Gefangene gehalten.252 Schon infolgedessen hatte der Frankenturm einen eigenen Abtritt, der gelegentlich gereinigt werden musste.253 Der Turm zählte auch zu den älteren Befestigungsanlagen am Rheinufer und war ursprünglich, wie noch die vermauerten Rundbögen erkennen lassen, ein Tor durch die Mauer vom Rheinufer zum Stadtinneren. Noch 1466 ist ein Burggraf auf dem Frankenturm zu belegen.254 Die verwitterten drei Figuren über dem vermauerten Tor könnten die Heiligen Drei Könige gewesen sein.255 Durch das Tor des Frankenturms könnte also der Kölner Erzbischof Reinald von Dassel 1164 die Reliquien der Heiligen Drei Könige in den Dom überführt haben. Allerdings ist nirgends gesagt, dass Reinald dieses Tor mit den Reliquien durchquert habe.256 Außerdem ist der Turm erst 1342 als turris trium regum bezeugt. 1370 ist er als Frankenturm belegt.257 Später jedoch haben die Kölner den feierlichen Einritt des Erzbischofs weiter südlich zur Dreikönigenpforte hin verlegt. Die 1296 bezeugte Pforte hieß ursprünglich porta Rheni oder auch porta molendinorum, einmal 1470 auch Lynhofsportz.258 Erst anschließend wurde sie wohl noch im Mittelalter umgedeutet in die Pforte, durch die der Erzbischof die genannten Reliquien der Heiligen Drei Könige in die Stadt gebracht haben soll. Der Woensamprospekt von 1531 zeigt dann auch die Heiligen Drei Könige als Standbilder an der Pforte. Fortan sollen die genannten Reliquien durch die Dreikönigenpforte eingeführt worden sein, obwohl es das Tor zu Zeiten des Erzbischofs Reinald von Dassel noch gar nicht gegeben hatte. Die Legende hatte sich in der Kölner Überlieferung verfestigt259, so dass fortan der Erzbischof die Reliquien durch die Dreikönigenpforte geführt habe. 250 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. 172, 174. 251 Zu den Toren und Befestigungsanlagen vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 139ff.; Mainzer, Stadttore (Anm. 183), S. 19ff. 252 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 302 Nr. 141,1. 253 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 226, 261, 279, 332. 254 Ibid., S. 403. 255 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 148 f. 256 Vgl. REK (Anm. 18) II, Nr. 804. 257  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 4; Mainzer, Stadttore (Anm. 183), Abb. 164 f. 258 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 140. 259 Vgl. die Koelhoffsche Chronik von 1499, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 514 f. Vgl. auch die Faksimileausgabe der Chronik von 1972, S. 174. Neuerdings

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Zählt man alle Tore zusammen, die in den von Hans Vogts beschriebenen „Kunstdenkmälern“ für die Rheinseite angegeben sind, kommt man auf insgesamt 25 Tore oder Pforten.260 Von ihnen sind aber nicht alle durchgängig passierbar gewesen, sondern teilweise vermauert, wie es beim Frankenturm auch auf dem Woensamprospekt von 1531 noch zu sehen ist, oder zugeschüttet und vermauert wie der Durchgang zur Kirche St. Maria Lyskirchen, wie es ebenfalls im genannten Prospekt zu bemerken ist.261 Hervorzuheben ist ferner, dass das auswärtige Kloster Eberbach, das schon längst vor der 1180 erfolgten letzten Stadterweiterung während des Mittelalters seine Besitzung zu einem Klosterhof ausgebaut hatte, 1292 die sogenannte Servatiuspforte samt dem zugehörigen Turm erwarb.262 Die Stadt behielt sich zwar vor, den Turm und die Pforte im Verteidigungsfall zu nutzen, jedoch hatte das Kloster seinen Zweck erreicht. Es konnte nun seinen Wein direkt vom Rheinufer in die eigenen Keller des Klosterhofes bringen und dort zum Verkauf anbieten lassen. Im Laufe der Zeit hatte das Kloster auf der Pforte sogar einen Gaden oder eine Verkaufsbude oder Kiosk errichten lassen. Das Kloster Eberbach hatte damit eine Stellung in der Stadt Köln wie keine andere geistliche Institution erlangt, zumindest hinsichtlich der Stadtmauer zum Rhein hin. Aber diese Sonderstellung bestätigt wiederum den geringen Wert, den der Kölner Rat der Mauer auf der Rheinseite zumaß. Allerdings hatte der Rat am Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Eberbacher Hof und der Servaspforte insofern Schluss gemacht, als das Kloster Köln verließ und in Zons einen entsprechenden Hof errichtete.263 Sicher gab es auch am Rheinufer größere Befestigungswerke, die den Toren zum Feld geglichen haben. So verfügte das Trankgassentor samt dem Turm über einen Abort.264 Andere Tore werden auch auf der Rheinseite auf solche Abtritte nicht verzichtet haben.265 Ferner gehörte zu den größeren Befestigungswerken das Haus Brempt, das die Stadt erst 1373 kaufte und zu einem

hat Horst-Johannes Tümmers die Legende nacherzählt: Horst-Johannes Tümmers: Die schönsten Sagen und Legenden aus Köln, Essen 1984, S. 76ff., besonders S. 98. 260  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 139ff. 261 Ibid., S. 142. 262 Quellen (Anm. 31) III, S. 322 Nr. 362; Gerd Steinwascher: Die Zisterzienserstadthöfe in Köln, Bergisch Gladbach 1981, S. 22ff.; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 74a Nr. 4. 263  Steinwascher, Zisterzienserstadthöfe (Anm. 262), S. 69ff. 264  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 241, 344. 265 Vgl. Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 39 f. Nr. 8,VIII,11: Danach durften jedenfalls nach einer Bestimmung von 1341 nur städtische Tore und Türme der Mauer zur Feld- und zur Rheinseite hin über Aborte verfügen. Ausgenommen war das Haus Rheinberg.

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festeren Haus ausbaute.266 Die Nächelsgassenkaule war zunächst ebenfalls unter Vorbehalt, dass die Stadt sie im Verteidigungsfall benutzen dürfe, im Privatbesitz, wurde aber 1401 der Stadt verkauft267 und blieb seitdem in deren Besitz. Der Turm samt der Pforte wurde zu einem mächtigeren Bollwerk ausgebaut. Besonders der sogenannte „Rheinberg“ war im 15. Jahrhundert oder schon etwas früher als Verteidigungswerk errichtet worden.268 Da der städtische Rat weniger Sorgfalt auf die Rheinseite der Befestigung legte, haben deren Tore verschiedene Personen des Nachts geschlossen und morgens wieder geöffnet.269 Diese Personen sind jedoch nicht als „Burggrafen“ wie auf den Toren der Feldseite oder auch auf dem Frankenturm zu bezeichnen. In der überwiegenden Zahl waren es vor 1396 Angehörige der Geschlechter, die dafür jedes Jahr 5–25 oder gar 30 Mark erhielten. Dazu kamen aber auch Männer aus anderen Verhältnissen, wie der Goldschmied Heinrich von Westhoven, der das Trankgassentor und die Waldmannsgassenpforte schloss und dafür 15 und 5, später sogar insgesamt 45 Mark bekam.270 Auch Peter von Mirwilre, der unter anderem auch als Weinhändler für den Rat tätig war271, Johann Buck vom Herschiffe272, Heinrich Junge von Sygen273, der Zimmermann Johann von Ubach274 und schließlich Werner von der Molen (de Molendino) bekamen Geld für die Schließung der Tore. Werner von der Molen erhielt für die Schließung von zwei Rheinpforten für ein halbes Jahr 15 Mark.275 Dieser Brauch mag auch noch im 15. Jahrhundert weitgehend beibehalten worden sein, wie vereinzelte Nachrichten bezeugen können.276 Einmal ist sogar 266 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 133; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 177a Nr. a. 267 Keussen, Topographie (Anm. 15) Bd. 2, Sp. 25b Nr. 10. 268 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 145; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 86a Nr. 1. 269 Das war schon so seit 1348 und wohl noch früher: Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 18 f. Nr. 28; auch Quellen (Anm. 31) IV, S. 311 Nr. 298, mit falschem Tagesdatum; vgl. auch Stein, Akten II, S. 477 f. Nr. 307,60 (1470). 1470 wurden die Tore der Rheinseite von 34 Personen geschlossen und wieder geöffnet. 270 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 155, 253, 274, 306, 383; vgl. Klaus Militzer: Ursachen und Folgen der innerstädtischen Auseinandersetzungen in Köln in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 36), Köln 1980, S. 102. 271 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 107, 139, 147, 159, 175, 211, 248, 268, 281, 292, 322, 349. 272 Ibid., S. 313, 334. 273 Ibid., S. 311, 348, 384; Klaus Militzer: Die Kölner Neubürger Bruno und Heinrich Junge aus Nordhausen in Thüringen, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 50 (1979), S. 91–118, hier S. 101 f. 274 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 348, 383. 275 Ibid., S. 384. 276 Ibid., S. 401 (1466), 406 (1475), 409 (1475).

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das Heilig-Geist-Spital als Besitzer eines Hauses oder Turmes auf der Rheinseite erwähnt.277 Die Bewachung der Mauer auf der Rheinseite war allerdings keineswegs so unproblematisch, wie es anhand der bisherigen Nachweise erscheinen könnte. Immerhin sah sich der Rat genötigt, den Rhein gelegentlich verpfählen zu lassen. 1377 wurden die stärkere Anlage an der Nächelsgasse, die sogenannte Nächelsgassenkaule, wie auch der Torturm, genannt Vollenho, von bewaffneten Söldnern bewacht.278 Die mit Bogen oder Armbrüsten bewaffneten Soldaten patrouillierten außerdem auf dem Rheinufer vor den Toren der Stadt. Für die Verteidigung der Stadt war es wichtig, ausreichend mit Pulver für die Kanonen versorgt zu sein. Nun sind allerdings keine Pulvertürme wie in anderen Städten bezeugt. Es scheint vielmehr so gewesen zu sein, dass die von der Stadt angestellten Büchsenmeister beauftragt wurden, Pulver herzustellen. Das geschah in deren Wohnhäusern. Jedenfalls sind Katastrophen, ausgelöst durch Explosionen von Pulvervorräten, fast nur in Wohngebäuden, vorwiegend in solchen, in denen Büchsenmacher lebten und arbeiteten, vorgekommen.279 In der Mitte der Stadt wurden auch Pulvermühlen verboten280, die aber notwendig waren, wenn die zahlreichen Kanonen mit Pulver versehen werden sollten. 1377 erhielt ein Mann namens Culwes für die Wache am Rheinufer Geld, weil er die Stadt vor einem möglichen Angriff bewahrte, als der Fluss Eis anschwemmte.281 Vollkommen zugefroren war er 1378282, dann wieder 1432, 1435 und 1491283 – aber auch schon vorher, etwa 1127.284 1376 und 1377 wurden wohl wegen des Eisganges die Rheinmühlen von Schützen bewacht.285 Möglicherweise waren die Mühlen vom Rhein an das Ufer vor den Toren Kölns geholt worden. 1379 musste Culwes ebenfalls die Schiffe wegen des Eisganges bewachen.286 Eine solche Vereisung des gesamten Flusses verband 277  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 40 f. Nr. 45. 278  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 255ff. 279  Loesch, Zunfturkunden (Anm. 16) II, S. 379 f. Nr. 601 (1465), Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 168; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 279 Nr. 1470,10; vgl. auch Beschlüsse III, S. 563 Nr. 1528,837; S. 598 Nr. 1529,158; Beschlüsse V, S. 586 Nr. 1548,222; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 407. 280  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 269 Nr. 161; Loesch, Zunfturkunden (Anm. 16) II, S. 379 Nr. 599; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 152 Nr. 1433,13. 281  Knipping II, S. 255–257; ferner ibid., S. 289 (1378), 323 (1379). 282 Das berichtet das Kölner Jahrbuch C, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 75. 283 Ibid. XIII, S. 166, 170; XIV, S. 771, 774, 879. 284  Lückerath, Coloniensis ecclesia (Anm. 33), S, 37 285  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 239, 252, 257: sie wurden 1376 auch von Ludwig Draye und seinem Gefolge bewacht. 286 Ibid., S. 323.

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beide Ufer, machte den Fluss zu Fuß passierbar und damit die geringer befestigte Rheinmauer und vor allem den vorgelagerten Hauskran verletzlich. Das Hochwasser des Rheins bereitete dem Rat ebenfalls Sorgen. Denn Matthias vom Spiegel schloss 1376 seine Tore und auch andere wegen des einsetzenden Hochwassers.287 Auch 1409 gab es Hochwasser, ebenso 1432 und 1497.288 Wichtige Verteidigungspunkte an der Rheinseite wurden damals zudem von Söldnern mit Bogen oder Armbrüsten besetzt.289 Mit dem anschließenden Hochwasser waren ebenso die Häuser gefährdet, die am Ufer lagen. Solche Hochwasser gab es schon 1146, 1179 und 1246290 und wird es auch häufiger gegeben haben. Vereisungen des Flusses, wie oben angedeutet, hat es schon früher und auch später gegeben. Bezeugt sind derartige Ereignisse für 1305, 1365, 1432, 1434 und 1435.291 1491 berichtete die sogenannte Koelhoffsche Chronik, dass der Rhein zugefroren sei und die Leute trockenen Fußes nach Deutz hätten überwechseln können, dass ein solches Ereignis aber selten vorgekommen sei.292 Leider sind derartige Wetterkapriolen nur in chronikalischen Quellen bezeugt, so dass eine Überprüfung anhand von Rechnungen oder Rechnungsfragmenten ausfällt. Ebenso gefährlich wie die Vereisung des Flusses war dessen Austrocknung, die allerdings noch seltener vorgekommen zu sein scheint. Ausdrücklich ist sie nur für 1130 überliefert. Damals habe man fast trockenen Fußes den Rhein überqueren können.293 Ob die Aussage zutrifft, ist nicht mehr nachzuprüfen. 1388 sei immerhin ein Jahr mit geringen Niederschlägen gewesen, so dass die Brunnen ausgetrocknet seien und der Rhein nur wenig Wasser geführt habe.294 Da der Schreiber der chronikalischen Nachricht näher zum Ereignis gestanden hat, mag die Aussage zutreffen. Nachprüfen lässt sie sich allerdings auch nicht. Überschwemmungen Kölns durch den Fluss bis zu der alten Römerstadt sind wohl häufiger vorgekommen295, waren allerdings für die Stadtverteidigung von geringerer Bedeutung. Immer wieder wird behauptet, die Stadtmauer habe zur Feldseite hin zwölf Tore wie das heilige oder himmlische Jerusalem gehabt. Diese Vorstellung hat 287 Ibid., S. 139. Schon 1374 erhielt magister Johann, der Zimmermann, Geld wegen des Hochwassers, ibid., S. 143. Zum Februar 1374 berichten die Kölner Chroniken von Überschwemmungen durch den Rhein: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 25, 40 und öfter, vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 143 Anm. 1. 288 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 116; XIV, S. 771, 745, 900 f. 289 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 243 f., 246ff., 250ff., 264, 281. 290 Lückerath, Coloniensis ecclesia (Anm. 33) S. 37, 39. 291 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 20, 32, 124, 166, 170. 292 Ibid., XIV, S. 879. 293 Ibid., XIII, S. 18. 294 Ibid., S. 46, 78. 295 Ibid., S. 25, 30, 48, 72, 161, 166 f.

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sich in das Gedächtnis der Kölner eingegraben. Dem ist aber nicht so.296 Gottfried Hagen spricht in seinem Dit is dat boich van der stede Colne sogar von 14 Toren. Er hat seine Verschronik 1270 verfasst und teilt uns ein Ereignis von 1262 mit.297 In den sonstigen Annalen des 13. Jahrhunderts ist die Rede von 13 Toren.298 In der frühen Überlieferung sind also 14 oder 13 Tore genannt. Der Herausgeber der Kunstdenkmäler Hans Vogts hat versucht, die Angaben mit seiner, von ihm betrachteten Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Die 14 Tore sind mit Einschluss der Kahlenhäuser Pforte korrekt, während die 13 Tore unter Umgehung der oben genannten Pforte richtig wären.299 Wenn man der Kölner Überlieferung von zwölf Toren Glauben schenken will, muss man ein Tor auslassen, entweder das Kuniberts- oder das Bayentor. Meist wird das Bayentor beiseitegelassen. Außerdem ist nur die Feldseite in die Zahl der Tore einberechnet, während die Rheinseite unberücksichtigt bleibt.300 Zur Rheinseite hin geht man immerhin im Gegensatz zu den Kunstdenkmälern von 21 oder mehr Pforten oder Toren aus.301 Offenbar waren die Ingenieure oder Baumeister der Kölner Befestigung auch im Mittelalter schon weiterschauend und umgaben die Stadt nicht nur symbolisch, sondern nach ihrem Bedarf mit Toren in einer Umfassungsmauer.302 Zumindest hat sich in manchen Vorstellungen der Führungsschicht festgesetzt, dass das kreisrunde heilige Jerusalem mit zwölf Toren auch für Köln Vorbild sein könne. Das älteste Kölner Siegel, das vermutlich zwischen 1114 und 1119 geschnitten wurde, hat einen Architekturrahmen, der an das heilige 296 Kritisch zu einem Vergleich mit dem himmlischen Jerusalem Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 63, 92; vgl. auch Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 74. 297 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 93 Vers 2475; Gottfried Hagen, Reimchronik (Anm. 68), S. 97 Vers 2475. 298 Annales Colmarienses, in: MGH SS XVII (1861), zum Jahr 1281. 299  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 74; vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 297 f., die ebenfalls 13 Tore nennt. 300 Noch Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 345, nennt im Gefolge von Udo Mainzer (z. B. Mainzer, Stadttore (Anm. 183), S. 37 f., oder ders.: Die staufischen Tore (Anm. 169), S. 47 f.) die Zahl der zwölf Tore auf der Feldseite. Er stellt ebenfalls im Gefolge von Mainzer einen Bezug zum himmlischen Jerusalem her. Auch Wilfried Ehbrecht hat wieder zwölf Tore zur Feldseite hin gezählt: Wilfried Ehbrecht: Die Stadt und ihre Heiligen. Aspekte und Probleme nach Beispielen west- und norddeutscher Städte, in: Ellen Widder/Mark Mersiowsky (Hg.): Vestigia Monasteriensia: Westfalen – Rheinland – Niederlande (Studien zur Regionalgeschichte 5), Bielefeld 1995, S. 197– 261, hier S. 200; vgl. auch ibid., S. 200 f. Anm. 8. Allerdings ging man 1397 in den Rechnungsfragmenten von zwölf Burggrafen aus; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 394. Zehn Tore auf dem feldseitigen Halbkreis nimmt dagegen noch Knipping, Jahreshaushalt (Anm. 128), S. 145 an. 301  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 1), S. 297 f. 302 Dem neigt auch Mainzer, Die staufischen Tore (Anm. 169), S. 47 f. zu. Allerdings weicht er nicht von dem Ideal der zwölf Tore zur Feldseite ab.

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Jerusalem erinnert.303 Das zweite Kölner Stadtsiegel ist wohl 1268/69 geschnitten worden und sollte auch das himmlische Jerusalem symbolisieren.304 Aber es ist zu fragen, wer ein Siegel überhaupt sehen und sich den Inhalt erschließen konnte. Es war allenfalls die Führungsschicht, d. h. die Geschlechter und später die Ratsherren, die überhaupt die Gelegenheit zur Einsichtnahme in das Typar und den Symbolwert des Siegels erhielten. Den „gemeinen“ Bürgern war jedenfalls der Sinn der Siegel verschlossen, einmal weil sie die Siegel gar nicht zu Gesicht bekamen und zweitens weil sie nicht die Bildung besaßen, das Siegelbild zu interpretieren. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Tore auch sakrale Funktionen hatten. Zwar ist in keinem Fall auf der Feldseite eine Kapelle nachzuweisen, wie es offensichtlich in anderen Städten der Fall gewesen zu sein scheint.305 Lediglich am Rheingassentor zum Rheinufer hin ist eine Kapelle zu belegen306, ebenso an der Servasgasse an dem sogenannten Mönchstor.307 Vor allem zur Feldseite hin sind auf den Tortürmen keine Kapellen nachzuweisen. Dennoch hatten auch Kölner Tore eine sakrale Funktion, die weniger auf den Neuan303  Toni Diederich: Rheinische Städtesiegel (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jahrbuch 1984/85), Neuss 1984, S. 261ff.; ders.: Die alten Siegel der Stadt Köln (Aus der Kölner Stadtgeschichte), Köln 1980, S. 14–61; Manfred Huiskes: Siegel und Wappen der Städte Köln und Andernach vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, in: Klaus Schäfer (Hg.): Andernach und Köln 1167–1367. Begleitheft zur Sonderausstellung im Stadtmuseum Andernach, 16. September 1988–31. Oktober 1988, Andernach 1988, S. 35–53, hier S. 36ff., der die Auseinandersetzung zwischen Manfred Groten und Toni Diederich zusammenfasst und im Übrigen beide Stadtsiegel abbildet, ibid., S. 40 f. Vgl. auch Toni Diederich: Zur Bedeutung des Siegelwesens in Köln und im Rheinland: zehnte Sigurd Greven-Vorlesung, gehalten am 9. November 2006 im Museum Schnütgen, Köln 2006, S. 12ff.; ders.: Grundzüge des Siegelwesens im ausgehenden 13. Jahrhundert, in: Werner Schäfke (Hg.): Der Name der Freiheit 1288–1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute. Handbuch zur Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln 29.1.1988–1.5.1988, Köln 1988, S. 83–104, hier S. 88 f. Diederich (ibid.) bildet auf S. 89 das zweite Stadtsiegel ab. In Quellen (Anm. 31) I ist auf dem Umschlag und auf Tafel 8 das zweite Siegel ebenfalls dargestellt. Vgl. auch Paul von Naredi-Rainer: Die Stadtmauer in der Ikonographie der christlichen Kunst, in: Udo Mainzer/Petra Leser (Hg.): Architektur-Geschichten. Festschrift für Günther Binding zum 60. Geburtstag, Köln 1996, S. 117–130, hier S. 122, der die Stadt als sakrales Objekt deutet, das sich am heiligen Jerusalem ausgerichtet habe. Dagegen wendet sich Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 69ff. 304 Vgl. Toni Diederich: Das gotische Stadtsiegel von 1268/69, in: Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen (Anm. 10), S. 233–237, hier S. 234ff. mit einer Beschreibung des Stadtsiegels, s. auch die Abbildung in Quellen (Abb. 31) I auf dem Umschlag des Bandes und Tafel 8 sowie Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 69, 73. 305 Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 180. 306 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 286. 346; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 65a-b Nr. 8. 307  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 150b Nr. 1; vgl. Steinwascher, Zisterzienserstadthöfe (Anm. 262), S. 25.

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kömmling abzielte, als vielmehr auf die Wirkungskraft der Heiligen setzte. So sind im Mittelalter Kruzifixe in mehreren Torburgen nachzuweisen, beispielsweise im Pantaleons-, Weiher-, Schafen- oder Hahnentor.308 Im Friesentor soll sogar eine Madonna aus dem 14. Jahrhundert gestanden haben, und im Vorbau über die beiden Gräben gab es ein bemaltes St.-Anna-Standbild.309 Ebenfalls am Friesentor war ein Kreuz gezeichnet worden.310 Auch am Kunibertsturm war ein Bild angebracht, das Armbrustschützen 1445 beschädigten.311 Allerdings hat man auch andere Themen gewählt. So ist eine Holzdecke im Inneren des Severinstors aus dem 15. Jahrhundert entdeckt worden. Sie enthielt ein „Granatapfelrankenwerk“ mit Tieren, Jagd- und Schäferszenen, musizierende Männer und turnierende Ritter, also Szenen, die einem weltlichen Bereich zugeordnet werden können, jedenfalls nicht geistlich waren.312 Auch ein Städtelob ist in Köln erst spät nachzuweisen, nämlich am Ende oder zu Beginn des 15. Jahrhunderts.313 Ein besonderes Problem entstand durch den sogenannten Duffesbach oder den Hürther Bach. Er führte durch die Stadt und war für die dortige Wirtschaft lebenswichtig, zumal in der Nähe des Baches die Gerber, Walker und Färber saßen, die auf Wasser für ihre Produktion angewiesen waren.314 Aber der Bach musste in die Stadt hineingeführt werden. Er mündete dann am Filzengrabentor in den Rhein. Im westlichen Teil ging der sogenannte Duffesbach bis an die Bachpforte. Sie war schon vor 1370 zugemauert, und der Bach ging spätestens seit dem 15. Jahrhundert unter dem doppelten Graben durch das genannte Tor in die Stadt hinein. Wie war der Bach aber gesichert? Aus den Quellen, die aus dem Mittelalter erhalten sind, geht das nicht hervor. Wie in vielen anderen Fällen hatten diejenigen, die das Wasser des Baches benutzten, auch eine Abgabe zu entrichten.315 Aber das war nicht alles. In den Eiden wurde jedoch 308  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 99, 102 f., 105. Darauf weist Mainzer, Stadttore (Anm. 183), S. 40, besonders hin. 309  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 109; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 244b Nr. 1. 310  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 306. 311  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 282a Nr. a; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 53; vgl. auch Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 137. 312  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 92. 313  Heinz-Dieter Heimann: Stadtideal und Stadtpatriotismus in der „alten Stadt“ am Beispiel der „laudationes Coloniae“ des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 3–27, hier S. 17. Er datiert die Laudes Coloniae deutlich früher als Klaus Militzer: Collen eyn kroyn boven allen steden schoyn. Zum Selbstverständnis einer Stadt, in: Colonia Romanica 1 (1986), S. 15–32, hier S. 28 Anm. 22, der die Laudes eher um 1500 entstanden sein lässt. 314 Vgl. Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 254ff., 333. 315  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 40 Nr. 6,X,2; S. 94 Nr. 28,X,2. Das wird auch für die folgende Zeit gegolten haben; vgl. Knipping, Jahreshaushalt (Anm. 128), S. 148.

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nur geregelt, wie sich die Bürger oder Eingesessenen in der Stadt zu verhalten haben. Das Flussbett des Baches musste sauber gehalten und ferner Eroberungsversuche auswärtiger Mächte abgewehrt werden. Dazu wurde dem Rost und seinen Genossen seit 1374 bis 1379 Geld gegeben. Vorher und nachher mögen andere den Bach sauber gehalten haben.316 Rost wurde nach seiner Tätigkeit am Hürther Bach hin und wieder de ripa genannt. Gewiss war die Verteidigung der Stadt auf der Rheinseite in den Augen des Rats vor und nach 1396 nicht so wichtig. Aber die Mündung des Duffesbaches in den Rhein musste dennoch geschützt werden. Allein das Filzengrabentor war ohne ein weiteres Gitter, das die Mündung des Baches in den Rhein geschützt hätte, nicht genug. Zu den Problemen der Stadt gehörte auch der Umgang um die Mauer, der feierlich begangen wurde. Es gab mehrere Prozessionen, aber zwei betrafen vor allem die Stadt. Erstens ist von einer Silvesterprozession die Rede, die um die Römerstadt oder, anders ausgedrückt, um die Mauern der Römerstadt ging. Sie gehörte zu einer Prozession, die in den Händen der Kirche lag. Über das Alter der Prozession um die Römermauern weiß man wenig.317 Es könnte ein alter Umgang sein, der in die Zeit zurückgeht, als die Römermauern die Stadt noch als einzige Befestigung umgaben. 1375 wurde der bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen erwähnte Rost dafür entschädigt, dass er das Haupt des Papstes Silvester I. trug.318 1413 legte der Rat der Stadt fest, dass während der Silvesterprozession drei Gänge an drei Tagen erforderlich waren und in den Kirchen und Kapellen Stationsgottesdienste zu halten seien. Er selbst gebe 100 Mark den Armen, ehe man um die römische Stadtmauer gehe.319 Auf den Markustag, also den 25. April 1464 und den folgenden Jahren, sollte kein Gericht gehalten werden, während das Haupt des Papstes Silvester durch die Stadt getragen werde.320 Wichtiger war aber zweitens die große Gottestracht, die um die Stadtmauer von 1180 ging und in den Jahrzehnten nach 1180 ausgebildet wurde. Sie lag in der alleinigen Entscheidungsgewalt des Rats und dürfte, wie gesagt, nicht vor dem Mauerbau 1180, sondern wahrscheinlich später entstanden sein. Ein genaues Datum lässt sich nicht ermitteln. Am 13. Februar 1353 soll Papst Innozenz VI. den Kölnern die große Gottestracht, wie der Umgang um die Stadt316 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 86, 145, 149. 176 und öfter. 317 Vgl. Joseph Klersch: Volkstum und Volksleben in Köln, Köln 1979, S. 237 f.; vor allem aber Midori Satsutani: Prozessionen um die Stadtmauern im ausgehenden Mittelalter, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 83 (2019), S. 7–32, hier S. 8ff. 318 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 183; vgl. auch: S. 117. 319 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 215 f. Nr. 127; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 97 Nr. 1413,2. 320 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 402 f. Nr. 205.

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mauer nach 1180 genannt wurde, genehmigt haben.321 Dann wäre sie in die Zeit zwischen der Fertigstellung der Mauer im 13. Jahrhundert und 1353 zu datieren. Aber damit ist nur ein ungefährer Anhaltspunkt gegeben. Die Gottestracht fand jedenfalls am zweiten Freitag nach Ostern statt, hatte also ein bewegliches Datum.322 Erst durch die städtischen Aufzeichnungen der Ausgaben nach 1370 erhalten wir ein differenziertes Bild. Es ist davon auszugehen, dass oft die Ausgaben erst später beglichen oder zumindest nach dem Anfall der Kosten für die Stadt in das Rechnungsbuch eingetragen wurden. So hat man die Ausgaben für die Prozession von 1370 erst im Oktober 1370 beglichen.323 Begleitet wurde der Umzug 1371 von sogenannten vigilatores, die vor dem Sakrament zu gehen hatten.324 Im gleichen Jahr wurden auch die Kerzen der Ratsherren, der Zug um die Stadt und das Tragen des Ziboriums bezahlt. Ferner beglich man die Reparatur des Baldachins, unter dem man das Sakrament trug.325 Das oder Vergleichbares kam immer wieder vor. Einmal, nämlich 1372, wird sogar berichtet, dass Bogenschützen die Tore bewachten. 1374 war Sophia von Xanten zur Wiederherstellung des gehemeltze, das über dem Sakrament gespannt war, verantwortlich. Damit war der Baldachin gemeint. Im selben und im Jahr darauf zogen auch Trompeter, Pfeifer und Wächter mit.326 Zur Mitte des 15. Jahrhunderts wurde festgelegt, dass jedermann sich für die Prozession vorbereite und Kerzen trage. Dazu sollten alle, die die Prozession begleiteten, besonders die berittenen Söldner, ihren Hauptleuten gehorchen, vor allem aber nicht durch das Korn reiten.327 Manchmal übernahm auch der Umlauf die Aufgaben, die eigentlich andere zu erfüllen hatten.328 Kerzen wurden auch an andere Personen oder Institutionen gespendet. Es sind einzelne Stifte oder Kirchen für den Empfang der Kerzen zu nennen. Das kam häufig vor.329 Was die Stadt in den Stiften oder Kirchen getan hat, ist nicht gesagt. Es wurde auch regelmäßig nach Sülz und zum heiligen Christophorus gewallfahrtet, und für die Wallfahrt wurden die Teilnehmer mit Kerzen und sogenannten Tortzen, das sind besonders gedrehte Wachskerzen, ausgestattet.330 321  Klersch, Volkstum (Anm. 317), S. 236 f. 322  Satsutani, Prozessionen (Anm. 317), S. 13ff. 323  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 24, 26. 324 Ibid., S. 42. Das traf auch 1372 zu, ibid., S. 79. 325 Ibid., S. 42 f. 326 Ibid., S. 148 f., 183. 327  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 360 Nr. 215,1–3. 328  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 116 f., 119, 121 f. 329 Vgl. beispielsweise ibid., S. 127, 145. 330 Ibid., S. 83 und öfter.

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1375 hörten die Eintragungen für städtische Ausgaben für diesen Zweck auf. Das lag daran, dass der Erzbischof ein Interdikt auf Köln und seine ausführenden Organe gelegt hatte, weil die Stadt Köln das Kloster Deutz mit einem Krieg überzogen hatte, in dessen Folge die Stadt mit dem genannten Interdikt und einer Exkommunikation der Teilnehmer durch den Papst und den Erzbischof belegt wurde.331 Daher ist es erklärlich, dass keine Ausgaben in den städtischen Rechnungen für Wallfahrten, Prozessionen oder deren Teilnehmer verzeichnet worden sind und erst 1380/81 wieder aufgenommen wurden.332 1415 legte der Rat fest, welche Geldspenden und welche Gebetsübungen beim Umgang um die Stadtbefestigung, also zur großen Gottestracht, zu veranstalten seien.333 1445 bestimmte der städtische Rat, dass alle Ratsherren, die gewesenen Bürgermeister und die Rentmeister an der Prozession teilzunehmen hätten, wenn man dat heilge sacramente umb die stat draet.334 1455 legte der Rat fest, dass die Gaffeln dem Sakrament in der Reihenfolge des Verbundbriefs folgen sollten.335 1481 bestimmte der Rat, dass an 13 Stationen Gottesdienst zu halten sei und die Kanoniker der einzelnen Stifte in der Reihenfolge der Silvesterprozession zu gehen hätten.336 Die Reihenfolge war genau festgelegt: Zuerst gingen die Domkanoniker, dann die Prälaten der übrigen Stifte. Damit nicht genug: 1458 legte der Rat auch die Kleidung seiner Mitglieder fest. Das Oberkleid musste mindestens die Knie bedecken.337 1496 sollte niemand zum Hauptmann der Prozession gewählt werden, der schon einmal im vorhergehenden Jahr Hauptmann gewe-

331 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIII, S. 25, 41, 73; XIV, S. 720; Quellen (Anm. 31) V, S. 137ff. Nr. 115, 126, 231, 266, 270. 332 Quellen (Anm. 31) V, S. 301 f. Nr. 231, datiert auf den 25. August 1379. Danach erteilte Kardinal Pileo di Prata in Worms einen 100-tägigen Ablass allen denen, die an der Gottestracht teilnähmen, und zwar auf Bitten der Ratsherren; vgl. auch Karlotto Bogumil: Die Stadt Köln, Erzbischof Friedrich von Saarwerden und die päpstliche Kurie während des Schöffenkrieges und des ersten großen abendländischen Schismas (1375–1387), in: Stehkämper (Hg.), Köln, das Reich und Europa (Anm. 14), S. 279–303, hier S. 299 f. Damit ist klar, dass die Prozessionen in den Jahren nach der Zerstörung des Klosters Deutz ausgesetzt geblieben sind. Vgl. auch Quellen (Anm. 31) V, S. 328ff. Nr. 246; 270; 286. 333 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 215 f. Nr. 127. 334 Ibid., S. 311 Nr. 194; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 201 Nr. 1445,2. Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 311 Nr. 194 hat als falsches Datum 9. April und 7. Juni. Richtig ist als ersteres Datum der 5. April 1445, wie es in Beschlüsse I steht. Vgl. auch Klersch, Volkstum (Anm. 317), S. 240. 335 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 380 Nr. 184. 336 Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 644 Nr. 1481,12. 337 Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 381 Nr. 187.

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sen war.338 Der Rat wollte damit diejenigen schonen, die das aufwendige Amt schon einmal im Jahr zuvor bekleidet hatten. Die Tore der Stadt Köln zur Feldseite hin zeigen einzelne Formen, die auf nahegelegene Klöster und Stifte hinweisen können.339 So deuten einzelne Schmuckformen des Hahnentores auf solche an St. Aposteln.340 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auch andere Tore Analogien zu Schmuckformen von nahegelegenen Klöstern und Stiften enthielten.341 Man wird sich vorzustellen haben, dass Ingenieure, Baumeister, Steinmetze und Maurer samt den zugehörigen Hilfsarbeitern oder Tagelöhnern die Baustellen wechselten, wenn sie eine bessere Arbeit oder Arbeitsbedingungen fanden.342 Das gilt insbesondere für sogenannte Spezialisten. Daher ist es wohl erklärlich, dass Steinmetze Teile ihrer Arbeit auch für anderweitige Zwecke nutzten. Ferner ist gelegentlich zu beobachten, dass Türme als Salzlager verwendet wurden.343 Dabei kann es sich in der Hauptsache nur um einen „geschlossenen“ Turm zur Feldseite hin gehandelt haben. Immerhin wurden solche Türme auch zur Versorgung der Bevölkerung genutzt. Ob damit das Schafen- und das Hahnentor gemeint sind, mag dahingestellt sein. In den Quellen ist weder das eine noch das andere angegeben. Gewöhnlich wird im 15. Jahrhundert das Schafentor als Salzlager vorgekommen sein. Allerdings ist am Ende des 15. Jahrhunderts, nämlich 1485, auch das Hahnentor für ein Salzlager in der Zeit verwendet worden, als es für die Bevölkerung schwierig war, an Salz zu gelangen.344 Am Rheinufer ist das 1443 von der Stadt gebaute Haus als Kornhaus bezeichnet 338 Ibid., II, S. 652 Nr. 488. 339 Das bestätigt auch Binding, Stadtmauerbau (Anm. 48), S. 7, mit Bezug auf Udo Mainzer. 340  Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 104 f. Am Hahnentor ist immer wieder und zu allen Zeiten gebaut worden; vgl. Dohmen/Schaab, Von Steinen (Anm. 188), S. 148ff. Bei anderen Toren vgl. die Abhängigkeiten besonders bei Mainzer, Die staufischen Tore (Anm. 169), S. 55 Anm. 21. 341 Vgl. Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8) Bd. 1, S. 332; Mainzer, Stadttore (Anm. 183), S. 21. 342  Mainzer, Stadttore (Anm. 183), S. 21; vgl. auch Gerhard Fouquet: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters: eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 48), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 17ff., und Günther Binding/Norbert Nussbaum: Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978, S. 43ff.; Hans Huth: Künstler und Werkstatt in der Spätgotik, Darmstadt 21967, S. 31ff.; Cord Meckseper: Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 1982, S. 90ff.; Planitz, Deutsche Stadt (Anm. 39), S. 227ff. 343  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 589 Nr. 449; auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 142*; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 694 Nr. 1485,36; S. 695 Nr. 1485,41; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 863. 344 Kuske, Quellen (Anm. 125) II, S. 501ff. Nr. 986; Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 29. Allgemein auch ohne Nennung eines besonderen Turmes Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 589 Nr. 449.

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worden. Dort wurden das Korn und Mehl gelagert, das, wenn die Not es erforderte, den Bürgern gegen die übliche Vergütung abgegeben werden konnte.345 Im 15. Jahrhundert ließ der Rat Windmühlen auf Toren und Türmen bauen. Nachdem der Rat schon 1391 oder auch 1392 auf dem Neumarkt eine Windmühle hatte errichten lassen346, fühlte sich der Erzbischof Friedrich von Saarwerden in den Einkünften aus den Rheinmühlen geschädigt. Er regelte aber den Streit am 11. Juni 1393 durch ein Übereinkommen mit der Stadt. Danach sollte der Erzbischof von der Windmühle dieselben Abgaben bekommen, wie bei den Rheinmühlen vereinbart worden sei. Wenn dagegen die Rheinmühlen wegen des niedrigen Wasserstandes oder des Eises nicht laufen könnten, erhalte der Erzbischof nichts.347 Im 15. Jahrhundert ließ der Rat dann weitere Windmühlen, dieses Mal auf den Befestigungsanlagen bauen, und zwar auf der Ulrepforte und dem Reuschenberg oder Ruschenberg.348 1468 und 1469 sind bewachte Mühlen auf beiden Befestigungswerken genannt.349 Allerdings ist nicht angegeben, um welche es sich gehandelt haben könnte. Die Bottmühle, ebenfalls auf dem Befestigungsring, kam erst später, im 16. Jahrhundert, dazu.350 Damit war die Stadt mit Windmühlen und den Rheinmühlen ausreichend ausgestattet. Es kamen demnach keine weiteren Mühlen hinzu. Andere scheinen in Privatbesitz gewesen zu sein. Zu den sonstigen gehörte auch eine 1469 bezeugte Rossmühle, die allerdings in Händen des Rats gewesen zu sein scheint.351 Schließlich wurden auch die Hausmühlen oder Handmühlen, sogenannte Quernen, verboten, damit die Stadt oder ihre Bürger die Abgaben vom Mahlen erhielten, den sogenannten Molter. Das Verbot wurde erstmals 1475 ausgesprochen.352 Es könnte aber älter sein. Auf jeden Fall wurde es 1499 wiederholt und außerdem auf Beginen ausgedehnt. Zur Beachtung der Bestimmung beauftragte der Rat vier Männer mit der Überwachung aller Arten von Mühlen.353 345 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp.64b-65a Nr. 4. Das Kornhaus bei St. Klaren ließ der Rat um 1441 errichten; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 783; Keussen, Topographie, Bd. 2, Sp. 264a-b Nr. 8; vgl. auch Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 241. 346 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 137 (hier 1391); ibid., XIV, S. 729 (hier 1392). Die Angabe 1391 ist allerdings vorzuziehen, das tut auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 433b Nr. n. 347 REK (Anm. 18) X, Nr. 473 mit weiteren Quellenangaben. 348 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 183b Nr. 6; Sp. 255b Nr. 8; vgl. Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 433 Nr. 182 (1468). 349  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 433 Nr. 282; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 406. 350 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2 Sp. 197a Nr. d. 351 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 405. 352 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 537 Nr. 375; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 552 Nr. 1475,114. 353 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 659 f. Nr. 498; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 807 Nr. 1499,10.

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Es bleibt das Grabmal des Erzbischofs Philipp von Heinsberg in der Maternuskapelle, der ehemaligen Jakobuskapelle, im Dom. Es ist deshalb ungewöhnlich, weil der ruhende Erzbischof innerhalb eines mit Türmen, Toren und Zinnen verzierten Hochgrabs dargestellt wird. Ungewöhnlich ist auch, dass auf der einen Längsseite das Wappen der Stadt mit den drei Kronen und auf der anderen Seite das Wappen der Familie Troyen angebracht wurde.354 Die ehemalige Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner datiert das Grabmal auf die Zeit um 1330.355 Die Datierung passt zu der Ansicht, dass die Tore und Türme zur Feldseite hin zu dieser Zeit fertig waren. Der Erzbischof hatte, wie bereits beschrieben, den Bau einer Mauer mit Türmen und Toren zunächst verhindern wollen. Aber er fand in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts auch als Bauherr der Mauer Zustimmung in der Elite der städtischen Bevölkerung und nicht nur als Verhinderer des Mauerbaus. Aus diesem Grund ist das ungewöhnliche Grabmal wohl zu erklären.356 Ein weiteres Denkmal, das an die Mauer erinnert, bietet die oben bereits beschriebene Skulptur der Schlacht an der Ulrepforte. Sie ist – wie der Sarkophag Erzbischof Philipps – nicht gleichzeitig gehauen, sondern erst später, wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschaffen und 1378 erstmals erwähnt worden.357 An der Mauer wohnte ein Mann namens Haveniet, der die Mauer unterhöhlte, so dass auch Pferde hindurch geführt werden konnten. Ob das alles wirklich so geschehen ist, weiß man nicht genau. Es ist ferner zweifelhaft, ob der Name des Mannes richtig wiedergegeben ist. Der Wohnort und der Name deuten jedenfalls darauf hin, dass die Person unvermögend war und daher einen Übernamen erhalten hat.358 Die Skulptur geht darauf nicht ein, sondern zeigt einen Reiterkampf nach dem Durchführen der Pferde durch den Tunnel. Über die Stadt wachten die Heiligen und Gott oder Christus selbst und schützten sie. Das Denkmal ist deshalb etwas Besonderes, weil es eines der ersten im Mittelalter ist, das sich mit einem weltlichen Thema auseinandersetzte, auch wenn die Heiligen und Gott eine Rolle spielten und auf der Skulptur dargestellt sind.359 Sie ist ferner bedeutsam, weil sie auf das Gedenken an 354  Barbara Schock-Werner: Das Grabmal des Philipp von Heinsberg im Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 65 (2000), S. 85–112, hier S. 89ff. 355 Ibid., S. 112. Ihrer Datierung schließe ich mich an. 356 Ähnlich die Ausführungen von Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 77ff. 357 Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 124; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 308: pro pictura foraminis apud muros civitatis, ubi alias fuit intratum. 358 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XII, S. 173ff. Verse 5318ff. Davon ist die Koelhoffsche Chronik abhängig: ibid., XIII, S. 624ff. Vgl. auch Gottfried Hagen, Reimchronik (Anm. 68), S. 205ff. Verse 5318ff. 359 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 124ff.; Wilfried Ehbrecht: Stadtpatrone. Erzbischof und Stadt: Das Relief an der Ulrepforte, ca. 1370, in: Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen (Anm. 10), S. 261–263 mit weiterer Literatur; Militzer, Collen (Anm. 313), S. 19.

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ein besonderes Ereignis aufmerksam macht, mit dem sich alle Bürger damals identifizieren konnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tore zur Feldseite hin in „offene“ und „geschlossene“ Tore wenigstens schon im 14. Jahrhundert unterschieden wurden. Dabei wurden „offene“ Tore für den Warenverkehr mit dem Umland freigehalten. Das Hahnentor verfügte über die höchste Durchfahrt. Gleichwohl benutzten die Kaiser selten oder nie das Hahnentor für ihre von Aachen kommende Reise nach Köln. Das Hahnentor hatte während des Mittelalters kaum eine besondere Kennzeichnung. Das Abbild eines Adlers kam erst im 19. Jahrhundert durch die Preußen hinzu. In der Neuzeit mag ein Hahn als Abbildung an dem Hahnentor angebracht worden sein. Die Befestigung zeichnete sich durch vielfältige Reparaturen sowohl an der Mauer wie an den Tortürmen aus, an denen die städtischen Handwerker verdienten. Man kann für alle Tortürme, egal ob es sich um „geschlossene“ oder „offene“ Türme handelt, ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten feststellen. Auf allen Tortürmen saß ein Burggraf, der zumindest für die „offenen“ Türme zwei Männer zu seinen Stellvertretern zu ernennen hatte. Die Tortürme verfügten über einen Estrich und eine Stube, die heizbar war. Der Abtritt für die jeweilige Torbesatzung wie auch für Gefangene wurde von dem „Umlauf“ oder den cloacarii oder auch den „Goldgräbern“ gereinigt. Jedes Tor, ob „offen“ oder „geschlossen“, verfügte über eine Holztür, die abschließbar war und durch einen besonderen Balken, genannt grindel oder ähnlich, gesichert werden konnte. Der Regen konnte durch ein Abflussrohr abgeleitet werden. Manchmal wurde auch ein Stein gegen den Regen eingesetzt. Kerzen dienten der Beleuchtung der Türme. Die Rheinseite war im 14. Jahrhundert weniger gefährdet und wurde daher auch nicht so gesichert wie die Feldseite. Diese Türme zur Feldseite hin wurden auch gelegentlich als Salzlager benutzt. Mühlen auf den Befestigungsanlagen kamen erst am Ende des 14. und während des 15. Jahrhunderts hinzu.

Abbildungen auch in Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen, Tafel 6–7; Heinz Finger: Die Translation der Dreikönigsreliquien 1164, in: ders./Werner Wessel (Hg.): Die Heiligen Drei Könige: die Translation ihrer Gebeine 1164 und ihre Verehrung in Köln. Eine Ausstellung der Diözesan- und Dombibliothek Köln zum 850jährigen Anniversarium der Translation der Dreikönigsreliquien 2014 (23. Juli 2014 bis 18. März 2015) (Libelli Rhenani 53), Köln 2014, S. 13–112, hier S. 86ff. Es gibt auch noch weitere Abbildungen, die aber nicht im Einzelnen aufgeführt werden sollen. Vgl. außerdem Ulrike Bergmann/ Esther von Plehwe-Leisen: Der Baumberger Sandstein. Ein Alleinstellungsmerkmal der Steinskulptur am Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 83 (2018), S. 90–127, hier S. 103 f., und Greifenberg, Stadtmauer (Anm. 3), S. 85ff., der auf die Vieldeutigkeit des Monuments und dessen mangelhafte Erhaltung verweist.

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Die Tortürme zur Feldseite hin zeigen oft auch Merkmale, die sonst nur an benachbarten Kirchen zu beobachten sind. Jedenfalls hatten sie auch sakrale Funktionen. Das Grabmal des Erzbischofs Philipp von Heinsberg aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts zeigt, abweichend von im Dom üblichen Grabdarstellungen, einen Mauerring, der Köln darstellen soll. Ferner gab es die sogenannte Silvesterprozession um die alte Römermauer und die große Gottestracht um die seit 1180 gebaute neue Stadtmauer, in der die Tortürme zur Feldseite hin eine besondere Rolle spielten, aber auch die Tore zum Rhein hin von Bedeutung waren. Die Darstellung des Reiterkampfes zwischen Eindringlingen und den Stadtbürgern an der Ulrepforte belegt das gestiegene Selbstbewusstsein der Stadtbürger, ebenso die Gestaltung des Grabes Philipps von Heinsberg im Dom.

Die Tore und die städtische Wirtschaft Kölns Die Burggrafen auf den Toren zur Feldseite hin hatten dem Rat seit 1335 zu geloben, dass sie zwei Knechte und einen Wächter von ungefähr 20 Jahren oder älter halten sollten.360 Ebenso hatten auch die Burggrafen des Bayen- und des Kunibertsturms einen Eid zu leisten. Außerdem hatten sie zu schwören, dass, wenn der Burggraf mit seinem Knecht oder Wächter den Turm verlasse, dann zwei andere auf ihnen Wache halten sollten. Es folgt eine Einschränkung für die Personen, die „geschlossene“ Tore bewachten. Beides, für „geschlossene“ wie „offene“ Tore, wurde wiederholt und ausführlicher geregelt.361 Selbst als die „Weberherrschaft“ 1371 und 1396 die Herrschaft der „Geschlechter“ beseitigt wurden, hat der Rat keinen Anlass gesehen, die Bestimmungen zu ergänzen oder aufzuheben. Er hat die Artikel einfach aus älteren Eidbüchern übernommen.362 Über Burggrafen sind wir im Übrigen für das 13. und zum Teil auch für das 14. Jahrhundert nur ungenau unterrichtet, weil entsprechende Rechnungen fehlen363, die zumindest für die Jahre 1370–1392 und dann wieder in Teilen für 1414–1432 und 1432–1513 erhalten sind.364 Besonders hervorzuheben sind die Verzeichnisse der städtischen Ausgaben für die Jahre 1370–1380/81, 1396–1400 und von 1466, 1469 und 1475.365 Ein wesentliches Prinzip der Kölner Wirt360  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 25 Nr. 2. 361 Ibid., S. 41ff. Nr. XI,1–9; S. 43 Nr. XV,1–6; S. 54 f. Nr. 11–19; S. 55 f. Nr. 6–8. 362 Ibid., S. 94 f. Nr. XIII,1–10; S. 95 f. Nr. XIV,1–6; S. 344ff. Nr. 159,XIII-XVI; S. 442ff. Nr. 243,1 f.,6; S. 445 f. Nr. 244. 363  Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 342ff. 364  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, passim. 365 Ibid., II, passim.

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schaft seit dem 14. Jahrhundert bestand in dem Verzicht auf eine direkte Steuer und auf dem konsequenten Ausbau der Akzisen. Nur einmal, 1371 während der sogenannten „Weberherrschaft“, wurde eine direkte Steuer vom Grundbesitz, der als „Schoß“ bezeichnet wurde, erhoben.366 Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde jedoch eine direkte Steuer zum Bau der Mauer gefordert.367 Aber sie war zu einem nicht genannten Zeitpunkt wieder abgeschafft worden. Der Rat behalf sich fortan überwiegend mit Akzisen und Anleihen bei Bürgern, die den Charakter von Zwangsanleihen hatten.368 Seit dem 14. Jahrhundert jedenfalls waren die Tore zur Feldseite hin und am Rheinufer für den Einlass von fremden Kaufleuten und ebenso Bürgern, ob sie als Kaufleute oder auch nicht auftraten, gedacht. Vor allem Kaufleute kamen mit Karren und Fuhrwerken, beladen mit Gütern des täglichen Bedarfs und auch langlebigeren Waren, vor die Tore und verlangten Einlass. Jedoch gewinnt man erst seit dem 16. Jahrhundert Klarheit über die Tätigkeiten der einzelnen Beauftragten an den Toren.369 Man wird davon auszugehen haben, dass der Rat der Stadt Köln die Kontrolle des Handels immer weiter ausgebaut hat. 1491 beschwerte er sich beispielsweise über den Unterschleif von Broten und Getreide während einer in der Stadt und dem weiteren Umland grassierenden Hungersnot. Damals führten Kaufleute und andere Beteiligte Brot, Mehl und Getreide unter einem Vorwand und verdeckt unter Tuchen vor allem durch die feldseitigen Stadttore aus.370 Im 16. Jahrhundert ist es so gewesen, dass ein Schreiber an den jeweiligen Toren zum Feld wie zum Rhein hin die Mengen der eingeführten Waren notierte und den entsprechenden Aufsehern der Märkte oder der Kaufhäuser 366 Ibid., I, S. LXXV; Militzer, Ursachen (Anm. 270), S. 167 f. 367 Auch Biller, Stadtbefestigung (Anm. 8), Bd. 1, S. 330 f. beklagt den Mangel an Angaben über die Finanzierung der frühen Stadtmauern. Man wird wohl davon ausgehen müssen, dass die Stadtherren, in dem vorliegenden Fall der Erzbischof, die Bürger unterstützte, indem er auf Einnahmen zugunsten der Stadtmauern und damit auch auf Einkünfte aus der direkten Besteuerung verzichtete, wie es in anderen Orten der Fall war, vgl. Isenmann, Deutsche Stadt (Anm. 59), S. 48. 368 Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 342ff.; Militzer, Die vermögenden Kölner (Anm. 122), passim; vgl. auch Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 222ff.; Hermann Kellenbenz: Die wohlhabendsten Kölner Bürger um 1515, in: Friedrich Prinz/Franz-Josef Schmale/Ferdinand Seibt (Hg.): Geschichte in der Gesellschaft. Festschrift Karl Bosl zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1974, S. 264–291. 369 HAStK, Handel 73, fol. 1r-2r; vgl. Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 89 Nr. 75; Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit Bd. 6: Reichsstädte 2: Köln, hg. von Klaus Militzer, 2 Bde. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte – Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 191), Frankfurt am Main 2005, hier I, S. 489 Nr. 2961; Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 27. Immerhin ist schon am Ende des 14. Jahrhunderts in der „Ordinancie vom Zoll und Wegegeld vor den Thoren“ die Einfuhr fremder Waren beschrieben. 370 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 881.

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mitteilte. Wenn der entsprechende Kaufmann die Stadt verlassen wollte, hatte der Schreiber einen Schein zu fordern, der das verkaufte oder gestapelte Gut aufführte oder neu eingekaufte Ware enthielt. Da manche Kaufleute sich nicht einfach kontrollieren ließen, musste an den Toren auch Militär vorhanden sein. Es hatte vor allem darauf zu achten, dass keine ungewöhnlichen Waffen offen getragen wurden. 1473 wurde sogar bestimmt, dass ein Armbrust- und ein Büchsenschütze an den offenen Toren stehen sollten.371 Zweifellos warf auch der drohende Krieg mit Karl dem Kühnen seine Schatten voraus. Aber die Kontrolle der Einlass begehrenden Kaufleute begann schon früher als am Ende des 15. oder im 16. Jahrhundert. Es wird schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts und für manche Waren sogar noch früher üblich gewesen sein. Ferner waren bestimmten Anbietern von Waren festgelegte Plätze auf den Märkten zugewiesen.372 Dieses Prozedere setzte schon relativ frühzeitig ein und ist zu Beginn des 14. Jahrhunderts ausgeprägt. Allerdings wurde es im laufenden Jahrhundert und noch später immer deutlicher. So reservierte man die Lintgasse und den Fischmarkt für den Fischverkauf, sofern es sich um einen frischen Fang handelte, aber es wurden auch Heringe und Bücklinge aus niederländischem Fang, also von weither angeboten.373 Aber das galt nicht nur an den beiden Orten. Wie der Fischmarkt so waren auch andere Verkaufsstände festgelegt. Eine Zusammenstellung der Abgaben an die Stadt findet sich in der Statutensammlung von 1407.374 Fremde Kaufleute hatten in Köln keine Häuser zu erwerben, sondern übernachteten bei sogenannten „Wirten“. Das wurde schon 1335 so geregelt und dürfte eine alte Gewohnheit gewesen sein.375 Die „Wirte“ hatten die Verantwortung für ihre auswärtigen Gäste oder Kaufleute. Wenn die Kunden ausgehen wollten, hatten deren „Wirte“ darauf zu achten, dass die Gäste die außergewöhnlichen Waffen, wenn sie sie mit sich führen wollten und an den Toren vorbeigebracht hatten, auf jeden Fall im Gasthaus oder bei den „Wirten“ zurücklassen mussten. 1463 sind die Waffen aufgezählt, die als „ungewöhn371  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 500 f. Nr. 332,4–6. 372 Vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 157*ff.; Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 37 f. Nr. 43 (c. 1370). 373 Das Buch Weinsberg, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Friedrich Lau u. Josef Stein, 5 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 3, 4, 16), Leipzig 1886–1887/Bonn 1897–1926, hier IV, S. 252; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp.133a Nr. h; Sp. 119b Nr. h. 374  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 199ff. Nr. 114,LXV; vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Karte zwischen S. 156* und S. 157*. 375  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 4 Nr. 4; erneut eingeschärft 1372 und um 1400: ibid., S. 38 f. Nr. 44 § 1; 100 f. Nr. 80,10,12; und in der Mitte des 15. Jahrhunderts: ibid., S. 346 f., 355 f. Nr. 214, 5, 5a, 5b, 30d; vgl. auch ibid., S. 81ff. Nr. 66; S. 83 f. Nr. 67; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 124*f.

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lich“ galten und in der Stadt nicht getragen werden sollten, nämlich Harnische, Schwerter, lange Messer, Äxte, Wurfbeile, Streitäxte und Streithämmer.376 Jedoch schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts sind „ungewöhnliche“ Waffen genannt, wenn auch nicht in der Ausführlichkeit wie 1463.377 Das dürfte ebenso schon in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegolten haben. An den Toren ließen die Verantwortlichen auch keine auswärtigen Bettler oder „Mühlenstößer“, wie der Rat und die Oberschicht diese Menschen nannten, ein.378 Ebenso blieben Aussätzige ausgeschlossen, es sei denn, dass es sich um bestimmte Stunden handelte. Sowohl Kölner Bettler als auch Aussätzige wurden zu bestimmten Stunden eingelassen, um an geeigneten Orten dem Betteln nachzugehen oder die Gabe von Gläubigen entgegenzunehmen.379 Es ist zudem an die zahlreichen Aachenpilger zu denken, die durch das Hahnentor nach Aachen zogen und wenigstens dort kontrolliert wurden, soweit das möglich war.380 Allerdings kamen die Pilger zumindest seit 1349 nur jedes siebente Jahr.381 Alsdann wurde Köln zumindest im 15. Jahrhundert überschwemmt von fremden Pilgern, die in der Stadt Station machten, übernachteten, vielleicht ein paar Tage blieben, dann aber nach Aachen weiterzogen. Die Tore zur Feldseite wie auch zur Rheinseite hin waren Engpässe für die von auswärts kommenden Kaufleute und andere Menschen. Nur an den Toren wurden Menschen in die Stadt hineingelassen. Außerdem wurden im Allgemeinen morgens mit dem Aufgang der Sonne die Feld- und die Rheintore geöffnet und abends bei Sonnenuntergang wieder geschlossen. Für die Feldtore wurde 1432 sogar bestimmt, dass die Burggrafen niemanden mehr herauslassen dürften, wenn die Tore geschlossen seien. Nur falls zwei Rentmeister, zwei Bürgermeister, zwei Stimmmeister und zwei Gildemeister oder mindestens vier Mitglieder aus vier unterschiedlichen Ämtern anwesend seien und falls sie es erlaubten, sei ein Tor auch nach Sonnenuntergang zu öffnen.382 Als 1465 die Markgrafen von Baden in der Nacht mit 400 Pferden und Trompetern eingelassen wurden, hat der Rat die Zahl auf 20 Personen beschränkt und diese verpflichtet, ohne Geschrei und Trompeten die Stadt zu betreten.383 376 Repertorium (Anm. 369) I, S. 105 Nr. 774; Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 22. 377 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 346 f. Nr. 214,5, oder ibid., S. 355 f. Nr. 214,30d. 378 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 22. 379 Ibid., S. 22 f.; vgl. Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 469 Nr. 302; HAStK, Verf. u. Verw., V 170. Die Ordnung stammt allerdings aus dem 17. und. 18. Jahrhundert. 380 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 343 f. Nr. 211. 381 Yuki Ikari: Wallfahrtswesen in Köln vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 46), Köln 2009, S. 42 f. 382  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 267 Nr. 157; vgl. auch Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 146 Nr. 1432,1. 383  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 402 f. Nr. 271; vgl. auch Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 325 Nr. 1465,22; auch Stein, Akten II, S. 471 Nr. 306 (1470).

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Analoges gilt auch für die Rheinseite. Am Kai vor Köln kamen verschiedene Schiffe an. 384 Die Lagerung von deren Frachten am Ufer des Rheins war geregelt. Besonders am Fluss wurden Schiffe mit Hilfe von Kränen entladen. Die Stadt besaß insgesamt vier von ihnen. 385 Dabei war der fest installierte Hauskran an der Markmannsgassenpforte beim Haus Rheinberg der bedeutendste. Er war zumindest seit dem 15. Jahrhundert in die Stadtbefestigung am Rhein einbezogen.386 Die anderen drei waren auf dem Rhein schwimmende Kräne, von denen im Allgemeinen sich zwei gegenüber der Neugassenpforte befanden und einer gegenüber dem Rheingassentor stand. 387 Die schwimmenden Kräne wurden bei Eisgang oder Hochwasser am Ufer fest vertäut. Kaufleute und Schiffer durften mit ihren Waren nur besondere Tore an der Rheinseite passieren, auf denen Schreiber saßen, die die Güter und deren Besitzer aufzeichneten. So konnten beispielsweise Weine ausschließlich durch die Salzgassenpforte in die Stadt transportiert werden. 388 Außerdem sollten Salz, Wachs, Steine und andere Güter nur durch dieses Tor gebracht werden.389 Für den Holzhandel, sowohl für den Hausbrand wie auch für den Bau, war für diejenigen, die von oberhalb Kölns kamen, der Bereich oberhalb der Rheingasse reserviert. Für diejenigen, die nördlich der Stadt beheimatet waren, war der Teil stromabwärts von der Neugasse nördlich vorgesehen.390 Eine entsprechende Lagerung dürfte auch für den Handel mit Kohle zutreffen. Diese Einteilung wurde erst im 15. Jahrhundert, also in der Zeit nach dem Verbundbrief von 1396, festgelegt. Aber schon in der Zeit der „Geschlechter-

384 Vgl. Annette Fimpeler-Philippen: Die Schifffahrt und ihre Fahrzeuge auf dem Niederrhein vom späten Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (Studien zur Düsseldorfer Wirtschaftsgeschichte 5/Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Düsseldorf 19), Düsseldorf 2008, S. 40ff., 343ff. 385  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LX; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 13b Nr. 11; Sp. 86a Nr. 1; vgl. auch ibid., S. 141*. 386  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 323 Nr. 202,II,1. 387  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LX; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 109a Nr. 2. 388  Klaus Militzer: Handel und Vertrieb rheinischer und elsässischer Weine über Köln im Spätmittelalter, in: Alois Gerlich (Hg.): Weinbau, Weinhandel und Weinkultur. Sechstes Alzeyer Kolloquium (Geschichtliche Landeskunde 40), Stuttgart 1993, S. 165–185, hier S. 167, mit weiterer Literatur und Quellenangaben. 389  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 37 f. Nr. 43 (ca. 1370); vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 65b Nr. b; Sp. 148a Nr. a-c; vgl. Knipping, Jahreshaushalt (Anm. 128), S. 156 f. 390  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 181ff. Nr. 114,XXVII; vgl. Bruno Kuske: Die städtischen Handels- und Verkehrsarbeiter und die Anfänge städtischer Sozialpolitik in Köln bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Kölner Studien zum Staats- und Wirtschaftsleben 8), Bonn 1914, S. 13; vgl. auch Stein, Akten II, S. 53ff. Nr. 51 VI (von 1370–1390); S. 254 f. Nr. 148; III (1427).

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herrschaft“ war der Holz- und Kohlehandel an bestimmten Orten vorgeschrieben.391 An den Toren zur Feldseite hin, die auch von Warentransporten passierbar waren, saßen Zöllner und andere Beauftragte, die die Waren feststellten und Geld einzogen oder Zettel ausstellten, deren Wert später bezahlt werden musste.392 So hatte jeder fremde Kaufmann sein Gut zu bezeichnen und an den Toren oder auf dem Ufer einen Zettel mit der Angabe der Waren, die er verkaufen wollte, zu nennen. Er durfte die Waren nur einem Kölner anbieten. Denn die Einheimischen waren zur Zahlung der Akzise und damit zu Abgaben verpflichtet, nicht dagegen Fremde. Sollte ein Fremder seine Waren nicht an Kölner verkaufen können, hatte er sie wieder unter Vorlage der entsprechenden Zettel an den Toren aus der Stadt zu bringen. Einzelheiten sind in diesem Zusammenhang jedoch überflüssig, weil sie die Verteidigung und den Mauerbau bzw. dessen Erhaltung nicht wesentlich berühren.393 Allerdings hatten Fremde kaum eine Chance, ihre Waren wieder auszuführen. Einmal waren die Kölner Kaufleute begierig, fremde Güter zu erwerben und dann auch ihrerseits auszuführen und an anderen Orten zu verkaufen.394 Ferner war der Markt der Stadt so groß, dass ein Fremder mit ziemlicher Sicherheit einen Kölner Käufer fand, der wiederum einem fremden Kaufmann die Ware verkaufte. Der Stapel war nicht nur ein Instrument, um einen sogenannten „freien Handel“ zu unterbinden, sondern er gewährte Fremden auch Handelserleichterungen 395 und ersparte ihnen oft bei der Weiterfahrt auf dem Rhein die Zollprozedur und die erneute Öffnung der Verpackung.396

391 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LXIXf. Nr. 60; vgl. auch Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 27. 392  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 315 für das Severinstor 1378; vgl. auch Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 25 f. 393 Vgl. auch Gerd Schwerhoff: Der Kölner Stapel (1259–1831). Werden und Wandlungen einer alteuropäischen Institution, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 80 (2009/10), S. 43–69, hier S. 50ff. 394 Vgl. Gunther Hirschfelder: Die Kölner Handelsbeziehungen im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums 10), Köln 1994, passim, der den großen Radius der Kölner Kaufmannschaft beleuchtet. 395 Zum Stapel Kölns vgl. Bruno Kuske: Der Kölner Stapel und seine Zusammenhänge als wirtschaftspolitisches Beispiel, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 21 (1939), S. 1–46; Otto Gönnenwein: Das Stapel- und Niederlagsrecht (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte NF 11), Weimar 1939, S. 97ff. und 233ff., auch Schwerhoff, Kölner Stapel (Anm. 393), S. 43ff. 396 Klaus Militzer: Der Kölner Weinhandel im späten Mittelalter, in: Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hg.): Stadt und Handel. 32. Arbeitstagung Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung in Schwäbisch Hall 1993 (Stadt in der Geschichte 22), Sigmaringen 1995, S. 23–47, hier S. 32 f.

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Im Übrigen hat der Kölner Rat vor allem während des 15. Jahrhunderts immer wieder den Handel reguliert, indem er vorschrieb, wie und an welchen Orten die eingeführten Waren gehandelt werden sollten. Er legte auch fest, wer von seinen Mitgliedern die fremden Kaufleute kontrollieren sollte. Ferner ließ er mehrere Kaufhäuser bauen, die für bestimmte Waren vorgesehen waren. Er ließ ferner Waagen errichten, die festgelegte Waren zu wiegen und an geeigneten Orten zu lagern hatten.397 Fremde Kaufleute konnten sich dem Zwang, den der Rat zunehmend durchsetzte, kaum entziehen.398 Die Tore zur Feld- wie zur Rheinseite dienten dem Warenverkehr und schränkten ihn gleichzeitig ein. Sie regulierten den Warenstrom. Dem dienten auch andere Maßnahmen des Rats, wie die Errichtung von Kaufhäusern, Waagen oder Standplätzen auf den Märkten lehren.

Die soziale Zusammensetzung von Bürgern und Eingesessenen an den Straßen zu den Stadttoren In Köln gab es zur Feldseite hin 13 Tore, nämlich den Bayenturm im Süden am Rhein und dann im Uhrzeigersinn fortlaufend das Severinstor, die Ulrepforte, das Pantaleons-, das Bach-, das Weiher-, das Schafen-, das Hahnen-, das Ehren-, das Friesen-, das Gereonstor, den Eigelstein und den Kunibertsturm wieder am Rhein im Norden. Auf der Rheinseite ist die Anzahl der Tore nicht so deutlich über die Jahrhunderte auszumachen. Auf jeden Fall haben nicht alle Tore ihre Funktionen behalten oder konnten sie umsetzen.399 Das Severinstor erfüllte allerdings eine wichtige Aufgabe, weil es den Weg nach Bonn öffnete. Der Eigelstein hatte eine vergleichbare Funktion für die Straße nach Neuss, das Hahnentor während des Mittelalters für die Straße nach Aachen. Das Weihertor (Abb. 5) ermöglichte immerhin den Weg zum Kloster Weiher und gab den Einzug für die deutschen Könige frei, wenn sie nach der Krönung in Aachen im Kloster gebetet hatten und feierlich in Köln aufgenommen worden waren.400 Das Kloster wurde 1474 abgerissen und nach dem Stift St. Cäcilien in Köln verlegt, weil Karl der Kühne seine Belagerung von Neuss begonnen hatte und 397 Vgl. die Liste bei: Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. 2–13; Stein, Akten (Anm. 1) I und II, passim; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, S. 140*–142*, 158*–159*; Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 235ff.; Ernst Pitz: Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln – Nürnberg – Lübeck (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 45), Köln 1959, S. 102ff. 398 Vgl. Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 24ff.; Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 272ff. 399 Vgl. auch Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 13. 400  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 24.

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Abb. 5: Das Weyertor kurz vor seinem Abbruch 1889, nach einem Aquarell von Wilhelm Schreiner (RWWA 162–727–3–002).

das gesamte Rheinland bedrohte.401 König Maximilian I. zog dennoch nach seiner Krönung in Aachen 1486 durch das Weihertor in die Stadt Köln ein.402 Das Hahnentor war während des späten Mittelalters jedenfalls nicht der bevorzugte Einlass der gewählten und gekrönten Könige, wenn sie von Aachen, dem Krönungsort, kamen, obwohl es sich direkt zur Straße nach Aachen öffnete. Außerdem führte vom Hahnentor kein direkter Weg in das Innere der Stadt Köln oder den Dom.403 Wenden wir uns vom Hahnentor dem Ehrentor zu. Es lag auf dem Weg nach Kaster, einem der Vororte des Herzogtums Jülich, und war deshalb wichtig. Von den genannten Stadttoren wurden noch vor 1528 das Gereons- und das Bachtor ganz zugemauert, während die Ulrepforte, das Pantaleons- das Schafen- und das Friesentor bis auf einen Durchgang für Fußgänger versperrt waren. Es blieben 1528 also das Severins-, das Weiher-, das Hahnen-, das

401 Irene Gückel: Das Kloster Maria zum Weiher vor Köln (1198–1474) und sein Fortleben in St. Cäcilien bis zur Säkularisation (Kölner Schriften zur Geschichte und Kultur 19), Köln 1993, S. 53ff. 402 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 64) XIV, S. 866. 403 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 10.

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Ehrentor und der Eigelstein für den Verkehr von und nach Köln offen.404 Hinzu kamen für den Treidelverkehr, das heißt vor allem für die Boote, die rheinaufwärts fuhren, der Kunibertsturm und für die rheinabwärts fahrenden Boote der Bayenturm, der auch für solche Fahrzeuge wichtig war, die von Köln aus gesehen rheinaufwärts getreidelt wurden. Die „offenen“, die zugemauerten und die nur für Fußgänger zugänglichen Tore zum Feld hin waren schon 1476 weitgehend vorhanden. In dem Jahr wurde nämlich berichtet, dass das Severins-, das Hahnen- und das Eigelsteintor offen gewesen seien. Es fehlten das Weiher- und das Ehrentor. Beide wurden in dem Dokument nicht erwähnt. Dagegen führte es das Pantaleons-, das Friesen- und das Gereonstor an. Allerdings hatte das entsprechende Dokument von 1476 auch eine andere Funktion als die Aufzählung der „offenen“ oder „geschlossenen“ Tore. Es sollte damals wegen des befürchteten Angriffs Karls des Kühnen durch zusätzliche Vorbauten die Sicherheit der Tore und auch Mauern erhöht werden.405 Ein Burggraf durfte sein feldwärts gelegenes Tor jedenfalls nur in Ausnahmefällen verlassen, wie in den Quellen immer wieder betont wurde. Dem Gottesdienst sollte er in der nächsten für ihn erreichbaren Kirche oder Kapelle beiwohnen. Das galt auch für seine Untergebenen. So oder so ähnlich war es seit dem ersten Eidbuch von 1321 geregelt.406 1335 bestimmte der Rat ferner, dass ein Burggraf auf den Toren zum Felde zwei Knechte halten solle.407 Weiter kamen hinzu ein Wärter und noch zwei Knechte, die der Burggraf aus seinem Gesinde ernennen durfte. Während die Zahl der Wächter auf den Tortürmen erhöht wurde, wurde die Bewegungsfreiheit der Männer, besonders der sogenannten Burggrafen auf den Türmen, weiter eingeschränkt. Wenn ein Kölner Bürger in der Nacht nicht rechtzeitig vor der Mauer ankam, hatten die Burggrafen dafür zu sorgen, dass der Betreffende und sein Gut eingelassen wurden.408 So war es im Eidbuch von 1341 geregelt. Der Paragraph wurde fortan immer wieder vom engen Rat der „Geschlechterherrschaft“ bis 1396 aufgenommen. Allerdings bestimmte der nach dem Verbundbrief von 1396 neu gebildete Rat 1432, dass die Stadttore während der Nacht 404 Vgl. Vogts, Denkmäler (Anm. 6), S. 75; vgl. auch die Karten in Hansgerd Hellenkemper/Emil Meynen (Bearb.): Köln (Deutscher Städteatlas II,6), Dortmund 1979, besonders den Wiederabdruck des Reinhardt-Plans von 1752 (Tafel 2); und den beigefügten wieder abgedruckten Mercatorplan von 1571 in Henriette Meynen/Max Tauch: Köln und sein Umland in alten Graphiken. Ausstellung der Kreissparkasse Köln Februar 1978, Köln 1978. 405  Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 549 f. Nr. 390; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 561 Nr. 1476,24; Repertorium (Anm. 369) I, S. 235 Nr. 1011. 406  Stein, Akten (Anm. 1) I, S. 23 f. Nr. 1,57. Vgl. außerdem ibid., S. 25 Nr. 2; S. 41ff. Nr. 6,XIV, 6,XV usw. 407 Ibid., S. 25 Nr. 2; S. 41ff. Nr. 6,XIV-XV. 408 Ibid., S. 42 Nr. 6,XV,6.

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verschlossen zu bleiben hätten. Ausnahmen wurden zwar erlaubt, aber strenger geregelt.409 Schließlich wurden Öffnungen der Stadttore nach Sonnenuntergang nur noch zugelassen, wenn hohe Herren aus dem regierenden Adel die Stadt aufsuchten.410 Wenn man im 15. Jahrhundert von außen von der Feldseite her durch ein Tor die Stadt betrat, hatte man nicht nur das eigentliche Tor zu durchqueren, sondern auch den Bereich, den die Quellen „Vorhof“ oder „Bollwerk“ oder ähnlich bezeichnen. Der Fuhrmann oder der Fußgänger hatte das „Bollwerk“ zu durchqueren und wurde danach unter dem Tor von einer oder mehreren Personen kontrolliert. Ein Mann hatte „lange Messer“, also Messer ungewöhnlichen Ausmaßes, und andere Angriffswaffen bei einer Strafe von fünf Mark zu konfiszieren (1397–1398).411 Die Wirte waren auch gehalten, das Verbot zu berücksichtigen. Das hat der Rat der Stadt fortschreiben lassen und 1467 und später noch erneut gefordert.412 Ein Kaufmann hatte auch einen Zoll zu zahlen413, den allerdings zunächst der Erzbischof bekam, in der Folgezeit jedoch die Stadt einstrich. Wenn ein Fuhrmann oder Fußgänger in der Stadt angekommen war, durfte er nach 23.00 Uhr nicht mehr beherbergt werden. Das wurde 1406 vom Gaffelrat beschlossen.414 Die Bevölkerungszahl der Stadt Köln im Mittelalter ist nur schwer zu bestimmen. Otto Doppelfeld schätzte die Einwohner Kölns zur Römerzeit auf 30.000, im 12. Jahrhundert hingegen Edith Ennen auf 20.000 und Franz Irsigler zu Beginn des 15. Jahrhunderts auf 40.000. Dem habe ich für das 15. Jahrhundert zugestimmt.415 Die Zahlen können auch höher oder etwas niedriger ausfallen; in jedem Fall war Köln eine Großstadt und gehörte zu den volkreichsten Städten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Nun können im vorhandenen Rahmen nicht alle Handwerker oder Kaufleute, die die Stadt bevölkert haben, untersucht und vorgestellt werden.

409 Ibid., II, S. 267 Nr. 157; Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 146 Nr. 1432,1. 410 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 401 f. Nr. 271; auch ibid., S. 539 f. Nr. 380; S. 650 Nr. 486; Beschlüsse (Anm. 1) I; S. 325 Nr. 1465,22; auch ibid., S. 557 Nr. 1476,4; S. 781 Nr. 1494,23. 411 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 91 Nr. 77,2. 412 Ibid., S. 430 Nr. 279; S. 537 f. Nr. 402. 413 Ibid., S. 55 f. Nr. 51,VII; S. 67ff. Nr. 58; S. 115ff. Nr. 82,XX. Der Zoll wurde zwar unter den städtischen Akzisen aufgeführt, gehörte aber dem Erzbischof von Köln; vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 57, 61; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LXVIII. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde ein Drittel des nun sogenannten Zoll- und Wegegeldes für die Instandhaltung der Straßen verwendet. 414 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 148 Nr. 107,5. 415 Doppelfeld, Kölner Wirtschaft (Anm. 7), S. 26; Ennen, Kölner Wirtschaft (Anm. 12), S. 123; Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 128), S. 225; Klaus Militzer: Wirtschaftsleben am Niederrhein im Spätmittelalter, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49 (1985), S. 62–91, hier S. 63.

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Vor allem lohnt sich eine solche Beschreibung der Männer, die am Straßenverlauf an den Stadttoren mit ihren Wagendurchlässen in die Innenstadt hinein wohnten. Dazu geben die Schreinsbücher im Historischen Archiv der Stadt Köln einige Hinweise. Allerdings ist zu beachten, dass die Schreinsbücher zwar den Grundbesitz vieler Kölner sichern wollten, aber weniger Wert auf die Mitteilung der Berufe der Käufer wie Verkäufer legten. Auch ist mit Ausnahmen bei den Berufsbezeichnungen in den genannten Büchern zu rechnen. Ferner fürchteten viele geistliche Institute beispielsweise, die Verfügbarkeit über ihren Besitz zu verlieren, wenn sie die von ihnen besessenen Grundstücke in die Schreinsbücher eintragen ließen. Das mag auch für einige wenige weltliche Eigentümer zugetroffen haben, selbst wenn keine ausdrücklichen Zeugnisse überliefert sind. Ferner ist zu veranschlagen, dass verspätet eingeschrieben wurde.416 Es ist auch grundsätzlich damit zu rechnen, dass Mieten nicht oder nur selten in den Schreinsbüchern erwähnt wurden. Wenn verschiedene Personen mehrere Häuser an den zu den Stadttoren führenden Straßen besessen haben, so konnten sie nicht alle oder keines von ihnen selbst bewohnen. Sie müssen sie vermietet haben, wenn sie einen Teil der Investitionen zurückerlangen wollten. Das folgende Verfahren ist auch nur für die Jahre 1360–1410 zu leisten, weil der Verfasser dieser Abhandlung für die genannten Jahre die Schreinsbücher systematisch ausgewertet hat. Trotz aller Einschränkungen geben Eintragungen in die genannten Bücher einen Eindruck von der Einwohnerschaft, insbesondere von den Hauseigentümern an den Stadttoren und den in die Stadt führenden Straßen, die nicht nur von den Kölner Bürgern oder Eingesessenen, sondern auch von fremden Kaufleuten benutzt werden mussten. An den Straßen, die zu den Toren führten, sind viele Personen zu ermitteln, die sonst über keine Liegenschaften verfügten und deshalb auch in den entsprechenden Häusern gelebt und gearbeitet haben, aber ihr Beruf ist leider nicht angegeben. Auffallend ist, dass wenigstens am Severinstor (Abb. 6) für die Jahre 1360– 1410 keine Handwerker bezeugt sind, die einkommende Wagen hätten reparieren können. Das machten im Allgemeinen die sogenannten Stell- oder Achsenmacher. Es konnten auch Schmiede solche Dienstleistungen anbieten. Jedoch sind eben Stell- oder Achsenmacher und Schmiede relativ selten an der Severinstraße bezeugt. Lediglich ein Rorich von Andernach ist 1386–1389 416 Klaus Militzer: Schreinseintragungen und Notariatsinstrumente in Köln, in: Notariado público y documenta privado: de los orígines al siglo XIV. Actas del VII. Congreso Internacional de Diplomática Valencia, 1986, Bd. 2, Valencia 1989, S. 1195–1224, hier S. 1202; ders.: Die Kölner Schreinsbücher, in: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 39–53, hier S. 44 f., 53; Hermann Conrad: Liegenschaftsübereignung und Grundbucheintragung in Köln während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Grundbuchs (Forschungen zum deutschen Recht I,3), Weimar 1935, S. 115ff.

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nicht weit von dieser Straße in einem Haus beim Haus „zum Dauwe“ belegt.417 Aber dieses lag relativ nahe am Perlengraben und damit doch ziemlich weit vom Severinstor entfernt.418 Ansonsten sind an der Severinstraße mehrere Bäcker, Schneider, Weber, Brauer und Barbiere bezeugt, aber ebenso ein Zöllner und dessen Sohn, der ebenfalls als Zöllner tätig war. Bei den beiden letzteren handelte sich um Nikolaus von Meylenheym und seinen Sohn Eberhard. Nikolaus hatte das Zollhaus, wie es auch genannt wurde, 1382 vom Kloster Weiher gegen Erbzins übernommen und vielleicht schon früher in seiner Verfügungsgewalt. Jedenfalls vererbte der Zöllner samt seiner Frau Mettild das übernommene und dessen Nebenhaus seinen Erben, unter denen auch Eberhard war, der das Zöllneramt fortführte.419 Dabei ist das Nebenhaus als Wohnung Eberhards von Meylenheym anzusehen.420 Dieser Zöllner ist freilich nur an der Severinstraße nachzuweisen, hatte aber wohl auch die anderen Tore zu überwachen oder zumindest dort die Zölle durch Beauftragte von den eintreffenden Karren und Fuhrwerken einzufordern. Die Zollgelder waren dann anfangs wenigstens dem Erzbischof oder dessen Beauftragten auszuhändigen.421 Spätestens seit der Mitte des 14. Jahrhunderts war allerdings ein Drittel der Erträge der Stadt bzw. den Wegemeistern zu übergeben, die damit den Wegebau vor allem außerhalb der Stadtmauern finanzierten. Deshalb ist in den Stadtrechnungen auch nur selten die Rede von den Zöllen.422 Im 15. Jahrhundert befanden sich die erzbischöflichen Zölle von Köln im Pfandbesitz der Stadt. Bei den Brauern weiß man nicht genau, ob sie nur einen Ausschank betrieben oder auch Übernachtungen für fremde Kaufleute anboten. Jedenfalls werden viele Brauer nur eine Schankstube gehabt und keine Übernachtungen angeboten haben. Bemerkenswert ist, dass Frauen von Landadligen wie die von Brempt, verheiratet mit dem Ritter Hermann Pantaleon, Güter an der Severinstraße geerbt und weggegeben haben.423 Es sind ferner Höfe mit allen Ländereien an derselben Straße und der Ecke des Hirschgässchens oder der Hof zum Stave an der Severinstraße oder weiter südlich der vom Mommersloch, aber auch der zur 417 HAStK, Schreinsbuch 374, fol. 109v. 418 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 189b-190a Nr. k. 419 Ibid., Sp. 192b-193a Nr. h-i; HAStK, Schreinsbuch 374, fol. 112r, 117v-118r, 120v, 121v-122r, 124r, 126r, 128r, 130r. 420 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 193a Nr. i. 421  Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 60ff.; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LXVIIIf. 422 So schon Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. LXVIIIf.; vgl. ferner ibid., S. 2ff Nr. 56–58, S. 16 Nr. 56–57 (1371), S. 18 Nr. 57 (1372), S. 47 Nr. 56–58 (1387), S. 66ff. Nr. 56. 423 HAStK, Schreinsbuch 374, fol. 82v, 84v, 93r-v.

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Abb. 6: Das Severinstor vor dem Abbruch der umgebenden Stadtmauer, ca. 1880 (RWWA 162–727–3–003).

Schuren an St. Magdalenen im Besitz der Geschlechter und deren Verwandten gewesen.424 Die Reihe derjenigen, die zu den führenden Familien gehörten, ihr Geld aber in Häusern an der Severinstraße angelegt hatten, ließe sich fortsetzen. In den genannten Höfen können befreundete auswärtige Kaufleute gewohnt haben. Allerdings wissen wir über die einzelnen Übernachtungsmöglichkeiten in Köln zu wenig.425 Ferner ist zu beachten, dass der Erzbischof von Köln, von Bonn kommend, mit seinem Gefolge die Stadt während seines feierlichen Einzugs im 14. und 15. Jahrhundert durch das Severinstor betrat. Er wurde dort samt Gefolge von einer hochrangigen städtischen Gesandtschaft begleitet. Während des Einzugs säumten Vertreter der Gaffeln und Zünfte die Straßen, allerdings nicht nur aus Repräsentationsgründen, sondern auch, weil der städtische Rat einen Anschlag der zahlreichen auswärtigen Gäste befürchtete. Allerdings kennen wir Details erst von dem feierlichen Einritt des Erzbischofs Dietrich von Moers 1415. Vorher hat es zwar derartige Einritte gegeben, aber den genauen Zug durch das Severinstor und die folgenden Straßen ist durch kein Dokument belegt.426 424 Vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 189b Nr. l; Sp. 190b Nr. s; Sp. 192a Nr. λ, 196a Nr. q, 196b Nr. d (oben). 425 Vgl. ibid., Bd. 1, S. 124*f. 426  Klaus Militzer: Die feierlichen Einritte der Kölner Erzbischöfe in die Stadt Köln im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55 (1984), S. 77–116, hier S. 82ff.

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Es ist weiterhin auffallend, dass die Grundstücksbesitzer an der Severinspforte 1469 verpflichtet wurden, die Pflasterung des Steinwegs vor dem Severinstor mitzufinanzieren.427 Da der Weg außerhalb des Stadttores gelegen haben muss, ist es schon außergewöhnlich, dass Grundstücksbesitzer zum Wegebau herangezogen wurden. Das blieb daher auch während des Mittelalters ein Einzelfall, soweit solche Schriften überhaupt überliefert sind. Eigentlich war dafür der erzbischöfliche Zoll, den die Stadt übernommen hatte, vorgesehen. Ob das angehavene werke vur s. Severins porzen von 1469 damit in Verbindung zu bringen ist, ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass das „Werk“ mit der Bastion oder dem Bollwerk vor dem Tor zusammenhing, zu dessen Erbauung auch Angehörige, die an der Severinstraße wohnten, herangezogen wurden.428 Zur Weiherpforte, dem zweiten offenen Stadttor, führte keine direkte Straße aus dem Zentrum der Stadt. Die Weyerstraße mündete dagegen in die Straße Weidenbach. Von dort gelangte man zur Griechenpforte, dem alten Römertor, oder weiter am Rotgerberbach entlang an der Römermauer vorbei und schließlich zum Heumarkt.429 Durch das Weihertor betrat im Allgemeinen, soweit es nachprüfbar ist, der in Aachen gewählte und gekrönte König die Stadt.430 Insofern bot das Tor auch einen glänzenden Aspekt in der Stadtgeschichte. An der Weyerstraße hatten wie mutmaßlich an der Severinstraße viele Handwerker ihre Interessen, etwa Fleischer, Zimmerleute, Bäcker, Brauer, Schneider, Goldschmiede, Fassbinder oder Böttcher und Schuhmacher, aber auch ein Kornmüdder, also jemand, der das Korn maß und damit auch die Abgaben davon festlegte, und der Sohn eines Kochs. Ob alle Handwerker an der Weyerstraße gewohnt haben, ist ebenso wenig wie bei den Handwerkern an der Severinstraße auszumachen. Immerhin hat ein Kumtmacher oder Hamacher (oder Hamecher), wie die Kölner damals zu den Herstellern von Vorrichtungen zum Ziehen der Wagen vorwiegend durch Ochsen sagten, 1403 nur zwei Häuser an der Weyerstraße erworben.431 Das lässt darauf schließen, dass der Kumtmacher mit seiner Familie auch in ihnen gewohnt hat. Etwas schwieriger ist die Wohnlage der Schmiede zu fassen, die auch in der Nähe des Weihertores gelebt und dort ihre Dienste angeboten haben. Einmal ist ein Johann Schiderich erwähnt, der zwar der Bruder eines Schmiedes gewesen, 427 Stein, Akten (Anm. 1) II, S. 451 f. Nr. 289. 428 Vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 197a Nr. b, e-f. 429 Ibid., Tafel XIII, nach Sp. 202a-b. Vgl. auch den Mercatorplan von 1571. 430 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 24. 431 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 224a Nr. 47–49; HAStK, Schreinsbuch 354, fol. 103v.

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aber selbst nicht als solcher bezeichnet worden ist. Da er bereits 1367 gestorben war, mag es nicht so wichtig erschienen sein, seinen Beruf anzugeben. Er gehörte übrigens nicht zu dem „Geschlecht“ Schiderich, das es in Köln auch gab.432 Immerhin hat er in der Nähe des Weihertores ein Haus besessen, das er wohl mit seiner Familie bewohnt haben wird.433 Der Bruder des Johann Schiderich, namens Bruno, ist als Schmied bezeugt und wurde auch als Meister (magister) bezeichnet. Er erwarb 1365 die Schmiede an der Weyerstraße und das dahinter gelegene Haus an der Huhnsgasse und verfügte darüber, bis beides 1381 weggegeben oder konfisziert wurde.434 Damit ist der Nachweis von Schmieden für diese Werkstatt an der Weyerstraße in den Schreinsbüchern erbracht. Gleichwohl wird man sich vorstellen können, dass auch nach 1381 Schmiede die Werkstatt gepachtet oder zu Erbzins übernommen hatten. Jene Schmiede könnten sie auch gemietet haben. Jedoch sind Mieten in den Schreinsbüchern nur ausnahmsweise verzeichnet worden, wie bereits angedeutet worden ist. An Brunos Seite war der Schmied Peter von Glene von Zülpich getreten. Er hatte bereits einen Kindteil von einer Schmiede und dem dazugehörigen Wohnhaus und 1376 alles erworben. 1393 vermachte er die Gebäude seiner Tochter Elsa, die mit Godart von Koninxhoven, ebenfalls einem Schmied, verheiratet war.435 Das Wohnhaus und die Schmiede lagen in der Nähe des Weihertores. Peter wie auch sein Schwiegersohn Godart konnten also ihre Dienste unmittelbar nach dem Einlass sowohl Fremden als auch Einheimischen angeboten haben. Aber das war noch nicht alles. Denn Peter und dessen Tochter Elsa gewährten dem Schmied Bruno von 1372 bis 1381 Geld und Hafer als Pfand auf dessen Häuser an der Weyerstraße und der Huhnsgasse, bis Bruno gezwungen war, die beiden Besitzungen an Peter zu veräußern.436 Seit 1397 hatte Gerhard von Habelrode, übrigens auch ein Schmied, verheiratet mit Bela, ein Haus in der Nähe des Weihertors.437 Da für Gerhard keine weitere Liegenschaft nachzuweisen ist, wird er das Haus mit seiner Frau bewohnt haben. Während sich die Nachweise über Pfandsetzungen für Hafer oder Roggen für die Severinstraße in Grenzen halten und 1360–1410 nur zwei Fälle zu ver432 Vgl. Herborn, Führungsschicht (Anm. 246), S. 461 f. 433  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 223b Nr. 39–40; HAStK, Schreinsbuch 354, fol. 61v. 434  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 225b Nr. t und Sp. 206a Nr. 1–2 (oben); HAStK, Schreinsbuch 354, fol. 81r, 80v; 362, fol. 15r-v, 16r. 435  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 224a Nr. 43–44; HAStK, Schreinsbuch 354, fol. 64r, 71v-72r, 77v, 92v. 436 HAStK, Schreinsbuch 362, fol. 14v-16r; 354, fol. 80v. 437  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 225a Nr. m; HAStK. Schreinsbuch 354, fol. 96v.

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merken sind438, kommt dies im Bereich des Weihertores häufiger vor. Für 1378 und 1379 ist in den Schreinsbüchern vermerkt, dass einmal ein Erbzins in Höhe von elf Maltern Roggen vereinbart worden sei.439 In den übrigen vier Fällen wurden Liegenschaften für Roggen und Hafer zu Pfand gesetzt.440 Man kann sich überlegen, ob die Schmiede ihre Häuser verpfändet haben, um an Hafer für Pferde zu kommen. Aber das ist nicht beweisbar und bleibt eine Hypothese, die schwerlich zu verifizieren oder zu falsifizieren ist. Das Hahnentor blieb trotz des nicht mehr nachweisbaren Einzugs des Kaisers oder Königs und der fehlenden direkten Verbindung zur Innenstadt eines der Haupttore der Stadt zur Feldseite hin.441 Die zum Tor führende Hahnenstraße hatte keinen direkten Zugang zum Neumarkt und ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg als ebensolcher geschaffen worden. Die Hahnenstraße und weitere Wege waren von mehreren Handwerkern bewohnt. Dazu zählten auch wiederum Schmiede. Ein Schmied Arnold ist seit 1370 an der Hahnenstraße bezeugt.442 Er hieß mit vollem Namen Arnold Wrede, hatte die Schmiede mitsamt zwei Wohnhäusern vom Kanoniker Hilger Schechter zu Erbzins übernommen und spätestens 1380 seinen beiden Söhnen Heinrich und Johann, die ebenfalls Schmiede waren, vererbt.443 Er versorgte auch kranke Pferde.444 Manchmal kassierte auch seine Frau die fälligen Gelder von der Stadt. An der Hahnenstraße gab es offenbar noch einen Schmied mit Namen Gobel, der gelegentlich in den Schreinsbüchern vermerkt wurde.445 Sowohl Arnold wie auch Gobel waren anscheinend weit über die Zeit der Stadtrechnungen um 1380/81 hinaus den Fuhrleuten als Anlaufstationen für Reparaturen ihrer Räder, der Sättel und andere Sachen, beispielsweise bei der Erkrankung der Pferde, behilflich. Dazu kamen sogenannte Hamecher oder Kumtmacher, die durch die Anfertigung bzw. Herstellung von Kummeten den Pferden oder Ochsen das Ziehen erleichtern sollten. An der Hahnenstraße vor dem Tor, aber innerhalb der Stadtmauern, lag ein altes Zollhaus, das aber Mitte des 14. Jahrhunderts abgebrannt und zu einem Brauhaus umgebaut worden war. Jedoch kann es nicht lange als Brauhaus gedient haben, da schon in der zweiten Hälfte des 438 Es handelt sich um Hof, Häuser und Acker Winkins von Hoyngen 1361–1364 und der Magd Druda von Remscheit 1402–1404; Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 190b Nr. v und 196a Nr. a (oben); HAStK, Schreinsbuch 374, fol. 86r, 89v, 126v. 439 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 224a Nr. a-b; HAStK, Schreinsbuch 361, fol. 4r. 440 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 223b Nr. 24–25, Sp. 225b Nr. t und Sp. 206a Nr. 1–2; Sp. 233b Nr. 14–15; Sp. 234a Nr. 45–46; HAStK, Schreinsbuch 362, fol. 15r-16r. 441 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 9 f., 24. 442 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 26, 52, 78, 80, 96, 107, 136, 239, 244, 251. 443 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 31. 444 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 34, 52, 76 und öfter. 445 Ibid., S. 192.

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14. Jahrhunderts ein Schneider einzog, der schwerlich die alte Brauhaustradition fortgeführt und damit auch einen mutmaßlichen Herbergsdienst versehen hat.446 Gleich den beiden anderen offenen Toren verfügten die Geschlechter oder auch angeheiratete Verwandte aus dem Landadel über Höfe oder Teile davon am Hahnentor, beispielsweise über den Hof Glimbach oder zur Wijden, der allerdings oft verpachtet oder zu Erbzins vergeben war.447 Eine Besonderheit bildete jedoch der am Rand der Stadt liegende Benesishof, den die Familie von der Lintgasse oder Benesis seit dem 13. Jahrhundert besaß. Allerdings hat die Familie im sogenannten Schöffenkrieg 1375–1377 ihren Besitz verkaufen und Köln verlassen müssen.448 Für den Hofbezirk, der in Grundstücke aufgeteilt und deren Liegenschaften verpachtet oder zu Erbzins vergeben worden waren, verlangten die Benesis schließlich eine eigene Gerichtsbarkeit und ein eigenes Schreinswesen. Die Gerichtsbarkeit sollte unter einem eigenen Schultheißen und besonderen Geschworenen stehen. Der Zustand wurde im 14. Jahrhundert erreicht, aber vom Rat nie endgültig anerkannt.449 Inmitten der ausgegebenen Liegenschaften lag der Ansitz der Herren von Benesis und seit 1375 deren Nachfolger. Er soll ansehnlich gewesen sein.450 Den Anspruch, dass das Viertel über eine eigene Gerichtsbarkeit verfüge, haben auch die Nachfolger der Benesis trotz der Bedenken des Rats aufrechterhalten. Die Geschlechterfamilie Benesis hatte aber schon vor 1375 viele Häuser verpachtet oder zu Erbzins ausgegeben.451 Die Ehrenpforte war unter den frei zugänglichen Stadttoren wohl eher unbedeutend, auch wenn sie sich zur Straße nach Kaster öffnete und ferner einen direkten Zugang zum Stadtinneren gewährte.452 Wir beschränken uns vorwiegend auf die Ehrenstraße in der Nachbarschaft zum genannten Tor. Dort hatten sich wenigstens am Ende des 14. Jahrhunderts verschiedene Handwerker angesiedelt oder zumindest Häuser oder Hausanteile erworben. Ob sie dort auch gewohnt haben, ist nur schwer zu entscheiden. In den Schreinsbüchern sind zwei Schuhmacher, zwei Bäcker, die beide ein Backhaus in der Nähe des Tores unterhielten453, ein Kürschner, ein Seiler, ein 446  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 29ff., mit weiteren Nachweisen. 447 Ibid., S. 31. 448  Herborn, Führungsschicht (Anm. 246), S. 111ff., 270ff. 449  Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 51; Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 29. 450  Vogts, Wohnhaus (Anm. 110), Bd. 1, S. 40ff; Buch Weinsberg (Anm. 373) III, S. 13. Weinsberg nennt den Hof Gronenbergshoff, ferner Wasserffaishoff oder auch Quatermartzhoff. Vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp- 396a-b Nr. 1. 451 Vgl. Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 29 f. 452 Vgl. den Mercatorplan von 1571 oder auch noch den Reinhardtplan von 1752. 453  Keussen, Topographie (Anm. 15) Bd. 2, Sp. 238a Nr. 23–24; HAStK, Schreinsbuch 336, fol. 23r; 391, fol. 3v.

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Schneider und ein Brauer genannt, von dem man nicht weiß, ob er auch Fremde beherbergte oder nur Getränke und eventuell Speisen ausgab. Hinzu kamen Männer, die ihr Geld anlegten, aber die Liegenschaften vermietet oder zu Erbzins vergeben hatten, wie ein Gewandschneider oder ein Notar. Man weiß nicht, an wen und für wie viel Geld sie die Häuser weggegeben haben, weil die Mietverhältnisse eben nur selten in den Schreinsbüchern vermerkt sind. Auffallend sind die vielen Schmiede, die sich an der Ehrenstraße in der Nähe des Ehrentores niederließen. Zunächst ist an Heinrich Crauhus zu erinnern, der zwar 1361 schon verstorben war, dessen Witwe aber in dem Jahr ein umgebautes Backhaus vererbte.454 Das Backhaus wird wohl aus einer Schmiede entstanden sein. Man wird ferner annehmen dürfen, dass Heinrich sein Gewerbe bis zu seinem Tod in dem Haus ausgeübt hat. Allerdings ist bislang nicht zu ermitteln, ab wann er es getan haben könnte. An zweiter Stelle ist ein Walter Haneboich zu nennen, der 1366 ein Haus vererbte, das Gerlach Haneboich bis 1390 besaß. In diesem Jahr wurde es ihm wegen nicht gezahlter Erbzinsen abgesprochen.455 Sodann trat ein Gerhard von Lovenich auf, der 1388– 1404 das Haus an der Ehrenstraße übernahm, das vor ihm Gerlach Haneboich gehört hatte.456 Was mit dem Schmied Gerhard nach 1404 passiert ist, entzieht sich unserer Kenntnis, da er in den Schreinsbüchern nicht mehr zu belegen ist. Der Schmied Thomas von Koninxhoven erwarb 1399 ein Haus an der Ehrenstraße, dessen Lage allerdings nicht mehr genau zu ermitteln ist.457 Ob Thomas dort sein Gewerbe ausgeübt hat, ist wahrscheinlich, aber nicht sicher zu behaupten. Sodann ist ein weiterer Schmied namens Heinrich von Remunde zu ermitteln, der 1404 ein Haus an der Ehrenstraße in der Nähe des Tores erwarb, das bislang dem Schmied Gerhard von Lovenich gehört hatte.458 Die Abfolge der Inhaber des Hauses mag darauf hindeuten, dass beide Gewerbetreibenden ihr Handwerk dort auch ausübten. Ferner ist ein Schmied namens Heinrich von Obbendorp zu erwähnen, der ebenfalls an der Ehrenstraße in der Nähe des Tores ein halbes Haus erworben hatte.459 Man kann sich vorstellen, dass auch dieser Heinrich sein halbes Haus mit einer Schmiede verband, ohne 454 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 238a Nr. 23–24; HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 2r. 455 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 239a Nr. 14–15; HAStK, Schreinsbuch 335, fol. 11r, 14v, 23r; 338, fol. 23r. 456  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 239a Nr. 15; HAStK, Schreinsbuch 335, fol. 22r, 31r. 457  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 239a Nr. a; HAStK, Schreinsbuch 391, fol. 3v. 458  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 239a Nr. 15; HAStK, Schreinsbuch 335, fol. 31r. 459  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 406a Nr. 14; HAStK, Schreinsbuch 223, fol. 75v.

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dass in den Schreinsbüchern dazu ein Hinweis zu finden wäre. Schließlich ist ein Schmied Heinrich ohne Zunamen zu erwähnen, der 1410 ein Haus erwarb.460 Jedoch waren die Schmiede nicht die einzigen Handwerker, die Fuhrleuten in der Nähe des Ehrentores ihre Dienste anboten. Dazu kamen zwei Wagner oder auch Achsenmacher, wie sie in Köln auch genannt wurden. Lateinisch hießen sie factores carrucarum. 1362–1398 ist ein Gerhard bezeugt.461 Ein anderer derartiger Handwerker war Wilhelm von Kente, der 1373 ein Haus erwarb und 1377 einen Erbzins von dem Haus abkaufte.462 Dass jener Wilhelm einen Erbzins abgelöst hat, ist wohl als Zeichen dafür zu werten, dass er das Haus auch bewohnte und dort seine Arbeitsstätte hatte. Diese Wagner stellten die Wagen her, die Fuhrleute für ihre Transporte benutzten. Aber sie reparierten auch die Wagen, wenn sie defekt waren. Wagenräder beschlugen allerdings die Schmiede mit Eisenbändern.463 Ferner sind zwei Hamecher oder Kumtmacher bezeugt, die an der Ehrenstraße in der Nähe des Tores gelebt haben. Für 1364 ist ein Johann von Rummerskirchen zu nennen, der zwar ein Haus erworben und wieder weggegeben hatte, aber sich die Leibzucht an dem Haus vorbehielt.464 Mit der Leibzucht war ein Wohn- und Arbeitsrecht verbunden, das allerdings spätestens mit dem Tod des Leibzüchters erlosch. Sodann erwarb ein Johann von Duren 1393 ein Haus, das er wohl über 1410 hinaus besaß.465 In dem Jahr vererbte ein Schuhmacher namens Jakob das Haus seinem Sohn, der es im gleichen Jahr dem Hamecher Johann weitergab. Ob Johann von Duren sein Gewerbe in dem Haus auch ausübte, wissen wir nicht. Die Hamecher stellten Zuggeschirr für die Pferde und Ochsen her und waren deshalb für Fuhrleute wichtig. Wie in anderen Bezirken auch gab es im Bereich der Ehrenpforte Höfe wie den Bergerhof oder den Hof Bergerhusen, der lange Zeit im Besitz des Geschlechts der Grin gewesen ist.466 An der Ehrenstraße erbte der Landadlige

460  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 238b Nr. 13; HAStK, Schreinsbuch 355, fol. 33v. 461  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 406a Nr. 12–13; HAStK, Schreinsbuch 253, fol. 41v, 69r. 462  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 238b Nr. 6–7; HAStK, Schreinsbuch 335, fol. 16r-v. 463  Loesch, Zunfturkunden (Anm. 16), I, S. 154 Nr. 56,11–12. 464  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 405b Nr. 1–2; HAStK, Schreinsbuch 223, fol. 43v. 465  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 405b Nr. 1–2; HAStK, Schreinsbuch 223, fol. 63r. 466  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 236b Nr. 3–6.

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Abb. 7: Das Eigelsteintor mit angrenzender Stadtmauer, ca. 1880 (RWWA 162–727–3–004).

und Ritter Adam von Fischenich 1361 vier Häuser.467 Jedoch scheint das in diesem Bereich vor dem Tor eher die Ausnahme gewesen zu sein. Wir wenden uns dem Eigelstein zu und berichten über die gleichnamige Straße vom Tor bis zur Weidengasse bzw. Unter Krahnenbäumen. Es ist bekannt, dass der Bereich und das Gebiet über ihn hinaus über eine eigene Niedergerichtsbarkeit unter dem Erbvogt Kölns verfügte.468 Jedoch schlug die Gerichtsbarkeit in der uns interessierenden Zeit 1360–1410 nicht auf das eigentliche Schreinswesen durch. Im Eigelsteinbezirk finden sich vielmehr Schreinsbücher wie in anderen Bereichen auch, so dass diese schriftlichen Zeugnisse wie bisher herangezogen werden können. Der Eigelstein und das entsprechende Tor (Abb. 7) gehörten zu den bedeutenden Einlässen in die Stadt, da er die Straße nach Neuss abschloss. Die Straße selbst führte durch die Innenstadt bis zum Severinstor mit dem Anschluss nach Bonn. Zwar gelangte man nicht unbedingt zu den wichtigsten Märkten, jedoch durch die alte Römerstadt, und konnte ohne Weiteres zu den Märkten abbiegen. Dass sich im Bereich des Eigelsteintores viele Handwerker niedergelassen hatten, lag nicht ausschließlich an dem Mauerdurchlass und den Verdienstmöglichkeiten, die sich dort Handwerkern vielerlei Art boten, sondern auch daran, 467 Ibid., Bd. 1, Sp. 406a Nr. 10–15; HAStK, Schreinsbuch 223, fol. 40r-41r. 468 Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 43ff.

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dass viele Häuser für weniger Geld als solche in Marktnähe zu haben waren. Derartige Gründe werden für die vier Gerber, die wenigstens zeitweise am Eigelstein zu belegen sind, den Kürschner, die beiden Fleischer, den Lederzurichter, die beiden Weber, den Schneider, den Gürtelmacher, die beiden Schuhmacher, den roedenmecher, mit dem wohl der Hersteller von Visierruten gemeint gewesen sein könnte, sowie den Seiler ausschlaggebend gewesen sein.469 Mehr dem Handel, besonders dem Klein- oder Detailhandel, verpflichtet waren die drei Müdder und der Holzmenger, die allerdings nicht im Einzelnen vorgestellt werden sollen.470 Wichtiger ist schon, dass wie am Severinstor auch am Eigelstein ein Zöllner namens Ludwig Wynman von der Waage bezeugt ist. Dieser Ludwig war der Sohn eines Müdders und erbte 1382 ein Haus, das er bereits 1408 wieder vererbte.471 Allerdings stammte Ludwig aus einer vermögenden Familie, so dass nicht unbedingt damit zu rechnen ist, dass er als Zöllner tätig war und vor allem am Eigelstein wohnte. Eine weitere Besonderheit stellt der Schäfer (opilio) Gobelin Buysgin dar. Er übernahm 1376 den Hof zer Nasen samt den zugehörigen Ackerflächen für einen Erbzins von acht Gulden, einen Sümmer Erbsen und einen Sümmer Zwiebeln. 1392 gaben er und seine Frau den Hof samt Zubehör weg.472 Sowohl der Erbzins als auch die Vermögensentwicklung eines Schäfers sind außergewöhnlich. Der Hof durfte zumindest seit 1442 keine Schaftrift beanspruchen, da er über kein Land in der fraglichen Bauerschaft verfügte.473 Ob diese Bestimmung schon galt, als der Schäfer Gobelin Buysgin den Hof übernommen hatte, mag zweifelhaft sein. Weniger außergewöhnlich sind die Ansiedlungen mehrerer Brauer am Eigelstein in der Tornähe. Abgesehen von einer Pfandsetzung von 1382 zugunsten Heinrichs, des Brauers des Klosters St. Maximin, sind folgende dieses Berufes nachzuweisen. Erstens erwarb Rutger von Reide 1370 ein Brauhaus am Eigelstein. Seine Witwe veräußerte es aus Not, wie notiert worden ist.474 Über eine andere Liegenschaft verfügte der Brauer nicht. Übrigens scheint er schon 1359 bei dem Erwerb des Bürgerrechts über ein Brauhaus 469 Vgl. HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 4r, 47v, 52v, 62r, 69r; 398, fol. 1r, 4v-5r; 400 fol. 45r, 67r, 90v, 92v-93r, 98r; 407, fol. 9v; 409, fol. 10v und öfter. 470 Ibid., 397, fol. 53v; 400, fol. 52r, 58r, 63v, 87r, 92r; 499, fol. 62r und öfter. 471  Keussen, Topographie, (Anm. 15) Bd. 2, Sp. 272b Nr.17; HAStK, Schreinsbuch 265, fol. 4r, 7v. 472  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 272a Nr. 1; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 75r, 81v; 407, fol. 7r. 473 Beschlüsse (Anm. 1) I, S. 187 Nr. 1442, 9. Vgl. aber schon die Ordnung der Eigelsteiner Bauernschaft von 1391 in Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 382 f. Nr. XIX,2–3. 474  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 32; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 66v, 82r.

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verfügt zu haben, das aber nicht identisch mit dem 1370 erworbenen Brauhaus gewesen zu sein scheint.475 Zweitens war ein anderer Brauer Johann Schoenweder, der zwar den Namen eines der Kölner „Geschlechter“476 trug, aber mit dessen Angehörigen weder verwandt noch verschwägert war. Er verfügte seit 1371 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 1410 über mehrere Häuser am Eigelstein, die auch zusammenhingen. Dazu gehörten auch Ackerflächen.477 Es ist nicht mehr zu ermitteln, welches der Häuser Johann bewohnt oder gar zu einem Brauhaus gemacht hat. Drittens war Siegfried Cloebe von Neyle ein Brauer. Dessen Frau erbte ein Haus, das beide wiederum 1402 vererbten.478 Ein vierter Brauer war Gerlach von Wijlretzwijst, der zweimal geheiratet hatte. Er besaß zwei Häuser seit 1382 und über 1410 hinaus, dazu Ackerland.479 Ob diese Brauer und die übrigen auch das Gastgewerbe ausgeübt haben, ist nicht zu ermitteln. Jedenfalls hatten sie wie andere Brauer an den Toren die Möglichkeit, fremde Kauf- oder Fuhrleute zu beherbergen und Bier zu verkaufen.480 Auffallend ist die hohe Zahl der Schmiede, die Häuser am Eigelstein in der Nähe des Tores erworben hatten. Zunächst ist an den Schmied Walter von Goch zu erinnern, der 1362 ein Haus von Hilger Hirzelin, einem Angehörigen eines Kölner Geschlechts, erwarb.481 Es ist allerdings nicht auszumachen, wie lange der Schmied das Haus hat halten können. Den Schmied Wilhelm von Capellen können wir übergehen, da er zwar eine Liegenschaft als Erbe erhalten, aber sofort wieder veräußert hat.482 Es ist daher nicht sicher, ob er überhaupt als Kölner anzusprechen ist. Interessanter ist schon ein anderer Schmied namens Thomas von Neyle, der mit einer Irmgard verheiratet war. Beide 475  Hugo Stehkämper (Bearb.): Kölner Neubürger 1356–1398 Bd. 1: Neubürger 1356–1640 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln 61), Köln 1975, S. 4 Nr. 103: Rutgerus braxator ad molendinum super Eygilsteyne. Das Haus lag an anderer Stelle, vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 271b Nr. 1 (oben). 476 Vgl. Herborn, Führungsschicht (Anm. 246), S. 362. 477  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 272a Nr. 2–5; Sp. 272a-272b Nr. 7–9; Sp. 272a Nr. a; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 59v; 400, fol. 67r, 81v, 86v-87r, 101r, 106v, 107v. 478  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 272b Nr.12; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 85v, 101v. 479 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 269b Nr. 11–13, 15; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 61v, 64r, 73v; 404, fol. 40v, 52v. 480 Zu einer solchen Herberge, allerdings am Hof in der Nähe des Domes im Kirchspiel St. Laurenz, die ausdrücklich als hospicium de Gladio bezeichnet worden ist vgl. Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 203b Nr. 6; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) II, S. 240. 481  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273a Nr. 28; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 54r-v. 482  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 269a Nr. 14; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 48r.

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erwarben zwar seit 1368 mehrere Häuser am Eigelstein483; gewohnt haben dürften sie jedoch in der Nähe des Tores.484 Alle Güter hat Thomas 1400 vererbt. Bereits 1369 hatte ein Schmied namens Heinrich von Molenheim ein Haus an Erben abgegeben.485 Übrigens erbte ein Viertel des Hauses die Frau des Schmieds Arnold Wrede, der sonst am Hahnentor ansässig gewesen ist. Beide, sowohl die Frau wie der Schmied, haben ihr Erbe an dem Haus 1373 weggegeben. Ebenso ist der Schmied Sibert von Greveroyde nur wenige Jahre zu verfolgen. Er erwarb mit seiner Frau 1371 ein Haus am Eigelstein und verlor es bereits im Laufe von 1373.486 Johann Koyl von Wuringh spielte ebenfalls nur für eine kurze Zeit eine Rolle. Er ist bereits 1372 als Meister der Zunft oder des Amtes, wie die Kölner sagten, bezeugt, als er zusammen mit anderen Meistern auf Befehl des Rats das Zunfthaus der Schmiede verkaufte.487 Jedoch hat der Schmied erst danach, nämlich 1373, ein Haus am Eigelstein erworben, aber schon im folgenden Jahr wieder veräußert.488 Wichtiger war schon der Schmied Heinrich Hamer, der Hilla, die Tochter des schon genannten Schmieds Thomas von Neyle, geheiratet hatte. Sie erbte 1373 die Hälfte eines Hauses am Eigelstein. Die andere Hälfte erwarben beide 1376 von Hillas Bruder gegen einen Erbzins. Der Schmied ist spätestens 1410 gestorben. Die Witwe behielt aber das Haus über den Tod ihres Mannes hinaus.489 Der Schmied Johann von Duerdrecht erwarb 1377 ein Haus am Eigelstein in der Nähe des Tores, gab es aber schon 1401 wieder weg, ohne dass über ihn weitere Einträge in den Schreinsbüchern zu finden wären.490 Analoges lässt sich von dem Schmied Engelbert von Witzelden behaupten. Er und seine Frau erwarben 1392 und 1395 jeweils eine Hälfte eines Hauses. 1397 gaben sie eine

483  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270b Nr. 29, 31; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 51v-52r, 62r, 71v. 484  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 274a Nr. 2; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 68r; 400, fol. 88r, 100r; 407, fol. 8v. Das Haus haben beide 1388 erworben, 1395 einen Erbzins abgelöst und vor allem 1393 ein Urteil über den Wasserabfluss des Hauses erhalten. 485  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 22; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 52r, 56r. 486  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 31; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 67v, 69v. 487 Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 210 Anm. 2 (Druck); Loesch, Zunfturkunden (Anm. 16) II, S. 377 Nr. 594 (Regest). 488  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 22; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 56r, 57v. 489  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 271a Nr. 7–8; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 54v, 57v; vgl. Schreinsbuch 398, fol. 6v. 490  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 29–30; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 75r, 100v.

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Hälfte wieder weg.491 Danach ist von ihnen bis 1410 einschließlich nichts mehr überliefert. Die Schmiedefamilie Wrede hatte schon am Hahnentor bedeutenden Hausbesitz angehäuft. Zu der Sippe gehörten auch Arnold von Wrede und dessen Sohn Heinrich, beide Schmiede. Wegen des Besitzes an der Hahnenstraße sind sie nicht ganz so typisch für die Besitzentwicklung am Eigelsteintor wie andere Vertreter des Handwerks. Jedenfalls haben die Angehörigen der Familie umsichtig ihr Vermögen gemehrt. Arnold Wrede heiratete Druda von Molenhem, die Tochter des Schmieds Heinrich von Molenhem. Die beiden Söhne Arnolds und Drudas waren Heinrich und Johann. Während Johann vorwiegend an der Hahnenstraße tätig war, mehrte Heinrich den Besitz der Familie am Eigelstein.492 Schließlich ist der Schmied Hermann von Vochgen zu nennen, der 1397 das schon erwähnte Haus am Eigelstein erwarb, weil es doch wohl in eine Schmiede umgewandelt oder ihm eine Schmiede angegliedert worden war.493 Hermann hat das Haus mit der mutmaßlichen Werkstatt über 1410 hinaus besessen. Es sind nicht nur die Schmiede, die zum Teil das Bild des Eigelsteins geprägt haben, hinzu traten vielmehr auch zwei Wagner oder lateinisch carrucarii. Gerhard von Vrijshem und dessen Frau Druda erwarben 1369 ein Haus, aber gaben es schon 1377 wieder ab.494 Weder vor 1369 noch nach 1377 ist Vrijshem in den Schreinsbüchern zu finden. Man wird wohl davon ausgehen können, dass beide in dem von ihnen übernommenen Haus gewohnt haben. Ein weiterer Wagner war Gerhard Vogel. Er hatte Kunegunde von Siberg, die Witwe Johann Dechgins, geheiratet. Die Witwe brachte beide Häuser am Eigelstein mit in die Ehe. Beide gaben ein Haus 1392 weg. Sie vererbte schließlich 1395 ein halbes Haus. Er gab im selben Jahr die andere Hälfte weg, so dass auch Gerhard keine Liegenschaft mehr sein Eigen nennen konnte.495 Mit den Sibergs enden die Nachweise für diese Handwerker, die auch den Kauf- und Fuhrleuten ihre Dienste hätten anbieten können. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Wagner mehr am Eigelstein gegeben hat. Sie könnten Häu491 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 29–30; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 89v, 93r, 95r. 492  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 22; Sp. 272b Nr. 20; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 52r, 56r-57v; ferner Schreinsbuch 265, fol. 5v; 270, fol. 173v.; Militzer, Wahrzeichen (Anm. 78), S. 31. 493 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 29–30; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 95r. 494 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 29–30; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 63v, 75r. 495 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 273b Nr. 28–30; HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 69r, 81r, 89v, 92v. Dass die Hausangaben für beide Parteien gleich lauten, mag auch mit den teilweise ungenauen Identifizierungen Keussens zusammenhängen.

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ser oder Haushälften gemietet haben. Für eine solche Aussage sind die Schreinsbücher jedoch nicht geschaffen worden, da in ihnen Mieten nur selten vermerkt worden sind. Ferner wohnten ein Sattler namens Christian von Bonn und dessen Frau Christiane am Eigelstein. Sie gaben ihr Haus aber bereits 1368 weg.496 Da sie sonst über keine Liegenschaften in der Stadt verfügten, soweit die Schreinsbücher Auskunft geben, wird man wohl sagen können, dass sie auch in dem Haus gewohnt haben, das sie schon vor 1360 übernommen haben können. Nach 1368 bis 1410 sind keine Sattler mehr am Eigelstein nachzuweisen. An der genannten Straße hatten zudem zwei Hamacher Besitz erworben. Beide hießen von Langel, weil sie wohl aus einem der Orte am Rhein, heute beide Stadtteile Kölns, stammten. Der eine von ihnen namens Johann von Langel wohnte am Hochpfortenbüchel, wo er ein Haus besaß.497 Er nannte sich auch up Hoenportzen oder von Wynsberg, nach dem Haus Weinsberg am Blaubach in der Nähe der Hohen Pforte. Auf jeden Fall war er ein Hamacher, da er lateinisch als factor hamorum oder auch als hamecher bezeichnet wurde.498 Er und seine Frau verfügten zudem über Liegenschaften am Eigelstein, jedoch dürften sie die Häuser vermietet und kaum selbst benutzt haben.499 Der andere Hamacher war ein Peter von Langel, der mit Johann von Langel aber wahrscheinlich nicht verwandt war. Peter ist als solcher Handwerker, nämlich als Hamecher, bezeugt.500 Er und seine Frau Nesa erwarben 1377 ein Achtel und drei Jahre später sieben Achtel eines Hauses am Eigelstein, so dass sie seitdem die Liegenschaft ganz besaßen. 1400 gaben sie es wieder weg.501 Die Eheleute übernahmen 1388 ein zweites Haus am Eigelstein gegen einen Erbzins. Jedoch verloren sie es schon 1398.502 Man wird also davon ausgehen können, dass Peter mit seiner Frau das erstere Haus bewohnte und dort auch seine Werkstatt eingerichtet hatte. Ob Peter, der wohl am Eigelstein tätig war, nach 1400 sein

496  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2 Sp. 269b Nr. 5–6; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 51v. 497  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 246a Nr. 1; HAStK, Schreinsbuch 136, fol. 117r-v, 121v. 498 HAStK, Schreinsbuch 261, fol. 140r-v; 271, fol. 30v; 292, fol. 78v, 89r, 100r, 118r; 296, fol. 76r. 499  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 22; Sp. 270b Nr. 1–2; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 58v, 65v; 398, fol. 4r; 400, fol. 97v, 99r. Von einem Haus erwarb er 1392 die Hälfte und gab sie 1408 weg. Von dem anderen Haus erwarb er 1377 einen Erbzins, gab das Haus aber 1406 wieder weg. 500 HAStK, Schreinsbuch 397, 57v, 97v: hamifactor. 501  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 22; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 57v, 58v, 97v. 502  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 17–18; HAStK, Schreinsbuch 265, fol. 5r, 6v; 271, fol. 7r.

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Handwerk weiter ausgeübt hat und wo es gewesen sein könnte, ist nicht zu ermitteln. Der Eigelstein zeichnet sich also vor allem dadurch aus, dass viele Schmiede in der Nähe des Tores ihre Dienste angeboten haben. Sie konnten jedenfalls die Eisenreifen für die Räder an den Wagen verfertigen, die Pferde beschlagen und die Tiere, die einen bedeutenden Wert darstellten503, auch heilen. Alle anderen Handwerke, die für Dienstleistungen zugunsten der Fuhr- oder auch Kaufleute in Frage kamen, waren nur in dem Maße vertreten, wie das auch für andere Tore mit Tordurchfahrten üblich war. Severins-, Hahnen- oder Eigelsteintor unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum. Im Gegensatz zum Weihertor sind auch nur gelegentlich Erbzinsen in Hafer- oder Roggenanteilen oder Pfandsetzungen für diese Getreidesorten zu verzeichnen. Immerhin hatte ein Gerber ein Haus für einen Erbzins in Höhe von jährlich acht Gulden und für ein Paar Stiefel alle drei Jahre erworben.504 Die Stiefellieferung habe ich sonst nicht gefunden. Den Eindruck, dass es sich in dem Bezirk um das Eigelsteintor um ein ärmeres Viertel gehandelt hat, können auch einige Höfe belegen, die zwar vor 1360 bestanden haben, aber schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts spätestens in Wohnungen aufgeteilt worden sind. Zudem haben nur wenige Angehörige vornehmer Familien Liegenschaften in diesem Bereich erworben. Immerhin kauften Walter von Dijcke und dessen Frau Sophia von Lyskirchen 1404 zwei Häuser, die sie aber 1409 wieder zu Erbzins ausgaben.505 Ferner ist noch darauf hinzuweisen, dass Lübecker Bürger 1367 und 1398 ihr Erbe in Köln veräußerten. Einmal erbte Heinrich von Greverode 1367 zwei Häuser am Eigelstein, die ein Jahr später ein Peter von Greverode, ein Lübecker Bürger, weggab.506 1393 vererbte der Schuhmacher Jakob drei Häuser am Ehrentor seinem Sohn Jakob. Noch im selben Jahr vergab jener Jakob eines von ihnen gegen einen Erbzins in Höhe von fünf Mark. Dieser Jakob muss dann nach Lübeck ausgewandert sein und dort eine Frau namens Taleke geheiratet haben. Beide veräußerten 1398 die beiden übrigen Häuser und den Erbzins des anderen Hauses. Dazu hatte der Rat der Stadt Lübeck eine Urkunde ausgestellt, die die Berechtigung Jakobs ausweisen sollte. Diese Urkunde lag

503 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 73) I, S. 229 f. 504 HAStK, Schreinsbuch 400, fol. 62v zum Jahr 1369. 505 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 270a Nr. 26–27; HAStK, Schreinsbuch 398, fol. 1v, 6r. 506 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 271a Nr. 11–12; Sp. 271b Nr. 13; HAStK, Schreinsbuch 397, fol. 50r, 51r.

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der Behörde des Eigelsteins vor oder ist ihr vom Kölner Rat mitgeteilt worden.507 Beide Fälle seien erwähnt, weil sie selten vorgekommen sind. Eine Kontrolle der Eintragungen in die Schreinsbücher für die Friesenstraße belegt, dass dort vor allem arme Leute und Gärtner mit ebenfalls wenig Vermögen wohnten und arbeiteten. Die meisten anderen Leute wohnten an anderen Stellen der Stadt und nutzten Liegenschaften an der Friesenstraße lediglich als Geldanlage. Insgesamt sind in der Zeit von 1360 bis 1410 fünf tatsächliche oder vielleicht auch sechs Gärtner verzeichnet. Sie haben selten eigenen Besitz gehabt, sondern traten meist nur als Pächter oder Mieter größerer Güter auf oder haben als Pächter oder Mieter unter verschiedenen Bedingungen die Gärten außerhalb der Stadtmauern bearbeitet.508 Auch in anderen Städten gehörten Gärtner im Allgemeinen zu den Armen.509 Zunächst ist auf den Gärtner Martin und dessen Frau Blitza hinzuweisen, die 1361 ein Haus an der Friesenstraße ihrer Tochter Druda, verheiratet mit Johann Setzey, vererbten.510 Das Haus war ihr einziger angeschreinter Besitz. Möglicherweise war auch der Schwiegersohn Johann von Setzey ein Gärtner. Jedoch bleibt das ungewiss, weil keine Berufsbezeichnung überliefert ist. Ferner ist ein Johann Rosenboym mit seiner Frau Jutta als Gärtner bezeugt. Beide erwarben vor 1363, vielleicht sogar schon vor 1360, ein Haus an der Friesenstraße mit einem Morgen Garten vor der Stadtmauer und verloren Haus und Garten 1367 wegen eines Pfandes auf beidem in Höhe von 50 Mark.511 Das Haus an der Friesenstraße scheint das Wohnhaus Johanns wie auch dessen Erben Gerhard gewesen zu sein. Dieselben Johann und Jutta erwarben 1364 noch einen Garten vor den Toren der Stadt, den sie wegen nicht gezahlter Erbzinsen 1366 verloren.512 Das Haus und einen Morgen Garten übernahm 1367 deren Sohn Gerhard, ebenfalls ein Gärtner, verheiratet mit einer Stina. Beide hatten 1385 noch einen Acker und zwei Morgen Garten erworben und vererbten alles 1387/88.513 507  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 1, Sp. 405b Nr. 3–5; HAStK, Schreinsbuch 223, fol. 63r, 68r. 508  Lau, Entwicklung (Anm. 40), S. 190; Franz Irsigler: Köln extra muros: 14.–18. Jahrhundert, in: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 1 (1983), S. 137–149, hier S. 144. 509 Vgl. Isenmann, Deutsche Stadt (Anm. 59), S. 260. Aber es gab in Kleinstädten auch zünftige Zusammenschlüsse, die auch als „große“ Zunft bezeichnet wurden; ibid., S. 257. 510  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 244a Nr. m; HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 20v. 511  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 242a Nr. o; HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 21r; 347, fol. 1v; vgl. dazu Hans Planitz: Das deutsche Grundpfandrecht (Forschungen zum deutschen Recht I,4), Weimar 1936, S. 129ff., 148ff. 512 HAStK, Schreinsbuch 345, fol. 19r-v. 513 Ibid., 345, fol. 25r, 26r, 31v; 347, fol. 2br.

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Ein weiterer Gärtner war Wilhelm Poyser (Puser), verheiratet mit einer Druda Kuchen oder Kughin. 1367 erwarben beide eine Hofstatt an der Friesenstraße und fünf Morgen Ackerland, 1376 folgten das Haus daneben oder darauf und ein Morgen Garten. 1386 vererbte Druda die Hälfte an Verwandte. Im selben Jahr gab Wilhelm einen halben Garten weg und verlor 1400 alles Übrige.514 Ein gewisser Peter, Gärtner, verheiratet mit einer Odilia, erwarb 1376 ein Haus an der Friesenstraße.515 Da das Haus der einzige Besitz des Gärtners war, könnte er auch dort gewohnt und die Liegenschaft über 1410 hinaus besessen haben. Dagegen hat der nächstfolgende Gärtner namens Johann von Vlairsheim sein Haus an der Friesenstraße nur 1380–1381 innegehabt.516 Die relativ große Zahl der Gärtner, ob sie nur wenige Jahre oder länger ein Haus oder mehrere besessen haben, verleiht der Friesenstraße einen „dörflichen“ Charakter. Die meisten übrigen Personen haben in ihren Häusern keine Handwerke wie in den behandelten Torstraßen betrieben, sondern ihr Geld meist nur, mehr oder weniger gewinnbringend, angelegt. Sie haben sie nämlich vermietet. Gewohnt und gelebt haben sie in der Friesenstraße oder ihrer Umgebung nicht. Noch spärlicher sind die Informationen über das Pantaleons- und das Gereonstor. Beide Anlagen waren offenbar schon um 1350 zugemauert. Vielleicht konnten Fußgänger die beiden Durchlässe noch benutzen. Zwar gab es namentlich vor dem Pantaleonstor Höfe, die auch Adlige und Kölner Führungsschichten reizen konnten, aber es fehlen für beide Tore die Schmiede und andere Handwerke, die den Kauf- und Fuhrleuten ihre Dienste hätten anbieten können. Ferner ist zu beachten, dass vor allem Gärtner und Bauern, die die Gärten und Ackerflächen außerhalb Kölns bearbeiteten, vielfach zu arm waren, um Häuser oder Liegenschaften erwerben zu können. Selbst der Kauf von Gärten oder Ackerflächen außerhalb der Stadtmauern war ihnen nicht möglich. Es ist daher davon auszugehen, dass an den Toren, den „offenen“ wie auch denen, die nur Fußgänger durchließen, mehr Gärtner und Bauern gelebt haben, als man heute noch nachweisen kann. Sie waren Pächter oder Mieter der Gärten und Ackerflächen und bearbeiteten sowohl die Gärten als auch den Acker, mussten dafür aber einen erheblichen Teil an die eigentlichen Besitzer abführen oder erhielten auch nur den Lohn für ihre Arbeit und ihr Bemühen. 514 Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 243b Nr. f (unten); HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 22v, 27v, 31v, 40v. 515  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 243a Nr. b; HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 27v. 516  Keussen, Topographie (Anm. 15), Bd. 2, Sp. 244a Nr. m; HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 27v.

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Auffallend ist die hohe Zahl der Schmiede an den Straßen zu den „offenen“ Stadttoren. Schmiede haben nicht nur Fuhrwerke und Karren sowohl für Einheimische wie auch für Fremde repariert, sondern auch Pferde von allerlei Krankheiten befreit. Dazu kam eine Anzahl von Hamachern oder Kumtmachern, die auch Einheimische und Fremde bedient haben werden. Ob dagegen Brauer auch Fremden Obdach gewährt haben, ist zwar möglich, aber nicht mehr eindeutig zu belegen. Viele werden an die Straßen zu den Stadttoren gezogen sein, weil die dortigen Grundstücke für verhältnismäßig wenig Geld zu haben waren. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass erheblich mehr Handwerker an den sogenannten „offenen“ Toren gelebt haben werden, als heute noch zu ermitteln sind. Das liegt einmal daran, dass die Schreinsbücher, auf die sich die meisten Nachweise beziehen, für derartige Fragestellungen nicht konzipiert waren. Es konnten nämlich Handwerkerbezeichnungen fehlen. Schließlich konnten die Handwerker Häuser und Werkstätten mieten, ohne dass sie in den Schreinsbüchern erwähnt worden wären. Insofern bleibt das Bild der Handwerker, die an den Toren saßen und fremden wie einheimischen Kauf- oder Fuhrleuten ihre Hilfe anboten, unvollständig. Die Schreinsbücher bleiben daher für eine Auswertung mit verschiedenen Methoden unzureichend, vor allem was die Mieten betrifft. Für die Tore und die Straßen zur Rheinseite sind nur wenige oder keine Nachweise zu finden. Es fehlen in jedem Fall die Schmiede und die anderen Handwerker, die den Kauf- und Fuhrleuten das Leben erleichtert hätten. Das liegt einmal daran, dass zur Rheinseite hin nur Schiffe anlegten. Für die Eigentümer und die Kaufleute, die dort anlandeten, waren die genannten Handwerker keine Hilfe. Die Ausbesserung und der Neubau von Schiffen geschah nämlich auf der Insel, genannt „Werthchen“, vor Köln.517 Die dort beschäftigen Handwerker waren eben keine Schmiede oder dergleichen.518 Im Übrigen saßen auf den Toren zur Rheinseite hin vielfach Diener des Rats oder seiner Beauftragten. Auch Söldner nahmen Aufstellung auf der Rheinseite. Aber der Rat sah offensichtlich vom Rhein weniger Gefahr als von der Feldseite aus. Deshalb ist die Rheinseite auch weniger gut befestigt und bewacht worden.

517  Fimpeler-Philippen, Schifffahrt (Anm. 384), S. 308 f. 518 Ibid., S. 307ff.

„Bleibet Capitulum bei alsolcher gefhelter Urtheill und … befhollener Execution“ – Ein Kölner Verfahren zur Hexenverfolgung in Zons von Jost Auler

Einleitung Die Hexenverfolgungen erreichten in der Frühen Neuzeit ihren Höhepunkt. In Neuss wurden bereits um 1500 mehrere Hexenprozesse geführt. Aber die meisten der überlieferten Akten beziehen sich auf die ersten Dekaden des 17. Jahrhunderts.1 Dies gilt auch für Stadt und Amt Zons (Abb. 1)2, ebenfalls im Niederstift des Kurfürstentums Köln gelegen. Für Zons liegen Überlieferungen aus dem Sommer 1621 vor, einem Jahr, in dem im kurkölnischen Oberstift eine kleine Hexenprozesswelle rollte. Die folgenden Ausführungen3 beschäftigen sich mit zwei beschuldigten Frauen aus Zons und ihrem Schicksal, also mit einem oder zwei Zauberei- und/oder Hexenprozessen, deren Akten als verschollen gelten und von denen lediglich knappe Niederschriften vom Ende des Verfahrens in den Protokollen des Kölner Domkapitels vorliegen.

Hexenverfolgung Die europäischen Hexenverfolgungen begannen wenig vor der Mitte des 15. Jahrhunderts und endeten um 1780. Sie sind damit wesentlich eine Erscheinung der Frühen Neuzeit. Während des 16. und 17. Jahrhunderts konzentrierten sich die Verfolgungen um bestimmte Jahre herum – man spricht von Prozesswellen. Diese sind zeitlich um 1560, um 1580/90, um 1630 und um 1660 zu verorten. Außer diesen zeitlichen Schwerpunkten sind auch bestimmte regio1 Die Hochphasen der Verfolgungen im kurkölnischen Niederstift lassen sich um 1590, von 1615 bis 1618 und um 1630, also schwerpunktmäßig während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), festmachen; vgl. dazu Peter A. Heuser: Die kurkölnischen Hexenprozesse des 16. und 17. Jahrhunderts in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Ingrid Ahrendt-Schulte et al. (Hg.): Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung (Hexenforschung 7), Bielefeld 2002, S. 133–174, bes. S. 151. 2 Vgl. Aenne Hansmann: Geschichte von Stadt und Amt Zons, Düsseldorf 1973. 3 Den Hinweis auf diese Quelle (Anm. 21) und weitere Hinweise verdanke ich Dr. Thomas Schwabach (Zons/Bergisch-Gladbach). Einzelaspekte wurden mit Prof. Dr. Reimund Haas (Köln), Dr. Peter Arnold Heuser (Bonn) und Dr. Gisela Wilbertz (Hannover) diskutiert; sie lasen auch Teile des Manuskripts oder das gesamte Manuskript kritisch gegen. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 127–147

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Abb. 1: Amt Zons mit Amtsgrenze und den zugehörigen Siedlungen, 1751 (angefertigt von Matthias Ehmans, LAV NRW R, RW Karten, Nr. 1980).

nale Kernzonen der Hexenverfolgung feststellbar. Zu den räumlichen Schwerpunkten zählte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation; aber auch hier waren die Prozesse nicht gleichmäßig verteilt. Die moderne Forschung geht von deutlich mehr als 50.000  Todesopfern aus, davon allerdings die Hälfte allein im Heiligen Römischen Reich. Die meisten der Opfer – das ist allgemein bekannt – waren weiblich; der Anteil der Männer betrug im Durchschnitt knapp 25 Prozent und war in katholischen Territorien höher als in nichtkatholischen Gebieten. Der Glaube an die Fähigkeit bestimmter Personen – Zauberinnen und Zauberer –, aufgrund ihres geheimen Wissens wirkmächtige magische Rituale ausüben zu können, gehörte bis zur Zeit der Hexenprozesse zum ganz normalen Alltag; traditionelle volkstümliche Magievorstellungen waren allgegenwärtig. Die negativen Formen der Magie, Schadenzauber also, wurden vornehmlich Frauen zugeschrieben. Wenn man sich nun ansieht, welcher Art dieser Schadenzauber war, dann richtete er sich gegen die Bäume und Pflanzen im Garten, gegen das Vieh im Stall oder auf der Weide und gegen Menschen, ganz häufig gegen kleine Kinder. Die Bearbeitung des Gartens, die Pflege des Viehs, die Betreuung der Kinder und die Zubereitung der Speisen waren im frühneuzeitlichen Haushalt eindeutig weibliche Arbeitsbereiche. Wurde dort Schadenzau-

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ber vermutet, kam in erster Linie eine Frau als Täterin in Frage – vor allem dies war der Grund für das Überwiegen von Frauen unter den Opfern der Hexenverfolgung. Die Menschen glaubten damals, dass der Teufel die Gestalt von männlichen und weiblichen Dämonen annehmen und sich so auch ganz real fleischlich mit den Menschen paaren konnte. Nun wurden die Teufelsbuhlschaft und der damit besiegelte Teufelspakt zwei entscheidende Charakteristika der Hexenlehre. Hexen, so glaubte man, traten niemals einzeln auf, sondern sie trafen sich regelmäßig mit dem Teufel auf dem Hexensabbat oder Hexentanz. Diese Vorstellung von der Hexerei als großes, bedrohliches Phänomen war es nun, was sie so gefährlich machte, so dass auch ihre Bekämpfung erforderlich war. Diese Hexenlehre wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts innerhalb der christlichen Theologie propagiert und weiterverbreitet. Ihren kirchlichen Segen erhielt sie durch die von Papst Innozenz VIII. 1484 erlassene, sogenannte Hexen-Bulle. 1487 veröffentlichte der Dominikanerpater Heinrich Institoris (Nachname latinisiert von Heinrich Kramer oder Krämer) den sogenannten Hexenhammer (Malleus maleficarum), ein Werk, das von den Untaten der Hexen handelte und davon, wie man diese erkennt und wie man einen Prozess gegen sie führt. Infolge dieser Vorstellungen konnte es nun zur ersten großen Welle der Hexenverfolgungen mit den bekannten, drastischen Sanktionen im Falle der Überführung solcher Taten kommen. Im Hexenhammer ist dazu u. a. zu lesen: […] wie sehr sie [die Hexen] auch bereuen, und wenn sie auch zum Glauben zurückkehren, sie nicht wie andere Ketzer in ewiges Gefängnis gesteckt werden dürfen, sondern mit der schwersten Strafe zu bestrafen sind […].4 Für die Umsetzung in konkretes Prozessgeschehen war aber nicht die Kirche verantwortlich. Sie besaß keine weltlichen Strafbefugnisse und konnte keine Kriminalprozesse führen. Dies war allein Sache der weltlichen Obrigkeiten. Damit es zu den Hexenverfolgungen großen Umfangs kommen konnte, waren noch weitere Voraussetzungen notwendig, nämlich eine allgemein verbindliche gesetzliche Richtschnur. In Deutschland wurde sie mit der (Constitutio Criminalis) Carolina von 15325 geschaffen. Für das Verbrechen der Zauberei war darin die Feuerstrafe bestimmt. Weiter gehörten dazu neue Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen, damit die obrigkeitlichen Machtansprü4  Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer, drei Teile, hg. u. übers. v. J. W. R. Schmidt, Berlin/Leipzig 1923, hier I, S. 132. 5 Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (1519–1556) aus dem Jahre 1532; Zauberei war laut Artikel 109 mit dem Tod durch das Feuer zu bestrafen: So jemand den Leuten durch Zauberey Schaden oder Nachtheil zufügt, soll man ihn straffen vom Leben zum Tode, vnd man soll solche straff mit dem Fewr thun.

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che bis ins letzte Dorf durchgesetzt werden konnten. Damit verbunden war die juristische Qualifizierung des städtischen und landesherrlichen Beamtenapparats. An den Universitäten hatte die Hexenlehre der Theologen inzwischen Eingang in die Juristenausbildung gefunden, und nicht zuletzt dieser Umstand war entscheidend für die Umsetzung in die lokale oder regionale Rechtsprechung. Sobald sie Gelegenheit dazu bekamen, setzten diese Juristen die Theorie in die Praxis um. Mitten im Dreißigjährigen Krieg fand europaweit die schlimmste Welle der Hexenverfolgungen statt. Dieser Krieg brachte für die damaligen Menschen die von Gott gesetzte Weltordnung ins Wanken; diese zu wahren, war die vornehmste Aufgabe jeder christlichen Obrigkeit. Der über Stadt und Land hereingebrochene Krieg bedeutete Bedrohung und Zerstörung dieser Ordnung; er brachte Ängste und Nöte mit sich, die Menschen um ihr Hab und Gut und bot Gelegenheit, ungestraft gegen Gesetze zu verstoßen. Sitte und Moral wurden untergraben. Die Obrigkeiten mussten daher Maßnahmen ergreifen, der Krise Herr zu werden und die Ordnung wiederherzustellen. Dies war umso dringender notwendig, als in Unordnung und Chaos der Teufel lauerte. Erst vor diesem Hintergrund erhielten die Hexereibeschuldigungen ihre besondere Brisanz und Aktualität. Solange man keine Gefahr sah, konnte man es sich leisten, Gerüchte auf sich beruhen zu lassen. Nun aber, wo das Chaos und damit das Reich des Teufels drohten, musste man alles daran setzen, die Ausbreitung der gefährlichen Hexerei zu verhindern und sofort beim ersten Verdacht gegen sie vorzugehen. Dabei konnte jede Obrigkeit mit der Unterstützung der gesamten Einwohnerschaft rechnen. Nicht selten waren es sogar die Untertanen selbst, die eine Verfolgung und Bestrafung der Hexen einforderten. Hexenverfolgungen hatten also eine Funktion innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Zum Ende aller Hexenprozesse kam es genauso wie zu deren Beginn – nämlich auf juristischem Wege. An den Juristenfakultäten hörte die gelehrte Diskussion über Hexerei niemals auf. Zweifel setzten sich durch, ob es auf dem üblichen prozessualen Wege möglich sei, mit Sicherheit festzustellen, wer eine Hexe oder ein Zauberer war und wer nicht. Es war also nicht die Existenz von Hexen, die man in Frage stellte, sondern allein das juristische Vorgehen. Vor allem die Anwendung der Folter und die mit ihrer Hilfe erzwungenen Geständnisse wurden nun als problematisch eingestuft. In diesem Zusammenhang ist etwa die Cautio Criminalis des Jesuiten und Moraltheologen Friedrich Spee von Langenfeld von 1631 zu nennen. Für das Heilige Römische Reich ist kennzeichnend, dass katholische Territorien weit länger an Hexenprozessen festhielten als lutherische oder reformierte Gebiete. Das Ende der Hexenprozesse

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bedeutete allerdings nicht das – erst später eintretende – Ende des Hexenglaubens.6

„Hexen“ in der Umgebung von Zons Von Schloss Hülchrath (Stadt Grevenbroich), einer ehemaligen hochmittelalterlichen kurkölnischen Landesburg, sind aus der Zeit zwischen 1590 und 1635 – vor allem aber von 1629 – mehrere Hexenprozesse mit anschließenden Hinrichtungen durch das Schwert, den Strick oder das Feuer bekannt.7 In Zons (Abb. 2) lebte seit etwa 1600 die betuchte Catharina Henoth, Tochter des Kölner Postmeisters8, und mit ihrer Familie gelangte sie rasch zu gro6 Vorstehender Abschnitt nach Thomas P. Becker: Hexenverfolgung in Kurköln. Kritische Anmerkungen zu Gerhard Schormanns „Krieg gegen die Hexen“, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 195 (1992), S. 204–214; ders.: Hexenverfolgung im Rheinland. Zwischen Volksmythologie und gelehrtem Hexenbegriff, in: Walter Bruchhausen (Hg.): Hexerei und Krankheit. Historische und ethnologische Perspektiven (Medizin und Kulturwissenschaft 1), Münster/Hamburg/London 2003, S. 47–70; Wolfgang Behringer: Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung, München 1998; Rosmarie Beier-de Haan (Hg.): Hexenwahn. Ängste der Frühen Neuzeit, Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin, Kronprinzenpalais, 3. Mai bis 6. August 2002, Wolfratshausen 2002; Lars Börner/Andrea Rudolph (Hg.): Hexen. Mythos und Wirklichkeit, Austellungsband des Historischen Museums der Pfalz Speyer, München 2009; Rainer Decker: Hexen. Magie, Mythen und die Wahrheit, Darmstadt 2004; Gunther Franz/Franz Irsigler (Hg.): Methoden und Konzepte der historischen Hexenforschung (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen 4), Trier 1998; Thomas Hauschild/Heide Staschen/Regina Troschke: Hexen. Katalog zur Sonderausstellung „Hexen“ im Hamburgischen Museum für Völkerkunde, Hamburg 1979; Stephan Lennartz/Martin Thomé (Hg.): Hexenverfolgung im Rheinland. Ergebnisse neuerer Lokal- und Regionalstudien (Bensberger Protokolle 85), Bergisch Gladbach 1996; Brian P. Levack: Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, München 21999; Erika Münster-Schröer: Hexenverfolgung und Kriminalität. Jülich-Kleve-Berg in der Frühen Neuzeit, Essen 2017; Lyndal Roper: Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung, München 2007; Walter Rummel/Rita Voltmer: Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit (Geschichte kompakt), Darmstadt 2008; Gerhard Schormann: Hexenprozesse in Deutschland (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1470), Göttingen 31996; Gerd Schwerhoff: Rationalität im Wahn. Zum gelehrten Diskurs über die Hexen in der frühen Neuzeit, in: Saeculum 37 (1986) S. 45–82; ders.: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 359–380; Jakobus C. Wilhelm: Beleidigung göttlicher Majestät. Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit, in: Hans-Peter Kuhnen (Hg.): Morituri. Menschenopfer, Todgeweihte, Strafgerichte (Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums Trier, 13. Mai–5. November 2000), Trier 2000, S. 187–196. 7 Vgl. Hetty Kemmerich: Sagt, was ich gestehen soll! Hexenprozesse – Entstehung, Schicksale, Chronik, Dortmund 2011; Emil Pauls: Zauberwesen und Hexenwahn am Niederrhein, in: Beiträge zur Geschichte des Niederrheins. Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins 13 (1898), S. 134–242. 8 Katharina Henoth (*1570/1580) war das bekannteste Opfer der Kölner Hexenverfolgungen; vgl. hierzu beispielsweise: Irene Franken/Ina Hoerner: Hexen. Verfolgung in Köln,

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ßem Einfluss. Sie war hier mehrfach in Auseinandersetzungen verwickelt, verkaufte daraufhin 1617 einen Teil ihres Zonser Besitzes und zog nach Köln. Ab Mitte 1626 wurde sie – obwohl Angehörige der Oberschicht – der Hexerei bezichtigt und fand ihr Ende im Beisein zahlreicher Zuschauer am 19. Mai 1627 an der Richtstätte Melaten (heute Köln-Lindenthal); sie wurde zuerst vom Henker erdrosselt und anschließend verbrannt. Ihren eigenen Angaben in der Prozessakte zufolge hatte Hester Jonas Dochter von Monheimb9 rund 13 bis 14 Jahre im rechtsrheinischen Monheim gewohnt und dort als Magd gedient. Anschließend stand sie in fünfjährigem Dienst in Reifferten, dem heutigen Dormagen-Rheinfeld, dort wohl auf einem der wenigen großen Höfe. Danach habe sie sich 13 Jahre im Dienst in Dormagen gebrauchen lassen. In den folgenden sieben Jahren hat Hester Jonas (um 1570–1635) in Zons gedient und gewohnt, wo sie von einem Thöniss Kopgens (?) geschwängert worden war. In Zons heiratete sie ihren Mann, Peter Meurer aus Neuss, mit dem sie bis zu ihrer Inhaftierung 21 Jahre in der Quirinusstadt häuslich gesessen hatte. Das Neusser Bürgermeistergericht bezichtigte Hester Jonas 1635 des Schadenzaubers, des Abfalls von Gott, des Teufelspaktes und der Teufelsbuhlschaft. Mittels Androhung und Anwendung der Folter wurde von ihr ein Geständnis erpresst und die Angeklagte anschließend zum Tode verurteilt. Am 24. Dezember 1635, also am Heiligen Abend, wurde Hester Jonas, Ehefrau des Peter Meurer an der Windmühle zu Neuss, an einer der beiden Neusser Richtstätten10 mit dem Schwert dekapitiert; anschließend wurden ihre sterblichen Überreste auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Im späten 17. Jahrhundert waren die Verfolgungen von Hexen überall im Kurfürstentum merklich abgeebbt.11 Dennoch kam es in Neuss zu einem weiteren Fall. 1677 wurde ein Bericht des Neusser Rates über die 18-jährige Neusserin Catharina Halffmans12, des Zaubereylasters beschuldigt, an den Kölner Köln 22000; Gerhard Schormann: Der Krieg gegen die Hexen. Das Ausrottungsprogramm des Kurfürsten von Köln, Göttingen 1991. 9 Zit. nach Gisela Götte: „Richtet noch einmal.“ Die Prozessakte der Zauberin Hesteren, Peter Meurers Hausfrau (Dokumentationen des Stadtarchivs Neuss 4. Neusser Frauen in Geschichte und Gegenwart), Neuss 1995, S. 60–81. Zu ihren Aufenthalten in Dormagen vgl. Jost Auler: Hester Jonas – die „Hexe“ aus Zons, in: Dormagener Geschichtsjournal. Dormagazin 10 (2001), S. 36–37. 10 Vgl. Jost Auler: Der Galgenberg vor dem Neusser Obertor. Zu den Neusser Richtstätten, in: Neusser Jahrbuch für Kunst, Kulturgeschichte und Heimatkunde 1995, S. 23–25; ders.: Neue Erkenntnisse zum Galgenberg vor dem Neusser Obertor, in: Neusser Jahrbuch für Kunst, Kulturgeschichte und Heimatkunde 2001, S. 9–10. 11 Vgl. Winfried Trusen: Rechtliche Grundlagen der Hexenprozesse und ihrer Beendigung, in: Sönke Lorenz/Dieter R Bauer (Hg.): Das Ende der Hexenverfolgung (Hexenforschung 1), Stuttgart 1995, S. 203–226. 12 Vgl. Alexandra Kohlhöfer: Ein Hexenprozess wird zum Politikum. Der Fall Catharina Halffmans und die Auseinandersetzung zwischen der Stadt Neuss und dem Erzbischof

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Abb. 2: Topografie von Zons mit Feldtor und Abdeckergrube, 1683 (angefertigt von Johann Philipp Hochsteiner, AEK, Karten C 91).

Bürgermeister geschickt. Aus ihm erfahren wir, dass die Angeklagte unter Epilepsie litt, dennoch vielfach verhört und auch gefoltert wurde. Nicht zum Vorteil der Angeklagten fiel der Prozess zeitlich in eine politische Auseinandersetzung zwischen der Stadt Neuss und dem Erzbischof von Köln. Leider liegt kein Hinweis auf das Urteil vor; es ist aber bekannt, dass Catharina Halffmans sich durch Flucht der Neusser Obrigkeit entziehen konnte. Recht spät, Ende 1705, ist der Fall der Margarethe Baumberg aus Zons überliefert; sie dürfte ursprünglich ebenfalls von der rechten Rheinseite stammen. Hinsichtlich des crimen sortilegii, also der Hexerei, ist sie nicht nur denunziert und verdächtigt worden, sondern gegen sie lagen nach Auffassung des Gerichts auch stichhaltige Indizien vor. Das Kölner Domkapitel beauftragte daher den Schultheiß, nach den geltenden Rechtsordnungen weiter gegen sie vorzugehen: Nach dem Exorzismus solle sie eine Zeit lang außerhalb der Gemeinde leben und bis auf weitere Verordnung täglich durch Geistliche besucht und unter-

im Jahr 1677, in: Novaesium 2011. Neusser Jahrbuch für Kunst, Kultur und Geschichte, S. 47–66; dies.: Magie, Gerüchte, Machtkampf. Hexenverfolgung in der kurkölnischen Stadt Neuss (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss 20), Neuss 2017.

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wiesen werden.13 Der Hexenglaube war also in Zons auch noch im beginnenden 18. Jahrhundert vorhanden; Verfahren führten aber nicht mehr zwangsläufig auf den Scheiterhaufen. Schließlich ist von Ende März 1718 eine jungsthin durchs Schwerdt hingerichtete Margarethen Schiffers14 (auch Margarethen Schefers) durch Eintrag im Protokollbuch des hochwürdige Thumbcapitull überliefert. Ihr Vergehen – die einschlägigen Dokumente sind nicht überliefert – ist nicht bekannt. In Frage kommt – unter Vorbehalt – Kindsmord. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass auch sie noch der Hexerei bezichtigt wurde.

Das Kölner Domkapitel und die Protokolle Das Kölner Domkapitel15, eine geistliche Gemeinschaft innerhalb der Domimmunität, ist ein bereits für das frühe Mittelalter nachgewiesenes Gremium. Dieses Domkloster war um das Jahr 1000 allein dem höheren Adel des Reiches vorbehalten. Ab 1200 setzte sich das Domkapitel als neben dem Erzbischof selbständige, zur Wahl des Erzbischofs berechtigte Körperschaft durch. Spätestens 1450 stand dann seine endgültige Verfassung fest: Es bestand nun aus 24 Kapitularen und etwa gleich vielen Domizellaren, also Anwärtern. Von den Kapitularen mussten 16 dem Reichshochadel angehören, die sogenannten Domgrafen. Die acht weiteren Kanonikate hatten Priester mit akademischem Grad inne. Die Anwärter gehörten ebenfalls dem Hochadel an. Der erste Prälat des Domkapitels war der Dompropst; er war zugleich Archidiakon für die Stadt Köln. Der Domdechant war der zweite Prälat des Kölner Domkapitels und der eigentliche Obere des Stifts. Seine Aufgabe war die Leitung der Kapitelssitzungen und er musste, als einziger der adligen Domherren, die Priesterweihe besitzen. Der andernorts ebenfalls zu beobachtende Zerfall des gemeinsamen Lebens von Kanonikern und Prälaten führte ab dem späten 13. Jahrhundert zu einer mangelhaften Residenz der Domherren. Die Zahl der Kanoniker – Domherren und Priesterherren – sank und letztgenannte domi13 Vortrag Dr. Thomas Schwabach in der Reihe „Geschichte im Gewölbekeller“ des Archivs im Rhein-Kreis Neuss in Dormagen-Zons am 13. September 2019: „,Neues‘ zur Zonser Geschichte nach den Protokollen des Domkapitels im Historischen Archiv der Stadt Köln“. 14  Jost Auler: „… jungsthin durchs Schwerdt justificierte Malefiz-Persohnen“. Zur letzten Hinrichtung an der Zonser Richtstätte vor rund 300 Jahren, in: Jahrbuch für den RheinKreis Neuss 2020, Neuss 2019, S. 12–25. 15 Vgl. zum Folgenden Eduard Hegel: Geschichte des Erzbistums Köln Bd. 4: Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung vom Pfälzischen Krieg bis zum Ende der französischen Zeit 1688–1814, Köln 1979; ders./Wilhelm Janssen: Geschichte des Erzbistums Köln Bd. 2,1: Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter 1191–1515, Köln 1995.

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nierten in den folgenden Jahrhunderten das Kapitel. Ziel der Einrichtung war stetig, die Vormachtstellung des Domkapitels im Land zu stärken und den Erzbischof an sich zu binden. Hierbei ging es nicht nur um Eigeninteressen, sondern auch um eine Absicherung des Kur-Erzstifts, denn das Domkapitel regierte jeweils während der Sedisvakanz das Kölner Erzstift. Stadt und Amt Zons inklusive Burg und Zoll waren 1463 von Erzbischof Dietrich von Moers an das Domkapitel verpfändet worden; Zons gehörte bis zum Einmarsch der Franzosen als domkapitularische Pfandschaft zur weltlichen Landesherrschaft des Kölner Domkapitels. Nach 1463 setzte das Kapitel mit den Landständen die Erblandvereinigung durch, welche weitere Verpfändungen kurkölnischer Territorien und eine zunehmende Verschuldung des Erzstifts verhindern sollte. Gleichzeitig verpflichtete es sich, vor der Wahl das Votum der Landstände einzuholen. Der nachfolgende Erzbischof, Ruprecht von der Pfalz († 1480), wandte sich jedoch zunehmend gegen die eigenen Landstände und besetzte unter anderem die an das Domkapitel verpfändete Stadt Zons. Daraufhin wandte sich das Domkapitel offen von seinem Erzbischof ab; es kam zur sogenannten Kölner Stiftsfehde. Im Zeitalter der Reformation bildete das Domkapitel gemeinsam mit der Kölner Universität ein Bollwerk des Katholizismus und trat energisch Protestantisierungs- und Reformierungsversuchen entgegen. Auch den Bestrebungen der Aufklärung stand das Domkapitel konservativ gegenüber. Im Gegensatz zu vielen anderen Stiftskapiteln wurde das Kölner Domkapitel am Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht aufgehoben. 1795, noch vor dem Einrücken der Franzosen in Köln, flüchtete ein Großteil des Domkapitels ins Sauerland. Einige Kanoniker ließ man jedoch in Köln zurück, wo sie die Kapitelsrechte wahren sollten. In der Folgezeit wurde der rechtsrheinische Restteil der Erzdiözese von Deutz aus verwaltet. Da nicht nur die Kölner Kathedrale verloren gegangen war, sondern auch die Einkünfte des Kapitels, zerfiel dieses in den folgenden Jahren. Ab 1820/21 kam es zur Wiedererrichtung des Domkapitels; 1830 gab es sich neue Statuten. Neu war nun die Tatsache, dass die Domkirche eine Pfarrkirche wurde und somit ein Pfarrer zu bestellen war. Wie in der alten Zeit, war auch jetzt das Kapitel und nicht der Erzbischof Hausherr der Kathedrale. Das Kölner Domkapitel nahm als Pfandherr des kurkölnischen Amtes Zons nicht nur die Einsetzung und Überwachung der Zonser Beamten vor, also der Zollbeamten, des Amtmanns, des Burggrafen, des für die Einnahme der Steuern zuständigen Amtskellners usw., sondern auch entscheidenden Einfluss auf das städtische Leben der kleinen Stadt Zons. Es wirkte über diese Ämter auf sämtliche Gebiete des städtischen Lebens ein. Das Kölner Domkapitel war vor allem auch ein Verwaltungsgremium; alle Vorgänge von Relevanz

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wurden schriftlich in Protokollen festgehalten. Dabei handelt es sich zweifelsohne um eine für die historische Forschung wichtige Quelle in Hinblick auf die Kölner Stadt- und Bistumsgeschichte. Diese Amtsbuchserie stellt zudem auch eine ganz wichtige, wenngleich bisher kaum genutzte Quelle zur frühneuzeitlichen Geschichte von Zons dar. Der Umstand, dass diese Quelle von der historischen Forschung bisher vernachlässigt wurde, liegt an ihrem enormen Umfang und ihrer schweren Lesbarkeit. Zudem ist der Inhalt nur teilweise über Register am jeweiligen Band-Ende erschlossen. Die Protokollbücher des Kölner Domkapitels sind im Historischen Archiv der Stadt Köln seit der Mitte des 15.  Jahrhundert nahezu lückenlos überliefert, nur zum Teil regestiert und mittlerweile auch im Internet zugänglich.16

Stadt, Amt und Gericht Zum kurkölnischen Amt Zons gehörten neben der Stadt Zons auch die Siedlung Stürzelberg, ein Teil des Dorfes Horrem sowie die beiden Rittersitze Heckhof und das rechtsrheinisch gelegene Haus Bürgel. Das Zonser Schöffengericht17 unter Vorsitz des Schultheißen besaß die lokale Zuständigkeit über die peinliche Strafjustiz (ius gladii).18 Dies bedeutete, es konnte für schwere Vergehen auch Leibesstrafen wie Verstümmelungen oder Lebensstrafen wie Hinrichtungen anordnen und durchführen lassen. Das Schöffengericht setzte sich aus einem Laienrichter, der Schultheiß genannt wurde, und einem Kollegium von Laienschöffen, die sämtlich aus der lokalen Wohnbevölkerung stammten, zusammen. Diese zumeist schreibunkundigen Schöffen waren die Urteiler, bludtrichter, im peinlichen Strafprozess; der Richter saß dem Gericht vor. Das Gericht tagte zunächst, wie allgemein üblich, auf offener Straße unter freiem Himmel, später in der Gerichts- und Ratsstube im Rathaus am Marktplatz. Die Anrufung des Gerichtes war kostspielig; neben einem Salär – der 16 Vgl. für die Zeit von 1454 bis 1511 Klaus Militzer (Bearb.): Die Protokolle des Kölner Domkapitels Bd. 1: Regesten 1454–1511 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 77), Düsseldorf 2009. 17 Vgl. Jost Auler: Das Zonser Schöffengericht und seine Galgen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Almanach für den Kreis Neuss 1986, S. 76–85; Hansmann, Zons (Anm. 2), S. 98–101. Die Protokollbücher des Schöffengerichts aus der Zeit vor der Mitte des 18. Jahrhunderts sind verloren gegangen. 18 Die peinliche Strafjustiz („peinlich“ vom lateinischen Wort poena = Strafe), auch als Blutgerichtsbarkeit, Hoch- oder Halsgerichtsbarkeit bezeichnet, war die Gerichtsbarkeit über Straftaten, die im Regelfall mit Strafen an Leib und Leben sanktioniert wurden, also blutigen Strafen bzw. Strafen, die körperlichen Schmerz („Pein“) verursachten. Allgemein zu den Zonser Gerichten vgl. Jost Auler: Zonser Hochgericht, Dormagener Siechenhaus und Bockwindmühle. Reminiszenzen an ein unbekanntes Konglomerat, in: Zeitsprünge. Dormagen von der Steinzeit bis zur Gegenwart 1 (1994), S. 18–33.

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Schultheiß erhielt den doppelten Betrag – erhielten die Teilnehmer Verpflegung und Getränke. Dazu kamen natürlich noch Ausgaben für den Spruch, die Urkunden, den Gerichtsschreiber19 und den Fürsprecher. Das Kölner Domkapitel war als Pfandherr des kurkölnischen Amtes und Gerichts Zons Repräsentant des Kurfürsten in Amt und Gericht. In dieser Position hatte es sicherzustellen, dass das Gericht ordnungsgemäß besetzt war, tagte und Recht sprach. Kam es im Gericht zu einem Dissens, wie Recht zu sprechen sei, hatte der Gerichtsherr sicherzustellen, dass das Gericht im Rahmen der Ratsuche (Konsultation) graduierte Juristen um Rechtsauskunft bitten konnte. Wurden auswärtige graduierte Juristen in Verfahren solcher Laiengerichte involviert, so geschah dies normalerweise auf Basis einer Konsultation: Das lokale Schöffengericht suchte bei Rechtsunsicherheit in peinlichen Strafsachen Rat bei seinem jeweiligen Oberhofgericht, das gewöhnlich auf Basis des überschickten Konsultationsschreibens eine Rechtsauskunft formulierte. Alternativ konnten die lokalen Schöffengerichte auf studierte und graduierte Juristen zurückgreifen, die als unparteiische Rechtsgelehrte schwierige Fälle bearbeiteten. Diese Praxis sicherte den lokalen Amtsträgern und Schöffenkollegien Einfluss auf die Verfolgung von Zauberei und Hexerei. Zons besaß zwei Richtstätten; beide lagen unmittelbar östlich der Landstraße von Köln nach Neuss. Die Hauptlokalität lag unmittelbar an der Grenze zu Neuss zwischen dem Stüttger Busch und Stürzelberg in unmittelbarer Rheinnähe, die andere im Süden des Amtes nahe dem Dormager Gericht und der Dormagener Bockwindmühle. Das südliche Gericht wird auf historischen Topographien als zweipfostige Anlage kartiert, das nördliche mit dreistempliger Architektur. Solche Lokalitäten lagen immer an exponierten Stellen und sollten von Straftaten im betreffenden Hoheitsgebiet abschrecken. Die großen Städte hatten imposante gemauerte Anlagen; auf dem Land dominierten bescheidenere, hölzerne Bauten. Immer war ein Galgen vorhanden, dazu ragten die hoch aufgerichteten Räder in den Himmel. Vervollständigt wurden diese Ensembles durch Schwertköpfstätten, also erhöhte Podeste. Ehemalige Brandplätze waren gegebenenfalls durch die intensive Hitzeeinwirkung bis tief ins Erdreich verziegelt und zeichneten sich durch fehlenden Vegetationsbewuchs aus. An diesen Richtplätzen wurden die Leibesstrafen vollzogen und natürlich die Todesstrafen. Zudem wurden hier unter dem Galgen die Leichname der Hingerichteten vergraben, denn die durften zumeist nicht in geweihter Erde der Kirch- oder Friedhöfe bestattet werden. In seltenen Fällen diente der Richtplatz zudem auch dem Abdecker zur Entsorgung geschlagener oder

19 Gerichtsschreiber bei dem oder den hier zu betrachtenden Verfahren war Wilhelm Brewer.

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gefallener Tiere. Nach außen hin war ein solcher Platz manchmal als Rechtsbezirk durch einen Zaun oder eine Mauer optisch abgegrenzt.20

Christine und Elisabeth Im Juli 1621 wurden in Zons zwei Frauen festgesetzt und inhaftiert; ihre Vergehen werden in den knappen Überlieferungen21 nicht explizit genannt, wohl aber die Verurteilung zum Tode. Es kommen also beispielsweise gemeinschaftlich begangener Kindsmord, schwerer Diebstahl, Brandstiftung oder eben Zauberei und/oder Hexerei in Frage. Letztgenanntes Vergehen lässt sich aufgrund der Zeitumstände vermuten. Dafür spricht auch, dass in dieses Verfahren der Kölner Jurist Liz. jur. Walramus Blanckenbergh involviert war, ein engagierter Hexenverfolger im Kölner Kurfürstentum, vor allem im Oberstift, sowie in verschiedenen Territorien des Eifelraumes. Die Geschichte dieser beiden Frauen verfolgen wir in diesem Text. Auf Mittwoch, den 14. Juli 1621, datiert das Protokoll des Kölner Domkapitels, das bezeugt, dass in Zons zwei Frauen22, deren eine Stein23 Fischers, die andere Elisabeth Ortembachs gnant, verhaftet und im Kerker des Juddeturms (Abb. 3) dieser kleinen Stadt festgesetzt worden waren. Der Juddeturm, ein massiver und dennoch mit knapp 36 Meter Höhe schlanker Rundturm aus Back- und Basaltsteinen mit heute geschweifter Barockhaube, bildet den Eckpunkt, an dem die innerstädtischen Burgmauern des Areals der kurkölnischen Landesburg Friedestrom rechtwinklig aufeinandertreffen. Der weithin sichtbare Turm markiert also die Grenze zwischen dem Burgbereich und der Stadt. Er ist burgseitig durch einen Treppenaufgang erschlossen. Durch einen Zugang zur rechten Seite gelangt man über eine Wendeltreppe in die höheren Stockwerke, in denen Wohnräume mit teilweise gepflasterten, steinernen Feuerstellen mit Rauchabzug für die Wachmannschaften untergebracht waren. Durch die innere Türe mit Sichtklappe als Eingangskontrolle gelangt man in einen Gefängnisraum; hier wurden Inhaftierte mit Ketten fixiert und 20 Vgl. Jost Auler: Richtstätten des ausklingenden Mittelalters und der frühen Neuzeit im Fokus moderner Archäologie, in: Düsseldorfer Jahrbuch 74 (2003), S. 303–317; ders. (Hg.): Richtstättenarchäologie, 3 Bde., Dormagen 2008–2012. 21 HAStK, Bestand 210, A 175, S. 307, 319 und 327 vom 14. und 28. Juli sowie vom 13. August 1621. 22 Außer den Namen liegen keine Angaben zu den beiden Frauen vor, weil die Überlieferung solcher Daten erst später beginnt, vgl. Werner Lisken: Familienbuch Zons. Die Familien der historischen Stadt Zons und der katholischen Pfarre St. Martin (mit den Ortsteilen Bürgel, Grind, Nachtigall, Sankt Peter und Stürzelberg) von 1664 bis 1900. Ein genealogisches Nachschlagewerk, Köln 2014. 23 Stein ist hier wohl eine Variation des umgangssprachlichen Sting, was wiederum von Christine abstammt; für den Nachnamen findet sich auch die Schreibweise Vischers.

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Abb. 3: Der Juddeturm, auch Judenturm, in der nordwestlichen Ecke der Burgmauer (aus: Paul Clemen: Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz Bd. 3. Die Kunstdenkmäler des Kreises Neuss, Düsseldorf 1895, S. 111–123 hier S. 122 Abb. 67).

hier dürften die Verhöre und Folterungen stattgefunden haben. Im Boden dieses Raumes ist der Zugang zu dem darunterliegenden Verlies (Kerker); er ist durch ein eisernes Gitter gesichert. Dieses fenster- und somit lichtlose Untergeschoss war elf Meter tief; das Mauerwerk ist in diesem Bereich 2,5 Meter stark. Über Einzelheiten der Zauberei- und/oder Hexenprozesse im Falle der beiden Zonser Frauen sind wir nicht unterrichtet, weil die Akten nicht überliefert sind. Aus diesem Grund müssen wir uns im folgenden Text mit dem allgemeinen Ablauf eines solchen Verfahrens24 begnügen. Für eine Anklage wegen Hexerei genügte oftmals nur eine Anzeige; der Wahrheitsgehalt wurde oft nicht oder nach heutigem Verständnis unzureichend geprüft. Zumeist gingen diese Besagungen auf die Angaben anderer Frauen unter der Folter zurück. Der eigentliche Prozess wegen des jeweiligen maleficium, also der Übeltat, wurde dann vor einem weltlichen Gericht geführt. Die Frauen wurden in der 24 Vgl. Christoph Gerst: Der Hexenprozess. Vom Erkennen einer Hexe bis zum Urteil, Saarbrücken 2012; Christoph Hinckeldey (Hg.): Justiz in alter Zeit (Schriftenreihe des Mittelalterlichen Kriminalmuseums Rothenburg ob der Tauber 6 c), Rothenburg o. d. T. 1989; Ernst Schubert: Räuber, Henker, arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter, Darmstadt 2007.

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Regel entkleidet und man schnitt ihnen die Haare kurz. Grundsätzlich galt das Schuldprinzip; Verteidiger gab es während des Verhörs nicht. Jemand war der Zauberei und/oder des Hexentums hinreichend verdächtigt, wenn drei Besagungen, also Beschuldigungen, vorlagen und das Hexenzeichen – etwa ein Muttermal – vorgefunden wurde. Stand eine Person im öffentlichen Ruf der Zauberei oder Hexerei, genügten nur eine Besagung und eben dieses Zeichen. Das Hexenstigma wurde um 1630 von Kölner Juristen als wichtiges Beweismittel propagiert; es galt als das wahrhaffte Kendtzeichen der Zauberer und unholden. Es war, etwa nach Ansicht des Kölner Universitätsjuristen Peter Ostermann, das indicium indiciorum, also der Beweis schlechthin, weil Gott dem Teufel nicht erlaube, ein solches Zeichen unschuldigen Menschen einzuritzen.25 Ob 1621 in Zons Hexenstigmata eine Rolle spielten, wissen wir allerdings nicht. Im Verhör durch den Schultheiß mit meist zwei Gerichtsschöffen und dem Gerichtsschreiber wurden Fragen zur Person und zu den vorgebrachten Vorwürfen gestellt; diese Fragen und entsprechenden Antworten wurden anschließend vom Gerichtsschreiber in einem Ergebnisprotokoll festgehalten, das oft wenig Einblick in den eigentlichen Ablauf der Befragungen erlaubt. Leugneten die Gefangenen die vorgeworfenen Taten, so schritt man zur Tortur. Die Folter galt dabei als Mittel zur Wahrheitsfindung, nicht als Strafmaßnahme. Diese peinlichen Befragungen wurden stufenweise zur Anwendung gebracht. Dabei durften die Schmerzen jedoch nicht so stark ausfallen, dass die Verdächtigen ohnmächtig wurden. Vorweg jedoch zeigten der Scharfrichter26 und seine Gehilfen den Beschuldigten die Folterwerkzeuge wie Daumenschrauben und beschrieb deren Wirkung (Verbalterrition). Das reichte in manchen Fällen schon zum Geständnis. Blieb diese Präsentation der Gerätschaften allerdings wirkungslos, wurden die Folterinstrumente – abgestuft nach Intensität und Zeitdauer – angelegt, aber noch nicht eingesetzt (Realterrition): Daumenschrauben, Beinschrauben, Aufziehen an den hinter dem Rücken gefesselten Händen usw. Für Neuss ist überliefert, dass offenbar ein mit Eichenholzstacheln besetzter Folterstuhl27 zur Anwendung kam, ein aus25 Zur Diskussion des Für und Wider der Nadelprobe zwischen Autoritäten der Theologie, Rechtswissenschaft und -praxis vgl. Peter A. Heuser: Die Nadelprobe (Stigmaprobe) in kurkölnischen Hexenprozessen. Studien zur Kontroverse zwischen Peter Ostermann und Johannes Jordanaeus (1629–1630), in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 166 (2016), S. 213–266. 26 Da Zons keinen eigenen Scharfrichter hatte, wurde von Fall zu Fall ein Henker von auswärts – beispielsweise aus Köln oder Ratingen (Herzogtum Berg), wie dies mehrfach für Hinrichtungen in Neuss belegt ist –, verpflichtet. 27 Der Stuhl wurde als Foltermethode nach Daumenstock, Beinschrauben, Zug und Streichen eingesetzt; Hester Jonas saß insgesamt zehn Stunden auf dem Folterstuhl ,und auch Catharina Halffmans soll auf diese Weise peinlich befragt worden sein, vgl. Götte, Prozessakte (Anm. 9), S. 64; Kohlhöfer, Hexenprozess (Anm. 12), S. 60.

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gesprochen selten anzutreffendes Marterinstrument. Die einzelnen Torturen konnten sich über Stunden erstrecken, wurden dabei aber immer wieder durch Pausen, Verhöre und Gebete unterbrochen. Diese Tortur führte bei Zauberei- oder Hexenprozessen fast immer zum gewünschten Geständnis; dieses musste am Morgen nach der Folter und natürlich dann am Endlichen Gerichtstag wiederholt werden. Erfolgte dies nicht oder wurde ein Geständnis widerrufen, so schritt man erneut zur Tortur. Danach musste der Henker den Delinquenten oder die Delinquentin medizinisch versorgen, so dass der spätere Gang zur Richtstätte möglich war. Offenbar wurden die beiden Frauen aus Zons, Christine Fischers und Elisabeth Ortembachs, unter der Folter zu Geständnissen gepresst. Zu diesem Zeitpunkt wandte sich der Schulteissen zu Zonß, Johannis Langk28 mit einem Sachstandsbericht an das Kölner Domkapitel.29 Denn das richterambt in Zauberei- und Hexensachen, also die Kompetenz, bei Verdacht auf solche Vergehen eine juristische Untersuchung einzuleiten und Urteile zu fällen, verortet die kurkölnische Hexenordnung von 1607 bei den lokalen vorsteheren des volcks: bei den ambtleuthen, vogtten, scholteißen, kelneren unnd scheffen.30 Sowohl die Carolina als auch die kurkölnische Hexenordnung von 1607 verbrieften das Recht der Schöffenkollegien den Gerichten in Stadt und Land, die – wie in den kurkölnischen Teilterritorien – als Urteilergremien in einem peinlichen Strafprozess fungierten. Im Bedarfsfall, also wenn beispielsweise im lokalen Schöffenkollegium Uneinigkeit oder Unsicherheit über die rechte Urteilsfindung bestand, konnte das Gericht unparteiische Rechtsgelehrte als Berater hinzuziehen. Der Zonser Schultheiß wandte sich also nun nach Köln31, weil es beim Zonser Schöffenkolleg Rechtsunsicherheit gab, und man expeditam iustitiam, also ein rechtskonformes Urteil in dieser Angelegenheit zu erhalten wünschte. Aufgrund dieses Berichtes in Sachen zweyer gefangene Frawpersonen zu Zonß empfahl nun die Kölner Institution den graduierten Juristen und Hochgerichtsschöffen32 Licentiati Blanckbergh33 als Experten 28 Johannes Langk, Zonser Schultheiß von 1614 bis 1628. 29 Vgl. Harriet Rudolph: „Löblich und wol regiert“? Strafjustiz in Kurköln in der Frühen Neuzeit, in: Franz Irsigler (Hg.): Zwischen Maas und Rhein. Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz (Trierer historische Forschungen 61), Trier 2006, S. 199–222. 30 Vgl. Peter A. Heuser: Juristen in kurkölnischen Hexenprozessen der Frühen Neuzeit. Studien zu Konsultation und Kommission im peinlichen Strafprozess, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (2017), S. 61–117, hier S. 77. 31 Folgende Zitate aus HAStK, Bestand 210, A 175, S. 319 vom 28. Juli 1621. 32 Vgl. hierzu Heuser, Juristen (Anm 30). 33 Liz. jur. Walram Blankenberg, Schöffe des kurfürstlichen weltlichen Hochgerichts in Köln von 1607 bis zu seinem Tode 1646, gehörte zur regionalen Juristenelite; 1625 promovierte er in Rechtswissenschaften, vgl. Wolfgang Herborn/Peter A. Heuser: Vom Geburts-

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und legitimierte diesen durch die Vergabe einer sogenannten ‚Kommission‘ als unparteiischen Rechtsgelehrten.34 Blankenberg, der schon zuvor und auch später mit Rechtsfällen in Zons betraut wurde35, wird also vom Domkapitel zum commissarius in den Kriminalfällen der beiden Frauen ernannt, wie aus einer späteren Aktennotiz vom 28. Juli 1621 hervorgeht. Hexenkommissar Walram Blankenberg sollte nun im Zonser Rechtsfall sein Votum abgeben, wie weiter zu verfahren sei. Ob ihm die Gerichtsakte(n) oder Auszüge davon vorgelegen haben oder ob er ausschließlich mündlich oder brieflich über den Sachstand informiert wurde, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Vor Ort in Zons dürfte er in dieser Angelegenheit nicht gewesen stand zur regionalen Juristenelite. Greven und Schöffen des kurfürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 59–160, hier S. 139 Nr. 90. Als Schöffe dieses Hochgerichts hatte er vornehmlich Aufgaben zu erfüllen, die jenseits der Kriminaljurisdiktion lagen. Seine Tätigkeiten werden hauptsächlich in den Bereichen des Urkundenwesens (Schöffenschrein) sowie der Zivilgerichtsbarkeit und der niederen Strafsachen (Brüchtengerichtsbarkeit) gelegen haben. Außerdem hatte das Gericht die Urteilskompetenz über Kriminalfälle in der Stadt Köln. Als Oberhof bzw. Konsultationsinstanz für zahlreiche Gerichte im und außerhalb des Kurfürstentums Köln war Blankenberg in Kriminalfällen tätig (frdl. E-Mail P. A. Heuser vom 15. April 2020). Zur Rolle graduierter Juristen (u. a. W. Blankenberg) im Kurfürstentum Köln als Akteure bei Zauberei- und Hexenprozessen vgl. Heuser, Juristen (Anm. 30). Um 1630 positionierte sich u. a. W. Blankenberg auf der Basis seiner reichen Praxis in der Anwendung der Nadelprobe an Hautauffälligkeiten (also an stigma oder mahlzeichen, so der Teuffel den Hexen gibt) in dem Anhang zu einer anonymen juristischen Verteidigungsschrift (Defensio probae stigmaticae et magistratuum), die wohl aus der Feder des Kölner Juristen Dr. jur. utr. Peter Ostermann, kurmainzischer Hofrat, stammen dürfte, als Anhänger der Stigmaprobe im Rahmen von Hexenprozessen. Ostermann ließ Juristen, die in kurfürstlichen Diensten standen, als Kronzeugen für die prozesspraktische Nutzung der Nadelprobe zu Wort kommen, denn ihm ging es um die Gunst des Kurfürsten und kurkölnischer Amtsträger, vgl. Heuser, Nadelprobe (Anm. 25), S. 224 und S. 248–254. Blankenberg engagierte sich auch für die regierungsamtliche Autorisierung der Nadelprobe als anerkanntes Indiz in Hexen- und Zauberprozessen (vgl. ibid., S. 256–258). Zudem verfasste Blankenberg gemeinsam mit Dr. iur. Johann Romeswinckel, ebenfalls Kölner Bürger und Schöffe des kurfürstlich weltlichen Hochgerichts ebenda, eine Richtlinie für Hexenprozesse für die Vogtei Ahrweiler, die im Mai 1629 mit einer kurfürstlichen Approbation versehen wurde und fortan vor allem im kurkölnischen Oberstift kursierte und Anwendung fand, vgl. hierzu Peter A. Heuser: Die kurkölnische Hexenprozessordnung von 1607 und die Kostenordnung von 1628. Studien zur kurkölnischen Hexenordnung, Teil II (Verbreitung und Rezeption), in: Westfälische Zeitschrift 165 (2015), S. 181–256, hier S. 183. Blankenberg zeigte – im Unterschied zu einigen seiner Schöffenkollegen – ein besonderes Interesse an Zauberei- und Hexereiverfahren; insofern kann er als ein profilierter Hexenjäger gelten. 34 In diesem Falle wurde also, anders als in vielen Territorien des Reiches üblich, keine Juristenfakultät konsultiert. 35 Im August 1619 wurde ein Caspar Ortembach wegen Mordes in Zons festgesetzt und ebendort u. a. von Walram Blankenberg peinlich verhört; er wurde zur Strafe aus Stadt und Herrlichkeit Zons, eventuell sogar aus dem gesamten Erzstift ausgewiesen. Der gleiche Inquisitor war übrigens auch ein paar Jahre später an Verhör und Folter der o. g. Catharina Henoth beteiligt.

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sein; er beurteilte den oder die Fälle von Köln aus. Das Urteil am endlichen Rechtstag zu verkünden, blieb dabei Aufgabe des Zonser Schöffengerichts; durch sein Votum, vielleicht auch einen ausformulierten Vorschlag, wie zu urteilen sei, konnte Blankenberg das zu fällende Urteil natürlich erheblich beeinflussen. Blankenberg gab nun eine Empfehlung ab, wie das lokale Schöffengericht urteilen solle; mit diesen sententiae, Urteilen, die er zum Gebrauch durch das Zonser Gericht formuliert hatte, war das Domkapitel explizit einverstanden (welche Capitulum sich gefhallen lassen). Dies ist unter Datum des 28. Juli 1621, einem Freitag, im Protokollbuch explizit festgehalten.36 Für seine Mühen und die juristischen Vorschläge erhielt der Kölner Jurist ein Honorar in Höhe von einem Goldgulden oder zwei Reichstalern, insgesamt für beide Angeklagten also zwei Goldgulden oder vier Reichstaler. Das Geld sollte – sofern noch Gelder vorhanden waren – aus den Brüchtengeldern, die das Gericht erhob, genommen werden, oder aus den Kellnereieinnahmen der Rheinzollfeste. Die Kosten wurden also aus Strafgeldern anderer Vergehen oder aus den gewöhnlichen Einnahmen des Amtes beglichen, nicht aus Besitztümern der Angeklagten. Das Domkapitel befahl nun dem Zonser Schöffengericht, ein Urteil zu fällen und es zu vollstrecken (deren Executio dem Gericht daselbst befhollen wardt37). Offenbar wurde unmittelbar nach Verlesung des Urteils von Elisabeth Ortembach, weilant Ludtgeri Köchenbeckers nachgelassener Dochter, ein Gnadengesuch an das Domkapitel in Köln gerichtet.38 Dieses wurde offenbar positiv beschieden; welche Gnade der Delinquentin zugestanden wurde, ist jedoch nicht bekannt. Bei Verhängung der Feuerstrafe wurde schon die Umwandlung dieser Strafe in die Todesstrafe durch das Schwert oder viel seltener die Landesverweisung als ein Akt der Gnade verstanden. Eine erneute Bitte um Begnadigung mit dem Ziel einer moderationem der gegen sie wegen ihrer Ubelthaten gefhelten Urtheill, also eine weitere Milderung des ergangenen Urteils, wurde dagegen unter dem Datum des 13. August 1621 abschlägig beschieden. Das Domkapitel lehnte die erneute Bittschrift mit der Begründung diweill solch Delictum in sich also beschaffen, quod de iure civili39 etiam poena mortis infligi possit, und da das verhängte Urteil bereits eine Gnade darstelle, ab. Folgerichtig bleibet Capitulum bei alsolcher gefhelter Urtheill und darauff 28.  July jüngst befhollener Execution. 36 HAStK, Bestand 210, A 175, S. 319 vom 28. Juli 1621. 37 Ibid. 38 Folgende Zitate ibid., S. 327 vom 13. August 1621. 39 Das ius civile meint hier, im Unterschied zum Kirchenrecht (ius canonicum), das römische Recht des Corpus iuris civilis, das die Todesstrafe für Schadenzauber-Delikte vorsah.

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Gegen beide Frauen wurde wahrscheinlich die poena mortis, die Todesstrafe, verhängt. Dies bedeutete mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in einem Falle den Tod durch das Feuer, im zweiten Fall wohl – als Akt der Gnade verstanden – die Dekapitation.40

Hinrichtung Der Vollzug des Todesurteils dürfte an der eigentlichen, also der nördlichen Zonser Richtstätte stattgefunden haben. Das blutige Schauspiel der Hinrichtung im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit fand stets öffentlich statt; es war ein herrschaftliches Hinrichtungszeremoniell41, eine von der Obrigkeit veranstaltete Machtdemonstration, eine Attraktion im unaufgeregten Alltag der Landbevölkerung am Niederrhein und anderswo. Mundpropaganda und gedruckte Flugblätter luden Alt und Jung, Arm und Reich aus Nah und Fern zu diesem blutigen Ereignis an die jeweilige Richtstätte ein. Bewaffnete städtische Schützen sicherten den reibungslosen Ablauf des Geschehens und hielten die gaffenden Menschenmassen in Schach. Und so waren bei der Hinrichtung 1621 wohl nicht nur Zonser Bürger anwesend und die Fischer und Ackerer aus Stürzelberg, die nahe der Richtstätte ihre Wohnplätze hatten, sondern auch die Bewohner aus Horrem und viele von weither angereiste Fremde. Beim Vollzug der Todesstrafe durch das Feuer42 fixierte der Scharfrichter den Delinquenten stehend oder auf einem Hocker sitzend durch Eisenketten 40 Die Protokolle des Kölner Domkapitels sind so fragmentarisch überliefert, dass eine weitere Lesart möglich wäre: Da das Domkapitel sich bei seiner Entscheidung vom 13. August auf das am 28. Juli gefällte Urteil und dessen am gleichen Tag befohlene Vollstreckung bezog, könnte bereits dieses erste Urteil eine Gnade dargestellt haben, so dass man sich zu einer weiteren Milderung nicht veranlasst sah. Das heißt, dass bereits das ursprüngliche Urteil auf Enthauptung lautete, wahrscheinlich für beide Frauen, da eine unterschiedliche Behandlung nicht ersichtlich ist. Die weitere Gnade, um die Elisabeth Ortembachs gebeten hatte, könnte in der Gewährung einer Bestattung statt einer (wahrscheinlichen) Verbrennung ihres Körpers bestanden haben. Aber so weit wollte sich das Domkapitel offenbar von der regulären Feuerstrafe dann doch nicht entfernen. 41 Vgl. Richard van Dülmen: Das Schauspiel des Todes. Hinrichtungsrituale in der frühen Neuzeit, in: ders./Norbert Schindler (Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1984, S. 203–245; ders.: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 21988; ders. (Hg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle (Studien zur historischen Kulturforschung 3), Frankfurt am Main 1990; Franz Irsigler/Arnold Lassotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Randgruppen und Außenseiter in Köln 1300–1600, Köln 1984, S. 239–245. 42 Zu archäologischen Experimenten mit Scheiterhaufen siehe: Jan Graefe et al.: Ein Scheiterhaufenexperiment aufgrund der Bauanleitung des Johann Ernst Clausen, Scharfrichter zu Lemgo, in: Ethnologisch-Archäologische Zeitschrift 50 (2009), S. 601–626; ders./Jana

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oder Stricke an einen Brennpfahl. Dann entzündete er den aufgeschichteten Scheiterhaufen. In manchen Fällen wurden die Verurteilten auch auf den Scheiterhaufen gelegt oder auf eine Leiter gebunden in den brennenden Scheiterhaufen gestoßen. Gelegentlich hoben die Scharfrichter Gruben aus, in die man die Verurteilten, manchmal mehrere zusammen, setzte und dann darüber ein Feuer anzündete. Der Tod erfolgte jeweils durch Ersticken. Als besonderer Akt der Gnade wurden die hinzurichtenden Verurteilten oftmals und zumeist so, dass das anwesende Publikum davon nichts merkte, vom Scharfrichter getötet: Sie wurden unauffällig erdrosselt, oder man legte ihnen ein Pulversäckchen um den Hals, dessen Explosion einen schnellen Tod herbeiführen sollte. Nach dem Vollzug dieser Strafe wurde der übrig gebliebene Knochenbrand in alle Winde zerstreut, in einem Fließgewässer entsorgt oder am Richtplatz vergraben. Bei der Dekapitation – diese Todesstrafe galt nicht als ehrlos – fand in Deutschland ausnahmslos das Schwert – und nicht das Beil – Verwendung. Die Hinrichtung fand auf einer erhöhten Schaubühne, dem sogenannten Rabenstein, statt; war ein solcher nicht vorhanden, wurde ein Erdhaufen aufgeschüttet oder der Verurteilte kniete auf der bloßen Erde. Der Scharfrichter stand hinter dem Delinquenten, der oftmals mit verbundenen Augen – zum Schutz des Henkers vor dessen letztem Blick – und mit auf dem Rücken gefesselten Händen kniete oder ab etwa 1600 auch auf einem Stuhl sitzen konnte. Der Scharfrichter musste nun mit einem einzigen Hieb zwischen die Halswirbel den Kopf vom Rumpf trennen. Verlief die Prozedur reibungslos, bedurfte es dafür nur eines sauber geführten Schlages. Wurde der abgeschlagene Schädel nicht auf einer Stange präsentiert, wurde er beim anschließenden Vergraben des Leichnams unter dem Arm oder zwischen den Knien deponiert. Durch die grausamen Hinrichtungen demonstrierten die Obrigkeit und die Geistlichkeit ein hartes und kompromissloses Durchgreifen im Falle von Ungehorsam oder Vergehen, in der Hoffnung, ähnliche Vergehen wie die von den Hingerichteten begangenen präventiv zu verhindern. Die Reste von hingerichteten Straftätern wurden normalerweise nicht in geweihter Erde, also auf den regulären Kirch- oder Friedhöfen, beigesetzt, sondern auf den Richtplätzen verlocht. Auf diese Weise mag man manchmal auch mit dem Knochenbrand von Verbrennungen umgegangen sein. Aus der Sicht der Richtstättenarchäologie hinterließ letztgenannte Art des Vollzuges der Todesstrafe allerdings keinerlei nachweisbare Spuren, denn die geringe Verziegelung des Bodens an der Brandstelle hat die folgenden Jahrhunderte in der Regel nicht überdauert. Hugler/Claudia Pingel: Das Scheiterhaufenexperiment, in: Bärbel Auffermann (Red.): Galgen, Rad und Scheiterhaufen. Einblicke in Orte des Grauens (Ausstellung Neanderthal Museum, 20.02.–27.06.2010), hg. von der Stiftung Neanderthal Museum, Mettmann 2010, S. 78–84.

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Fazit Das Protokollbuch des Kölner Domkapitels erwähnt mit nur wenigen kurzen Einträgen zwei Fälle von Zauberei- und/oder Hexenprozessen für den Beginn des zweiten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts aus dem kurkölnischen Amt Zons. Diese Angaben belegen, dass es auch hier zu solchen juristischen Verfahren gekommen ist; Prozesse wegen Zauberei und/oder Hexerei waren für das Amt Zons bisher nicht bekannt.43 Anhand der mageren vorliegenden Angaben versucht vorstehender Text, den bzw. die beiden Fälle des Jahres 1621 aus Zons nachzuzeichnen. Der Zonser Fall ist auch rechtshistorisch interessant, zeigt er doch die Akteure solcher Prozesse in ihrem Zusammenwirken. Der Zonser Gerichtsschultheiß Johannes Langk ruft aufgrund von Rechtsunsicherheiten beim lokalen Schöffengericht das Domkapitel als Pfandherr von Amt und Gericht an und bittet um die Benennung ‚unparteiischer Rechtsgelehrter‘. Das Domkapitel empfiehlt daraufhin den graduierten Kölner Hochgerichtsschöffen Liz. iur. Walram Blankenberg als Experten und legitimiert ihn seinerseits als Rechtsberater in den beiden Fällen durch die Vergabe einer sogenannten ‚Kommission‘. Dieser Jurist wiederum gehörte dem Gericht an, das gemäß dem mittelalterlich tradierten Rechtszug ‚Oberhof‘ des anfragenden Gerichts war, sowohl in Kriminal- als auch in Zivilsachen. Das alte Verfahren der ‚Konsultation‘ wurde hier somit durch eine ‚Kommission‘ Blanckenbergs durch das Domkapitel ergänzt und zusätzlich legitimiert.

43 Lediglich Hansmann, Zons (Anm. 2), S. 287 Anm. 309 zitiert den Protokolleintrag vom 14. Juli 1621 in anderem Zusammenhang.

Hoffmann von Fallersleben als Bonner Student zu Besuch in Köln von Georg Schwedt

Einleitung August Heinrich Hoffmann (1798–1874) aus Fallersleben, der sich erstmals 1821 in einer wissenschaftlichen Publikation Hoffmann von Fallersleben nannte, begann am 28. April 1816 ein Studium an der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen und folgte seinem Lehrer Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868; klassischer Archäologe, Direktor des Akademischen Kunstmuseums und der Universitätsbibliothek) nach Bonn, wo er sich am 9. Mai 1819 immatrikulierte.1 Bereits Ende August 1819 unternahm der stets unruhige und wanderfreudige Student Hoffmann mit zwei Freunden, Schweder und Schindler, einen Ausflug an die Maas, Eifel und Mosel2 mit einem mehrtägigen Besuch in Köln, über den im Folgenden mit ausführlichen Erläuterungen anhand seiner Autobiographie „Mein Leben“ berichtet wird. Er selbst schrieb: Nach damaligen flüchtigen Aufzeichnungen und Erinnerungen habe ich zehn Jahre später diese Reise beschrieben.3 In Köln besuchte und lernte er bekannte und bedeutende Persönlichkeiten seiner Zeit kennen – u. a. Ernst von Schiller, Ferdinand Franz Wallraf, den Verleger Johann Peter Bachem, den Staatsprocurator Leist, den Arzt Carl Wilhelm Reil (d. J.), Werner von Haxthausen, Friedrich von Oeynhausen und den Juristen, Germanisten und Politiker Eberhard (oder Everhard) von Groote. Alle diese Personen stellt er ausführlich vor. Am Anfang seines ersten Besuches in Köln als Student aber stehen die Besichtigung des Doms und der Wallrafschen Sammlung.

Ankunft und Besichtigung des Domes Mit dem Postwagen fahren die drei Studenten von Bonn nach Köln. Als sie aussteigen, fallen sie offensichtlich aufgrund ihrer Kleidung auf: 1 Vgl. zur Studienzeit Hoffmanns von Fallersleben in Bonn Georg Schwedt: Hoffmann von Fallersleben als Student in Bonn. „Bonn war das Ziel meiner Wünsche und Hoffnungen“, Bonn 2021. 2 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Bd. 1, Hannover 1868, S. 170. 3 Ibid. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 147–172

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Kaum aus dem Postwagen heraus sind wir schon ein Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit: Alles steht still vor und hinter uns, um uns von allen Seiten betrachten zu können. Und doch sind wir nur Studenten, die sich eben nach Laune und Bequemlichkeit kleiden. (…) Nur an einem Orte wie Köln, wo sich bisher nie ein Student hatte blicken lassen, konnten wir so angegafft werden. Es war mir, als ob wir gar nicht zu unserm, sondern zu anderer Leute Spaß reisten.4 Die 1388 als Universitas Studii Coloniensi gegründete „Alte Universität zu Köln“ war in der sogenannten Franzosenzeit, der Epoche der französischen Herrschaft in Europa zwischen 1792 und 1815, 1798 geschlossen worden und die „Neue Universität zu Köln“ wurde erst 1919 eröffnet. Dafür war 1818 in Bonn die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität entstanden, benannt nach dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. (1770–1840; seit 1797 König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg). August Heinrich Hoffmann beschreibt sich rückblickend in Bezug auf die auffällige Kleidung der drei Studenten wie folgt: Bei mir konnte höchstens der lange Bart etwas Auffälliges haben, denn einen braunen Rock mit übergeworfenem grauen Staubmantel und eine breitschirmige Filzmütze trugen damals auch andere Reisende.5 Gabriele Henkel, Leiterin des Hoffmann-von-Fallersleben-Museums in seinem Geburtsort Fallersleben bei Wolfsburg, forschte zu den Hoffmann-Porträts im 19. Jahrhundert.6 Darin ist ein Brustbild aus der Zeit um 1830 mit einem gestutzten Vollbart enthalten (Abb. 1a). Bereits aus den Jahren seiner Studentenzeit existiert ein Bild von 1819, das ihn jedoch ohne Bart darstellt (Abb. 1b). Wir wissen somit nicht, ob diese Beschreibung aus der Erinnerung nach zehn Jahren auch stimmt, vielleicht war es doch seine Kleidung, durch die er den Kölner Bürgern auffiel. Der erste Ort in Köln, welchen die drei Studenten aufsuchen, ist der weiße Thurm: Wir kehrten in den weißen Thurm ein und wurden sehr freundlich empfangen.7 Zu dieser Benennung eines Gasthauses konnten 200 Jahre später keine zuverlässigen Angaben ermittelt werden. Da sich auch manche Texte in 4 Ibid., S. 171. 5 Ibid. 6  Gabriele Henkel: „Mein Bild ist Jahre lang im Bazar ausgestellt gewesen …“. Zu den Hoffmann-Porträts im 19. Jahrhundert, in Cord-Friedrich Berghahn/Gabriele Henkel/Kurt G. P. Schuster (Hg.): August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Kontext des 19. Jahrhunderts und der Moderne. Internationales Symposion Fallersleben 2017 (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 18), Bielefeld 2019, S. 213– 240. 7  Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 171.

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Abb. 1a und 1b: Porträts von Hoffmann von Fallersleben (a) Brustbild aus der Lithographischen Anstalt von Eduard Sachse (um 1830) (b) in „Altdeutscher Tracht“, Gemälde von Carl Georg Christian Schumacher (1797–1869), Original Alte Nationalgalerie, Berlin.

Hoffmanns Erinnerungen wie „Dichtung und Wahrheit“ lesen, seien an dieser Stelle dem Autor zwei mögliche, jedoch eher spekulative Zuordnungen zu historischen Gasthöfen erlaubt. Mit einem Turm ist das noch heute bestehende Richmodis-Haus am Neumarkt 8–10, Ecke Richmodisstraße 2, verbunden. Dort befand sich der „Gasthof zum großen Englischen Hof“ (Abb. 2). Ob die drei Studenten dort eingekehrt sind, muss zunächst in Frage gestellt werden – dazu aber später noch einmal ausführlicher. Ein Gasthof in einem ehemaligen Turm war das am Ende des 19. Jahrhunderts genannte „Hotel Hollande“ an der rheinseitigen Stadtmauer, der Hasenpforte (etwa am heutigen Thurnmarkt gelegen). Turm und Gasthaus wurden beim Bau der alten Großmarkthalle 1904 abgerissen. Und schon der nächste Satz, nachdem Hoffmann die Unterkunft genannt hat, lautet: Sobald wir uns erquickt hatten, eilten wir nach dem Dome.8 Den Zustand des Domes (Abb. 3) zeigt ein um 1795 entstandener kolorierter Kupferstich nach einer Zeichnung von Laurenz Janscha (1749–1812), gestochen von Johann Andreas Ziegler (1749–1802). Die erste Bauphase im Mittelalter seit der Überführung der Gebeine der Heiligen Drei Könige durch Reinald von Dassel 1164 dauerte bis zur Vollendung 8 Ibid.

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Abb. 2: Gasthof zum großen Englischen Hof (Adresskarte von 1822, Wikimedia Commons).

des Chores 1322. Bis zur Hängung der Glocken im Südturm 1437 vergingen wiederum mehr als 100 Jahre. 1445 begann man mit dem Bau des nördlichen Langhauses, 1559 wurden letztmalig Geldmittel zum Dombau zur Verfügung gestellt und danach erfolgte zunächst eine Bauunterbrechung, in der jedoch eine Orgel eingebaut, der Chor barockisiert wurde und noch 1770 das Lang- und Querhaus ein hölzernes Scheingewölbe erhielten. 1794 wurde nach dem Einmarsch französischer Revolutionstruppen die Bauhütte aufgelöst. Bis zum Besuch der drei Studenten sind noch folgende wichtige Daten zu nennen: 1804 durfte der Dom wieder zu Gottesdiensten genutzt werden und in der Chronik zum Dombau ist zu lesen: „Friedrich (von) Schlegel feiert den Dom als ein Kunstwerk, das noch auf seine Vollendung wartet.“9 1808 begann Sulpiz Boisserée mit der Skizzierung des Bauzustandes und 1810 gelangte der von Stefan Lochner geschaffene Altar der Stadtpatrone (seit 1445 in der Ratskapelle) auf Initiative von Ferdinand Franz Wallraf in den Dom. 1814 erklärte Joseph Gör9  Zit. nach URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Kölner_Dom/Chronik (Stand: 24.2.2021).

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Abb. 3: Der Dom vor der Wiedereinrichtung der Dombauhütte 1823 (Stahlstich von 1864, Wikimedia Commons).

res den Dom zum nationalen Heiligtum und im selben Jahr sowie 1816 wurden die 1370 entworfenen Fassadenrisse der Dom-Westfassade wiederentdeckt. Es folgen nun die Äußerungen Hoffmanns über den Dom: Welch ein Eindruck! Schweigend stehen wir da, jeder merkt dem anderen an diese stille Bewunderung für einen so hohen himmlischen Gedanken, der sich hier verkörperte. Wir treten ein in diese zauberische Dämmerung, die Poesie des Tages. Eine reiche lebendige Natur, ein ganzer Wald himmelanstrebender Bäume wölbt sich über uns mit breiten Wipfeln und Blätter- und Blumenkränzen, und steht versteinert da, um den Geist der Andacht zu begränzen, das gen Himmel ringende Herz auf der Erde zu fesseln. Deutschlands Dome sind eben so viele neue Wälder Libanon, die aus der Saat deutscher Andacht zur Ehre Gottes emporwuchsen. Die Töne der deutschen Orgel sind die Seraphschwingen, worauf die Kraft des Glaubens aus seinem Himmel in unsere Erdnacht niederschwebt. Colonia Agrippina, wär‘ es dir möglich gewesen, deine hundert Götter in diesen Dom zu stellen, hier hättest Du sie selbst zerstört und Dir selbst über ihren Trümmern das Evangelium gepredigt!10 Es folgt ein euphorischer, sehr persönlicher Text zu Heidenthum und Christenthum, Ausland und Vaterland.11 Abschließend stellt Hoffmann fest, dass er 10 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 171 f. 11 Ibid., S. 172.

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nicht so leicht wieder in Gesellschaft reisen würde, denn: Ich könnte noch heute im Dome sein – und meine Reisegefährten gönnen mir kaum so viel Zeit, um nur das Wichtigste zu beschauen.12 Es folgt dann eine lesenswerte Beschreibung dessen, was Hoffmann als Protestant beim Anschauen des unfertigen Domes Ende August 1819 wichtig war: Die bretterbeschlagene Wölbung stört, sie unterbricht sehr unangenehm die emporstrebenden Linien der Pfeiler, das Auge will einen Ruhepunkt, und da ist die Welt wirklich mit Brettern vernagelt. Der Chor ist ganz vollendet worden, zurückschauend daraus erfaßt man erst recht den hohen Gedanken des Meisters und vergißt die Armuth und Erbärmlichkeit unserer Tage, die nicht Großes beginnen konnte, nichts Großes vollenden wollte. An den vielen Altären wird nach dem Rosenkranze gebetet mit niedergesenktem Blick; wie anders muß ich beten, jeder Blick empor ist ein inbrünstiges Gebet zu Gott.13 Dann aber bricht er diese Beschreibung zunächst ab, denn seine Kommilitonen haben andere Pläne: Sie wollen nach Deuz, ich will zu Wallraf; sie wollen nach den Festungswerken, ich will zum Rathhause; sie wollen in’s Wirthshaus, ich will in den Buchladen – und doch muß ich immer mit, wohin sie wollen: so wird mein schönstes Glück immer zu nichte, ich habe keinen eigenen Willen mehr und bin ganz ihrer Willkür amheimgefallen. Doch jetzt sind wir noch im Dome und stehen eben auf dem Gerüste vor dem berühmtesten Bilde der altkölnischen Schule, was hier neben uns ein Maler copiert [Gemeint ist offensichtlich der Altar der Kölner Stadtpatrone von Stefan Lochner – s. o.].14

Die Prozession von Kevelaer Hoffmann berichtet: Es ist heut ein lebendiger Tag in Köln, die Procession von Kevelaer kehrt zurück. Diese vielen tausend Menschen, voran wehende Fahnen, Geistliche im Festschmucke, Pauken und Trompeten, und nun, im Zuge Alte und 12 Ibid., S. 173. 13 Ibid. 14 Ibid., S. 173 f.

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Junge, Gesunde und Kranke, durch einander singend und betend, dann hinterdrein einige hundert Wagen mit Fähnlein geziert – wer kann leugnen, daß ein solcher Zug irgend ein Interesse erwecken muß in dem Hörer und Zuschauer? Aber ich erkläre mir dies Interesse nicht aus der religiösen Beziehung dieses Zuges, sondern lediglich aus der Masse Menschen, der jeder leicht den reinsten Zweck, den schönsten Willen oder sonst etwas Interessantes anpoetisieren kann, zumal wenn er etwas fern steht, und nicht erfährt oder erfahren will, was es denn eigentlich mit diesen Wallfahrten für eine Bewandtniß hat. − − − Ja, und wenn auch wahre Andacht und Reue vorhanden, ist es nicht ein furchtbarer Gedanke, daß Menschen Heil und Segen meilenweit von einem hölzernen Bilde, von einer Puppe sich holen! und daß mitten in unserem tausendjährigen Christenthume solche Heidengräuel noch sind wie zu Zeiten der Apostel! Ich höre, daß man es hin und wieder unserer Regierung hoch anrechnet, daß sie die Wallfahrten, die in französischer Zeit so streng verboten waren, erlaubt; aber ich höre von rechtschaffenen und einsichtsvollen Geistlichen große Klagen darüber erheben und der Regierung Vorwürfe darüber machen. Meines Erachtens thun beide unrecht daran, da die Regierung vorläufig in Religionssachen gar nichts thun will, weil Alles was in Bezug darauf geschähe, so wie es nur preußisch hieße, noch mehr gehaßt würde. Aber die Regierung hat noch ein Mittel in Händen, womit sie Wunderdinge thun kann. Schulen und Universitäten, und diese Wunder werden bald alle Wunderdinge übertreffen, welche die Muttergottes in Kevelaer seit Jahrhunderten verrichtet hat.15 Die erste Prozession nach Kevelaer fand 1643 statt, als eine große Gruppe von Pilgern zu Fuß von Rees nach Kevelaer pilgerte. 1699 fand die erste Prozession von Bonn aus statt. 400 Menschen gingen zu Fuß nach Kevelaer, um dort das Gnadenbild zu sehen. Zwischen 1802 und 1806, während der französischen Besatzungszeit der Rheinlande und der damit verbundenen Säkularisation, befanden sich die Kerzen- und Gnadenkapelle in staatlichem Besitz. Bereits 1809 stieg die Zahl der Pilger wieder auf 140.000 im Jahr. Unter preußischer Herrschaft wurden 1816 204 Prozessionen gezählt. Ein Jahr später wurde der Zustrom jedoch durch eine starke Reglementierung der Wallfahrten durch die Preußen beschränkt, so dass die Zahl der Pilger wieder deutlich zurückging. Das Jahr 1642, in dem der gelähmte Peter (oder Pieter) van Volbroek aus Hassum (heute Stadtteil von Goch am Niederrhein) nach einer Pilgerreise nach 15 Ibid., S. 174 f.

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Kevelaer geheilt worden sei, nahm man als Anlass zum 200-jährigen Jubiläum der Wallfahrt 1842, als 200.000 Pilger in 254 Prozessionen gezählt wurden.

Nach Deutz mit Ernst von Schiller Gegen Abend setzen wir nach Deuz über; Schiller, ein Sohn des großen Dichters, ist unser Begleiter. Köln, das vielgethürmte spiegelt sich vor uns im Rhein und wir freuen uns der frischen Abendkühle bei einem erheiternden Gespräche und Gläschen Wein. Ich mag kein Sohn eines berühmten Mannes sein, denn so ein Sohn wird immer mit anderen Augen angesehen, man sucht immer etwas Berühmtes an ihm und beobachtet ihn schärfer als unser einen, der nur vom Ruhme weiß, daß ihn andere Leute haben. Es that mir ordentlich weh, daß ich nichts an dem jungen Schiller fand, was mich an den alten hätte erinnern können. Wie anders erschien mir ein waldeckischer Arzt in Wildungen, von dem alle Welt sagte, daß er gerade aussehe wie Schiller und auch sonst viele Ähnlichkeit mit ihm habe. ‚Also wirklich, sagt‘ ich ihm begeistert in’s Gesicht, solche Nase hatte Schiller? es ist mir sehr lieb, daß ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe.16 Ernst von Schiller (Abb. 4, geboren 1796 in Jena, gestorben 1841 in Bonn) hatte ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Jena absolviert und war 1819 Assessor beim Kreisgericht in Köln geworden. 1828 wurde er nach Trier versetzt, 1835 wurde er zum Appellationsgerichtsrat in Köln befördert. Er starb in Bonn an Tuberkulose und wurde seinem Wunsch entsprechend auf dem Alten Friedhof in Bonn im Grab seiner Mutter beigesetzt.17 Spätere Kontakte Hoffmanns zu Schiller sind nicht bekannt. Ernst von Schiller hatte in Jena Rechtswissenschaften studiert und dort an der Erarbeitung der Verfassung der Urburschenschaft mitgewirkt, welche die Abschaffung der Landsmannschaften an den Universitäten verfolgte. Darüber hinaus sollte in der Politik die Kleinstaaterei zugunsten eines vereinten Deutschlands abgeschafft werden – eine Idee, der sich Hoffmann sicher anschließen konnte. Schiller heiratete 1823 in St. Remigius zu Bonn Magdalena von Pfingsten, verwitwet von Mastiaux, aus einer wohlhabenden Familie. Auf der Grabstätte lautet eine ihn menschlich charakterisierende Inschrift u. a.: Herzensgüte, rechtlichen Sinn und Geistesklarheit erbte er von seinem Vater, sein letzter Wunsch war ein Grab neben 16 Ibid., S. 176. 17  Josef Niesen: Bonner Personenlexikon, Bonn ³2011, S. 421.

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Abb. 4: Porträt Ernst von Schillers (Wilhelm Bracht 1831).

dem Grabe seiner Mutter.18 Deutz mit seinen Festungsanlagen selbst scheint Hoffmann nicht besonders interessiert zu haben, seine Kommilitonen wohl umso mehr.

18 Vgl. ibid.; Heinrich Döring: Ernst von Schiller, in: Neuer Nekrolog der Deutschen 19/1 (1841), S. 528–536.

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Gespräche im weißen Thurm Hoffmann berichtet – nach der Bekanntschaft und dem Ausflug nach Deutz mit Ernst von Schiller: Im weißen Thurme knüpfte unser freundliche Wirth sogleich ein Gespräch an, worin er viel Belesenheit und viel Studium an den Tag legte. Als wir ihm vollends Ohr und Herz liehen, begann er zu erzählen von der heil. Stadt Köln, ihren Alterthümern, Gesetzen, Gerechtsamen, Gewohnheiten u. dgl. Woher kommt’s, fragte sich jeder von uns, daß dieser Gastwirth so gelehrt spricht? Wir bewunderten ihn in Einem fort, und ruhten nicht eher, bis er uns aus unserem Bewunderungstraume heraushalf. Und da erzählte er denn, daß er früher Professor der Rechte an der Universität Köln gewesen sei, und – jetzt waren wir zufrieden.19 Mehr erfahren wir über diesen besonders gelehrten Gastwirt jedoch nicht. In dem bereits genannten Richmodis-Haus am Kölner Neumarkt befand sich in der Franzosenzeit, als offensichtlich eine Teilung des Anwesens erfolgte, neben dem Englischen Hof des Hoteliers Bartholomäus Taurel (Nr. 4799) seit 1800 auch der Gasthof „Zur Stadt Prag“ (Nr. 4798) der Eheleute Seib. Der 28 Meter hohe Treppenturm stand zwischen den Gebäuden. Wenn diese Geschichte nicht unter „Dichtung und Wahrheit“ einzuordnen ist, so war dieser gelehrte Gastwirt ehemals Juraprofessor der Alten Universität oder der Zentralschule.

In der Wallrafschen Gemäldesammlung Hoffmann berichtet weiterhin: Den anderen Tag besuchten wir in den Morgenstunden die Wallraf’sche Gemäldesammlung, die nach der Boisserée’schen vielleicht in geschichtlicher und künstlerischer Hinsicht den ersten Rang unter den eigentlich altdeutschen Gallerien behauptet.20 Die Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée (1783–1854 bzw. 1786–1851) waren Kunstsammler und Förderer des Kölner Dombaus. Sie stammten aus einer Kölner Kaufmannsfamilie, absolvierten der Tradition entsprechend eine kaufmännische Lehre in Hamburg und begannen, angeregt durch Friedrich Schle-

19  Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 176. 20 Ibid., S. 177.

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gel, den sie bei ihren Reisen in Paris kennen lernten, mit der systematischen Sammlung sakraler Kunst des Mittelalters und der Renaissance. 1827 verkauften sie ihre Sammlung an König Ludwig I. von Bayern – für die damals sehr hohe Summe von 240.000 Gulden. Ihren Lebensabend verbrachten sie in Bonn; die Grabstätte befindet sich auf dem Alten Friedhof in Bonn.21 Die große Masse der Gemälde, die Mannigfaltigkeit der Gegenstände aus der heil. und Profangeschichte, die Verschiedenartigkeit der Darstellung eines und desselben Ereignisses, der Wechsel in der technischen Behandlung – alles das verwirrte meinen Blick und ließ mich zu keinem ruhigen Genusse kommen, so sehr ich mich auch zwang, bei dem einen und dem anderen Bilde zu verweilen. Zuletzt ward meine Unruhe so groß, daß ich mich vor dem heil. Sebastian hinsetzte mit dem Entschlusse: nun auch weiter nichts mehr zu sehen, um doch etwas Ganzes, eine klare Vorstellung aus diesem Bildermeere heimzubringen. Es gelang mir, aber ich bedauerte bald, daß ich doch außer dem heil. Sebastian gleichsam nichts weiter gesehen hätte.22 Im Katalog der Gemäldesammlung des Museums Wallraf-Richartz in Köln von 1869 ist über das Bildnis des heiligen Sebastian zu lesen: Altarwerk mit der Legende des heiligen Sebastian. Linker Flügel: St. Sebastian predigt andächtigen Zuhörern verschiedener Stände das Christenthum. In der Mitte des Bildes erblickt man die gefangenen heiligen Christen Processus und Martinianus, welche durch St. Sebastian im Glauben gestärkt wurden. Mittelbild: der Heilige an einen Baum gebunden, im Angesichte den Ausdruck reinster Ergebung, wird von Bogenschützen beschossen. Links oben hoch zu Rosse nebst andern Kriegern, nach der Weise der damaligen Kunstepoche im altdeutschen Costüm dargestellt, der Kaiser Diocletian. Rechts nach der Mitte hin ist der Heilige nochmals dargestellt, wie er durch Irene, Schwester des Martyrers Castellus, welche dem Scheintodten die Pfeile aus den Wunden zieht, die ein dabei stehender Engel heilt, gerettet wird [Abb. 5]. Rechter Flügel: der Heilige wird auf Befehl des links im Bilde stehenden Diocletian mit Stöcken und Geisseln so lange geschlagen, bis er den Geist aufgibt.23 21 Vgl. Niesen, Personenlexikon (Anm. 17), S. 57 f. 22 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 177. 23 Katalog der Gemälde-Sammlung des Museums Wallraf-Richartz in Köln. Aufgestellt und mit kunstgeschichtlichen Erläuterungen versehen von J. Niessen, Conservator des Museums Wallraf-Richartz und Lehrer der Zeichenschule in demselben (…), Köln 1869, S. 48.

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Abb. 5: Mittelbild des Sebastian-Altars, um 1493/94 (Wikimedia Commons, Original im Wallraf-Richartz Museum Köln).

Hoffmann hat dieses Gemälde offensichtlich in der damaligen Wohnung von Wallraf in der Dompropstei gesehen.

Begegnung mit Wallraf Hoffmann bedauerte, dass er außer dem heil. Sebastian gleichsam nichts weiter gesehen hätte. Um so erfreulicher ward es mir in der Zukunft, daß ich bei dieser Gelegenheit einen Mann kennen gelernt, dessen ganzes Wesen immer meine Achtung und Bewunderung in Anspruch nimmt. Und das war Wallraf, der Stifter dieser herrlichen Sammlung und aller übrigen öffentlichen Sammlungen Kölns. Ich sah ihn heute zum ersten Mal, er führte uns selbst umher und ich unterhielt mich viel mit ihm [Abb. 6]. Sein ganzes Äußere war bescheiden und anspruchslos, aber es sprach aus allem etwas Edles und eine Würde, die nicht allein das Alter zu geben vermag; und obschon er jetzt 71 Jahre alt war, so blitzte doch noch aus den klaren großen Augen, die von den weißen Augenbrauen überschattet wurden, mitunter ein Jugendfeuer und in seinem Lächeln lag eine Heiterkeit, als

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ob er ein Jüngling fortan geblieben sei.Um nun aber seine großen Verdienste um Köln und Deutschland recht zu würdigen, muß man sein Leben kennen, muß man wissen, wie Wallraf das geworden ist was er wirklich war. Ferdinand Franz Wallraf, den 20. Juli 1748 zu Köln geboren, besuchte das Montaner Gymnasium und die Universität seiner Vaterstadt. Im 21. Jahre ward er Professor an diesem Gymnasium und im Jahre 1772 empfing er die Priesterweihe. Von dieser Zeit an, dem Studium der Theologie und der Künste sich ganz widmend, war er eifrig bemüht, den Sinn für Kunst und Wissenschaft in seiner Heimatstadt zu erwecken und zu beleben; er stiftete zu Ende der 70ger Jahre einen Singverein, welcher mit Aufführung von Pergolesi’s Stabat mater ins Leben trat; auch sammelte er um diese Zeit bereits Kunstwerke jeder Art, Bücher, Handschriften, Urkunden und Gegenstände aus allen Naturreichen. Der gute Erfolg seiner Bemühungen erfüllte ihn mit einer überschwänglichen Liebe und kindlichen Anhänglichkeit zu seiner Vaterstadt. Leider aber erwuchs früher schon aus dieser reinen Gesinnung bald eine eben so beharrliche Mißgunst gegen das Ausland, später namentlich gegen Bonn und zuletzt gegen Alles, was nicht kölnisch war. Denn als er im Jahre 1783 eine Reise nach Süddeutschland machte und überall unterwegs von Köln nichts Erfreuliches hörte, sondern nur den Vorwurf des tiefsten Obscurantismus, der gröbsten Unwissenheit und Dummheit, da fühlte er sich vor allen anderen ausersehen, solche Schmach auszutilgen, und Alles zu thun, was zum Ruhme und zur Verherrlichung seiner Vaterstadt dienen könne. Im Jahre 1786 legte er sein Lehramt am Montaner Gymnasium nieder, erhielt die Aufsicht über den städtischen botanischen Garten und eine ordentliche Professur der Naturgeschichte und Botanik; 1788 ward er Doctor der Medicin und Philosophie und 1794 Rector der Universität. Schon in den 80ger Jahren waren seine Sammlungen berühmt geworden, noch mehr aber wurden sie’s zur Zeit der Aufhebung sämmtlicher Klöster, wo er häufig Gelegenheit fand, die herrlichsten Kunstsachen und die schätzbarsten Denkmale des Alterthums um einen Spottpreis zu kaufen. 1796 verlieh man ihm für seine der Kunst und Wissenschaft geleisteten Dienste ein Canonicat zu den heiligen Aposteln in Köln. Während der französischen Zeit ward er dann Professor der Geschichte und der belles lettres an der kölner Centralschule und gab im Jahre 1799–1804 das ‚Taschenbuch der Ubier‘ heraus, worin er für deutsche Kunst am Niederrhein Achtung und Liebe erkämpfte. Am 3. Febr. 1804 überließ ihm die Regierung die von ihm seit Jahren schon bewohnte Propstei als lebenslängliches Eigenthum. In diesem Gebäude, worin ich nachher den ehrwürdigen Greis mehrmals besuchte, trieb damals bis in’s dritte Jahr eine neufränkische Wachtbande von 30 bis 40 Mann im unteren Geschosse ihr Wesen, unbekümmert um alle die Schätze,

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die W. mit so mancher Aufopferung und Entbehrung*) dort angehäuft hatte; zweimal entstand Feuer, was nur durch seine Geistesgegenwart und Entschlossenheit gelöscht ward. In diesem Gebäude lebte er von nun an ruhig der Kunst und Wissenschaft, seinen Sammlungen und seiner Vaterstadt, ohne eigentlich den drückenden Mangel gewahr zu werden, wohin ihn sein Trieb und seine Lust zum Ankauf von Kunstsachen und Büchern nothwendig führen mußte. Nur zweimal unterbrach er diese äußere Ruhe seines Lebens: er reiste im J. 12 nach Paris und im J. 16 nach Göttingen. Im J. 1818 überfiel ihn ein bösartiges Fieber, er machte sein Testament und setzte die Stadt zur alleinigen Erbin aller seiner Sammlungen ein. Er genas aber wieder, zur großen Freude seiner Mitbürger; dankbar für das, was er seit beinahe 50 Jahren für sie gewirkt hatte, bewilligte ihm der Stadtrath eine jährliche Pension von 4000 Francs (1050 Gulden). Wallraf konnte nun sorgenfreier leben, aber er wollte es nicht; denn Alles was ihm die Stadt schenkte, betrachtete er nur als ihr Eigentum, was er wieder zu ihrem Nutzen und ihrem Glanze anwenden müßte. Und so geschah‘s auch. Als um diese Zeit eine Antikensammlung aus Italien in Köln anhielt und von dort nach London wandern und dem Kön. Museum angeboten werden sollte, da kaufte Wallraf die ganze Sammlung und wies seine städtische Pension dem Eigenthümer auf mehrere Jahre an. *) Er hatte kurz vorher von seinen Freunden eine Summe von 10,000 Gulden aufgenommen zum Ankauf von Kunstsachen etc. Es läßt sich nicht in der Kürze erzählen, was der Mann alles für Köln, seine heißgeliebte Vaterstadt gethan. Er benutzte jeder Gelegenheit, nahm überall einen Anlaß her aus der Vergangenheit und Gegenwart, um ihren Namen zu seiner alten Bedeutung wiederzubringen: in diesem Sinne stellte er die alte Gottestracht (Fronleichnamsprocession) wieder her; rief zu einem Denkmale auf für Rubens und Maria von Medicis, die in demselben Hause verbannt und unglücklich starb, wo jener geboren ward; dichtete deutsche Lieder für den katholischen Cultus; schrieb über kölnische Geschichte; verfaßte Inschriften auf kölnische Tugend und Verdienste und merkwürdige Begebenheiten; nahm sich der öffentlichen Institute, besonders der Gewerbeschule mit Eifer an; unterstützte und begeisterte talentvolle junge Männer zum Weiterstreben (Gau, die Maler Hoffmann und Begasse, Architect Hittorff und Naturforscher Cassel), ertheilte Rath und zeigte sich wirksam bei vorkommenden Festlichkeiten der Stadt oder angesehener Familien – kurzum in ihm vereinigte sich das ganze litt. und Kunststreben seiner Vaterstadt. [*) Das erkannte denn die Stadt wie der Staat**) vielfach an und that das bei jeder Gelegenheit öffentlich kund, besonders aber auf eine rührende

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Weise bei der Feier seines 50jährigen Priesterjubiläums 1823 den 20. Juli. Der Tag war ein wahres kölnisches Volksfest; vom Morgen bis spät Abends ertönte es in allen Straßen: ‚Lebhoch Wallraf!‘ Ich kann’s mir recht gut denken, wie’s ihm, dem alten echten Kölner so recht ans Herz gegangen, als er, der dreimal bekränzte hochgefeierte Jubelgreis auf dem Rathhause dankend seinen Mitbürgern die offenen Arme entgegenhielt und unter Thränen mit gebrochener Stimme nichts zu reden vemochte als: ‚Alaf Köln (es lebe Köln)!‘ *) Das von hier an Eingeklammerte ist späterer Zusatz. **) Schon im J. 1819 hatte ihn der König eine jährl. Pension von 630 Gulden bewilligt. Aber er sollte bald sein letztes Alaf Köln! rufen: im Nov. desselben Jahres stellte sich bei ihm eine Krankheit ein, die bald in einen Schlagfluß überging, an dessen Folgen er 18. März 1824 starb. Tags zuvor hatte er die letzte Ölung empfangen, und als die heil. Handlung vollbracht war, und sein Gemüth so aufgeregt und heiter ward, und die Umstehenden zu einander sagten: ‚sieh! Das ist in Wahrheit noch einmal ganz unser Wallraf!‘ – da rief er ihnen wirklich noch einmal zu sein ‚Alaf Köln!‘] Noch immer sehe ich den Mann in seiner Propstei von seinen ungeheueren Schätzen umringt: jeder Tisch, jeder Stuhl, sogar der ganze Fußboden war damit bedeckt. Eines Tages fragte ich ihn: ‚Aber lieber Herr Professor‘, – es war gerade um die Mittagszeit, – ‚wo in aller Welt wollen Sie denn hier am Tische essen?‘ – ‚Sehen Sie dort vor meinem Sessel das Plätzchen!‘ – ‚Da kann ja nur höchstens ein Teller stehen; und wenn Sie nun auch dies Plätzchen nächstens belegt haben, wo denn hin?‘ – ‚Dann ziehe ich in ein anderes Zimmer, ich habe deren noch einige, und die müssen noch alle voll werden!‘ – ‚Wenn Sie’s aber auch dort so machen, wo dann hin?‘ – ‚Dann bleibt mir ja noch ein Plätzchen‘ – er meinte den Kirchhof Melaten, dessen Glockenthurm durch seine Verwendung wieder hergestellt war und wo sein Mox noster! noch zu lesen ist.24 Mit diesem Dialog endet Hoffmanns Bericht über seinen ersten Besuch in Köln, von wo er weiter nach Düren und Aachen und dann in die Niederlande reiste.

24 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 177–182.

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Abb. 6: Porträt Ferdinand Franz Wallrafs (Stahlstich von Xaver Streifensand [1809–1876] nach einem Gemälde von Egidius Mengelberg [1770–1849]).

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In Köln 1820/21 Nach seinen eigenen Aussagen war Hoffmann als Student von Bonn aus mehrmals in Köln zu Besuch: Durch meine vielen Reisen hatte sich die Zahl meiner litterarischen Freunde sehr vermehrt und in dem Maße auch mein Briefwechsel. Auch in Köln hatte ich freundschaftliche Beziehungen angeknüpft. Ich hatte den Regierungsrath Freiherrn Werner von Haxthausen [Abb. 7] besucht und war mehrere Tage bei ihm. Er wohnte im Hause seiner Schwester, dem einzigen Kölns, das noch an die Stadtmauer lehnte, ganz in der Nähe des Bayenthurms [Abb. 8] Es war sehr geräumig, nur wenige Zimmer waren bewohnt; in den meisten lagen oder standen alte Bücher, Handschriften, Urkunden, Gemälde, Glasmalereien, Holzschnitte, Alterthümer und Kunstsachen aller Art. Hier führte Haxthausen mit seinem Freunde, dem Staatsprocurator Leist, und einem alten Bedienten, Namens Petermann, ein echtes Junggesellenleben.25 Werner Moritz Maria Graf von Haxthausen (geboren 1780 in Bökendorf bei Brakel, gestorben 1842 in Würzburg) war Staatsbeamter, Gutsbesitzer und Philologe. Er war ein Onkel der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Er wurde als einer von acht Söhnen des Drosten des paderbornischen Amtes Lichtenau (im Fürstentum Paderborn, bestand bis 1807 in Ostwestfalen) Werner Adolph Freiherr von Haxthausen (1744–1823), Herr auf Thienhausen, Bökendorf, Abbenburg und Bellersen (bei Brakel) und der Freiin Marie Anne von Wendt-Papenhausen geboren; er hatte auch neun Schwestern. Haxthausen wurde von 1799 bis 1801 in der Familie des Dichters Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1750–1819) in Münster erzogen. Er studierte in Münster und Prag Rechtswissenschaften und Medizin, lebte 1803/04 in Böhmen, übernahm vorübergehend die Dompräbende in Osnabrück und wandte sich dann dem Studium der Orientalistik in Paris, Göttingen und Halle zu. Da er an der Verschwörung gegen die Franzosenherrschaft im Königreich Westphalen beteiligt war – als Mitglied des „Tugendbundes“ um Wilhelm von Döring –, musste er 1810 aus dem Land fliehen, ging nach England und war dort unter dem Decknamen Dr. Albrock als Arzt tätig. Als Adjutant des Generals Ludwig von Wallmoden-Gimborn (1769–1822, österreichischer General der Kavallerie) nahm Haxthausen am Befreiungskrieg gegen Napoleon teil. In Paris und beim Wiener Kongress (ab 1814) bekam er Kontakt u. a. zu Ernst Moritz Arndt, Sulpiz Boisserée, Joseph von Laßberg (später mit der Schwester von Annette von Droste25 Ibid., S. 242 f.

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Abb. 7: Porträt Werner von Haxthausens mit den Insignien des Malteserordens (nach einem Gemälde von Ludwig Grimm um 1840, Wikimedia Commons).

Hülshoff verheiratet) und Joseph Görres. Erst 1825 heiratete er Elisabeth (Betty) von Harff-Dreiborn, mit der er auch zunächst in Köln lebte. 1815 wurde Haxthausen zum preußischen Regierungsrat in Köln ernannt und war dort mit Organisationsaufgaben in der neuen preußischen Rheinprovinz betraut. 1825 wurde er von der preußischen Regierung entlassen, weil er

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Abb. 8: Bayenturm (Ausschnitt aus dem Mercator-Stadtplan von 1571).

den Brüdern Grimm und Joseph Görres in der damaligen Demagogenverfolgung nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 geholfen hatte.26 26 Vgl. Alexander Reifferscheid: Art. „Haxthausen, August Freiherr von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880), S. 119–121.

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Der mittelalterliche Wehrturm in der Innenstadt von Köln entstand bereits um 1220 als ein Teil der etwa acht Kilometer langen Stadtbefestigung. Bis heute erhalten blieb der südliche Eckturm am Rhein als eines der wenigen Zeugnisse dieser Anlage. Im Stadtplan von Mercator sind auch die Häuser direkt an der Stadtmauer zu sehen. In einem davon, das noch um 1800 vorhanden gewesen sein muss, war Hoffmann von Fallersleben mehrmals bei Werner von Haxthausen zu Gast. Er berichtet darüber: Außer des Mittags sahen wir uns oft gar nicht. Zu Langerweile war übrigens für mich gar keine Gelegenheit. Ich arbeitete fleißig und hatte auch meine Gänge. So war ich öfter bei Eberhard von Groote, der damals eben mit der Ausgabe des Tristans von Gottfried von Straßburg beschäftigt war [Abb. 9]. Groote besaß selbst Handschriften und hatte manche sich geliehen. Er war so freundlich, mir mehrere auf einige Tage anzuvertrauen. So unterhielt ich mit ihm durch das Holen und Zurückbringen einen lebhaften Verkehr.27 Eberhard (vollständiger Name: Everhardus Antonius Rudolphus Hermannus Josephus Melchior Edler und Ritter) von Groote (1789–1864) war Germanist, Schriftsteller und auch Politiker der Romantik. Er stammte aus einer Kölner Bürgermeisterfamilie, ging im Marzellengymnasium bei Ferdinand Franz Wallraf zur Schule und studierte in Heidelberg Rechtswissenschaften und Geschichte. An den Befreiungskriegen nahm er als Adjutant des preußischen Kronprinzen (später König Friedrich Wilhelm IV.) teil. 1815 wurde er beauftragt, aus Paris die von den Franzosen aus dem Kanton Köln und dem Rheinland geraubten Kunstschätze zurückzuholen, wobei ihm sein Freund Haxthausen unterstützte. Von 1816 bis 1827 war er Assessor bei der Bezirksregierung in Köln. Das von Hoffmann genannte Werk erschien 1821 unter dem Titel „Tristan von Meister Gottfrit von Straszburg mit der Fortsetzung des Meisters Ulrich von Turheim“.28 Dem Sammler Hoffmann scheinen besonders die Handschriften Grootes interessiert zu haben. In Bonn begann er, vor allem Handschriften mit Texten in althochdeutscher Sprache zu sammeln und 1821 erschien die in der Einleitung erwähnte erste wissenschaftliche Publikation über die Entdeckung eines Otfrid-Fragmentes (Texte aus dem Evangelienbuch des Mönches Otfrid von

27  Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 243. 28 Vgl. Leonhard Ennen: Art. „Groote, Eberhard von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879), S. 728–730.

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Abb. 9: Porträt Eberhard von Grootes (nach einem Gemälde um 1840, Original im Kölnischen Stadtmuseum).

Weißenburg aus dem 9. Jahrhundert) in der dortigen Universitätsbibliothek, in der er als Gehilfe tätig war, unter Hoffmann von Fallersleben. Über den Staatsprocurator Leist erfahren wir von Hoffmann nur in einer Fußnote weitere Einzelheiten: 1843 war Leist Appellationsgerichts-Rath zu Köln, seitdem Geh. Ober-Revisions-Rath zu Berlin. Er starb zu Wriezen a. d. O. [im Oderbruch bei Bad Freienwalde] 17. August 1845.29 29 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 245.

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Als Hoffmann schon in Berlin war, erwähnt er 1822 in seinen Erinnerungen noch einmal den Namen Leist: Als ich im Herbst 1820 in Trier war, wurde Hamacher von dem Schwurgerichte zum Tode verurtheilt. Als ich dann im Frühjahr 21 nach Köln kam, war mein Freund der Staatsprocurator Leist mit dem Fonk’schen Prozesse beschäftigt (…).30 Am 9. Juni 1822 fand in Köln ein Strafverfahren gegen den Kölner Kaufmann Peter Anton Fonk (geb. 1780) in seiner letzten Phase statt. Fonk wurde angeklagt, Wilhelm Cönen aus Krefeld gemeinschaftlich mit dem Küfermeister Wilhelm Hamacher 1816 ermordet zu haben. Erstmals wurde in Deutschland während des gesamten Verlaufs eines Strafverfahrens Öffentlichkeit hergestellt. Die öffentliche Hauptverhandlung fand vor einem Geschworenengericht statt, das es in dieser Art nur in den preußischen Rheinprovinzen gab. 1823 schalteten sich auch der preußische König Friedrich Wilhelm III. und dessen Justizminister infolge zahlreicher Widersprüche ein, so dass beide Angeklagten schließlich freigesprochen wurden.31 Hoffmann charakterisierte Haxthausen wie folgt: Haxthausen erzählte gerne von seinen Reisen und seinen hohen Verbindungen u. dgl. und schien es dann mit der Wahrheit nicht immer zu genau zu nehmen. Er war in die Dörnbergsche Verschwörung verwickelt gewesen und nach Schweden und von da nach London geflohen. In London wollte er als Dr. Albrock medicinische Praxis ausgeübt haben. Leist meinte: ‚Ich hätte ihm keinen Canarienvogel zur Heilung anvertrauen mögen.‘ Er nahm es uns übrigens auch gar nicht übel, wenn wir ihm nicht Alles glaubten. – Er wollte auch ein großer Kunstkenner und Alterthumsforscher sein. Er verwechselte da nur den Besitzer mit dem Kenner und Forscher. Er war aber immer höchst liebenswürdig, auch wenn er stritt, und es fiel uns nie ein, ihm irgend ein Verdienst streitig zu machen. Er hatte allerdings viel gesehen und kennen gelernt, und Manches in der Welt erfahren, hatte es aber in den meisten Dingen nur zu einem anständigen Dilettantismus gebracht. Er steckte voll von Plänen und Entwürfen, ohne je etwas auszuführen. Er besaß eine Sammlung neugriechischer Volkslieder, die ihm ein Grieche in Wien geschenkt hatte. Es wäre zeitgemäß gewesen, sie damals herauszugeben. Doch er konnte kein Neugriechisch und hatte auch keine Ausdauer mehr es zu lernen, und so unterblieb die Sache. Auch sprach er viel von sei-

30 Ibid., S. 323. 31 Für Einzelheiten zum Prozess vgl. Ingrid Sibylle Reuber: Der Kölner Mordfall Fonk von 1816. Das Schwurgericht und das königliche Bestätigungsrecht auf dem Prüfstand (Rechtsgeschichtliche Schriften 15), Köln/Weimar 2002.

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nen westfälischen Volksliedern, die er herausgeben wollte, er kam nie weiter damit, als daß er uns gewisse Anfänge öfter vorsang und immer dieselben.32 Als weitere Gäste bei ihren Mittagsmale nennt Hoffmann: (…) Freiherr von Oeynhausen und Dr. Reil, zwei sehr eigenthümliche Leute. Der erste beschäftigte sich viel mit Naturwissenschaften und Poesie, trieb abendländische Sprachen und dichtete. Wir hatten zwar später mehr Verkehr mit einander, trotzdem blieb ich über ihn im Unklaren. Klarer war mir Dr. Reil, Sohn des berühmten Hallischen Professors. Er lebte in Köln als Arzt ohne ärztliche Praxis und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu ermitteln, welchen Einfluß das Essen auf den menschlichen Körper habe. Er hatte eine Wage in seinem Zimmer angebracht, und zu bestimmten Stunden jedes Tages zog er sich nackt aus, setzte sich auf die Wage und verzeichnete dann das Gewicht. Wie lange er das fortgesetzt und welche Ergebnisse er erzielt hat, habe ich nie erfahren. Er begleitete mich später von Köln bis Düsseldorf, und dann haben wir uns nie wieder gesehen.33 Beim Freiherrn von Oeynhausen handelt es sich um Friedrich Adolph Ludwig von Oeynhausen (1795–1871), Zwillingsbruder von Karl August Ludwig von Oeynhausen (1795–1865; preußischer Berghauptmann; nach ihm ist die Stadt Bad Oeynhausen benannt). Beide Brüder begannen 1811 eine bergmännische Ausbildung in Eisleben und studierten ab 1813 in Göttingen. Friedrich nahm im Brandenburgischen Husaren-Regiment am Feldzug gegen Napoleon nach der Schlacht bei Leipzig (1813) teil. Die Gesundheit von Friedrich wurde von dem Winterfeldzug stark angegriffen. Er setzte im Sommer 1814 zusammen mit seinem Bruder das Studium in Göttingen fort und wurde dann durch eine Verfügung der Königlich Preußischen General-Verwaltung des Salz-, Berg- und Hüttenwesens nach Westfalen gesandt. Er gab jedoch bereits 1820 seine Tätigkeit im Bergbau auf, um sich philosophischen Studien und der Poesie zu widmen. Später übernahm er die Bewirtschaftung des Gutes Grevenburg in der Nähe der Stadt Nieheim im Kreis Höxter, das noch heute in Familienbesitz ist.34 Mit dem Arzt Dr. Reil ist Carl Wilhelm Reil (1795–1828), das vierte Kind des Johann Christian Reil (1759–1813; Professor in Halle ab 1787, Begründer 32 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 243 f. 33 Ibid., S. 245. 34 Vgl. Nachruf, in: Gedichte aus dem Nachlaß des Freiherrn Friedrich Adolph Ludwig von Oeynhausen. Ein Angedenken für seine Freunde, Paderborn 1872, Digitale Sammlungen der ULB Münster, URL: https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/pageview/1447791 (Stand: 1.3.2021).

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der modernen Psychiatrie), gemeint. Von ihm ist nur bekannt, dass er als Arzt in Halberstadt, Linz und Köln lebte bzw. tätig war. Er war nicht verheiratet. Hoffmann berichtet, dass er die Ausflüge von Bonn nach Köln ab 1819 öfter wiederholt habe – sie thaten mir wohl und waren mir förderlich in meinen Studien.35 1821 reiste er nach Trier zum Bibliothekar Wyttenbach, wo er altdeutsche Handschriften einsah und Abschriften anfertigte.36 Von dort wanderte er Mitte Mai über die Eifel direkt nach Köln: In Köln fand ich wieder die alte freundliche Aufnahme bei Haxthausen und Leist. Ich lebte nach alter Art bei ihnen und mit ihnen drei Wochen, immer guter Dinge: ich arbeitete viel, schrieb Briefe und dichtete. Bei meinen Wanderungen durch die Stadt sah ich mir manche Alterthümer und Kunstsachen näher an, und war öfter im Dome. Unangenehm war und blieb es jedoch für mich, daß ich mich in der großen, wühligen, hie und da wüsten Stadt nie zurecht finden konnte. Es war für mich zu Vieles vorhanden an das ich mich nie gewöhnen konnte: die krummen, engen Gassen, die alle Augenblicke ihre Namen wechseln, der Schmutz und Kohlenstaub, die vielen häßlichen Gesichter, die einem damals begegneten, so wie die vielen zerlumpten, schmierigen Bettler, das ewige Glockengebimmel und das Geknarre der schwer beladenen plumpen zweirädrigen Wagen. Ich war mitunter recht froh, wenn ich auf meinem Zimmer sitzen oder im Garten, der freilich sehr verwildert war, spazieren gehen konnte. Drei Wochen waren bereits vergangen. Ich hatte immer noch auf etwas Geld von den Meinigen gewartet, es kam nichts. Da lieh ich mir ein paar Friedrichsd’or von Leist und erhielt dazu noch 4, das Honorar von Bachem, so daß ich nun etwa 6 hatte. Damit wollte ich nach Holland und Gott weiß wohin noch reisen! Es fehlte mir weiter nichts als ein Paß. Den wollte mir Haxthausen vom Polizeipräsidenten von Struensee37 schon besorgen. Dieser aber war gar nicht dazu geneigt, ich sollte durchaus deshalb nach Bonn zurückkehren, und das wollte ich nicht. Viele Handschriften und Bücher gab ich Haxthausen in Verwahrsam, es waren darunter auch sämmtliche bei Everaerts erschienene Volksbücher. Von allen diesen Sachen habe ich nie etwas wieder bekommen. Wahrscheinlich wurden sie nach Haxthausens Tode (er starb zu Würzburg 4. Mai 1842) verkauft, die Frau Gräfin hatte

35  Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 245. 36 Vgl. dazu Schwedt, Hoffmann von Fallersleben (Anm. 1). 37 Georg Karl Philipp von Struensee (1774–1833), seit 1816 erster Kölner Polizeipräsident nach der Übernahme der Stadt in Preußische Herrschaft.

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nämlich später den zum Theil sehr werthvollen Büchernachlaß ihres Mannes an Jos. Baer in Frankfurt a. M. verhandelt.38 Im Verlag von Johann Peter Bachem (1785–1822) hatte Hoffmann 1821 seine „Lieder und Romanzen“ veröffentlicht. Bachem hatte zunächst mit seinem Freund Marcus DuMont (1784–1831) 1815 eine Buchhandlung eröffnet und sich 1818 mit dem J. P. Bachem Verlag in der Kölner Hohe Straße selbständig gemacht. Aus einem Brief von Friedrich Engels an die Brüder Friedrich und Wilhelm Graeber in Barmen aus Engels Lehrzeit in Bremen vom 17. September 1838 erfahren wir: (…) Wenn ihr diesen Brief bekommt, ehe Ihr nach Cöln geht, so befolgt folgenden Auftrag: kommt Ihr hin, so sucht die Streitzeuggasse, geht in die Everaertsche Buchdruckerei, Nummero 51 und kauft für mich Volksbücher: Siegfried, Eulenspiegel, Helena habe ich; am wichtigsten sind mir Octavian, die Schildbürger (…), Heimonskinder, Dr. Faust, und was von den übrigen mit Holzschnitten versehen (…).39 Joseph Abraham Baer (1767–1851) in Frankfurt war Antiquar und Buchhändler und Begründer des Antiquariats Joseph Baer & Co, das von seinen Söhnen ab 1824 geführt wurde – ab 1836 als „Joseph Baer, Antiquariat, Buch- und Kunsthandlung“. Der Begründer Baer, aus Hanau nach Frankfurt am Main kommend, wird in Versteigerungsprotokollen der Bibliothek von Goethes Vater mehrmals als Käufer genannt. Er hatte sein Antiquariat in der Niederlage des Frankfurter Dominikanerklosters mit formalem Sitz in Bockenheim, da Juden in der Reichsstadt Frankfurt keine Bürger werden durften, was erst 1834 dem Sohn Bernhard Joseph gelang. Am 7. Juni 1821 verließ Hoffmann von Fallersleben die Stadt Köln, ohne noch einmal nach Bonn zurückzukehren. Er besuchte einige Städte und Bibliotheken in Holland (in Utrecht und Leiden), reiste am 15. Oktober aus Amsterdam ab und kam Ende November bei seiner Familie in Fallersleben an: 8 Monate war ich auf Reisen gewesen und wußte viel zu erzählen40 – auch über seine Besuche und Aufenthalte in Köln.

38 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 256 f. 39 Zit. nach Gustav Mayer (Hg.): Friedrich Engels – Schriften der Frühzeit. Aufsätze, Korrespondenzen, Briefe, Dichtungen aus den Jahren 1838–1844 (…), Berlin/Heidelberg 1920, S. 7. 40 Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben (Anm. 2), S. 298.

180 Jahre Kölns erste Eisenbahn Aus den Anfängen der Eisenbahngeschichte der Stadt von Brian-Scott Kempa

Verkehrswege vor der Eisenbahnzeit Durch seine Lage am Rhein wuchs Köln seit seiner Gründung 50 n. Chr. immer mehr und mehr zu einer bedeutenden Verknüpfungs-, Umschlags- und Handelsstätte in allen vier Himmelsrichtungen heran. Besonders „[s]eit dem 13 Jahrhundert [war sie dann] auch der ungeschmälerte Umschlag- und Handelsplatz des Rheinhandels“1. Die Stadt besaß nämlich seit dem 7. Mai 1259 das Stapelrecht2 und verdankte seinen großen Wohlstand diesem Umstand. Gehandelt wurden in Köln vor allem Stahl, Eisen, Bleche, Draht, Blei und Kupfer, aus dem ostdeutschen Raum oder dem Siegerland stammend, in Richtung der Niederlande, weil dort diese Rohstoffe nicht vorhanden waren. Hinzu kamen in Köln produzierte Tücher und der in der Umgebung reichlich angebaute Wein, der für sich allein schon mehrere hundert Händlerfamilien Auskommen einbrachte. Auch Hölzer aus dem Westerwald oder dem Bergischen Land wurden in Köln gehandelt.3 Die hierfür notwendigen Verkehre wurden auf dem Rhein – wie schon seit der Römerzeit4 – mit Schiffen abgewickelt, die mit der Strömung flussabwärts fuhren, während sie flussaufwärts mittels Pferdetreidel gezogen wurden. 1816 lief dann das erste Dampfschiff in Köln ein5 und beschleunigte damit die Transportgeschwindigkeiten ungemein. Zu Lande hatten sich u. a. folgende Fernstraßenzüge über die Jahrhunderte nach und über Köln entwickelt: Brügge – Antwerpen – Mechelen – Maastricht – Jülich – Köln, Bergen op Zoom – Hoogstraten – Roermond – Jülich – Köln, Lüttich – Aachen – Düren – Köln, Magdeburg – Braunschweig – Hildesheim – Hameln – Paderborn – Soest – Dortmund – Köln, Erfurt – Eisenach – Marburg – Siegen – Siegburg – Köln, Frankfurt – Königstein – Limburg – Altenkirchen – Siegburg – Köln (von Lim-

1 Vgl. Reinhold Wacker: Das Verkehrswesen im Rheinland vom 15. Jahrhundert bis 1794 (Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte 7), Trier 2008, S. 68. 2 Das Stapelrecht sah vor, dass sämtliche Waren für drei Tage in der Stadt zum Verkauf angeboten werden mussten. Erst nach diesem Handel konnten die bis Köln verkehrenden flachen Schiffe ihre Ware an Seeschiffe abgeben, die dann direkt bis in die Nordsee fuhren; vgl. Winfried Reinhardt: Geschichte des Kölner Verkehrs. 3000 Jahre Mobilität im Rheinland, Wiesbaden 2017, S. 120–122. 3 Vgl. Wacker, Verkehrswesen (Anm. 1), S. 68 f. 4 Vgl. Reinhardt, Geschichte (Anm. 2), S. 42. 5 Vgl. ibid., S. 188. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 173–184

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burg aus ging die Krönungsstraße über Koblenz Richtung Aachen ab).6 Zum Transporteinsatz auf diesen Wegen kamen Karren (einachsige Fahrzeuge) und Wagen (zweiachsige Fahrzeuge)7, oder man ging schlicht zu Fuß. Als durch die Mainzer Rheinschifffahrtsakte, die zum 17. Juli 1831 in Kraft trat, das Stapelrecht weitgehend wegfiel, geriet die darauf nicht vorbereitete Stadt in finanzielle Bedrängnis: Da rheinabwärts auf dem Weg zur Nordsee die Niederlande mit ihren immens hohen Zöllen und Gebühren für die Nutzung und Durchfahrung der Anlagen passiert werden mussten, suchte sich der Warenverkehr neue Routen ohne Rheinbenutzung, so dass der Stadt Köln der internationale Handel wegzubrechen drohte. Eine Reaktion der Stadt auf diesen Umstand bestand in der wohlwollenden Annahme einer eisernen Landverbindung nach Belgien, die spätere Eisenbahnstrecke Köln – Aachen – Herbes­ thal, sowie von „Eisenbahnverbindungen zu deutschen Nordseehäfen“8.

Pläne für eiserne Kunststraßen in Deutschland Nachdem am 27. September 1825 die erste Eisenbahnstrecke der Welt eröffnet wurde, führend von Bishop Auckland nach Stockton, gebaut und betrieben von der Stockton and Darlington Railway Company mit den Unterwegsbahnhöfen in Shildon, Aycliffe und Darlington, begann in England das Eisenbahnzeitalter9, welches durch Import und in Form der Streckeneröffnung Nürnberg – Fürth am 7. Dezember 1835 mit der Fahrt der Lokomotive Adler und ihrem Personenzug auch auf deutschem Boden ankam. Die königlich privilegierte Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft zu Nürnberg, die sogenannte Ludwigsbahn, zeigte sich für ihren Bau verantwortlich. Die Väter dieser anfänglich für 30 Jahre genehmigten Ludwigsbahn waren zum einen der Kaufmann Johannes Scharrer, der auch lange Jahre ihr Direktor wurde, und zum anderen der aus dem angesehenen Handelshaus Platner stammende spätere Hauptaktionär Georg Zacharias Platner, die am 14. Mai 1833 zur Gründung besagter Eisenbahngesellschaft aufriefen. Nürnberg als Wiege der deutschen Eisenbahn leitet sich dabei vor allem aus dem uralten, gewachsenen Status als wichtige Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und Handelsmetropole für Europa ab. Diese Stellung war jedoch zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingeschlafen und bayrische Kauf- und Han6 Vgl. ibid., S. 68. 7 Vgl. ibid., S. 138. 8 Ibid., S. 191. 9 Vgl. zur Eisenbahngeschichte Englands: Art. „Großbritanniens und Irlands Eisenbahnen“, in: Victor Freiherr von Röll (Hg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 5, Berlin/ Wien 1914, S. 374–392.

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delshäuser strebten nach einer Wiederbelebung dieses Status als Bindeglied zwischen dem Norden, vor allem dem Königreich Preußen, und dem Süden mit dem Habsburgerreich. Besonders die bürgerliche Nürnberger Wirtschaftsschicht tat sich dabei hervor und gedachte, das deutschsprachige Gebiet mit der Eisenbahn zu den Nachbarländern hin zu verbinden; die Ludwigsbahn selbst blieb jedoch bis zu ihrem Abbau 1922 eine isolierte Strecke, da sämtliche folgenden Bahnstrecken anderen, verkehrsgünstigeren Trassen folgten.10 In diesem deutschsprachigen, in Dutzende kleinerer und größerer Staaten aufgefächerten und noch nicht zu einem Reich vereinten Gebiet, das sich mit der Gründung des Deutschen Bundes 1815 jedoch langsam formen sollte, war man seit etwa den 1810er Jahren theoretisch mit dem Thema Eiserne Kunststraßen11 als eine Treibkraft für mehr wirtschaftliche Handelsbeziehungen beschäftigt. Die Mehrheit solcher Denkansätze entsprang dabei privaten Initiativen und kam nicht aus den Verwaltungen der deutschen Staaten. Diese hatten nämlich mit ihren jeweiligen Postbehörden teils sehr dichte Streckennetze für den Personenverkehr seit dem 18. Jahrhundert auf- und ausgebaut: Auf diesen verkehrten die sogenannten „Ordinari-Posten“. Zur Zeit der ersten Eisenbahnen war das Reisen hiermit – anders als vielleicht vermutet – durchaus bequem und schnell zu nennen, gerade im Vergleich zu den Zuständen, die noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Aus der alten, auf schlechten Straßen und völlig unzuverlässig verkehrenden Post, die Güter und Menschen in einer Kutsche transportierte und an jeder Station ein aufwendiges Ein-, Aus- und Umladen zelebrierte, war zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein effizientes Verkehrsmittel unter der Bezeichnung Eilwagen/Eilpost, in Preußen Schnellpost, geworden, das einen streng einzuhaltenden Fahrplan, immer besser ausgebaute Chausseen und transparente Beförderungstarife aufwies, da die einzelnen deutschen Staaten erkannt hatten, dass ein gesundes

10 Vgl. zur Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft u. a. Rainer Mertens: Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft. Die Ludwigs-Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth, in: DB Museum Nürnberg (Hg.): Geschichte der Eisenbahn in Deutschland. Katalog zur Dauerausstellung im DB Museum, Bd. 1: Ein Jahrhundert unter Dampf. Die Eisenbahn in Deutschland 1835–1919, Nürnberg 22009, S. 10–13; Manfred Jehle: Eiserne Kunststraßen. Zur Vor- und Frühgeschichte der Eisenbahn, in: Eisenbahnjahr-Ausstellungsgesellschaft mbH Nürnberg (Hg.): Zug der Zeit – Zeit der Züge. Deutsche Eisenbahn 1835–1985, Bd. 1, Berlin 1985, S. 69–93, hier besonders S. 76–88. 11 Vgl. Joseph von Baader: Ankündigung einer neuen, überall anwendbaren Erfindung von eisernen Kunst-Straßen [Hervorhebung durch den Verfasser], zur Erleichterung des Transportes aller Waaren und Producte, zur Belebung des Handels und Gewerbfleißes, zur Beförderung des Ackerbaues und des National-Wohlstandes aller Länder, als das vor­ theilhafteste Surrogat für schiffbare Kanäle, welche in den meisten Ländern zu kostbar, und an vielen Stellen ganz unausführbar sind, München 1814.

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und gepflegtes Postnetz seinen Teil für das Fortbestehen des eigenen Staates beitrug.12

Kölns erste Eisenbahnstrecke und -gesellschaft Eine dieser privaten Initiativen war die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft (RhE). Die Entstehung dieser Gesellschaft hatte eine lange Vorgeschichte, die mit der Ausrufung der belgischen Unabhängigkeit am 4. Oktober 1830 begann. Da sich der neue Staat wirtschaftlich weg von den Niederlanden, von denen er sich losgesagt hatte, orientieren musste – die bisherigen Wasserwege waren nicht mehr in der gewohnten Form durch die neue Grenze zu benutzen, Frankreich versuchte seine Wirtschaft vor ausländischen Waren weitestgehend zu schützen –, blieb nur das Königreich Preußen mit seiner Rheinprovinz und über diese der Deutsche Bund mit seinem im Entstehen befindlichen Zollverein als Handelspartner. Den Belgiern kam dabei zugute, dass die Niederlande wie erwähnt sehr hohe Zölle erhoben und damit der bisher klassische Warenweg über den Rhein und die niederländischen Nordseehäfen nach und von England für die deutschen Staaten immer unattraktiver wurde.13 Belgien wandte sich daher laut Karl Kumpmann in Person des Deputierten „Davignon aus Frankomont […] unter der Hand an den Präsidenten der Aachener Handelskammer, David Hansemann“, mit der Frage, „was er wohl von einem preußisch-belgischen Handelsvertrag halte“14. Im Rahmen dieses Gespräches und in der weiteren Kommunikation wurde auch das Thema einer Eisenbahnverbindung zwischen Antwerpen und Köln seitens der Belgier angesprochen. Dies zog in der Industrie und dem Handel der Rheinprovinz seine Kreise, was am 3. Mai 1833 auf Anregung des aus Hünshoven bei Aachen stammenden und in Köln lebenden Kaufmannes Gottfried Ludolf Camphausen15 in die Gründung eines 12 Vgl. Klaus Beyrer: Das Reisesystem der Postkutsche. Verkehr im 18. und 19. Jahrhundert, in: Eisenbahnjahr-Ausstellungsgesellschaft (Hg.), Zug der Zeit, Bd. 1 (Anm. 10), S. 39–59. 13 Vgl. hierzu Karl Kumpmann: Die Entstehung der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft 1830–1844. Ein erster Beitrag zur Geschichte der Rheinischen Eisenbahn (Veröffentlichungen des Archivs für Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsgeschichte 1), Essen 1910, S. 40–55. 14 Vgl. ibid., S. 42. 15 Ludolf Camphausen, geboren am 10. Januar 1803 in Hünshoven, verstorben am 3. Dezember 1890 in Köln, zog 1830 nach Köln. Er baute das Tabak- und Ölhandelsgeschäft seines Vaters mit seinem Bruder nach und nach aus, ergänzte es um einen Getreidehandel und ab 1840 um ein eigenes Bankhaus. Er war u. a. im Kölner Stadtrat und in der Handelskammer, als Abgeordneter des Rheinischen Provinziallandtages sowie 1848 als Rheinischer Liberaler kurzzeitig auch als preußischer Ministerpräsident tätig. Vgl. hierzu Erich Angermann: Art. „Camphausen“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, München/Berlin 1957, S. 112–115; Ulrich S. Soénius: Ludolf Camphausen und David Hansemann. Rhei-

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Eisenbahnkomitees16 zum Voranbringen einer Eisenbahnstrecke von Köln in Richtung Aachen und der belgischen Grenze mündete. Das wichtigste Dokument für das angedachte Eisenbahnprojekt zur preußisch-belgischen Grenze stellte dabei für das Komitee Camphausens Denkschrift „Zur Eisenbahn von Köln nach Antwerpen“17 dar. In dieser schilderte er ausführlich die Vorteile des neuen Verkehrssystems – nicht nur für Köln und die Rheinprovinz, sondern auch für ganz Preußen und alle Länder. Zu den wirksamsten Hebeln für die Beförderung materieller Wohlfahrt gehört die Erleichterung der Verbindungsmittel zwischen Ländern und Völkern […] nämlich: die Eisenbahn.18 Schon am 21. Mai 1833 ersuchte das Komitee bei der preußischen Regierung in Berlin informell um eine Baukonzession besagter Strecke, was sie im Juni um einen formellen Antrag ergänzte. König Friedrich Wilhelm III. gab diesem Wunsch am 5. Dezember 1833 statt, was dazu führte, dass das Komitee am 18. Januar 1834 zum Zeichnen von Aktien einer nun zu gründenden Eisenbahngesellschaft – unter der Bezeichnung Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft – im Rheinland und darüber hinaus aufrief.19 Diese Gesellschaft, die sich eines großen ideellen und finanziellen Zuspruchs erfreuen konnte, beauftragte den Wasserbaumeister Ludwig Henz aus Hattingen mit konkreten Untersuchungen, welcher Streckenverlauf für die geplante Eisenbahnverbindung in Frage käme. Mitte Juli 1835 veröffentlichte er seine Planungsergebnisse in einer Denkschrift.20 Die Schrift kam im Raum Aachen bei Stadt, Industrie und Handel nicht gut an, schlug sie doch eine Streckenführung von Köln über Bergheim, Eschweiler und Kornelimünster nach Eupen vor; sowohl die Städte Düren als auch Aachen sollten höchstens in Form von Zweigbahnen an die Hauptstrecke angebunden sein. Unter rein technischen Aspekten betrachtet war dies jedoch die günstigste Wegführung, mit der sich die Kölner Interessierten, nicht weiter in ihren Geschäften beeinträchtigt, zufrieden zeigten.21 Ein Kampf um die Linienführung entbrannte daraufhin in nische Unternehmer, Politiker, Bürger, in: Karlheinz Gierden (Hg.): Das Rheinland – Wiege Europas? Eine Spurensuche von Agrippina bis Adenauer, Köln 2011, S. 235–257. 16 Protokolle und Einzelheiten über dieses Komitee sind nicht überliefert. Die Ausführungen hierzu stützen sich daher auf Karl Kumpmann (Anm. 13), der seinerseits ebenfalls das Fehlen der Protokolle anmerkt und sich auf Einzeldokumente bezieht. 17 Gottfried Ludolf Camphausen: Zur Eisenbahn von Köln nach Antwerpen, Köln 1833 [anonym] und Köln 1835 [ergänzt und mit Namensnennung]. 18 Gottfried Ludolf Camphausen: Zur Eisenbahn von Köln nach Antwerpen, Köln 1833, S. 6. 19 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 65–81. 20 Ludwig Henz: Denkschrift zur Begründung des Projectes der Erbauung einer Eisenbahn zwischen Cöln und Eupen als deutsche Hälfte der Bahn von Cöln nach Antwerpen, Elberfeld 1835. 21 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 81–108.

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der Gesellschaft – sowohl intern als auch öffentlich ausgetragen. Kumpmann beschreibt die Intention der Aachener: „Reiche Geldmittel und fähige Köpfe standen den Aachenern zur Verfügung. So konnten nun monatelang die Untersuchungen des Geländes [für einen alternativen Streckenverlauf] fortgesetzt werden. Die Aufgabe war, nicht nur die natürlichen und wirtschaftlichen Bedingungen für eine Eisenbahn über die von Köln ausgeschlossenen Städte festzustellen, sondern auch Mittel und Wege zu finden, um die mutmaßlichen Mehrkosten auf einen Mindestbetrag zu beschränken.“22 Wortführer für den Aachener Raum wurde dabei der Kaufmann David Justus Ludwig Hansemann.23 „Ein schier ununterbrochenes Verhandeln mit den Regierungsbehörden in Köln, Koblenz und Berlin folgte. […] Die Petitionen und Denkschriften nahmen kein Ende“, bilanziert Kumpmann.24 Sowohl die Aachener als auch die Kölner Seite versuchte ihre Vorstellung des Streckenverlaufes durchzusetzen, doch keine Seite wollte der anderen entgegenkommen oder einen Kompromiss finden. Zusätzlich traten verschiedene Städte mit eigenen Komitees in diese Verhandlungen mit ein. Die von den Aachener Interessenten ausgearbeitete Alternative zur Kölner Linie sah letztlich so aus: Von Köln bis Düren sollte die Strecke dem Kölner Vorschlag entsprechen, ab Düren sollte die Strecke das Indetal mittels Tunnel durchschneiden, bei Rothe Erde über das Wurmtal nach Aachen übergehen und dann durch einen langen Tunnel den Aachen umgebenden Gebirgskessel nach Belgien durchqueren. Mit diesem Plan gründete Hansemann mit weiteren Aktionären zum Anfang des Jahres 1836 die Preußisch Rheinische EisenbahnGesellschaft, um zu verhindern, dass der Staat der Rheinischen EisenbahnGesellschaft für deren favorisierte Streckenführung Baurecht erteilte. Auf einer 22 Ibid., S. 115. 23 David Hansemann, geboren am 12. Juli 1790 in Finkenwerder bei Hamburg, verstorben am 4. August 1864 in Schlangenbad/Taunus, war seit 1817 mit eigener Woll- und Tuchhandlung in Aachen tätig, wo er schnell zu beachtlichem Reichtum gelangte und sich seinen Hauptinteressen Versicherungswesen und Sozialpolitik, Eisenbahnbau und Bankwesen widmen konnte. Er gründete die Aachener Feuerversicherungsgesellschaft [heute in der Generali Deutschland AG aufgegangen], war maßgeblich an der Gründung der KölnMindener Eisenbahn-Gesellschaft beteiligt und Verfechter für den Bau der sogenannten Ostbahn [von Berlin über Königsberg nach Eydtkuhnen]. Politisch war er u. a. aktiv im Aachener Stadtrat, der dortigen Handelskammer, im Rheinischen Provinziallandtag und in der preußischen Regierung unter Camphausen und Rudolf von Auerswald (jeweils als Finanzminister). Vgl. hierzu Erich Angermann: Art. „Hansemann“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, München/Berlin 1966, S. 626–629; Soénius, Ludolf Camphausen und David Hansemann (Anm. 15); Paul Thomes: Entrepreneur und Corporate Citizen – zum 150. Todestag von David Hansemann (1790–1864), in: ders./Peter M. Quadflieg(Hg.): Unternehmer in der Region Aachen – zwischen Maas und Rhein (Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien 19), Münster 2015, S. 96–111. 24 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 115.

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Konferenz am 6. April 1836 in Jülich wollten die Aachener mit ihrer gegründeten Gesellschaft Druck auf die Kölner ausüben und sie zum Einlenken bewegen – jedoch lehnte die Regierung die Anerkennung der gegründeten Gesellschaft als gleichwertigen Verhandlungspartner ab, so lange nicht die erstere ihren mit vielen Anstrengungen und bedeutenden pekuniären Opfern verfolgten Plan ganz aufgegeben habe25. So blieb die Situation festgefahren und erst durch eine Königliche Kabinettsorder vom 12. Februar 1837 kam Bewegung in die Angelegenheit: Die Streckenführung habe demnach von Köln über Düren nach Aachen zu erfolgen, andernfalls würde generell kein Baurecht erteilt. Auf einer wieder in Jülich stattfindenden Konferenz diskutierten am 6. April 1837 die beiden Eisenbahngesellschaften letztmalig die zur Auswahl stehenden Linienführungen: Köln – Düren – Kornelimünster – Aachen – Grenze (Kölner Führung) oder Köln – Königsdorf – Düren – Aachen – Eupen (Aachener Führung). Als Einigung präsentierten sie den Verlauf von Köln über Düren und Aachen nach Herbesthal (belgische Grenze) und den Beschluss der Zusammenlegung beider Gesellschaften, was notariell am 9. Juni 1837 dann mit der Gründung der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft (RhE) geschah.26 Das Gründungskapital dieser Gesellschaft betrug drei Millionen Thaler, welches von insgesamt 626 Aktionären gezeichnet wurde, von denen 210 Kölner waren.27 Am 21. August 1837 bestätigte die Regierung die ordentliche Gründung der RhE und nach einer Generalversammlung im Oktober wurden die Bauarbeiten unter der Leitung des zuvor bei der Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn ange25 Ernst von Bodelschwingh [Oberpräsident der Rheinprovinz], zit. nach Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 132. 26 Vgl. ibid., S. 109–163. Der Aktenbestand der RhE wird im Historischen Archiv der Stadt Köln unter der Bestandsnummer 1028 aufbewahrt. Der Zugang ist über das digitale Historische Archiv Köln (URL: http://historischesarchivkoeln.de:8080/actaproweb/welcome.xhtml [Stand: 6.8.2021]) möglich. Zur Geschichte des Bestandes vgl. Ulrich S. Soénius: Zukunft im Sinn – Vergangenheit in den Akten. 100 Jahre Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Köln 2006, S. 43 f. Das RWWA veröffentlichte als Band 1 seiner Schriftenreihe die Darstellung von Kumpmann (Anm. 13). Die Protokolle der Generalversammlungen von 1840 bis 1879 sind in der Wirtschaftsbibliothek der Industrieund Handelskammer zu Köln (Signatur: IX z 33) einsehbar. 27 Vgl. Joachim Deeters: Die Aktionäre der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft im Gründungsjahr 1837, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln e. V. (Hg.): Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835–1871). Ausstellung des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs zu Köln e. V. in enger Zusammenarbeit mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln in den Räumen des Historischen Archivs, Severinstr. 222–228, 17. September 1984 bis 30. November 1984, Köln 1984, S. 116–146.

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stellten Baukondukteurs August Eduard Pickel eingeleitet.28 Zeitweise war der Bau eine der größten Bautätigkeiten seiner Zeit. Allein für die Errichtung des bei Königsdorf liegenden 1.632 Meter langen Tunnels29 waren bis zu 2.000 Arbeiter gleichzeitig beschäftigt.30 Die Arbeiten waren dabei äußerst mühevoll, da zu jener Zeit weder Bagger, Lastkraftwagen noch elektrische Energie für Bohrmeißel oder Flutlichtstrahler zur Erhellung der Baustelle existierten. Der Erd- und Gesteinsaushub musste mit Pferdekarren weggeschafft werden. Abgebaut wurde dieser Aushub dabei mit nichts mehr als der Körperkraft der Arbeiter, Spitzhacke und Schaufel – und dies alles nur beleuchtet durch Fackeln. Neben diesem aufwendigen Kunstbau sorgte noch die fünfbogige Ziegelsteinbrücke über die Rur bei Düren für viel Aufmerksamkeit, wurde sie von Pickel doch falsch berechnet, so dass sie bei ihrer Errichtung 1839 einbrach und erst in einem zweiten Anlauf stand.31 Einer der wichtigsten Lieferanten für den Streckenbau war die Firma Eberhard Hoesch und Söhne32 aus Lendersdorf bei Düren. Sie produzierte gusseiserne Schienenstühle, Querschwellen sowie einen Teil der Schienen33, auf denen die aus England importierten Lokomotiven gemeinsam mit den vom Waggonbauunternehmen Pauwels & Co. in Aachen gebauten Personen- und Güterwaggons34 fahren würden.

28 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 164ff. 29 5.200 Fuß Länge nach Julius Michaelis: Die Rheinische Eisenbahn, in: Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 29 (1861), S. 1–3, hier besonders S. 1. Laut Inschrift der Gedenktafel, die nach dem Abtragen des Tunnels von 1954 bis 1955 am erhaltenen Ostportal angebracht wurde, betrug seine Länge 1.623 m. Mit „Fuß“ als Maßeinheit ist der „Preußische“ bzw. „Rheinländische“ Fuß anzunehmen, dieser entspricht einer Länge von 0,313853497 m. 30 Vgl. Paul Stelkens: 170 Jahre Eisenbahn in Königsdorf, in: Königsdörfchen – Informationsblatt der Dorfgemeinschaft St. Magdalena 33 (2012), S. 1 f., hier besonders S. 1. 31 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 200. 32  Leopold, Eberhard, Victor, Wilhelm und Albert Hoesch aus Düren gründeten am 1. September 1871 ein Eisen- und Stahlwerk in Dortmund, aus dem die spätere Hoesch AG hervorging. Vgl. hierzu Hans J. Domsta/Helmut Krebs/Anton Krobb: Zeittafel zur Geschichte Dürens 747–1997 (Beiträge zur Geschichte des Dürener Landes 23), Düren 1998, S. 120. 33 Nach Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 193 f., ließ die RhE den Hauptanteil der benötigten Schienen aus England von der Firma Barandon and Company beziehen und nur einen kleinen Teil von Hoesch, obwohl diese wohl die bessere Qualität lieferte. Der Deal mit Barandon war aber – trotz der Zollgebühren und vielen fehlerhaften Schienen – wohl unterm Strich der Bessere für die Gesellschaft. Karl und Josef Meurer ergänzen in Bezug auf Hoesch: „Da das in Deutschland hergestellte Eisen für die Schienenproduktion ungeeignet ist, führt das Lendersdorfer Werk [der Hoeschs] als Material von besserer Qualität Koksroheisen zunächst aus England, später von Cockerill aus Seraing/Belgien ein“, vgl. Karl Meurer/Josef Meurer: Dampf im Vichtbachtal. 150 Jahre Eisenbahn in Stolberg (Beiträge zur Stolberger Geschichte 18), Stolberg 1991, S. 16 f. 34  Vgl. Meurer, Dampf (Anm. 33), S. 17. Der Vertrag mit der RhE sah die Lieferung von 200 Waggons jeder Bauart vor. Der Gründer der Firma war der aus Brüssel stammende Pierre Pauwels, der für eine geschäftliche Aktivität in Preußen einen Einheimischen brauchte und

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Diese ersten Lokomotiven mit den Namen Atlas, Pluto und Phönix35, die zuerst für Bauzugeinsätze und später dann auch für Vergnügungsfahrten auf dem 6,7 Kilometer langen und am 2. August 1839 feierlich eröffneten ersten Abschnitt der Gesamtstrecke nach Belgien von Köln bis nach Müngersdorf zum Einsatz kamen, wurden zerlegt ins Rheinland geliefert und hier dann mühsam wieder zusammengebaut. Bei den kölschen Vergnügungsfahrten konnte sich das Personal praxisbezogen in den Betriebsablauf einarbeiten36; Gewinn warfen diese vier Silbergroschen teuren Fahrten (dritter Klasse) nicht ab.37 In Müngersdorf war hierfür ein repräsentatives Gebäude oberhalb der Strecke mit Blick auf die Stadt Köln errichtet wurden – der Bahnhof Belvedere, heute noch das älteste original erhaltene Bahnhofsgebäude Deutschlands. Seine Architektur entsprang der Schinkel-Schule, der Architekt ist jedoch unbekannt – vermutet wird Matthias [Matthäus] Biercher. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs diente in Kombination mit seinen Erfrischungsmöglichkeiten, der Aussicht auf Köln, den Spaziermöglichkeiten im umliegenden Wald und dem neuen Verkehrsmittel als gern genutztes Ausflugsziel.38 Der erste Abschnitt der Eisenbahnstrecke nach Belgien war in erster Linie also noch kein neues Verkehrsmittel, mit dem massenweise Güter und Personen in Konkurrenz zu den bisher bestehenden Möglichkeiten transportiert wurden, sondern eher eine große Testanlage. Doch mit der Begegnung der beiden Eröffnungszüge aus Aachen und Köln in Düren am 1. September 184139 sowie der Fertigstellung der Anbindung an Belgien zum 15. Oktober 184340 war die erste internationale Eisenbahnverbindung der Welt entstanden. Belgien hatte sich freilich in der Zwischenzeit wirtschaftlich an die Niederlande und Frankreich annähern können und war nicht mehr im selben Umfange an der Aufnahme in den deutschen Zollverein interessiert wie noch zu den ersten Tagen der Eisenbahnidee Antwerpen – Köln. Es kam aber mit dem 1. September 1844 zu einem Handelsvertrag mit Preußen41, und der Handel zwischen ihn in dem Aachener Hubert Jacob Talbot fand. Aus ihrer gemeinsamen Aktivität ging später die Waggonfabrik Talbot hervor – Deutschlands ältester Hersteller von Schienenfahrzeugen. 35 Vgl. Meurer, Dampf (Anm. 33), S. 19. 36 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 252 f. 37 Vgl. Ulrich Naumann: In zehn Minuten nach Müngersdorf. 1839: Eröffnung der ersten Kölner Eisenbahn, in: BlickPunkt Müngersdorf 25 (Winter 2014/15), S. 34 f. 38 Vgl. Walter Buschmann: Der Bahnhof Belvedere in Köln-Müngersdorf. Das älteste erhaltene Empfangsgebäude in Deutschland, in: Rheinische Heimatpflege 48/4 (2011), S. 253–262. 39 Vgl. Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 253. 40 Vgl. ibid., S. 416 f. 41 Vgl. Lutz-Henning Meyer: 150 Jahre Eisenbahnen im Rheinland. Entwicklung und Bauten am Beispiel der Aachener Bahnen (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 30), Köln 1989, S. 33.

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den beiden Staaten stieg deutlich an. Diesem Umstand und der allgemein sehr guten Nachfrage bei der RhE war es geschuldet, dass schon 1844 zwischen Aachen und Herbesthal ein zweites Streckengleis gelegt wurde42, was nach und nach auf die restliche Strecke verlängert wurde.

Weitere Entwicklungen Mit der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Köln – Herbesthal schließen sich in der folgenden Zeit noch viele weitere bedeutende Bahnstrecken an – z. B. die linke Rheinstrecke Köln – Mainz, deren erster Abschnitt zwischen Köln und Bonn von der Bonn-Cölner Eisenbahn-Gesellschaft43 am 15. Februar 1844 eröffnet wurde; die linksniederrheinische Strecke Köln – Kleve, die im ersten Abschnitt bis Krefeld durch die Cöln-Crefelder Eisenbahn-Gesellschaft44 bis 1856 errichtet wurde; oder die sogenannte Eifelstrecke von Köln nach Trier –, die durch die RhE selbst errichtet oder durch den Erwerb anderer Gesellschaften übernommen und verlängert wurden. Maßgeblich machte die Gesellschaft, zusammen mit der Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft45 (Stammstrecke war hier die Verbindung zwischen Köln über das Ruhrgebiet und Westfalen nach Minden) und der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft46 (Erschließung 42 Beim Bau der Strecke war ein Ausbau auf zwei Gleise schon berücksichtigt worden und die baulichen Anlagen entsprechend teilweise schon mit ausgeführt, vgl. hierzu Kumpmann, Entstehung (Anm. 13), S. 227 f. 43 Die Bonn-Cölner Eisenbahn-Gesellschaft wurde am 6. Juli 1840 konzessioniert und zum 1. Januar 1857 von der RhE übernommen, vgl. hierzu Alfred von der Leyen: Art. „Rheinische Eisenbahn“, in: Victor Freiherr von Röll (Hg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 8, Berlin/Wien 1917, S. 213–215; Ulrich S. Soénius: Die Bonn-Kölner Eisenbahn von 1836 bis 1857. Ein Blick in die rheinische Verkehrsgeschichte, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 79 (2009), S. 51–75. 44 Die Cöln-Crefelder Eisenbahn-Gesellschaft wurde zum 1. Juli 1860 durch die RhE übernommen, vgl. hierzu von der Leyen, Art. „Rheinische Eisenbahn“ (Anm. 43). 45  Die Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft ging aus Bestrebungen der RhE betreffend einer Wiederaufnahme von Plänen für eine Schienenverbindung zwischen Rhein und Weser hervor, welche durch die zum 21. August 1837 konzessionierte Rhein-Weser EisenbahnGesellschaft gemacht, aber mangels ausreichender Geldmittel nicht zur Umsetzung gekommen waren. Da der Staat eine Ausdehnung der RhE jenseits der rechten Rheinseite verweigerte, wurde durch Interessierte eine neue Eisenbahngesellschaft gegründet. Diese konnte die Gesamtstrecke Köln – Minden am 15. Oktober 1847 eröffnen. In den folgenden Jahren „wuchs“ die Gesellschaft auf 1108,46 Kilometer Streckennetz an. Sie „vermittelte [u. a.] nach ihrem Ausbau den Verkehr von Berlin und Leipzig nach dem Rhein“ und stellte damit die Anbindung der preußischen Westprovinzen an die Hauptstadt her. Die Gesellschaft wurde final zum 1. Januar 1886 in das Eigentum des preußischen Staates übernommen. Vgl. hierzu Alfred von der Leyen: Art. „Cöln-Mindener Eisenbahn“, in: Victor Freiherr von Röll (Hg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 3, Berlin/Wien 1912, S. 207–209. 46 Die Bergisch-Märkische Eisenbahn-Gesellschaft wurde am 18. und 19. Oktober 1843 in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal) gegründet mit dem Zweck der Errichtung einer 58 Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Elberfeld nach Dortmund. Die Strecke wurde

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des Bergischen Raumes mit dem Ruhrgebiet), den wirtschaftlichen Aufschwung in der Stadt Köln, im Rheinland, dem angrenzenden Ruhrgebiet sowie dem Bergischen Land möglich, verband sie doch die Montanindustriegebiete, die großen Handelsstädte, Innovationszentren und in- wie ausländische Käufer miteinander. Prägend für diese Zeit war bei der RhE deren Präsident Gustav von Mevissen47. Seit seiner Wahl am 10. Juli 184448 hatte der damals gerade 29-Jährige das Amt mehr als 35 Jahre inne, bis zur Verstaatlichung der RhE 1880. Die Verstaatlichung kam am 14. Februar 1880 mit dem durch den preußischen Staat verkündeten Gesetz zur Verstaatlichung der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft. Mit diesem nahm Preußen die RhE mit einer finanziellen Aufwendung von insgesamt 591.129.900 Mark49 in sein wachsendes Eisenbahnnetz auf.50 Offiziell aufgelöst wurde die RhE zum 1. Januar 1886.51 In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wuchs Köln zum wichtigsten westlichen deutschen Eisenbahndrehkreuz heran und stellt dies noch bis heute dar. Drehund Angelpunkt hierfür war und ist der am 5. Dezember 1859 eröffnete Centralbahnhof, der heutige Kölner Hauptbahnhof, sowie die Dombrücke, die heute als Hohenzollernbrücke bekannt ist. Der Centralbahnhof löste mit seiner Fertigstellung den bisherigen, recht einfachen und bescheidenen Bahnhof vollständig am 29. Dezember 1848 für den Güter- und am 9. Dezember 1849 für den Personenverkehr eröffnet. Das als Aktiengesellschaft gegründete Unternehmen war jedoch schon beim Bau der Strecke notorisch unterfinanziert, ganze Bahngebäude waren nicht gebaut und auch die Betriebsmittel waren unzureichend. Die Beschaffung neuer Geldmittel verlief nur schleppend, und am Ende wurde 1850 neues Geld über die königliche Seehandlung in Berlin bereitgestellt, die jedoch sämtliche Betriebsmittel verpfändete und die Verwaltung der Gesellschaft an den Staat in Form eines Betriebsüberlassungsvertrages veranlasste. Formal wurde zum 1. Januar 1886 die Auflösung und Liquidation herbeigeführt, nachdem der Staat die Betriebsführung zum 1. Januar 1882 übernommen hatte. Vgl. hierzu Waldeck: Art. „Bergisch-Märkische Eisenbahn“, in: Victor Freiherr von Röll (Hg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 2, Berlin/Wien 1912, S. 227–229. 47 Gustav von Mevissen, geboren am 20. Mai 1815 in Dülken/Niederrhein, verstorben am 13. August 1899 in [Bonn-Bad] Godesberg, war 1841 nach Köln gezogen und sollte sich hier in den nächsten Jahrzehnten sowohl politisch wie auch wirtschaftlich besonders hervortun. Er war u. a. im Gründerkreis der Rheinischen Zeitung, als Unterstützer des Liberalismus tätig, gründete mit die Kölnische Rückversicherungs-Gesellschaft, war Mitglied des Kölner Stadtrates und des Preußischen Herrenhauses, der Kölner Handelskammer, in diversen Bankgeschäften verwickelt und in Düren an einer Flachgarnspinnerei (Schoeller, Mevissen & Bücklers OHG) beteiligt. Vgl. hierzu Klara van Eyll: Art. „Mevissen“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17, München/Berlin 1994, S. 277–281. 48 Vgl. Zur Feier des 25jährigen Jubiläums des Präsidenten, Herrn Geheimen Commerzienrathes Mevissen, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen 37 (1869), S. 570. 49 Vgl. Alfred von der Leyen: Art. „Preußische Eisenbahnen“, in: Victor Freiherr von Röll (Hg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 8, Berlin/Wien 1917, S. 116–140, hier S. 123. 50 Vgl. von der Leyen, Art. „Rheinische Eisenbahn“ (Anm. 43). 51 Vgl. ibid.

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der RhE Am Thürmchen ab, der „ungefähr dort [lag], wo sich heute der Theodor-Heuss-Ring befindet“52. Der Bahnhof war ein Gemeinschaftsbahnhof der RhE und der Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft; sechs Stumpfgleise standen der RhE zur Verfügung, zwei Durchgangsgleise samt der am 3. Oktober 1859 eröffneten Dombrücke der Köln-Mindener für „ihre Berliner Züge“. Alle anderen Züge der Cölner-Mindener Eisenbahn verkehrten weiterhin vom gesellschaftseigenen Bahnhof in Deutz.53 Da der bestehende Centralbahnhof mit den Jahren den wachsenden Eisenbahnverkehr in Köln nicht mehr bewältigen konnte und die Stadt Köln sich mit der Neustadt ausdehnte54, wurde er mit dem 7. Mai 1894 durch einen völligen Neubau ersetzt, der seitdem auch die noch heute vorhandene monumentale Bahnsteighalle aus Stahl und Glas besitzt.55 Ein neu entstandenes Empfangsgebäude vom Aachener Architekten Georg Frentzen56 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zugunsten eines Neubaus nicht wieder instandgesetzt, sondern abgerissen.57 Die einzige erhaltene Spur hiervon ist das Restaurant mit Veranstaltungsfläche Alter Wartesaal.58 Nachdem die letzten großen Bautätigkeiten am Kölner Hauptbahnhof – die Sanierung der Bahnhofshalle 1983–198759, der Umbau der nicht mehr betrieblich genutzten Flächen unter dem Bahnhof zum heutigen Erscheinungsbild mit Geschäften und Gastronomiebetrieben bis zum neuen Jahrhundert60 und die Restaurierung der ehemaligen Schalterhalle (Domausgang) 2007–200961 – seit Jahren abgeschlossen sind, steht in den nächsten Jahren nun die endgültig beschlossene und bereits in der Entwurfs- und Genehmigungsplanung befindliche Erweiterung um zwei S-Bahn-Gleise auf der Seite zum Breslauer Platz an, wo es zuletzt Mitte der 1970er Jahre zu einer Erweiterung um zwei Gleise gekommen war62, so dass auch die weiter ansteigenden Eisenbahnverkehre in Köln – im Zusammenspiel mit weiteren beschlossenen Ausbaumaßnahmen – zukunftsfähig gesichert sind.63

52 Vgl. Ulrich Krings/Rudolf Schmidt: Hauptbahnhof Köln. Kathedrale der Mobilität & modernes Dienstleistungszentrum, Weimar 2009, S. 10. 53 Vgl. ibid., S. 10–12. 54 Vgl. ibid., S. 13. 55 Vgl. ibid., S. 20. 56 Vgl. ibid., S. 23. 57 Vgl. ibid., S. 37. 58 Vgl. ibid., S. 73. 59 Vgl. ibid., S. 40ff. 60 Vgl. ibid., S. 47ff. 61 Vgl. ibid., S. 51. 62 Vgl. ibid., S. 95. 63 Vgl. Pressemitteilung „Meilenstein für den Bahnknoten Köln: Startschuss für die Planung der S-11–Stammstrecke“ des Zweckverband Nahverkehr Rheinland vom 20. Mai 2020.

Von Mannheim über Köln bis nach China Der Reeder und Unternehmer Rudolph Wahl junior (1858–1901) von Sebastian Parzer Nach der Reichsgründung entwickelte sich Köln im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum nach dem Ruhrgebiet zweitwichtigsten Wirtschaftszentrum im deutschen Westen, in dem damals zahlreiche bedeutende Unternehmerpersönlichkeiten ihr Wirken entfalteten. Mit Rudolph Wahl junior kam 1888 auch ein Kaufmann in die Stadt, der den Schwerpunkt seiner unternehmerischen Tätigkeit später nach Ostasien verlegte.

Elternhaus Friedrich Rudolph Immanuel Wahl erblickte am 15. Juni 1858 in Mannheim das Licht der Welt.1 Seine Eltern waren der Fabrikant Rudolph Wahl senior und dessen Ehefrau Emilia, geb. Herzog. Der Vater stammte aus Neuwied und war 1857 nach Mannheim gekommen, wo er Teilhaber der im selben Jahr gegründeten „Badischen Kartoffelmehlfabrik“ wurde. Das Unternehmen besaß Fabriken in Gernsheim und Mühlburg bei Karlsruhe, in denen Kartoffelstärke gewonnen wurde.2 Später kam noch eine weitere Produktionsstätte in Kornsand gegenüber von Oppenheim hinzu.3 Rudolph Wahl war der Erstgeborene des Ehepaares, dem 1861 die Schwester Carola folgte. Im Alter von sechs Jahren verlor der Junge seine Mutter. Wenige Jahre später schloss der Vater erneut den Bund fürs Leben. Um 1869 heiratete er die aus London stammende Frances Sophie Lambert.4 1871 wurde Stiefbruder Adalbert geboren.

1 Generallandesarchiv Karlsruhe (im Folgenden: „GLA KA“), 390, Nr. 2818 (Geburts- und Taufbuch der evangelisch-protestantischen Kirchengemeinde in Mannheim 1858–1861 [1858, Nr. 176]); Mannheimer Journal‚10. Juli 1858 (Auszug aus dem Kirchenbuch). 2 50 Jahre Betrieb Cüstrin der Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik mit beschränkter Haftung 1871–1921, o. O. und o. J. (1921), S. 7. 3 Ibid., S. 8. 4 Möglicherweise war die Verbindung von Rudolph Wahl senior mit Frances Sophie Lambert bereits dessen dritte Ehe. Denn in der Familiengruft auf dem Mannheimer Hauptfriedhof ist die am 13. März 1868 verstorbene Anne Katharina Leopoldine Magd.(alena) Margaret Elisabeth Wahl, geb. Evans, (geboren 1840) bestattet, die sich im Familienstammbaum keinem Ehemann zuordnen lässt. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 185–204

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Ein Jahr später folgte Kurt Albert Rudolph. Schließlich erblickte 1880 mit Hans Reginald Ashton ein weiterer Stiefbruder das Licht der Welt.5 Die wirtschaftliche Betätigung des Vaters blieb nicht auf die „Badische Kartoffelmehlfabrik“ beschränkt. 1863 unterstützte er einen der wiederholten Versuche des Kaufmanns und früheren Mannheimer Oberbürgermeisters Friedrich Reiß, in Mannheim eine Notenbank zu gründen.6 1869 beteiligte sich Rudolph Wahl senior an der Gründung der „Badische Schraubendampfschiffahrts-Gesellschaft“.7 Das Unternehmen verfügte anfänglich lediglich über ein Schiff, den Schraubendampfer Industrie. Im folgenden Jahr erscheint der Vater unter den Gründern der „Rheinischen Creditbank“.8 1871 gehörte der Senior zu den Initiatoren der „Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik“. Inzwischen wurden im deutschen Südwesten hauptsächlich hochwertige Speisekartoffeln angebaut, die zu teuer waren, um daraus Kartoffelstärke zu gewinnen. Dagegen ließen sich in Preußen Kartoffeln günstig erwerben.9 Die neue Gesellschaft errichtete eine Kartoffelmehlfabrik im ostbrandenburgischen Küstrin, hatte ihren Firmensitz anfänglich aber in Mannheim. Rudolph Wahl senior wurde Mitglied des Verwaltungsrats, dem noch sein Bruder Carl Wahl und der mit ihm befreundete August Remy angehörten.10 1872 wurde der Vater Teilhaber der „Deutschen Seehandlung“, mit der man den Baumwollimport stärken wollte.11 Das Handelshaus sollte den direkten Kontakt zwischen den Baumwollpflanzern in Übersee und den Textilfabriken in Deutschland sicherstellen. Schließlich saß Rudolph Wahl senior in den 1870er Jahren im Aufsichtsrat der „Amerikanischen Gummi-Waaren-Fabrik“, die damals eine der größten Mannheimer Fabriken war.12 Die Eltern von Rudolph Wahl junior verstanden es, in der Mannheimer Bürgerschaft zu repräsentieren. Anfang Mai 1869 nahm der Vater mit seiner Yacht Industrie an den Feierlichkeiten anlässlich der Eröffnung der Mannhei5 Stadtarchiv Mannheim (im Folgenden: „StA MA“), Polizeipräsidium, Zug. –/1962 (Familienbogen von Rudolph Wahl senior). 6 Vgl. Manfred Pohl: Baden-Württembergische Bankgeschichte, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 72. 7 GLA KA, 276 Zug. 1957–14, Mannheim II, Nr. 3572 (Statuten der badischen Schraubendampfschiffahrts-Gesellschaft in Mannheim [1869]); Mannheimer Journal, 23. September 1869 (Auszug aus dem Handelsregister). 8 Mannheimer Journal, 21. Juni 1870; Der Aktionär 18 (1870), Nr. 869 vom 26. Juli 1870 (S. 528). 9 Vgl. Philipp Bauer: Die Aktienunternehmungen in Baden, Karlsruhe 1903, S. 160; 50 Jahre Betrieb Cüstrin (Anm. 2), S. 9. 10 GLA KA, 276 Zug. 1994–34, Nr. 181 (Gesellschaftsregister des Amtsgerichts Mannheim, Band 1, OZ 402). 11 Karlsruher Zeitung, 13. März, 26. März und 31. Dezember 1872. 12 GLA KA, 276 Zug. 1957–14, Mannheim II, Nr. 5842 (Protokoll der Generalversammlung vom 28. Mai 1874) und Nr. 6150 (Protokoll der Generalversammlung vom 23. Juni 1879).

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mer Pferderennbahn teil.13 Nach der Geburt seines vierten Sohnes soll er seiner zweiten (oder dritten) Frau 1880 eine eigene Yacht geschenkt haben.14 Noch Jahrzehnte später erinnerte man sich in Mannheim daran, dass Rudolph Wahl senior Ende der 1860er Jahre das erste, damals „en vogue“ TretkurbelVelociped aus London mit in die Quadratestadt gebracht habe.15 Der exklusive Lebensstil des Vaters zeigte sich auch an den von ihm bewohnten Häusern. Zu Beginn der 1860er Jahre wohnte Rudolph Wahl senior mit seiner Familie in einer Villa in N 7.16 Danach diente der Familie für kurze Zeit das Palais Bretzenheim gegenüber dem Mannheimer Schloss als Wohnsitz.17 Ab 1864 logierte man im Palais Isenburg in A 1.18 Als dieses 1872 an den BASF-Gründer Friedrich Engelhorn verkauft wurde, zog die Familie in den „Europäischen Hof“ um.19 Das unmittelbar am Rhein gelegene frühere Grandhotel gehörte inzwischen der „Deutschen Seehandlung“, an der Rudolph Wahl senior beteiligt war.

Erste Berufstätigkeit Über den Schulbesuch und die Ausbildung von Rudolph Wahl junior ist wenig bekannt. Für einige Jahre soll er ein Gymnasium besucht haben, bevor er Ende September 1874 im Alter von 16 Jahren eine kaufmännische Ausbildung in der „Badischen Schraubendampfschifffahrts-Gesellschaft“ begann.20 Nicht einmal anderthalb Jahre später beteiligte sich der damals 17-Jährige im Januar 1876 an der Gründung der „Oberrheinischen Schifffahrtsgesellschaft“.21 Das Grund13 Vgl. Philipp Fuchs: Festschrift zur Jubiläums-Feier des Badischen Rennvereines Mannheim am 31. April und 1. und 2. Mai 1892 – 1868–1892: kurze Darstellung der Entwicklung des Vereines sowie Zusammenstellung der Resultate, Mannheim 1892, S. 10. 14 StA MA, Zug. 15/2002, Nr. 100 (Schreiben von Gretel Wahl an Oberbürgermeister Hans Reschke vom 22. Mai und 6. November 1957). Margareta (genannt Gretel) Wahl, geb. Bender (1886–1959) hatte 1907 den Stiefbruder von Rudolph Wahl junior, Hans Wahl (1880–1925), geheiratet). 15 Vgl. Friedrich Walter (Bearb.): Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart Bd. 3: Mannheim seit der Gründung des Reiches, dargestellt vom Statistischen Amt, Mannheim 1907, S. 636. 16 Mannheimer Adress-Kalender für das Schalt-Jahr 1860, S.109. Zur Villa (N 7, 3) vgl. Hans Huth: Die Kunstdenkmäler des Stadtkreises Mannheim, Bd. 2, Mannheim 1982, S. 1310. 17 Mannheimer Adress-Kalender für das Schalt-Jahr 1864, S. 114. 18 Mannheimer Adress-Kalender für das Jahr 1865, S. 117. 19 Mannheimer Adress-Kalender für das Jahr 1873, S. 143. 20 Vgl. Jahrbuch der schiffbautechnischen Gesellschaft 3 (1902), S. 66. Welche höhere Schule Rudolph Wahl besucht hat, ließ sich nicht ermitteln. In den Schülerlisten des Großherzoglichen Lyzeums in Mannheim und des örtlichen Realgymnasiums ist er nicht verzeichnet. 21 GLA KA, 276 Zug. 1957–14, Mannheim II, Nr. 6075 (Gesellschafts-Vertrag und constituierende Generalversammlung der Oberrheinischen Schifffahrtsgesellschaft zu Mannheim 1876).

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kapital des Unternehmens umfasste 60.000 Mark, von dem Rudolph Wahl junior 3000 Mark übernahm. Die unter Federführung seines Vaters ins Leben gerufene Firma widmete sich der Schleppschifffahrt auf dem Oberrhein. Das Unternehmen erwarb im Laufe der nächsten Jahre drei Schleppdampfer, mit denen beladene und unbeladene Schiffe von Mannheim nach Germersheim, Speyer und Maxau geschleppt wurden.22 1882 hielt sich Rudolph Wahl junior in Gernsheim auf, wo er die dortige Filiale der „Badischen Kartoffelmehlfabrik“ geleitet haben dürfte.23 Im April 1883 trat Rudolph Wahl junior in die Vorstände der Mannheimer Reedereien „Cosmopolit“ und „Independent“ ein.24 Diese von seinem Vater 1881 und 1883 gegründeten Schifffahrtsunternehmen betrieben jede ein Seeschiff: den Dampfer Cosmopolit und den Dampfer Independent.25 Mit den beiden Frachtern, die von Rotterdam aus in Nordund Ostsee sowie im Mittelmeer, aber auch nach Übersee verkehrten, wollte der Vater den Weitertransport der auf dem Rhein transportierten Güter mit eigenen Schiffen sicherstellen. An der Reederei „Independent“ war Rudolph Wahl junior auch selbst beteiligt. Bei Gründung der Kapitalgesellschaft im Januar 1883 hatte er mit 40 Aktien zehn Prozent des Grundkapitals übernommen.26 In dieser Zeit gingen die Pläne von Rudolph Wahl senior allerdings weit über den Weitertransport hinaus. Im Juni 1883 machte er dem offenbar mit ihm befreundeten Reeder Michael Jebsen aus dem nordschleswigschen Apenrade den Vorschlag, gemeinsam eine regelmäßige Dampferlinie zwischen Deutschland und Ostasien aufzubauen, die vom Staat subventioniert werden sollte.27 Dabei handelte es sich um ein damals aktuelles Thema. Seit 1881 wurde die Schaffung einer staatlich geförderten Reichspostdampferlinie nach Ostasien im Reichstag diskutiert.28 Doch glaubte Jebsen, der den Großteil seiner Fracht22 Vgl. Bauer, Aktienunternehmungen (Anm. 9), S. 264. 23 StA MA, Polizeipräsidium, Zug. –/1962 (Familienbogen von Rudolph Wahl senior). Zur Filiale in Gernsheim vgl. Rolf Reutter: Zur Geschichte der Badischen KartoffelmehlFabrik und der Süddeutschen Chemischen Werke in Gernsheim (1857–1993), in: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße 33 (2000), S. 214–233. 24 GLA KA, 276 Zug. 1994–34, Nr. 183 Gesellschaftsregister des Amtsgerichts Mannheim, Band 3 (zu OZ 170 und OZ 248). 25 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer für den Kreis Mannheim 1882, S. 226; Jahresbericht der Handelskammer für den Kreis Mannheim 1883, S. 221. 26 GLA KA, 276 Zug. 1957–14, Mannheim II, Nr. 6283 (Gesellschafts-Vertrag [Statuten] und konstituierende Generalversammlung der Aktiengesellschaft „Rhederei Independent“ in Mannheim 1883). Das Gros der Aktien zeichnete Vater Rudolph Wahl senior (278 Aktien). Weitere Teilhaber waren Carl Reiß, Mannheim und Georg Howaldt, Kiel (je 40 Aktien) sowie der Mannheimer Kaufmann Hermann Wingenroth (zwei Aktien). 27 Vgl. Ernst Hieke: Die Reederei M. Jebsen A.G. Apenrade, Hamburg 1953, S. 65 f. 28 Vgl. Arnold Kludas: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt Bd. 1: Die Pionierjahre von 1850 bis 1890 (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 18), Augsburg

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schiffe schon seit einigen Jahren in ostasiatischen Gewässern einsetzte, nicht an den Erfolg eines solchen Unternehmens.29 Trotz seines Engagements für die beiden Mannheimer Aktiengesellschaften blieb Rudolph Wahl junior zunächst in Gernsheim wohnen. Am 7. April 1886 zog er dann jedoch wieder in die Quadratestadt zurück, wo er erneut im „Europäischen Hof“ Wohnung nahm.30 Sein Vater war mit der Stiefmutter und den Stiefgeschwistern einige Jahre zuvor nach Scheveningen in Holland verzogen. Anfang Oktober 1887 heiratete Rudolph Wahl junior auf Helgoland die in Hamburg geborene Anna Meyer. Die Nordseeinsel, die damals noch zu Großbritannien gehörte, erfreute sich in jenen Jahren bei Brautpaaren einer gewissen Beliebtheit, weil man dort bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Ehe ohne Aufgebot am Heimatort schließen konnte.31 Offenbar entsprach seine Gattin nicht den damals üblichen gesellschaftlichen Konventionen. Ein Mannheimer Bürger berichtete in einem Schreiben jedenfalls, dass Wahl […] nicht nach dem Wunsche der „Gesellschaft“ sondern nach seinem eigenen freien Ermessen sich seine Frau nahm […].32 In Mannheim war Rudolph Wahl junior auch gesellschaftlich engagiert. Schon 1884, als er noch in Gernsheim wohnte, gehörte er der Mannheimer Ortsgruppe des Deutschen Kolonialvereins an.33 Im selben Jahr schloss er sich dem dortigen Bezirksverein des Vereins Deutscher Ingenieure an.34 Von seinem Vater hatte Rudolph Wahl junior offenbar den Hang zur Repräsentation geerbt. So besaß er damals die Yacht Eremit, die ein 1883 in England gebauter,

21994, S. 168; Christine Reinke-Kunze: Die Geschichte der Reichs-Post-Dampfer – Ver-

bindung zwischen den Kontinenten 1886–1914, Herford 1994, S. 21 f. 29 Vgl. Hieke, Reederei (Anm. 27), S. 65 f. Schon ein Jahr zuvor hatte Rudolph Wahl senior den Versuch unternommen, eine Fusion der Reederei „Cosmopolit“ mit der Reederei von Michael Jebsen zu erreichen (vgl. ibid., S. 50 f.). 30 StA MA, Polizeipräsidium Zug. –/1962 (Anmeldung vom 7. April 1886 und Familienbogen von Rudolph Wahl junior). 31 Vgl. Art.: „Helgoländer Ehe“, in: Herders Konversations-Lexikon, Bd. 4, Freiburg ³1905, S. 315. 32 Friedrich Engelhorn-Archiv e. V., Mannheim (im Folgenden: „FEA“), Nachlass Dr. Friedrich Engelhorn, S 1/87 (Schreiben von Dr. Louis Schäfer an Ernst Boehringer vom 11. Oktober 1887). Im Herbst 1887 machten zudem in der Stadt Gerüchte die Runde, dass Ernst Boehringer, Teilhaber des Pharmaunternehmens „C. F. Boehringer & Soehne“, ein Verhältnis mit der Schwester von Wahls Ehefrau habe, die Sängerin war (FEA, Nachlass Dr. Friedrich Engelhorn, S 1/38 [Schreiben von Dr. Friedrich Engelhorn an Ernst Boehringer vom 13. Oktober 1887]). 33 Vgl. Deutscher Kolonialverein – Mitglieder-Verzeichnis (Stand Dezember 1883), S. 7 (= Beilage zur Deutschen Kolonialzeitung 1 [1884]). 34 Vgl. Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 28 (1884), Nr. 16 vom 19. April 1884, S. 313; Verein Deutscher Ingenieure – Mitgliederverzeichnis 1885, S. 51.

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rund acht Meter langer Schraubendampfer war.35 Außerdem wurde berichtet, dass Wahl sich nach seiner Eheschließung im Herbst 1887 in Mannheim in einer vierspännigen Kutsche durch die Stadt fahren ließ.36 Dies galt in dieser Zeit als besonders anmaßend, da mehrspännige Wagen dem Adel vorbehalten waren. Ende Dezember 1887 trat Rudolph Wahl junior in den Vorstand der „Badischen Schraubendampfschifffahrts-Gesellschaft“ ein.37 Das Unternehmen hatte seinen Schiffspark inzwischen stark vergrößert. In diesem Jahr verfügte die Firma über 18 Binnenschiffe, von denen 13 Güterschraubenschiffe und Schleppdampfer waren. Vier weitere Dampfer waren damals in Bau.38 Außerdem hatte die Reederei die Anregung des deutsch-irischen Unternehmers William Thomas Mulvany aufgegriffen und eine direkte Schifffahrtslinie zwischen Köln und London eingerichtet.39 Dafür hatte die „Badische Schraubendampfschiffahrts-Gesellschaft“ in den Niederlanden den Rheinseedampfer Industrie bauen lassen, der im März 1885 in Fahrt kam (Abb. 1).40 In den kommenden beiden Jahren folgten mit der Harmonie und der Energie zwei weitere Rheinseedampfer.41 Durch den Einsatz von Schiffen, die sowohl den Niederrhein als auch den Ärmelkanal und die Nordsee befahren konnten, entfiel das Umladen in Rotterdam. Die Idee des Mannheimer Unternehmens wurde zunächst von viel Skepsis begleitet.42 Sie sollte sich aber als richtungsweisend herausstellen und wurde schnell von anderen Reedereien übernommen. Zwei Jahrzehnte 35 Vgl. Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping – Yacht Register 1887, S. 231. Das Schiff wurde später von der „Oberrheinischen Schifffahrtsgesellschaft“ übernommen. 36 FEA, Nachlass Dr. Friedrich Engelhorn, S 1/87 (Schreiben von Dr. Louis Schäfer an Ernst Boehringer vom 11. Oktober 1887). 37 Karlsruher Zeitung, 31. Dezember 1887 (Auszug aus dem Handelsregister). 38 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer für den Kreis Mannheim 1887, Erster Teil, S. 92. 39 Vgl. Kurt Bloemers: William Thomas Mulvany (1806–1885). Ein Beitrag zur Geschichte der rheinisch-westfälischen Großindustrie und der deutsch-englischen Wirtschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Archivs für Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsgeschichte 8), Essen 1922, S. 177–181. 40 Vgl. Das Schiff – Wochenblatt für die gesammten Interessen der Binnenschiffahrt 6 (1885), Nr. 260 vom 26. März 1885, S. 90; The Marine Engineer 7 (1885/86), Nr. 1 vom 1. April 1885, S. 24; Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 29 (1885), Nr. 14 vom 4. April 1885, S. 275; Das Rheinschiff 1 (1886), Nr. 17 vom 2. Mai 1886, S. 5; vgl. auch Reinhart Schmelzkopf: Seedampfer vom Rhein, in: Strandgut 92 (2018), S. 21–40, hier S. 21 f. 41 Vgl. Das Schiff – Wochenblatt für die gesammten Interessen der Binnenschiffahrt 7 (1886), Nr. 302 vom 14. Januar 1886, S. 20; Das Rheinschiff 1 (1886), Nr. 19 vom 16. Mai 1886, S. 4; Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 30 (1886), Nr. 34 vom 21. August 1886, S. 755; General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung, 4. Dezember 1886; Das Rheinschiff 2 (1887), Nr. 19 vom 8. Mai 1887, S. 1; Jahresbericht der Handelskammer für den Kreis Mannheim 1887, Erster Teil, S. 92. 42 Vgl. etwa Das Schiff – Wochenblatt für die gesammten Interessen der Binnenschiffahrt 6 (1885), Nr. 258 vom 12. März 1885, S. 73; Das Rheinschiff 1 (1886), Nr. 30 vom 1. August 1886, S. 6.

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Abb. 1: Anzeige der „Badischen Schrauben-Dampfschifffahrtsgesellschaft“ 1885 (Kölnische Zeitung 1885 – Zweites Blatt).

später gab es mehr als drei Dutzend Rheinseedampfer, die den direkten Schiffsverkehr zwischen Köln und Häfen an Nord- und Ostsee sowie dem Mittelmeer ermöglichten.43

Als Reeder in Köln Zwei Wochen vor dem Eintritt Rudolph Wahls in den Vorstand der „Badischen Schraubendampfschifffahrts-Gesellschaft“ hatte eine außerordentliche Generalversammlung beschlossen, die Firma in „Rhein- und Seeschifffahrts-Gesellschaft“ umzubenennen. Dabei wurde das Grundkapital auf 2.100.000 Mark

43 Vgl. Das Rheinschiff 18 (1903), Nr. 32 vom 9. August 1903, S. 4; Jahrbuch der schiffbautechnischen Gesellschaft 3 (1902), S. 66; Friedrich Wickert: Der Rhein und sein Verkehr. Mit besonderer Berücksichtigung der Abhängigkeit von den natürlichen Verhältnissen (Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde 15,1), Stuttgart 1903, S. 37; vgl. auch Jahresbericht der Handelskammer zu Cöln für 1896, S. 73; Richard van der ­Borght: Die wirtschaftliche Bedeutung der Rheinsee-Schiffahrt, Köln 1892, insbesondere S. III und S. 7 f.

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erhöht und der Hauptsitz des Unternehmens nach Köln verlegt.44 Denn es waren vor allem Kölner Geschäftsleute, die der Firma in den 1880er Jahren das für den Ausbau der Binnenflotte und die Beschaffung der Rheinseedampfer notwendige Kapital bereitgestellt hatten.45 Anfang 1888 zog Rudolph Wahl in die Domstadt um. Unter den niederrheinischen Geschäftspartnern befand sich Eugen Langen, der ab Mitte der 1880er Jahre dem Aufsichtrat der „Badischen Schraubendampfschifffahrts-Gesellschaft“ angehörte und auch im Kontrollorgan des Nachfolgeunternehmens saß.46 Bei der Außenrepräsentation der Reederei trat aber die Familie Wahl in den Vordergrund. Als Erkennungszeichen trugen die Schiffe der „Rhein- und Seeschifffahrts-Gesellschaft“ ein weißes W an ihren Schornsteinen. Die Reedereiflagge zeigte eine weißes W auf blauem Grund.47 Die drei Rheinseedampfer des Schifffahrtsunternehmens ermöglichten es, eine wöchentliche Güterbeförderung zwischen Köln und London anzubieten. Der Dampfer Harmonie erwies sich jedoch als zu klein, weshalb er 1889 verkauft wurde.48 Da man den wöchentlichen Liniendienst in die britische Hauptstadt auf Dauer mit zwei Schiffen nicht aufrechterhalten konnte, ließ man 1893 bei der Howaldtwerft in Kiel den Rheinseedampfer Colonia bauen.49 Außer Fahrten nach London sollte mit dem Schiff eine Verbindung Köln – Hull aufgebaut werden. Allerdings ging der Frachter bereits auf der vierten Reise im Ärmelkanal verloren. An seine Stelle trat 1894 der Neubau Rhenania.50 Die Reederei zeigte sich nicht nur im Bereich der Rheinseeschifffahrt fortschrittlich. 1889 richtete das Unternehmen einen Schnellgüterdienst zwischen Mannheim und Ruhrort ein, der täglich von den Frachtern der Reederei 44 GLA KA, 276 Zug. 1994–34, Nr. 186 (Gesellschaftsregister des Amtsgerichts Mannheim, Band 6 [OZ 55 und OZ 64]); Karlsruher Zeitung, 16. Februar 1888 (Auszug aus dem Handelsregister); Das Rheinschiff 2 (1887), Nr. 50 vom 11. Dezember 1887, S. 4. 45 Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (im Folgenden: „RWWA“), Nachlass Eugen Langen, 7–1–29 (Schreiben Eugen Langens an Rudolph Wahl senior vom 29. Mai 1885); Bruno Kuske: Eugen Langen, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien Bd. 1, Heft 2, Münster 1931, S. 264–297, hier S. 285 f. 46 RWWA, Nachlass Eugen Langen, 7–1–29 (Schreiben Eugen Langens an Rudolph Wahl senior vom 14. August 1885); Karlsruher Zeitung, 16. Februar 1888 (Auszug aus dem Handelsregister). 47 Vgl. Lloyd’s Book of House Flags & Funnels, London 1912, S. 52. 48  Vgl. Jahresbericht der Handelskammer Cöln für 1889, S. 184. Die Harmonie wurde von Hermann Wissmann erworben, der sie bei der Niederschlagung des sogenannten Araberaufstands in Ostafrika einsetzte. Wissmann war der Schwiegersohn von Eugen Langen, vgl. Erich Gröner: Die deutschen Kriegsschiffe 1815–1945, Bd. 7, Koblenz 1990, S. 219. 49 Vgl. Christian Ostersehlte: Von Howaldt zur HDW. 165 Jahre Entwicklung von einer Kieler Eisengießerei zum weltweit operierenden Schiffbau- und Technologiekonzern, Hamburg 2004, S. 156 und S. 555. 50 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer Cöln für 1893, S. 275; Jahresbericht der Handelskammer Cöln für 1894, S. 313.

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bedient wurde.51 Ein Jahr später bot die Reederei zusätzlich den direkten Warentransport ohne Zwischenhalte zwischen Köln/Düsseldorf und Mannheim/Ludwigshafen an. Für die Bergfahrt benötigten die Schiffe anderthalb Tage, die Talfahrt bewältigen sie an einem Tag.52 Schließlich wurde 1892 auch die Befahrung des südlich von Mannheim gelegenen Abschnitts des Oberrheins aufgenommen; ein Flussabschnitt, der damals als schwierig galt. Mitte Juni 1892 lief mit dem Frachter Industrie 24 das erste Dampfschiff im ausgebauten und nun mit einem Gleisanschluss versehenen Metzgertorhafen der Stadt Straßburg – dem heutigen Bassin d’Austerlitz – ein.53 Dass sich die Reederei wirtschaftlich gut entwickelte, zeigte sich auch daran, dass das Unternehmen 1894 in Mannheim ein eigenes Lagerhaus am Rheinkai errichten ließ.54 Wie schon bei seinem Vater ging auch der Blick Rudolph Wahl juniors über die Grenzen des mitteleuropäischen Wirtschaftsraums hinaus. 1885 hatte der Reichstag die Einrichtung staatlich subventionierter Reichspostdampferlinien nach Ostasien und Australien beschlossen. Obwohl es ab 1884 deutsche Kolonien in Afrika gab, hatte es das Parlament allerdings abgelehnt, eine derartige Verbindung auch nach Afrika einzurichten.55 Vor allem der Verkehr mit Ostafrika bereitete in der Folgezeit Probleme. Fracht und Post aus und nach Deutschland mussten im unweit des südlichen Endes des Roten Meeres gelegenen Aden umgeladen werden. Der Transport zwischen Aden und Ostafrika geschah ausschließlich durch ausländische Reedereien, was aus Gründen des nationalen Prestiges nicht opportun war. Zudem brachte das Umladen verschiedene Missstände mit sich. Häufig kam es vor, dass Frachtsendungen aus Ostafrika in Aden von deutschen, aber auch von englischen Dampfern nicht weiterbefördert werden konnten, weil die von Ostasien und Australien kommenden Frachter keinen freien Schiffsraum mehr besaßen.56 Eugen Langen und der Bankier Karl von der Heydt aus Elberfeld, unter deren Federführung im Februar 1887 die „Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft“ gegründet worden war57, verfolgten daher ab Sommer 1887 Pläne, eine ostafrikanische Küs-

51 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer Cöln für 1889, S. 184 f.; vgl. auch General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung, 5. Mai 1892 (Anzeige). 52  Vgl. J ahresbericht der Handelskammer Cöln für 1890, S. 288. 53 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer Köln für 1892, S. 258; Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 1902, S. 66; Georges Livet/Francis Rapp (Hg.): Histoire de Strasbourg des origines à nos jours Bd. 4: Strasbourg de 1815 à nos jours XIXe et XXe siècles, Straßburg 1982, S. 311 und S. 748, vgl. auch die Abbildung S. 310. 54 Vgl. Jahresbericht der Handelskammer Köln für 1894, S. 313. 55 Vgl. Kludas, Passagierschiffahrt (Anm. 28), S. 168–171. 56 Vgl. Reinke-Kunze, Reichs-Post-Dampfer (Anm. 28), S. 56. 57 Kurt Büttner: Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika – Eine kritische Untersuchung an Hand unveröffentlichter Quellen (= Studien zur Kolonialgeschichte

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tenschifffahrt unter deutscher Flagge aufzubauen.58 Als Direktor der „DeutschOstafrikanischen Schifffahrts-Gesellschaft“, die mit einem Grundkapital von 3.500.000 Mark ausgestattet werden sollte, war Rudolph Wahl junior vorgesehen. Für die fernere Zukunft wurde auch eine Befahrung der Flüsse Ostafrikas und eine direkte Schifffahrtslinie nach Deutschland erwogen.59 Zu einer Verwirklichung des Projekts der rheinischen Unternehmer kam es nicht. Denn die Reichsregierung trat 1888 an den Hamburger Reeder Adolph Woermann heran, der schließlich mit der 1890 gegründeten „Deutschen Ost-AfrikaLinie“ eine staatliche, subventionierte Schiffsverbindung zwischen Deutschland und der afrikanischen Ostküste einrichtete.60 Nach ihrem Umzug nach Köln gründeten Rudolph und Anna Wahl eine Familie und bekamen mehrere Kinder.61 Bekanntester Nachkomme sollte der 1894 geborene Sohn Rudolph Wahl werden, der später als Unternehmer und zuletzt als Schriftsteller tätig war.62 Anfänglich bewohnte Wahl das Haus Friesenplatz 5.63 Später zog er an den Hohenzollernring 69 um.64 Ab 1896 wohnte Rudolph Wahl mit seiner Familie im Anwesen Kaiser-Wilhelm-Ring 40, dessen und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung 1), Berlin 1959, S. 106. 58 Vgl. RWWA, Nachlass Eugen Langen, 7–1–37 (Schreiben Eugen Langens an Karl von der Heydt vom 19. September 1887), 7–1–38 (Schreiben Eugen Langens an Rudolph Wahl junior vom 27. November und 2. Dezember 1887 sowie vom 17. Februar 1888) und 7–7–6 (Schreiben Karl von der Heydts an Eugen Langen vom 23. Juli 1887 und Schreiben von Alexander Lucas, Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft, an Eugen Langen vom 25. Juli 1887); Gabriele Oepen-Domschky: Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich. Eugen Langen, Ludwig Stollwerck, Arnold von Guilleaume und Simon Alfred von Oppenheim (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 43), Köln 2003, S. 241 f. 59 RWWA, Nachlass Eugen Langen, 7–7–6 (Entwurf der Statuten der „Deutsch-Ostafrikanischen Schifffahrts-Gesellschaft“). 60 Vgl. Karl Brackmann: Fünfzig Jahre deutscher Afrikaschiffahrt. Die Geschichte der Woermann-Linie und der Deutschen Ost-Afrika-Linie, Berlin 1935, S. 21 f.; Arnold Kludas: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt Bd. 2: Expansion auf allen Meeren 1890 bis 1900 (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 19), Augsburg ²1994, S. 27. 61 Die im Juli 1892 im General-Anzeiger der Stadt Mannheim veröffentlichte Todesanzeige seines Vaters hatte Rudolph Wahl junior mit dem Zusatz nebst Frau und Kindern unterschrieben. Zu den Kindern ließen sich keine detaillierten Angaben ermitteln, da die betreffenden Jahrgänge der Geburtsregister der Stadt Köln beim Einsturz des dortigen Stadtarchivs im März 2009 zerstört wurden. Ich danke Marc-André Schnober vom Historischen Archiv der Stadt Köln für seine freundlich erteilten Auskünfte. 62 Vgl. Die Aktion. Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur 1 (1911), ND Stuttgart 1961, mit Einführung und Kommentar von Paul Raabe, S. 91; Franz Kurowski: Deutsche Offiziere in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft. Bewährung im neuen Beruf, Herford/Bonn 1967, S. 357. 63 Vgl. Greven’s Adreßbuch für die Stadtgemeinde Köln 1889, S. 291. 64 Vgl. Greven’s Adreßbuch für die Stadtgemeinde Köln 1891, S. 321.

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Abb. 2a und 2b: Erste und letzte Seite des Schreibens von Rudolph Wahl an Ernst Boehringer, 11. März 1888 (Friedrich-Engelhorn-Archiv e. V., Mannheim).

Eigentümer er war.65 In Köln wurde Rudolph Wahl junior erneut gesellschaftlich aktiv. So saß er im Vorstand des Ortsverbandes der Deutschen Kolonialgesellschaft.66 Auf Reichsebene setzte sich die Organisation damals für eine maritime Aufrüstung Deutschlands ein und rief zur Unterstützung ihrer diesbezüglichen propagandistischen Arbeit 1897 einen „Flottenwerbungsfonds“ ins Leben. Diesen unterstützte der Reeder Wahl zu Beginn des folgenden Jahres mit einer namhaften Spende in Höhe von 200 Mark.67 Als der Kölner Ortsverband in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Flottenverein Anfang Dezember 1899 eine „Marine-Ausstellung“ in den Räumen der Kölner Philharmonie veranstaltete, stellte Wahl dort Modelle seiner Hochseefrachter 65 Vgl. Greven’s Adreßbuch für die Stadtgemeinde Köln 1897, II. Theil, S. 421 und III. Theil, S. 176. In dem Gebäude wurde auch ein Teil der Wahl’schen Firmen untergebracht, die über einen Seiteneingang in der Christophstraße (37a) zugänglich waren. 66 Vgl. Deutsche Kolonialzeitung 15 (1898), Nr. 15 vom 14. April 1898, S. 131 und S. 134. 67 Vgl. Deutsche Kolonialzeitung 15 (1898), Nr. 8 vom 24. Februar 1898, S. 72 und Nr. 14 vom 7. April 1898, S. 125; vgl. auch Ulrich S. Soénius: Koloniale Begeisterung im Rheinland während des Kaiserreichs (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 37), Köln 1992, S. 71 Anm. 581.

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aus.68 Seinen exaltierten Lebensstil behielt Rudolph Wahl in Köln bei. Nach seinem Umzug in die Stadt schrieb er im März 1888 einem Freund in Mannheim: Mein Stall ist ganz in der Weise meines Hauses, ich habe z. Zt. 4 Pferde, […] sodaß ich 2, 3 und 4 spännig fahren könnte wenn ich nur die Zeit hätte. […] Meine Pferde sind hier & in der Umgegend schon so bekannt wie in weiland Mannheim & erzeugen durch ihre unverschämte Schnelligkeit in den hiesigen engen Straßen oftmals begreifliche Furcht.69

Im Ostasienhandel Schon Ende der 1880er Jahre setzte die Familie Wahl mit dem Frachter Independent einen ihrer beiden Seedampfer in ostasiatischen Gewässern ein.70 1890 operierte auch der Frachter Cosmopolit in diesem Seegebiet.71 Damals engagierten sich mehrere deutsche Reedereien wie die Hamburger „Deutsche Dampfschiffs-Reederei“, die Bremer Reederei „R. C. Rickmers“ oder die Reederei „Michael Jebsen“ aus Apenrade mit ihren Handelsflotten in der ostasiatischen Küstenschifffahrt. So waren dort 1895 insgesamt 45 deutsche Seedampfer beschäftigt.72 Einmal erfolgte der Einsatz der Wahl’schen Frachter in Fernost vor dem Hintergrund eines internationalen Konflikts. Nach Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Krieges wurden die Dampfer Cosmopolit und Independent im Herbst 1894 von dem in Wladiwostok ansässigen Handelshaus „Kunst & Albers“ gechartert, um mit den unter deutscher Flagge fahrenden Frachtern den Schiffsverkehr des russischen Pazifikhafens mit Japan und China aufrechtzuerhalten.73 In den Jahren 1891/92 wurde die Flotte der Wahls um zwei weitere Schiffe vergrößert. 1891 ließ man bei „Armstrong, Whitworth & Co.“ im englischen Newcastle upon Tyne den Frachter Continental erbauen.74 Ein Jahr später lief

68 Vgl. Deutsche Kolonialzeitung 16 (1899), Nr. 49 vom 7. Dezember 1899, Beilage „Die Deutsche Flotte“, S. 2. 69 FEA, Nachlass Dr. Friedrich Engelhorn, S 1/87 (Schreiben von Rudolph Wahl [junior] an Ernst Boehringer vom 11. März 1888). 70 GLA KA, 276 Zug. 1957–14, Mannheim II, Nr. 3620 (Ordentliche Generalversammlung der Rhederei Independent 1889 [31. Mai 1889]); vgl. auch Der Ostasiatische Lloyd 4 (1889/90), Nr. 19 vom 28. Februar 1890, S. 81 (Deutsche Kuestenfahrzeuge in ostasiatischen Gewaessern). 71 Vgl. Manuel Rigger: German Involvement in Xiamen after the First Opium War 1842– 1917, Thesis for: Master of Philosophy, Xiamen University, June 2015 (E-Book), S. 92. 72 Vgl. Ostasiatischer Verein Hamburg-Bremen e. V. (Hg.): Ostasiatischer Verein HamburgBremen zum 60jährigen Bestehen, Hamburg o. J. (1960), S. 113. 73 Der Ostasiatische Lloyd 9 (1894/95), Nr. 3 vom 19. Oktober 1894, S. 53. 74 Vgl. URL: www.tynebuiltships.co.uk/C-Ships/Continental1891.html (Stand: 26.3.2021).

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bei der Kieler Howaldtwerft der Dampfer Loyal vom Stapel.75 Beide Frachter wurden anfänglich von der in Rotterdam ansässigen Reederei „Neutraal“ betrieben. Drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, der im Juli 1892 verstarb76, erwarb Rudolph Wahl junior die Seedampfer Dante und Petrarch hinzu.77 Sie wurden zunächst ebenfalls von dem niederländischen Schifffahrtsunternehmen „Rederij Neutraal“ bereedert. Während der erst vier Jahre alte Dampfer Continental ebenfalls 1895 nach Japan verkauft wurde78, übertrug man die drei übrigen Schiffe des niederländischen Unternehmens 1895/96 an zwei in Köln ansässige Firmen: die „Rhederei Continental G. m. b. H.“ und die „Rhederei Ocean G. m. b. H.“79 Kurze Zeit später wurden die Schiffe von der Firma „Rudolph Wahl jr. & Co Rhederei & Handelsgesellschaft m. b. H.“ übernommen.80 Das Unternehmen wurde am 5. September 1895 gegründet und mit einem Stammkapital von 600.000 Mark ausgestattet.81 Heimathafen der Schiffe wurde Köln, was auch an deren Heck zu lesen war. 1896 vergrößerte Wahl seine Seeflotte um den Dampfer Hansa.82 Rudolph Wahl setzte auch diese Schiffe in ostasiatischen Gewässern ein, wo sie Mitte der 1890er Jahre von der in Hongkong ansässigen deutschen Firma „Siemssen & Co“ verchartert wurden.83 Teilweise waren seine Frachter mit dem Import von Kohle aus Japan nach China beschäftigt.84 Rudolph Wahls geschäftliche Betätigung in Fernost blieb nicht auf den maritimen Bereich beschränkt. 1895 hatte die chinesische Regierung dem Deutschen Reich in den sogenannten Vertragshäfen Tientsin und Hankow Flächen zur Anlage nationaler Niederlassungen überlassen. Mit der Erschließung des 75 Vgl. Ostersehlte, Howaldt (Anm. 49), S. 156 und S. 555. 76 General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung, 25. Juli 1892 (Todesanzeige). 77 Vgl. URL: www.tynebuiltships.co.uk/D-Ships/dante1877.html (Stand: 26.3.2021) sowie www.tynebuiltships.co.uk/P-Ships/petrarch1877.html (Stand: 26.3.2021). Die Schwesterschiffe Dante und Petrarch waren 1877 für die Londoner Reederei „MacAndrew & Co.“ bei „John Readhead & Co.“ im nordenglischen South Shields gebaut worden. Beide Schiffe behielten ihre bisherigen Namen. „Petrarch“ ist die englische Bezeichnung des italienischen Dichters Francesco Petrarca. 78 Vgl. Anm. 74. 79 Vgl. Handbuch für die deutsche Handelsmarine 1897, S. III 23 f., S. III 57 f. und S. III 73 f. 80 Vgl. Handbuch für die deutsche Handelsmarine 1898, S. III 25 f., S. III 61 f. und S. III 77 f. 81 Vgl. Handbuch der Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Deutschen Reiche, Berlin 21909, S. 600. 82 Vgl. Handbuch für die deutsche Handelsmarine 1897, S. III 41 f. Die Hansa wurde von der „Hanseatischen Dampfschiffs-Rhederei G. m. b. H.“ betrieben. 83 Der Ostasiatische Lloyd 10 (1895/96), Nr. 5 vom 1 November 1895, S. 98, Nr. 12 vom 20. Dezember 1895, S. 260, Nr. 23 vom 13. März 1896, S. 524 und Nr. 35 vom 5. Juni 1896, S. 815. Später traten auch die Firmen „Carlowitz & Co.“ und „Melchers & Co.“ als Agenten der Wahl’schen Dampfer in Erscheinung. 84 Der Ostasiatische Lloyd 12 (1897/98), Nr. 16 vom 14. Januar 1898, S. 317 und Nr. 25 vom 28. März 1898, S. 509 (jeweils „Frachtenbericht“ der Firma „Siemssen & Co.“).

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Geländes wurde die Deutsch-Asiatische Bank beauftragt, die dafür Terraingesellschaften gründete. Diese errichtete eine Uferbefestigung, legte Straßen an und sorgte für den Verkauf der Grundstücke. An der „Niederlassungsgesellschaft Tientsin“ war auch die Firma „Rudolph Wahl jr. & Co.“ beteiligt.85 Zudem richtete das Kölner Unternehmen in der Stadt eine Niederlassung ein.86

Forderung nach einem deutschen Handelsplatz Durch das Engagement seiner Schiffe in Ostasien erkannte Rudolph Wahl junior, dass es für deutsche Reeder wichtig war, dort über einen nationalen Stützpunkt zu verfügen. Schließlich wandte er sich am 26. Mai 1896 schriftlich an den Reichskanzler Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst87: Eure Durchlaucht wollen geneigtest gestatten, daß ich als Reeder und Correspondenzreeder der in chinesischen Gewässern beschäftigten deutschen Seedampfer Cosmopolit, Independent, Loyal, Dante und Petrarch, zu welchen sich demnächst noch der Dampfer Hansa gesellen wird, auf die zunehmende Bedeutung des von Deutschen in Ostasien vornehmlich in China betriebenen Schiffahrtsund Handelsgewerbes ehrerbietigst aufmerksam zu machen und Eure Durchlaucht geziemendst bitte, unseren Bestrebungen Unterstützung verleihen zu wollen. Nächst England beschäftigt Deutschland die größte Zahl von Schiffen in chinesischen Meeren. Deutsche Reederei- und Handelshäuser sind in allen bedeutenden Vertragshäfen dieses Landes etabliert und stehen durch den Umfang ihrer Geschäfte und die kommerzielle und soziale Stellung ihrer Leiter meist an der Spitze der sämtlichen der ansässigen europäischen Firmen. Deutsches Kapital ist an der Schiffahrt in den chinesischen Gewässern, an dem Handel mit diesen Ländern und auch an der daselbst entstehenden Industrie mit vielen Millionen interessiert […]. 85 Das Staatsarchiv – Sammlung der officiellen Actenstücke zur Geschichte der Gegenwart 61 (1898), S. 223; Hermann Schumacher: Die chinesischen Vertragshäfen, ihre wirtschaftliche Stellung und Bedeutung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 71 (1898) und 72 (1899), u. a. 71 (1898), S. 577–597, hier S. 586. Nach Abschluss der Bauarbeiten und dem Verkauf der Grundstücke wurde das Unternehmen 1904 liquidiert. 86 Vgl. Greven’s Adreßbuch für die Stadtgemeinde Köln 1898, II. Theil, S. 463. 87 Zit. nach Mechthild Leutner (Hg.): „Musterkolonie Kiautschou“: Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914 – eine Quellensammlung (Quellen zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen 1897 bis 1995), Berlin 1997, S. 90–93 (Dokument Nr. 10).

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Dem leuchtenden Beispiel, welches für seine Schiffahrts- und Handels-Interessen uns England in dem englischen Hongkong gegenübersteht, aber auch den französischen Erwerbungen im Süden, den russischen jüngsten Festsetzungen im Norden, den seit alters bestehenden holländischen und spanischen Niederlassungen auf den diesen Nationen gehörenden Inselgruppen, dem nun japanisch gewordenen Formosa mit den Pescadores-Inseln, dem portugiesischen Macao, alles Besitzungen, die in lebhaftem Schiffahrts- und Handelsverkehr mit China stehen, kann Deutschland bis jetzt leider einen, wenn auch noch so bescheidenen deutschen Stützpunkt für seinen Handel und seine Schiffahrt nicht an die Seite setzen. Dies ist aber dringend nötig, wenn anders nicht die deutsche Reederei und der deutsche Handel statt vorwärts zu schreiten, zurückgehen soll […]. Die jüngst in einigen chinesischen Vertragshäfen erlangten Konzessionen zur Anlage deutscher Stadtviertel auf den betreffenden chinesischen StadtTerritorien sind sicherlich als ein dankenswerter Erfolg für Deutschland zu bezeichnen und werden gute Früchte tragen; was uns aber hauptsächlich Not tut, ist der Besitz eines deutschen Territoriums im Süden, möglichst nahe bei Hongkong, um dahin einen Teil des Handels und der Schiffahrt von Hongkong, Kanton und dem ganzen Flussgebiet des Kanton-Flusses (Xijiang) ablenken zu können, um daselbst einen Stapelplatz für deutsche Industrie- und Handelsprodukte zu errichten, um eine deutsche Kohlenstation und vornehmlich, um deutsche Dock- und Schiffsreparaturen-Anstalten zu schaffen […]. Die gesamte deutsche Reederei und meines Erachtens auch die Marine wird es mit Freude begrüßen, wenn der Tag gekommen sein wird, am welchem die deutschen Schiffe in Ostasien aufhören werden, den englischen Werften tributpflichtig zu sein, und Euer Durchlaucht werden sich auf alle Zeiten den größten Dank aller beteiligten Kreise sichern, wenn Hochdieselben dem deutschen schiffahrtlichen Unternehmergeist das chinesische Wirkungsfeld durch Erwerb eines deutschen Handelsmittelpunkts dauernd erschließen. Mit der ergebensten Bitte, die Freiheit entschuldigen zu wollen, mit der ich gewagt habe, die Wünsche und Hoffnungen der beteiligten Kreise Euer Durchlaucht vorzutragen, verharre ich in vorzüglicher Hochachtung als Euer Durchlaucht gehorsamster gez. Rudolph Wahl jr. Als das Deutsche Reich schließlich im folgenden Jahr mit Tsingtau und der Kiautschoubucht ein Gebiet in China in Besitz nahm, war auch ein Schiff der Reederei Wahl daran beteiligt. Anlass zur Okkupation bot die Ermordung zweier in China tätigen deutschen Missionare Anfang November 1897. Nur

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wenige Tage später ankerte ein deutscher Flottenverband in der Kiautschou­ bucht und begann damit, Truppen an Land zu setzen. Zur Unterstützung der Kriegsschiffe hatte dessen Befehlshaber Konteradmiral Otto von Diederichs vor der Inbesitznahme zwei Frachter gechartert. Einer war der Wahl-Dampfer Loyal, der wenige Tage nach der Besetzung zur Verstärkung des Landungskorps Soldaten der in Hongkong liegenden SMS Irene in die Kiautschoubucht brachte.88 Der Kreuzer musste sich in der britischen Kronkolonie einem Werftaufenthalt unterziehen und konnte deshalb zunächst nicht an der Operation teilnehmen. In den kommenden Wochen wurde die Loyal für die Lebensmittel- und Kohleversorgung der dort für längere Zeit vor Anker liegenden Kriegsschiffe verwendet.89 Für diese Aufgabe wurden in der Folgezeit noch weitere Schiffe herangezogen. Mit dem Dampfer Petrarch befand sich unter ihnen ein weiterer Frachter von Rudolph Wahl.90

Bemühungen um eine Eisenbahnkonzession in China Schnell erkannte Rudolph Wahl die sich durch die Inbesitznahme der Bucht ergebenen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Am 20. November 1897 wurde der chinesischen Seite eine Liste mit Forderungen übergeben, die sie wegen der Ermordung der beiden Geistlichen als Sühnemaßnahmen zu erbringen hatten. Eine Forderung war der Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Tsingtau und Jinan durch ein deutsches Unternehmen.91 Noch am selben Tag sprach Rudolph Wahl persönlich beim Oberkommando der Marine in Berlin vor und bot an, für sechs Millionen Mark eine Eisenbahnverbindung zwischen Kiautschou und Peking zu bauen. Außerdem erklärte er sich bereit, ein Dock in Tsingtau zu errichten.92 Kaiser Wilhelm II., der umgehend davon unterrichtet wurde, stand Wahls Vorschlägen positiv gegenüber und wies Reichskanzler Hohenlohe-Schillingsfürst an, ihn zu empfangen. Doch das Auswärtige Amt meldete Bedenken an. Es hielt derartige Pläne zu einer Zeit, in der noch mit Protest 88 Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (im Folgenden: „BArch-MA“), RM 38/30, Bl. 39 u. 39 RS (Kommando SMS Arcona an das Kaiserliche Kommando der Kreuzerdivison vom 12. November 1897); Leutner, Musterkolonie (Anm. 87), S. 127 (Dokument Nr. 25). 89 BArch-MA, RM 3/6697, Bl. 70 RS (Diederichs an den Kommandierenden Admiral vom 30. November 1897); Der Ostasiatische Lloyd 12 (1897/98), Nr. 12 vom 17. Dezember 1897, S. 231 (Rundschau in Ostasien) und Nr. 13 vom 24. Dezember 1897, S. 249 (Briefe aus der Kiautschou-Bucht); Heiko Herold: Reichsgewalt bedeutet Seegewalt. Die Kreuzergeschwader der Kaiserlichen Marine als Instrument der deutschen Kolonial- und Weltpolitik 1885 bis 1901 (Beiträge zur Militärgeschichte 74), München 2013, S. 291. 90 Vgl. Ernst von Hesse-Wartegg: Schantung und Deutsch-China, Leipzig 1898, S. 3. 91 Vgl. Leutner, Musterkolonie (Anm. 87), S. 133 (Dokument Nr. 29). 92 Vgl. Karl Alexander von Müller (Hg.): Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit, Stuttgart/Berlin 1931, S. 418.

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anderer europäischer Großmächte wegen der deutschen Expansion zu rechnen war, für verfrüht.93 In einem Schreiben an den Reichskanzler erklärte der dortige Unterstaatssekretär Wolfram von Rotenhan: Es dürfte sich empfehlen, Herrn Wahl zu sagen, daß die Dinge vorläufig noch völlig in der Schwebe seien und daher erst später, sobald die politische Situation mehr geklärt, in eine Prüfung des Anerbietens eingetreten werden könne. Vorläufig könne ihm in seinem eigensten wie im allgemeinen deutschen Interesse nur d r i n g e n d geraten werden, seine Pläne aufs äußerste geheim zu halten, da ein vorzeitiges Hervortreten damit a l l e s verderben würde.94 In den folgenden Wochen verfolgte Wahl seine Bestrebungen zusammen mit dem Hamburger Handelshaus „Carlowitz & Co.“ weiter, das schon Erfahrungen mit der Finanzierung von Eisenbahnbauprojekten in China hatte.95 Im Januar 1898 traten Wahl und die Firma aus der Elbmetropole an den bekannten Eisenbahningenieur Alfred Gaedertz mit der Bitte heran, eine Erkundung des Landes vorzunehmen. Obwohl der Staatsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich China über die Verpachtung der Kiautschoubucht auf 99 Jahre und die Gewährung von Eisenbahn- und Bergwerkskonzessionen in der Provinz Schantung noch gar nicht unterzeichnet war, reiste der Fachmann umgehend nach Tsingtau, wo er bereits Ende März 1898 eintraf. Auf einer mehrwöchigen Reise erkundete Gaedertz das Gebiet zwischen Tsingtau und Jinan, nahm Vermessungen vor und sammelte Informationen über die dortige Wirtschaft.96 Als andere deutsche Unternehmen, darunter mehrere Großbanken, ebenfalls ein Interesse am Bau der Eisenbahnverbindung bekundeten, schlossen sich die Firmen „Rudolph Wahl jr. & Co.“ und „Carlowitz & Co.“ mit dem Hamburger Rechtsanwalt Dr. Julius Scharlach zum sogenannten „Schantung-Syndikat“ 93 Vgl. Arkadi S. Jerussalimski: Die Außenpolitik und die Diplomatie des deutschen Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 1954, S. 527 f.; Ekkehard Böhm: Überseehandel und Flottenbau. Hanseatische Kaufmannschaft und deutsche Seerüstung 1879–1902 (Studien zur modernen Geschichte 8), Düsseldorf 1972, S. 124. 94 Zit. nach Müller, Hohenlohe-Schillingsfürst (Anm. 92), S. 418. 95 Vgl. Vera Schmidt: Die deutsche Eisenbahnpolitik in Shantung 1898–1914. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Imperialismus in China (Veröffentlichungen des Ostasiatischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum 16), Wiesbaden 1976, S. 110; Maximilian Müller-Jabusch: Fünfzig Jahre Deutsch-Asiatische Bank 1890–1939, Berlin 1940 (1943), S. 129. Zur Firma „Carlowitz & Co.“ allgemein vgl. Ostasiatischer Verein HamburgBremen (Anm. 72), S. 186–190. 96 Vgl. Alfred Gaedertz: Reisen in Schantung, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 25 (1898), S. 379–410, hier vor allem S. 379.

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zusammen. Die Konkurrenz organisierte sich in drei anderen Interessengemeinschaften.97 Am 19. Juli 1898 lud das Auswärtige Amt, das auf eine Einigung Wert legte, Vertreter der vier Konsortien zu einer Aussprache nach Berlin. Doch dauerte es bis Ende 1898, bis sich die Interessenten auf die Bildung eines gemeinsamen Syndikats einigen konnten.98 In diesem sollten künftig jedoch die deutschen Großbanken dominierend sein. Am 14. Juni 1899 kam man schließlich zur Gründung der „Schantung-Eisenbahn-Gesellschaft“ im Haus der „Deutschen Disconto-Gesellschaft“ in Berlin zusammen. Unter den 135 Teilnehmern der Gründungsversammlung befand sich auch Rudolph Wahl junior.99 Die Aktiengesellschaft wurde mit dem beachtlichen Grund­ kapital von 54.000.000 Mark ausgestattet, von denen Wahl 1.224.000 Mark zeichnete. Die Geschicke des Unternehmens bestimmten allerdings andere Geschäftsleute. Bei seiner Betätigung in Übersee musste Rudolph Wahl aber auch Rückschläge hinnehmen. Ende Juli 1898 strandete der damals an das Handelsunternehmen „Kunst & Albers“ in Wladiwostok vercharterte Frachter Cosmopolit an der Südküste der Insel Sachalin.100 Wenige Monate später verließ der Dampfer Dante mit einer Ladung Kohle Anfang Dezember 1898 das japanische Moji mit dem Ziel Singapur. Dort kam das Schiff allerdings nicht an.101

Tod im Alter von nur 43 Jahren Da er sich offenbar auch die Geschäfte seiner Seeschiffe in Ostasien konzentrieren wollte, schied Rudolph Wahl junior 1896 aus dem Vorstand der „Rheinund Seeschifffahrts-Gesellschaft“ aus. Drei Jahre später wurde er im Aufsichtsrat der Firma tätig.102 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog Wahl nach Berlin,  97 Vgl. Schmidt, Eisenbahnpolitik (Anm. 95), S. 65.  98 Vgl. Böhm, Überseehandel (Anm. 93), S. 125.   99 Archiv der Deutschen Bank, Frankfurt am Main, S. 1154; Claudia Wendels: Die Schantung-Eisenbahn. Das Interesse der Finanzwelt an der deutschen Bahnlinie in Ostchina (Ortstermine. Historische Funde und Befunde aus der deutschen Provinz 27), Siegburg 2012, S. 38. Der Verfasser dankt Dr. Martin L. Müller vom Archiv der Deutschen Bank für seine freundlich erteilten Auskünfte. 100 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches NF 123 (1900), Abteilung 1, S. 150 f.; vgl. Ludmila Thomas: Ein deutsches Unternehmen im russischen Fernen Osten (1864–1921). Zwänge und Grenzen der Anpassung, in: Dittmar Dahlmann/Carmen Scheide (Hg.): „… das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor sich hat.“ Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Essen 1998, S. 611–634, hier S. 622. 101 Vgl. URL: www.tynebuiltships.co.uk/D-Ships/dante1877.html (Stand: 1.4.2021). 102 Vgl. Rhein- und Seeschiffahrts-Gesellschaft/Mannheimer DampfschleppschifffahrtsGesellschaft/Mannheimer Lagerhaus-Gesellschaft (Hg.): Denkschrift aus Anlaß der Vollendung des neuen gemeinsamen Verwaltungsgebäudes in Mannheim 1913, Düsseldorf o. J. (1913), S. 18 f.; vgl. auch Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften 1899/1900, Bd. 1, S. 1332.

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wo er ein Haus in der Rauchstraße südlich des Tiergartens bewohnte.103 Von der Reichshauptstadt aus leitete er zusammen mit seinem Vetter Rudolf Friedrich Wahl die inzwischen in Küstrin ansässige „Norddeutsche Kar­tof­fel­mehl­ fabrik“.104 Überraschend starb Rudolph Wahl fünf Wochen nach seinem 43. Geburtstag am 21. Juli 1901 während eines Erholungsaufenthalts im thüringischen Oberhof.105 Am 25. Juli 1901 wurde er in seiner Geburtsstadt Mannheim auf dem Hauptfriedhof beigesetzt.106 Seine letzte Ruhestätte fand er in der Familiengruft, die dort 1866 nach dem Tod seiner Mutter angelegt worden war.107 In einem Nachruf schrieb das Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft über den Verstorbenen: Wo es galt, deutscher Arbeit ein Absatzgebiet zu schaffen, deutsche schiffahrtliche und koloniale Interessen zu fördern, war Rudolph Wahl jr. als der Ersten einer immer zur Stelle.108 Hochseeschiffe von Rudolph Wahl senior und Rudolph Wahl junior Name

Baujahr Werft

Cosmopolit

1882

Independent

Continental

Raum­ gehalt

Vor­ besitzer

Reederei(en) Verbleib

Kieler 865 BRT Schiffswerft Georg Ho­waldt, Kiel (BauNr. 67)

----

Rhederei Cosmopolit AG

1883

Kieler 1348 BRT Schiffswerft Georg Ho­waldt, Kiel (BauNr. 99)

----

Rhederei 1904 nach Independent Japan verAG kauft, späterer Name „Kinki Maru“, 1906 gesunken

1891

Amstrong, 1089 BRT Whitworth & Co., ­Newcastle (BauNr. 578)

----

Rederij ­Neutraal

1898 an der Küste der Insel Sachalin gestrandet

1895 nach Japan verkauft, späterer Name „Maizuru Maru“, 1907 gesunken

103 Berliner Adressbuch 1901, S. 1725. 104 Vgl. 50 Jahre Betrieb Cüstrin (Anm. 2), S. 16. 105  Vgl. Jahrbuch der schiffbautechnischen Gesellschaft 3 (1902), S. 66. 106 General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung, 24. Juli 1901, Mittagblatt (Todesanzeige); Kölnische Zeitung, 23. Juli 1901, Abendausgabe, und 24. Juli 1901, Abendausgabe (Todesanzeigen). 107 Vgl. Buchdruckerei Karl Hügel G.m.b.H. (Hg.): Die Friedhöfe in Mannheim. Führer durch die christlichen und jüdischen Friedhöfe, Mannheim 1927, S. 77. 108 Jahrbuch der Schiffbautechnischen Gesellschaft 3 (1902), S. 66.

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Sebastian Parzer

Name

Baujahr Werft

Loyal

1892

Dante

Raum­ gehalt

Vor­ besitzer

Reederei(en) Verbleib

Howaldts1583 BRT werke, Kiel (BauNr. 246)

----

Rederij Neutraal/Rhederei Continental G.m.b.H/ Rudolph Wahl junior & Co G.m.b.H.

1877

John Read1695 BRT head & Co., South Shields (BauNr. 134)

Mac Andrew, London, 1895 angekauft

Rederij Neu- 1898 vertraal/Rhede- schollen rei Ocean G.m.b.H./ Rudolph Wahl & Co G.m.b.H.

Petrarch

1877

John Read1688 BRT head & Co., South Shields (BauNr. 135)

Mac Andrew, London, 1895 angekauft

Rederij Neutraal/Rhederei Ocean G.m.b.H./ Rudolph Wahl junior & Co G.m.b.H.

1906 in Hongkong durch Taifun zerstört

Hansa

1879

Turnbulll & 1903 BRT Son, Whitby (BauNr. 65)

J. Gray & Co, Whitby (Schiffsname: Kate), 1896 angekauft

Hanseatische Dampfschiffs-Rhederei G.m.b.H.

1905 an die DüsseldorfRatinger Röhrenkesselfabrik vorm. Dürr & Co verkauft, 1909 in Italien verschrottet

1910 nach Japan verkauft, späterer Name „Keiko Maru“, 1912 gesunken

Laura Oelbermann und der evangelische Kölner Verein der Frauenhilfe „unter dem Protektorate Ihrer Majestät der Kaiserin“ von Sabine Eichler Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die gebürtige Kölnerin Laura von Oelbermann (1846–1929) im großen Stil für wohltätige Zwecke in ihrer Heimatstadt zu engagieren. Sie betätigte sich vornehmlich aktiv innerhalb der protestantischen Gemeinschaft, was sie jedoch nicht davon abhielt, in Not geratene Personengruppen und Gemeinschaften unabhängig von der Konfession zu unterstützen. Ihr Name ist vielen nicht mehr geläufig, ihre Wohltaten sind jedoch nicht gänzlich in Vergessenheit geraten. Immerhin erinnert eine nach ihr benannte Promenade am Rhein an sie, wenn auch ohne jegliche Erklärung über ihr Lebenswerk. Zudem wurde ein Veranstaltungsraum beim evangelischen Kirchenverband in der Kartäusergasse nach ihr benannt. Ihr Name ist daher fast täglich auf dem digitalen Raumplan der dort stattfindenden Seminare zu finden. Ihren vielfachen Aktivitäten zum Wohle vieler Kölner, im Besonderen in der evangelischen Frauenhilfe, gebührt eine ausführlichere Betrachtung. Nur wenige wissen, warum ihre Handlungen dazu führten, dass ein Teilabschnitt an der Rheinpromenade, also in illustrer Lage, nach ihr benannt wurde. Bevor Laura Oelbermanns Lebensweg und ihre Aktivitäten beschrieben werden, geht die Untersuchung zunächst auf die Etablierung der protestantischen Gemeinde in Köln ein und behandelt die Frage, aus welchem Grund die evangelische Frauenhilfe entstand.

Die Etablierung von Protestanten in Köln Bis zum Einmarsch der französischen Truppen im Oktober 1794 konnten protestantische Einflüsse erfolgreich von den ausnahmslos katholischen ­Mitgliedern im Rat unter der Einflussnahme von Funktionsträgern der katholischen Kirche und der Zünfte unterbunden werden, indem man protestantischen Gläubigen die Bürgerrechte verweigerte.1 Der zunehmenden Ver­brei­ tung der Reformation begegneten die Mitglieder des Kölner Rates und der Kirchen ablehnend. Sie forcierten, dass die Reformatoren Adolf Clarenbach

1 Vgl. Astrid Küntzel: Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814 (Stadt und Gesellschaft 4), Köln/Weimar/Wien 2008, S. 28. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 205–260

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und Peter Fliesteden 1529 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.2 Im Laufe der Jahrhunderte siedelten sich vereinzelte protestantische Familien in Köln an, jedoch durften sie religiöse Handlungen im Kölner Stadtgebiet ebenso wenig ausüben wie ein Zunftgewerbe.3 Es blieben wenige Alternativen zur Erlangung von Einkommen. Sie konnten nur ein Gewerbe ohne Zunftzwang wie beispielsweise einen Großhandel betreiben, der wiederum eine gute Einnahmequelle bot, da dort Produkte in Massen abgesetzt wurden.4 Protestanten erhielten bis auf wenige Ausnahmen keinen Bürgerstatus, sondern den der Beisassen5 und wurden dementsprechend Ohnvereidete6, also nicht als Bürger vereidete, genannt. Wer ein Grundstück oder ein Haus erwerben wollte, konnte dies in der Regel nur unter Zuhilfenahme von Strohmännern verwirklichen.7 Das ambivalente Verhältnis der Kölner zu den Protestanten, die etwa ein Prozent der Einwohner Köln ausmachten, ist den Steuerlisten des Jahres 1784 zu entnehmen. 71 Haushalte zahlten den höchsten Steuersatz,8 davon waren 24 protestantischen Glaubens. Demnach trugen über ein Drittel derjenigen, denen man die Bürgerrechte verweigerte, zu einem erheblichen Maße zu den Einnahmen der Stadt bei. 1787 kam es zu einem Toleranzstreit, der schon einige Jahre zuvor begann.9 Ursache war, dass die Protestanten beantragten, ihre Andachten in Köln abhalten zu dürfen. Dies beschied der Rat im November 1787 mit knapper Mehrheit von 21 zu 18 Stimmen positiv. Da innerhalb der Stadtgesellschaft und von den Zünften heftiger Widerstand zu erwarten war, wurde am 28. November 1787 eine kaiserliche Genehmigung angefragt und von dort im Januar 1788 der Ratsbeschluss bestätigt. Im Antrag hatten die Protestanten unter anderem die ökonomischen Effekte in Bezug auf die Toleranz für die Stadt hervorgebracht. Das rief die Bürgerliche Deputatschaft auf den Plan, denn schon im Ratsbeschluss sahen sie einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Transfixbriefes von 1513. Dort war geregelt, dass bei wichtigen Entscheidungen das Gremium der 44er-Gaffelfreunde als Vertreter der Zünfte hätte hinzugezogen werden müssen. Die erneute Abstimmung 2 Vgl. Barbara Becker-Jákli: Die Protestanten in Köln: Die Entwicklung einer religiösen Minderheit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 75), Köln 1983, S. 5. 3 Vgl. ibid., S. 18. 4 Vgl. ibid. 5 Vgl. Küntzel, Fremde (Anm. 1), S. 68. 6 Ibid. 7 Vgl. ibid., S. 28. 8 Vgl. ibid. 9 Vgl. Barbara Becker-Jákli: „Fürchtet Gott, ehret den König“. Evangelisches Leben im linksrheinischen Köln 1850–1918 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 91), Köln 1988, S. 56.

Laura Oelbermann und der evangelische Kölner Verein der Frauenhilfe

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endete mit 69 zu 16 Stimmen gegen den Antrag der Protestanten. Das bedeutet, dass in Anwesenheit der 44er-Gaffelfreunde fünf Ratsmitglieder ihre Meinung änderten.10 Erneut wurde der Kaiser involviert, der am 24. Juni 1789 den Protestanten das Recht wieder bestätigte. Die Protestanten verzichteten jedoch am 3. August 1789 auf ihr Recht, da viele einen allgemeinen Aufstand befürchteten, wenn sie als unterzählige Glaubensgemeinschaft darauf beharrten.11 So fanden Andachten und Beerdigungen weiterhin ausschließlich außerhalb der Stadtmauer auf dem Geusen-Friedhof in Weyertal statt, welcher Ende des 16. Jahrhunderts von Protestanten angelegt wurde.12 Dem ist zu entnehmen, dass die Protes­ tanten tätliche Übergriffe von der bis dahin mehrheitlich katholischen Bevölkerung erwarteten und das Zusammenleben innerhalb der Stadt nicht zu gefährden beabsichtigten. Erwähnenswert ist, dass Köln im Mittelalter mit 40.000 Einwohnern die größte Stadt des Heiligen Römischen Reiches war. Aufgrund der Politik der ausschließlich katholischen Entscheidungsträger, letztendlich die nichtkatholische Konkurrenz fernzuhalten, hatte sich die Einwohnerzahl bis 1794 nur um 3733 Personen erhöht.13 Im Vergleich dazu hatten viele Städte wie Frankfurt, Hamburg und München ein größeres Bevölkerungswachstum zu verzeichnen.14 Die Politik der katholischen Funktionsträger behinderte somit eher eine innovative Entwicklung Kölns. Die endgültige Erlangung des gleichberechtigten Bürgertums erfolgte erst ab 1794 durch die französische Besatzungsmacht. Im Dekret des französischen Regierungskommissars François Joseph Rudler vom 12. November 179715 wurde verfügt: Nur Gott allein werdet ihr von euren Glaubens-Meinungen Rechenschaft zu geben haben, und eure bürgerlichen Rechte werden von diesen nicht abhangen jene Meinungen mögen sein wie sie wollen, so werden sie ohne Unterschied geduldet werden und gleichen Schutz genießen. Nur der allein würde sich schuldig machen, der durch ihren Missbrauch die Eintracht stören, und Zwietracht unter die Gesellschaft ausstreuen wollte.

10 Vgl. Gisela Mettele: Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association (Stadt und Bürgertum 10), München 1998, S. 50. 11 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 51. 12 Vgl. ibid. 13 Vgl. Mettele, Bürgertum (Anm. 10), S. 24. 14 Vgl. ibid. 15 Dekret über die Neuordnung der linksrheinischen Verwaltung vom 12.11.1797, online verfügbar unter URL: https://www.epoche-napoleon.net/quellen/1797/11/12/rudlerdekret.html (Stand: 7.4.2021).

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Den 650 reformierten und 160 lutherischen Protestanten wurde am 17. November 1794 das Recht auf Religionsfreiheit sowie das volle Bürgerrecht per Dekret vom Rat zugesprochen. Das heißt nicht, dass die Gleichberechtigung umgehend umgesetzt wurde. Vielmehr musste der Rat der Stadt an seine Pflichten gegenüber den Protestanten auf drastische Weise erinnert werden. Im Sommer 1797 suchte der amtierende Bürgermeister Nikolaus DuMont den Regierungskommissar Lazare Hoche in Frankfurt auf, um über Kontributionsangelegenheiten zu sprechen. Hoche hatte allerdings eine für ihn vorrangigere Angelegenheit mit DuMont zu klären. Er war ungehalten über das, was ihm über das Verhalten der Kölner Alteingesessenen gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften zugetragen wurde. So forderte er den Bürgermeister unmissverständlich auf, umgehend die Gleichbehandlung einzuführen, ansonsten würde er die in Köln lebenden Protestanten von der Kontributionspflicht befreien.16 Da weitere Sanktionen befürchtet wurden, erhielten fortan Protestanten und Juden auf Antrag den Bürgerstatus in Köln. Nach 1801 ließen sich einige protestantische Familien wie Deichmann, Schnitzler, Mallinckrodt, Joest, Scheibler, Langen, Rautenstrauch, Wendelstadt, vom Rath und Camp­ hausen in Köln nieder, die bald erfolgreich Bankhäuser und andere Handelsunternehmen führten. Im Juli 1802 bekam die protestantische Gemeinde im Rahmen der Säkularisation die Kirche St. Antonius einschließlich des Geländes zugesprochen, die Umbauzeit nach protestantischen Idealen begann bald. Zwischenzeitlich fand der Gottesdienst im von zwei Gemeindemitgliedern angemieteten Saal der ehemaligen Brauerzunft statt.17 Am 19. Mai 1805 konnte der erste öffentliche Gottesdienst in der nun benannten Antoniterkirche gefeiert werden.18 Ein weiterer Erfolg der Protestanten war deren Präsenz in der 1797 gegründeten Handelskammer. Der Bevölkerungsanteil der Protestanten war zu der Zeit auf 3,6 Prozent angestiegen, bis 1809 auf 19 Prozent. Ab 1810 gehörten bereits 25 Prozent der Mitglieder der Handelskammer dem protestantischen Glauben an. Die Notabeln der Handelskammer, alles angesehene Unternehmer, wählten die Mitglieder des Handelsgerichts. Der Anteil der Protestanten betrug 1812 bereits 35,6 Prozent.19 Es sollte noch andauern, bis die Zugehö-

16 Vgl. Justus Hashagen: Das Rheinland und die französische Herrschaft. Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, Bonn 1908, S. 135 f. 17 Vgl. Klaus Schmidt: Aufstieg einer Minderheit – 500 Jahre Protestanten in Köln (Kirchengeschichte regional 6), Berlin/Münster 2016, S. 44. 18 Vgl. Ulrich Helbach/Joachim Oepen: Kleine illustrierte Geschichte des Erzbistums Köln, Köln 2013, S. 103. 19 Vgl. Küntzel, Fremde (Anm. 1), S. 211.

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rigkeit zu einer Kirche nicht mehr die entscheidende Rolle im wirtschaftlichen Leben Kölns spielte, sondern Profession und Talent des Individuums.20 Mit der fortschreitenden Industrialisierung änderte sich Einiges. Köln wurde zum Verkehrsknotenpunkt im Westen des Deutschen Bundes, was durch die Verbreitung der Dampfschifffahrt und der Eisenbahn forciert wurde.21 1849 wohnten 94.789 Personen in Köln, 12,4 Prozent waren evangelisch. Das Kölner Stadtgebiet verdoppelte sich 1881 durch den Abriss der Stadtmauer und den Ankauf der Felder rund um die ehemalige Stadtmauer auf 1100 Hektar.22 1910 stieg die Einwohnerzahl auf 516.540, davon gehörten 18,6 Prozent der evangelischen Konfession an. Die Eingemeindung von 27 Orten einschließlich der rechtsrheinischen Gemeinden Deutz und Poll 1888 brachte eine zehnfache Vergrößerung des Stadtgebietes auf 11.000 Hektar mit sich.23 Nun gab es ausreichend Platz zur Ansiedelung von größeren Industriebetrieben, die sich bei Bedarf entwickeln und flächenmäßig vergrößern konnten. Dies veranlasste zukunftsorientierte und innovative Menschen, sich in Köln niederzulassen oder ihre Betriebe zu vergrößern. Es vergrößerten sich damit aber die Probleme in den Bezirken, in denen sich vorwiegend die ärmere Bevölkerung niederließ. Aus verschiedenen Gründen bedurften viele Menschen einer Unterstützung, was die städtische Verwaltung insgesamt nicht leisten konnte. Die jeweiligen Glaubensgemeinschaften, denen die Bedürftigen angehörten, konnten die Not nicht auffangen. Einzelne Spenden und Projekte sowie aktive Hilfe durch Gemeindemitglieder halfen, das Elend für Einzelne zu lindern.

Das soziale Engagement Kölner Protestantinnen Mit der fortschreitenden Industrialisierung kam es zur Gründung von Banken, Versicherungen und Gesellschaften, die z. B. den Eisenbahn- und den Schienentransportverkehr förderten. Die schnellere Beförderung von Gütern erweiterte den Kundenkreis um einen größeren Radius, ausgehend vom Standort des Herstellungsbetriebs.24 Die Entwicklung der Dampfmaschinen verhalf zu größeren Produktionszahlen. All das konnte denjenigen, die Ideen umsetzten und den Weitblick hatten, ihre Betriebe zu vergrößern oder sich als Kaufleute auf 20 Vgl. ibid., S. 212. 21 Vgl. Mettele, Bürgertum (Anm. 10), S. 23. 22 Vgl. Hiltrud Kier: Die Kölner Neustadt, 2 Bde. (Beiträge zu den Bau- und Kunstdenkmälern im Rheinland 23), Düsseldorf 1978, hier Bd. 1, S. 39. 23 Vgl. Arnold Stelzmann/Robert Frohn: Illustrierte Geschichte der Stadt Köln. Köln 101984, S. 298. 24 Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914, Paderborn u. a. 91995 (ND Stuttgart 2008), S. 15 f.

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die moderne Entwicklung einzustellen, zu einem großen Vermögen verhelfen. Das Wirtschaftsbürgertum entstand. Viele von ihnen spendeten und stifteten teilweise hohe Beträge für kulturelle und karitative Zwecke. Dazu gehörte unter anderem die Unterstützung kirchlicher Projekte ebenso wie Stiftungen, die in städtische oder kirchliche Trägerschaft übergingen.25 Das Stiftungsverhalten erreichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt des bürgerlichen Engagements.26 So gab es Schenkungen und Stiftungen, die für einzelne Bevölkerungsgruppen bestimmt waren. Exorbitant hohe Zuwendungen hatten ihren Ursprung unter anderem aufgrund großer persönlicher Verluste im Angedenken an Angehörige. Oft trugen die Institutionen, für die gestiftet wurde, die Namen der Verstorbenen. Zwei exemplarische Beispiele für große Stiftungen protestantischer Glaubensangehöriger in Köln sind das Marthastift und das Clara-Elisen-Stift. Das Marthastift konnte 1864 aufgrund besonderer Initiative durch Emilie Grüneberg öffnen.27 Dort konnten sittlich gefährdete Frauen Hilfe und eine Zufluchtsstätte erhalten.28 Bei dem ClaraElisen-Stift handelt es sich um ein noch heute existierendes Alten- und Pflegeheim, dessen Bau und Einrichtung vom Ehepaar Carl und Mathilde Joest 1870 im Angedenken an die beiden Töchter Clara und Elise vollständig finanziert wurde. Die beiden 14- und 19-jährigen Mädchen starben während einer Bildungsreise in Frankreich.29 Carl Joest entstammte einer Familie, die ihren Besitz durch das Betreiben von Zuckerfabriken vermehrte. Andere spendeten fünf- und sechsstellige zweckgebundene Summen als Anschubfinanzierung für spezielle Projekte wie für die „Zukunftsstätte für unverehelichte Mütter und ihre Kinder“30 und das „Christliche Kellnerheim“31. Frauen waren in der Mehrzahl die Initiatorinnen der Vereine und Anstalten. Zehn der 17 Vereine wurden von ihnen geleitet und mitfinanziert. Im Fokus standen Frauen und Kinder. Alle bereits genannten Institutionen sowie das Waisenhaus standen unter der Leitung von Männern, Frauen engagierten sich jedoch im jeweiligen Beirat, der eine Kontrollfunktion innehatte.32 Ein inter25 Vgl. Everhard Kleinertz: Bürgerliches Stiftungsverhalten während des 19. Jahrhunderts in Köln vor dem Hintergrund katholischer und liberaler Weltanschauung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 81 (2012), S. 199–250, hier S. 215. 26 Vgl. ibid. 27 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 348. 28 Der Ehemann von Emilie Grüneberg war der Chemiker und Arzt Dr. Hermann Grüneberg, Mitbegründer der späteren Chemischen Fabrik Kalk GmbH, vgl. Ulrich S. Soénius/Jürgen Wilhelm (Hg.): Kölner Personen-Lexikon, Köln 2008, S. 200. 29 Vgl. Chronik. 150 Jahre Clara-Elisen-Stift zu Köln, URL: https://www.clara-elisen-stiftkoeln.de/einrichtung/chronik (Stand: 7.4.2021). 30  Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 384 f. 31 Ibid., S. 396. 32 Vgl. ibid., S. 403.

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essanter Grund, den Bau des ersten evangelischen Krankenhauses (das heutige Evangelische Klinikum Köln Weyertal) zu unterstützen, bestand darin, dass dadurch ermöglicht wurde, evangelische Patienten in einem Krankenhaus zu behandeln, wo sowohl die Ärzte wie die Schwesternschaft der gleichen Konfession angehörten. In der Vergangenheit traten immer wieder Protestanten nach einem Krankenhausaufenthalt zum katholischen Glauben über. Die Erklärung dafür ist nachvollziehbar: Die Patienten wurden von Nonnen versorgt, die sowohl in den katholischen wie in den städtischen Hospitalen die Pflege ausübten. Während des Aufenthalts bekehrten sie die dankbaren Genesenden zum katholischen Glauben.33 1897 trieben zwei Frauen den Bau des evangelischen Krankenhauses voran. Die Witwe des Kaufmanns Florenz Kisker spendete 90.000 Mark und Laura Oelbermann im Angedenken an ihren Mann Emil Oelbermann 150.000 Mark.34 Laura Oelbermann gewährte das Geld nur unter der Auflage, innerhalb eines Jahres mit dem Bau zu beginnen. Damit gab sie dem bereits seit vier Jahren bestehenden Kuratorium sowohl die finanzielle Basis wie auch den Impuls, das Projekt baldmöglichst umzusetzen.35 Diese Beispiele zeigen, dass Frauen, die über finanzielle Mittel verfügten, sich nicht ausschließlich mit den Belangen der Oberschicht befassten, sondern Kenntnisse über die Probleme anderer Gesellschaftsschichten erhielten. Einige von ihnen wirkten aktiv, wie in der Kölner Frauenhilfe, mit.

Evangelisches Vereinsleben in Köln In Köln waren karitative Vereine zumeist konservativ geprägt. Das betraf auch die evangelischen Vereine. Die Mitglieder kamen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Der Bürgerverein sprach mehr die Mittelschicht an, der Arbeiterverein und die Jugendvereine sprachen eher das Kleinbürgertum und die Unterschichten an. Es gab keine soziale Abgrenzung der Vereine untereinander. Sie boten allen evangelischen Einwohnern, also desgleichen Frauen und Jugendlichen, die Möglichkeit, sich aktiv oder passiv durch Mitgliedsbeiträge zu engagieren.36 Das hieß jedoch nicht, dass sich der soziale Status innerhalb der Vereinsstrukturen veränderte. Die Vorstandsposten besetzten in der Regel Personen, die dem gehobenen Besitz- und Bildungsbürgertum angehörten. Oft engagierten sich in den Vorständen die Ehefrauen oder Töchter der einflussreichen Familien. Nicht unerheblich war, dass die Reputation der Vorstandsmitglieder, die zumeist als Firmen- oder Bankeigentümer sowie durch 33 Vgl. ibid., S. 356. 34 Vgl. ibid., S. 357. 35 Vgl. ibid. 36 Vgl. ibid., S. 478.

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­ itgliedschaften in Vorständen großer Verbände bzw. der Stadt­verord­ne­ M tenversammlung über einen hohen Status verfügten, zur Reputation des jeweiligen Vereins beitrug. Ebenso war nicht unerheblich, dass die jeweiligen familiären oder beruflichen Verbindungen der Vorstände den Verein finanziell förderten und Türen zu wichtigen Funktionsträgern und Gremien öffneten.37 Einige Mitglieder der evangelischen Altkölner Gemeinde waren in mehreren Vereinen im Vorstand oder Beirat aktiv oder gehörten vornehmlich als zahlendes Mitglied diesen Institutionen an. Dazu gehörte Emma Leybold (1856– 1935),38 Tochter des Kaufmanns Ernst Leybold, die im Vorstand der Herberge der Heimat, der Bahnhofmission, des Fürsorgevereins und später im Ausschuss der Frauenhilfe saß. Kaufmann Wilhelm Anheißer (1819–1895)39 war im Vorstand der Herberge der Heimat, des Gustav-Adolf-Vereins, des Israelvereins, der Rheinischen Lutherstiftung und der Pfarrwitwenkasse der Kreissynode, darüber hinaus im Kuratorium des Clara-Elisen-Stifts, Mitglied im Synodalvorstand und im Vorstand der Altkölner Gemeindevertretungen. Adolf Mees40, ebenfalls Kaufmann, brachte sich im Vorstand des syrischen Waisenhauses, des Afrikavereins, des Clara-Elisen-Stifts, im weiteren Ausschuss der Frauenhilfe, im Aufsichtsrat des Krankenhausvereins und als Mitglied der Gemeindevertretungen ein. Die Gattin des Kaufmanns Wilhelm von Recklinghausen, Bertha, geborene Blomeyer (1869–1916), gehörte dem Vorstand der Heimat- und, ebenso wie Laura Oelbermann, der Frauenhilfe und dem Notausschuss an.41 Das sind nur wenige exemplarische Beispiele aktiver Männer und Frauen, von denen das vielseitige persönliche Engagement bekannt ist.

Vereinigungen evangelischer Frauen in Köln Am 10. Februar 1897 wurde in der Generalversammlung die Satzung des Evangelischen Frauenvereins in seiner Grundfassung angenommen. Dieser entwickelte sich aus einem bereits 1842 gegründeten Verein, der sich zum Ziel gesetzt hatte, arme Wöchnerinnen mit Kinderwäsche und geeigneter Beköstigung während der Wochenzeit zu unterstützen.42 Er organisierte Pflegen durch die Kaiserswerther Schwestern. Außerdem konnten Kinder zeitweise in einem vom 37 Vgl. ibid. 38 Vgl. ibid., S. 479. 39 Vgl. ibid., S. 478. 40 Vgl. ibid., S. 479, Lebensdaten unbekannt. 41 Vgl. ibid., S. 480. 42 Evangelisches Gemeinde-Archiv Köln (im Folgenden: EGAK) 44–2: Satzungen des Evangelischen Frauenvereins in Köln, S. 5.

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Verein gegründeten Kinderheim vorübergehend versorgt werden, bis die Mütter wieder die Versorgung ihrer Kinder übernehmen konnten. In § 12 der Satzung wurde festgeschrieben, dass sich der Vorstand aus 13 großjährigen Frauen zusammensetzt.43 Am 20. April 1900 gründete sich die Ortsgruppe Cöln des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes.44 Als Ziel wurde analog § 2 der Bundessatzung festgesetzt, im Sinn des in Gottes Wort geoffenbarten Evangeliums, an der Lösung der Frauenfrage sowie an der religiössittlichen Erneuerung und an der wirtschaftlichen und sozialen Hebung des Volkslebens mitzuarbeiten. Laut § 3 konnte jede Frau evangelischen Bekenntnisses, ebenso Frauenvereine und Anstalten für Frauen auf evangelisch-christlicher Grundlage Mitglied werden.45 Die Einsatzgebiete waren demnach nicht spezifisch geregelt.

Die überörtliche Gründung der Evangelischen Frauenhilfe und die Arbeit der Diakonissen sowie der Gemeindeschwestern Unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Auguste Viktoria gründete sich 1899 in Berlin die Frauenhilfe als Verband. Diese entstand aus dem seit 1890 bestehenden Evangelischen Kirchlichen Hilfsverein und sollte Hilfe für Frauen von Frauen bieten.46 Vereinsgründungen begannen im 18. Jahrhundert. Der freiwillige Zusammenschluss Gleichgesinnter fand anfänglich vorwiegend aufgrund der Initiative von Angehörigen der bürgerlichen Oberschicht statt.47 Auf diese Weise konnte unabhängig von der Erwerbstätigkeit in vielen Bereichen wie der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur ebenso wie im allgemeinen sozialen Bereich oder innerhalb einer religiösen Gemeinschaft eigenen Interessen nachgegangen werden. Im Laufe der Zeit kam es zu einer zunehmenden Spezifizierung.48 In einer sich verweltlichenden Gesellschaft eines

43 Vgl. ibid., S. 11. 44 EGAK 44–2: Satzungen der Ortsgruppe Cöln des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes E. B., S. 1. 45 Vgl. ibid. 46 Vgl. Fritz Mybes: Die Anfänge der Evangelischen Frauenhilfe. Die Jahre 1899 bis 1932, in: Christine Busch (Hg.): 100 Jahre Evangelische Frauenhilfe in Deutschland. Einblicke in ihre Geschichte (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland 23), Düsseldorf 1999, S. 9–40, hier S. 23. 47 Vgl. Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: Hartmut Boockmann (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert: Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 1), Göttingen 1972, S. 1–44, hier S. 1. 48 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 293.

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paritätischen Staates verloren Kirchen zunehmend ihre Autonomie.49 Das heißt, die Bevölkerung entfernte sich von der Kirche. Die Zugehörigkeit und aktive Beteiligung am Kirchenleben wie der Besuch der Gottesdienste sowie andere Aktivitäten innerhalb der jeweiligen Gemeinde wurden nicht mehr als verpflichtend erachtet. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und ihren Status nicht weiterhin zu minimieren, mussten die Gemeinden innovativ werden. Dies geschah in Form von Vereinen als neuer Organisationsform, die sich schnell etablierten und die Amts- und Anstaltsstrukturen der traditionellen sozialen Macht der Kirche auflockerten.50 Gründungen von Vereinen, die speziell Mitglieder einer bestimmten Glaubensgemeinschaft betrafen, fanden nicht nur durch die Kirchen statt, sondern zunehmend durch Angehörige der jeweiligen Glaubensgemeinschaft selbst.51 Diese Ausführungen bestätigen sich mit der Entstehung unterschiedlicher protestantischer Vereine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die es sich zur Aufgabe machten, die Missionsarbeit mit sozialer Arbeit in unmittelbarer Nachbarschaft zu verknüpfen. Im ersten Drittel des 19. Jahrhundert erlangten diese bereits Anerkennung in der damaligen Gesellschaft. Um 1848 entstand der Begriff der „Inneren Mission“ als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Vereine.52 Hier sollte der Wille zur inneren Umkehr kurz und prägnant benannt werden. Es entwickelte sich eine nationale protestantische Erneuerungsbewegung, alternativ zu den revolutionären Stimmungen der Jahre 1848/49. Die Hinwendung zum Glauben wurde zum Motor für die Sozialarbeit. Es entstanden in den Ländern des Deutschen Bundes Obdachlosenasyle und Stadtmissionen zur Hilfe Bedürftiger. Den Anstoß zu dieser Entwicklung gab eine 1848 veröffentlichte Denkschrift an die deutsche Mission von Johann Hinrich Wichern, einem deutschen Theologen und Sozialpädagogen. Dieser hatte in Horn bei Hamburg das erste Rettungshaus für gefährdete Kinder eröffnet. Fortan agierte die Innere Mission auch transnational.53 Ende 1887 entwickelte sich aufgrund der Initiative des Prinzenpaares Wilhelm und Auguste Viktoria die Idee, dass regelmäßige statt einmaliger Sammlungen stattfinden sollten, um finanzielle Notstände in den Kirchengemeinden zu beheben. Während des Besuches eines Gottesdienstes in der Berliner Friedenskirche reifte bei dem Paar der Entschluss, aktiv notleidende kirchliche 49 Vgl. Nipperdey, Verein (Anm. 47), S. 4. 50 Vgl. ibid. 51 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 293. 52 Vgl. Alexandra Przyrembel: Der Missionar Johann Hinrich Wichern, die Sünde und das unabänderliche Elend der städtischen Unterschichten um 1850, in: WerkstattGeschichte 57 (2011), S. 53–67, hier S. 53 f. 53 Vgl. ibid., S. 54.

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Einrichtungen zu unterstützen. Es hatte sich längst bis in die höchsten Kreise herumgesprochen, welche Verhältnisse in den Berliner Mietskasernen, gleichermaßen wie in anderen Großstädten, herrschten und dass die dortigen Zustände nicht unbedingt den Bezug zur Kirche und der jeweiligen Gemeinde stärkten.54 Hinzu kam, dass ein einzelner Pfarrer oft 12.000 Gemeindemitglieder zu betreuen hatte. Es blieb den Geistlichen für seelsorgerische oder missionarische Arbeit neben den Gottesdiensten kaum Zeit.55 Generalquartiermeister Alfred von Waldersee, ein Freund des Prinzen, lud bereits eine Woche nach dem Gottesdienst in dessen Auftrag um die 50 Herren und einige Damen ein, um eine großangelegte Spendensammlung vorzube­ reiten. Ziel war es, die Berliner Stadtmission und ähnliche Institutionen zu unterstützen. Während dieser sogenannten „Waldersee-Versammlung“ am 28. November 1887 stellte Kronprinz Wilhelm fest, dass die Massen sich immer mehr der Kirche und dem Christentum entfremdeten, der Glaube dagegen der wirkliche Schutz für Thron, Altar und Vaterland sei.56 Daraus entwickelte sich die Auffassung, dass ein Verein zur Förderung der Berliner Stadtmission sowie für ähnliche Institutionen in ganz Preußen erforderlich sei.57 Das Engagement des Kronprinzenpaares stieß nicht nur auf Sympathie. Reichskanzler Otto von Bismarck ließ bei den christlich-sozialen Unternehmungen schwere Bedenken verlauten, weil Wilhelm an der Versammlung teilgenommen hatte, was von der Presse unterschiedlich aufgenommen wurde.58 Die einen witterten christlichorthodoxe Verschwörungen, andere politisch-reaktionäre, in deren Einfluss das Prinzenpaar geraten würde. Als Kronprinz Wilhelm versuchte, Bismarck eine Erklärung für seine Teilnahme zu geben, warnte dieser als entschiedener Gegner des geplanten Vereins den Thronfolger vor Bestrebungen, durch welche Cliquen und Personen sich der Protektion des Thronerben zu sichern suchten.59 Es kam zu einer ersten Machtprobe zwischen dem Kanzler und dem künftigen Kaiser und zu einer schweren Krise im Verhältnis zwischen den politischen Parteien, der Familie von Bismarck und den rechts von ihr stehenden religiös-reaktionären Kräften. Bismarck zweifelte an dem karitativen Gedanken eines solchen Vereins und befürchtete, dass sich die daran Beteiligten zu profilieren suchten, um die Richtung vorzugeben. Er warnte ebenso davor, es 54 Vgl. Brigitte Grell: Die „Kirchenjuste“: Kaiserin Auguste Victoria, Gründerin der Evangelischen Frauenhilfe, in: Busch (Hg.), 100 Jahre (Anm. 46), S. 1–8, hier S. 1. 55 Vgl. ibid., S. 3. 56 Zit. nach Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 11. 57 Vgl. ibid. 58 Vgl. ibid. 59 Zit. nach ibid., S. 12.

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werden Redner und Geistliche sein, vielleicht auch Damen, lauter Elemente, die zu einer politischen Wirksamkeit im Staate nur mit Vorsicht verwendbar sind und von deren Wohlverhalten und Tact ich die Meinung des Volkes über seinen künftigen König in keiner Weise abhängig wissen möchte.60 Trotz der harten Kritik wurde ein Komitee gebildet, welches das Ziel der Vereinsgründung verfolgte und eine Satzung formulierte. Für die kaiserliche Familie wurde das folgende Jahr 1888 zum Schicksalsjahr. Im Laufe des Jahres verstarben sowohl Kaiser Wilhelm I. und sein Nachfolger Friedrich III., so dass noch in diesem Jahr dessen Sohn als Kaiser Wilhelm II. den Thron bestieg. Bereits am 4. Mai 1888 hatte sich der Evangelisch-Kirchliche Hilfsverein (EKH) zur Bekämpfung der religiös-sittlichen Nothstände in den großen Städten unter dem Protektorat von Auguste Viktoria in der Hauptsache als Sammelverein gegründet.61 Diesem hatte Kaiser Friedrich III. noch per Kabinetts­ ordre entsprechen können.62 Die Richtlinien wurden unter der Federführung von Albert von Levetzow, Landesdirektor der Provinz Brandenburg,63 für die Berliner Stadtmission ausgearbeitet, kamen aber schließlich für alle innere Missionsarbeiten zum Tragen.64 Hier wurde festgeschrieben, dass sich der Verein als Arbeit der Kirche für die Kirche verstand. Dass er ein Garant für den Erhalt der Monarchie sei, stand nicht im Fokus.65 Zu Beginn war eines der wichtigsten Ziele des EKH die Unterstützung des Kirchenbaus, da es allein in Berlin einen großen Bedarf gab. 1890 gründete sich der Kirchenbau-Verein, der bis 1903 in Berlin und Umgebung 55 Kirchenbauten forcierte und den Kaiserin Auguste Viktoria so weit wie möglich unterstützte, da ihr die Optimierung der geistlichen Versorgung ein Herzensbedürfnis war.66 Dazu spendete sie Geld aus dem eigenen Vermögen.67 Einigen Kirchen waren Pfarr- und Gemeindehäuser angeschlossen, weitere Gotteshäuser waren im Bau.68 Spötter machten es sich leicht, die Kaiserin, eine gläubige Protestantin, als Kirchen-Juste und ihre drei Hofdamen als Halleluja-Tanten abzuwerten.69 Die vier Frauen zeigten wesentlich mehr Einsatz, als nur für das Wohl Anderer zu beten und mit gebeteten „Hallelujas“ zu hoffen, dass diese durch ein Wunder aus der Misere fanden. Tat60 Zit. nach ibid. 61 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 1. 62 Vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 13. 63 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 2. 64 Vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 13. 65 Vgl. ibid. 66 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 3. 67 Vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 13. 68 Vgl. ibid. 69 Ibid., S. 14.

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sächlich hatte die Kaiserin einen realistischen Blick auf die Tatsache, dass der Staat nicht in der Lage war, die Not der Massen zu lindern. Die Kirche dagegen hatte erkannt, dass die einzelnen Gemeinden schnell wuchsen und sie aktiv auf die bedrohlichen Lebensverhältnisse einwirken musste, da dies bei der Verkündigung des Evangeliums von jeher ein wesentlicher Bestandteil war. In einigen Gemeinden hatte die Ignoranz, mit der bedürftigen Kirchenangehörigen eine Unterstützung verweigert wurde, bereits Massenaustritte hervorgerufen.70 Auguste Viktoria übernahm das Amt der Schirmherrin des EKH und formulierte nach reiflicher Überlegung den Leitspruch für die Arbeit: Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.71 Der EKH entwickelte sich zu einem Dachverband anderer Vereine, welcher hauptsächlich die Funktion hatte, Spenden zu sammeln. Die Anonymität stellte sich im Laufe der Zeit als schwierig heraus, da der direkte Bezug fehlte. Vor allem in den Provinzen schwand das Vertrauen zum EKH. Es kam der Vorwurf auf, dass dem Verein „Wärme und Liebe“ fehle.72 Mit der Erlöserkirche in Berlin-Rummelsburg entstand 1890, von Auguste Viktoria forciert, der erste von 60 Kirchenbauten in Berlin, der Kirche, Pfarrhaus, Diakonissenstation, Gemeindehaus und Kindergarten auf einem Grundstück vereinigte. Diese Zusammenlegung wurde zum Vorbild für einige Neubauten auch außerhalb Berlins.73 1892 hörten die Funktionsträger von der Berliner Gemeinde St. Petri, dass es dort neben der nachbarschaftlichen Hilfe eine organisierte Krankenhilfe gab. Das erste Mal tauchte der Begriff Frauenhülfe auf.74 Die Frauenhilfe dort hatte die Aufgabe, „evangelische, freiwillige, geschulte und organisierte“ Diakoniearbeit zu leisten.75 Das heißt, Frauen aus der Gemeinde, motiviert und gefördert durch den dortigen Propst, betreuten als Laienkräfte Bedürftige in der gleichen Gemeinde. Bis dato hatte es kaum Bereiche gegeben, in denen Frauen aktiv in der Gemeinde mitarbeiteten. Der sich in einer Vertrauenskrise befindende EKH musste seine Aufgaben neu überdenken, fand in dem Beispiel einen neuen Ansatz und setzte diesen sukzessive um. Es gab bereits die Vaterländische Frauenhilfe, die es sich zur Aufgabe machte, die Not der Soldaten zu Kriegszeiten zu lindern. Diese Vereinigung hatte bis zu ihrem Tod 1890 unter dem Protektorat von Kaiserin Augusta gestanden, der Schwiegermutter Auguste Viktorias. Auguste Viktoria führte diesen Ehrenvorsitz weiter, veränderte gleichwohl die überkonfessionellen 70 Vgl. ibid., S. 15. 71 1 Kor 3,11; vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 15. 72 Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 15. 73 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 8. 74 Vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 14. 75 Ibid.

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Aktivitäten des Vereins in eine zivile Hilfe für die Bevölkerung. Sie begann, Frauen zum „Dienst der Liebe“ in den jeweiligen Gemeinden zu motivieren. Das Aufgabenfeld war groß und es gab viele Möglichkeiten, je nach Interesse und persönlichem Geschick aktiv zu werden, sei es in der Fürsorge für Kranke, Alte, Arbeitslose, Witwen, Waisen und verwahrloste Kinder, in Volksküchen, Säuglingsheimen, Kindergärten oder Horten für Mädchen oder Jungen.76 All dies sollte nun explizit in der evangelischen Kirche organisiert werden. Bei der Jahreshauptversammlung des EKH am 4. Mai 1897 wurde von Albert von Letzekow der neue Weg des direkten Handelns mit mehr „Wärme und Liebe“ im Jahresbericht vorgestellt. Kaiserin Auguste Viktoria sprach in ihrer Rede die evangelischen Frauen und Mädchen direkt an und richtete die direkte Bitte an diese, gemäß dem Evangelium praktische Arbeit zu leisten. Die Idee einer speziellen Frauenhilfe stand nun im Raum.77 Dafür musste eine Konzeption über den Verein, die Ausrichtung etc. erstellt werden. Dass dies seine Zeit brauchte, ergibt sich daraus, dass die Bildung des Vereins mehr als 18 Monate dauerte, denn erst am 1. Januar 1899 unterschrieb die Kaiserin die Gründungsurkunde.78 Im Handschreiben dazu verwies sie darauf, dass bereits die aktiven Frauen im überkonfessionellen Vaterländischen Frauenverein den Erfolg ihrer Arbeit bewiesen hätten. Sie wies darauf hin, was Frauen leisten könnten und dass in der evangelischen Kirche ein solcher Verein fehle, um die verantwortungsvolle Aufgabe der Kirche erfüllen zu können. Des Weiteren dankte sie dem EKH für die vorgetragenen Vorschläge, die zur Realisierung des Vereins führten.79 So stand neben dem EKH und dem Kirchenbauverein die Frauenhilfe als ihre persönliche Herzensangelegenheit und dritter evangelischer Verein unter ihrer Schirmherrschaft. Der Leitspruch der Frauenhilfe und der ab 1921 daraus entstandenen Schwesternschaft lautete: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 80 Die Betonung lag hier auf dem Wort „geringsten“.81 Dieser heute noch oft zitierte Bibelvers betont, dass die Fürsorge für die ärmsten Glaubensangehörigen ein Geschenk an den Herrn sei und diejenigen Gläubigen, die sich karitativ aktiv oder durch Spenden betätigen, sich somit seinen Segen erhoffen können. Dies war der Antrieb für all diejenigen, die sich im Rahmen ihrer persönlichen Möglichkeiten in der Frauenhilfe engagierten.

76 Vgl. ibid., S. 16. 77 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 4. 78 Vgl. ibid. 79 Vgl. ibid., S. 6. 80 Mt 25,40; vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 15. 81 Vgl. Mybes, Anfänge (Anm. 46), S. 15.

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Nun begannen die Geldsammlungen, damit Wäsche und Pflegemittel beschafft werden konnten, um damit unmittelbar die diakonische Arbeit der Hauspflege im „Dienst der Liebe“ zu gewährleisten.82 Freiwillige, in mehrtägigen Kursen geschulte Helferinnen unterstützten nun die dafür ausgebildeten Diakonissen in verschiedenen Arbeitsfeldern. Ein mehrwöchiges Praktikum in einem Krankenhaus sowie Wiederholungskurse waren verpflichtend, bevor die Frauen wieder in ihre Familien zurückkehrten, um dort ihren Dienst zu leisten. Sie konnten allerdings jederzeit abgerufen werden, wenn in einer Landarbeiterfamilie ein Notfall eintraf und sie gebraucht wurden.83 Für den ländlichen Bereich erfolgten mehrmonatige Kurse, in denen medizinische und hauswirtschaftliche Kenntnisse, die Zubereitung von Krankenkost sowie religiöse Grundlagen und Vertiefungen des Glaubens vermittelt wurden. In den folgenden 25 Jahren gründeten sich allein in Berlin 16 Hauspflegestationen, in denen bis zu 141 Diakonissen arbeiteten.84 Ein Teil der Frauen entschied sich, ihr Leben ganz der Pflege und dem protestantischen Glauben zu widmen. Sie wurden Diakonissen. Das erste Mutterhaus bestand bereits seit 1836 in Kaiserswerth, begründet von Theodor und Friederike Fliedner, als Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft. Die Bereitschaft von Frauen, Diakonissen zu werden, lag unter anderem daran, dass junge Frauen in ihrem Lebensumfeld mit der pflegerischen Arbeit der Diakonissen, sei es in der Familie oder in der eigenen Gemeinde, in Berührung gekommen waren. In der sozialen Arbeit im Verband einer evangelischen Institution konnten sie nun einer sinnvollen und anerkannten Arbeit nachkommen. Dieser Schritt verhinderte vor allem für Frauen aus der Mittelschicht den gesellschaftlichen Abstieg durch Nichtverheiratung. Viele Möglichkeiten der Berufswahl blieben unverheirateten Frauen ohnehin nicht, sie konnten in der Regel als Gouvernante, gegebenenfalls als Lehrerin arbeiten.85 Zum anderen spielte durchaus die eigene familiäre Situation eine Rolle: Statusunsichere Frauen, die mit einer Versorgung wie z. B. einer Aussteuer nicht rechnen konnten, mussten für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen. Einige der Frauen, die in ein Mutterhaus eintraten, waren Waisen. Andere hatten bereits eine Abstiegserfahrung und mehrfache Stellenwechsel hinter sich und waren arbeitslos, was aus Bewerbungen hervorgeht, die sich im Archiv des Diakonie82 Vgl. ibid., S. 16. 83 Vgl. Grell, Kirchenjuste (Anm. 54), S. 7. 84 Vgl. ibid., S. 6. 85 Vgl. Jutta Schmidt: „Die Frau hat ein Recht auf die Mitarbeit am Werke der Barmherzigkeit“, in: Ursula Röper (Hg.): Die Macht der Nächstenliebe: einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998 (Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin), Stuttgart/Berlin 1998 (ND 2007), S. 141.

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werks Kaiserswerth befinden.86 Für Frauen aus den unteren Schichten bedeutete der Entschluss, als Diakonisse zu arbeiten, eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Tracht mit dem einheitlichen Häubchen, die jede Diakonisse trug, ähnelte der der verheirateten Frauen des Bürgertums. Somit war sie als Ledige ebenfalls „unter die Haube gebracht“.87 Voraussetzung für alle war, dass sie als gläubige Protestantinnen „Selbstlosigkeit, Demut und Hingabe“ lebten.88 Das Durchschnittsalter der Frauen lag bei Eintritt ins Kaiserswerther Mutterhaus bei 22 bzw. 23 Jahren. Es ergab sich in den Mutterhäusern eine gute Mischung der sozialen Schichten, von denen die Frauen untereinander profitieren konnten. Die Leitungsebene erreichten eher Frauen aus Familien der gehobenen Kreise. Das zeigt sich daran, dass 1898 von 23 Vorsteherinnen alle einen Adelstitel hatten.89 Die Diakonissen, die zu einem Mutterhaus gehörten und für die Frauenhilfe arbeiteten, wurden durch einen Gestellungsvertrag zwischen dem Mutterhaus und dem jeweiligen örtlichen Frauenhilfeverein an diesen ausgeliehen. So blieb das Mutterhaus die Heimat. Für sie gab es strenge Regeln, an die sie sich zu halten hatten. Kontakte zu Männern, die nicht Schutzbefohlene waren, waren untersagt. Bei ihnen durften nur ihre Mütter, Schwestern und andere Diakonissen wohnen und das ausschließlich mit Erlaubnis der jeweiligen Vorsteherin. Andere weibliche und jegliche männliche Besucher waren „strengstens“ untersagt. Der gesellschaftliche Kontakt während der Mahlzeiten war ebenso reglementiert. Diese durften nur mit anderen Schwestern eingenommen werden. Es bestand die Planung, dass immer zwei Diakonissen an einem Ort eingesetzt werden sollten, was jedoch nicht immer eingehalten werden konnte.90 Daher ist anzunehmen, dass die strengen Regeln bezüglich der Gesellschaft bei den Mahlzeiten nicht immer in der Praxis gelebt wurden, da die Diakonissen mindestens hin und wieder mit anderen speisten, mit denen sie ihre Arbeit verrichteten. Der Tagesablauf war genau festgelegt. Um fünf Uhr standen sie auf, die Arbeitszeit belief sich auf zehn bis zwölf Stunden, die von den Mahlzeiten unterbrochen wurde. Dreimal täglich sollte Zeit für eine Andacht sein. Wer in der Krankenpflege arbeitete, sollte zudem jeden Tag 90 Minuten Handarbeiten erledigen. Sonntags war dann Freizeit, wenn die hauswirtschaftlichen und pflegerischen Aufgaben vollbracht waren.91 Nicht jede Diakonisse blieb dies bis zu ihrem Tod. Einige entschieden sich schon innerhalb der Probezeit, aus 86 Vgl. ibid. 87 Ibid. 88 Ibid. 89 Vgl. ibid. 90 Vgl. ibid. 91 Vgl. ibid.

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unterschiedlichen Gründen das Mutterhaus zu verlassen. Andere gingen, da in der eigenen Familie ein Pflegenotstand eintrat92, oder sie lernten den Mann fürs Leben kennen und heirateten.93 In Köln gab es zum Ende des 19. Jahrhunderts einige Einsatzorte, wo Kaiserswerther Schwestern die Zuständigkeit der Pflege oder die Anleitung zur Pflege durch Angehörige übernahmen. Vollzeitpflegen übernahmen die Diakonissen selten und nur über einen kurzen Zeitraum. Zusätzlich übernahmen sie Arbeiten zur Erhaltung der Ordnung und Reinlichkeit, wenn die Hausfrau erkrankte. Sie versorgten Wöchnerinnen und leiteten Kinderheime. Es war nicht ihre ursächliche Aufgabe, religiösen Zuspruch zu geben, wenn das von den Kranken und ihren Familien nicht gefordert wurde, auch wenn das durchaus erwartet wurde.94 Neben den Diakonissen übernahmen Gemeindeschwestern die generelle Betreuung von Armen und Bedürftigen. Im Laufe der Jahre betreuten sie den Mittagstisch für Kinder und die Ausgabe von Kleidung, Wäsche und Lebensmittel an um die 500 Familien jährlich. Für weibliche Jugendliche im Jungfrauenverein Edelweiß sowie für Arbeiterinnen und Dienstmädchen boten sie Nähkurse und Anleitungen zum Stricken, Nähen und Flicken an. Diakonissen und Gemeindeschwestern gehörten zwar getrennten Organisationen an, arbeiteten aber zumeist Hand in Hand in der 1899 gegründeten Frauenhilfe. Die Leitung der Diakonissen übernahm Martha Hövelmann.95

Der Kölner Verein der Frauenhilfe Da überall im Land Frauen in den evangelischen Gemeinden aktiv soziale Arbeit leisteten und sich in Frauenvereinen organisierten, lag es nahe, dass sich eine Frauenhilfe auch in Köln etablieren konnte. So gründete sich am 25. Juli 1900 der Kölner Verein der Frauenhilfe mit der zusätzlichen Bezeichnung unter dem Protektorate Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin.96 Die Begründungsversammlung fand in der Gemäldegalerie der zukünftigen Vorsitzenden Laura Oelbermann statt.97

92 Vgl. ibid., S. 143. 93 Diese Aussage bezieht sich auf die Urgroßmutter der Verfasserin. Sie entsagte dem Diakonissentum mit Anfang 30 Jahren, heiratete und bekam in einem kurzen Abstand vier Kinder. Diesen Schritt gingen nach Familienerzählungen zudem andere Frauen in ihrem Umfeld. 94 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 81 95 Vgl. ibid. Die Lebensdaten von Martha Hövelmann sind unbekannt. 96 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1902, S. 2. 97 Ibid., S. 1.

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Auffällig ist, dass im Bericht für das Geschäftsjahr 1902 im Vereinsnamen Frauenhilfe steht; 1903 allerdings die Titulierung Frauenhülfe, was sich erst im 1930 erschienenen Jahresbericht für 1929 wieder in Frauenhilfe veränderte.98 Bereits kurze Zeit nach der Gründung verfügte der Verein über ein eigenes Heim in der Großen Witschgasse, einer Straße in der südlichen Altstadt nahe der Trinitatiskirche, der zweiten evangelischen Kirche samt eigener Gemeinde innerhalb der ehemaligen Stadtmauer.99 Der Vorstand Bei der Gründung des Vereins bestand der Vorstand aus vier Mitgliedern, später vergrößerte sich dieser um zwei weitere Mitglieder. Den Vorsitz übernahm von Beginn an Laura Oelbermann, die Witwe des Kaufmanns Emil Oelbermann. Laura (von) Oelbermann, Vorsitzende und Förderin Laura Oelbermann wurde als Laura Nickel am 18. Mai 1846 in Köln geboren. Geschwister scheint es nicht gegeben zu haben. Erst 1844, also zwei Jahre vor Lauras Geburt, ist ihr Vater als Reinh.[ard] Nickel, Rentn.[er] nachweislich im Kölner Adressbuch verzeichnet, wohnhaft in der Straße Alte Mauer an Aposteln 6–8.100 Vorher schien er demnach nicht im Kölner Stadtgebiet gelebt zu haben.101 Es ist ebenfalls unklar, warum Reinhard Nickel dort als Rentner geführt wurde, zumal er noch recht jung war. Er soll als Bürstenwarenhändler am Alter Markt gewirkt haben.102 Bereits 1852, also nur sechs Jahre nach Lauras Geburt, starb er im 42. Lebensjahr. Möglicherweise war er zu Lauras Geburt schon krank und hatte sein Geschäft verkauft. Lauras Mutter Emilie, geborene Molineus (oder Molinus),103 wird erstmalig im Adressbuch von 1854

  98 EGAK 44–2–2: Jahresberichte der Jahre 1902 bis 1933.   99 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1902, S. 1. 100 Kölner Adress-Buch 1844, hg. von J. G. Heyn, Köln 1846, S. 224A. 101 EGAK 44–2–2: Frau Wwe. Laura von Oelbermann. Zeitungsartikel vom 4. Juni 1929 (Nachruf, Zeitung unbekannt). Anmerkung: Das letzte Adressbuch vor 1844 erschien 1841. Es gab schon hier und in den Ausgaben vor 1841 einen Eintrag eines: Nickel, Herm. Jos. Handl. in Schnupftabak u. Wachslichtern, Breitestr. 37. Inwieweit die Familien miteinander verwandt waren, ließ sich nicht abschließend recherchieren, um daraus zuverlässige Schlüsse zu ziehen. Die Straßen Alte Mauer an Aposteln, wo Reinhard Nickel als Rentner gemeldet war, und die Breite Straße lagen jedoch in unmittelbarer Nähe. 102 Vgl. Schmidt, Aufstieg (Anm. 17), S. 68. 103 Vgl. Klaus Schmidt: Laura von Oelbermann. Mäzenin und Stifterin (1846–1929), in: Internetportal Rheinische Geschichte, URL: http://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/laura-von-oelbermann/DE-2086/lido/5dc018ad4661e2.56554166 (Stand: 12.4.2021).

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Abb. 1: Erste Seite des Jahresberichts 1901 des Kölner Vereins der Frauenhilfe (EGAK 44–2–2).

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Abb. 2: Laura von Oelbermann (Portrait o. D., EGAK, ohne Bestandsnr., Foto: Eichler).

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als Nickel, Reinhold [sic!], Wwe., Rentnerin genannt.104. Interessant ist, dass bis 1849 ausschließlich der Name Nickel unter der oben genannten Adresse zu finden ist und 1850 zusätzlich erstmalig die Bezeichnung Kohlenlager auftaucht.105 Ab 1857 steht im Adressbuch des Lengfeld-Verlags im Kapitel Straßenverzeichnis unter Alte Mauer an Aposteln 6–8 ausschließlich: Saal, Direktor, der auch mit dem Kürzel E als Eigentümer ausgewiesen ist.106 Im Namensverzeichnis desselben Adressbuches ist wiederum Nickel Emilie, Rentn. unter der oben genannten Adresse verzeichnet,107 ebenso wie Saal Emil, stellv. General-Direktor der Concordia.108 Im Adressbuch des Greven-Verlags von 1857 ist Emilie Nickel jedoch sowohl im Straßenverzeichnis als auch im Namensverzeichnis noch unter der Adresse Alte Mauer an Aposteln 6–8 zu finden.109 1859 wohnte sie dann im Mauritiussteinweg 9, ohne dort Eigentümerin zu sein.110 Anhand der Eintragungen lässt sich vermuten, dass Mutter und Tochter Nickel finanziell nicht abgesichert waren und daher zunächst im Haus Alte Mauer an Aposteln 6–8 eine Gebäudeeinheit an einen Kohlenhändler vermietet werden musste, um es dann an Emil Saal zu verkaufen. Die Erfahrungen aus der Kindheit werden Lauras Verständnis für die Zwangslagen anderer geprägt haben. Laura Nickel hat wohl nie das Lyzeum der Evangelischen Kirchengemeinde besucht. In der 1927 erschienenen Jubiläumsschrift zum 100-jährigen Bestehen des Lyzeums ist in der möglichen Zeitspanne nur eine Absolventin namens Emilie Nickel verzeichnet.111 Es spricht viel dafür, dass Laura Oelbermann persönlich dem Lyzeum nicht nahestand, denn es gibt keinerlei Belege dafür, dass sie dem Lyzeum jemals etwas spendete, im Gegensatz zu einigen anderen Institutionen. 1861 wurde sie von einem Pfarrer namens Justus Bartelheim

104 Allgemeines Adreß-Buch (Wohnungs-Anzeiger) für Coeln 1854, Greven-Verlag Köln (Hg.), S. 256. 105 Allgemeines Adreß-Buch (Wohnungs-Anzeiger) für Cöln 1850, Greven-Verlag Köln (Hg.), S. 2. 106 Adreßbuch für Köln, Deutz und Mülheim sowie der Geschäftsfirmen der Umgebung Köln’s, hg. von E. Kluge, Verlag M. Lengfeld, Köln 1857, II. Theil, S. 3. 107 Ibid. I.  Theil, S. 124. 108 Ibid., I. Theil, S. 146. 109 Allgemeines Adreß-Buch (Wohnungs-Anzeiger) für Köln, Deutz und Mülheim am Rhein 1857, Greven Verlag Köln (Hg.), S. 3 u. S. 258. 110 Adreßbuch für Köln, Deutz und Mülheim a. Rh. sowie der Geschäftsfirmen der Umgegend von Köln, hg. von E. Kluge, Verlag M. Lengfeld, Köln 1859, I. Theil, S. 136; II. Theil, S. 85. 111 Vgl. Elisabeth Toelpe: Geschichte des Lyzeums (Oberlyzeum i. E.) der Evangelischen Kirchengemeinde Köln. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Anstalt 1827–1927, Köln 1927, S. 168.

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konfirmiert.112 Der enge Bezug zur evangelischen Gemeinde und vor allem ihr unerschütterlicher protestantischer Glauben werden dort ihren Ursprung gehabt haben. Ihr persönliches Leid in den späteren Jahren mit dem Verlust ihrer fünf Söhne und ihres Mannes wird ihr durch den Glauben die Kraft zu ihren sozialen Aktivitäten gegeben haben. Bei welchem Anlass sie ihren Mann Emil Oelbermann in Köln kennen lernte, ist nicht belegt. Er stammte aus Lennep und wanderte in den 1850er Jahren nach Amerika aus. In New York und Chicago hatte er es mit kaufmännischem Talent zu Teilhaberschaften in verschiedenen Textilfirmen gebracht und ein immenses Vermögen aufgebaut. 1860 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er und Laura heirateten, und sie folgte ihm nach Amerika, wo sie zwischen 1869 und 1877 fünf Söhne gebar. Zwei von ihnen überlebten das erste Lebensjahr nicht.113 Die gebürtige Kölnerin konnte ihre Wurzeln nie vergessen, sie soll derart die Sehnsucht nach ihrer Geburtsstadt geplagt haben, dass die Familie 1878 ihren Lebensmittelpunkt wieder nach Köln verlagerte.114 Die Geschäftsbeziehungen nach Amerika hielten weiterhin an. Übergangsweise fand die Familie eine Unterkunft in einem Kölner Hotel für gehobene Ansprüche, bis sich eine großräumige Wohnung fand, die 28 Zimmer gehabt haben soll. Emil Oelbermann reiste seit dem Umzug mehrmals im Jahr in die USA, da er seine dortigen Geschäfte beibehielt.115 Als mit dem Abriss der Stadtmauer und der Anlegung der Kölner Ringe dort Parzellen zum Verkauf angeboten wurden, kaufte Emil Oelbermann Ende der 1880er Jahre ein großes Eckgrundstück mit der Adresse Hohenstaufenring 57. Er ließ dort eine prachtvolle Residenz im Neorenaissance-Stil erbauen und mit erlesenen Einbauten und Einrichtungsgegenständen ausstatten.116 Ein abgeschlossener Park wurde unmittelbar am neuen Wohnsitz angelegt. Weitere Grundstücke erwarb Emil Oelbermann im sich entwickelnden Neubaugebiet vor der ehemaligen Stadtmauer, um dort Häuser mit mehreren Wohneinheiten errichten zu lassen,

112 EGAK 44–2–2: Frau Wwe. Laura von Oelbermann. (Nachruf, Zeitschrift unbekannt) vom 4. Juni 1929. 113 EGAK 44–2–2: Frau Wwe. Laura von Oelbermann (Nachruf), in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 3.Juni 1929. Einige Artikel und Aufsätze nennen nur drei Söhne, nämlich Emil (1872–1901), Alfred (1874–1904) und Harry (1877–1897) Die ebenfalls in Amerika geborenen und früh verstorbenen erstgeborenen Söhne Emil (1869–1870) und Paul (1871) waren wahrscheinlich nur sehr wenigen Zeitgenossen bekannt. 114 Vgl. Anne Sass: Wohlstand und Wohlfahrt. Laura Oelbermann zwischen protestantischer Hilfsarbeit und Luxusleben, in: Kölner Frauengeschichtsverein (Hg.): „10 Uhr pünktlich Gürzenich“. Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln – zur Geschichte der Organisationen und Vereine, Münster 1995, S. 109–114, hier S. 109. 115 Vgl. ibid. 116 Vgl. Math. Lempertz’sche Kunstversteigerung, Köln 1929, Kataloge 293 und 294.

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die er vermietete.117 Während ihr Mann weiterhin seine Geschäfte im In- und Ausland betrieb, bewährte sich Laura Oelbermann als gut wirtschaftende Hausfrau, die ihre Bediensteten im Griff hatte. Sowohl in Übersee durch die Firmenanteile wie später in Köln mehrte Emil Oelbermann derweil seinen Besitz durch aktive Beteiligungen an verschiedenen Gründungen im stetig expandierenden Versicherungsgeschäft.118 Das Ehepaar Oelbermann zählte zu den reichsten Familien Kölns. Die Stadtgesellschaft nahm von den beiden bald eine Spendentätigkeit im größeren Stil wahr.119 Spätestens seit dem Tod ihres Mannes 1897 entwickelte sich Laura Oelbermann zu einer der einflussreichsten Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft Kölns, denn ihre Spenden waren eine wichtige Entlastung für die Armenkassen, da sie eine Vielzahl von Armeneinrichtungen unterstützte. Oberbürgermeister Wilhelm Becker informierte in der Ratssitzung am 16. Dezember 1897, dass sie in Angedenken an ihren Mann neben den bereits oben erwähnten 150.000 Mark für das Krankenhaus Weyertal und 42.000 Mark für das deutsche Hospital in New York weitere Spenden tätigte mit der Maßgabe, dass jeder ohne Unterschied der Confession spendete: Verschiedene Kirchen in Köln erhielten zusammen 4000 Mark, die deutsche Kirche in Jerusalem 6000 Mark. Das evangelische Kinderheim erhielt 3500 Mark, der frisch gegründete Verein weiblicher Angestellte 1000 Mark, weitere 1000 Mark gingen an den Gefängnisverein, 4000 Mark an die Fürsorge für Blinde, 10.000 Mark an das Wöchnerinnen-Asyl, 10.000 Mark an den Verein Ferienkolonien und 2000 Mark an den evangelischen Frauenverein. Der Wohlfahrtsverein wurde mit 3.000 Mark bedacht, der städtische Kinderhort im südlichen Stadtteil mit 8000 Mark sowie die ebenfalls städtische Armenverwaltung mit 5000 Mark als Weihnachtsgabe für bedürftige Kinder Kölns. Die Ratsversammlung musste nur über die Annahme der insgesamt 13.000 Mark für die städtischen Institutionen entscheiden, die anderen waren eher nachrichtlich genannt. Die Spenden wurden unter Ausdruck des tiefgefühlten Dankes angenommen. Die anderen Institutionen mussten die Annahme der Spenden durch ihnen übergeordnete Institutionen selbst einholen.120 Oelbermanns Spendenaktivitäten, über die im Rat beschieden werden mussten, wiederholten sich jährlich. Ende 1901 wurden z. B. von Arbeitslosigkeit Bedrohte zur Linderung der größten Not mit insge117 Oelbermann ist als Eigentümer mehrerer Häuser in den Adressbüchern der Stadt Köln ab der 1880er Jahre genannt. Nach seinem Tod änderten sich die Einträge geringfügig, seine Witwe wurde nun erwähnt. 118 Vgl. Soénius/Wilhelm, Kölner Personen-Lexikon (Anm. 28), S. 401 f. 119 EGAK 44–2–2: Frau Wwe. Laura von Oelbermann (Nachruf, Zeitschrift unbekannt) vom 4. Juni 1929; vgl. auch Verhandlungen des Rates der Stadt Köln, 37. Sitzung vom 16. Dezember 1897, S. 37. 120 Verhandlungen des Rates der Stadt Köln, 37. Sitzung vom 16. Dezember 1897, S. 37.

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samt 10.000 Mark bedacht.121 Im gleichen Jahr musste Laura Oelbermann die Nachricht verkraften, dass ihr Sohn Emil in Nervi bei Genua verstorben war. Von ihren Söhnen lebte nun nur noch Alfred, der ihr wegen seines unsteten Lebenswandels Sorgen bereitete. Um ihn für eine sinnvolle Aufgabe zu interessieren, kaufte sie ihm 1901 das Schloss Hagerhof bei Honnef, mit rund 500 Morgen Land, zu einen Preis von 625.000 Mark. Die Honnefer Volkszeitung berichtete, dass die neue Besitzerin und ihr Sohn ab Februar 1902 den Besitz als Nachfolger antreten würden.122 Die Initiative Laura Oelbermanns für den Kauf rührte daher, dass sie die Hoffnung hegte, ihren Sohn von schlechter Gesellschaft in den Städten fernzuhalten. Die Verantwortung als Gutsbesitzer sollte ihn sein unstetes, sprich anrüchiges Leben vergessen lassen. Die Mutter veranlasste überdies ihren mittlerweile 27-jährigen Sohn, auf Brautschau zu gehen. Er freite erfolgreich um die 19-jährige Frances Josefine Simrock, genannt Josie, der Tochter eines Bonner Arztes. Am 12. November 1902 fand die standesamtliche, einen Tag später die kirchliche Hochzeit in Honnef statt. Anlässlich der Hochzeit erhielt der Ortspfarrer eine Gabe von 500 Mark zur Verteilung an Bedürftige. Laura Oelbermann beschenkte die Eheleute mit einer kompletten prunkvollen Ausstattung des Hauses einschließlich der modernsten Sanitäreinrichtungen, analog ihres Kölner Palais. Zusätzlich wurde eine Reitanlage mit Remise und Nebengebäuden in Auftrag gegeben, deren Fertigstellung Alfred nicht mehr erlebte. Er verstarb im Juni 1904 in einem Konstanzer Sanatorium im Alter von 29 Jahren an der „Kavalierskrankheit“.123 Seine Frau Josie wurde somit nach nur kurzer Ehe Witwe. Die Ehe blieb kinderlos. Sie starb laut Sterbeurkunde im März 1908 im Alter von nur 25 Jahren nach schwerer Krankheit an Lungenund Gehirnentzündung. Bereits 1906 hatte die junge Witwe ein Testament aufgesetzt, in dem sie Legate an die Bediensteten verteilte. Ihre Eltern und ihre Schwester wurden Universalerben. Die Hälfte des Vermögens ging an Laura Oelbermann. Laut testamentarischer Verpflichtung war die Alfred-und-JosieOelbermann-Stiftung zu gründen, mit der Ausrichtung als evangelische Wohltätigkeitsstiftung. Sie verfügte ferner: Meine Mama, Frau Witwe Oelbermann in Cöln soll die Hallen-Uhr und das Oelgemälde Str(i)ckende Mädchen erhalten […].124 Die Titulierung ihrer Schwiegermutter lässt den Schluss zu, dass die beiden Frauen ein inniges Verhältnis hatten. Alfreds Lebensstil, die Brautschau und die Erbschaft vom Vater, die 105 Millionen Goldmark betragen haben soll, blieb der Umgebung nicht verborgen. 121 Verhandlungen des Rates der Stadt Köln, 31 Sitzung vom 7. November 1901, S. 345. 122 Vgl. Hagen Blankerts: Der Hagerhof und seine Familien, Rheinbreitbach 2010, S. 52. 123 Ibid., S. 66. 124 Zit. nach ibid., S. 72.

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Seine übermäßige Verschwendungssucht wurde noch Jahre später in verschiedenen Schriften als Randnotiz, teilweise prosaisch und vermutlich dramatisierend übertrieben aufbereitet, thematisiert.125 Laura Oelbermann muss über den Lebenswandel ihrer drei Söhne informiert gewesen sein, denn alle drei sollen ein unstetes „Kavaliersleben“ geführt haben und an einer daraus resultierenden nicht heilbaren Geschlechtskrankheit gestorben sein.126 Sie hatte nun keine direkten Nachkommen mehr. 1906 nahm sie wieder die deutsche Staatsbürgerschaft an. Warum sie so lange damit wartete, ließ sich nicht ermitteln. Ein denkbarer Grund könnte in den weiterhin bestehenden Geschäftsverbindungen in Amerika gelegen haben, für die sie nach dem Tod ihres Mannes mehrmals dorthin reiste. Wie Laura Oelbermann über die Zuteilung ihrer Spenden entschied, ist nicht belegt. Möglicherweise wurden Anfragen oder Gesuche durch die Vereinsvorsitzenden oder Institutsverantwortlichen direkt an sie herangetragen. Die strenggläubig protestantische Witwe stand 1911 an dritter Stelle der reichsten Bürgerinnen und Bürger der Stadt.127 Der Schluss liegt nahe, dass sie schon in den Vorjahren in der Liste der reichsten Bürgerinnen und Bürger einen oberen Platz innehatte. Das hielt sie nicht davon ab, das Elend der Bedürftigen zu erkennen und ihren Beitrag zu leisten, Verbesserungen herbeizuführen. Die oben erwähnte Großspende für das Krankenhaus Weyertal ist nur ein Beispiel dafür. Die Stifterin trat unter anderem an die Öffentlichkeit, als sich am 25. Juli 1900 die „Frauenhilfe des Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereins in Köln“ aufgrund des Erlasses Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Auguste Viktoria vom 4. Mai 1897 gründete.128 Im Juni 1902 erhielt die Vorsitzende während eines Empfangs von der Kaiserin ein Lob über die ausgezeichnete Arbeit des Vereins. Die Kaiserin hatte Kenntnis darüber erhalten, dass Laura Oelbermann während des letzten harten Winters neben anderen Vereinsmitgliedern nicht nur reichlich spendete, sondern aktiv Hilfe für die Bedürftigen leistete.129 In Angedenken an ihren 1904 verstorbenen Sohn Alfred überwies Laura Oelbermann 297.000 Mark dem Emil-Oelbermann-Fond, um evangelische Institutionen zu unterstützen. Davon erhielt die Kölner Frauenhilfe zur unentgeltlichen Pflege männlicher Kranker einen Betrag von 250.000 Mark und die 125 Vgl. ibid., S. 67. 126 Ibid., S. 66. 127 Vgl. Gabriele Oepen-Domschky: Kölner Wirtschaftsbürger im Deutschen Kaiserreich. Eugen Langen, Ludwig Stollwerck, Arnold von Guilleaume und Simon Alfred von Oppenheim (Schriften zur Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsgeschichte 43), Köln 2003, S. 370. 128 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. Satzung vom 25. Juli 1900. 129 EGAK 44–2–2: Jahresbericht Kölner Verein der Frauenhilfe 1902, S. 2.

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sich im Bau befindliche evangelische Lutherkirche 25.000 Mark zur Ausschmückung der Kirche. 130 Bei der letztgenannten Spende behielt sie sich das Verfügungsrecht über das Kapital vor sowie die direkte Zahlung der einzelnen Gegenstände. Dies hatte den Vorteil, dass für die Annahme der Spende keine landesherrliche Genehmigung eingeholt werden musste.131 Weitere Nutznießer der verbleibenden 22.000 Mark waren die Diakoniekasse, die Krankenkasse des Arbeitervereins sowie eine Kinderbewahrschule in einem nördlichen Stadtteil mit je 5000 Mark.132 Das Vorasyl, ein Übergangsheim für gestrauchelte Mädchen in Lindenthal, und besonders bedürftige Kinder wurden mit je 1000 Mark bedacht.133 Getreu dem Motto „Tue Gutes und rede drüber“ berichteten 1905 drei Zeitungen über die Gesamtspende und benannten die einzelnen Teilspenden und ihre Empfänger.134 Den Lesern wurde dargelegt, dass der genannte Betrag für die Frauenhilfe dem Verein nun ermöglichte, aus den Erträgen des Kapitals ein Pendant zur bereits seit Jahren bestehenden Krankenpflege für weibliche Kranke zu gründen und zu finanzieren. 1906 erhielt die Frauenhilfe von Laura Oelbermann in Angedenken an die Silberhochzeit des Kaiserpaares eine Spende über 20.000 Mark. Die Summe sollte nicht „kapitalisiert“, sondern für außerordentliche Notstände nach und nach verwendet werden. Kaiser Wilhelm II. erhob Laura Oelbermann am 15. August 1918 als eine der letzten Personen in den Adelsstand.135 Sie hatte bei der Gründung und während der nun schon 17 Jahre andauernden Tätigkeit als Vorsitzende der Frauenhilfe hohe Summen für die Kriegsfürsorge gespendet. Sie führte zwar von nun an den Namenszusatz von, soll aber wenig Wert auf den Adelstitel gelegt haben. Zuvor hatte sie bereits zahlreiche hohe Auszeichnungen erhalten, die bezeugen, wo sich Laura von Oelbermann überall engagierte.136 1920 wurde sie zusätzlich zur Vorsitzenden des Rheinischen Frauenbunds gewählt. Dieser fungierte als Verband für einige örtliche Frauenhilfe-Vereine im Rheinland.

130 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. 131 EGAK 71/5–1,3: Kirchenbau auf dem Wormserplatz. -Lutherkirche-. 1904–1906 Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Presbyteriums am 7. Juli 1906, S. 180. 132 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. 133 Kölnischer Stadtanzeiger: Der Verein der Kölner Frauenhilfe, Abendausgabe vom 9.4.1905. 134 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. Diverse Zeitungsausschnitte ohne Nennung der Zeitung und Erscheinungsdatum. 135 Vgl. Josef Abt/Johannes Ralf Beines/Celia Körber-Leupold: Melaten. Kölner Gräber und Geschichte, Köln 1997, S. 105 f. 136 Vgl. ibid.

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In ihrem notariell beglaubigten Testament vom 25. Januar 1928 verfügte sie, dass ihr Vermögen für die Gründung der Emil-und-Laura-Oelbermann-Stiftung mit Sitz in Köln, die der evangelischen Wohltätigkeit dienen soll, verwendet werden soll.137 Die Stiftung sei nach der staatlichen Genehmigung Universalerbin, so dass gesetzliche Erben ausgeschlossen waren. Sie legte den Verwendungszweck in vier Punkten fest.138 Laut erstem Verfügungspunkt sollte das Hausgrundstück samt Gartenanlage erhalten bleiben und als Aufenthaltsort für erwerbstätige Mädchen sowie als Versammlungsort für Jungfrauenvereine zur Verfügung stehen. Als zweites sollten 80.000 Mark getrennt verzinslich angelegt werden, damit die Zinsen zur jährlichen Unterstützung von Hinterbliebenen evangelischer Kölner Pfarrer abgerufen werden konnten. Drittens hatten alle Einrichtungsgegenstände und die Kunstsammlung versteigert zu werden, soweit es nicht anderweitige Bestimmungen für einzelne Gegenstände gab. Der Erlös sollte der baulichen Erweiterung zum obengenannten Zweck dienen. Im vierten Punkt wurde bestimmt, dass das komplette, einschließlich des noch in Amerika vorhandenen, jedoch beschlagnahmten Vermögens den betreffenden Einrichtungen einschließlich den Ausstattungen der Laura-Oelbermann-Stiftung wie Krippe und Hort, und ein kleiner Betrag der evangelischen Frauenhilfe zugutekommen sollten. Alle Hausangestellten erhielten je nach Dauer der Zugehörigkeit zum Haushalt für sechs Jahre nach Ableben der Verstorbenen ein Ruhegehalt zwischen 1000 und 2000 Mark. Selbst den Verbleib ihres Hundes und der Katze regelte Laura von Oelbermann. Wenn die Familie eines Joseph Cremers sich dieser annähme, sollte er 6000 Mark erhalten, ansonsten diejenigen, die beiden Tiere aufnahmen. Die Bediensteten erhielten je einen Betrag von bis zu 600 Mark für eine Ausstattung an Trauerkleidung.139 Zum Grabschmuck nach ihrem Ableben machte sich Laura ebenfalls Gedanken. Die Ruhestätte sollte zu Allerheiligen, am Totensonntag und zu jedem Sterbetag der einzelnen Familienmitglieder geschmückt werden. Mit einer besonderen Urkunde hatte sie eine Feuerbestattung angeordnet. Drei ihrer Angestellten sowie ein Testamentsvollstrecker namens Litzenkirchen sollten ihre Leiche zum Krematorium begleiten. Die Ausgaben würden ihnen erstattet.140 Aus dem Testament geht ebenso hervor, dass sie noch Vermögen in England und Frankreich gehabt haben muss, was beschlagnahmt wurde.141 Denjenigen, die gedachten, ihren letzten Willen anzufechten, setzte sie ein Zeichen. Wer das wagen sollte, ob als 137 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung. Testament Laura von Oelbermann, S. 2. 138 Vgl. ibid. 139 Vgl. ibid., S. 3 f. 140 Vgl. ibid. 141 Vgl. ibid., S. 4.

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bereits Begünstigter oder als ein nicht bedachter Verwandter samt etwaiger Unterstützer, verlor jeglichen Anspruch.142 Die konsequente Ausschließung in ihrer konkreten Formulierung wirft den Gedanken auf, dass Laura von Oelbermann weder einen guten Kontakt noch eine hohe Meinung zu ihren Verwandten oder denen ihres Mannes hatte. Die beiden Testamentsvollstrecker arbeiteten als Prokuristen im A. Schaaff­ hausen’schen Bankverein A.G., wo auch das Vereinsvermögen hinterlegt war.143 Ihre Leistung bedachte Oelbermann im Besonderen. Sie verfügte: Meinen Testamentsvollstreckern vermache ich als Angedenken die beiden Büsten (mit Ständer) Venus von Milo und Moé; Herr Litzenrath hat die erste Wahl.144 Laura von Oelbermann starb am 3. Juni 1929. Sie wurde neben ihrem Mann auf dem Melatenfriedhof begraben. Auf der ihr gewidmeten Gedenkplatte steht konsequenterweise ihr Name so, wie sie, abgesehen vom Namenszusatz von, im größten Teil ihres Lebens genannt wurde: Frau Emil von Oelbermann Laura geb. Nickel. Der Name ihres Mannes ist auf einer anderen Tafel als Emil Oelbermann angegeben. Bis zur Teilzerstörung im Zweiten Weltkrieg zierten das Grabmal die höchsten Figuren des Friedhofs. Fünf weitere Grabplatten erinnern an jeden der fünf Söhne einschließlich Geburts- und Sterbeorte und -daten.145 Sechs Monate nach ihrem Tod wurde in ihrer Villa das Inventar gemäß ihrem letzten Willen durch das Kölner Kunsthaus Lempertz versteigert. Zuvor gab es dort fünf Besichtigungstage. Zu dem Anlass erschien ein Katalog146, unterteilt in Haushaltsgegenstände, wertvolle Kunstgewerbegegenstände, Lampen, Möbel, Teppiche sowie Porzellan, darunter zwölf Moccatassen, die sie als persönliches Geschenk von der Kaiserin erhielt. Die Fotografien einiger Räume vermitteln einen Eindruck von der Weitläufigkeit der ineinander übergehenden Zimmerfluchten und den erlesenen Einbauten.147 Ein zweiter Katalog befasst sich ausschließlich mit den Gemälden einiger damals schon bekannter, vornehmlich deutscher und französischer Künstler.148 Die Höhe des erzielten Gewinns ist nicht bekannt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Einnahmen aus der Versteigerung auf mehrere Millionen Mark beliefen. Von der Konstituierung des Vereins bis zu ihrem Tod am 3. Juni 1929, blieb Laura Oelbermann 1. Vorsitzende der Kölner Frauenhilfe. Ihrem letzten Wil142 Vgl. ibid. 143 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung. Presbyterium an Laura Oelbermann vom 15.10.1916 zur Kapitalanlage der Stiftungsgelder, Verwendung Zinserträge, Nr. 55. 144 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung. Testament Laura von Oelbermann, S. 3. 145 Friedhof Melaten, Flur 70 MA. Vgl. auch Anm. 113 mit Lebensdaten der Söhne. 146 Math. Lempertz’sche Kunstversteigerung, Köln 1929, Katalog 294. 147 Ibid. 148 Math. Lempertz’sche Kunstversteigerung, Köln 1929, Katalog 293.

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Abb. 3: Wohnräume der Villa Oelbermann (Math. Lempertz’sche Kunstversteigerung, Köln 1929, Katalog 294, Tafel 29). Abb. 4: Deckblatt des Versteigerungskatalogs (Math. Lempertz’sche Kunstversteigerung, Köln 1929, Katalog 294).

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len gemäß wurde das ehemalige Wohnhaus der Familie Oelbermann zu einem Wohn- und Aufenthaltsort für erwerbstätige Mädchen umgebaut und entsprechend ausgestattet. Außerdem entstand dem Wunsch entsprechend dort ein Versammlungsraum für evangelische Jungfrauenvereine.149 Über die Nutzung des Mädchenheims im ehemaligen Oelbermann-Domizil ab dem Umbau ist wenig bekannt. Aus einer noch unerschlossenen Akte geht hervor, dass 1953 ein erneuter Umbau geplant wurde, bei dem unter anderem die Kriegsschäden beseitigt werden sollten. Aus dem Baugesuch vom 10. Juni 1953 geht unter anderem aus der Baubeschreibung hervor, dass sich im Erdgeschoss zwei Ladenlokale befanden, davon eine Buchhandlung, die bauliche Verbesserungen erhielten. Es sollten dazu erhebliche Verbesserungen im Wirtschaftstrakt umgesetzt werden. Die Aufzählung der Baumaßnahmen gibt einen kleinen Einblick darüber, dass gemeinschaftliche Räumlichkeiten im Haus vorhanden waren, die die Bewohnerinnen nutzten. Es gab einen Speisesaal und eine Terrasse, eine große Küche, eine Waschküche mit Wäschekammer und Toiletten auf der Zwischenetage.150 Daraus lässt sich ableiten, dass die Bewohnerinnen keine abgeschlossenen Wohneinheiten mit Küche und Bad hatten und ein gemeinschaftliches Einnehmen der Mahlzeiten erfolgte. Weitere Mitglieder des Vorstands Als Schriftführer amtierte von Beginn an viele Jahre Pfarrer Ludwig Schneller. Er konnte unter anderem eine dreijährige Vereinserfahrung von 1889–1892 als Vorsitzender des Christlichen Vereins Junger Männer, kurz CVJM, in Köln vorweisen. Den Vorsitz dort übergab er wegen Arbeitsüberhäufung an Pfarrer Hötzel, da dieser sich als rühriger Jugendfreund in der Seelsorge profiliert hatte.151 Während des Ersten Weltkrieges wurde Schneller vertreten, da er als Feldgeistlicher in Belgien und Frankreich seelsorgerische Arbeit leistete.152 Das Amt des Schatzmeisters bekleidete zu Beginn der Bankier Kommerzienrat Arthur Camphausen, im Laufe der folgenden Jahre wechselte dies mehrmals.153 Diese Funktion blieb wie die des Schriftführers fortwährend in männlicher Hand.154

149 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung. Testament Laura von Oelbermann, S. 1. 150 Archiv des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region (unverzeichnet): Emilund-Laura-Oelbermann-Stiftung 1 u. 2: Baubeschreibung Mädchenheim. 151 Festschrift zur 75jähr. Jubiläumsfeier des Christlichen Vereins Junger Männer Köln E. V. (C.V.J.M.) vom 26. Oktober 1924, Köln 1924, S. 9 152 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1915, S. 1. 153 Vgl. Oepen-Domschky, Kölner Wirtschaftsbürger (Anm. 127), S. 385. 154 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938.

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Ein Ausschuss hatte beratende Funktion, in dem sich über die Jahre meist um die 20 bis 25 Ehefrauen von Kölner Wirtschaftsbürgern sowie vier bis fünf Wirtschaftsbürger und Pfarrer am Vereinsleben aktiv beteiligten.155 Zur stellvertretenden Vorsitzenden wurde Luise Peill gewählt und sie blieb es bis Anfang der 1920er Jahre. Danach blieb sie der Frauenhilfe als aktives Mitglied im Ausschuss erhalten.156 Im Gegensatz zum heutigen Vereinswesen, wo in der Regel in einem in den Statuten festgelegten Turnus die Wahl der einzelnen Vorstandsmitglieder stattfindet, werden in den früheren Jahresberichten keine Vorstandswahlen erwähnt. Veränderungen im Vorstand und im Ausschuss ergeben sich nur durch namentliche Veränderungen bei den jeweiligen Funktionen.157 Ellen von Rautenstrauch übernahm spätestens 1924 die Aufgabe als stellvertretende Vorsitzende. Sie blieb es bis zum Tod Laura von Oelbermanns 1929, da sie dann den Vorsitz übernahm.158 Interessant ist die Namensnennung der weiblichen Vorstandsmitglieder. Während Laura von Oelbermann in ihrer Zeit als Vorsitzende des Vereins ausnahmslos Frau Emil von Oelbermann genannt wurde, fand zum Jahresbericht 1928 ein Wechsel der Namensnennung bei den anderen weiblichen Vorstandsmitgliedern statt. Die 2. Vorsitzende des Vereins wurde im ersten Jahr ihrer Amtszeit 1927 als Frau Eugen von Rautenstrauch bezeichnet, ab 1928 dann Frau Ellen von Rautenstrauch. Das Gleiche erfolgte mit den anderen verheirateten aktiven Mitgliedern Dora Pferdmenges und Greta Frese.159 Erst im Bericht 1929 wurde der Name Laura von Oelbermann genannt sowie ihres stetigen Einsatzes für den Verein in einem langen Nachruf gedacht.160 Damit fand eine Zäsur zumindest im Vorstandsbereich statt: Die Frauen wurden nicht mehr über ihre Männer definiert, sondern zu eigenständigen Individuen, die das Kölner Vereinsleben durch Vorstandsentscheidungen prägten. Anders war es bei den Mitgliedern des Ausschusses und in der Adressliste der weiblichen Mitglieder. Nur ledige Mitglieder zählte man von Beginn an mit den eigenen Vornamen auf. Inwieweit alte Traditionen oder andere Motive ausschlaggebend dafür waren, sich über den Namen des Mannes zu definieren, wie Laura von Oelbermann es bestimmte oder zumindest nie in Frage stellte, ist nicht überliefert.

155 EGAK 44–2–2: Jahresberichte für die Jahre 1900 bis 1924. 156 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. 157 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1924. 158 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1924– 1950. Anmerkung: Die Jahresberichte 1920 bis 1923 sind unauffindbar. 159 EGAK 44–2–2: Jahresberichte der Jahre 1927 u. 1928. 160 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1929, 30. Januar 1930, S. 2.

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Der Ausschuss Der Vorstand wurde von einem Ausschuss unterstützt, der bei wichtigen Entscheidungen hinzuzuziehen war. Er bestand zumeist aus um die 25 Personen, jedoch variierte die Anzahl im Laufe der Jahre. Der Anteil der Männer überstieg nie die Anzahl von fünf Mitgliedern. Zu diesen gehörten im Laufe der Jahre Bankdirektoren, Regierungsräte und Regierungspräsident Dr. Otto von Steinmeister. Die im Ausschuss engagierten Frauen kamen zumeist aus dem gehobenen evangelischen Kölner Bürgertum, in den Jahresberichten finden sich unter den Ausschussmitgliedern bekannte Namen wie Andreae, Brügelmann, Camphausen, Deichmann, Langen, von Mallinckrodt, vom Rath, von Recklinghausen, von Schnitzler, von Schröder, von Stein und Wolff.

Die Aktivitäten des Kölner Vereins Evangelische Frauenhilfe von der Gründung bis 1932 Bereits aus dem ersten Jahresbericht 1902 geht hervor, dass diejenigen, die sich von Beginn an engagierten, die Strukturen des Vereins professionell und wohldurchdacht festlegten. Es ist davon auszugehen, dass es bereits Erfahrungen aus Organisationen ähnlicher Ausrichtung gab und diese zum Vorbild genommen wurden. Hinzu kam, dass sowohl im Vorstand wie im Ausschuss Mitglieder saßen, die aufgrund langjähriger beruflicher Tätigkeit als Bankiers und Kaufleute wussten, wie man ein Unternehmen zum Erfolg verhalf. Die weiblichen Mitglieder aus dem Kölner Bürgertum führten wiederum oft große Haushalte mit vielen Angestellten, kannten die Sorgen mit kranken Kindern und Angehörigen sowie Gemeindemitgliedern. Unter den Frauen wird es welche gegeben haben, die ihren Männern zumindest beratend zur Seite standen. Das Evangelium gehörte als Wegbegleiter der tiefgläubigen Menschen von Beginn an bei Hauptversammlungen und Mitgliederversammlungen zum festen Bestandteil der Zusammenkünfte. Die Veranstaltungen begannen immer mit der Verlesung eines Bibeltextes. Anschließend wurde verstorbener Mitglieder gedacht und erst danach zur Tagesordnung mit den Ausführungen zu den einzelnen Einsatzgebieten der Frauenhilfe übergeleitet. So ist dem Vereinsbericht von 1902 über die Tätigkeiten in der Sparte Privatkrankenpflege zu entnehmen, dass 99 arme und 27 „bemittelte“ Familien mit 1900 Pflegetagen von sieben Schwestern aus Kaiserswerth versorgt wurden. Die Anzahl der Schwestern reichte bei Weitem nicht aus, um alle Pflegebedürftige zu besuchen.161 1904 vollbrachten zehn Pflegeschwestern in 202 161 EGAK 44–2–2: Kölner Verein der Frauenhilfe des Evang. Kirchl. Hülfsvereins 1900– 1938. Stadt-Anzeiger vom 17. Juni 1903.

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Familien 2883 Pflegestunden. Diese verteilten sich auf 61 wohlhabende Familien mit 992 Pflegetagen und 141 bedürftige Familien mit 1891 Pflegetagen.162 Im Jahresbericht ist ebenfalls zu lesen, dass die Mitgliederzahl auf 500 angestiegen war. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass diese Anzahl nicht ausreichte, um alle Aufgaben wie die Hilfe aus der Not trotz der Beiträge und Zinsen aus der Emil-Oelbermann-Stiftung zu finanzieren. Laura Oelbermann zahlte einen regelmäßigen freiwilligen Jahresbeitrag von 3000 Mark. Die nächstniedrigere Summe war 100 Mark, die einige andere Mitglieder freiwillig zahlten. Der niedrigste und meistgezahlte Jahresbeitrag lag bei drei Mark.163 Bei der Jahreshauptversammlung im März 1905 war die Vorsitzende nicht anwesend, da sie Geschäfte nach New York führten. Von dort aus transferierte sie wiederholt Geld, wahrscheinlich Gewinne aus den noch bestehenden Firmenanteilen ihres verstorbenen Mannes, nach Deutschland.164 Hierdurch bestätigt sich, dass es Frauen gab, die nicht unbedarft in geschäftlichen Angelegenheiten waren und nach dem Tod von Ehemann oder Vater nicht ausschließlich auf männliche Berater angewiesen waren, um unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Neben der Krankenpflege machten es sich die Verantwortlichen zur Aufgabe, einzelne, sachbezogene Spenden direkt den Familien zuzuführen. Dazu gehörten Wasch- und Pflegemittel, Auslagen für Krankenutensilien oder Stärkungsmittel.165 In vielen Jahresberichten werden ähnliche Sachleistungen wie Bettwäsche und Kleidung erwähnt. Immer wieder wird bekanntgegeben, dass für Familien Betten angeschafft wurden, da sich mehrere Familienmitglieder eines teilen mussten.166 Mütter wurden in der Führung des eigenen Haushalts unterrichtet, wo es mitunter an Ordnung und Sauberkeit ebenso mangelte wie an Kenntnissen über Näharbeiten zur längeren Nutzung von Kleidung innerhalb der Familie.167 Auf der Zusammenkunft am 25. Januar 1907 wurde mitgeteilt, dass 1906 ein Betrag von 80.000 Mark für ein dringend notwendiges neues Schwesternheim an den Verein gespendet wurde. 25.000 Mark kamen allein von der Vorsitzenden. Die Spende reichte aus, das Haus zu bauen. Dort sollten sowohl die Gemeindeschwestern als auch die zu der Zeit zehn, ein Jahr später zwölf Kaiserswerther Schwestern wohnen. Die Zusammenarbeit hatte sich bis dato bereits bewährt. Des Weiteren sollten dort unterschiedliche Aktivitäten des 162 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1904, S. 1. 163 Ibid., S. 7ff. 164 Ibid., S. 2. 165 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1906, S. 2. 166 Ibid., S. 3. 167 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1907, S. 3.

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Vereins stattfinden.168 Der Neubau konnte im Mai 1907 bezogen werden. Es blieb aber nicht bei dieser einen Spende von Laura Oelbermann: Von verausgabten 22.000 Mark für verschiedene Zwecke kamen 14.000 Mark von der Vorsitzenden. Die Spende wurde gemäß ihrem Wunsch nicht im Gemeindeboten genannt, jedoch ausdrücklich im Jahresbericht für 1908 des Vereins.169 Von einem Aufenthalt in Amerika im Laufe des Jahres brachte sie eine „bedeutende Summe“ mit. Zur Weihnachtszeit 1908 übergab sie davon 1000 Mark, um 130 Paar Schuhe, Bett- und Hauswäsche für 20 Familien sowie 50 Betten zu finanzieren.170 Man schaffte mit der Bestellung der Schuhe gleichzeitig ein System der Hilfe zur Selbsthilfe, denn die Schuhe für die Bedürftigen wurden von kleineren Schuhmacherbetrieben und Schuhhändlern vor Ort geliefert, was explizit erwähnt wurde.171 Die Schuhspenden fanden in den Folgejahren regelmäßig je nach Bedarf statt. Somit erhielten die genannten Betriebe regelmäßig Aufträge. Ein weiteres Arbeitsfeld der Frauenhilfe war die Finanzierung einer Kur außerhalb Kölns für meist um die 50 Personen nach schwerer Krankheit. Zusätzlich kamen 40 skrofulöse Kinder, die zur Kur nach Bad Kreuznach geschickt wurden. Die Vorsitzende spendete 1907 zweckgebunden 1000 Mark, damit 72 unterernährte Kinder auf dem Land wieder zu Kräften kamen. Ebenfalls wurde sich jedes Jahr der Konfirmanden aus ärmlichen Familien angenommen. Oft erhielten in den ersten zehn Jahren des Vereinsbestehens über 20 Kinder eine Ausstattung. In der Zeit der Konfirmation endete für viele die Schulzeit. Auch hier machte man sich im Verein Gedanken um das Wohlergehen derjenigen, die noch keine Arbeitsstelle hatten und möglicherweise zu verwahrlosen drohten. Weibliche Konfirmanden konnten Haushaltsarbeiten im evangelischen Marthastift erlernen oder wurden als Haushaltshilfen in Familien vermittelt. Jungen eigneten sich in der Anstalt Godesheim in Godesberg handwerkliche Fähigkeiten an.172 Belegt ist durch Jahresberichte, dass Laura Oelbermann regelmäßig selbst Familien aufsuchte, um dort auf ihre Weise mit verschiedenen Gaben und Ratschlägen zu unterstützen. Dies geht aus den Aufzeichnungen vom 30. Januar 1909 für das Geschäftsjahr 1908 hervor: Darin war unsere Vorsitzende, Frau Emil Oelbermann, die eine außerordentlich große Zahl von Besuchen an den Stätten der Not, Armut und Krankheit machte, uns geradezu vorbildlich.173 168 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1906, S. 5. 169 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1908, S. 5. 170 Ibid. 171 Ibid. 172 EGAK 44–2–2: Jahresberichte 1907–1929. 173 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1908, S. 5.

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Ergänzend wird angeführt, dass sie als direkte Hilfe je nach Bedürfnis teilweise auch mahnend spendete, um vor allem den Vater zu animieren, für einen Weg aus der Misere zu sorgen. Die Kinder animierte sie, die Gottesdienste zu besuchen. Bereits konfirmierten Jugendlichen der Familien riet sie, in christliche Vereine vor Ort einzutreten. Alkoholabhängige Männer forderte sie auf, sich Hilfe beim Blauen Kreuz zu suchen. Für sie selbstverständlich hielt sie die Erwachsenen zum Besuch des Gottesdienstes, zu Gottvertrauen und Gebet sowie der Erziehung der Kinder in der Furcht Gottes an. Bei den Besuchen wurden wöchentlich mehrere hundert Predigten und Zeitschriften verteilt.174 Die Besuche der bedürftigen Familien dienten demnach nicht nur der direkten Hilfe, sie hatten auch einen missionarischen Effekt, denn einige Kinder konnten zum Besuch des Gottesdienstes überredet werden. Die Anzahl der Konfirmanden, die die oben genannten Hilfen erhielten, stieg in manchen Jahren auf über 40 an.175 Dies kann auf den konkreten Einsatz bei den jeweiligen Familien in Not zurückzuführen sein, ebenso auf die Tatsache, dass sich herumsprach, dass vielseitige Hilfe für Konfirmanden gewährt wurde. Ob der Besuch des Konfirmandenunterrichtes aus religiöser Überzeugung erfolgte oder aus pragmatischen Gründen wegen der wirtschaftlichen Not, ist nicht belegt. Zumindest verhalf die Konfirmation zu einer ordentlichen Kleidung und einer Arbeitsperspektive. Mit der wachsenden Mitgliederzahl stiegen die Einnahmen durch Beiträge, Spenden und Leistungen von denjenigen, die die Hilfsdienste wie die Pflege von Angehörigen selbst bezahlen konnten. So konnten dadurch mehr erholungsbedürftige Kinder, Frauen und Männer zur Erholung wegfahren. In Not geratene Familien erhielten kleinere Geldbeträge, um z. B. die Miete zahlen zu können. Teilweise gab es Lebensmittelspenden. So ergaben sich im Laufe der Jahre laut des Jahresberichts 1914 sechs Zweige der Hilfe: Pflege der Kranken, Darreichung von Betten für möglichst alle Familienmitglieder, Ausstattung und Aussteuer für in Not geratene Familien inklusive Möbel und Kleidung, Aussendung erholungsbedürftiger Gemeindemitglieder aufs Land, Förderung der Heimarbeit für Mütter, damit sie nicht in den Fabriken arbeiten mussten und ihre Kinder beaufsichtigen konnten sowie die Speisung von Kindern. Die vielen kleineren und größeren Geld- und Sachspenden, Betreuung von Konfirmanden und Vermittlung von Arbeitsstellen wurden nicht jährlich explizit genannt.176 Bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden einige Räume im Haus Große Witschgasse 9, der Heimat des Vereins, als Lazarett eingerichtet, 174 Ibid. 175 EGAK 44–2–2: Jahresberichte 1907–1929. 176 Ibid.

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die dort lebenden Schwestern zum Teil zur Pflege der Verwundeten abgestellt. Allerdings blieben nur zwei der zehn Schwestern vor Ort, die anderen leisteten Pflegedienste an der Front.177 Der Pfarrer der Gemeinde äußerte sich über einen Erfolg der Frauenhilfe: Eines muß man der Kölner Frauenhülfe lassen: seit sie in unserer Gemeinde arbeitet, ist die große Verkommenheit aus der Gemeinde vollständig verschwunden.178 Die Speisung armer Kinder wurde im Ersten Weltkrieg nicht unterbrochen, es erfolgte weiterhin die Versorgung von täglich 170 Kindern. Die 100 Kinder, die den hauseigenen Hort besuchten, sowie weitere 70 aus ärmlichen Familien wurden mit Milch und Butterbroten versorgt, die Betreuung fand durch viele Frauen und Töchter aus der Gemeinde statt. Teilweise kamen sie aus der gehobenen Kölner Gesellschaft, die dort ihren Beitrag im Sinne des Leitspruches der Frauenhilfe leisteten. Eine derjenigen, die regelmäßig das Schmieren der Butterbrote übernahm und dafür den Dank der Vorsitzenden erhielt, war Ellen von Rautenstrauch sowie die Frau eines Dr. Müller und wahrscheinlich deren Tochter Fräulein Müller. Aufgrund einiger Krankheitsausfälle in den Reihen der freiwilligen Helferinnen wurde eine ausgebildete Kinderpflegerin eingestellt.179 Als sich 1914 ein Krieg abzeichnete, appellierte am 31. Juli des Jahres Pfarrer Hötzel vorausschauend an das Presbyterium zur Mobilmachung der Armenpflege in der Gemeinde. Er stellte den Antrag, einen Ausschuss zu gründen, der sich mit dem Elend von Gemeindemitgliedern befassen sollte, die durch Kriegseinwirkungen entstehen würden. Das betraf hauptsächlich Familien, deren Haupternährer zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Der Notausschuss nahm umgehend seine Arbeit auf.180 Das Presbyterium bewilligte ein erstes Budget von 15.000 Mark. Bis Mai 1915 kamen weitere 11.000 Mark durch gezielte Sammlungen für Kriegsarme hinzu.181 Der Notausschuss agierte unabhängig von der Gemeindediakonie. Die Gemeindepfarrer meldeten Bedarfe, indem sie vorab die Berechtigung auf Hilfe sowie die Höhe der benötigten Hilfe eruierten. Die Bedürftigen erhielten Sachspenden in Form von Lebensmitteln wie Kartoffeln, Mehl, Zucker oder Hülsenfrüchte in Höhe von bis zu sechs Mark pro Monat. Ein Zentner Kartoffeln kostete zu der Zeit 3,50 Mark. Das Gemeindeamt führte zentral ein Verzeichnis über alle Auszah-

177 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1914, S. 4. 178 Ibid., S. 5. 179 Ibid., S. 9 180 Vgl. Becker-Jákli, Fürchtet Gott (Anm. 9), S. 82. 181 Vgl. ibid., S. 83.

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lungen der Unterstützungen durch den Notausschuss.182 Die Vorsteherin der Gemeindediakonissen Laura Oelbermann engagierte sich auch im Notausschuss. Martha Hövelmann gehörte als Vorsteherin der Gemeindediakonissen dem Vorstand an, darüber hinaus der Rendant der Gemeinde namens Eck sowie die vier Kaufleute H. Bockhacker, P. Lindgens, C. A Schoenborn, F. Wendland und die beiden Pfarrer Radecke und Hötzel, von denen der Urheber der Idee, Karl A. Hötzel, den Vorsitz übernahm.183 Die Ausrichtung der aktiven Hilfe veränderte sich innerhalb der Frauenhilfe in den Kriegs- und Folgejahren nicht. Die Berichte für die Geschäftsjahre 1918 und 1919 geben aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in Köln einige Aufschlüsse über Empfindungen von Vorstandsmitgliedern. Der Rapport für das Geschäftsjahr 1918 ist sehr politisch im Vergleich zu den zuvor erschienenen. Pastor Schneller eröffnete als Schriftführer die Mitgliederversammlung und referierte vor dem üblichen Ablauf einer Jahreshauptversammlung zur aktuellen Situation. Er beschrieb die erste Versammlung im Krieg, die unter dem Eindruck beispielloser Begeisterung unseres ganzen Volkes stattfand, welches sich heute in tiefster Trauer, Niedergeschlagenheit und Demütigung befand.184 Er erläuterte, dass die Frauenhilfe die Arbeit stets unbeirrt fortsetzte und sich den wechselnden Bedürfnissen der Zeit anzupassen wusste. Er sprach von der Arbeit an Armen, Kranken und Betrübten aber auch an den Irregeleiteten, Betörten und Verblendeten Engeldienste verrichtend.185 Er verwies auf die Lobpreisungen zu Beginn des Krieges, auf die politische Reise des Volkes und deren Unreife. Er führte an das wahnsinnige Treiben der Spartakiaden, drüben in den rechtsrheinischen Städten, die mit Raub, Verwüstung und Mord gegen ihre eigenen Volksgenossen wüten; da ist die kindliche Einbildung vieler, als stünde vor uns die goldene Zeit, wo man weniger arbeiten, dabei mehr verdienen werde, als ob nicht vor uns ein ganz anderes Schreckendgespenst stünde: Gar keine Arbeit und gar kein Verdienst mehr. Und dabei Tänze, Bälle, Vergnügungssucht ohne Gnade.186 Daran anschließend lobte er die Frauenhilfe, die an ihrem Glauben und ihren Grundsätzen trotz der negativen gesellschaftlichen Erscheinungen festhielt, da der größte Teil des Volkes aus tüchtigen Menschen bestände, die wieder auf 182 Vgl. ibid. 183 Vgl. ibid., S. 82. 184 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1918, S. 1. 185 Ibid. 186 Ibid.

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den rechten Weg kämen, wenn einmal der Wahnsinnsanfall vorüber sei. So rief er dazu auf, durch Liebe die Irregeleiteten und Betrübten in das Friedensreich Jesu hineinzurufen. Schneller sprach eine Wandlung im Verein an und betonte die Bezeichnung unter dem Protektorate Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin, welche den Verein ins Leben gerufen hatte und zur Gründung in Köln eigens ihren Oberhofmeister Ernst Freiherr von Mirbach nach Köln sandte.187 Schneller wies darauf hin, dass Kaiserin Auguste Viktoria immer großen Anteil am Kölner Vereinsleben genommen und die Einrichtungen der Kölner Frauenhilfe durchgehend als mustergültig lobte. Aus seiner Rede geht ferner sein Bedauern über das Ende der Monarchie hervor, indem er sagte, dass durch eine Ueberrumpelung ohnegleichen unser Kaiser von seinem Throne und aus seinem Lande vertrieben [wurde], und damit haben wir, so scheint es, auch unsere Protektorin verloren.188 Schneller erwähnte ebenfalls, dass ein Brief aus Amerongen, Holland, adressiert an die Vorsitzende der (überörtlichen) Frauenhilfe, Gräfin von Schönburg, durch die Presse veröffentlicht wurde. In diesem Schreiben bedankte sich die Initiatorin der Frauenhilfe Auguste Viktoria aus dem Exil explizit bei den Frauen und Jungfrauen, die in der schweren Zeit Grüße an die ehemalige Kaiserin richteten. Ihr blute das Herz, dass sie nicht an alle einen Abschiedsgruß senden konnte. Sie schrieb zudem, dass ihr Herz weiterhin am Vaterland hinge und sie die Liebe, die ihr zuteil kam, zu schätzen wisse. Gott würde sowohl dem Vaterland wie ihr beistehen und er allein könne die Wege weisen, auf denen sie wandeln könne.189 Schneller versetzte sich des Weiteren in die Gefühlswelt Auguste Viktorias, indem er beschrieb, dass diese Worte unter Tränen geschrieben sein mussten und sie sich in einer Zeit der Demütigung und Prüfung befände, in der sie das Tränenbrot der Verbannung essen muss.190 Er erzählte, dass er bei der Vermählung des damaligen Kronprinzenpaares 1881 in der Schlosskapelle persönlich zugegen war und sich das goldene Kaiserdiadem nun zu einer Dornenkrone veränderte. Nach weiteren Worten über das Unglück, welches dem Kaiserpaar widerfahren war, forderte er die Anwesenden auf, sich von den Plätzen zu erheben, um als Zeichen der Anteilnahme im Positiven diesem zu gedenken. Der Namenszusatz der Kölner Frauenhilfe änderte sich vorübergehend in Kölner Verein der Frauenhilfe, begründet von Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin.191

187 Ibid., S. 2. 188 Ibid., S. 3. 189 Ibid. 190 Ibid., S. 4. 191 Ibid., S. 5.

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Den von der Vorsitzenden verfassten Jahresbericht für 1918 trug die stellvertretende Vorsitzende, Frau Robert Peill, vor. Sie leitete die Sitzung und begründete dies zu Beginn ihres Vortrages damit, dass die Vorsitzende, Frau Emil von Oelbermann durch einen schmerzlichen Trauerfall verhindert war persönlich zu erscheinen.192 Da zu der Zeit kein Familienmitglied mehr lebte, muss sich das auf die Abdankung und den Gang des Kaiserpaares ins Exil beziehen, zu dem sie, wie zuvor angeführt, eine persönliche Beziehung hatte. Luise Peill informierte anschließend über die eigentliche Arbeit der Frauenhilfe 1918. Neben der Begrüßung der Anwesenden hieß sie insbesondere Regierungspräsident Karl von Starck willkommen und bedankte sich, dass er es trotz der enormen Anforderungen einrichten konnte, zu erscheinen. Zuerst benannte sie als Aufgabenfelder die Versorgung ihnen bekannter unterernährter Kinder und hoffnungslos Erkrankter mit zumeist Lungen- oder Krebsleiden. Sie wurden mit Erfrischungen und stärkenden Weinen versorgt. Diese Erquickungen führten dazu, dass den Vorstand einige Dankesbriefe erreichten, die den Einsatz der Frauenhilfe bestärkten. Die stellvertretende Vorsitzende nutzte in diesem Zusammenhang die Gelegenheit, um Spenden im Namen der Unglücklichen zu bitten. Sie erzählte von den vielen Menschen, die in der zweiten Jahreshälfte an Grippe und Lungenentzündung erkrankten.193 1918 hatte es zwei große Pandemiewellen gegeben, die als „Spanische Grippe“ oder auch als „Blitzkatarrh“194 in die Geschichtsbücher eingehen sollten, da die Seuche verheerende Ausmaße annahm. Diese Epidemie breitete sich weltweit aus. Oft starben die Menschen nach nur wenigen Tagen Inkubationszeit an diesem Influenza-Typ, da die Lungen massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden und schwere Lungenentzündungen drohten. Die erste Welle kam im Frühjahr 1918. Einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters zufolge erkrankte der spanische König daran und so verselbständigte sich die Bezeichnung.195 Im Juli kam es zu einer kurzen Entwarnung, doch die Pandemie kehrte im Oktober 1918 in massiver Form als zweite Welle zurück.196 Die kriegsbedingte Mangelernährung sowie unzureichende ärztliche Versorgung forcierten die verheerenden Folgen innerhalb der Bevölkerung. Die Ansteckungszahlen stiegen zunehmend. Der Schulbetrieb in Köln wurde vom 21. Oktober bis vorerst 3. November eingestellt, da dort eine große Ansteckungsgefahr erwar192 Ibid., S. 1. 193 Ibid., S. 5. 194 Stefan Müller: Die Spanische Grippe (im Spiegel des sozialdemokratischen Vorwärts), in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Themenportal Geschichte, Bonn 2020, URL: https://www. fes.de/themenportal-geschichte-kultur-medien-netz/geschichte/spanische-grippe (Stand: 21.4.2021). 195 Vgl. ibid. 196 Vgl. ibid.

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tet wurde.197 In der Bevölkerung wurde die Erweiterung der Maßnahme gefordert sowie mehr restriktive Verordnungen durch die Behörden.198 Auf ­Vorschlag des Beigeordneten Prof. Dr. Krautwig seien energischere Absperrmaßnahmen zu überlegen, um den Verkehr zu reduzieren sowie Geschäfte, Fabriken und Werkstätten lahmzulegen. Von Schließungen von Versammlungsstätten sah man in Köln im Gegensatz zu anderen Städten ab, da dies nur einen kleinen Teil des Verkehrs betreffen würde.199 Dr. Eich regte in der gleichen Sitzung an, die öffentlichen Verkehrsmittel sowie Besitzer von privaten Pferdefuhrwerken und Autos anzufragen, ob sie diese den Ärzten zur Verfügung stellen können, damit diese schneller zu den Patienten kämen.200 Es gab immer mehr Ausfälle unter den städtischen Bediensteten, in der Post- und der Eisenbahndirektion sowie unter den Fahrern der öffentlichen Verkehrsmittel. Gerichtsverhandlungen wurden vertagt, da dort ebenfalls viele Bedienstete erkrankten.201 Es fehlte an Ärzten und Pflegepersonal, da einige zum Kriegsdienst eingezogen waren, andere sich an der Influenza angesteckt hatten. In den Krankenhäusern herrschte Raumnot.202 Es gab keine Meldepflicht für Grippeerkrankungen, was in einer Sitzung der Stadtverordnetenversammlung kritisch angemerkt wurde, da nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss auf die Ausdehnung der Erkrankung203 gezogen werden konnte. Die Influenza erreichte übergreifend alle Gesellschaftsschichten. Die Frauenhilfe hatte laut Luise Peill nicht nur mit den Erkrankten zu kämpfen, sondern auch mit fehlenden Schwestern für die Pflege, so dass derzeit mit der halben Zahl der Diakonissen ausgekommen werden musste. Kaiserswerth konnte nicht mehr Schwestern zur Verfügung stellen. So pflegten fünf Diakonissen und eine Johanniterin 152 Familien an insgesamt 1847 Pflegetagen. Weitere 71 Familien wurden in Ermangelung von Kapazitäten der Schwestern von Pflegerinnen versorgt, die die Gemeinde noch akquirieren konnte. Die Betreuung überforderter Familien im Bereich Haushaltsführung kam weiterhin nicht zu kurz, genauso wie kleinere Finanzhilfen und die Ausstattung von Kleidung für 29 Konfirmanden. 9750 Liter Milch wurden in Portionen von einem bis zwei Liter ausgegeben. Eine nicht namentlich genannte Frau aus Holland hatte zwölf Kinder zur Erholung mit nach Holland genommen und später noch

197 Kölnische Zeitung vom 21.10.1918, Abendausgabe. 198 Verhandlungen Stadtverordnetenversammlung, 23. Sitzung vom 24. Oktober 1918, S. 377. 199 Ibid., S. 376. 200 Ibid., S. 377. 201 Ibid., S. 376. 202 Ibid., S. 377. 203 Ibid., S. 375.

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neun weitere Kinder nachgeholt. Weibliche Gemeindemitglieder spendeten je 1000 Mark, um damit jeweils zehn Kinder aufpäppeln zu können. Frau Robert Peill beendete ihren Vortrag mit der Mitteilung, dass die Kölner Frauenhilfe dem Verband evangelischer Frauenbünde von Groß-Köln beigetreten war, dem nun 31 Vereine angehörten und der somit an der Nationalversammlung teilnehmen konnte.204 Frau Dr. Gustav von Mallinckrodt und Frau Geheimrat Julius Vorster vertraten die Kölner Frauenhilfe. Außerhalb des üblichen Protokolls war erstmalig eine zusätzliche Information für alle Vereinsmitglieder veröffentlicht, die nicht an der Mitgliederversammlung teilnehmen konnten. Es wurde ankündigt, dass nicht mehr nur die Arbeiterfamilien im Fokus stehen, sondern auch Handwerker und Angehörige des Mittelstandes. Für die jeweilige Auswahl der Hilfeleistungen wurde ein Ausschuss gegründet, der aus dem vierköpfigen Vorstand in Person von Frau Emil von Oelbermann, Frau Robert Peill, Schatzmeister Adolf Metz und Schriftführer Pastor Schneller sowie Frau M. von Glassenapp und Frau Dr. Victor Schnitzler bestand.205 Laut Kassenbericht reduzierte sich der Kassenstand im Kalenderjahr 1918 von 18.513,28 Mark auf 10.671,77 Mark. Der Bestand an Wertpapieren, der sich im Vergleich zum Vorjahr nicht veränderte, gab jedoch eine sichere Einlage: 3000 Mark (vier Prozent) Hamburger Anleihe und 75.000 Mark (vier Prozent) Rheinisch-Westfälische Boden-Credit-Bank (Pfandbriefe). Der größte Teil kam wiederum von Laura von Oelbermann: 100.000 Mark aus der Emil-von-Oelbermann-Stiftung und 40.000 Mark (fünf Prozent) Deutsche Reichsanleihe der Laura-von-Oelbermann-Stiftung.206 Die letztgenannte Stiftung existierte seit 1910 und hatte eine wesentlich geringere Einlage als die mit dem Namen ihres Mannes.207 Auffällig ist, dass die vormals Emil-Oelbermann-Stiftung posthum die Bezeichnung von erhielt. Genau genommen erfolgte die Gründung dieser Stiftung nach seinem Tod und somit einige Jahre bevor Laura von Oelbermann den Adelstitel erhielt. Der Jahresbericht für 1919, verschriftlicht im März 1920, begann mit einer kurzen Erläuterung über die derzeitige Situation in Köln. Pastor Schneller begrüßte in seiner Funktion als Schriftführer die Anwesenden. Er verwies darauf, dass man fast 20 Jahre zuvor am gleichen Ort, in der Gemäldegalerie im hochherrschaftlichen Haus der Vorsitzenden, zusammengekommen war und sich der Verein dort konstituiert hatte. Dann erwähnte er die englische Stan204 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1918, S. 7. 205 Ibid., S. 10. 206 Ibid., S. 8. 207 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1910, S. 5. Da die Adelung erst später erfolgte, hieß sie zu Beginn Laura-Oelbermann-Stiftung.

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darte, die über dem Haus wehe, sowie die Kämpfe, die im Ruhrgebiet stattfanden und die mahnten, in welcher Zeit die 20. Jahresversammlung stattfand.208 Köln stand seit dem 6. Dezember 1918 unter britischer Besatzung. Schneller übergab das Wort an Laura von Oelbermann. Aus ihren Ausführungen geht das Elend der Zeit auf vielfältige Weise hervor. Neben den sich jährlich wiederholenden Zahlen über die Anzahl der Familien und die insgesamt geleisteten Pflegestunden, wurde erstmalig explizit erwähnt, dass auch katholische Familien die Hilfe der evangelischen Schwestern suchten und man daher andere geeignete Pflegerinnen hinzuzog. Der Notausschuss hatte zur Finanzierung der Pflege 1500 Mark beigesteuert, die Landesversicherung 2500 Mark und die Vorsitzende 1000 Mark. Anschließend wurde von der Maßnahme Kenntnis gegeben, dass fünf Frauen und zwei 17-jährige Knaben einen Zuschuss für Kuren erhalten hatten. Unterernährte Kinder konnten zudem außerhalb Kölns zur Kur entsendet werden. Eine Aufzählung verschiedener Ziele wie dem Teutoburger Wald, Pommern, einem Erholungsheim in (Bad) Godesberg und anderen Orten, darunter Privatdomizile von Kölnern, wurde vorgetragen, wohin man die Kinder entsendete. Bis auf wenige Ausnahmen hatten die meisten von ihnen dann bei frischer Landluft und regelmäßigen, ausgewogenen Speisen an Gewicht zugenommen.209 Des Weiteren wurde erwähnt, dass man 30 Besucherinnen der höheren Mädchenschule eine vierwöchige Kur nach Bad Kreuznach ermöglichte. 16 Familien erhielten in akuten Nöten eine finanzielle Hilfe. 27 Arbeiterfamilien bekamen von Althändlern gekaufte Möbel. Diese waren von Schreinern aufgearbeitet worden, die von der Frauenhilfe bezahlt wurden.210 Der Verein verstand sich auch auf weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. So organisierten Mitglieder der Frauenhilfe, dass Frauen durch Heimarbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen konnten. Die Aufträge, zumeist für Näh- und Putzarbeiten, kamen zumeist aus dem Umfeld der Vorstandsmitglieder.211 Laura Oelbermann sprach ein Problem an, welches sich aus den beiden bestehenden Vereinen jeweils für die Gemeindeschwestern und die Schwestern der Frauenhilfe ergab. Die Einsatzleitung für beide Schwesternschaften hatte weiterhin Schwester Martha Hövelmann inne. Die Gemeindeschwestern sammelten für skrofulöse Kinder aus Arbeiterfamilien, um sie zur Kur schickten. Die Frauenhilfe finanzierte ebenfalls mit hohen Summen Landaufenthalte für die gleiche Zielgruppe. Mittlerweile rutschten immer mehr kleine und mittlere 208 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1919, S. 1. 209 Ibid., S. 2. 210 Ibid., S. 2. 211 Ibid., S. 3.

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Beamte ins Elend ab, da sie laut Oelbermann weniger verdienten als die Arbeiter, so dass innerhalb der Frauenhilfe gesammelt wurde, um deren ebenfalls skrofulöse Kinder zur Kur senden zu können. Sie führte aus, dass zwei Kollekten für bedürftige Arbeiterkinder in jener schlechten Zeit nicht sinnvoll seien. Mit der Kollekte der Gemeindeschwestern hätte die Frauenhilfe nichts zu tun, jedoch würde Schwester Martha von der Frauenhilfe eine Unterstützung erwarten, obwohl eben die Kinder der Beamten die gleiche Hilfe benötigten. Es wurde dem Antrag der Vorsitzenden einstimmig stattgegeben, dass die Frauenhilfe künftig die kranken Kinder notdürftiger Beamtenfamilien selbst betreute und die Gemeindeschwestern die Arbeiterkinder.212 Immerhin konnte die Kasse im Vergleich zu 1918 ein leichtes Plus verzeichnen, obwohl sich die Kosten für die Kaiserswerther Schwestern erhöhten. Zum 31.12.1919 betrug der Kassenbestand fast 2000 Mark mehr als zu Beginn des Jahres. Der Bestand an Wertpapiern blieb unverändert. Leider liegen die Jahresberichte der Kölner Frauenhilfe für die Jahre 1920 bis 1923 nicht vor, daher gibt es keine Informationen über die Probleme während der Zeit der Inflation und die unmittelbaren Folgen. In dieser Zeit hat es mehrere Wechsel im Vorstand gegeben. Die einzige Konstante blieb Laura von Oelbermann. Ihre Stellvertreterin war fortan Ellen von Rautenstrauch, Schriftführer Superintendent Lic. Georg Klingenberg, Schatzmeister der Kaufmann Wilhelm Blankertz. Für ein Jahr wurde der Vorstand um einen Beisitzer namens Adolf Metz erweitert. In den Folgejahren gab es diese Position im Vorstand nicht mehr.213 Laura von Oelbermann referierte bei der Mitgliederversammlung 1924 von Mittagessen, die eine Kochschule zubereitete und die unter anderem arme Wöchnerinnen versorgte. Oelbermann erwähnte in dem Zusammenhang eine Mutter, die nach der Geburt ihres 14. Kindes durch die Mahlzeiten wieder zu Kräften kam.214 Aufgrund von Geldmangel in den Familien pflegten viele ihre Angehörigen selbst und griffen nicht mehr auf die Schwestern zurück, so dass die Einnahmen zurückgingen. Sie sprach noch eine andere Gruppe Gemeindemitglieder an, die dringend auf Hilfe angewiesen war: die Rentner. Einige von ihnen hätten früher eigenes Personal gehabt, die sie versorgen konnten, nun seien sie einsam und verlassen. Die Frauenhilfe verfügte jedoch nicht über genug Vermögen, sie bei Krankheit gänzlich zu versorgen. Die Schwestern halfen so weit wie möglich, die Einzelnen in ihren letzten Lebenstagen bestmöglich zu pflegen. Laura von Oelbermann wusste auch Positives zu erzählen. Eine Zuschneideschule in der Großen Witsch212 Ibid., S. 4. 213 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1924, S. 6. 214 Ibid., S. 1.

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gasse 15, also im Diakonissenheim, stand kurz vor der Eröffnung, passende Lehrkräfte seien bereits eingestellt. Täglich sollten zwei vierstündige Kurse, einer vormittags, einer nachmittags, angeboten werden. Frauen konnten gegen eine Gebühr von monatlich zwölf Mark Kenntnisse rund ums Nähen, Ausbessern und Zuschneiden erhalten.215 Ein kurzer Bericht über die Hauptversammlung der Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereine in Potsdam folgte. Die stellvertretende Vorsitzende Ellen von Rautenstrauch und die Eheleute Klingenberg hatten daran teilgenommen. Im Zentrum der Tagung stand das 25-jährige Jubiläum des Dachverbandes am Antikentempel. Eine besondere Erwähnung fand die Anwesenheit der Frau Kronprinzessin.216 Am 4. Januar 1926 wurde das 25-jährige Bestehen des Vereins im festlichen Rahmen begangen. Der Vorstand als Gemeinschaft bat zum Festakt, die Vorsitzende in der gleichen Einladung gesondert und explizit zum nach den Reden gereichten Kaffee, den sie finanzierte. Auffällig ist, dass der damalige Superintendent Lic. Georg Klingenberg, zugleich Schriftführer des Vereins, ausführlich der 1921 im niederländischen Exil verstorbenen unvergesslichen Gründerin des Vereins, der ehemaligen Kaiserin Auguste Viktoria gedachte. Hierzu erhoben sich alle Anwesenden von ihren Plätzen und er las das aus ihrem Nachlass erhaltene und von ihr verfasste ergreifende Gedicht „An die Heimat“ vor. Über diesen Teil der Feier stand im Bericht: […] nach dieser stillen Ehrung der wahren Landesmutter aller Deutschen wurde ein drahtlicher Gruß der Frau Kronprinzessin verlesen, der erneut den Beweis erbrachte, wie innig die Glieder des Hauses Hohenzollern mit dem Wert der heimgegangenen Kaiserin verbunden geblieben sind.217 Pastor Ludwig Schneller, Mitbegründer und ehemalige Schriftführer, wurde in gebührender Weise für seine Tätigkeit seit Entstehen des Vereins gedankt. Er zeigte auf der Veranstaltung in zum Teil launiger, zum Teil tiefernster Weise Bilder aus einem Vierteljahrhundert Vereinstätigkeit und vom Engagement der Vorsitzenden.218 Die Vereinstätigkeiten veränderten sich kaum. Hinzu kam unter anderem eine Nähschule, die Frauen die Chance bot, eine Fertigkeit zu erwerben, um unter anderem damit zum Lebensunterhalt beitragen zu können.219 Die Anzahl der Mitglieder stieg bis 1929 auf über 1.000. 14 Kaisers215 Ibid., S. 2. 216 Ibid., S. 3. 217 EGAK 44–2–2: Ev. Frauenhilfe Köln e. V. 1926–1950. Ein Vierteljahrhundert ev. Frauenhilfe. 218 Ibid. 219 Ibid.

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werther Schwestern konnten unter der langjährigen Leitung von Schwester Martha Hövelmann beschäftigt werden. Die Hauptversammlung im Februar 1930 begann mit einem emotionalen Nachruf zum Tod von Laura von Oelbermann am 3. Juni 1929. 29 Jahre hatte die tatstarke evangelische Frau, mit starker Führungspersönlichkeit, wie sie dort beschrieben wird,220 den Verein aktiv geleitet und mit hohen Mitteln finanziell unterstützt. Ein Erinnerungsheft zur Gedenkfeier vom 28. November 1929 war, wie bereits auf der Titelseite des Reports vermerkt, beigefügt. Hervorgehoben wurde, dass sie über Jahre einen engagierten Mitarbeiterkreis heranbildete, der sich nun zur Aufgabe machte, im Sinne der Verstorbenen den Verein weiterzuführen. Erwähnt wurde auch, dass zur Gedenkfeier um die 400 Mitglieder versammelt waren, um ihr bei Orgel- und Gesangsvorträgen zu gedenken. Es lag nahe, dass Ellen von Rautenstrauch nach dem Tod Laura von Oelbermanns Erste Vorsitzende des Vereins wurde. Ihre Stellvertreterin wurde Dora Pferdmenges.221 Bevor über die Vereinstätigkeiten des Vorjahres informiert wurde, gab es eine Notiz, dass eine geringfügige Satzungsänderung bezüglich der klaren Prägung des Vereins erforderlich war. Der Verein trug fortan zum Namen Evangelische Frauenhilfe den Zusatz e. V.222 Insgesamt gibt der Bericht Aufschluss über die Probleme, die die Wirtschaftskrise in der Zeit mit sich brachte. Fehlende Kleidung, Möbel und Brennmaterial wie Briketts wurden angeschafft und an besonders bedürftige Familien verteilt. Wo viele Personen in zu kleinen Behausungen lebten, wurden größere Wohnungen vermittelt. Neben den üblichen Einsatzgebieten wurde Kosten von 500 Mark für neue Schuhe oder die Besohlung von Schuhen bewilligt. Die Nähschule brachte noch Probleme mit sich, da die Frequentierung nicht so war wie gewünscht. Eine Werbekampagne verhalf dann zum gewünschten Erfolg.223 Nach dem Umbau der Oelbermann-Villa stand weiterhin der einstige große Festsaal für Mitgliederversammlungen und andere große Veranstaltungen zur Verfügung, an der durchaus 400 Personen teilnahmen. Die Versammlungen zu Anfang des Jahres, in denen der Vorstand Rechenschaft über das Vorjahr gab, fanden zumeist am Standort der Frauenhilfe in der Großen Witschgasse statt.224

220 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1930, S. 1. 221 Ibid., S. 5. 222 Ibid., S. 4. 223 Ibid. 224 EGAK 44–2–2: Jahresberichte 1905–1938.

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Die Kölner Frauenhilfe im Nationalsozialismus Dass 1933 eine neue Zeit hereinbrach, die den Verein von außen beeinflusste, zeigt bereits der Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1933. Er wurde sachlicher, unter Benennung der sozialen Arbeitsfelder verfasst.225 Die Herausforderungen, die durch den Nationalsozialismus seit 1933 entstanden, werden durch kurze Anmerkungen ersichtlich, aus denen eine Reduzierung der Selbstbestimmung hervorgeht. So erfolgte die Mitteilung, dass der Hauptverband der Frauenhilfe sich geeinigt habe, dass sich alle Gemeinde-Frauenverbände in der Reichsfrauenhilfe zusammenschließen. Diese stehe an der Spitze des evangelischen Frauenwerks und verfüge über die staatliche wie kirchliche Anerkennung und vor allem Genehmigung. Es wurde des Weiteren darauf verwiesen, dass eine Gleichschaltung des kirchlichen Verbands im politischen Sinne nicht in Frage käme und der Umschwung im Vaterland dem Verein eine Entlastung bringen würde.226 Es folgte der Hinweis, dass die Führung bei der NS-Volkswohlfahrt, die Durchführung bei den Ortsgruppen lag. Dort waren die vier Spitzenverbände vertreten: die NS-Volkswohlfahrt, das Rote Kreuz, die katholische Caritas und die Innere Mission, zu der die evangelische Frauenhilfe gehörte.227 Auf dem Programm der im Juni 1933 stattfindenden Mitgliederversammlung, an der 300 Personen teilnahmen, stand ein Vortrag der Vorsitzenden des Provincial-Verbandes Magdalene von Waldthausen aus Essen.228 Sie engagierte sich wie viele andere Funktionsträgerinnen seit Jahrzehnten in der Frauen­hilfe und kannte daher die Entwicklungen des Vereins sowie die Auswirkungen von politischen Entscheidungen und die daraus resultierenden Veränderungen. In ihrem Vortrag thematisierte sie den der Frauenhilfe in der gegenwärtigen Zeit gegebenen Auftrag, ihren alten Dienst im verstärkten Maße für Kirche und Volk weiterzutun.229 Es sei hier angemerkt, dass Magdalene von Waldthausen schon zu der Zeit dem Regime kritisch gegenüberstand.230 Die Suppenküche war nun einer Interessengemeinschaft der NS-Volkswohlfahrt angehörig. 225 EGAK 44–2–2: Jahresberichte 1933–1944. 226 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1933, S. 1. 227 Ibid., S. 2. 228 Ibid., S. 3. 229 Ibid. 230 Evangelische Kirche im Rheinland: Magdalene von Waldthausen, URL: https://www. ekir.de/www/ueber-uns/waldthausen-31563.php (Stand: 22.4.2021). Magdalene von Waldthausens (1886–1972) Ziel war es in den folgenden Jahren, die evangelische Frauenarbeit an die Bekennende Kirche anzugliedern. Dies stand in Opposition zu den regimetreuen Deutschen Christen. Vgl. Claudia Prinz: Die Deutschen Christen, in: LEMO (Deutsches Historisches Museum Berlin), 2015, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/innenpolitik/christen (Stand: 22.4.2021).

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Es gab nun nicht mehr eine Verbandsvorsitzende, sondern eine Reichsführerin des Frauenwerks der Evangelischen Kirche, Agnes von Grone.231 Hierbei handelte es sich um die Vorsitzende der Frauenhilfe Braunschweig.232 Sie hatte ihren Besuch in Köln für das kommende Jahr angekündigt. Zum Abschluss wurde über eine Aussprache zur Frage der Ausrichtung der Aufgaben in den in einzelnen Pfarrbezirken gebildeten Frauenhilfen berichtet. Mit den Gemeindeschwestern und den Bezirkspfarrern wurde angestrebt, einen engeren Zusammenschluss mit den Gemeindemitgliedern zu erzielen, um Einsame und Bedrängte zu unterstützen. Der darauffolgende Absatz verweist auf den Spagat, den der Verein zwischen seiner von Beginn an erfolgreichen Ausrichtung und den Interessen des Staates bewältigen musste: Auch dieser Zweig unserer Arbeit will wie der ganze Aufgabenkreis der Frauenhilfe im Sinne der Volksverbundenheit unserem erneuerten Staat bei der Durchführung der großen Aufgaben helfen, die er sich unter der Führung unseres Volkskanzlers Adolf Hitlers gesetzt hat.233 Inwieweit diese Passage aufgrund einer tatsächlichen Akzeptanz des neuen Regimes oder aus Selbstschutz geschrieben wurde, um den allgegenwärtigen Anhängern des NS-Regimes keine Angriffsfläche zu bieten, bleibt den Lesenden vorbehalten zu entscheiden. 1935 fanden die gewohnten Aktivitäten in den jeweiligen Aufgabenbereichen statt. Schwester Martha Hövelmann, von der ersten Stunde an dabei, gab einen Rückschau auf nun 35 Jahre Tätigkeit in der Frauenhilfe.234 Zwei Erwähnungen sind besonders aufschlussreich in Bezug auf die Situation des Vereins. So wurde auf der Mitgliederversammlung der Vortrag eines Pfarrers Kunze aus Wuppertal-Barmen zum Thema „Ein Ruf Gottes an die deutsche evangelische Frau in der Gegenwart“ kommentiert, der den 250 231 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1933, S. 5. 232 Der Nachlass Agnes von Grones befindet sich im Landeskirchlichen Archiv Hannover, vgl. Bestandsbeschreibung unter URL: https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/ detailAction.action?detailid=b9036 (Stand: 22.4.2021). Agnes von Grohe (1889–1980) amtierte als Vorsitzende der Ev. Frauenhilfe der Braunschweigischen Landeskirche durchgehend von 1925 bis 1961. Reichsführerin des Frauenwerks der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) blieb sie bis 1936. Sie konnte dessen Gleichschaltung im Deutschen Frauenwerk verhindern. Dies führte zu Konflikten mit der NSDAP, weswegen sie aus der Partei ausgeschlossen wurde. Weitere Auseinandersetzungen blieben ihr innerhalb der Reichskirche und mit dem Reichsbischof ebenfalls nicht erspart, vgl. Fritz Mybes: Agnes von Grone und das Frauenwerk der Deutschen Evangelischen Kirche, Düsseldorf 1981. 233 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1933, S. 7. 234 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1935, S. 5.

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anwesenden Mitgliedern den Ernst der Lage dargelegte. Pfarrer Kunze rief alle Mitglieder auf, sich für das Evangelium einzusetzen.235 Die andere Mitteilung bezog sich auf ein neues Einsatzgebiet. Es betraf Mütter, denen man entweder in Bibelstunden oder durch Hausbesuche eine religiöse Betreuung zuteilwerden lassen wollte. Dafür wurde eigens eine Vikarin eingestellt, die anteilmäßig von der Frauenhilfe, dem evangelischen Frauenwerk und der Gemeinde bezahlt wurde.236 Beide Aktionen implizieren, dass es eine große Befürchtung gab, dass sich die Gemeindemitglieder dem Glauben abwenden und sich den staatlichen Ambitionen hingeben könnten. Wie jede Hauptversammlung begann auch die am 22. Januar 1936 mit der Verlesung eines Wortes aus der Schrift. Dieses Mal stand Jesaja 40, 26–31 im Fokus.237 Vor allem folgende Passagen sollten Trost spenden: 29. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden. 30. Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen; 31. aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln […].238 Nach dem Gedenken an verstorbene Mitglieder gab es eine Erklärung zu einer Änderung der Verbandszugehörigkeit der Kölner Frauenhilfe. Das Evangelische Frauenwerk war aus dem Deutschen Frauenwerk ausgeschieden, unterstand jedoch nach wie vor dem Reichskirchenausschuss, da dieser vom Frauenwerk der Deutschen Evangelischen Kirche anerkannt und als Organ der Kirche gefördert wurde. Die Frauenhilfen waren außerdem den zuständigen Landeskirchen zugeordnet. Eine Grippewelle hatte Ende 1936 wieder viele in der Gemeinde getroffen, darunter eine langjährig tätige Schwester in der Pflege, die so stark erkrankte, dass sie mehrere Monate ausfiel. 160 bedürftige Schulkinder wurden auf Kosten der Frauenhilfe im ersten Quartal 1936 mit Speisungen im Diakonissenheim versorgt, da die NS-Volkswohlfahrt sie nicht erfasst hatte und es wohl daher keine Beihilfe für diese Kinder gab.239 Neben den vielen Einzelnen und Familien, denen wieder auf vielfältige Weise geholfen werden konnte, gab es eine gute Nachricht aus der Nähschule, die mittlerweile gut besucht wurde. Eine Regierungsbeauftragte hatte die 235 Ibid., S. 6. 236 Ibid., S. 6. 237 Ibid., S. 3. 238 Die Bibel oder die ganze heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Elberfeld 1927, S. 578. Fettdruck im Original. 239 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1936, S. 2.

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Schule inspiziert und war voll des Lobes über die Vielseitigkeit der Kleidung und Wäschestücke, die die Schülerinnen herstellten und die Qualität der Arbeit. Eine Schülerin, die einen Vorbereitungskurs zur Berufsausbildung als Lehrerin besuchte, hatte die Aufnahmeprüfung als eine von 130 Anwärterinnen in Berlin bestanden und erhielt einen der 30 begehrten Plätze zum Studium der Gewerbelehrerin.240 Ein besonderes Lob erhielt ein weibliches Mitglied namens Brune. Es fand eine ausdrückliche Erwähnung, dass sie besonders viele Mitglieder geworben hatte, was in der Zeit besonders wichtig sei.241 Die früheren Berichte ließen keinen Zweifel, dass es sich um eine christliche Institution handelte, jedoch waren die meisten Mitteilungen sachlich begründet, wie es ebenso andere Institutionen mit sozialer Ausrichtung hätten berichten können. Der Anfang 1937 erstellte Jahresbericht war länger als die meisten vorhergehenden und enthielt viel mehr Texte religiösen Inhalts. So wurde ausführlich für Bibelarbeit und Gesang von Volksliedern bei Frauen und Mädchen geworben, damit dies wieder ein Teil des Familienlebens würde.242 Zwischen den Zeilen liest sich das als Versuch, Frauen und Mädchen vom Nationalsozialismus abzuhalten oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie sich nicht durch die Propaganda von der Gemeinde abwendeten. Erstmalig wurde ein kompletter 3,5-seitiger Vortrag von Frau Professorin Zillich abgedruckt, der am 11. November 1936 in Köln gehalten wurde. Er hatte den Titel „Sie blieben aber in der Gemeinschaft – Apostelgeschichte 2,42“. Er war ein flammender Appell, in der Gemeinschaft der evangelischen Frauenhilfe zu bleiben. Eine Vielzahl der ideellen Vorteile wurde aufgezählt, die die Frauenhilfsgemeinde als Weg zur lebendigen Kirche und zur ewigen Wahrheit Gottes bringen sollte, vor allem der Zusammenschluss als Kraftquelle.243 1937 beinhalteten die Berichte hauptsächlich formale Auskünfte, also über die Einsatzgebiete der Frauenhilfe in der Krankenpflege, Kinder- und Familienfürsorge, die Nähschule und die Bibelarbeit, die sich über Jahrzehnte bewährten. Zwei Informationen stechen heraus. Die erste betraf die Speisung von 130 Kindern,244 die von der Frauenhilfe mit einem Mittagessen im Diakonissenheim versorgt wurden, da sie von der NS-Volkswohlfahrt nicht berücksichtigt werden konnten. Der Grund dafür ist nicht benannt. Die zweite betraf Schwester Martha Hövelmann, die ihren 75. Geburtstag feierte.245 1938 ging 240 Ibid., S. 5. 241 Ibid., S. 6. 242 Ibid., S. 7. 243 Ibid., S. 9–12. 244 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1937, S. 1–6. 245 Ibid., S. 7.

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sie nach 38 Jahren Arbeit als Leiterin des Diakonissenhauses von der ersten Stunde an in den Ruhestand.246 Den Lebensabend wollte sie in Asbach verbringen.247 Ihre Nachfolgerin arbeitete zuvor in einer Gemeindestation in Essen.248 Das Protokoll für 1939 wurde ebenso sachlich gehalten wie das der Vorjahre. Es wurde erwähnt, dass die Arbeitsgebiete bis zum September 1939 aufrechterhalten werden konnten, danach musste man diese der Zeit anpassen. Die Einsätze zur Krankenpflege erhöhten sich, da Krankenhäuser für Soldaten requiriert wurden.249 Im September und Oktober musste die Verschickung von erholungsbedürftigen Kindern unterbrochen werden, da das Heim für das Militär gebraucht wurde. Im November stand es wieder zur Verfügung. Erstmalig wurden Lebensmittel- und Milchkarten erwähnt, die man für Wöchnerinnen einlöste, um sie mit Stärkungsmitteln versorgen zu können. Die dem Frauenverein zur Verfügung stehenden Karten löste man ebenfalls in der Weihnachtszeit ein, um damit Bedürftige zu unterstützen. Lebensmittelpakete, wie sie der Verein in den Vorjahren beschaffte, ließen sich nicht organisieren. Kleiderkarten der zuständigen Familien ließen zu, für diese dringend erforderliche Wäsche, Wolldecken und Kleidung zu kaufen.250 Die Räume der Nähschule sowie die wohlgepflegten Maschinen mussten dem Roten Kreuz zeitweilig zur Verfügung gestellt werden. 30 Damen des Roten Kreuzes erhielten Schnellkurse im Nähen.251 Das Rote Kreuz führte im Einverständnis mit der Frauenhilfe Pflichtsanitätskurse jeweils für Männer und Frauen durch. Im Oelbermann-Haus fand eine Adventsfeier mit einer Verlosung statt. Die Preise wie Schürzen und Kissen sowie Puppen waren zuvor in Bastelnachmittagen aus Stoffresten gefertigt worden und wurden im Oelbermann-Haus gelagert. Von Februar bis Dezember 1939 hatte eine leitende Schwester Bibelstunden abgehalten. Sie hatte vor der Arbeit dort in einem Missionshaus in Rumänien gearbeitet. Sie hatte jedoch Probleme, die Kölner Frauen zu gewinnen.252 In der Weihnachtszeit hielten die Schwestern eine Feier für die alten Leute ab, in der kleine Geschenke wie 339 Neukirchener Kalender verteilt wurden.253 Leider liegen keine Geschäftsberichte für die Jahre 1940 bis 1950 vor. Das kann darin begründet sein, dass diese durch Kriegswirren oder in der Nachkriegszeit anderen Unterlagen zugeordnet oder gar zerstört wurden. Der Dienst an Bedürftigen wird so weit wie möglich weitergeführt worden sein, 246 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1938, S. 1. 247 Ibid., S. 7. 248 Ibid. 249 EGAK 44–2–2: Jahresbericht 1939, S. 3. 250 Ibid., S. 4. 251 Ibid., S. 5. 252 Ibid., S. 6. 253 Ibid., S. 7.

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doch Bombenangriffe und Zerstörungen, Evakuierungen etc. dürften diesen erheblich erschwert haben.

Die Auflösung des Kölner Vereins Evangelische Frauenhilfe 1950 Ellen von Rautenstrauch blieb bis 1950 Vereinsvorsitzende und konnte auf eine insgesamt 23-jährige Vorstandsarbeit zurückblicken. Ihr oblag es im Jahr des 50-jährigen Bestehens, aufgrund des Beschlusses der Mitgliederversammlung vom 19. Oktober 1950 das Auflösungsverfahren des Vereins bei Gericht zu beantragen.254 Einem Zeitungsartikel vom 25. Oktober 1950 ist zu entnehmen, dass es nach dem Krieg nicht mehr möglich war, den Verein wie zuvor zu führen. So habe man bewusst auf Sammlungen verzichtet und auf die Kapitalrücklagen aus der Stiftung zurückgegriffen. Es wurden damit, wie all die Jahre zuvor, vor allem in der Gemeinde der Kölner Altstadt die Kosten für Genesungskuren durch Tuberkulose gefährdeter Kinder sowie dringend benötigte Haushaltsgegenstände, Wäsche und Kleidung für Bedürftige finanziert.255 Was die Führung des Vereins erschwerte, wird in dem Artikel nicht erläutert. Es ist davon auszugehen, dass in den Nachkriegsjahren und in der Zeit des Wiederaufbaus sich sowohl die aktive wie die finanzielle Unterstützung reduzierte. Ein Schreiben des Amtsgerichts an Ellen von Rautenstrauch, datiert vom 10. November 1950, bestätigte die Auflösung.256 Das noch vorhandene Restvermögen kam der nun an einem anderen Ort weiter existierenden Nähschule zugute.257 Der Verein der Kölner evangelischen Frauenhilfe existierte nun nicht mehr. So gab es von der Gründung 1900 bis 1950 nur zwei Vorsitzende. Zur Vervollständigung sind noch weitere Projekte von Laura von Oelbermann erwähnenswert, die aufgrund ihrer großzügigen Spenden entstanden.

Die Laura-Oelbermann-Stiftung zur Fürsorge für das körperliche und geistige Wohl der Jugend Dass Laura Oelbermann bei ihrem vielfachen Einsatz für die Frauenhilfe einen sehr vielseitigen Blick für die Nöte der Menschen hatte, liegt womöglich in ihrer Sozialisierung seit ihrer Kindheit begründet. Neben den sich wiederholenden kleineren Gaben und sehr großen Schenkungen gründete sie 1916 zusätzlich die Laura-Oelbermann-Stiftung mit einer Einlage von einer Million 254 EGAK 44–2–2: Ev. Frauenhilfe Köln e. V. 1926–1950. Ein Vierteljahrhundert ev. Frauenhilfe. Vereinsauflösung. 255 Kölner Stadtanzeiger vom 25. Oktober 1950. 256 EGAK 44–2–2: Schreiben Amtsgericht vom 10. November 1950. 257 Kölner Stadtanzeiger vom 25. Oktober 1950.

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Mark. Laut § 3 der Satzung diente diese ausschließlich mildtätigen und gemeinnützigen Zwecken zur Fürsorge für das körperliche und geistige Wohl der Jugend.258 Hieraus wurde der Kauf von zwei Häusern einschließlich der Grundstücke, der Einrichtung und der laufenden Kosten samt Personal für den Emilienkinderhort, benannt nach der Mutter der Spenderin, und für eine Kinderkrippe namens Auguste-Victoria-Krippe, zu Ehren der Kaiserin, bezahlt.259 Das Haus für die Kinderkrippe lag in illustrer Lage in der Overstolzenstraße 23 gleich gegenüber dem Volksgarten. Die auf vier Etagen lichtdurchfluteten Räume samt Untergeschoss, in dem sich die Küchenanlagen befanden, war wie alle Häuser, die Laura Oelbermann finanzierte, mit der neuesten Technik ausgestattet. Es gab Platz für jegliche Arbeiten und Unterbringung des Personals und der Schwestern, denen die betreuende Verantwortung für insgesamt 40 Säuglinge und Kleinkinder bis zu vier Jahren oblag. In beiden Einrichtungen arbeiteten wie für die Frauenhilfe Kaiserswerther Schwestern, die in den jeweiligen Häusern wohnten.260 Der Emilienkinderhort in der Händelstraße, benannt nach der Mutter der Stifterin, befand sich in einem Haus auf einem 1100 Quadratmeter großen Grundstück. Der nutzergerechte Umbau für 100 Kinder dauerte nur vier Monate. Die Einweihung beider Einrichtungen fand am 22. Oktober 1916, dem Geburtstag der Kaiserin statt. Zur ersten Feier wurde laut Einladung um „11½ Uhr“ eingeladen, zur zweiten um „12 ¾“. Hochrangige Persönlichkeiten nahmen teil, darunter Regierungspräsident Dr. Otto von Steinmeister, die Gattin von Oberbürgermeister Max Wallraf, Superintendent Dr. Karl Klingemann sowie Pfarrer Johannes Stursberg, der Vorsteher der Diakonieanstalt Kaiserswerth. Kaiserin Viktoria Auguste hatte einen Vertreter entsandt, der ein Grußwort sprach. Beide Einrichtungen nahmen am 1. November 1916 den Betrieb auf.261 Die Zeitungen berichteten sowohl am 17., 22. und 23. Oktober über die beiden Institutionen, und zwar wiederholt mit ähnlichem Text, was die Ausstattung und Leitungen in den Häusern betraf. Ebenfalls wurde berichtet, dass auch die Aufnahme nichtevangelischer Kinder vorgesehen war. Auffällig ist, dass der Wortlaut der Zeitungsartikel sehr einem Schreiben des Presbyteriums 258 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Satzungsbeschluss vom 6. Oktober 1916, Nr. 175. 259 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, vgl. Kölnischer Stadt-Anzeiger, Kölner Tageblatt, Kölnische Volkszeitung jeweils vom 17.10.1916, Gemeindebote vom 22.10.1916. 260 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung. Die neuen Oelbermann-Stiftungen. Kölner Tageblatt vom 23.10.1916. 261 Ibid.

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gleicht. Es ist davon auszugehen, dass dieses Schreiben gleichzeitig der Benachrichtigung der Presse diente. Der Text wiederholt sich im Schriftverkehr der Folgejahre.262 Ziel der Laura-Oelbermann-Stiftung war unter anderem die Fürsorge für das leibliche und geistige Wohl der Jugend der evangelischen Gemeinde Köln.263 Insbesondere die Kinder kranker oder im Elend lebender Eltern und Kriegswaisen sollten in den Einrichtungen versorgt werden.264 Unter anderem bekamen die Kinder neben der Betreuung geregelte und gehaltvolle Mahlzeiten, die es zu Hause oft nur bedingt gab.265 Die Einrichtung entlastete die Eltern, um zu genesen oder Arbeit zu finden, also als eine Hilfe zur Selbsthilfe. Aus einem Schreiben geht hervor, dass Laura Oelbermann zwei weitere Stiftungen tätigte. Die eine war eine Diakoniestation für männliche Krankenpflege mit einem Vermögen von 200.000 Mark und die andere der Laura-Oelbermann-Kindergarten im Charlottenhaus in der Severinstraße mit einem Betrag von 600.000 Mark. Die Diakoniestation, An Lyskirchen 14b, war jedoch bei Ausbruch des Krieges eingegangen und soll nicht wiedereröffnet werden.266 Aus dem zitierten Schreiben geht ebenfalls hervor, dass die Stifterin alt und kränklich geworden sei und den Anforderungen der von ihr begründeten Wohlfahrtseinrichtungen kaum mehr gewachsen sei, so dass sie daher wünscht, das Charlottenhaus samt dem Kapital und dem Haus der Laura-OelbermannStiftung anzugliedern. Diese sei in Form einer Schenkung der Gemeinde als Eigentum zu übergeben.267 Das Restvermögen der Diakoniestation sowie der Verkaufserlös des dafür genutzten Hauses, das Vermögen einschließlich Haus und Grundstück betrug insgesamt 995.000 Mark.268 Die Schenkung wurde im Februar 1917 vom Presbyterium der evangelischen Kirchengemeinde Köln angenommen und in einem Schreiben an das Konsistorium in Koblenz erörtert. Es musste noch die behördliche Genehmigung des Konsistoriums erteilt werden, die das Presbyterium in Köln ersuchte. Vorab 262 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Schreiben Presbyterium an Evang. Konsortium Coblenz vom 26. Februar 1919, vgl. Kölner Stadt-Anzeiger vom 23.10.1916. Anmerkung: In der Akte sind teilweise keine oder mehrere unklare, nicht stringente Nummerierungen auf den einzelnen Blättern/Seiten zu finden. 263 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Nr. 419. 264 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Schreiben Presbyterium an das Erbschaftsteueramt vom 23. August 1917. 265 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Schreiben an das Konsistorium Coblenz vom 26. Februar 1919. 266  EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung Nr. 419/420 Anmerkung: Der Name Laura-Oelbermann Kindergarten taucht in den kompletten Unterlagen nur in diesem Schreiben auf. 267 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Schreiben an das Konsistorium, ohne Nr. 268 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung, Nr. 420.

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musste der Kölner Polizeipräsident als Ortspolizeibehörde ein Attest ausstellen und unmittelbar ans Konsistorium senden, um darin zu bescheinigen, dass die Einrichtungen Hilfsbedürftigen zugutekamen.269 In den beiden Kinderhorten fanden 140 Kinder Aufnahme, in der Kinderkrippe wurden 65 Säuglinge versorgt. Zusätzlich gab es einige Betten für junge, in Not geratene Mütter. Im Frühjahr 1917 gab es Probleme mit einem Nachbarn des KaiserinAuguste-Heimes. Er schrieb dem Vermieter, dass er kein Verständnis dafür habe, dass die Stadt eine Genehmigung für die Einrichtung erteilte. Außer sonntags von 7 bis 18 Uhr spielten Kinder auf dem Hof oder hielten sich in den Räumen auf, die in Richtung seiner Wohnung lagen. Gegen ein Schwesternheim hätte er nichts einzuwenden gehabt. Er forderte den Vermieter auf, seinen Einfluss geltend zu machen, dass das Kinderheim verlegt, alternativ die Außenspielfläche Richtung Park verlegt würde. 270 In einem weiteren Schreiben drohte er mit Kündigung. Der Vermieter leitete den Beschwerdebrief weiter und drohte mit einer Klage, da er auf seine erste Anfrage keine Antwort erhielt.271 Es gab daraufhin die Anweisung vom Presbyterium, die Zeit der Außenaktivitäten morgens auf einen späteren Zeitpunkt zu legen und möglichst viel Zeit mit den Kindern im Volksgarten zu verbringen.272 Das scheint gefruchtet zu haben. Erhebliche bauliche Mängel und Interventionen durch behandelnde Ärzte, da Hygieneeinrichtungen unzulänglich waren und Isolierräume sowie eine Quarantänestation bei Epidemien fehlten, machten 1930 bauliche Veränderungen unvermeidlich. Der Erwerb und Umbau des zum Verkauf stehenden Nachbargebäudes verhalf zu einer guten Lösung. Eine Anerkennung als Kinder- und Säuglingspflegerinnen-Schule wurde beantragt. Die Finanzierung erfolgte aus der Erbmasse, da das amerikanische Vermögen Laura von Oelbermanns mittlerweile freigegeben wurde.273 Dies dürfte letztendlich von Vorteil gewesen sein, da somit jenes Vermögen nicht während der Wirtschaftskrisen entwertet wurde. Am 21. November 1931 eröffnete nach einem Umbau im feierlichen Rahmen das Mütterheim im Auguste-Viktoria-Säuglingsheim, dieses erhielt damit eine andere Ausrichtung. Es entstanden Kleinwohnungen für die Mütter. Desgleichen wurden fortan Mädchen innerhalb eines Jahres zu Pflegerinnen aus269 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann Stiftung. Brief an den Polizeipräsidenten vom 24. Februar 1917. 270 EGAK 84–3–1: Vermieter Beschwerde Lärmbelästigung vom 11. Mai 1917, Nr. 275. 271 EGAK 84–3–1: Vermieter Beschwerde Lärmbelästigung vom 1. Juni 1917, Nr. 279. 272 EGAK 84–3–1: Beschwerde Lärmbelästigung. Handschriftliche Notiz des Vorsitzenden Presbyteriums W. von Recklinghausen vom 23. Juni 1917; Nr. 281. 273 EGAK (unverzeichnet): Kauf Nachbargrundstück und Umbaumaßnahmen. Schreiben Eugen von Rautenstrauch vom 11. November 1930, Empfänger unbekannt.

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gebildet. Das Schulgeld betrug 10 Mark. Auswärtige Schülerinnen konnten gegen eine Gebühr von 30 Mark Kost und Logis erhalten.274 1936 kam es zu einer existenzbedrohenden Auseinandersetzung zwischen dem Finanzamt und dem Presbyterium. Es drohte eine Zwangsvollstreckung wegen angeblicher Steuerschulden. Angezweifelt wurden die mildtätigen Zwecke. Die NS-Behörden versuchten der Stiftung zu unterstellen, dass die Häuser gewinnorientiert arbeiteten. In einem folgenden Schreiben wurde bemängelt, dass in der Satzung nicht vermerkt sei, wem bei Stiftungsauflösung das Restvermögen zugutekäme. Der Ton in den Briefen der Finanzverwaltung wurde schärfer, der deutsche Gruß beendete den administrativen Teil. Das Presbyterium legte wiederholt Rechtsmittel ein, bis man 1938 eine Einigung fand, wodurch Mildtätigkeit nach Satzungsänderung anerkannt wurde.275 1943 wurde das Auguste-Viktoria-Heim durch einen Bombenangriff so stark zerstört, dass eine Nutzung unmöglich wurde. Die Bewohner waren bereits 1942 zur Burg Zieverich in Bergheim evakuiert worden, die sich im Besitz des langjährigen Kuratoriumsmitglied Gottlieb von Langen befand.276 Ab November 1951 fanden nach Beendigung der einjährigen Wiederaufbauzeit 110 Säuglinge zur Betreuung und 14 Mütter mit Kind Aufnahme in der Overstolzenstraße.277 1970 kam eine Ordnungsverfügung der Stadt Köln. Die erheblichen baulichen Mängel häuften sich immens und die Stadt schränkte die Belegung erheblich ein, so dass im Presbyterium auf Dauer keine Zukunft mehr für das Haus gesehen wurde. Daher fasste man in dem Gremium den Entschluss, dass Heim zum 30. Juni 1972 zu schließen.

Eine Schenkung aus Köln nach Jerusalem Laura von Oelbermann hatte einem weiteren Großprojekt zur Realisierung verholfen. 1906 spendete sie zum Anlass der Silberhochzeit des Kaiserpaares einen Betrag von 1.000.000 Mark für einen Krankenhausbau auf dem Ölberg in Jerusalem. Der hohe Betrag führte dazu, dass im Januar 1907 die Stiftungsurkunde vom Kaiserpaar, deren sechs Söhnen und Tochter Prinzessin Viktoria Luise unterzeichnet werden konnte. Die bebaute Fläche lag bei 4500 Quadratmetern.278 Insgesamt wurden 2.700.000 Mark für das Grundstück und den Bau 274 EGAK 84–3–1: Laura-Oelbermann-Stiftung: Ausbildungsordnung Säuglings- und Kinderpflegerin von 1931. 275 EGAK 84–3–1: Satzungsänderung, Nr. 141 f. 276 EGAK (unverzeichnet): Stiftungen. Kölnische Rundschau vom 15. November 1951, Mitgliedsverzeichnis Kuratoriumsmitglieder Laura-Oelbermann-Stiftungen. 277 EGAK (unverzeichnet): Kölnische Rundschau vom 15. November 1951. 278 Vgl. O. V.: Die Kaiserin-Auguste-Victoria-Stiftung mit der Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg bei Jerusalem, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 62 (1916), S. 417.

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des Auguste-Viktoria-Hospitals auf dem Ölberg in Jerusalem veranschlagt. Die Planungen hatte der Berliner Architekt Robert Leibnitz vorgenommen. Im Gesamtbetrag war ebenfalls die Ausbesserung einiger Straßen in Jaffa berücksichtigt, da ansonsten die Glocken für den Kirchturm auf diesem Wege nicht hätten transportiert werden können. Die Straßenbauarbeiten kosteten 60.000 Mark.279 Die Einweihung des Auguste-Viktoria-Hospitals fand am 9. April 1910 statt.280 Die Gebäude in deutsch-romanischer Architektur boten auf drei Ebenen verschiedene Nutzungen. Im Erdgeschoss gab es sowohl Einzelzimmer für Erholungsbedürftige sowie zusammenhängende Wohnungen für „Fürstlichkeiten, Herrenmeister und Kuratoren“.281 Die Kirche grenzte direkt an den Festsaal und an ein Speisezimmer. Im ersten Obergeschoss befanden sich weitere Fremdenzimmer sowie Diakonissenwohneinheiten und ein Speisesaal. Im Dachgeschoss konnten Pilger in großen Sälen einen Schlafplatz finden. Dienstboten waren in einem eigenen Trakt untergebracht.282 Das Kaiserin-Auguste-Victoria-Stiftung, auch Ölbergstiftung genannt, existiert noch heute in Jerusalem. Sie sitzt zwar nicht in Köln, ist jedoch hier erwähnenswert, da sie mit einem erheblichen Spendenanteil von Laura Oelbermann realisiert werden konnte und noch heute eine unentbehrliche Funktion in Jerusalem hat. Nach dem Ersten Weltkrieg dienten die Gebäude der Ölbergstiftung unter anderem als Sitz des Gouverneurs des britischen Völkerbundmandats für Palästina. Seit 1948 werden sie wieder als Krankenhaus genutzt, welches noch heute den Namen Augusta-Victoria-Hospital in Angedenken an die letzte deutsche Kaiserin trägt. Die Institution bleibt eine unverzichtbare medizinische Einrichtung für Palästinenser und wird von der Lutherian World Federation (LWF) getragen.283 Letztendlich konnten zwei große Kliniken, das Krankenhaus Weyertal in Köln und das Augusta-Victoria-Hospital in Jerusalem, aufgrund des hohen Finanzierungsanschubs einer Kölnerin erbaut werden. Sie werden auch zukünftig lebenswichtige Aufgaben für die Menschen in einem jeweils großen Einzugsgebiet leisten und somit den Namen Laura (von) Oelbermann in Jubiläumsschriften, als Druckwerk oder im Internet in Erinnerung und in Ehren halten.

279 Vgl. ibid. 280 Vgl. ibid., S. 419. 281 Ibid., S. 418. 282 Vgl. ibid. 283 Lutherian World Federation: The Augusta Victoria Hospital. A History shaped by conflict, URL: https://jerusalem.lutheranworld.org/content/history-91 (Stand: 23.4.2021).

Heraus aus dem Chaos – Die Kölner Familie Schmitz am Ende des Zweiten Weltkriegs von Jürgen Brautmeier

Vorbemerkung 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht kein Mangel an wissenschaftlicher Literatur über die Jahre zwischen 1933 und 1945 und besonders auch über die Zäsur des Jahres 1945, die ganz gewiss keine Stunde Null war. Gleichzeitig gibt es immer weniger Zeitzeugen, also heute 80-Jährige und Ältere, die das Ende des Dritten Reichs und den anschließenden Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte und Landstriche in dieser schweren Zeit bewusst miterlebt haben. Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln hat es sich schon vor Jahren im Rahmen eines aufwendigen Projekts zur Aufgabe gemacht, Material aus Köln und Umgebung zu sammeln und zugänglich zu machen, das etwas über die Lebenswelten der damaligen Kinder und Jugendlichen in Köln, aber nicht nur dort, aussagt, z. B. über ihre familiären Verhältnisse, ihre Erziehung, ihre Freizeit, ihre Vereinnahmung durch das NS-Regime etc. Auf einer eigenen Webseite können dazu allgemeine Darstellungen der „Jugend in Deutschland 1918–1945“ nachgelesen werden, aber auch zahlreiche Zeitzeugeninterviews abgerufen werden.1 Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln erfüllt damit eine Aufgabe, die andernorts u. a. von Erinnerungsstätten und Dokumentationszen­ tren, in erster Linie aber von Stadtarchiven zu erfüllen ist. Auch der WDR hat seit dem Frühjahr 2019 eine Online-Plattform aufgebaut, auf der bisher über 100 Zeitzeugen ihre Erfahrungen und Erinnerungen aus verschiedenen Kriegen und insbesondere dem Zweiten Weltkrieg vermitteln. Und mithilfe einer zusätzlichen „Augmented Reality“-App können sogar einige Interviews mit vormaligen Kriegskindern in die eigene Umgebung geholt werden, z. B. der Bericht einer 1930 geborenen Kölnerin über ihre Erfahrungen im Luftschutzbunker.2

1 Online-Portal „Jugend in Deutschland 1918–1945“, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, online unter URL: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/default.aspx (Stand: 8.2.2021). 2  Online unter URL: https://www1.wdr.de/dossiers/kindheit-im-krieg/ (Stand: 8.2.2021). Die App „WDR AR 1933–1945“ ist in den App-Stores kostenlos erhältlich. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 84, S. 261–334

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Andernorts ist die lokale Alltagsgeschichte der Jugend noch längst nicht so erforscht und erschlossen, wie dies in Köln der Fall ist. In Köln beinhaltet das genannte Projekt, das nicht abgeschlossen ist, auch Ortsdarstellungen von Bonn, Düren, Jülich oder Korschenbroich, ja auch von einigen wenigen westfälischen Städten wie z. B. Lippstadt. Da die Chancen, Zeitzeugen ausfindig zu machen, von Tag zu Tag schwinden, ist die öffentliche Erinnerung an die Geschehnisse vor 75 Jahren, also das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Wiederbeginn des städtischen Lebens in den Trümmern der Stadt, eine Gelegenheit, nicht nur nach weiteren Zeitzeugen, sondern auch nach Materialien wie Briefen, Tagebüchern, Chroniken oder Ähnlichem zu suchen, die vielleicht noch vorhanden sind, sei es in Kisten und Schubladen von Älteren oder in dem, was ihre Nachkommen aufgehoben haben. Ein Beispiel für einen derartigen Nachlass stellen die im Folgenden dokumentierten Briefe dar, die von der Kölner Familie Schmitz stammen und während der Evakuierung ihrer fünf Kinder mit Mutter und Großmutter in Sachsen-Anhalt entstanden sind. Das älteste der Kinder, der damals elfjährige Hermann-Josef Schmitz, hat zudem als Zeitzeuge wertvolle Hinweise und Ergänzungen liefern können. Die Briefe haben jahrzehntelang relativ unbeachtet in einer Schublade gelegen und wurden dem Verfasser von Hermann-Josef Schmitz, der sie im Nachlass seines Vaters gefunden hatte, zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Sie können die Sammlung derartiger Zeugnisse im NSDokumentationszentrum ergänzen. Briefe aus dieser Zeit sind deshalb so aufschlussreich, weil sie das Hauptkommunikationsmittel zwischen auseinandergerissenen Familien darstellten. Dazu zählen natürlich Feldpostbriefe, aber eben auch Karten und Briefe, die mit der Evakuierung zu tun haben. In der Regel waren in ihnen keine spektakulären Dinge zu lesen, was angesichts der politischen Verhältnisse auch gefährlich sein konnte, aber sie veranschaulichen, wie der Alltag im Krieg aussah. Die Briefe zeigen einerseits exemplarisch, welche Informationen zu den familiären, gesellschaftlichen, politischen oder auch militärischen Ereignissen in der Stadt aus dem Schicksal einer einzelnen Familie entnommen werden können. Andererseits kann das Beispiel der Evakuierung der Familie Schmitz aus Köln vielleicht ein Schlaglicht auf die Situation so mancher Familie in anderen Großstädten werfen, auch wenn jeder Einzelfall anders ist. Die Schilderung der Evakuierung aus dem zerstörten Köln ist sicherlich nicht eins zu eins übertragbar auf die Verhältnisse in anderen Städten des Reiches, aber dennoch gibt es Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien. Die Auswirkungen des Bombenkriegs auf das tägliche Leben waren, was die Schwierigkeiten des Alltags – schon dieses Wort verbietet sich eigentlich – oder die Angst um das nackte Leben anging, durchaus vergleichbar mit der Situation andernorts. Was es für

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Familien mit Kindern und Jugendlichen in Köln bedeutete, unter diesen schwersten Bedingungen zu überleben, kann aus den Briefen der Familie Schmitz nur erahnt werden. Sie tragen aber auf jeden Fall dazu bei, unser Bild der damaligen Lebensverhältnisse zu ergänzen.

Die Bombenangriffe auf Köln im Zweiten Weltkrieg Köln hatte vor dem Zweiten Weltkrieg knapp 770.000 Einwohner.3 Während des Krieges wurde die Stadt als Handels-, Verkehrs- und politisches Zentrum der Rheinprovinz zu einem primären Angriffsziel alliierter Luftangriffe, und zwar wegen ihrer Bedeutung als Verkehrskreuz des Westens und wegen ihrer Industriebetriebe, die seit 1939 in der Kriegsproduktion aktiv waren. Neben Bahn- und Hafenanlagen standen Firmen wie Felten & Guillaume, KlöcknerHumboldt-Deutz oder die Ford-Werke ganz oben auf der Prioritätenliste (Priorität 1) der britischen Kampfbomber, insgesamt ging es um knapp 50 wichtige Ziele.4 Dabei gab es unterschiedliche Methoden der Bombardierung: von Luftminen, die Dächer und Fenster zerstörten, über Sprengbomben, die Gebäude zum Einsturz brachten, bis zu Brandbomben, die vor allem in der Innenstadt Flächenbrände erzeugen sollten. Neben der Zerstörung der rüstungswichtigen Betriebe und der Verkehrsinfrastruktur ging es den Alliierten auch um die Demoralisierung der Bevölkerung. Köln musste bis zum Ende der Kämpfe und seiner Besetzung im März 1945 durch amerikanische Truppen 262 Luftangriffe über sich ergehen lassen. Besonders intensiv wurden die Bombardierungen, nachdem die ersten alliierten Verbände im September 1944 im Raum Aachen deutschen Boden betreten hatten und weiter nach Westen vorrückten. Allein im Herbst/Winter 1944/45 fanden 53 Angriffe statt, welche die Stadt vor allem

3 Die folgenden allgemeinen Ausführungen zu Köln sind, wenn nicht anders vermerkt, nur leicht modifiziert dem Online-Portal des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln entnommen; vgl. ausführlich Martin Rüther/Gebhard Aders: Köln im Zweiten Weltkrieg. Alltag und Erfahrungen zwischen 1939 und 1945; Darstellungen, Bilder, Quellen (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 12), Köln 2005. 4 The Bomber’s Baedeker (Guide to the Economic Importance of German Towns and Cities), 2nd Edition, London 1944, S. 396–407. Dieser „Reiseführer“ der britischen Luftwaffe, erstellt vom Enemy Branch des Foreign Office und des Ministry of Economic Warfare, enthielt eine detaillierte Zielliste aller deutschen Orte mit mehr als 1000 Einwohnern, wenn es dort kriegswichtige Einrichtungen gab. Diese wurden detailliert beschrieben und auf einer Skala von (1+) bis (3) bewertet, aber auch Ziele genannt, die nicht wichtig waren (-). Seit Mitte 2019 ist die zweite, zweiteilige Ausgabe des „Bomber’s Baedeker“, von dem es nur noch ganz wenige nachgewiesene Exemplare gibt, digital verfügbar, vgl. URL: https://visualcollections.ub.uni-mainz.de/download/pdf/454122?name=1 (Aachen-Küstrin) und https://visualcollections.ub.uni-mainz.de/download/pdf/454569?name=2 (LahrZwickau) (Stand: 9.2.2021).

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Abb. 1: Ausschnitt aus der Beschreibung Kölner Luftangriffsziele in The Bomber‘s Baedeker (Guide to the Economic Importance of German Towns and Cities), 2nd Edition, London 1944, S. 401.

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durch jene am 27. September sowie am 2., 3., 5., 14., 15., 17., 18., 28., 30. und 31. Oktober 1944 in eine Trümmerwüste verwandelten. Köln hatte einen Vorkriegsbestand von 58.000 Häusern mit 252.000 Wohnungen, von denen am Ende des Krieges etwa 70 Prozent nicht mehr bewohnbar waren. Allerdings sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen, weil präzise Angaben immer von der Quellenlage abhängen und nur schwer zu ermitteln geschweige denn mit der Bilanz in anderen Städten zu vergleichen sind. Die Totalzerstörung von Wohnungen in Köln dürfte aber zwischen 40 und 60 Prozent gelegen haben.5 In den letzten Monaten des Krieges brach der Zug- und Straßenbahnverkehr in Köln ebenso zusammen wie die Rheinschifffahrt und die Gas-, Strom- und Wasserversorgung, was wiederum dazu führte, dass wichtige und ohnehin schon drastisch reduzierte Versorgungseinrichtungen für den täglichen Bedarf wie Metzgereien oder Bäckereien, aber auch Schuh- und Bekleidungsläden ausfielen bzw. nur noch sehr eingeschränkt vorhanden waren. Das Fernsprechnetz war außer Betrieb, ein geregelter Postbetrieb nicht mehr möglich. Köln galt am Ende der Luftangriffe als am stärksten zerstörte Großstadt im Westen Deutschlands. Von den vormals fast 770.000 Einwohnern lebten im März 1945 nur noch weniger als 40.000 in der Stadt. Die Zahl der Toten ist nicht genau zu ermitteln, es waren insgesamt aber wohl mehr als 20.000 Einwohner, die in Köln durch die Luftangriffe ihr Leben verloren. Allein der verheerendste Angriff von allen während des Krieges hatte schon am 29. Juni 1943 über 4000 Menschenleben gekostet, der als „Peter-und-Paul-Angriff“ in die Ge­ schichtsbücher eingegangen ist und den früheren „Tausend-BomberAngriff“ vom 30. Mai 1942 mit knapp 500 Toten weit in den Schatten stellte.6 Durch die Zerstörungen und Schäden wurde Köln in der Endphase des Krieges mehr und mehr zu einer „toten“ Stadt, und entsprechend gestaltete sich auch der einsetzende Exodus der Bevölkerung. Am 13. November 1944 sollen sich noch rund 240.000, am 11. Dezember schon nur noch 160.000 Menschen in den Trümmern aufgehalten haben. Die Massenflucht wurde behördlicherseits zusätzlich dadurch verstärkt, dass seit September 1944 nur noch an Einwohner zwischen 15 und 65 Jahren, ab November 1944 schließlich nur noch jenen Lebensmittelmarken zugeteilt wurden, die aus nachweislich kriegswichtigen Gründen in den Ruinen ausharren mussten. Den Zurückbleibenden 5 Irmgard Hantsche: Atlas zur Geschichte des Niederrheins, Bottrop 1999 (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie 4), S. 172. 6 Martin Rüther: Die Erweiterte Kinderlandverschickung in Köln, Bonn und Umgebung, in: ders. (Hg.): „Zu Hause könnten sie es nicht schöner haben!“ Kinderlandverschickung aus Köln und Umgebung 1941–1945 (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 6), Köln 2000, S. 69–144, hier S. 114.

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wurde außerdem nervlich einiges zugemutet, da das Luftwarnsystem in Köln durch den Angriff vom 27. September 1944 für längere Zeit ausgefallen war. Das bedeutete, dass nun schon bei jedem Voralarm, und davon gab es in dieser Zeit sehr viele, Luftschutzräume aufgesucht werden mussten, selbst wenn sich die Bomber gar nicht im Anflug auf Köln befanden. Die besondere Bedeutung des Kölner Doms, seine Symbolkraft, aber auch seine Beschädigungen sind ausführlich beschrieben, ebenso wie die Entstehung und Wirklichkeit des Mythos seiner „Verschonung“.7 Besondere Bedeutung hatten natürlich auch die Rheinbrücken. In Köln verbanden sie die links- und die rechtsrheinischen Stadtteile. Nachdem die Mülheimer Brücke bereits am 14. Oktober 1944 durch Bombeneinwirkung zerstört worden war, folgten am 6. und 14. Januar 1945 die Zerstörungen der Südbrücke und der Rodenkirchener Autobahnbrücke, wobei erstere erst am 28. Januar endgültig einstürzte. Als am 28. Februar 1945 schwere Artilleriegeschosse der amerikanischen Bodenstreitkräfte im Stadtgebiet einschlugen, sank auch die Hindenburgbrücke, eine Hängebrücke, an deren Stelle heute die Deutzer Brücke den Rhein überspannt, mit Hunderten von Flüchtlingen in den Strom. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich nach offiziellen Angaben noch etwa 85.000 Menschen im gesamten Stadtgebiet, d. h. links- wie rechtsrheinisch, auf. Der letzte, von der Bombenmenge her schwerste und militärisch sinnloseste Angriff erfolgte am 2. März 1945, da die Alliierten mit einer zähen Verteidigung der Stadt rechneten. Am Vormittag des Tages fielen rund acht Prozent aller im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt abgeworfenen Bomben in die Trümmerwüste. Eigentlich hatte am 2. März 1945 auch ein Großangriff der britischen Luftwaffe auf die Stadt Neuss stattfinden sollen. Da Neuss aber an diesem Tag von den Amerikanern eingenommen und besetzt wurde, flogen die Bomber weiter nach Köln.8 Durch diesen verheerenden Angriff und die damit verbundene Zerstörung des Hauptbahnhofs wurde die am Vortag von NSDAPGauleiter Josef Grohé für den frühen Morgen des 2. März angeordnete Evakuierung des linksrheinischen Köln hinfällig. Aber obwohl die Alliierten die Bevölkerung mittels Flugblätter zum Verbleib im Linksrheinischen aufriefen, strömten Tausende über die als einziger Rheinübergang verbliebene und unter Beschuss liegende Hohenzollernbrücke, die zu der Zeit nicht nur eine Eisenbahn-, sondern auch eine Straßenbrücke war, ins Rechtsrheinische – die Angst vor weiteren Angriffen bei einer Verteidigung Kölns war zu groß.

7  Niklas Möring: Der Kölner Dom im Zweiten Weltkrieg (Meisterwerke des Kölner Domes 10), Köln 2011. 8  Margrit Sollbach-Papeler: Kriegsende 1945 im Kreis Neuss (Veröffentlichungen des Kreisheimatbundes Neuss e. V. 6), Dormagen 1995, S. 20.

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Abb. 2: Die zerstörte Hohenzollernbrücke in Köln, März 1945 (RWWA 32–F2244)9.

Am 6. März 1945 rückten Teile der ohnehin sehr schwachen deutschen Wehrmachtseinheiten über den Rhein ab, der Rest zog sich unter leichten Kämpfen in Richtung Süden aus Köln zurück. Um 12 Uhr sprengten deutsche Pioniere mit der Hohenzollernbrücke den letzten Rheinübergang, um 14 Uhr erreichten die Amerikaner das Rheinufer in der Altstadt. Der Kampf um das linksrheinische Köln war zu Ende.

Der Betrieb der Kölner Schulen im Bombenkrieg Mit Beginn des Krieges veränderten sich die Schulverhältnisse in Köln schlagartig.10 Fast zwei Drittel der Schulen konnten ab September 1939 nur noch einen eingeschränkten Unterrichtsbetrieb aufrechterhalten, weil ihre Räume teilweise oder ganz für kriegswichtige Zwecke zweckentfremdet wurden. Außerdem hatten alle Schulen einen durch Einberufungen, Schichtunterricht   9 Das Foto stammt aus einer Serie, die der Niederländer Jo Lahaye, der mit amerikanischen Soldaten als Dolmetscher von Belgien über Aachen und Düren nach Köln marschierte, von Dezember 1944 bis März 1945 aufgenommen hat. Es handelte sich bei der amerikanischen Infanterie-Einheit um die „Timberwolf Division“ unter der Leitung des Hauptmanns Captain Walters. 10 Die folgende Darstellung zur Schulsituation in Köln ist ebenfalls weitgehend dem Onlineportal des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln entnommen.

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und immer neue Ansprüche an Lehrer und Schüler entstehenden Personalmangel zu bewältigen. Der Unterricht sollte gleichzeitig inhaltlich und organisatorisch auf den Krieg ausgerichtet werden, wobei die Lehrer die Anweisung bekamen, noch intensiver als bisher „wehrgeistige Erziehung“ zu betreiben. Mit Fortdauer des Krieges zeigte sich, dass die zunehmenden nächtlichen Fliegerangriffe Schülern wie Lehrern immer mehr zusetzten. Dennoch konnte in Köln bis Ende Mai 1942 ein zwar stark eingeschränkter, aber doch regelmäßiger und geordneter Unterricht gewährleistet werden. Nach dem sogenannten „Tausend-Bomber-Angriff“ vom 30./31. Mai 1942, der den Schulbetrieb zunächst völlig lahmlegte, wurden die Möglichkeiten der Beschulung für die Restdauer des Krieges jedoch erheblich erschwert und unübersichtlich. 1944 verschärften sich die vorhandenen Probleme im Kölner Schulbetrieb stetig weiter. Ein Aufruf der NSDAP-Gauleitung vom Januar des Jahres, doch mehr Kinder zur Kinderlandverschickung (KLV) zu melden, war allerdings wie schon vorherige ohne positive Resonanz geblieben. Ab März nahmen die Fliegeralarme dagegen erneut zu. Während seit Längerem schon die Nächte zur Gänze in Luftschutzkellern und Bunkern verbracht und deshalb der Schulbeginn auf 9 Uhr verlegt werden musste, war ein geregelter Unterricht nun auch am Tage vollends unmöglich geworden. Erschöpfte und kaum noch aufnahmefähige Schüler und Lehrer verbrachten die Vormittage immer häufiger in Schutzräumen. Im Mai 1944 versuchten Vertreter des Regierungspräsidenten, der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und des städtischen Schulamtes schließlich, die Schließung und Verlegung der Kölner Schulen zu organisieren. Gemessen an all ihrer Werbung für die KLV und dem damit verbundenen Druck auf die Eltern war der Erfolg alles andere als überzeugend. Aber trotz deutlicher Unmutsbezeugungen konnten die Eltern die Schließung und formale Verlegung zahlreicher Schulen Mitte 1944 nicht verhindern, zumal bekannt gemacht worden war, dass es den in Köln verbleibenden Schulen untersagt war, Schüler anderer Schulen aufzunehmen. Außerdem drohte die Verweigerung von Versetzungszeugnissen sowie von Lebensmittelkarten. An den nicht verlegten Schulen brach der Unterricht in den folgenden Monaten endgültig zusammen. Eine große Zahl von Schülern war zu weniger luftgefährdeten Gastschulen abgewandert, andere bekamen noch Einberufungen zu sinnlosen Kriegshilfsdiensten wie dem „Baueinsatz Westwall“. Auch die noch in Köln verbliebenen Lehrer und Schulräte wurden zu Schanzarbeiten aufgerufen. Schließlich wurde der gesamte Schulbetrieb auf Anordnung von Gauleiter Grohé am 2. Oktober 1944 eingestellt. Unterricht fand – abgesehen von wenigen privaten Initiativen – in Köln nicht mehr statt. Bei Kriegsende waren 46 Prozent der Schulgebäude total zerstört, 31 Prozent wiesen erhebliche und 23 Prozent leichtere Beschädigungen auf. Hatten

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1939 in den Kölner Volksschulen 2176 Räume zur Verfügung gestanden, so waren es nunmehr lediglich 290. Von den 16 städtischen höheren Schulen verzeichneten neun Totalschaden, fünf waren schwer, zwei leicht beschädigt. Außerdem waren die meisten Schulen geplündert worden; Lehrmittel, Schreib­ utensilien und Schulmöbel fehlten. Nach dem Ende des Krieges wurde am 23. Juli 1945 im linksrheinischen Köln in 22 Volksschulen der Grundschulunterricht wieder aufgenommen. Im Rechtsrheinischen dauerte es bis zum 20. August, bis 18 Volksschulen ihre Grundschulklassen wieder öffnen konnten. Die Oberstufenschüler der Volksschulen wurden Anfang Oktober des Jahres eingeschult, während die Schüler der höheren Schulen bis zum 26. November 1945 auf den Wiederbeginn des Unterrichts warten mussten.

Kinderlandverschickung Besonderes Augenmerk verdient die Evakuierung von Kindern und Familien aus Köln.11 Mit den anhaltenden und immer intensiver werdenden Luftangriffen wurde die Frage des Bleibens in der Stadt oder der Flucht aus dem Chaos in vielen Städten des Reiches eine Überlebensfrage. Gerade für die Kinder wurde deshalb schon früh nach Möglichkeiten gesucht, sie in Sicherheit zu bringen, also aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich heraus in ländlichere Regionen. Dies wurde von staatlicher Seite gefördert bzw. organisiert, wobei man generell zwischen Evakuierungen zu Verwandten und Bekannten und der sogenannten „Kinderlandverschickung“ unterscheiden muss. Letztere gab es schon vor 1933 als Ferienreisen von Stadtkindern in ländliche Gebiete. Solche Angebote wurden auch nach der Machtübernahme sowohl von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) als auch – wenn auch nur in eingeschränkter Form – von kirchlicher Seite, etwa der Caritas, durchgeführt. Ab Herbst 1940 wurde daraus die „Erweiterte Kinderlandverschickung“, die auf Weisung Adolf Hitlers vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach organisiert und geleitet wurde. Nunmehr trug die Hitlerjugend die inhaltliche Verantwortung und führte die Maßnahme in Zusammenarbeit mit der NSV und den Schulen durch. Der Terminus „Erweiterte Kinderlandverschickung“ sollte suggerieren, dass es sich bei den massenhaften Evakuierungen aus den seit 1943 verschärft von Bomben bedrohten Städten lediglich um eine Ausweitung bereits vorher bestehender Erholungsmaßnahmen handelte. Die Notlage wurde in eine ideologische Tugend umgewandelt: Die Kinder wurden zwar vor 11 Die allgemeine Darstellung zur Kinderlandverschickung ist ebenfalls dem Onlineportal des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln entnommen; vgl. ausführlich Rüther, Kinderlandverschickung (Anm. 6), S. 69–144.

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den Kriegsauswirkungen geschützt, aber getrennt von Elternhaus und Kirche waren sie auch der politischen Beeinflussung und dem paramilitärischen Drill durch die HJ ausgeliefert. Das galt besonders für die 10- bis 14-jährigen Kinder, die in KLV-Lagern untergebracht wurden, während die 6- bis 10-jährigen in „Familienpflegestellen“ Unterkunft fanden. Auch die Verlegung ganzer Schulen mit Schülern und Lehrern wurde in diesem Zusammenhang versucht zu organisieren. Bei den Eltern traf dies alles auf keine große Gegenliebe; Werbung dafür und entsprechender Druck waren besonders in Köln wenig erfolgreich. Im Rahmen einer am 30. Juni 1944 in Passau stattfindenden „Dienstbesprechung“ des Deutschen Gemeindetages, bei der die Schulräte und Schulsachbearbeiter aus rund 20 deutschen Städten vertreten waren, wurde die „Lage bei der Umquartierung“ bilanziert. In Köln, so weist es das Protokoll aus, seien bis Januar 1944 „überhaupt keine Schulen geschlossen, sondern voller Unterricht durchgeführt“ worden, aber immerhin hätte „die Hälfte der Schüler meist im Wege der Verwandtenverschickung oder in Begleitung der Eltern“ die Stadt verlassen.12 Eine „geschlossene Schulverlegung“ sei bislang nicht in Angriff genommen worden, wie insgesamt die KLV „kaum eine Rolle“ spiele. Wenngleich diese letzte Feststellung faktisch eine Untertreibung darstellte, so spiegelte sie doch die Enttäuschung der Entscheidungsträger und die Diskrepanz zwischen deren hochgesteckten Zielen und dem tatsächlich Durchgesetzten wider, die auch in anderen Städten vorhanden war. So betonten etwa die in Passau versammelten Schulbeauftragten unisono, „dass der geringste Teil der Kinder im Wege des KLV oder der geschlossenen Schulverlegung mitzubekommen sei, da die Eltern im allgemeinen Selbsthilfe und Verwandtenhilfe vorziehen“.

Die Geschichte einer Stadt und einer Familie in Briefen Die Verhältnisse in Köln machten das Leben und Überleben für diejenigen, die blieben oder bleiben mussten, zu einer täglichen Herausforderung. Die im Folgenden dokumentierten Briefe stammen von verschiedenen Mitgliedern der Familie von Hans Schmitz aus Köln und wurden in der Zeit zwischen Oktober 1944 und Oktober 1945 geschrieben. Aus ihnen kann man Näheres über die Beweggründe für die Evakuierung der Mutter mit ihren fünf Kindern nach Sachsen-Anhalt, aber auch über das Schicksal des in Köln gebliebenen Vaters und weiterer Familienmitglieder entnehmen. Sie beinhalten nicht nur Einzelhei12  Alle Zitate zit. nach: Kinderlandverschickung in Köln, Abschnitt: Fazit, in: Online-Portal „Jugend in Deutschland 1918–1945“ (Anm. 1), URL: https://www.jugend1918-1945.de/portal/jugend/thema.aspx?bereich=projekt&root=8937&id=4892&redir= (Stand: 9.2.2021).

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Abb. 3: Hans Schmitz (hintere Reihe, Zweiter von rechts) mit seinen Eltern und Geschwistern (Foto im Archiv des Verfassers).

ten über die Evakuierung selbst, sondern liefern auch Hinweise auf das Kriegsgeschehen in Köln und der näheren und weiteren Umgebung, weil die Verwandten der in Köln beheimateten Familie immer wieder Erwähnung finden. Hans Schmitz entstammte einer Kölner Handwerkerfamilie, der Vater (* 1869) war gelernter Bäckermeister und hatte bis 1907 eine Bäckerei mit Café in der Schaafenstraße nicht weit vom Neumarkt, in dem seine Frau Rosalia (* 1875) mitarbeitete. Hans (* 11. April 1901) war der Zweitälteste von fünf Kindern und hatte zwei Schwestern (Käthe, * 1899, und Gerta, * 1903) sowie zwei Brüder, Theo (* 1905, und Hermann-Josef, * 1914), von denen der jüngere im Alter von zwölf Jahren zusammen mit drei anderen Spielkameraden aus der Nachbarschaft am 9. Februar 1926 durch einen tragischen Unfall in einer Kiesgrube an der Ossendorfer Straße starb.13

13 Grauenhafte Kiesgrube. Zum Unglück an der Ossendorferstraße, Rheinische Volkswacht Nr. 35, 10. Februar 1926, S. 5, URL: https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/462275 (Stand: 11.2.2021).

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Hans Schmitz arbeitete nach der Schule, dem Gymnasium an der Apos­ telkirche,14 das er von 1911 bis 1917 besucht und mit dem „Einjährigen“, der späteren Mittleren Reife, verlassen hatte, zunächst als sogenannter „Zögling“15 bei der Bahnpost und anschließend beim Postscheckamt, dann als Telegraphist beim Bahnbetriebswerk in Köln-Kalk und als Aushilfe im Eisenbahnausbesserungswerk in Köln-Nippes, bevor er an der staatlichen Ingenieurschule ein Studium aufnahm. Nach Ende des Studiums war er fast zwei Jahre ohne feste Arbeit, bevor er 1928 als Ingenieur bei den „Bahnen der Stadt Köln“ angestellt wurde, dem Vorläufer der heutigen Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB), die ein dichtes Straßenbahnnetz in der Stadt betrieben. Seine Bezahlung erfolgte aber lediglich als Arbeiter.16 Seine anderthalb Jahre jüngere Frau Maria (* 10. Dezember 1902), geborene Westdorf, stammte ebenfalls aus Köln. Ihr Vater hatte nach einer Lehre in der Regen- und Sonnenschirmfabrik Munter & Sturhahn in der Breite Straße in Köln zunächst als Vertreter für die Schirmfabrik Wurtmann & Cie. gearbeitet,17 bevor er eine Anstellung in der Verwaltung der Kölnischen Verkehrsbetriebe bekam. Maria Westdorf hatte einen älteren Bruder Peter (* 1898) und einen jüngeren Bruder Rudolf (* 1908) sowie eine jüngere Schwester Erna (* 1906) und arbeitete vor der Geburt der Kinder Hermann-Josef (* 1933), Peter (* 1934), Erna (* 1937), Christel (* 1938) und Rudolf (* 1940) als Buchhalterin. Ihre Mutter Ernestine (* 1869) war eine geborene Jacquemien und stammte aus einer Kölner Handwerkerfamilie mit hugenottischen Wurzeln; der Sohn ihres Bruders Fritz war Rudolf Jacquemien, den das Schicksal und die Liebe Anfang der 1930er Jahre in die Sowjetunion verschlagen hatten, wo er trotz vieler Rückschläge seit den 1960er Jahren zu einem renommierten sowjetdeutschen Schriftsteller und Journalisten werden sollte.18 Hans und Maria Schmitz wohnten nach ihrer Heirat im September 1932 zur Miete zunächst auf der Aachener Straße in Köln-Weiden und seit 1935 in der Mommsenstraße, Ecke Curtiusstraße, in Köln-Sülz. Die Familie war katholisch, im Mietshaus in der Mommsenstraße galten sie in der NS-Zeit als „die schwarzen Schmitz im braunen Haus, da alle anderen Hausbewohner Nazis 14 Direktor des Apostelgymnasiums war in dieser Zeit der Mathematiker und Pädagoge Prof. Dr. Karl Schwering, dessen Sohn Leo nach dem Krieg zu den Mitbegründern der Kölner CDU gehören sollte. Dessen Bruder Ernst Schwering, ebenfalls CDU, wurde nach dem Krieg Beigeordneter und Oberbürgermeister der Stadt Köln. 15 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 16 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 17 Kopien der Zeugnisse im Archiv des Verfassers. 18  Jürgen Brautmeier: „… Der vom Rhein“. Ein langer Weg von Köln nach Kaliningrad. Der sowjetdeutsche Schriftsteller Rudolf Jacquemien (1908–1992), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 83 (2019), S. 265–295.

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waren“.19 Die Söhne Hermann-Josef und Peter wurden Messdiener, die ganze Familie war eng mit ihrer Kirche verbunden. Vater Hans wurde erst Mitglied der NSDAP, nachdem das dritte Kind, Tochter Erna geboren war und er den auf ihn ausgeübten Druck, u. a. dadurch, dass er nach wie vor lediglich als Arbeiter bezahlt wurde, nur dadurch zu entgehen vermochte, dass er in die Partei eintrat. Er tat dies auch erst, nachdem ihm sein ehemaliger Schulkamerad vom Gymnasium und Pfarrrektor des Krieler Dömchens,20 Johannes Groß, dazu geraten hatte, und zwar mit Rücksicht auf die Familie. Hans Schmitz engagierte sich im Reichsluftschutzbund, den es seit 1933 gab, um nicht zu eng mit der NSDAP selbst verbunden zu sein, und wurde Luftschutzwart für seinen Wohnblock. Nach dem Krieg sollte er im März 1946 wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und als „Untergruppenführer“ im Luftschutz von der britischen Militärregierung zunächst aus dem Dienst entlassen werden, bevor er im Juli 1947 wiedereingestellt werden konnte. Sein Entnazifizierungsverfahren wurde vor allem von kirchlicher Seite wie auch von ehemaligen Nachbarn sehr unterstützt.21 Im Krieg bewahrte ihn seine Anstellung als Ingenieur bei den städtischen Verkehrsbetrieben davor, zum Militär eingezogen zu werden. Mit dem Ortsgruppenleiter der NSDAP gab es aber anscheinend Querelen, nachdem Hans Schmitz seinen Sohn Hermann-Josef einmal vom „Dienst“ bei der Hitlerjugend, die alle 10- bis 18-Jährigen umfasste und für die seit 1939 eine Dienstpflicht bestand, abgehalten hatte mit der Begründung, er müsse nach dem Aufschlagen einer Luftmine im Hof hinter ihrem Haus beim Aufräumen helfen. Der Ärger entstand dadurch, dass sich Hermann-Josef aus Angst um seine Mutter, die während eines Luftangriffs bei ihrem Schwager Theo und seiner Frau Gerta in der nahen Münstereifeler Straße gewesen war, dorthin auf den Weg gemacht hatte und gesehen worden war – statt beim Aufräumen zu helfen.22 Die Angriffe auf Köln seit Beginn des Luftkriegs hatten im Rahmen von Familienverschickungen bereits zu zwei mehrwöchigen Aufenthalten der 19 Peter Schmitz, der zweitälteste Sohn von Hans Schmitz, hat die Erinnerungen seines Vaters in einem siebenseitigen Text für die Nachwelt festgehalten; vgl. Aufzeichnung Peter Schmitz, unveröffentlichtes Manuskript im Besitz des Autors, S. 4. „Braunes Haus“ war auch eine Anspielung auf die Parteizentrale der NSDAP in München, im offiziellen Parteijargon als „Braunes Haus“ bezeichnet. 20 Ein Pfarrrekorat war eine nichtselbständige Gemeinde innerhalb einer Seelsorgegemeinde. Seit 1938 war die Kirche Alt St. Stefan, genannt „Krieler Dömchen“ in Köln-Lindenthal, ein solches Rektorat, geleitet von einem Pfarrrektor; vgl. URL: https://www.st-stephankoeln.de/gemeinde/kirchengeschichte/ (Stand: 11.2.2021). 21 Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 6–7. 22 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Mutter mit ihren Kindern außerhalb Kölns geführt, das erste Mal 1941 in Veitshöchheim bei Würzburg und 1942 im luxemburgischen Echternach. 1944 war der älteste Sohn Hermann-Josef im Zuge von Schul- und Unterrichtsverlagerungen ganzer Klassen einschließlich ihrer Lehrer – seine Volksschule war am Manderscheider Platz in Köln – für knapp sechs Wochen in Elsdorf in der Nähe von Bergheim beschult worden, wo die Kinder in Familien untergebracht worden waren.23 Die lebensgefährlichen Verhältnisse in Köln im Herbst 1944 wie auch die Auseinandersetzung mit dem Ortsgruppenleiter waren Gründe, warum Hans Schmitz dann aber auch seine Frau und die fünf Kinder zur Evakuierung anmeldete.24 Da Köln weitgehend in Trümmern lag, wurde es im Übrigen auch für die Erwachsenen, also Eltern und Geschwister, gefährlich zu bleiben. Deshalb verließen auch andere Verwandte, wenn es irgendwie ging, die Stadt und suchten Unterschlupf in kleineren Ortschaften in der Umgebung, aber auch in größeren Städten weiter weg. So fuhr die Schwester von Maria Schmitz, Erna, die als Sekretärin bei der Kriminalpolizei in Köln arbeitete, vorwiegend an den Wochenenden zu einer befreundeten Kollegin nach Berzdorf. Aber auch Aschaffenburg25, wo eine Schwester von Hans Schmitz mit ihrer Familie lebte und wohin sie ihre Eltern nachholte, oder Oldenburg26, wohin eine Schwägerin zu ihrer dort lebenden Schwester und deren Familie floh, waren Ziele von Angehörigen der Familie Schmitz. Dass die Familie Schmitz vorher nicht auf das Ansinnen der Behörden eingegangen war, ihre Kinder wegzugeben bzw. zu evakuieren, erklärt sich aus dem katholischen Milieu und passte zum oben beschriebenen, ausgeprägten Beharrungsvermögen der Elternschaft in Köln gegen jede Form einer von der HJ organisierten Kinderlandverschickung. Im Oktober 1944, nach der offiziellen Einstellung des Schulbetriebes in Köln am 2. Oktober 1944, wurde Maria Schmitz mit ihren Kindern evakuiert, und zwar nach Unterwiederstedt zwischen Hettstedt und Sandersleben in Sachsen-Anhalt. Sie wurden in Hettstedt, wo ihre Zugfahrt endete, einem Bauernhof zugewiesen, den ein Alwin Müller bewirtete. Dorthin kam auch das Ehepaar Schüler, Nachbarn aus dem Haus in der Mommsenstraße.27 Der Vater, Hans Schmitz, musste wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Ingenieur 23 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 24 Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 5. 25 Aschaffenburg hatte 43.000 Einwohner und im Bomber’s Baedeker 14 kriegswichtige Ziele der Kategorien 2 und 3; vgl. The Bomber’s Baedeker (Anm. 4), S. 15–17. 26 Oldenburg war mit 78.000 Einwohnern im Bomber’s Baedeker (Anm. 4), S. 534–535, nur mit vier Zielen der Kategorie 3 verzeichnet. 27 Sie waren mit in die Evakuierung genommen worden, weil der Mann aufgrund einer Kinderlähmung im Rollstuhl mit Handhebelantrieb saß; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Abb. 4: Brief von Hermann-Josef Schmitz aus der Familienverschickung 1942 (Kopie im Archiv des Verfassers).

bei den städtischen Verkehrsbetrieben in Köln bleiben. Von den fünf Kindern gingen die vier älteren dann zur Volksschule in Unter- bzw. Oberwiederstedt, und zwar ein ganzes Jahr lang, von Oktober 1944 bis November 1945. Aus dieser Zeit sind insgesamt 31 Briefe erhalten, die vor allem Post zwischen Hans und Maria Schmitz, aber auch Korrespondenz mit anderen Verwandten beinhalten. Der erste datiert vom 25. Oktober 1944, der letzte vom 21. Oktober 1945. Neben Hans und Maria Schmitz stammen sie aus der Feder der Mutter von Maria Schmitz, Ernestine Westdorf, die ihrer Tochter und ihren Enkelkindern im November 1944 nach Unterwiederstedt gefolgt war, von deren Tochter Erna Westdorf in Köln sowie von Käthe Reichertz geb. Schmitz,

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die mit ihrem Mann, einem Vertreter einer Textilfabrik, in Aschaffenburg ­lebte.28 Aus den Briefen kann man einerseits Informationen über die Umstände der Evakuierung entnehmen, über die konkreten Lebensbedingungen und die Sorgen und Nöte einzelner Mitglieder der Familie, auch über die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens. Andererseits liefern sie Informationen über die fortschreitende Zerstörung der Stadt, über die Schwierigkeiten der Reise- und Transportbedingungen sowie des Postverkehrs und, wenn auch nur sporadisch, über die Kenntnisse bzw. die Einschätzung des Kriegsverlaufs. Interessant ist auch, dass Hans Schmitz bis zum bitteren Ende in Köln blieb; er verließ seine Heimatstadt erst am Morgen des 6. März 1945, dem Tag der Besetzung durch die amerikanischen Truppen. Die Briefe sagen erstaunlicherweise wenig bis nichts über das Alltagsleben der Kinder, ihren Schulbesuch und ihre Gesundheit aus. Allerdings erfährt man etwas darüber, dass eine der Töchter in der Evakuierung zur Ersten Heiligen Kommunion geht. Dies und die mehrfach artikulierten Bezüge zur Kirche und zum Glauben, die vor allem in den Briefen von Hans und besonders von Maria Schmitz zu finden sind, zeigen sehr deutlich: Der Glaube an Gott und insbesondere die Verehrung der Gottesmutter ließen nicht nach, im Gegenteil waren sie der Grund für Zukunftshoffnung. Wenn man eines aus diesen Briefen als Botschaft herauslesen will, dann ist es nicht die Verzweiflung, sondern das Gottvertrauen, mit dem die Erwachsenen der katholischen Familie Schmitz in dieser schwierigen und gefährlichen Zeit ihr Schicksal ertrugen und ihre Zuversicht nicht verloren.

Die Briefe29 Der erste Brief stammt von Hans Schmitz, geschrieben nicht lange nach der Abreise von Frau und Kindern aus Köln und gerichtet an seine Frau Maria. Aus ihm geht hervor, dass Hans Schmitz seine Familie nach Sachsen-Anhalt gebracht hat und dass sich seine Eltern nach seiner Rückkehr auf den Weg zu ihrer Tochter Käthe machten, die mit ihrem Mann schon vor dem Krieg nach 28 Vier Familienmitglieder der Familie Schmitz, nämlich Gerta und ihr Mann Jean Pfeifer, Käthe Reichertz sowie Theo Schmitz arbeiteten zeitweise alle bei einem der größten Arbeitgeber im linksrheinischen Köln, nämlich den „Allright-Fahrradwerken“ (seit 1901 Köln-Lindenthaler Metallwerke AG, KLM) in Köln-Sülz. Theo war dort Werkmeister und als junger Mann für seine Firma auch erfolgreich Radrennen („Rund um Köln“) gefahren; vgl. Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 3 u. S. 7. 29 Die Rechtschreibung und Grammatik wurden nur geringfügig korrigiert, wenn es dem besseren Verständnis diente. Namen von Personen und Örtlichkeiten wurden mit Hilfe von Hermann-Josef Schmitz zu eruieren versucht.

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Aschaffenburg gezogen war. Seine Schwiegermutter Ernestine Westdorf war südlich von Köln in Berzdorf, wo ihre Tochter Erna zumindest an den Wochenenden bei einer Kollegin von der Kripo sicherer als in Köln wohnte. Er selbst schrieb aus Köln-Merheim, dem heutigen Stadtteil Weidenpesch, wo seine Dienststelle war, die Hauptwerkstätte der Verkehrsbetriebe. Er wohnte aber noch in der alten Wohnung in der Mommsenstraße: Köln-Merheim, 25.10.44 Meine liebe Frau! Vorerst herzlichen Gruß und innigen Kuss. Vorweg – die Wohnung ist noch so wie wir sie verlassen, gleichfalls bei Schülers.30 Nach langem Warten bin ich mit einem Reichsbahn-Lastwagen von Mülheim zum Hauptbahnhof, von dort mit der Bahn zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal,31 mit Omnibus zum Adolf-Hitler-Platz32 und dann wieder mit der Bahn nach Merheim33 gelangt. Ankunft gegen 1 Uhr. Oberbaurat Hammer34 hat mich sofort zum Ausruhen nach Hause geschickt. Er kennt Hettstedt. Wir haben schon mal Omnibusse von dort hier im Einsatz gehabt. Ich bin zuerst vom Zülpicher Platz mit einem Pferdefuhrwerk zur Berrenrather Straße. Bahn fährt auch nicht mehr nach Sülz. Die Eltern fahren heute Vormittag mit einem Auto von Allright35 nach Kalscheuren36 und von dort zur Käthe. Hoffentlich klappt das. Mutter hatte sich jetzt endlich entschlossen. Ich habe Vater Eure Adresse gegeben. Alle lassen Euch herzlich grüßen und waren froh, dass Ihr so gut untergekommen seid. Ich will sehen, dass ich bei der Gerta essen kann. Auf der Dienststelle hat sich kaum etwas geändert, in den nächsten Tagen werden die Fenster repariert und Öfen aufgestellt. Gestern Abend war 2 x Alarm, einmal voll und einmal Voralarm. Es ist nichts passiert. Beim ersten Alarm war ich bei den Eltern, Mutter hat mir noch das Essen mit in den Keller gebracht. 23.45 Uhr war ich zu Bett und habe bis sieben Uhr fein gepennt.

30 Familie Schüler waren direkte Nachbarn im Haus in der Mommsenstraße. 31 Denkmal für Wilhelm I. am Kaiser-Wilhelm-Ring. 32 Der heutige Ebertplatz in Köln. 33 Gemeint ist hier und in allen folgenden Briefen das linksrheinische Merheim, 1952 in Weidenpesch umbenannt. Dort befand sich die Dienststelle von Hans Schmitz; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 34 Vorgesetzter bei den Bahnen der Stadt Köln; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 35 Allright Fahrradwerke in Köln-Sülz, seit 1901 Köln-Lindenthaler Metallwerke AG. 36 Vom Bahnhof Kalscheuren aus gab es eine Zugverbindung nach Süden, Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Alle Hausbewohner und Nachbarn lassen herzlich grüßen und sind erfreut, dass Ihr es gut angetroffen, insbesondere grüßt Frau Rohlfing,37 die ich auf dem Wege zum Eintragen von Koffer usw. traf. Sie war richtig beglückt, als ich ihr unsere glückhafte Fahrt berichtete. Frau Rohlfing hat übrigens bei dem Bombeneinschlag eine kleine Gehirnerschütterung davongetragen. Herr Maus38 war abends auch im Schutzkeller. Familie Maus hat es nicht besonders getroffen. Deren Fahrt hat 36 Stunden gedauert. In einem Ort im Mansfelder Seekreis hat M. 2 Quartiere ausgeschlagen, das 3. sind zwei leere Räume, die M. jetzt möblieren will. Du siehst, wir haben mal wieder richtiges Schwein gehabt. M. war gerade am Abend zurückgekommen und war an 24 Stunden unterwegs. Er mußte sich in Wahn zurückmelden, da er sich als Transportleiter betätigt hatte. Liebe Mutti! Zu meinem größten Schrecken sehe ich, dass ich Eure Abreisebescheinigung eingesteckt habe, die ich anbei schicke. Ich gebe den Brief einem Kollegen nach Langenfeld mit, damit es schneller geht. Hoffentlich hast du keine Scherereien. Nun seid zum Schluss herzlich gegrüßt und geküsst von Eurem Vater. PS: Mutter und Erna sind noch in Berzdorf. Frau M.,39 die im Schutzkeller war, wird von Euch berichten. Ich will sehen, heute Nachmittag Erna in der Merlostr.40 zu treffen. Hoffentlich habt Ihr meine Karte von Opladen erhalten. Bezüglich des Schickens von Expressgut etc. habe ich noch nichts in Erfahrung bringen können. Ich schreibe hier bei eiskalten Füßen in meiner zugigen Bude, daher die Eile. Der zweite Brief stammt von Maria Schmitz in Unterwiederstedt. Sie macht sich Gedanken über Dinge, die ihr fehlen bzw. die sie gerne nachgeschickt bekommen möchte, und sie vertraut auf die Hilfe der Mutter Gottes:

37 Eine Nachbarin, die in der NS-Frauenschaft engagiert war; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 38 Nachbar in der Mommsenstraße; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 39 Frau Mersch war eine weitere Nachbarin aus der Mommsenstraße; Auskunft HermannJosef Schmitz, 3.1.2020. Vgl. unten, Brief Nr. 3 vom 26.10.1944. 40 In der Merlostraße befand sich die Leitstelle der Kölner Kriminalpolizei; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Abs. Frau M. Schmitz, Unterwiederstedt über Aschersleben bei Alwin Müller Wiederstedt, 26.10.44 Lieber Vati! Zuvor herzlichste Grüße und Küsse. Deine liebe Karte haben wir heute bereits erhalten. Nun sind wir natürlich aufs äußerste gespannt auf Deinen nächsten Bericht. Hier ist es so unheimlich still, zumal abends, wenn das Völkchen zu Bett ist. Man muss sich tatsächlich erst wieder daran gewöhnen. Unsere „Koch­ maschine“41 funktioniert tadellos, nur das notwendige Geschirr verursacht noch einiges Kopfzerbrechen. Die Kinder gehen nunmehr zur Schule. Allerdings ist der Unterricht nur ein bis zwei Stunden - leider. Lieber Vati! Nun hast Du mir die Abreisebescheinigung mitgenommen, die ich unbedingt benötige. Ich habe alles durchsucht, ich habe sie nicht. Bitte schick sie mir umgehend; für den Fall, daß Du sie auch nicht mehr hast, schicke mir eine eidesstattliche Versicherung, daß diese Abreisebescheinigung verloren gegangen ist. Dann erhalte ich hier eine neue. Sodann habe ich meinen Wollunterrock nicht mit. Den hatte ich aus dem Koffer gehabt zum Waschen und nun liegt er wahrscheinlich zu Hause im Badezimmer. Falls Du ihn auf den Weg bringen kannst, packe dann auch die alten Trainingshosen von den Jungen hinzu. Alles im Kinderkörbchen im Badezimmer. Wir sprechen eben vom Schicken. Frau Schüler meint schon mal, wenn Gelegenheit zum Wegschaffen besteht, das Kinderkörbchen voll zu packen mit einem Sack oben über zuzuschnüren. Da ginge ja allerlei hinein. Nun ja. Das mußt Du ja mal sehen. Eventuell könnte man da sogar an die Krippenfiguren und Ballen denken. Kesselreiniger auch. Wir müßen es ganz Dir überlassen, da wir die derzeitigen Verhältnisse ja nicht beurteilen können. Liebster Hans, ich mache mir so große Sorge um die Geschichte mit Hermann-Josef.42 Bitte schreib mir darüber ausführlich. Was machen die Eltern und meine Mutter, Erna, Christel? Das Herz krampft sich einem zusammen, wenn man nur daran denkt. Wir werden nicht aufhören zu beten. Die Mutter Gottes wird es schon recht machen. Wir lassen ihr keine Ruhe. Liebster Junge, herzlichste Küsse. Maria Herzlichste Grüße allen Lieben bis auf frohes Wiedersehen. 41 Dies war ein sogenannter Grudeherd, der aber gemauert und nicht aus Eisen war; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 42 Dies bezog sich auf die beschriebenen Querelen wegen des an einem Tag nicht geleisteten HJ-Dienstes; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Den dritten Brief hat Erna Westdorf geschrieben. Sie bestätigt, was auch Hans schon geschrieben hatte, dass die Fahrt nach Sachsen-Anhalt gut geklappt und Hans sich kurzentschlossen entschieden hatte, seine Familie selbst in die Evakuierung zu bringen. Mutter Westdorf, die jetzt in Berzdorf untergekommen war, hatte sich deshalb nicht einmal mehr verabschieden können, und Erna möchte sie gerne in Sicherheit wissen, vielleicht sogar bei den Evakuierten in Unterwiederstedt. Die Frau ihres älteren Bruders Peter, Christel, hatte vor wenigen Tagen Köln verlassen und war zu Verwandten nach Oldenburg gegangen: Köln, den 26.10.1944 Liebe Maria! Gestern auf dem Wege zur Bahn habe ich Hans getroffen. Da ich sehr eilig war, ist er mit mir gegangen und hat mir unterwegs Eure ganze Himmelfahrt erzählt. Die erste Nachricht bekam ich von Frau Weisberg,43 als ich vergangenen Donnerstag vergeblich bei Euch schellte. Dann kam Dienstag Frau Mersch und bestellte mir die ersten Grüße. Sie hatte Hans im Luftschutzkeller in der Mommsenstr. getroffen. Ich habe mich riesig gefreut, dass es so gut geklappt hat. Hans strahlte förmlich, als er mir Eure Fahrterlebnisse schilderte. Es war das Beste, dass er kurzentschlossen mitgefahren ist, so konnte er sich am besten überzeugen, wie Ihr aufgehoben seid. Fein, dass Schülers mit Euch zusammen sind, da fühlt Ihr Euch nicht so fremd. Mutter war froh, dass Ihr nun gut hier fort seid, doch drückt es sie, dass sie Euch nicht mehr gesehen hat. Wir sind nun auch schon über 8 Tage in Berzdorf. Wir wurden gut aufgenommen und haben ein nettes Zimmer gleich gegenüber der Kirche. Mehrere Bunker sind auch im Dorf, die wir schon verschiedene Male ausprobiert haben. Nur Mutter kann sich nicht recht schicken, sie meint immer, wir fielen lästig (Du weist ja, wie sie ist),44 doch meine ich, dass es mehr Heimweh ist nach Hause und nach Euch; sie vermisst Euch sehr. Gestern Abend im Bett sagte sie zu mir, wenn wir nicht gleich gefahren wären, hätte ich jetzt mit Maria und den Kindern zusammen sein können (Es ist das erste Mal, daß sie zugibt, daß es das Beste wäre für sie.). Es ist ja auch meine einzige Sorge, daß sie gut versorgt ist, wenn es soweit kommt, daß wir dienstlich 43 Eine Nachbarin im Haus in der Mommsenstraße, ihr Mann war Arzt.; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020; vgl. unten, Brief Nr. 5 vom 24.11.1944. 44 Ernestine Westdorf scheint eine schwierige Frau gewesen sein, was hier durchschimmert und von ihrem Enkel Hermann-Josef bestätigt wird; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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fortmüssen. Mein Chef sagte mir, ich solle zusehen, daß ich meine Mutter möglichst bald fortbringe. Glaubst Du, daß es möglich ist, dass Mutter evtl. bei Dir oder in der Nähe unterkommen kann? Urlaub bekomme ich, um sie fortzubringen. Schreibe mir doch bitte mal, wie die Verhältnisse dort sind. Frl. Hecker45 hat die gleiche Sorge mit ihrer Mutter; sie ist in derselben Lage wie ich und weiß auch nicht wohin mit ihrer Mutter. Bestehen dort noch irgendwelche Unterbringungsmöglichkeiten? Christel ist nun auch glücklich seit Sonntag weg nach Oldenburg. Sie hat mit allem Glück gehabt. Vom Arbeitsamt ist sie freigestellt und hat von der Ortsgruppe Abreisegenehmigung erhalten. Sie war schon Samstag reisefertig und wollte zu Fuß zum Bahnhof marschieren, dabei ein Gepäck, dass sie kaum bis zur Ecke kommen konnte. Durch Vermittlung von Frau Thiele,46 die ihr begegnete, konnte sie Sonntagmorgen mit einem Transport nach Schlebusch bzw. Opladen fahren und so ist sie die Nacht bei Thieles geblieben. Ich nehme an, dass sie inzwischen in Oldenburg gelandet ist. Vor ihrer Abreise hat sie Mutter noch mal angeboten, mit ihr zu fahren, doch könne sie bei Trude47 nicht bleiben, da diese evtl. die übrige Verwandtschaft aufnehmen müsse. Mutter und ich haben gleich gesagt, daß das nicht in Frage käme. Für meinen Begriff hätte sie besser überhaupt nichts gesagt; sie hat’s ja auch nur schandehalber getan. Schluss damit. Großeltern Schmitz sind auch wieder nach Aschaffenburg. Hans isst z.Zt. bei Deiner Schwägerin Gerta in der Münstereifelerstraße. Ich habe ihm gesagt, daß wir in den nächsten Tagen wieder nach Köln kommen und er dann zu uns kommen könne. Ebenso kann er bei uns schlafen. Ich muss Schluss machen, die Finger wollen nicht mehr gehorchen. Wir sitzen nämlich immer noch ohne Heizung. Für heute viele tausend Grüße an Dich und die Kinder. Bis auf ein gesundes Wiedersehen grüßt Dich Deine Erna. An Familie Schüler ebenfalls herzliche Grüße. Der vierte Brief stammt wieder von Hans Schmitz, über drei Wochen nach seinem ersten. Er hatte in der Zwischenzeit zusammen mit seiner Schwägerin Erna Westdorf deren Mutter nach Unterwiederstedt gebracht und schreibt 45 Eine Kollegin von Erna Westdorf; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 46 Eine Nachbarfamilie in der Kirchberger Straße; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 47 Trude Sommerhäuser, die Schwester von Christel Reiffert, geb. Westdorf; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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über die schwierigen Bedingungen, sich in Köln von einem Ort zum anderen zu bewegen. Aus Richtung Aachen rückten die alliierten Kräfte näher, so dass man in der Nacht von dort Kanonendonner hören konnte: Köln-Merheim, 17.11.44 Liebe Mutti! Liebe Kinder! Vorerst herzlichen Gruß und innigen Kuss. Sodann zur Beruhigung. Wir haben alles angetroffen, wie wir es verlassen hatten. Alles war noch an Ort und Stelle. Um 11 Uhr kam ich in Köln Hauptbahnhof an. Nach langem Warten hat mich ein Pferdefuhrwerk mit bis zur Berrenrather Str. genommen. Von dort bin ich dann durch die Trümmer zu Fuß nach Sülz. Auf dem Wege habe ich mir gleich an der Schule Berrenrather Str.48 die Marken mitgenommen und im Waisenhaus die magere Verpflegung in Empfang genommen. Eine zweite grüne Karte49 wird nicht ausgestellt. Ich schicke Dir daher anbei die meinige, für die Verpflegung benötige ich sie nicht. Und falls erforderlich, müsstest Du mir dieselbe noch mal zurückschicken. Darüber würde ich Dir dann schreiben. Unser Haus ist verwaist. Ich habe niemanden angetroffen. Familie Wilhelmy50 wohnt jetzt in Bad Godesberg. Die Adresse werde ich noch mitteilen. Die obere Kellertüre sowie die Haustüre sind wieder verschließbar. Sonst war alles beim Alten. Herrn Oberbaurat Hamm traf ich gerade im Bahnhof Sülz und habe ich mich bei ihm zurückgemeldet. Er war erfreut, mich zu sehen und gab mir noch den Omnibusfahrplan für die Fahrt zur Hauptwerkstätte. 8.15 vormittags fahre ich vom Bahnhof über Ehrenfeld zur Werkstätte, nachmittags geht es um 15.30 wieder nach Sülz. Erna traf ich zu Hause nicht an. Die letzten Tage war in Köln kein Alarm. Am Abend meiner Ankunft ging es natürlich wieder los. In der Nacht war um 2 Uhr Großalarm, dazu die Saukälte. Ich hatte „et ärm Dier“. Bomben sind keine gefallen. Gestern mußte ich zu Fuß nach Hause, da der lausige Omnibus, während wir bei Vollalarm im Bunker waren, einfach losgefahren war. Bei Dunkel kam ich in Kirchberg an.51 Gott dank war Erna eingetroffen. Sie hatte eine schlechte Rückfahrt gehabt, wie Ihr wohl mittlerweile auch erfah48 Dies war die ehemalige Volksschule, auf die Hermann-Josef gegangen war; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 49 An Fliegergeschädigte, die ihre Wohnungen oder Häuser ganz oder teilweise verloren hatten, wurden Ausweisdokumente ausgegeben, in denen sich auch Essensmarken befanden. 50 Familie Wilhelmy waren Nachbarn aus dem Haus in der Mommsenstraße; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 51 In der Kirchberger Straße 33 befand sich das Haus der Familie Westdorf, das sie im Sommer 1929 gekauft hatten; vgl. Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 3.

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ren habt. Erna hatte Fleisch mitgebracht und da gab es mal wieder ein anständiges Essen. Butter, Brot und Kaffee sind mittlerweile auch organisiert. Butter- und Brotmarken schicken wir in Kürze. Wie wir es mit dem Kaffee machen, müssen wir noch sehen. In Opladen habe ich mich wegen Express-Sendungen erkundigt mit dem Ergebnis, dass hierfür schon längere Zeit Sperre ist. Bezüglich Postpaketsendungen haben wir noch nichts Genaues in Erfahrung bringen können. Zum Schluss nochmals herzliche Grüße insbesondere auch an Großmutter und Familie Schüler. Grüße auch Familie Müller. Euer Vati! PS: Mein Gummimantel ist auch wieder eingetroffen. Bei Aachen scheint allerhand los zu sein. Vergangene Nacht wurde man von Kanonendonner wach. Auch der fünfte Brief stammt aus der Feder von Hans Schmitz. Trotz Beschädigung war das Haus in der Mommsenstraße noch bewohnt, wenn auch von Fremden. Christel Westdorf war noch einmal aus Oldenburg für einen Tag nach Köln gekommen, um Sachen zu holen: Köln-Merheim, 24.11.44 Liebe Mutti! Schnell einen kleinen Brief, den der Kollege mit nach Opladen nimmt. Anbei schicke ich 6 Kg Brotmarken, die 180 gr. Buttermarken für Schülers sowie die Fischkarten. Uns geht es bis auf die leidigen Alarme soweit gut. Auch die Wohnungen haben bisher bis auf die Wasserschäden in Kirchberg keinen Schaden mehr genommen. Die Adresse von Familie Wilhelmy lautet „Eisenbahnerheim Niederdollendorf“. Zwei Zimmer von Schülers Wohnung bewohnt jetzt, wie mir der Dr. Weißberg mitteilte, Herr Büchel mit einem Kollegen. Dr. W. meinte, Familie Schüler könnte froh sein, anständige Leute in der Wohnung zu haben. Anderenfalls würde die Wohnung beschlagnahmt und Fremde hineingesetzt. Der Mietpreis dürfte im Einvernehmen mit Herrn Büchel nicht zu hoch gesetzt werden (2 Zimmer). Leider konnte ich bisher nicht in die Wohnung, da Herr Büchel bis zum 27.11.44 verreist ist und dummerweise den Schlüssel mitgeschleppt hat. Bezüglich Paketsendungen ist zu sagen, dass Wertpakete bis 30 Pfd. in Opladen vormittags aufgegeben werden können. Aber wie hinbringen? Wir werden es versuchen. Vergangenen Freitag traf überraschend Christel ein, um Sachen zu holen und ist Samstagmittag wieder nach Oldenburg. Vor lauter Alarm wäre sie bald nicht fortgekommen.

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Nun aber zu Dir, liebste Mutti. Bist Du noch gesund? Was machen die Zähne? Es macht mir doch große Sorge. Was macht Hermann-Josef und die anderen 4 Trabanten? Sind sie verträglich und fleißig in der Schule? Wie geht es Mutter? Ich hoffe bald ein Briefchen zu erhalten. Gestern habe ich per Postanweisung 600 RM auf den Weg gebracht. Eine Überweisung durch die Kasse ist vorerst nicht möglich. Die Miete habe ich endlich gestern auf der Straße am Bahnhof beim Warten auf den Omnibus Herrn Haßhoff52 gezahlt und zwar vorerst 50 RM für Schülers und 40 RM für uns (Quittung für Schülers anliegend). Gib bitte die restlichen 9 RM Schülers zurück. Die Miete richtet sich nach der Beschädigung der Wohnung. Nun aber fällt mir ein, dass unser „Peterchen“ am Montag Geburtstag hat. Mein lieber Peter! Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir die herzlichsten Glück- und Segenswünsche. Sei weiterhin brav und fleißig und verwahre mir ein Stück Kuchen. Mutter wird Dir in meinem Namen 5 RM geben. Zum Schluss liebste Mutti und liebe Kinder herzliche Grüße und Küsse von Eurem Vati. Viele Grüße an Mutter und Familie Schüler. Der sechste Brief stammt erneut von Maria Schmitz. Ihr Mann Hans war schon wieder zehn Tage weg, nachdem er seine Schwiegermutter zu seiner Frau und seinen Kindern nach Unterwiederstedt gebracht hatte. Sie sorgt sich um ihren Mann, aber sie vertraut auf Gott – und sehnt sich nach ihrer Laute: 24.11.1944 Lieber Hans! Nun bist Du wieder zehn Tage von uns fort und wir haben bis heute nur die Karte von Opladen von Dir erhalten. Ich selbst habe noch nicht geschrieben. Dies ist das erste. Vor allem Dir herzinnigen Gruß und Kuss. Liebster Hans, diese Sorgen. Ein Glück, daß der Alltag einen immer wieder an die Kinder erinnert, daß man sich nicht zuviel verliert. Von Erna haben wir noch gar nichts bekommen. Mutter sitzt natürlich auf Nadeln, aber heimfahren werde sie zum Christfest nach Köln. Sie markiert die Tatkräftige etc. Aber das ist ja Unsinn. Die Erna, das arme Ding tut mir leid. Ich glaube der Brief

52 Geschäftsführer der Köln-Lindenthaler Wohnungsgenossenschaft; Auskunft HermannJosef Schmitz, 3.1.2020.

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enthält noch kaum einen Gruß vor lauter Ordinier.53 Sie soll’s nur nicht tragisch nehmen. Mutter hat tatsächlich einen sehr guten Appetit und sieht schon wirklich besser aus. Sie klagt über zu wenig Schlaf. Da ist ja vor allem das viele Grübeln schuld. Es ist ja auch schrecklich für die alten Leutchen genau wie Deine Eltern. Einen Brief Deiner Mutter füge ich bei zur gefälligen Weiterleitung an Theo.54 Die arme Frau auch. Aber wie wollt Ihr den Kram denn hinschaffen. Ihr könnt ja den eigenen nicht versorgen, gelt. Wie ist’s nun zu Hause? Hat sich noch eine Möglichkeit gefunden, etwas wegzuschaffen? Vor allem, wo schläfst Du und wer sorgt für Dich? Hundertmal am Tage frage ich mich so und hundertmal weiß ich mir keine Antwort. Das ist ja das Schreckliche, dass man keine Nachricht bekommt. Ich weiß ja, daß dies nicht Deine Schuld oder Ernas Schuld ist. Die Verhältnisse sind eben so vermaledeit. Da hilft nur eine starke Hoffnung und ein großes Gottvertrauen und ich muss ja sagen, ich kann nicht so trostlos und verzweifelt sein, ich bringe es gar nicht fertig. Dich bitte ich auch inständig, was auch kommt, immer Kopf oben, mach Dich ganz hart und stark, was auch kommt, am Ende sind wir doch beieinander. Unser ganzes Dasein ist ja immer nur Weg und Vorwärtsschreiten zur Vollendung und je mehr Kreuz desto näher der Himmel. Es muss ja doch einen Sinn haben, was geschieht, gelt. Alle Abend stellen wir uns und Euch alle unter Marias Mantel und da stehen wir sicher. Rosen, Dornen – Dornen, Rosen, Beid von Gottes Hand gewollt. Lieben, Leiden – Leiden, Lieben, Eurer Liebe tiefstes „Sollt“. Kennst Du’s noch? Schatz, laß Dich nicht unterkriegen, es muß ja wieder anders kommen, es muß! Ich bitte nicht mehr, um dieses oder jenes zu schicken. Hast Du Gelegenheit, dann siehst Du schon das Nötige. Nun lach jetzt bitte nicht. Die größte Sehnsucht von mir, ja ich muß sagen, ich empfinde es wie einen Schmerz, daß ich meine Laute nicht habe. Kannst Du das verstehen? Ich meine so, ich möchte sie haben. Ich mache Schluß, mein liebster Vati. Herzlichen Gruß und einen innigen Kuß von Deiner Mutti. Die Kinder sind soweit im Lot und lassen selbstverständlich herzlich grüßen.

53 Gemeint ist wohl: Anordnung, Verordnung, was sich auf den folgenden Brief (Nr. 7, s. u.) bezieht. 54 Das Haus von Theo Schmitz und seiner Frau Gerta in der Münstereifeler Straße war von einer Bombe getroffen worden; vgl. Brief vom 5.12.1944; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Schülers warten mit Sehnsucht auf ihren grünen Fliegerschein. Kannst Du ihn besorgen? Karl-Heinz55 ist jetzt zum Westen gekommen. Ein Zeichen, daß die frischen Truppen langsam eingesetzt werden. Vielleicht bleiben wir noch mal vor dem Letzten bewahrt. Gottbefohlen, Maria Siehst Du auch Erna schon mal? Ihr auch die besten und herzlichsten Grüße. Ich denke schon immer, sie kommt eines Tages noch mal angewalzt. Oder wer ist’s? Ebenfalls vom 24. November stammt der siebte Brief, den Ernestine Westdorf ihrer Tochter Erna geschrieben hat. Sie erkundigt sich nach dem Haus, nach Bekannten in Köln und Verwandten außerhalb Kölns und bittet um die Nachsendung zahlreicher Alltagsutensilien. Maria Schmitz ergänzt den Brief um eine kurze Bitte und eine Aufmunterung an ihre Schwägerin: 24.11.1944  Meine Liebe Erna,  nun bist Du schon seit dem neunten dts. fortgefahren und heute ist der 24. und noch immer kein Lebenszeichen von Dir. Da kannst Du Dir meine Stimmung ja denken. Wundere Dich nicht, wenn ich auf einmal in Köln auftauche. Das Warten ist ja zum verrückt werden. Woran liegt das eigentlich? Ist Post verloren oder verschwand? Ich kann es mir gar nicht erklären; schreibe doch bitte sofort.56 Von Christel kam gestern eine Karte von Köln, auch mit dem Kölner Poststempel, geschrieben im Dom-Bunker, sie wollte noch einmal nach Hause zur Kirchberger Str., um sich noch Sachen zu holen. Habt ihr Euch vielleicht zufällig getroffen? Schreibe mir auch, wo Du eigentlich dran bist. Bist Du noch immer in Berzdorf oder hat es Veränderungen bei Euch gegeben, dass Eure Büros verbracht sind? Hast Du Porzellan und Kristall in den Keller geschleppt? Wie sieht es nun in der Wohnung aus, hat sie schon sehr gelitten, ich stelle es mir jedenfalls schlimm vor. Wenn Du nichts mehr fort zu packen hast, dann gehe nur nicht zu oft dahin und schreibe mir. Macht nichts mehr in Köln oder Bunker, ich hab‘ keine Ruhe. Wie ist es mit Eupen,57 ist da noch alles im Lot? 55 Sohn der Familie Schüler; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 56 Unterstreichungen im Text. 57 Aus Eupen stammte Erika, die Frau von Rudolf Westdorf, der als Soldat eingezogen worden war. Sie hatten mit ihren beiden Kindern in Aachen gewohnt, wo Rudolf West-

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Was machen die Frl. Becker?58 Grüße sie beide herzlich von mir, ganz besonders Frl. Sophie, die mich so aufopfernd betreut hat an dem Freitag, wo ihr mich so schön im Stich gelassen habt. Ohne Fräulein Becker wäre ich bestimmt nicht mehr zurückgekommen. Ich weiß nicht, wie ich ihr danken soll. Nun hab‘ ich noch eine ganze Reihe, was ich vor und nach aufgeschrieben hatte, solltest Du Gelegenheit haben, etwas zu schicken, so sieh zu, dass Du so viel wie möglich davon einpackst. Hans wollte ja auch schicken, werdet Ihr wohl jeder ein Paket machen müssen. Also: Gummischuhe, Plüschmantel, Morgenrock, Vaters Mantel, schwarzer Anzug, Vaters gewaschen Anzug. Ist noch etwas von Wäsche da, auch von Vater. Dann Inlett, Taft für Kissenbezüge, dann der getrennte Stoff für den Rock für Dich, Leinen oder sonstige Einlage, ich glaube auf dem Speicher in der Schachtel, Modehefte, Kopierrad, Taschenmesser von Vater zum Trennen. Brillen von Vater und von mir, Schuhriemen schwarz und braun, kurze und lange, die Zeitungsausschnitte von dem Anschlag nicht vergessen. Beschaff Dir Wolle oder Pullover, Bezugsschein dafür. Dann noch Roulette nicht vergessen, es stand, wo sonst das Radio gestanden hat. Geh‘ auch mal zu Kunkel in Berzdorf für Wolle, vielleicht ist Dir jemand behilflich. Ich muss aufhören, die Hand versagt mir. Wie steht es mit der Verpflegung, bekommt Ihr noch was? Schreibe, schreibe, so schnell Du kannst an Deine Mutter Liebe Erna, versorge doch auch bitte den Hausspruch.  Vielen lieben Gruß und guten Mut. Maria Wir werden das Kind schon schaukeln. Den achten Brief schrieb wiederum Maria Schmitz an ihren Mann und ihre Schwester in Köln. Sie brauchte Schuhe, Bastelwerkzeug und Hefte für die Kinder, Bücher, aber auch Backzutaten. Ihre Sorge gilt ihrem Mann und dem Dach des Hauses in der Kirchberger Straße:

dorf beim belgischen Reifenhersteller Englebert gearbeitet hatte, der in Aachen-Rothe Erde Autoreifen produzierte; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 58 Eine der beiden Schwestern Becker war die Kollegin von Erna Westdorf, die in Berzdorf wohnte; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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28.11.1944 Liebster Vati und Erna! Herzlichen Gruß zuvor! War das eine Freude! Samstag erhielten wir nach sehnsüchtigem Warten Deinen lieben Brief zusammen mit Ernas Erguß. Morgens war unserer gerade abgegangen. Nun ja, es war wieder ein Lichtblick. Gestern bereits kamen die bewußten Päckchen von Christel und Deine 2. Karte bei uns an, mit größtem Hallo und Freudengeheul begrüßt. Es war ja Peters Geburtstag. Es war zu schön. Heute wurden mir die 600 RM ausgezahlt. So wäre dann alles in bester Butter. Nur die Bezugsscheine lassen auf sich warten. Ich fürchte, daß es immer schwerer wird, etwas für die Kinder zu bekommen. Heute hat der Schuster in Oberwiederstedt das erste Paar Schuhe angenommen. Er war verärgert über die schlampige Art der letzten Reparatur. Der Strolch hätte ja die ganzen Sohlennähte zerschnitten und dabei die guten Schuhe. Er will sehen, wie er’s noch mal schafft. Wie steht’s mit Lachmayrs?59 Wenn die Schuhe verloren sind, lass Dir eine Bescheinigung ausstellen, 1 Paar Peter und 1 Paar Rudi, ich beantrage dann hier ein paar neue. Heute haben wir nun doch einen Wunschzettel. Du musst halt mal sehen, wie es zu machen geht. Da wäre Jofas60 Laubsäge-Werkzeug, das Hämmerchen ist bei der Eisenbahn. Er könnte so nett irgend was basteln. Meine Hefte von „Flicken und Stopfen“ im Küchenschrank oder Nähkasten, Bilderbücher, Kasperletexte, Schule für Blockflöte, das kleine Storm-Liederbuch,61 Katharina von Siena, und die Tenne von Ruth Schaumann.62 Für die Bäckerei evtl. einige Blechförmchen von Mutter, Kartoffelmehl und Farinzucker im Küchenschrank, Messbecher. Das langt wohl, gelt. Du denkst, ich sei verrückt, gelt. Aber Du weißt ja Bescheid. Hör mal. Wie gestaltet sich denn eigentlich Deine Verpflegung und die Besorgung Deiner Wäsche? Wie verbringst Du Deine Freizeit? Erna ist doch in Berzdorf. Überlege doch mal bitte mit ihr wegen dem Dach, ob Rudi Jac-

59 Lorenz Lachmayr war ein Schuhmacher, der 1918 in Köln-Sülz seine erste Werkstatt gegründet und vor dem Krieg in der Breite Straße in Köln ein Schuhhaus eröffnet hatte, das im Krieg zerstört wurde, aber in Behelfsläden bis kurz vor Kriegsende weiter geöffnet hatte; vgl. URL: https://lachmayr.de/historie/ (Stand: 17.2.2021). 60 Spitzname von Hermann-Josef Schmitz als Kind; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 61 Wohl das Storm-Liederbuch von Franz Krause mit fünf vertonten Gedichten von Theodor Storm für Gesang und Klavier, u. a. einem Weihnachtslied. 62  Die Tenne war ein Gedichtband der christlich-religiös geprägten bildenden Künstlerin und Lyrikerin Ruth Schaumann (1899–1975); vgl. Thomas Betz/Peter Fuchs: Art.: „Schaumann, Ruth“, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 591–593 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118754173.html (Stand: 17.2.2021).

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quemien63 nicht noch mal was daran machen kann. Mutter sinniert Tag und Nacht, spricht sogar von nach Köln fahren. Brief Nummer 9 geht von Maria Schmitz an ihre Schwester Erna Westdorf in Köln. Aus einem Brief von Erna hat sie erfahren, dass ihr Bruder Peter noch lebt. Sie beklagt, dass alle Familienmitglieder im Gegensatz zum Vorjahr „ohne Heim in alle Winde zerstreut“ sind, und ihr fehlt ihre Laute. Schwägerin Christels (nicht überlieferten) Briefe haben bei ihrer Mutter und bei ihr selbst für Sorge und Verärgerung gesorgt: 29.11.1944 Liebe Tante Erna! Heute bereits erhielten wir Deinen l. Brief v. Sonntag,64 der uns allseits sehr interessiert. Nun ist also auch Karl65 vermisst. Hoffen wir, dass es sich noch glücklich klärt. Es ist ja schrecklich, dies Warten und Lauern auf Nachricht. Peter66 hat sich ja nun glücklich wieder gemeldet, Gott sei Dank. Wir hatten etwas Plätzchen gebacken für Karl-Heinz ins Weihnachtspaket, da haben wir gleich 3 x 100 Gr. Päckchen an Peter abgeschickt, damit er doch wenigstens auch einen kleinen Weihnachtsgruß hat. Wie hat sich das Blatt gewendet: voriges Jahr alle bis auf den letzten an Großmutters Weihnachtsbaum und diesmal alle, alle ohne Heim in alle Winde zerstreut. Aber unterkriegen lassen wir uns nicht, gelt, nun gerade. Wir zählen schon die Tage, bis Du, und so Gott will auch Hans wieder in unserer Mitte bist. Je nachdem Ihr die Möglichkeit habt wegzukommen, packt doch auch den 4eckigen Waschkorb von mir voll oder den einen Kinderwagen, da Du doch keinen Koffer hast. Sehr schmerzlich vermisse ich nun meine Laute, ich meine immer, ich müsste sie hier haben. Du lachst vielleicht. Aber nach der Reparatur war sie so wohlklingend, ich habe manchmal zwischen der Arbeit den Kindern schnell was gespielt, solche Freud’ hatten wir daran. Meinst Du nicht ??? daß ???67 Es wird ja wahrscheinlich ein Wunschtraum bleiben, gelt.

63 Ernestine Westdorf, geb. Jacquemien, hatte zwei Brüder, die Dachdecker waren; vgl. Brautmeier, Der vom Rhein (Anm. 18), S. 269. Rudolf war ein Neffe, der Sohn eines ihrer Brüder – und nach dem Krieg Präsident der KG Frohsinn; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 64 Dieser Brief (wohl vom 26.11.1944) ist nicht erhalten. Der 29.11.1944 war ein Mittwoch. 65 Wohl Karl-Heinz Schüler, Sohn der Familie Schüler; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 66 Peter Westdorf, ihr Bruder. 67 Fragezeichen im Original.

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Nun noch etwas, beifolgend sende ich Dir die Kleiderkarte von Erna. Das wäre ja wunderbar, denn das Kind geht hier weiter in den Unterricht. Ich möchte wegen der Zeitläufe nicht aufschieben. Falls in anderen Kindersachen, Strümpfen, Kleidchen, Pullover oder sowas etwas zu haben ist, würde ich die anderen auch schicken. Ich kann hier nichts kaufen ohne Bezugsschein, die habe ich beantragt, aber ob die vor Weihnachten überhaupt zurückkommen, ist unbestimmt und was bewilligt wird ebenso. Auf Ernas Karte sind auch noch Lederschuhe. Wenn Du was Nettes in Größe 30 siehst, nimm es bitte. Schuhe sind hier auch kaum zu haben. Evtl. kannst Du auch ein nettes Stöffchen für die Mädchen nehmen. Fertige Kleidchen sind im Augenblick angenehmer, weil ja das Nähen hapert, abgesehen von dem weißen Stoff natürlich, bis dahin wird’s schon klappen. Nun, wie geht’s denn in Eurer Junggesellenwirtschaft? Habt Ihr denn jetzt wenigstens Wasser? Schmecken Schülers Gurken? Oder wart Ihr noch nicht dort, dann wird‘s aber Zeit. Wir wollen doch backen. Ja, Liebes, das schreibt sich all so nett dahin, aber gelt, was nicht geht, muss eben unterbleiben. Übrigens hat Christel diverse „ausführliche“ Briefe geschrieben bezüglich des Hauses. Sie hätte das unterlassen dürfen, es ist doch nur immer schlimmer für Mutter. Ich habe ihr gesagt, dass Du und Hans schon für Abhilfe sorgen würdet, und auch wegen Eurer verpfuschten Abreise habe ich ihr mal etwas den Kopf zurechtgesetzt, man darf das nicht immer durchgehen lassen. Dauernd redet sie vom einfach sitzen lassen u. im Stich lassen, es ist geradezu lächerlich. Du weißt, ich bin die Ruhe selbst und wir sind in voller Harmonie zu Bett. Nun gute Nacht und herzliche Grüße Deine Maria und sämtliches umliegendes Volk Der zehnte Brief stammt von Ernestine Westdorf und ist an ihre Tochter Erna gerichtet. Sie sorgt sich sehr um das Haus in der Kirchberger Straße und hofft, dass Erna zu Weihnachten nach Unterwiederstedt kommt und einiges mitbringt, was ihr fehlt: 1.12.1944 Meine Liebe Erna,  vielen Dank für Deine Besorgung sowie auch an Christel. Montag 27ten kam schon alles an. Kaffee, Tee usw. hat große Freude ausgelöst. Schön, dass ihr Euch auch da gerade getroffen habt. Den Wunschzettel, den ich da aufgeschrieben hab’, brauchst Du nicht zu schicken, aber einiges doch, voraus-

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gesetzt, dass Du Gelegenheit hast zu schicken. Sonst schreibe ich Dir noch mal, was Du Weihnachten mitbringen kannst, ich hab’ so allerhand Kleinigkeiten, die ich nicht gerne entbehre. Was machst Du eigentlich immer in Köln, ist doch gefährliches Pflaster. Froh bin ich, dass du bei Rudolf Siebenburgen68 warst, ich wäre ihm so dankbar, wenn er uns helfen würde, unser Häuschen würde ja ganz zusammenfallen, durch den Regen kommt es doch ganz zu Schaden und wir stehen vor dem Nichts. Du glaubst gar nicht, wie mich das quält. Ist mit den Fenstern nichts zu machen, mit Holz, Hans wird Dir doch helfen. Nehmt doch das Luftschutzbett und nagelt es in die Wand, da man es neben die Rahmen nicht festmachen kann. Sind da nicht alte Bretter zu haben oder Türen? Vorige Woche habe ich schon nachts geträumt, Vater und ich hätten Türen und Schränke gegen die offenen Fenster gestippt. Im großen Zimmer liegt mir der Kram sehr am Herzen. Büffet, Sofa, den Sessel, den ich zum 70ten bekommen hab’, versorg nur den gut, gut zudecken. Geht er nicht in den Luftschutzkeller? Daß ich mich auf Dich verlassen kann, weiß ich ja, und doch möchte ich gern mal nach Hause, um zu sehen wie alles ist. Dann noch eins. Geht es nicht, den guten Teppich mal zu klopfen, wenn ein trockener Tag ist, ich hatte schon an Thiele gedacht – weil man da herein kann, der verdirbt uns ja. Dann mit Zeitungspapier auslegen und fest zusammenrollen. Azalie und Gummibaum sind wohl hin, schade, wenn nicht, stell sie unter die Veranda. Ist der Italiano69 noch da, vielleicht kann der was organisieren, wegen alten Brettern. Wie ist es mit Dir, bist Du noch in Berzdorf? Schreibe mir doch, so viel und so oft als Du kannst. Wenn Du Weihnachten kommst, bringe mir bitte den Nähkasten und farbige Seide mit, blaue Knöpfe von meinem Kleid, mußt Du mal im Nadelteller sehen, Waschholz, Brennschere usw. Das war nett, daß Du Frl. Hoffmann getroffen hast, bestelle ihr viele Grüße von mir, und ich wäre ihr sehr dankbar, wenn Sie uns was besorgen könnte. Dann auf die Kinderkarte Strümpfe oder Nähzeug. Bei Kunkel in Berzdorf kannst du was braunes, graues Nähgarn sowie weißen Twist kaufen. Gesundheitlich geht es so ziemlich. Die Erkältung hatte mich gehörig gepackt, jetzt geht es wieder, nur noch Husten. Ist Apotheker Liedtke noch da?70 Ich war beim Arzt, hab’ mir das Rezept erneuert, bekomme es aber nicht in der Apotheke, dann schicke ich es Dir, ob 68 „Vor den Siebenburgen“ ist eine Straße in der südlichen Kölner Innenstadt, wo die Familie Jacquemien zu Hause war; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020; vgl. Brautmeier, Der vom Rhein (Anm. 18), S. 269. 69 Italienischer Arbeiter, der während des Krieges beim Ausbau des Luftschutzkellers in der Kirchberger Straße geholfen hatte; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 70 Apotheke auf der Zülpicher Straße, Ecke Rankestraße, in der Nähe der Mommsenstraße; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Du es noch besorgen kannst, wenn nicht die Pulver, dann die Pillen, ganz ohne geht es nicht. Nur gut, dass Du das Tardigal mitschicktest, ich kann es gut brauchen. Denk’ an die Wollpullover für Dich und für mich. Für heute muß ich schließen, die Hand tut’s nicht. Wieder gute Grüße an dich und Hans  Mutter Der elfte Brief ist von Hans Schmitz an seine Frau Maria. Er berichtet, dass seine Eltern seit Ende Oktober bei seiner Schwester Käthe in Aschaffenburg und dort „vom Regen in die Traufe gekommen“ seien. Auch Aschaffenburg werde stark bombardiert,71 und vom Mann seiner Schwester, Klaus Reichertz, gebe es kein Lebenszeichen. Dessen Elternhaus liege in Trümmern.72 Im Krie­ ler Dömchen, ihrer Kirche, würden keine Messen mehr gelesen, und die Frau von Bruder Theo sei in der Nähe von Wildbergerhütte im Oberbergischen, wohin Theo die Möbel habe schaffen können. In Köln habe es tagsüber Tieffliegerangriffe gegeben, aber „durchwegs lassen die Tommys uns nachts in Ruhe“. Er hoffe, zusammen mit Erna über Weihnachten nach Wiederstedt kommen zu können: Köln-Merheim, 5.12.44 Herzliebste Mutti! Zu Deinem Namensfest die herzlichsten Glück- und Segenswünsche. Auch Erna lässt Dich herzlich gratulieren. Hoffentlich können wir den nächsten Geburtstag wieder zusammen verleben. Wie geht es Euch denn noch? Was macht der Betrieb dort? Ich hoffe doch bald Post von Euch zu bekommen. Von Vater erhielt ich eine Karte vom 30.10. worin er mitteilt, dass sie nach 2 Tagen in A.73 angekommen sind. Sie waren vom Regen in die Traufe gekommen. A. wäre sehr stark zerstört und jetzt fingen sie auch an, in Schweinheim zu werfen.74 Dann kein richtiger Schutzkeller. Sie wären am liebsten wieder in Köln. Er meint, ob ich kein sicheres Plätzchen wüsste. Es

71 Seit Ende September 1944 flog die britische Luftwaffe massive Angriffe auf Aschaffenburg; vgl. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriffe_auf_Aschaffenburg (Stand: 17.2.2021). 72 Das Haus von Familie Reichertz lag in der Sielsdorfer Straße, in der Nähe der Mommsenstraße; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 73 Aschaffenburg. 74 Vorort bzw. Ortsteil von Aschaffenburg, wo Reichertz’ wohnten; Auskunft HermannJosef Schmitz, 3.1.2020.

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ist ein Trauerspiel. Von Klaus hat Käthe nichts mehr gehört. Ihre einzige Hoffnung ist, dass er in Gefangenschaft. Auf dem Weg von Hohenlind, wo wir sonntags 8 Uhr in der Krypta75 zur hl. Messe gehen, sahen wir, dass Reichertz Haus ein Trümmerhaufen ist. Gretes Haus steht noch, nur die Anbauten sind abgebrannt.76 Er wohnt noch dort. Grete ist mit Mutter in Loibsdorf/Rh. bei Familie Polen. Die Häuser Virnich und Berger wonach Frau Schüler fragte, sind noch erhalten, jedoch scheinbar unbewohnt. Im Dömchen werden keine Messen mehr gelesen.77 Es ist dort jetzt zu kalt. Theos Gerta wohnt im Oberbergischen bei Wildbergerhütte.78 Theo hat auch fast alle Möbel hinschaffen können. Vergangenen Samstag habe ich in Opladen eine große Kiste als Eilgut aufgegeben. Sie geht unfrei und müsst Ihr die Fracht noch bezahlen. Ihr werdet von der Güterabfertigung Sandersleben benachrichtigt, wenn die Kiste abgeholt werden kann. Einen Spediteur wird es wohl dort nicht geben. Hoffentlich kommt sie gut an. Im Laufe der Woche hoffe ich 2 bereits gepackte Wertpakete und evtl. noch ein Eilgut auf den Weg zu bringen. Wie ich mit Eilkarte bereits mitteilte, hat der letzte Terrorangriff uns verschont. Die letzten Tage haben wir viel unter Tieffliegern zu leiden. Im Übrigen läuft der Haushalt in der Kirchberger Str. wie am Schnürchen. Erna versorgt mich gut. Durchweg lassen die Tommys uns nachts in Ruhe. Erna fährt mit unserem Omnibus bis Neusser Str. mit und meist nachmittags wieder von dort zurück. Ich selbst fahre durch bis zur Werkstätte. Gestern mussten wir auf der Heimfahrt wegen Tieffliegern auf der Neusser Str. aus dem Omnibus in ein Haus flüchten. Wir freuen uns beide auf die Ruhetage dort über Weihnachten. Wir hoffen Donnerstag, spätestens Freitag vor Weihnachten fahren zu können. Bei Schülers werde ich versuchen, mit einem Dietrich den Keller zu öffnen. Andernfalls können wir nichts mitbringen, da Wilhelmy den Schlüssel mitgenommen. 75 Krypta der Kapelle des Krankenhauses St. Elisabeth in Hohenlind; Auskunft HermannJosef Schmitz, 3.1.2020. 76 Das Haus von Grete Loosen, die 1942 „Pflichtjahrmädchen“ bei der Familie Schmitz gewesen war und in der Nähe des Stadtwaldes wohnte; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 77 Im „Krieler Dömchen“ in Köln-Lindenthal waren seit der Errichtung des Pfarrrektorats am 1.6.1938 tägliche Messen gelesen worden; vgl. URL: https://www.st-stephan-koeln. de/gemeinde/kirchengeschichte/ (Stand: 17.2.2021). 78 Theo Schmitz hatte als Werkmeister bei den Allright-Fahrradwerken zunächst in Köln bleiben müssen; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. Gegen Ende des Krieges lagerte die Firma, die auch Waffenteile produzierte, einen Teil ihrer Maschinen ins Oberbergische aus, auf die Theo dort „aufpassen“ sollte. Untergekommen waren Theo und seine Frau bei einer Bauernfamilie Simon in Kamp bei Wildbergerhütte; vgl. Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 5.

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Liebe Mutti! Ich muss nun schließen. Grüße bitte Mutter und Familie Schüler herzlich von uns, desgl. Familie Müller. Herzliche Grüße und Küsse. Euer Vati. Den zwölften Brief hat Erna Westdorf an ihre Schwägerin Christel Westdorf in Oldenburg geschrieben, die ja zwischenzeitlich noch einmal in Köln gewesen war. Sie berichtet über die Mühen, die Folgen des Regenwetters für das Haus in der Kirchberger Straße in Grenzen zu halten. Und sie berichtet über ständige Alarme und die Bombenangriffe vom 27. November und danach. Von Christels Mann Peter Westdorf, der eingezogen worden war, gab es Briefe, die in Köln angekommen waren und die sie nach Oldenburg weiterleitete: 8.12.1944 Deine Briefe vom 20. u. 27.11.1944 kamen fast gleichzeitig an.79 Anfang der Woche kam der erste und gestern erhielt ich den vom 27.11. Das hat ja einigermaßen schnell gegangen. Also nun der Reihe nach die Antwort. Ich hatte nicht geglaubt, dass Du den Samstag noch wegkämst von wegen der vielen Alarme. Es ist doch ein Glück, dass wir einen Schwager bei der Bahn haben und gleich wieder so ein Omnibus da war, der dich mitnahm.80 Ich sage ja, etwas Glück muss der Mensch haben. Da hätte ich Dich ja noch am Bahnhof treffen können, denn um diese Zeit kam ich dort vorbei. Ich bin froh, dass alles wieder so gut geklappt hat und Du, wenn auch mit Verspätung, in O.81 angekommen bist.  Dein Kleid habe ich versorgt. Die Strohtasche stand im Luftschutzkeller neben den anderen Taschen bei der Krippenkiste, wahrscheinlich hast Du sie übersehen. Ich werde sie mit dem Inhalt zwischen die Betteinlagen legen, die ich ebenfalls in den Keller geschafft habe. Da wir fast ständig Regenwetter haben, kannst Du Dir vorstellen, wie es aussieht. Ich habe bei Euch noch eine Wanne dazu gesetzt, doch kommt das meiste Wasser an der schrägen Wand herunter und läuft auf dem Boden zusammen. Ich schöpfe immer munter Wasser abwechselnd bei Euch und auf dem Elternschlafzimmer. Dort habe ich auch eine Wanne aufgestellt, die Möbel abgeschlagen und in einer Ecke zusammengestellt. Ebenso habe ich es in den anderen Zimmern gemacht. Im guten Zimmer haben wir das Büffet vor die Ver. Türe82 gesetzt 79 Die Briefe von Christel Schmitz sind nicht erhalten. 80 Der Schwager ist Hans Schmitz. 81 Oldenburg. 82 Verbindungstür.

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und die übrigen Sachen zusammengerückt. So geht es einigermaßen; doch wird die Sache mulmig, wenn es Schnee gibt. Da weiß ich mir noch keinen Rat. Evtl. bekomme ich nächste Woche das Dach etwas ausgebessert, drückt mir den Daumen, daß es klappt. Ich verstehe nicht, daß der Brief von Peter83 noch nicht angekommen ist, ich habe ihn gleichzeitig mit den anderen Briefen aufgegeben. Ich bin verschiedentlich auf der Post gewesen, doch war nichts da. Gestern brachte mir Frl. Becker Post mit. Eine Karte von Dir vom 24.10., einen Brief von Frau Doktor Schuwirth84 und als bestes einen Brief für Dich von Peter, den ich Dir beilege. Hoffentlich kommt er gut an. Sie sind z. T. nach Berzdorf gegangen. Den Brief von Peter hat sie von der Post in Sülz mitgebracht.  Nun zum Brief Nummer 2.  Wir sind noch immer in Köln, gesund und haben fast ständig Alarm. Man kommt kaum noch zu einer geregelten Arbeit. An einer Sache muss man 3 bis 4 Mal anfangen. Es ist zum Kotzen. Entschuldige den Ausfall; aber es ist so. Am 27.11. hat’s gottseidank gut gegangen. Wir sind noch bis zum Fort gelaufen, dann ging’s aber auch schon los. Das reine Trommelfeuer. Wir haben uns die Tücher um den Kopf gebunden wegen des Luftdrucks. Eine ganze Weile nachher hatten wir noch taube Ohren. Gestern Abend hatten wir noch mal einen Überraschungsangriff. Kurz nach 6 Uhr, wir hatten eben gegessen und waren beim Spülen, hörten wir ein Flugzeug, doch dachten wir es ist ein deutsches. Gleich darauf ein kratzendes Geräusch und dann ging der Tanz los. Die ersten beiden Wellen haben wir im Keller überstanden. Das Haus schwankte nur so. Es war unheimlich. Dann sind wir raus und zum Bunker gerast. Die Biester sind mit abgestellten Motoren runtergekommen und haben ihren Mist abgeladen. Im Weyertal, auf der Berrenrather Str., Luxemburger Str., Bonntor, Merheim, Nippes usw. sind Bomben gefallen. Über ganz Köln waren Markierungsbomben verteilt. Der Alarm kam, als der erste Segen unten war. Du siehst, sie kommen immer noch mal.

83 Peter Westdorf, Ernas Bruder, der im Krieg auf dem Balkan eingesetzt war und später in Merseburg in Sachsen ins Lazarett kam; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 84 Die Ärztin Gertrud Schuwirth hatte eine Praxis in Köln-Junkersdorf und wohnte in Köln-Weiden. Ihr Brief vom 28.11.1944 enthält im Wesentlichen nur die Nachricht, dass sie „infolge eines erheblichen Fliegerschadens im Oktober“ einen Brief von Ernestine Westdorf nicht eher beantworten konnte; Kopie des Briefes im Archiv des Verfassers.

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Ich bin froh für Dich, daß Du nun endlich etwas von Peter gehört hast. Schreibt er nichts über seinen Einsatz? Als was er eingesetzt ist? Nun, hoffentlich bekommst Du jetzt etwas regelmäßiger Nachricht von ihm. Sonst gibt es hier nichts neues zu berichten. Von Mutter habe ich noch keine Post bekommen.85 Ich kann nur denken, daß dieselbe verloren gegangen ist. Sonst weiß ich mir keinen Reim darauf zu machen. Für die Besorgung des Päckchens nochmals meinen herzl. Dank. Ebenso für die Grüße von Tilla, Trude und Franz.86 Wie geht es Euch allen und was machen die Kinder? Wie steht es mit Tilla? Geht es ihr wieder etwas besser? Ich lasse ihr baldige Besserung wünschen. Ernestine Westdorf erkundigt sich im 13. Brief bei ihrer Tochter Erna nach dem Zustand des Hauses in der Kirchberger Straße und bittet darum, dass für ihren am 30. Dezember 1943 (an Arteriosklerose) verstorbenen Mann PeterJosua ein Jahrgedächtnis gehalten werde und eine weitere Messe für ihre „Jungen, daß sie gesund von Leib und Seel zu uns zurückkommen“. Sie vermisst die Messe im Krieler Dömchen sehr, denn von Unterwiederstedt aus dauert es zu Fuß eine halbe Stunde zur nächsten (katholischen) Kirche, was für sie zu weit ist. Sie hofft, dass Hans und Erna zu Weihnachten kommen, dass sie aber Geschirr mitbringen müssten: 8.12.1944 Liebe Erna,  jetzt muss ich mich mal wieder eine kleine Weile mit Dir unterhalten. Ich hatte schon immer wieder auf einen Brief gehofft, ävver alle Augenblicks kam nix. Vielleicht geht auch die Post so schlecht. Wie ist es eigentlich in Köln, gemeint ist Sülz, Kirchberger Str. War Rudolf da wegen dem Dach? Und hat das Haus bei den letzten Angriffen wieder was mitgekriegt? Du hast mir noch nicht geschrieben, ob Du noch in Berzdorf bist, wie die Verpflegung ist und dgl. Dann habe ich wieder 1 ganze Reihe Wünsche. Vor allen Dingen sieh einmal zu, ob Du zu Rektor Groß gehen kannst und fragen, ob er zwei Messen für uns lesen kann, eine als Jahrgedächtnis für Vater und eine für unsere Jungen, daß sie gesund von Leib und Seele zu uns zurückkommen, schließt auch Erika mit ein. Opfere 25 Mk, hoffentlich bist du noch im Besitz derselben. Grüße auch an den Rektor von mir, er möchte 85 Die Briefe vom 24.11. und 1.12. waren offensichtlich noch nicht eingetroffen; vgl. Brief vom 14./17.12.1944 (s. u.). 86 Die Familie von Christels Schwester Trude Sommerhäuser in Oldenburg; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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unserer gedenken, das Dömchen vermisse ich sehr, die Kirche vermisse ich sehr (hier muss man eine gute halbe Stunde den matschigen Weg laufen, das kann ich nicht). Eine miserable Feder habe ich zum Schreiben. Bringe mir bitte einen Federhalter und Federn mit, wo ich immer mit schreibe dann Opernglas, allerdings nicht für hier in die Oper, aber in Sicherheit bringen. Dann Mokkamühle, bitte ein ganzes Pfund Schwarzbrot, Notizbuch, Bettschuhe.  Wer Weihnachten bei uns essen will, wird gebeten, sich einen Teller mitzubringen. Wir freuen uns riesig auf Weihnachten wenn Ihr kommt, hoffentlich habt Ihr gute Fahrt. Meine Erkältung ist soweit vorüber, es war ganz gehörig, nur noch etwas Husten hab’ ich.  Vorige Woche war Maria mit mir nach Hettstedt zum Arzt, es ging mir in der Hauptsache um Medikamente, er hat mir zwar mein Rezept verlängert, kann es aber nicht bekommen, ist hier in der Apotheke nicht zu haben. Jetzt ist Maria sehr stark erkältet, so daß sie recht krank ist. Ich hoffe, dass es sich bald bessert, sie kommt ja ganz herunter. Wenn es geht, bringe auch die Kaffeedecke mit und Salzstreuer. Erinnert Hans an den Aufnehmer und Waschbürste, hier ist wohl Waschküche, aber keine Maschine und keine Wringmaschine, alles muß mit der Hand geschehen, das ist schwer für Maria. Ist noch eins von den geflickten Nachthemden da, ich könnte es gut gebrauchen. Ich lege Dir mal eins von den Rezepten bei, vielleicht daß Du mir wenigstens die Pillen, sonst nichts besorgen kannst. Schluß! Grüße mir alle. Damen Becker, Oepens, Frl. Hecker, Frl. Hoffmann, Hans und sonst Verwandte und Bekanntschaft und sei herzlich gegrüßt von Deiner Mutter Vergiß nur die Brillen und Brennschere nicht. Ich freue mich auf Weihnachten. Brief Nummer 14 stammt wieder von Maria Schmitz aus Unterwiederstedt und ist für ihren Mann Hans und Schwester Erna in Köln. Sie bittet um das Mitbringen weiterer Kleidungsstücke und anderer Utensilien, wenn beide zu Weihnachten kommen. Sowohl bei den Schwiegereltern in Aschaffenburg als auch in Köln hatte es schwere Bombenangriffe gegeben und sie fragt sich, wie ihre Lieben das Chaos aushalten:

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9.12. Lieber Hans, liebe Erna! Beifolgend eine Karte von Käthe.87 Ist das nun nicht grausam. Kaum sind die Eltern drüben und denken etwas Ruhe zu haben, da müssen sie schon wieder wandern.88 Bin nun auf Käthes nächste Nachricht gespannt. Gib Herrn Rektor Groß im Ganzen 50,-, ich tu die Hälfte dazu und grüß ihn herzlichst, besonders auch von den Kindern. Nicht aufhören soll er für uns alle draußen zu beten. Wie die Schwalben kämen wir zurück zu unserem einzigen Dömchen. Das wäre unsere felsenfeste Überzeugung. Liebe Erna! Hast Du noch den Pfefferminzgeist? Ferner sind bei uns im Kleiderschrank noch Camelia. Hier gibt’s so was nicht. Darf ich bitten? Den Flickenkasten im Wäscheschrank könntest du vielleicht auch noch einer näheren Prüfung unterziehen. Da ist auch noch blauer Wollstoff und brauner drin. Was evtl. noch was für die Mädchen gibt. Was Dir von den Rodelanzügen der Jungens in die Hände fällt, ausgetrennte Arme oder die verschlissenen Pullover, ganz gleich alles mitbringen. Evtl. gibt’s Unterzeug für die Kinder. Es ist nämlich an nichts dranzukommen. So etwas liegt auch noch im Kabäuschen in der Schrankschublade. Nach einem Brief von Dr. Weißberg muss es ja das reinste Chaos jetzt in Köln sein.89 Dass Ihr da noch immer bleibt. Oder ist es doch nicht ganz so schlimm. Am 27. und 28. erhielten wir Eure nette Post. Seitdem nichts mehr. Habt Ihr unsere Briefe alle erhalten? Vom 25. November ab schrieben wir mit diesem hier 4 Einschreibbriefe. Wir freuen uns jetzt schon auf Euer Kommen. Wenn man doch an etwas für die Kinder kommen könnte. Aber vorläufig ist alles vergebens. Es ist jammerschade. Ach, wenn Ihr nur schon da wäret. Dann wäre alles gut. Hoffentlich klappt‘s. Ich bin hundemüde. Heute Abend ist den Kindern der Dr…. Eimer gekippt.90 Da habe ich fies aufnehmen müssen. Die Hände stinken immer noch trotz allem Waschen. Herzlichst Maria und Trabanten. Erna Westdorf schreibt Brief Nummer 15 aus Köln an ihre Mutter. Sie kann ihr von der Reparatur des Daches in der Kirchberger Straße berichten und 87 Die Karte von Käthe Reichertz, wohl aus Aschaffenburg, ist nicht erhalten. 88 Der schadensreichste Luftangriff auf Aschaffenburg hatte am 21. November 344 Menschenleben gekostet und fast die Hälfte der Bevölkerung obdachlos gemacht, vgl. Anm. 71. 89 Ein Brief von Dr. Weißberg, Nachbar in der Mommsenstraße, ist nicht erhalten. 90 Auslassung im Text, gemeint ist wohl der Driss-Eimer. In der rheinischen Umgangssprache steht „Driss“ für „Mist, Scheiße“.

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davon, dass sie einiges von den angeforderten Dingen zur Post gegeben hat. Auch sie hat Köln zeitweilig, wohl an den Wochenenden, verlassen und schreibt einen zweiten Teil des Briefes aus Berzdorf, wo sie zusammen mit ihrer Kollegin, Fräulein Becker, untergekommen ist. Auch dort gibt es häufigen Alarm, und von einer Frau, die aus Düren fliehen musste, weiß sie, dass es „ziemlich lebhaft an der Front“ ist: 14.12./17.12.1944 Liebe Mutter! Für Deine Briefe vom 24.11. und 1.12.44 herzlichen Dank. Da hast Du ärmste Dir aber Sorgen gemacht. Doch müssen wir dafür die Post verantwortlich machen; ich habe Dir jede Woche einen Brief geschrieben und hoffe, daß Du sie inzwischen erhalten hast.91 Von Euren Wunschzetteln sind etliche Sachen schon unterwegs; vielleicht ist bereits schon etwas angekommen. Morgen früh geht der große graue Reisekoffer von Vater als Passagiergut nach dort ab. Wir haben eine Menge zusammengepackt. Außerdem haben wir noch den großen Koffer von Maria vollgepackt, um ihn ebenfalls aufzugeben. Der hl. Antonius wird uns wohl helfen, daß alles gut ankommt. Was Du aufgeschrieben hast, habe ich bis auf den weißen Wäschestoff gefunden. Ich vermute, dass ich ihn bereits einem Paket beigepackt habe. Ihr könnt ja mal achtgeben. Gestern ist nun auch das Dach fertig geworden. Rudolf ist zwar nicht gekommen, doch war eine Kollegin von mir so liebenswürdig, mir ihren großen Jungen, der vom Westwall zurückkam, zur Verfügung zu stellen. Er hat seine Sache sehr gut gemacht. Ich bin einen Tag zu Hause geblieben u. habe tüchtig geschafft. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß die Sache geklappt hat. Hans und ich haben viel Ziegel schleppen müssen, aber nun ist der Laden auch dicht. Nur die Fenster machen uns noch Kopfzerbrechen, da an Holz garnicht dran zu kommen ist. Der Italiano ist schon lange nicht mehr da - ausgerissen. Aber wir werden mal sehen, ob wir nicht wenigstens ein Fenster oben zu bekommen, evtl. das gr. Schlafzimmer, und stellen dann dort die ganzen Sachen von der oberen Etage zusammen. Habt Ihr meinen Brief nicht bekommen, worin ich um die Kinderkarte geschrieben habe?92 Ich brauche sie doch dringend, denn ich weiß nicht, wie

91 Diese vorherigen Briefe von Erna Westdorf an ihre Mutter in Unterwiederstedt sind nicht erhalten. 92 Dieser Brief ist nicht erhalten.

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lange Cords noch hierbleiben.93 Mit meiner Karte kann ich nämlich nichts anfangen.  Du fragst, was ich in Köln mache? Vor allen Dingen lag mir unser Häuschen sehr am Herzen. Durch die lange Regenzeit habe ich fast täglich Wasser schöpfen müssen, damit nicht zu viel verkommt. Dann habe ich jeden Tag auf Nachricht von Siebenburgen gehofft; Rudolf wollte mir einen Zettel zukommen lassen, wann er kommen würde. Bis heute vergeblich. 17.12.44 Heute komme ich erst dazu, den Brief zu Ende zu schreiben. Gestern bin ich mit Frl. Becker nach Berzdorf gefahren. In der Bahn traf ich Margret. Sie fuhr zu ihren Verwandten nach Waldorf. Sie läßt Dich herzlich grüßen. Hier in Berzdorf haben wir heute an einem Streifen Alarm. Andauernd fliegen die Maschinen über uns fort. Es ist ziemlich lebhaft an der Front. Beckers haben seit 14 Tagen ihre Schwägerin aus Düren, die dort flüchten musste. Das kleine Häuschen nimmt sie alle auf.  Den Besitzer desselben lernte ich gestern Abend kennen. Er kam gestern vom Westwall in Urlaub fährt diese Woche zu seiner Familie nach Thüringen. Wir haben uns für die frdl. Aufnahme bei ihm bedankt. Er meinte nur, das sei doch selbstverständlich u. ihm wäre es lieber, Bekannte wohnten dort. Freitagmorgen bin ich noch mal zu Cords hingegangen und zwar mit Erfolg: Ich habe einen hübschen Seidenpiquet bekommen; ausnahmsweise 3 m. Hoffentlich gefällt er Euch. Auf demselben Weg habe ich auch noch mal mein Glück bei Lachmayr versucht, auch mit Erfolg. Ich bekam für meinen Bezugsschein ein paar gute Schuhe. Für Erna soll ich Anfang der Woche noch mal wiederkommen, dann wird wieder was zu haben sein. Lachmayrs und Frau Hopfer lassen herzlich grüßen. Frau Hopfer freute sich, mal wieder einem alten Kunden etwas verkaufen zu können. Mit Bezugsscheinen ist vorläufig nichts zu machen. Augenblicklich bekommen nur die Totalgeschädigten auf ihre Erstehilfescheine, u. dann gibt es nur noch Säuglingskarte etwas. Daß ich bei Cords etwas bekam, war eine besondere Ausnahme. Sobald es wieder etwas gibt, werde ich mich um Wolle bemühen. Auch in Berzdorf ist nichts mehr zu haben. Die Fl.Gesch.94 haben dort fast alles ausverkauft. 93 Cords war ein Textilkaufhaus am Neumarkt in Köln; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 94 Fliegergeschädigten.

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Abb. 5: Reiseerlaubnis für Erna Westdorf (Kopie im Archiv des Verfassers)95.

Beckers lassen Dich besonders herzlich grüßen u. Dir alles Gute wünschen. Dann noch Grüße von Oepens, Frl. Hecker, Frl. Hoffmann, Herrn Dietrich, Resch,96 Thiele. Ich hoffe Euch alle gesund und guter Dinge und bleibe bis auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen Eure Erna Der 16. Brief kommt von Hans Schmitz aus Köln an Schwiegermutter, Frau und Kinder. Er muss ihnen mitteilen, Weihnachten nicht kommen zu können – Urlaubssperre. Allerdings hat er nach Weihnachten sechs Tage Urlaub und will dann kommen. Die Weihnachtstage will er in Berzdorf sein, dort, wo seine Schwägerin Erna an Wochenenden untergekommen ist, die aber von ihrer Dienststelle bei der Kriminalpolizei in Köln eine Reiseerlaubnis bekommen hat und schon vor Weihnachten nach Unterwiederstedt kommen wird. Käthes Mann Klaus Reichertz ist in Gefangenschaft geraten; Käthe und die Eltern Schmitz sollen aus Aschaffenburg evakuiert werden: 95 Wie man der Bescheinigung entnehmen kann, war der leitende Beamte der Kriminalpolizei als Kriminalrat zugleich Obersturmbannführer des SS. 96 Resch war eine Metzgerei am Hermeskeiler Platz in Köln; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Köln-Sülz, 20.12.44 Herzliebste Mutti! Mein lieber guter Schatz! Meine lieben Kinder! Es ist mir zu meinem größten Schmerz nicht vergönnt, zu Weihnachten, dem Feste der Kinder, in Eurer Mitte zu sein. Es ist zwar sehr bitter, aber in Gedanken an unsere Soldaten, insbesondere auch an Rudi97 und Klaus98, sowie an Erika99 und die arme Käthe100 wollen wir es tragen. Am Tisch des Herrn gedenken wir einander. Sage das auch den Kindern. Ich werde aber nach den Tagen noch vor Neujahr dort eintreffen. 6 Arbeitstage Urlaub habe ich bekommen. Zu den Tagen ist der Urlaub gesperrt. Auf Einladung der Damen Becker werde ich die Weihnachtstage in Berzdorf verleben. Es war mir zuerst etwas komisch, aber Erna meinte, ich könnte das ruhig annehmen. Dann bin ich wenigstens nicht so ganz verlassen. Nun zu Deinen lieben Briefen und daß ich die in dem Brief vom 24.11. angeführten Verse noch kenne. Ich habe sie noch in Deiner Originalschrift. Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Ich will ja auch gar nicht klagen. Es geht mir ja den Verhältnissen entsprechend gut. Mit Erna komme ich sehr gut aus und der Betrieb im Hause Westdorf läuft wie am Schnürchen. Die Hiobsbotschaft von Käthe ist ja furchtbar und das jetzt vor Weihnachten. Ein Glück, dass Käthe jetzt von Klaus wenigstens Nachricht aus der Gefangenschaft hat. Hoffentlich treffen Käthe und die Eltern es bei der Evakuierung gut an und kommen bei der Gelegenheit die Eltern für sich. Deine Laute bringe ich, wenn eben möglich mit. Dann wird aber gesungen. Vom Volkssturm habe ich bisher nichts mehr gehört. Bei meiner Rückkehr habe ich mich sofort gemeldet und dabei ist es geblieben. Mein Lieb! Alles andere wird Euch Tante Erna mündlich berichten. Sie steht auf dem Sprung zur Abreise. Gleich gehen wir zusammen zum Bahnhof. Nun wünscht Euch ein frohes gesegnetes Weihnachtsfest mit den herzl. Grüßen und tausend innigen Küssen Euer Vati. N.S.: Auch frohe Weihnachtswünsche an Mutter, Familie Schüler, sowie Familien Müller und Lange101, auf ein frohes Wiedersehen!  97 Rudolf Westdorf.  98 Klaus Reichertz.   99 Rudolf Westdorfs Frau. 100 Klaus Reichertz’ Frau. 101 Herr und Frau Lange waren die Besitzer des Hofes in Unterwiederstedt, den Alwin Müller bewirtschaftete; sie lebten dort auf dem Altenteil; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Abb. 6: Erste Seite des Briefes Nr. 16 von Hans Schmitz zum Weihnachtsfest 1944 an seine Frau, Mutter und Kinder in Sachsen-Anhalt, 20.12.1944 (Archiv des Verfassers).

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Der 17. Brief kommt aus Aschaffenburg von Käthe Reichertz, die an ihre Schwägerin Maria in Unterwiederstedt schreibt. Bei einem der Bombenangriffe ist ihre Wohnung schwer beschädigt und Vater Schmitz in ein Kriegsaltersheim nach Bad Kissingen gebracht worden. Mutter Schmitz findet keine Ruhe, weil sie aus Köln nichts hört: Aschaffenburg, d. 26.12.44 Liebe Maria! Zweiter Weihnachtstag! Hinter zugenagelten Fensterrahmen, provisorisch wieder eingesetzter Tür in der Küche, das Wohnzimmer können wir wegen großer Risse in der Innenwand und in der Decke nicht benutzen. Dort haben wir die Möbel zusammengestellt. Im Schlafzimmer stehen nur noch die Betten. Alles übrige haben wir abmontiert. Dort ist eine Innenwand so schwer gerissen, dass sie bei der nächsten Erschütterung vollständig einfällt. Im Kinderzimmer haben wir ebenfalls nur noch das Bett aufgestellt. Und zwar nach der Innenwand zu, da es in der Ecke der Außenwand hereinregnet. So könnt Ihr Euch ein Bild machen, wie wir „wohnen“. Die Etage über uns musste geräumt werden. Dort ist kein Wohnen mehr möglich. Der Angriff vom 21.11. hat nur eine halbe Stunde gedauert. Er war furchtbar. Es sind sicher hunderte Bomben gefallen an dem Abend. Alarm haben wir täglich ein paar Mal. Am 12.12. hatten wir dann noch mal einen Tagesangriff. Bei der Gelegenheit sind auch noch mal eine Anzahl Häuser eingestürzt. Wir haben bis jetzt insgesamt 1.200 Tote. Eine Bombe ist nur 10 Meter von uns ab ins Feld gefallen. Den Luftdruck könnt Ihr Euch denken. Der Ausblick von unserer Küche aus ist trostlos. Drei Häuser sind nicht mehr bewohnbar, ganze Wände sind herausgerissen, hier hat‘s wenigstens keine Menschenleben gekostet. In Schweinheim selbst sind allein 21 Tote zu beklagen. Anfangs wollten wir uns evakuieren lassen, aber das ist auch nicht so einfach. Wir haben erst einmal Schritte getan, um den Vater sicherer unterzubringen, da er durch den Angriff sehr gelitten hat. Er ist jetzt in Bad Kissingen in einem Kriegsaltersheim. Mutter ist augenblicklich auch gesundheitlich nicht gut dran. Ich werde dieser Tage einmal nach Kissingen fahren und mich erkundigen, ob er dort vorläufig bleiben kann. Mutter wollte schon verschiedentlich nach Köln fahren, wurde aber durch Fliegerangriffe, Krankheit etc. immer wieder daran gehindert. Sie hat keine Ruhe, da sie von keinem Menschen aus Köln irgend etwas hört. Hat Hans denn aus der elterlichen Wohnung nichts gerettet oder den Schaden gemeldet. Ihr könnt Euch doch denken, dass wir darüber in großer Unruhe sind, denn es ist einem doch nicht einerlei, ob man noch etwas vor-

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findet, oder nicht. Mutter phantasiert oft nachts davon. Von dort aus funktioniert die Post doch noch gut. So gut wie Du nach Köln Nachricht von uns gibst, könntest Du uns doch auch Nachricht von Köln geben. Das Einzigste, was wir bisher bekommen haben, ist der Brief von Hans vom 8.11.102, in welchem er uns mitteilt, dass die Eltern wieder schwer getroffen sind.103 Eine weitere Nachricht haben wir bisher von keiner Seite erhalten. Du kannst Dir denken, was sich Mutter für Gedanken darüber macht. Hans möge bei der Schadensaufstellung auch bitte an meinen Herd denken. Die Originalrechnung habe ich noch. Es handelt sich um einen Senking-Herd komplett mit Aufsatz Mk. 238,60. Ist unser Gasherd noch erhalten? Die Originalrechnung von letzterem habe ich noch. Er hat kompl. Mk. 143,- gekostet. Mutter hat verschiedentlich schon um Nachricht gebeten und hoffe ich bestimmt, jetzt doch endlich von Euch etwas Näheres zu hören. Wir wissen ja gar nicht, ob überhaupt noch jemand in Köln wohnt, und dürfte es für Mutter doch ein gewagtes Stück sein, sich einfach auf die Bahn zu setzen und auf gut Glück nach Köln zu fahren. Sie wüsste ja gar nicht, wo sie dort bleiben sollte. Liebe Maria! Ich bitte dich nun dringend um näheren Bescheid. Ist Hans denn überhaupt noch in Köln? Wo ist und wohnen Theo und Gerta? Schick bitte Deinen Brief per Einschreiben. Das geht schneller. Seid Ihr noch alle gesund? Ich warte als immer noch auf einen Brief von Klaus aus der Gefangenschaft.104 Wir wünschen Euch ein glücklicheres 1945 und grüßen Euch alle herzlich, besonders Käthe. Der 18. Brief datiert vom 2. Januar 1945, verfasst ist er von Hans Schmitz in Unterwiederstedt, wo er an Silvester eingetroffen war und Käthes Brief (Nr. 17) gelesen hat. Er ist auf der Rückseite von Käthes Brief geschrieben, vielleicht aus Mangel an Papier. Es sind keine weiteren Briefe an Käthe in Aschaffenburg erhalten, weshalb zweifelhaft ist, ob er überhaupt abgeschickt wurde. Aus ihm geht hervor, dass Hans Schmitz und seine Schwägerin Erna im Haus der Schwiegereltern in der Kirchberger Straße wohnten, weil seine Wohnung in der Mommsenstraße nicht bewohnbar war. Der Brief schildert den Zustand der beschädigten Wohnung der Eltern Schmitz in der Berren102 Der Brief von Hans Schmitz an seine Schwester Käthe in Aschaffenburg ist nicht erhalten. 103 Gemeint ist wohl das Haus der Eltern Schmitz. 104 Klaus Reichertz, ihr Mann, war als Soldat in Frankreich im Einsatz gewesen; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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rather Straße. Auch die Fliegerangriffe auf Köln werden thematisiert, aber „die Ereignisse im Westen berechtigen zu allerlei Hoffnungen“: Unterwiederstedt, 2.1.45 Unsere Lieben! Mit großer Erschütterung vernahmen wir durch Käthes Karte, dass der amerikanische Terror nun auch Käthe und damit die Eltern wieder mal getroffen hat. Es ist eine furchtbare Tragik. Liebe Käthe! Nun zu Deinem Brief vom 26.12.44, den ich in Unterwiederstedt bei meiner Ankunft am 31.12. antraf. Zu Weihnachten hatte ich keinen Urlaub bekommen. Es war das traurigste Weihnachtsfest, dass ich je erlebt habe. Fern von allen Lieben. Erna war zu Weihnachten nach hier gefahren, so dass ich auch Ihre Hilfe noch entbehren musste. Ich wohne nämlich mit Erna in der Kirchberger Straße als einzige Bewohner der ganzen Straße, da in meiner Wohnung der Küchenbereich zerfetzt ist. Unser Schweigen auf Eure Nachrichten kam wie folgt zustande. Frau Lenz hatte nach unseren Erkundigungen die Korridortüren der Wohnung mit einem Vorhängeschloß provisorisch durch ihren Vater schließen lassen. Frau Lenz befindet sich selbst im Sauerland. Ehe ich nun den Vater aufgefunden und in den Besitz des Schlüssels kam, ging wieder eine Zeitlang vorüber. Theo hat dann mit mir zusammen die Wohnung aufgesucht. Das Wohnzimmer ist am besten erhalten. Die gerissene Zwischenwand steht noch, die Türe ist ganz herausgerissen, doch hängen die Fensterrahmen noch teilweise. Die Tische sind heil. Wir haben das Fenster mit einigen Türen provisorisch abgedichtet und das abgeschlagene Schlafzimmer in der Küche untergebracht. Die teils feuchten Matrazen haben wir zum Trocknen auseinandergelegt. Die Schränke sind natürlich stark beschädigt, doch hat der ovale Spiegel gehalten. Am Waschtisch ist eine kleine Ecke der Marmorplatte abgebrochen. Der Ofen ist zerstört. Die Küche ist sehr mitgenommen. die Zwischenwände zum Flur, zum Schlafzimmer und zu Spind und Klo sind eingestürzt, Fenster und Türen zerstört. Dein Herd ist bis auf den Korb unversehrt. Es ist natürlich nicht möglich, dass alles zu 100 % aufzuräumen, da das die Zeit und die fortwährenden Alarme nicht zulassen. Abends nach dem Dienst ist es bereits dunkel. Gegen 6:15 Uhr gibt es bestimmt allabendlich Vollalarm. Theo wollte noch mal mit einigen Kissen die Fensterlöcher zuschlagen. Ob das gelungen ist, weiß ich noch nicht, da ich mit Theo seitdem nicht mehr gesprochen habe. Ich werde nach meiner Rückkehr hierüber berichten. Im Keller ist, wie ich bereits schrieb, alles erhalten.

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Nachdem wir nun diese Feststellungen und Arbeiten in der Wohnung der Eltern vorgenommen hatten und ich Vater und Mutter darüber Mitteilung machen wollte, kam die Nachricht von Eurem Schaden und Eurer Evakuierung. Ich war also gezwungen, da nach den Erfahrungen in Köln die letzte Wohnung nachgeschickt wird, die neue Adresse abzuwarten und konnte daher zu meinem größten Leidwesen auch zu Weihnachten und Neujahr nicht schreiben. Maria ging es natürlich genauso. Ob Theo schrieb, weiß ich nicht. Seine Familie wohnt jetzt im Oberbergischen bei Wildbergerhütte, wo Allr.105 einen Teilbetrieb aufmacht. Er hat auch fast alle Möbel dort. Eine Umquartierung der Möbel der Eltern ist ganz ausgeschlossen, da NSV106 und Partei infolge der umfangreichen Schäden hierzu nicht in der Lage sind. Theo hat das durch die Firma bewerkstelligt. Gerta ist noch in Weiden und wartet auf Schang,107 der noch im Schanzeinsatz in der Eifel ist. War zu Weihnachten in Urlaub, wie ich durch Herrn Pesch erfuhr.108 Weiden ist auch teilweise bombardiert, doch hat Gerta nur Glasschäden. Nach den beiden schwersten Angriffen für Lindenthal und Sülz, Klettenberg am 30. u. 31. Oktober haben wir bisher einigermaßen Glück gehabt. Hoffentlich hat der am 29.12. gemeldete Angriff auf Köln, wo ich schon nach hier unterwegs war, für uns keine neuen Schäden gebracht.109 Heilig Abend und am Weihnachtstag hatten wir fast den ganzen Tag Alarm. Am Morgen des ersten Feiertages fielen Bomben ohne Alarm, was sehr oft vorkommt. Wir gehen bei Vollalarm in den Erdbunker des Bahnhofes Sülz. Hoffentlich kann Vater in Bad Kissingen bleiben. Ist es nicht möglich, auch Mutter unterzubringen? Teilt mir bitte die genaue Adresse mit. Liebe Käthe, hast Du von Klaus schon weitere Nachricht? Woher kam der erste Bescheid? Ist er in amerikanischer bzw. englischer Gefangenschaft? Nicht mutlos werden, ja. Mit Gottvertrauen in die Zukunft blicken. Schließlich hast Du doch die berechtigte Hoffnung, dass Kl.110 nach dem Krieg wohlbehalten zu Euch zurückkehrt. Die Ereignisse im Westen berechtigen zu allerlei Hoffnungen.

105 Allright-Fahrradwerke. 106 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. 107 „Schang“ war Gertas Mann Jean Pfeifer. 108 Herr Pesch war ein Nachbar von Familie Pfeifer in Weiden; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 109 Aus den folgenden Briefen aus der Feder von Hans Schmitz vom 12. u. 19.1.1945 (s. u., Nr. 19 u. 21) geht hervor, dass das Haus in der Mommsenstraße kurz nach seiner Abreise einen schweren Bombentreffer erhalten hatte und in Trümmern lag. 110 Klaus.

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Den 19. Brief schrieb Hans Schmitz wieder aus Köln. Er muss seiner Frau berichten, dass das Haus in der Mommsenstraße bei einem Bombenangriff am 30. Dezember 1944 entgegen seiner Hoffnung vollständig zerstört wurde: Köln-Sülz, 12.1.45 Liebe Mutti! Nach elender Fahrt sind wir Donnerstag Mittag um 11 Uhr in Köln-Mülheim gelandet. Die näheren Umstände werde ich demnächst in einem Brief mitteilen. Mein Lieb! Das, worüber wir uns noch auf dem Weg zum Bahnhof Sandersleben unterhalten und worauf wir uns seelisch vorbereitet hatten, war da schon eingetreten.111 Am 30.12.44 in den Abendstunden hat das Haus Mommsenstr. 8 aufgehört zu existieren. Es ist zusammen mit den anschließenden Häusern der Curtiusstr. ein Trümmerhaufen. Mommsenstr. 10 steht noch. Ich erfuhr es zuerst am Donnerstag Nachmittag auf der Dienststelle. Die Keller sind sogar eingestürzt. Ob da noch etwas geborgen werden kann, ist sehr fraglich. Es war doch ein schrecklicher Augenblick, als ich am Donnerstag Abend mit Erna vor dem zugeschneiten Trümmerhaufen stand. Doch ich hab mich trotz aller Bitternis jetzt damit abgefunden, so wie wir beide es vereinbart. Die arme Familie Schüler tut mir leid. Ich dachte schon einmal daran, dass Frau Schüler nun hierher kommen müsste. Es ist aber doch eigentlich zwecklos. Die grüne Karte werde ich für Schülers mitbesorgen. Die Entschädigungsansprüche können auch dort geltend gemacht werden. Falls eine Bergung von Sachen aus dem Keller noch möglich wird, werde ich das mitteilen. Bezüglich der ersten Hilfe etc. werde ich mich morgen noch umhören. Seid nun herzlich gegrüßt und geküsst von Eurem traurigen Vati. Viele Grüße an Familie Schüler und sie sollen sich von der Hiobsbotschaft nicht zu sehr niederdrücken lassen. Vor allem der Mutter recht herzliche Wünsche zu ihrem 76. Geburtstage. Viele Grüße auch von Tante Erna. Der 20. Brief ist von Maria Schmitz aus Unterwiederstedt an ihren Mann und ihre Schwägerin. Sie berichtet über die Kampfflugzeuge, die über sie hinwegfliegen, und sie bittet um die Übersendung von Dingen, die in ihrer Wohnung

111 Bei der Verabschiedung hat Maria Schmitz ihrem Mann Hans wohl mit auf den Weg gegeben, dass für den Fall, dass ihre Wohnung in Köln und damit ihre Besitztümer den Bomben zum Opfer gefallen sein sollten, er nicht verzweifeln und sein Gottvertrauen nicht verlieren dürfe; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020; vgl. Brief Nr. 18 vom 2.1.1945.

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oder im Keller des Hauses in der Mommsenstraße geblieben sind. Noch weiß sie nicht, dass das Haus in Trümmern liegt: Unterwiederstedt, 14.01.45 Liebe Erna, lieber Vati! Zuvor herzlichen Gruß. Wir hoffen zuversichtlich, dass Ihr recht gut unten gelandet seid. Nachricht haben wir bisher noch keine von Euch. Frl. Marlberg ist so liebenswürdig und besorgt diesen Brief persönlich. Heute Abend brummt es wieder mal ganz besonders unheimlich über uns weg. Die Armen, denen es wieder gegolten hat. Ist’s auch bei Euch noch immer so toll? Wie steht’s mit den diversen Erkältungen. Wir haben jetzt hier echten, rechten Winter. Hätten die Kinder doch die Schlitten. Wäre es nicht doch möglich, irgend etwas drin zu verpacken und als Postsperrgut zu schicken? Ich weiß, es ist ziemlich unmöglich, aber wenn sie so zusehen müssen, jedes hier hat Schlitten, Skier, Schlittschuhe und selbst haben sie gar nichts als eine alte Pappe. Da setzen sie sich drauf und rutschen. Es ist so jammerschade. Könnte man nicht am Ende unsere Fensterbehänge irgendwie drin verpacken? Vielleicht in die alte Wolldecke im Keller eindrehen? Überlegt doch mal. Wir haben übrigens noch verschiedene Wünsche. Im Kabäuschen stehen im Schrank eventuell davor die braunen Winterhalbschuhe der Jüngeren. Die könnte ich jetzt sicher Erna anziehen. Die hat keine Schuhe mehr. Wenn Tauwetter einsetzt, kommt keines zur Schule. Alle Schuhe sind kaputt. Der Schuster nimmt erst im Februar wieder an, womöglich wenn er Leder hat. Ferner die Säuglingswäsche für Frau Lange. Wir gehen übrigens Dienstag dorthin zum Geburtstagskaffee. Die Einladung liegt bereits vor. Ist mal eine kleine Abwechslung gelt. Hermann-Josef hat ganz besondere Sehnsucht nach seinem Briefmarkenalbum mit den sortierten Kuverts, wenn eben möglich, bitte, bitte. Bei Schülers im Küchenschrank rechts unten im schwarzen Kasten liegen noch Gummischläuche für den Krankenwagen,112 bitte, bitte. Der Ofen ist jetzt verhältnismäßig sehr gut in Ordnung. Rauch haben wir keinen mehr, wenn die Platte eben wäre, dass die Ringe ordentlich auflägen, könnten wir natürlich den Brand besser ausnützen. Aber wir sind so schon froh, dass wir alles viel schneller gekocht haben. Hoffentlich bleibt’s wenigstens so, da wollen wir schon wieder froh sein. Großmutter ist übrigens wieder wie umgedreht und da freut man sich ja denn auch. Ihre größte Sorge ist, 112  Gemeint ist der Rollstuhl von Herrn Schüler; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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ob Ihr auch sorgt, zeitig in den Bunker zu kommen. Frau Schüler meinte, ob Ihr die gelöste Karte nicht als unbenutzt an die Reichsbahn zurückgeben könnt. Es ist ja daraus nicht ersichtlich, dass Ihr Gepäck aufgegeben habt. Den Schein müsstet Ihr natürlich nach hier schicken. Nun ist schon wieder Großalarm ½ 12 Uhr, das ist doch allerhand, gelt. Wann mag das nur mal aufhören? Aber wir haben Mut, gelt, und hoffen zuversichtlich zu den Überlebenden zu gehören, trotz allem. Denkt an uns wie wir an Euch und seid herzlichst gegrüßt von Maria und Großmutter. Besonders liebe Grüße vom kleinen Gesöms. Viel gute und liebe Grüße von Mutter. Geht nur früh genug den Bomben aus dem Weg und sucht den Bunker auf.113 Im 21. Brief kann Hans Schmitz seiner Frau Maria nur antworten, dass alle Besitztümer seit dem 30. Dezember 1944, dem Tag nach seiner Abreise aus Köln nach Unterwiederstedt,114 unter den Trümmern des Hauses liegen und an eine Bergung auch wegen des Winterwetters überhaupt nicht zu denken ist. Er berichtet über weitere Bombenangriffe auf Köln und über die schwierigen Umstände seiner Rückreise aus Sachsen-Anhalt an den Rhein: Köln-Merheim, 19.01.45 Herzliebster Schatz! Deinen lieben Brief vom 14.01. haben wir durch Frl. Marlberg gestern erhalten. Erna hat leider nur ganz kurz mit ihr sprechen können. Ich nehme an, daß unser Anfang der Woche in Berzdorf aufgegebener inhaltsschwerer Einschreibbrief inzwischen dort eingetroffen ist. Unser Haus ist also am 30.12.44 gegen 21 Uhr durch eine schwere Bombe von der Gartenseite getroffen worden und einschließlich der Keller zusammengestürzt. Ob aus den Kellern etwas geborgen werden kann, ist erst feststellbar, wenn die Trümmerlast entfernt wird. Da ist natürlich kein denken dran. Sodann sind die Trümmer vollständig zugeschneit, so dass kaum etwas zu erkennen ist. Du kannst Dir denken, mein Lieb, was Dein lieber Brief auf mich für einen Eindruck gemacht hat. Es kam mir wieder so recht zum Bewusstsein, was es heißt, alles verloren zu haben. Tröste mir die armen Kinder. Schlitten, Schlittschuhe, Markenalbum usw. sind alle unter den Trümmern. Ich will sehen, irgendwann einen gebrauchten Schlitten aufzutreiben. 113 Diese Zeilen stammen von Ernestine Westdorf. 114 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Ich habe vom Kriegsschädenamt 5000,- RM Vorschuss bekommen und dieselben mit 5 Postanweisungen zu je 1000,- RM gestern einschließlich einer Postanweisung von 300,- RM Gehalt Dir zugeschickt. Bringe es auf die dortige Sparkasse. Die für mich beantragten Bezugsscheine hole ich morgen Samstag an der Bezirksstelle ab. Die grüne Karte schicke ich Dir dann Sonntag von Berzdorf aus, wo wir wieder am Wochenende hinfahren, per Einschreiben. Du musst dann dort die Bezugsscheine für Euch beantragen. Sei nicht zu ängstlich mit der Angabe der verlorengegangenen Sachen, damit Du auch etwas bekommst, insbesondere für die Kinder. Ich habe es auch so gemacht. Ich bin gespannt, was ich bekomme und werde Dir das noch mitteilen. Für Familie Schüler habe ich keine grüne Karte bekommen. Die alte Karte muss zur Umänderung auf Totalschaden nach der Ortsgruppe im Waisenhaus geschickt werden. Sobald Du unsere Karte nicht mehr benötigst, schicke mir dieselbe zurück, da ich sie noch für die Verhandlungen am Schädenamt benötige. Das hat aber noch zwei bis drei Monate Zeit. In der Zwischenzeit müssen wir die Zusammenstellung für unseren Sachschaden machen. Ich denke mir, daß wir jeder eine Aufstellung machen und dieselben dann gelegentlich vergleichen. Als Preise sollen die Gestehungspreise eingesetzt werden. Der Sachverständige macht dann die Zuschläge. Das ist noch eine harte Nuß. Doch wir wollen auch da nicht zu engherzig sein. Ich habe am Schadenamt nach Rücksprache mit der Sachbearbeiterin einen Schätzwert von 8–10.000 RM angegeben, den das Fräulein dann mit 15–20.000 RM eingesetzt hat. Wenn der Preis übersetzt ist, ist das nicht gefährlich. Die 5.000 RM Vorschuss gehen eben als 1. Rate von der Gesamt­ entschädigungssumme ab. Wenn eine endgültige Abfindung in Frage kommen sollte, würde ich dieselbe natürlich nur mit allem Vorbehalt annehmen. Uns persönlich geht es leidlich. Meine Erkältung bin ich noch immer nicht los. Dazu hat natürlich unsere tolle Rückfahrt, der strenge Winter bei tiefem Schnee und Frost bis zu 17° und die viele Lauferei sehr beigetragen. Seit gestern ist hier starkes Tauwetter mit fönartigem Sturm und Regen, der heute den ganzen Vormittag wieder als Schnee herunterkommt. Bis an die Knöchel watet man durch den Schneepatsch. Die Nacht konnten wir kaum schlafen vor allem Getöse. Die letzte Zeit haben wir wieder öfter Nachtalarm. Vergangenen Sonntag haben wir einen schweren Angriff auf Köln von Berzdorf aus beobachtet. Bahnhof und Brücken wurden wieder getroffen. Der mittlere Bogen der Südbrücke lag schon bei unserer Rückkehr im Wasser. In Sülz hat es gut gegangen. Augustahospital und Südbahnhof wurden schwer getroffen. Wir mussten von Brühl mit dem Lastwagen nach Köln fahren. Nachdem ich vergangenen Donnerstag hier in Merheim die Hiobs-

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botschaft erfuhr, bin ich seit gestern wieder zuerst im Dienst. Nun zu unserer Herreise. Wir mussten das Abteil, in das wir in Sandersleben einstiegen, wieder räumen, da nur für Wehrmacht. In dem neu bezogenen Abteil war nicht geheizt und wir haben dann bis Hannover gefroren. Der Berliner Zug von Hannover war überfüllt. Wir sind so eben auf den überfüllten Flur des Wagens gekommen. Irgendwo hingen die Koffer im Gedränge. Beim Anfahren stellten wir zu unserem Schrecken fest, dass das Fenster in der Tür sich nicht schließen lässt. Wir haben nun über 4 Stunden bei der Kälte im Zugwind gestanden bis wir endlich in das erste Abteil zum Auftauen gelangten. Es war entsetzlich. In Wuppertal-Elberfeld war um 11 Uhr vier Schluss im Dom. Wir mussten mit unserem Gepäck zu Fuß etwa ein ½ Stunde zum Bahnhof Mitte. Dabei waren die Straßen tief zugeschneit. Am Rathaus kam Vollalarm und wir mussten fast 3 Stunden im Bunker zubringen. Als wir dann zum Bahnhof Mitte kamen, war natürlich der Personenzug nach Düsseldorf weg. Am Abend ging es dann mit einer Stunde Verspätung nach Düsseldorf, wo dann der Anschluß nach Köln-Mülheim futsch war. Wir mussten bis am Morgen 4.41 Uhr warten. Auf dem vereisten Bahnsteig haben wir dann 1 ¾ Stunden hüpfender Weise bei eisiger Kälte gewartet, bis der Personenzug nach Köln-Mülheim in den Bahnhof gesetzt wurde. Gegen 7 Uhr setzte sich der Zug dann tatsächlich in Bewegung und in 3 ½ Stunden waren wir dann endlich in Köln-Mülheim. Vom Anhaltebahnhof ging es dann nach weiterem Warten und Kötten mit Lastwagen zum Heumarkt und dann zu Fuß mit dem verdammten Gepäck zum Hauptbahnhof, wo ich das Gepäck zur Aufbewahrung gab. Am Dienstag dieser Woche war es erst möglich, die Koffer durch einen Wagen der Oberleitung zu holen. Da auch hier alles tief verschneit wie selten, war an ein Schleppen nach Hause nicht zu denken. Du kannst Dir vorstellen, dass wir Angst und Bange um unser Gepäck ausgestanden haben, als wir hörten, dass der Hauptbahnhof getroffen wäre. Es soll auch 28 Tote dort gegeben haben. Liebe Mutti! Tante Erna kann in Berzdorf Unterzeug für die Jungen bekommen. Schicke daher möglichst umgehend die Kleiderkarten der 3 Jungen. Den Bezugsschein für Peters Schuhe habe ich bekommen. Ich schicke ihn Sonntag zusammen mit der grünen Karte. Ich finde das Muster von Peters Fußgröße nicht mehr. Du musst ja jetzt wahrscheinlich doch nach Erhalt der Bezugsscheine auch für die anderen Trabanten wegen Schuhen nach Aschersleben. Rudis einen Schuh haben wir immer noch nicht eintauschen können, da der Schuster durch unseren Fahrer nicht anzutreffen. Wie

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mir Herr Dümmer gestern sagte115, soll die Werkstatt nach Eitdorf verlegt sein. Ich werde das noch klären. Du gibst die Schuhe am besten als unter den Trümmern verloren an. Arme Mutti! Hast Du jetzt auch wieder eine Lauferei und Plackerei. Ein Segen, dass Euer Herd jetzt einigermaßen in Fahrt ist. Wie ist es mit Deinen Zähnen? Da müsste doch auch bald mal etwas geschehen. Gehen die Kinder zur Schule? Ich muss nun schließen. Sei recht herzlich gegrüßt und innig geküsst von Deinem Hans. Viele liebe Grüße und Küsse auch an die 5 Kleinen. Herzl. Grüße auch an Mutter und Fam. Schüler. Viele Grüße allerseits auch von Tante Erna. P.S. Der Leipziger Verein-Barmenia teilt mir mit, dass ich erstmalig für Oktober 1944 6,15 RM an deren Konto zu überweisen habe, da eine persönliche Kassierung infolge Ausscheidens ihres Vertreters nicht mehr möglich wäre. Ich werde also jetzt 24,60 für Oktober – Januar überweisen. Falls das nicht stimmen sollte, teile es mir bitte mit. War das nicht eine Überraschung, gleich 3 Kartengrüße von Rudi aus USA?116 Dr. Weißberg und Herr Schulz, dessen Wohnung auch zerstört wurde, lassen grüßen. Gib bitte Herrn Schüler 50 RM zurück, da die Miete für Januar entfällt. Ich sitze hier mutterseelenallein in der Kirchberger Str. in der Küche beim traulichen Petroleumlampenschein. Ich habe nämlich seit längerem mal wieder ein Liter Petrol organisiert. Draußen heult der Sturm, der jetzt 19.30 Uhr schon über eine Stunde fällige Alarm scheint mal ausbleiben zu wollen. Tante Erna, die morgen mal zu waschen etc. blau macht und Frl. Becker, die krank feiert, da sie bei dem Wetter nicht laufen kann, sind am Nachmittag schon nach Berzdorf gefahren.117 Ich werde gleich morgen früh nach Empfang der Bezugsscheine auch nach dort fahren. Vorher werde ich diesen Brief noch bei Frl. Marlberg in den Kasten werfen. Vielleicht treffe ich sie auch an. Dort kann man sich mal zum Schlafen ausziehen und richtig waschen. Hoffentlich ist die kommende Nacht ruhig. Vorvergangene Nacht mussten wir mal wieder im Galopp zum Bunker, da einzelne Flugzeuge vor dem Alarm kreisten, wovon 1 Bomben warf, die aber scheinbar als Blindgänger niedergingen, da man keinen Aufschlag hörte.

115 Herr Dümmer war Schuster am Hermeskeiler Platz; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 116 Rudolf Westdorf aus Aachen (vgl. Anm. 57). 117 Der 20. Januar 1945 war ein Samstag.

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Im Übrigen werde ich von Tante Erna und Fräulein Becker gut versorgt. Jetzt haben wir endlich auch unsere 2 Stück Kühlhauseier bekommen. Mit den Sonderzuteilungen scheint es außer 250 gr. Fleisch endgültig alle zu sein. Hätten wir noch mal von der schönen Wurst von dort. Den letzten Rest nehmen wir mit nach Berzdorf. So schön kann man damit haushalten. Wir kochen jeden Abend und auch das Essen in Merheim ist einigermaßen. Verhungern tun wir also noch nicht. Schade um unser schönes Eingemachtes und die Kartoffeln. Meine Sachen habe ich Gott dank unter der Wanderkluft, dem alten blauen Rock und dem Zylinder alle hier gehabt. Auch das Rauchservice und den Schirm hatte ich herübergeholt. Nun muss ich aber endgültig schließen. Nochmals viele liebe Grüße und innige Küsse von Deinem Hans. Den 22. Brief hat Hans Schmitz am folgenden Tag, einem Samstag, aus Berzdorf an seine Frau geschrieben. Auch dort fallen Bomben, aber es ist dort sicherer als in Köln. Man erfährt auch, wie kompliziert die Reise nach Berzdorf inzwischen ist: Berzdorf, 20.01.45 Liebe Mutti! Leider konnte ich wegen dauernden Alarms Frl. Marlberg nicht mehr erreichen und schicke daher den Brief von hier aus. In der Schule Berrenrather Str. (Bezirksstelle) habe ich im Keller gesessen. An Bezugsscheinen habe ich erhalten: 1 Paar Straßenschuhe 1 Oberhemd 1 Anzug 1 Unterhemd 2 Paar Socken 3 Taschentücher 2 Unterhosen Hoffentlich bekomme ich noch etwas Anständiges. Teile mir doch bitte mal den Namen des Frl. in Fa. Brenninkmeyer mit. Er ist mir entfallen. Die vergangene Nacht war sehr unruhig. 4mal bin ich zum Bunker gelaufen. 2mal fielen die Bomben schon vor dem Alarm. Erst nach 2 Uhr kam ich zum Schlafen. Das haben die beiden, Erna und Frl. Becker mal wieder gekonnt. Die haben hier in Berzdorf selig geschlummert. Einmal bin ich am Rande eines Bombentrichters ausgerutscht, der infolge des Neuschnees schlecht erkennbar war. Die Knochen sind heil geblieben, doch habe ich leider Rudis Pfeife und meinen Kamm zerbrochen. Nach hier bin ich vom Güterbahnhof Sülz mit Dampf und nach Umsteigen in Hermülheim elekt-

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risch bis Brühl gefahren. Von dort habe ich glücklicherweise einen Brikettlastwagen bis Berzdorf geschnappt. Ich kam gerade zum Essen an. Jetzt wünsche ich Euch allen einen recht schönen Sonntag, herzliche Grüße und innige Küsse von Eurem Vati. Viele Grüße auch an Mutter, Fam. Schüler und Fam. Lange. Natürlich auch herzliche Grüße von Tante Erna. Im 23. Brief schreibt Maria Schmitz über die Versorgungsschwierigkeiten in Unterwiederstedt. Sie macht ihrem Mann in Köln Mut, dass „in einigen Monaten“ alles anders aussehen werde, weil sich die Kriegslage so geändert habe, „daß wohl der Höhepunkt sozusagen als erreicht zu betrachten ist“. Tochter Erna soll in Unterwiederstedt zur Kommunion gehen: 31. Januar 1945 (Eing. 7.2.45)118 Liebster Vati! Zuvor herzlichste Grüße und Küsse. Deine großartige Geldsendung von insgesamt 5300,- RM ist hier richtig eingegangen. Ich werde morgen nach Hettstedt zur Sparkasse gehen, wenn’s das Wetter irgendwie zulässt. Aber Schatz hör mal, ist das nicht etwas übereilt, jetzt schon die Schadensgeschichte aufzurollen. Oder ist die Frist von 2–3 Monaten naiv? Selbstverständlich werde ich eine Zusammenstellung der in Verlust geratenen Sachen machen, nur begr. Sachverstand. Hier war Frau Schüler außer sich, dass es auf Schaufel und Handfeger genau ankäme. Also ran! Wegen der Bezugsscheine bin ich sofort gegangen, aber meine Anträge von November sind noch immer nicht zurück. Ich versuche natürlich Druck dahinter zu setzen, evtl. im Landratsamt, es hieß, das wäre aussichtslos; da muss ich mal sehen, was ich nun unternehme. Selbst wenn ich die Scheine habe, kann ich ja doch nicht damit rumjuckeln, um sie einzulösen. Das ist hier alles so kolossal erschwert. Na ja, wir werden dem Schwein schon töten. Wenn Erna unten etwas für die Kinder ergattern kann, soll sie‘s nur nehmen. Anbei schicke ich die Karten, auch evtl. Strümpfe für die drei Ältesten. Wir haben jetzt glücklich das zweite Paar Schuhe vom Schuster zurück. Erna & Christel können wegen der Schuhe und des tollen Schneewetters nicht zur Schule schon seit Freitag. Der Schuster hat mal wieder kein Leder. Es ist um zu für …!119 Ich

118 Späterer handschriftlicher Vermerk. 119 Auslassungen im Original.

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werde morgen in Hettstedt mal den Kreis aufsuchen. Es kann doch so nicht weitergehen. Das Fräulein bei Brenninkmeyer hieß Hertling. Erkundige Dich evtl. bei ihr, ob wir Bezugsscheine für die Kinder dort unterbringen können. Wäsche und Anzüge, Mantel etc. Bei Dir ging das ja hoppla-hopp mit den Scheinen. Hoffentlich erhältst Du noch was rechtes. Anbei schicke ich Dir u. a. Schülers grüne Karte wegen der Umänderung auf Totalschaden. Ferner möchtest Du, wenn Du für Vaters Rente zur Post gehst, Dich wegen Herrn Schülers Sache erkundigen, ob die Karten Reichsversicherung Ausweiskarte Nr. 4678 Unfallrente Ausweiskarte Nr. 2715 mittlerweile nach Aschersleben abgeschickt sind, oder aber wie er zu seinem Geld kommen könnte. Er hat noch keine Zahlung seit 1. November erhalten. Die roten Kärtchen sind von Aschersleben nach Köln geschickt worden. Kannst Du ferner Schülers Schadensanmeldung auf der Ortsgruppe abstempeln lassen und ferner auch am Schädenamt abgeben? Du hast ja an den Stellen jetzt doch schon mal zu tun. Wir schicken dieselbe alsdann per Einschreiben an Erna oder geht das auch bei Euch? Die grüne Karte von Schülers muss die Kinderzahl 1 enthalten, bitte achte darauf.120 Hast Du Dich mal wegen unserer Kinderbeihilfe erkundigt? Oder ist die angewiesen worden? Ja Vati, da sind wir mal wieder mitten in den Sorgen drin. Wenn man’s doch gemeinsam besprechen und überlegen könnte. So gehen immer Wochen drüberhin, bis überhaupt eine Überlegung zustande kommt. Ich werde einmal bei Christel anfragen, wie der Kollege vom Vater heißt, der als Sachverständiger zugelassen ist, er hat Christel auch so gut beraten. Weißt Du, in diesen Dingen sind wir ja tatsächlich die reinsten Krücken. Da könnte eine solche sachverständige Hilfe nur nützlich sein. Die Kinderbetten bezeichne als Steiners Reformbetten mit den Reformdecken und Auflagen. Ebenso das Kinderbett, Reformmatratze, Kissen und Decken. Nun ja. Wir schreiben es ja zuerst mal alles auf. Ja Schatz, jetzt heißt’s doppelt tapfer sein und beweisen, dass es uns ernst damit ist. In einigen Monaten 120 Der Sohn der Schülers war allerdings schon Soldat. Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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wird sich doch alles anders ansehen. Die Weltlage, die Kriegslage, hat ja eine solche Wende genommen, daß wohl der Höhepunkt sozusagen als erreicht zu betrachten ist. Mehr Not und mehr Elend ist ja bald kaum noch denkbar. Es muss durchstanden werden. Maria breit den Mantel aus. Es ist unser aller einzige Zuflucht und Hoffnung. Der Kommuniontag ist am Weißen Sonntag. Evtl. wenn das schlechte Wetter den Unterricht zu sehr stört, wird er später gelegt. Ich lasse Erna vorläufig ruhig weiter hingehen. Was meinst Du? Es geht ja schließlich um anderes als eine Verwandtenbewirtung. Ich weiß nicht, ob es recht ist, bis zum nächsten Jahr zu warten. Was wissen wir, wie es dann geht. Ich denke es könnte viel Segen davon ausgehen für all unsere Lieben draußen. Nun, bester Schatz, für heute wieder einmal Schluss. Viele, viele herzliche Grüße und besonderen Kuss Deine Maria Alle Lieben groß und klein lassen ebenfalls herzlich grüßen. Besonders liebe Grüße noch an Erna. PS: Die Lebensversicherung hatte ich bis einschließlich Sept. 44 bezahlt, also stimmt’s. Der 24. Brief kommt wieder aus Berzdorf von Hans Schmitz an seine Frau. Nach langer Zeit mit viel Schnee hat Tauwetter eingesetzt, die fortgesetzten Bombenangriffe haben den Dom und den Dombunker beschädigt und nach Süd- und Mülheimer Brücke liegt jetzt auch die Rodenkirchener Autobahnbrücke im Wasser. Die beschädigte Hohenzollernbrücke kann noch befahren werden. Er verfolgt die Kriegslage im Osten, das Geschehen im Raum Aachen und Angriffe in Richtung Bonn: Berzdorf, 4.2.45 Liebe Mutti! Vorerst einen herzlichen Sonntagsgruß und innigen Kuss. In Erwartung Deiner Post hatte ich mit dem Schreiben gezögert und hoffe in den nächsten Tagen Nachricht zu erhalten. Uns geht es den Umständen entsprechend leidlich. Vergangene Nacht haben wir hier mal wieder ruhig geschlafen. Die beiden Nächte zuvor waren toll. Jagdbomber warfen einzeln in kurzen Abständen je eine Bombe und schossen mit Bordwaffen. Wir haben nur ein paar Stunden teils im Bunker geschlafen. Das wichtigste Ereignis war, dass wir gestern Mittag kurz vor unserem Abrücken nach Berzdorf nach über

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4 Monaten wieder Licht haben. Wir haben uns gefreut wie die Kinder. Zum Abholen der Marken hatten wir uns vom Dienst frei gemacht. Seit gestern ist die Schneedecke, die seit unserer Rückkehr von Euch nicht gewichen war, weggetaut. So vielen und anhaltenden Schnee haben wir meines Wissens hier noch nicht gehabt. Abends holte ich von der Kirchberger Str. einen Eimer gestampften Schnee zum Füllen des Wasserschiffes. Das Schneeschippen nahm kein Ende mehr. Den Weg zur Pumpe vor unserem Garten musste ich mir freischaufeln. Beim Tauwetter mit Regen waren die Straßen kaum passierbar. Hoffentlich haben wir den Schnee für dieses Jahr überstanden. In der Kirchberger Str. bin ich jetzt dabei die Fenster mit Pappe, die ich von alten Zeichenmappen im Werk organisiert habe, zu schließen. Bombenschäden haben wir keine mehr gehabt. Beim Angriff am vergangenen Sonntag wurden der Dom, der Dombunker und die Autobahnbrücke in Rodenkirchen getroffen. Letztere liegt jetzt als 3. mit Süd- und Mülheimer-Brücke im Wasser. Die Hängebrücke121 ist schwer getroffen und darf nicht mit beladenen Lastwagen befahren werden. Auch die Hohenzollernbrücke ist beschädigt, kann aber noch befahren werden. Im Übrigen ist hier noch alles beim Alten. Wie steht es bei Euch? Hast Du schon etwas wegen der Bezugsscheine unternommen? Was machen die Kinder? Wie geht es mit Deinen Zähnen? Bist Du schon in Behandlung? Usw. usw. Hoffentlich werden die Reisebestimmungen bis zum April geändert, sonst ist es mit meinem Kommen Essig. Hoffentlich wendet sich das blutige Geschehen im Osten zum Guten. Es sieht ja bitter böse aus. Doch wir wollen den Mut nicht verlieren. Bei Aachen scheint auch wieder etwas vorzugehen. Die Bombardierung der Zufahrtsstraßen war in den letzten Tagen immer wieder zu vernehmen. Von Aschaffenburg habe ich bisher nichts mehr gehört. Wie geht es Mutter? Grüße sie herzlich. Was macht Familie Schüler? Hat sie sich von der Schreckensekunde erholt. Hoffentlich machst Du Dir nicht zu viel Kummer. Dadurch, dass ich schon vor der Katastrophe nicht mehr zu Hause übernachtete, kommt mir das Unglück gar nicht mehr so oft ins Gedächtnis. Mit dem Schlitten wird’s wohl nichts geben. Der Winter ist ja doch auch bald alle fort. Mein Lieb! Ich muss nun schließen. Durch einen Alarm mit Angriff in Richtung Bonn (großer Feuerschein) ist es schon sehr spät geworden. Hier im Zimmer wird jetzt auf dem Sofa mein Bett gerichtet. Hoffentlich haben wir wieder eine ruhige Nacht. 121 Gemeint ist die Hindenburgbrücke, die noch bis zum 28. Februar 1945 stand und an deren Stelle sich die nach dem Krieg errichtete Deutzer Brücke befindet.

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Gute Nacht mein lieber Schatz. Sei herzlich gegrüßt und tausendmal innig geküsst von Deinem Hans. Herzl. Grüße auch an Familie Schüler. Viele Grüße auch von Tante Erna N.S.: Die Mietquittung für Familie Schüler füge ich bei. Der 25. Brief kommt wieder aus Köln, wo Hans Schmitz nach wie vor unter der Woche zur Arbeit muss. Er antwortet auf den Brief seiner Frau vom 31. Januar (Nr. 23) und ein vorheriges weiteres Schreiben vom 28. Januar, das aber nicht mehr erhalten ist. Er berichtet von einem Besuch seiner Mutter in Köln bei ihrem Sohn und seinem Bruder Theo, von dem er aber nichts mitbekommen hat, weil er in Berzdorf bzw. nicht in der Kirchberger Str. war, als sie dort nach ihm suchte. Er erwartet, zum Volkssturm einberufen zu werden, weil die Kampfhandlungen näherkommen, und hofft mit Gottes Hilfe auf einen „baldigen siegreichen Frieden“: K-Merheim, 26.2.45 Liebe Mutti! Innigsten Gruß und Kuss. Dein lieber Brief vom 31.1. ging bereits am 7.2. hier ein, wogegen Dein liebes Schreiben vom 28.1. erst am 15.2. in meinen Besitz kam. Da wird es höchste Zeit, dass der schreibfaule Vater mal wieder etwas von sich hören lässt. Da wir zwei Sonntage nicht in Berzdorf waren, wo ich bei der Posthalterin nebenan, einer Verwandten von Frl. Becker, die Einschreibbriefe ohne Schwierigkeiten aufgeben kann, nur durch die dauernden Alarme bin ich nicht dazu gekommen. Samstag/Sonntag den 17./18. war ich durch Jean, der nach 5 Monaten wieder vom Westwall zurück ist, nach Weiden eingeladen. Erna war derweil in Junkersdorf. Die Weidener hatten ein Kaninchen geschlachtet und gebacken.122 Sodann gibt’s dort auch noch Bier. Wir hatten keinen Alarm. Samstag Abend habe ich mich nach bald 5 Monaten mal wieder richtig gebadet. Geschlafen habe ich in einem richtigen Bett friedensmäßig bei Rettigs oben.123 Es war herrlich schön. - - Nun aber wirst Du staunen!

122 „Die Weidener“ waren Jean Pfeifer und seine Frau Gerta mit ihren fünf Töchtern. Die älteste Tochter, Annemarie, heiratete später Norbert Burger, den späteren Oberbürgermeister von Köln (1980–1999); Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 123 Rettig hieß der Vermieter der Familie Pfeifer in Weiden; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Mutter schrieb mir, ich möchte ihr eine grüne Karte besorgen. Da ich hierzu die Geburtsdaten von Vater und Mutter benötigte, die ich natürlich nicht auswendig wusste, und worüber ich auch keinerlei Unterlagen mehr besitze, gab ich Herrn Pesch ein Briefchen an Gerta mit. Jean teilte mir darauf die Daten mit und schrieb, dass Mutter in der Woche vom 4. bis 10.2. in Köln war! Sie war 3 Tage teils mit Bahn, Lastwagen und zu Fuß nach hier unterwegs. Mutter war Sonntag, den 4.2. in der Kirchberger Str. und hat uns, die wir in Berzdorf waren, nicht angetroffen. Theo, den ich bisher nicht habe sprechen können (er ist wegen Krankheit bei seiner Frau) hätte einen Zettel in der Kirchberger Str. einschieben lassen. Wir haben keinen Zettel gefunden. Alles in allem habe ich aber Mutter, obwohl sie 8 Tage bei Theo war, zu meinem größten Ärger, nicht einmal gesprochen. Doch es war ja nicht meine Schuld. Mir ist das unverständlich. Sonntag den 11. hat sich Mutter, die zuerst noch mal zu Gerta in Weiden kommen wollte, entschlossen, abzureisen. Da war unsere arme Mutter an ihrem 70. Geburtstage, der doch ihr Ehrentag hätte sein sollen, auf der strapaziösen Reise nach Aschaffenburg. Ich hatte den Tag vergessen. Hast Du daran gedacht? Mutter hat in der Woche ihre noch heilen Möbel, wie sie in ihrem letzten Brief gewünscht hatte, mit Theo und Jean zusammen in den Schutzkeller geschleppt. Ich glaube ja, dass die Sachen dort eher verderben wie oben. Doch des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Da wird Mutter wohl jetzt auch etwas ruhiger werden. Sie schrieb, dass sie mit Käthe jetzt ganz gut auskäme. Vaters Adresse lautet: Bad Kissingen, Hotel Viktoria Kriegsaltenheim Es gefällt ihm gut dort, nur wird dort auch sehr mit den Kohlen gespart. Schreib Du ihm doch bitte auch und vielleicht auch die Kinder. In Aschaffenburg haben sie wieder einen schrecklichen Angriff mitgemacht. Es hat gut gegangen. Käthe hat immer noch keine näheren Nachrichten von Klaus. Das einzige, was sie weiß, ist dass Klaus leicht verwundet in Gefangenschaft ist. Nun zu Deinen Briefen. Hast Du mittlerweile Bezugsscheine bekommen und darauf etwas erhalten? Mit dem Schuhwerk, das ist ja schrecklich. Hast Du da am Kreis etwas erreicht? Unser Schuster in Holweide ist nicht mehr aufzufinden. Frau Lachmayr will mir eine Bescheinigung für Rudis Schuhe geben. Ich schicke Dir dann einen Bezugsschein. Schuhe hier zu kaufen hat keinen Sinn. Es besteht ja keine Möglichkeit mehr zum Schicken. Das gleiche gilt für andere Sachen. Erna hat Unterzeug für die Jüngeren in Berzdorf gekauft, aber wie bekommen wir die Sachen dorthin? Am Postamt wurde mir gesagt, ob ich

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keinen Bahnpostbeamten kennte, der das vom Postamt freigemachte Paket mit in den Bahnpostwagen nimmt. Ich vermute, dass der Vater von Froni Lenz, Herr Schäfer, Bahnpostbeamter ist. Ich werde versuchen, ihn zu erreichen. Ob ich im April kommen und die Sachen mitbringen kann, ist sehr fraglich. Ich werde wohl demnächst zum Volkssturm kommen. Durch meine Adressenänderung hat sich das scheinbar verzögert. Als Volkssturmmann darf man Köln ohne besondere Genehmigung der Kreisleitung nicht verlassen. Ob ich die bekomme, ist sehr fraglich. Im Westen ist ja allerhand los. Hier zittern die Häuser vor dem Kanonendonner. Die Tiefflieger lassen uns keine Ruhe. Gebe Gott, dass wir hier vor der Besetzung verschont werden. Beigefügt schicke ich die grüne Karte für Frau Schüler. Den Schadensantrag habe ich Samstag am Kriegsschädenamt abgegeben. Zahlungen werden augenblicklich wegen vorgekommener Unterschleife nicht geleistet. Ich muss in 1 bis 2 Wochen nochmals rückfragen. Wegen der Renten wurde mir am Postamt die Auskunft, dass die Beträge angewiesen wären. Am gestrigen Sonntag sind wir mal zu Hause geblieben. Doch wir haben wenig Ruhe gehabt, sodass ich nicht zum Schreiben kam. Am Nachmittag um 4 Uhr sind wir nach Hohenlind in der Krypta zur Gemeinschaftsmesse gegangen, gehalten vom Pfarr-Rektor. Es war eine erhebende Feier. Wir hatten auch Glück, das die Messe infolge des eintretenden dunstigen Wetters nicht durch Alarm gestört wurde. Mein lieber Hermann-Josef! Über Deinen lieben Brief habe ich mich recht herzlich gefreut. Schreib mir bitte mal, wie Dein Zeugnis ausgefallen ist. Doch sicher recht gut. Grüße die anderen 4 Trabanten herzlich von mir. Peter, Erna und Christel sollen mir auch bald mal schreiben. Ein Glück, dass Ihr von Langes den Schlitten bekommen habt. Da habt Ihr wohl tüchtig getobt. Betet auch alle fleißig für uns, dass alles gut geht. Mein lieber Schatz! Ich bin auch dafür, dass wir Ernachens Ehrentag nicht hinausschieben. Sie muss auch mit dazu helfen, den baldigen siegreichen Frieden zu erflehen. Wenn ich dann nicht dabei sein kann, so geht es uns ja nicht allein so. Ich will nun schließen. Seid alle herzlich gegrüßt und geküsst von Eurem Vati. Viele liebe Grüße auch an Großmutter und Familie Schüler. Herzliche Grüße an alle auch von Tante Erna Liebe Mutti! Hast Du auch daran gedacht, mir Deine Raucherkarte zu schicken? Ich warte mit Schmerzen darauf. Falls Du noch Rezepte oder Arztrechnungen hast, schicke sie umgehend. Ich muss schnellstens abrechnen. Der 26. Brief datiert vom 28. Februar 1945, stammt von Erna Westdorf und enthält einige kurze Informationen zu ihren Brüdern Peter und Rudolf:

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Liebe Mutter, eben habe ich einige Minuten Freizeit, die ich schnell benutze, um Dir zu schreiben. Wie geht es Dir denn? Ich habe so lange nichts mehr von Dir gehört! Du bist doch gesund? Oder will die Hand nicht mehr? Samstag u. Sonntag bin ich vor ständigem Alarm nicht mehr dazu gekommen, Dir ein paar Worte zu schreiben. Die Jabos124 halten uns ziemlich in Atem. Hier ist das Leben bis jetzt noch ziemlich gleichmäßig wie vor Wochen. Nur daß die Front in den letzten Tagen etwas unruhiger geworden ist. Wir sagen hier „die Front spricht zur Heimat“. Wie ist es denn bei Euch dort? Habt Ihr jetzt auch mehr Alarm wie vorher u. machen sich auch dort die Flieger bemerkbar? Was machen die Puuten?125  Ich habe schon immer gedacht, der eine oder andere würde uns mal schreiben, doch glaube ich, daß sie alle vom Winter ziemlich in Anspruch genommen sind. Hast Du auch inzwischen von Peter Nachricht erhalten? Schade, daß er uns nicht besuchen konnte. Sein Brief an mich kam erst an, da er schon wieder auf der Rückfahrt war. Ich glaube, er hatte im Stillen gehofft, in der Heimat bleiben zu können. Ich hätte es ihm gegönnt. Die beiden letzten Karten von Rudi hast Du wohl schon erhalten. Nun für jetzt viele herzliche Grüße an alle Lieben dort; sei Du besonders herzlich gegrüßt  von Deiner Erna Im 27. Brief vom 5. März 1945 berichtet Hans Schmitz über weitere Bombenangriffe auf Köln. Durch eine Luftmine ist das Haus in der Kirchberger Straße am Vormittag des 2. März 1945 unbewohnbar geworden. Bevor er sich zum Volkssturm meldet, der in Köln aufgerufen ist, will er erst noch nach Wildbergerhütte, um dort seinen Koffer unterzustellen. „Der Amerikaner“ stehe am Stadtrand, die schon vorher beschädigte Hindenburgbrücke, die von Lastwagen nicht mehr hatte befahren werden dürfen, ist eingestürzt. Nur noch über die Hohenzollernbrücke kann man in das Rechtsrheinische. Am nächsten Tag will er nach Wildbergerhütte – ohne zu ahnen, dass an diesem Tag gegen Mittag Köln von den Amerikanern eingenommen werden wird: Köln-Brück, 5.3.45 Meine liebe Frau, liebe Kinder! Herzl. Grüße und innige Küsse. Euer Vati ist mal wieder heimatlos. Ich bin seit Dienstag krank wegen eines Karfunkels am Halse. Der ist jetzt fast alle 124 Jagdbomber. 125 Kölner Mundart für: Kinder.

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ausgetreten, sodass die Sache in einigen Tagen behoben ist. Am Freitag Vormittag war ein schwerer Angriff auf Köln. Ich war im Bahnhofsbunker (Bhf. Sülz). Durch eine auf dem Platz an der Kirchberger Str. niedergehende Mine wurde auch Mutters Haus innen vollständig demoliert und unbewohnbar. Die ganze Inneneinrichtung ist zerstört. Erna, die kaserniert wurde und auf dem Wege nach Sülz war, um noch einige Sachen (Decken etc.) zu holen, wurde auf dem Ring von dem Angriff überrascht. Es hat gut gegangen. Wir sind dann zusammen zur Kirchberger Str. und sahen die Bescherung. Aus dem Schutzkeller, der noch ziemlich erhalten war, haben wir dann unsere Sachen genommen und sind abgehauen. Am Gürtel habe ich einen Omnibus von uns angehalten, der zum Nordbahnhof fuhr. Erna ist dann zur Merlostr. und ich habe im Nordbahnhof im Bunker übernachtet. Samstag Vorm. bin ich dann mit einem Omnibus zum Mütterheim in Brück, wo wir ein Gefolgschaftsheim haben und vorübergehend unsere Direktion und sonstige Dienststellen untergebracht sind. Köln liegt schon seit einigen Tagen unter Artilleriebeschuss und heute ist der Amerikaner bereits am Stadtrand. Liebe Mutti! Wer hätte das gedacht. Hätte ich nur unsere Anzüge und einen Teil der Wäsche bei Euch gelassen. Ich will versuchen, morgen nach Kamp bei Wildbergerhütte zu kommen wo Gerta, Theos Frau ist und meinen Koffer dort unterstellen. Ich muss dann meine Meldung zum Volkssturm solange hinausschieben. In Köln hatte ich keine Einberufung bekommen. Hier ist alles in größter Aufregung. Der Artilleriebeschuss kommt immer näher und der ganze Volkssturm ist aufgerufen. Hoffentlich ist Erna gut aus Köln herausgekommen. Die Hohenzollernbrücke lag schon unter Beschuss, als wir darüberfuhren. Die Hängebrücke, die stark beschädigt war, ist kürzlich eingestürzt, und zwar zur Hauptverkehrszeit gegen 4.30 Uhr. Es hat viele Opfer gekostet. Mein Lieb! Eine Adresse, wo Du mich erreichen kannst, musst Du noch abwarten. Wir wollen mit Gottvertrauen in die Zukunft blicken. Er wird schon alles zum Guten lenken. Liebe Frau, liebe Kinder! Nun Gott befohlen und auf ein frohes Wiedersehen. Betet fleißig für uns besonders unser Kommunionkind, das Ernalein. Seid vielmals gegrüßt und geküsst von Eurem Vati. Liebe Mutti! Lass bitte Mutter den Brief nicht lesen, damit sie sich nicht zu sehr beunruhigt. Grüße sie herzlich von mir. Es ist ja schrecklich, dass Mutter auf ihre alten Tage das noch erleben muss. Viele Grüße auch an Fam. Schüler. Den 28. Brief schreibt Hans Schmitz am 7. März 1945, dem Tag nach der Einnahme des linksrheinischen Köln, aus Kamp bei Wildbergerhütte im Oberber-

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gischen, wohin er seine letzten Habseligkeiten zur Familie seines Bruders Theo bringen wollte. Dort will er sich auch zum Volkssturm melden. Dass Köln am Tag zuvor von den Amerikanern eingenommen worden und Hans Schmitz damit im allerletzten Moment aus seiner Heimatstadt herausgekommen ist, konnten auch Theo und seine Frau Gerta nicht wissen, die noch einen Gruß an Maria Schmitz in Wiederstedt anschließen: Kamp b. Wildbergerhütte 7.3.45 Oberberg. Kreis Liebste Mutti, liebe Kinder! Gestern Abend in der Dämmerung bin ich todmüde mit einem Koffer, dem Rucksack und der Aktentasche mit der letzten Habe bei Gerta angekommen. Unser Omnibus, der nach Olpe Sachen hinbrachte, nahm mich bis in die Nähe mit. Morgen geht’s nach Wildbergerhütte zum Volkssturm. Ich werde Dir dann noch näheres mitteilen. Seid nun nochmals herzlich gegrüßt und geküsst von Eurem Vati. Liebe Maria! Die besten Grüße aus Kamp sendet Dir sowie den anderen Theo, Gerta und Kinder. Ich hoffe, dass es Euch noch gut geht, was ich auch von uns berichten kann. Theo ist auch noch ein paar Tage hier. Aber er wird in den nächsten Tagen abreisen. Der Betrieb wird verlagert nach Salzderhelden im Harz. Liebe Maria, Du wirst erstaunt sein zu lesen, dass Dein Mann uns hier in Kamp aufgesucht hat. Ja wer hätte gedacht, daß wir so schnell unsere Heimat verloren hätten. Das schöne Köln. Ich will nun schließen, in der Hoffnung, recht bald etwas von Euch hören zu dürfen, grüßt Dich nochmals Theo, Gerta und die Kinder. Nach dem Ende des Krieges in Köln ist der Postverkehr erst einmal zum Erliegen gekommen. Der 29. Brief datiert von Ende Mai 1945 aus Unterwiederstedt, wo Maria Schmitz mit Mutter und Kindern ausharrt. Sie sieht sich zu einer Rückkehr nach Köln wegen der Widerwilligkeit ihrer Mutter, die sich noch nicht auf die Rückfahrt einlassen will, nicht in der Lage.126 Noch halten amerikanische Truppen die Region besetzt,127 jedoch weiß sie, dass die russische Besatzung kommen wird. Sie vertraut auf den Schutz Gottes und einen Neuanfang in Köln: 126 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 127 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Unterwiederstedt, 27.5.45 Lieber Hans! Auf gut Glück schreibe ich Dir diesen Brief. Hier fahren jetzt die Kölner, die können, mit Pferd und Wagen heimwärts. Wie gerne, ach wie gerne zögen wir mit. Aber Frau Schüler und ich sind ja nun tatsächlich dazu nicht im Stande. Wir müssen uns in Geduld fassen. Eisenbahn und Post müssen in Schuss kommen, sonst ist alles Kappes. Räumungsfamilien-Unterhalt wird nicht mehr gezahlt, also leben wir vom Fliegergeld. Die Sparkasse zahlt mir auf Hettstetter Bücher also uns vorläufig nichts, bis sie wieder mit Köln verrechnen können. Dabei habe ich die 5000,- hier eingezahlt. Also wieder abwarten. Die Lebensmittel werden örtlich verteilt auf Karten, Fett sehr gekürzt, Fleisch monatlich, diese Woche noch unter einem ½ Pfd. pro Kopf. Wir könnten es objektiv gesehen hier ja noch etwas aushalten, wenn nur nicht der Russe so bedenklich nahe wäre. Die Soldaten, die einzeln und zu zweit heimwärts streben, bringen immer wieder den Bescheid, dass diesseits und jenseits mächtig vorgesorgt werde. Das ist das große Fragezeichen. Du verstehst mich. Das Dir etwas Ernstliches zugestoßen ist kann und will ich nicht annehmen. Eine Arbeitsmöglichkeit muss ja doch in irgendeiner Form für Dich bestehen. Bei Deinen praktischen Kenntnissen, da ist mir nicht bange. Wir haben ja schon mal klein angefangen, gelt. Nach wie vor lassen wir der Mutter Gottes keine Ruhe. In irgendeiner Falte ihres Mantels hat sie Dich und alle, die uns lieb sind, und eines Tages wird unser Vertrauen auch belohnt. Sonntag vor Christi Himmelfahrt hat Ernachen ihre erste heilige Kommunion gefeiert. Es war eine wirklich ergreifende schlichte ernste Feier. Von 6 Kindern waren 4 evakuiert. Die letzte Woche vorher ist Erna über Tage ganz im Pfarrhaus geblieben mit noch einem Mädchen. Wir haben dadurch unsere Vorbereitungen treffen können, ohne sie damit zu behelligen. Das weiße Kleidchen und sogar ein weißes papiernes MargaritenKränzchen war zur Stelle. Den letzten wirklich leckeren Kuchen haben wir gebacken und Blumen haben wir überall herbekommen und selbst beschafft. Ernachen war wirklich so froh und glücklich wie eben nur ein Kind sein kann. Schülers schenkten ihr sogar einen wunderschön gearbeiteten echt goldenen Ring mit echter Perle. Der Herr Pfarrer bzw. der Herr Pater gab ihr einen Rosenkranz in Art wie die Jungens haben und ein silbernes Umhängekreuzchen. Sie war selig. Ich hatte ihr schon vorher klar gemacht, dass Dir und mir die Hauptsache wäre, dass sie mit den Himmel stürme und dass wir später im Verein mit Dir noch mal eine Feier haben werden, wo wir ihr dann auch noch ein besonders schönes Andenken schenken. Nun geht sie schon ganz selbstverständlich in jeder Hl. Messe kommunizieren und ich vertraue,

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dass Christus uns seine Hilfe nicht versagt und uns Kraft gibt, alles Widerwärtige zu überwinden. Ja Schatz, werfen wir alles dem Herrgott auf und lassen wir nicht nach im Gebet. So muss sich ja alles zum Besten wenden. Wenn’s auch noch so trostlos aussieht. Übereilen werde ich nichts. Vor allem hoffen wir auf Post von Euch. Ich denke schon mal, Du bist im Werk stationiert. Es wäre ja die beste Lösung. Erna auf ihrer Dienststelle und ihr beide bereitet etwas die Plattform vor, von wo aus ein Anfang gestartet werden kann. Ich denke immer, Ihr habt Euch beide nach Köln aufgemacht und knuft nun weiter. Viele herzliche Grüße und innige Küsse. Deine Maria und das Völkchen. Viele herzliche Grüße von Großmutter. Weil es offensichtlich keine Möglichkeit des Versands gab, schrieb Hans Schmitz am 21. Juni einen Brief aus Köln-Weiden, den er am 24. Juni und am 1. Juli ergänzte. Seit dem 13. Mai 1945 war er wieder in Köln und wohnte seitdem bei seiner Schwester Gerta und ihrem Mann Jean Pfeifer. Die letzten Wochen des Krieges im Westen hatte er noch als Soldat bei einer Nachrichteneinheit dienen müssen, bis diese Mitte April in Vohwinkel eingekesselt und aufgelöst worden war. Von seiner Familie in Sachsen-Anhalt wie auch von seinen Eltern in Aschaffenburg und seinen Verwandten aus der Kirchberger Straße hat er nichts mehr gehört und macht sich natürlich Sorgen. Am 1. Juli kündigt er an, seine Familie holen zu wollen: Weiden, 21.6.45 Herzliebste Mutti, liebe Kinder, liebe Großmutter! Vieltausend Grüße und innige Küsse sendet Euch Euer Vati. Ich bin gesund, habe den Krieg gut überstanden und wohne seit dem 13.5. bei Onkel Jean. Am 10.5. bin ich von der anderen Rheinseite herüber zur Kirchberger Str., wo ich 3 Tage in den Trümmern gewohnt und aufgeräumt habe. Ich hatte drüben in Berg.-Gladbach vom 19.4. bis 10.5. bei einem Kriegskameraden gewohnt. Unsere Truppe (Nachrichten) war am 16.4. in dem Kessel bei Vohwinkel aufgelöst worden. Seit Pfingstsamstag arbeite ich mit Hacke und Schaufel an Schadenstellen der Wasserleitung in Braunsfeld. Nach 10 Tagen Arbeitsunfähigkeit wegen Muskelschmerz in beiden Armen, habe ich mich heute wieder zum Dienst gemeldet und zwar werde ich erneut als Handwerker wieder in der Hauptwerkstätte beschäftigt. Es besteht Aussicht, dass sich das Beschäftigungsverhältnis im Laufe der Zeit wieder regelt.

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24.6.45 Auf Anraten von Herrn Rektor Groß, der mich bei meinen mehrmaligen Besuchen immer wieder getröstet und aufgerichtet, habe ich mich nach Rücksprache mit Herrn Haßhoff in die Unterhauswohnung Zülpicherstr. 388 gesetzt (3 Zimmer, Küche, 52,- RM). Erna und ich haben die Möbel der 3 Zimmer im Schlafzimmer zusammengestellt.Herr Rektor bemüht sich um Beschaffung von Möbeln und will uns in jeder Hinsicht unterstützen. Onkel Jean, der hier Leiter des Wohnungsamtes Weiden ist, hat die Möbelschreinerei Hondrich in Frechen (früher Weiden) an Hand für evtl. Anfertigung von Möbeln. Es wird ja ein mühsames Aufbauen werden, aber wir werden es schon schaffen. Währet Ihr nur mal glücklich hier! Erna hat mit Frau Mersch, Belvederestr. 24a eine schöne Wohnung in Müngersdorf. Ich hoffe, dass mir die Wohnung Zülpicherstr. vom Wohnungsamt zugesprochen wird. Da wäre es natürlich höchste Zeit, dass wir dieselbe bald beziehen. Wenn die bisherigen Bewohner, ein älteres Ehepaar vor Euch zurückkommen (Thüringen), könnte die Sache kritisch werden. Liebe Mutti! Du kannst Dir denken, wie mir zumute ist. Tag und Nacht sind meine Gedanken bei Euch. Seit dem 31. Jan. bin ich ohne jede Nachricht von Euch. Und wie habt Ihr Euch auch Sorge gemacht die lange Zeit. Jetzt ist auch noch d. R.128 in dem Gebiet, wo Ihr wohnt. Ich meine ich müsste zur Stunde loslaufen, um Euch zu holen, gleich wie. Sind von dort keine Transportmöglichkeiten. Hier erzählt man, der R. würde Euch aus Thüringen und Sachsen auch abtransportieren. Ich meine Ihr müsstet jeden Augenblick hier eintreffen. Für Unterkunft bis zur Eröffnung unseres eigenen Haushaltes wird schon gesorgt. Hoffentlich seid Ihr noch alle gesund und leidet keine Not. Wie geht es Mutter? Was macht Familie Schüler? Hier pilgern Tag für Tag die entlassenen Kriegsgefangenen und die rückwandernden Evakuierten mit Sack und Pack über die Landstraße. Es ist ein Bild des Jammers und muss ich dann immer an Euch denken. Gestern ist Hilde nach langer Irrfahrt und vielen Misshandlungen und Entbehrungen zu Fuß aus der Tschechei zurückgekehrt. Der Mann ist in Russland vermisst. Ist unser Ernakind am Weißen Sonntag mit zur ersten heiligen Kommunion gegangen und hat es meinen Brief noch bekommen? Heute an Vaters und Onkel Jeans Namensfest sind wir alle zum Tisch des Herrn gegangen und haben für Eure glückliche Heimkehr gebetet. Ein Herr, den Onkel Jean kennen lernte, wird diesen Brief besorgen. Möglicherweise kann er Euch zurückholen. Es wird sich in Kürze entscheiden. Das schlimmste ist das viele Gepäck.

128 Der Russe.

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Jeans Eltern sind bereits vor 8 Tagen auf diese Art von der Nahe zurückgekommen. Von unseren Eltern habe ich natürlich auch seit der Abreise der Mutter nichts mehr gehört. Hoffentlich geht es ihnen in Bad Kissingen gut. Die Wohnung hat bei dem schweren Bombenangriff vor der Ankunft der Amerikaner nochmals schweren Schaden genommen und ist auch noch vieles gestohlen und demoliert worden. Die Eltern können einem Leid tun. Auch in der Kirchberger Str. ist natürlich geklaut worden. Ein Glück, dass ich frühzeitig dort war und den Rest sichergestellt habe (soweit möglich). Von Christel, Peter, Erika und Rudi haben wir auch noch nichts gehört. Besonders Peter kann einem unter den heutigen Verhältnissen leidtun. Er wird es mal schwer haben, wiederaufzubauen. 1.7.44 Liebste Mutti! Heute war ich bei dem Herrn, der diesen Brief besorgt. Mit der Hinfahrt (er fährt nur bis Meiningen) wird es nichts, da ich von den Engländern kein Visum bekomme. Hoffentlich erreicht Euch der Brief. Erna hat auch einen Brief mitgegeben. Ich werde versuchen, falls ich Urlaub bekomme, am Dienstag, den 3.7. per Rad und Bahn nach dort zu kommen. Hier soll keine Kontrolle sein. Von Herrn Rektor habe ich einen 2m Schlafzimmerschrank mit 2 Betten bekommen und in der Zülpicherstr. aufgestellt. Hierzu kommt noch ein Eisenbett aus der Kirchberger Str. und ein Luftschutzbett, sodass wir schon übernachten können. Den Schlüssel lasse ich bei Tante Erna. Einen zweiten Schlüssel lasse ich bei Erbenich. Falls Ihr nun abreist ehe ich dort bin, was ja möglich wäre, müsst Ihr Euch an Familie Erbenich, Kirchberger Str. wenden. Nun Gott befohlen bis auf ein frohes Wiedersehen mit tausend herzlichen Grüßen und innigen Küssen Euer Vati. Viele herzliche Grüße auch an Mutter, Familien Schüler, Lange und Müller. Der 31. Brief wurde über dreieinhalb Monate später geschrieben und schildert die Umstände, warum Hans Schmitz trotz zweier Anläufe bis dahin nicht zu seiner Familie in Unterwiederstedt gelangt ist. Erst Ende Juli hat er von dort den letzten Brief von Ende Mai 1945 (Nr. 29) erhalten. Herr und Frau Schüler sind schon nach Köln zurückgefahren129; seine Mutter ist wieder zurück aus 129 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Aschaffenburg und wohnt wie auch er selbst noch zeitweise bei seiner Schwester Gerta und ihrem Mann Jean Pfeifer in Köln-Weiden. Auch die Verwandten aus der Familie Westdorf haben zurückgefunden und beginnen mit dem Wiederaufbau. Mit diesem Brief endet der Briefverkehr, der während des Krieges noch irgendwie funktioniert hatte, danach aber so gut wie nicht mehr: Weiden, 21. Okt. 45 Herzliebste Mutti! Meine lieben Kinder! Liebe Mutter! Vorerst herzinnige Grüße und Küsse. In der Hoffnung, dass Euch diese Zeilen erreichen, schreibe ich diesen Sonntagsbrief. 2 Briefe und eine Karte habe ich bereits nach dort auf den Weg gebracht (außerdem Erna 1 Brief) jedoch bisher nur Eure Nachricht vom 27.5.45 erhalten, die nach 2 Monaten im Juli hier ankam. Sodann berichtete uns Frau Schüler von Euch. Liebster Schatz! Mir ist so weh ums Herz, dass wir immer noch getrennt sind. Bereits 2 x hatte ich versucht, Euch zu erreichen. Das zweite mal mit Erna und Frau Schüler zusammen, jedes Mal vergeblich. Bei der letzten Fahrt wurde ich krank und habe in Witzenhausen 2 ½ Wochen mit Knochenhautentzündung am linken Oberschenkel im Spital gelegen. Mit Eurem Transport, worüber uns Frau Schüler berichtete und der uns so hoffnungsfreudig gemacht hatte, scheint es ja wohl nichts zu geben. Wir werden in etwa 8–10 Tagen einen dritten Versuch unternehmen, nach dort zu kommen, koste es was es wolle. Hoffentlich seid Ihr alle noch gesund, was ich auch von uns berichten kann. Augenblicklich sind bei uns alle P.G.130 vom Dienst suspendiert. In einem Untersuchungsverfahren wird dann festgestellt, ob man wieder zugelassen wird. Hoffentlich klappt das. Mit der Wohnung, die ich in der Zülpicherstr. 388 habe, ist es wahrscheinlich schon Essig, da Ihr noch nicht hier seid und die bisherigen Bewohner aus Thüringen zurückgekommen sind. Bei Onkel Jean bin ich in Kost und übernachte teils hier teils in der Zülpicherstr., wohin ich mit Gertas Rad hin und her pendele. Jeans Rad hat man mir bereits bei einem Überfall auf der Militärringstr. abgenommen. Meine Mutter, die allein von Aschaffenburg zurückkam, wohnt auch bereits 5 Wochen bei Jeans. Wir haben eine solch liebevolle Aufnahme gefunden, dass ich nicht weiß, wie wir das jemals entgelten können. In der Kirchberger Str. ist großer Betrieb. Peter und Christel wohnen wieder dort. Außerdem hat Erika mit den Kindern, die aus Eupen ausgewiesen

130 Parteigenossen, also Mitglieder der NSDAP.

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wurde, dort eine Zuflucht gefunden.131 Augenblicklich sind die Maurer dort tätig. Der Kaminofen ist bereits wiederaufgebaut. Nächste Woche wird das Dach in Angriff genommen. Das Material ist bereits da. Erna hat mit ihrer Kollegin, Frau Mersch, eine Wohnung in Müngersdorf, ist aber jetzt bei dem Aufbau meist in Sülz. Unsere Lieben! Hoffentlich geht unser sehnlichster Wunsch, Euch bald in die Arme schließen und in die Heimat zurückführen zu können, demnächst in Erfüllung. Wir wollen den Himmel bestürmen, dass Gott der Herr und seine seligste Mutter uns dazu verhelfen. Mit viel tausend innigen Grüßen und Küssen, die Euch hoffentlich erreichen, Euer Vati. Aus den von Peter Schmitz aufgezeichneten Erzählungen seines Vaters geht hervor, dass die Endphase des Krieges für die Kinder in Unterwiederstedt nicht ohne Aufregungen verlief. Dazu hielt Peter Schmitz aus eigener Erinnerung später fest: Auf dem Schulweg wurden wir einmal von Tieffliegern mit Bordkanonen beschossen; wir konnten uns aber in Sicherheit bringen. Kurz vor Kriegsende erlebten wir dort den Durchmarsch eines Teiles des sog. „Todesmarsches der 56.000“ Häftlinge132 aus dem Konzentrationslager Buchenwald b/Weimar: Etwa 5000 Häftlinge kamen bei uns durchs Dorf. Wir standen am Straßenrand und wußten natürlich nichts mit diesen Häftlingen anzufangen.133 Diese wurden von etwa 5 dt. Soldaten bewacht und am Rande des Dorfes in einem Steinbruch zusammengetrieben. Wer fliehen wollte, wurde erschossen. Ebenfalls kamen Kriegsgefangene unter dt. Bewachung bei uns durch; diese wußten bereits, daß sie in wenigen Tagen frei sein würden.134 Auch wurden sie Zeugen des Rückzugs pferdebespannter Artillerie der WaffenSS, die aber schon keine Geschütze mehr mitführte, durchrollender amerikanischer Panzer und des Einzugs der russischen Besatzer mit ihren Panjewagen. 131 Ihr Mann Rudolf war in Kanada in Gefangenschaft; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020; vgl. Brief vom 19.1.1945 (Nr. 21). 132 Diese Zahl umfasst die geschätzten 56.000 bis 58.000 Menschen, die auf derartige Fußmärsche nicht nur aus Buchenwald, sondern aus allen Konzentrationslagern getrieben wurden; vgl. Sven-Felix Kellerhoff: Auschwitz‘ letzte Erfindung war der Todesmarsch, Die Welt (Online-Ausgabe), 15.1.2015, URL: https://www.welt.de/geschichte/ zweiter-weltkrieg/article136454762/ (Stand: 19.2.2021) 133 Für die Kinder waren es in den Worten der Mutter „Zuchthäusler“; von den Schrecken und Grausamkeiten der Konzentrationslager wussten sie nichts; Auskunft HermannJosef Schmitz, 3.1.2020. 134 Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 5 f.

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Abb. 7: Bescheinigung der Schulentlassung für die Geschwister Schmitz (Kopie im Archiv des Verfassers).

Schon vorher hatten sie die Einquartierung einer Gruppe von Wolgadeutschen miterlebt, die im Krieg bereits nach Polen umgesiedelt worden und mit dem Näherrücken der Front Richtung Westen geflohen waren. Auf dem Bauernhof waren sie mit ihren Trakehnerpferden zur landwirtschaftlichen Arbeit herangezogen worden. Nach dem Ende des Krieges wurden sie eines Tages von den russischen Besatzungskräften abtransportiert, wie es hieß, nach Sibirien.135 Ende Oktober kam Hans Schmitz dann wie in seinem letzten Brief angekündigt bei seiner Familie in Unterwiederstedt an. Am 1. November 1945 stellte Schulleiter Bürkner eine Bescheinigung aus, nach der sie sich am gleichen Tag auf den Rückweg nach Köln machen wollten, was aber erst einige Tage später geschah.136 Die Rückkehr dauerte drei bis vier Tage und war ein gefährliches Abenteuer, bei dem die Kinder in Begleitung von Erna Westdorf und deren Mutter unterwegs waren137, aber zwischenzeitlich von ihren Eltern getrennt wurden: 135 In der Nacht vor ihrem Abtransport hatte der zwölfjährige Hermann-Josef Schmitz im Nachbarort Sandersleben für ein katholisches Lehrerehepaar, das zu den Wolgadeutschen gehörte, noch die Heilige Kommunion geholt; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 136 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 137 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Um uns aus Sachsen-Anhalt wieder nach Hause zu holen, bedurfte es zwei Anläufe: Der erste scheiterte bereits in Witzenhausen; Vater war erkrankt und wurde wegen undefinierbarer Diagnose in die Tropenklinik verbracht. Erst im 2. Versuch landete er dann bei uns, und wir machten uns auf die Heimreise. Diese ging mit überfüllter Bahn los, so daß die Eltern mit dem gleichen Zug nicht mitkamen. Sie wollten uns in Sangerhausen treffen. Das hatten wir aber im Trubel nicht verstanden und warteten auf sie in Leinefelde, wo wir 2 Nächte in früheren Luftschutzkellern verbrachten. Da die Eltern nicht kamen, fuhren wir zur Grenze (der Sowjetzone, die von den Besatzern willkürlich geschlossen und wieder geöffnet wurde) nach Teistungen, wo wir im Dunkeln über die Grenze nach Duderstadt geführt wurden.138 In Duderstadt wurden wir dann auf englische LKWs verladen und in der Nacht nach Osterode im Harz verfrachtet. Dort wurden Bahntransporte „in den Westen“ zusammengestellt. Da jeder als Erster nach Hause wollte, war das Gedränge für uns Kinder unbeschreiblich. Tage später kamen wir dann heil in Köln an (ohne unsere Eltern!). Die kamen dann wieder Tage später erst zurück, natürlich entsprechend „sauer“, da Ihnen außerdem noch im Lager Sangerhausen139 die beiden schafwollenen Decken geklaut worden waren.140 Als sie am Martinsabend in Köln ankamen, fuhren sie mit der bereits wieder betriebenen Straßenbahnlinie 16 von Ehrenfeld über die Ringe, die Luxemburger Straße und den Gürtel zum Betriebshof in Sülz, in die Nähe des Hauses der Familie Westdorf in der Kirchberger Straße. Gerade zogen Kinder durch die Straßen, die Fackeln aus Tapetenresten gebastelt hatten.141 Für die Familie von Hans Schmitz war die Drei-Zimmer-Wohnung in der Zülpicher Straße ein erster Neuanfang. Dieser wurde aber dadurch erschwert, dass die Inhaber dieser Wohnung, ein älteres Ehepaar mit Tochter und Enkelkind, vor der Familie Schmitz zurückgekehrt waren und die Wohnung dann für längere Zeit von zwei Familien mit elf Personen bewohnt werden musste, wobei die Familie Schmitz zwei Zimmer ohne fließendes Wasser hatte.142 In dieser Zeit kehrten viele Menschen in ihre Heimatstadt zurück, und die beengten Verhältnisse sollten noch lange andauern. Die beiden Töchter Erna und Christel gingen 138 Im Lager Duderstadt wurden sie nicht nur entlaust, sondern auch verpflegt; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 139 Gemeint ist wohl das Lager Friedland, das seit September 1945 als Grenzdurchgangslager fungierte, wo die Ankömmlinge ärztlich untersucht und desinfiziert wurden; Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 140 Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 6. 141 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020. 142 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020.

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Abb. 8: Registrierung für Hermann-Josef Schmitz in Köln (Kopie im Archiv des Verfassers).

anfangs abends entweder zur Mutter von Kaplan Gustav van de Loo143 oder in das Haus der Westdorfs in der Kirchberger Straße, wo ihre Oma Ernestine Westdorf mit ihrer Tochter Erna, ihrem Sohn Peter und dessen Frau Christel sowie Rudolfs Frau Erika und deren Kindern unter einem Dach wohnten, „alle ebenfalls beengt“.144 Es grenzt an ein Wunder, dass sie alle den Krieg überlebt hatten. Sie hatten in der ganzen Zeit ihren Glauben nicht verloren, sondern „mit Gottvertrauen in die Zukunft“ geblickt.145 Waren die Angehörigen beider Familienzweige, Schmitz wie Westdorf, Ende 1944 „in alle Winde zerstreut“,146 so fanden fast alle bis Ende 1945 wieder zurück nach Köln. Hans und Maria Schmitz bezogen in der Folgezeit mit ihren fünf Kindern in der Zülpicher Straße eine Wohnung in einem ausgebauten Dachboden, bevor sie dann Mitte der 1950er Jahre über die gleiche Baugenossenschaft, der auch die Häuser in der Mommsenstraße 143 Gustav van de Loo wurde 1956 erster Rektoratspfarrer von St. Thomas Morus in KölnHohenlind; vgl. URL: https://www.st-stephan-koeln.de/gemeinde/kirchengeschichte/ (Stand: 19.2.2021). 144 Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 6. 145 Brief von Hans Schmitz vom 2.1.1945 (Nr. 18). 146 Brief von Maria Schmitz vom 29.11.1944 (Nr. 9).

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und der Zülpicher Straße gehört hatten, in der Thomasberger Straße in KölnKlettenberg ein eigenes Haus mit 75 Quadratmetern erwerben konnten. Es kostete 25.000 Mark, eine für damalige Zeiten enorme Summe, die ausschließlich durch Hypotheken aufgebracht werden musste.147 Allmählich normalisierten sich die Verhältnisse wieder, obwohl manche Wunden in den Städten noch lange sichtbar blieben und in den Seelen nie ganz verheilten.

147 Auskunft Hermann-Josef Schmitz, 3.1.2020; Aufzeichnung Peter Schmitz (Anm. 19), S. 7.

Autorinnen und Autoren Jost Auler M.A., Clara-Busch-Hof, Biesenbachstraße 9–11, 41541 Dormagen Prof. Dr. Klaus Gereon Beuckers, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kunsthistorisches Institut, Olshausenstr. 40, 24118 Kiel Prof. Dr. Jürgen Brautmeier, St.-Georg-Straße 9, 41468 Neuss Sabine Eichler M.A., Alteburger Wall 4, 50678 Köln Brian-Scott Kempa, Synagogenplatz 3, 53340 Meckenheim Prof. Dr. Klaus Militzer, Winckelmannstr. 32, 50825 Köln Dr. Sebastian Parzer, Im Valtert 23, 74847 Obrigheim/Baden Prof. Dr. Georg Schwedt, Lärchenstr. 21, 53117 Bonn