Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85 [1 ed.]
 9783412526320, 9783412526306

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Jahrbuch85 DES KÖLNISCHEN GESCHICHTSVEREINS e.V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius

Jahrbuch 85 des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Kölnischer Geschichtsverein e. V. Geschäftsführender Vorstand: Vorsitzender: Notar Konrad Adenauer Stellvertretender Vorsitzender: Dr. Ulrich S. Soénius Schatzmeister: Dipl.-Kfm. Jacobus Sombroek Schriftführerin: Dr. Frauke Schlütz Ehrenvorsitzender: Dr. Hans Blum Stifterin: Lioba Braun Geschäftsstelle des Kölnischen Geschichtsvereins e. V.: Dr. Ulrich S. Soénius Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Unter Sachsenhausen 10–26, 50667 Köln Tel.: (0221) 1640-4800, Fax: (0221) 1640-4829, Mail: [email protected] Jahrbuch 85 des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. Herausgegeben von Ulrich S. Soénius Redaktion: Philipp Schaefer, Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Unter Sachsenhausen 10-26, 50667 Köln Die Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins können über den Buchhandel oder den Böhlau Verlag GmbH & Cie bezogen werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus der Schweidkarte (Cöllnischer Schweidt) von Abraham Hogenberg, 1609, in: Köln, hg. von der Stadt Köln, Köln 1948, Tafelabbildung 6. Korrektorat: Lektorat Buckreus, Regensburg Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52632-0 ISSN 0341-9320

Inhalt Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter: Wache, Gefangene und militärische Aspekte von Klaus Militzer  

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Johannes Hünseler – ein rheinisches Bauernleben am Ende des Ancien Regimes von Wolfgang Hünseler  

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Heinrich Mathias Schmitz (1806–1869), Weinhändler und ausübender Musikliebhaber in Köln – Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf Niederrheinischen Musikfesten in Aachen, Düsseldorf und Köln von Klaus Wolfgang Niemöller  

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Oskar Jäger (1830–1910). Biographische Notizen zur (historischen) Bildung im Kaiserreich von Wolfgang Hasberg 



147

Ein europäischer Rabbiner: Abraham Frank in Köln und im jüdischen Weltbund von Carsten Wilke  

175

War Heinrich Böll ein Schriftsteller? Der Literaturnobelpreisträger und der Lastenausgleich von Max Plassmann 



207

Archivierung von Fotobeständen aus Cellulosenitrat durch das Rheinische Bildarchiv Köln von Johanna Gummlich 



217

Wolfram Hagspiel (1952–2021): Kunsthistoriker – Denkmalpfleger – Wissenschaftler von Hiltrud Kier  

243

Bibliographie Wolfram Hagspiel abschließend zusammengestellt von Lioba Hagspiel 



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Autorinnen und Autoren 

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Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter: Wache, Gefangene und militärische Aspekte von Klaus Militzer Bei dem folgenden Text handelt es sich um den zweiten Teil einer Gesamtdarstellung über die Kölner Wehrhaftigkeit im Mittelalter. Er bildet somit den direkten Anschluss an den Aufsatz „Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter: Chronologie, Aussehen, wirtschaftliche und soziale Aspekte“, der 2021 im Jahrbuch 84 des Kölnischen Geschichtsvereins veröffentlicht worden ist. Im vorliegenden Beitrag wird zunächst die Wache an den Tortürmen auf der Feld- wie auch der Rheinseite und auf der Mauer behandelt. Sodann wenden wir uns der Bewaffnung auf den Toren, der Mauer und den Bürgern zu. Im Anschluss kommen wir zu den Gefangenen auf den Tortürmen. Wir sagen etwas über die Übungen der Bürger, denn um den Wachdienst versehen zu können, mussten Bürger wie Eingesessene sich mit den Waffen auskennen und damit üben. Am Schluss des Beitrags widmen wir uns dem Kölner Umland jenseits der Mauern. Bei der Darstellung der genannten Aspekte wird das Augenmerk vor allem auf die Zeit nach 1180, also nachdem die heute noch sichtbare oder auch von den Preußen abgerissene Stadtmauer erbaut worden war, gerichtet sein.

Die Wache auf den Toren Kölns Über die Wache auf den Toren und Mauern durch angeheuerte Männer und über Wachen der Bürger und Eingesessenen Kölns geben Urkunden und Akten im Allgemeinen nur ungenügend Auskunft. Wie die Wache in der Römerstadt organisiert war, wissen wir nicht. Über das frühe und hohe Mittelalter sind nur Vermutungen zu äußern. Toni Heinzen beispielsweise nimmt an, dass während des Mittelalters eine allgemeine Wehrpflicht gegolten habe und dass „Bürger“ selbst diese Aufgaben übernommen hätten. Jedoch wissen wir darüber ebenfalls so gut wie nichts und der Autor ist zudem auf Hypothesen oder auch Analogien zu anderen Städten angewiesen. Man wird dennoch davon ausgehen können, dass es eine „allgemeine Wehrpflicht der Bürger“ gegeben hat.1 In der Tat ist nachweisbar, dass seit dem 12. Jahrhundert einzelne 1 So Toni Heinzen: Zunftkämpfe, Zunftherrschaft und Wehrverfassung in Köln. Ein Beitrag zum Thema „Zünfte und Wehrverfassung“ (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 16), Köln 1939, S. 3, nach Friedrich Lau: Entwicklung der kommunalen VerfasJahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 7–98

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Sondergemeinden Stadttore zu bewachen hatten.2 Daraus wird wiederum gefolgert, dass die Geburhäuser bzw. zentrale Orte zur Wache und zum Zusammenschluss der Bewohner der Sondergemeinden erforderlich gewesen seien. Ob allerdings nur Bürger oder auch schon Eingesessene ohne Bürgerrecht davon betroffen waren, ist nicht so sicher, wie manchmal, insbesondere von Heinzen, behauptet wird. Zur Wache verpflichtet waren prinzipiell alle Bürger, auch Eingesessene ohne Bürgerrecht, wie man wohl unterstellen darf. Jedoch ist das für das 12. und 13. Jahrhundert nicht mit letzter Gewissheit zu ermitteln. 1206 versprach zwar der damalige Thronprätendent Philipp von Schwaben der Stadt, dass alle, die Besitz innerhalb der Stadtmauer besäßen und sich dem Wachdienst entzögen, zu einer hundertprozentigen einmaligen Abgabe zu veranschlagen seien.3 Jedoch was ist damit gemeint? Philipp von Schwaben sprach selbst von Klerikern und Laien, die zu dieser Abgabe verpflichtet werden konnten. Unter Laien könnte er ebenso die Einwohner, also auch Eingesessene, oder überhaupt diejenigen verstanden haben, die sich im Falle eines Krieges oder einer Fehde in der Stadt Köln aufhielten. Mit Klerikern könnte er auch Priester gemeint haben. Ob dem aber so war, bleibt ungewiss. Jedenfalls gab es spätestens seit dem 14. Jahrhundert für Bürger und Eingesessene die Möglichkeit, sich von dem Wachdienst durch einen Geldbetrag zu befreien.4 Bereits 1307 wurde beispielsweise ein Mann angeworben, um den Bayenturm und das dazugehörige Tor zu bewachen. Er sollte damals jährlich zehn Mark für die Bewachung und die Verteidigung des Turms erhalten.5 Aber ist das als eine Ausnahme zu bewerten oder ist ein solches Vorgehen auf andere Tore zu übertragen? Die Verbindlichkeit der Antwort, wie sie auch ausfallen mag, bleibt fraglich. In den Quellen zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln, und zwar im Eidbuch von 1321, ist ein einschlägiger Paragraph zum Jahr 1328 eingetragen worden. Dort steht etwas von de porcenere up den offenen porcen ze velde wert

sung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396 (Preis-Schriften der MevissenStiftung 1), Bonn 1898, S. 252 f. 2  Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 9 ff. 3 Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, hg. von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, 6 Bde., Köln 1860–1879, hier Bd. II, S. 26 ff. Nr. 23; Monumenta Germanicae Historia Diplomata regum Francorum e stirpe Merowingica, Ph. II (1872), S. 298 ff. Nr. 132 (datiert im Unterschied zu den anderen Angaben auf 1207 nach dem 19. und vor dem 30. Januar). 4  Brigitte M. Wübbeke: Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 91), Stuttgart 1991, S. 206, im Gegensatz zu Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 85. 5 Quellen (Anm. 3) III, S. 518 Nr. 543.

Die Türme und Mauern in Köln im Mittelalter

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und auch von den beiden Türmen des Bayen- und Kunibertsturms.6 Die letztere Nachricht wurde 1335 wiederholt.7 Im Eidbuch von 1341 wurden die unterschiedlichen Belastungen der Burggrafen auf den „offenen“ und den „geschlossenen“ Toren eindeutig festgehalten.8 Es ist freilich nichts darüber gesagt, was zur Feldseite hin „offene“ oder „geschlossene“ Tore waren oder als solche galten. Immerhin kann man der Quelle so viel entnehmen, dass es im 14. Jahrhundert oder vielleicht schon früher „offene“, das heißt solche Tore, die die Durchfahrt von Fuhrwerken erlaubten, und „geschlossene“ Tore, das heißt solche, die entweder ganz zugemauert oder nur die Öffnung einer Passage für Fußgänger erlaubten, gegeben haben muss. Im Eidbuch von 1341 hatten „die Herren von den offenen Toren“ die Stadttore morgens mit den von ihnen aufbewahrten Schlüsseln zu öffnen und abends unmittelbar vor oder nach Sonnenuntergang zu schließen. Bürger hatten sie auch nach dem Sonnenuntergang einzulassen, falls sie deren Rufe von außerhalb, also vor der Mauer, hörten. Es ist auf Gefangene und auf solche Rücksicht genommen worden, die beim Rat oder bei den Bürgern Schulden gemacht hatten und dementsprechend in Schuldhaft auf den Türmen saßen.9 Ferner durften sich die Burggrafen oder hauptamtlich eingestellten Pförtner tagsüber nur eine Meile außerhalb des Mauerrings bewegen. Sie hatten also die Möglichkeit, von manchen Örtlichkeiten aus fast bis zur Grenze der Bannmeile zu reiten. Die Bestimmungen für die Burggrafen auf den geschlossenen Toren waren denen der „Herren auf den offenen Toren“ nachgebildet.10 Die genannten Bestimmungen wurden in den folgenden Ordnungen und Eidbüchern bis 1500 stets wiederholt oder auch manchmal präzisiert. Es kam noch hinzu, dass die Burggrafen auf allen Toren zur Feldseite hin keine Jagd veranstalten, keine Bäume oder Hecken auf der Dammkrone zwischen beiden Gräben abhacken, keine Weingärten in ihrer Umgebung anlegen, keinen Wein, kein Bier oder keine sonstigen Getränke verzapfen sollten. Ferner hatten sie auch an solchen Unternehmungen keinen Anteil zu haben.11 In den Statuten  6 Walther Stein (Bearb.): Akten zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 10), Bonn 1893–1895, hier Bd. I, S. 23 f. Nr. 1,57.     7 Ibid., S. 25 Nr. 2.   8 Ibid., S. 41 ff. Nr. 6,XIV–XV; vgl. auch Richard Knipping (Bearb.): Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters mit einer Darstellung der Finanzverwaltung, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 15), Bonn 1897–1898, hier Bd. II, S. 391.   9 Siehe unten, Abschnitt „Gefangene auf den Türmen, vor allem auf den feldseitigen Stadttoren“. 10 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 41 f. Nr. 6,XIV,1–10 und 6,XV,1–6; vgl. ibid., S. 94 ff. Nr. 28, XIII–XIV; S. 251 ff. Nr. 92,X–XI; , S. 278 ff. Nr. 107, VII–VIII, und öfter. 11 Vgl. ibid., S. 205 f. Nr. 54,1–2 (1396); S. 206 Nr. 55 (1397); S. 344 Nr. 153,XIII,4, 10, 12.

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von 1407 wurde den Burggrafen überhaupt verboten, zusätzlich ein Gewerbe auszuüben oder Tauben zu halten.12 Im Eidbuch von 1450 hat der Notar Reiner von Dalen nachgetragen, dass die Burggrafen der „geschlossenen Tore“ von Remigii (1. Oktober) bis Ostern13 ab acht Uhr abends und von Ostern bis Remigii ab neun Uhr abends auf den ihnen anvertrauten Tortürmen zu übernachten hätten.14 Dieser Nachtrag wird ebenso für die Burggrafen der „offenen Tore“ gültig gewesen sein, zumal in dem Eid der Burggrafen der „offenen Tore“ von ca. 1475 genau diese Bestimmung enthalten ist.15 Da Reiner von Dalen erst 1464 Sekretär und später Protonotar und Kanzler der Stadt geworden und 1481 gestorben ist16, wird man wohl davon ausgehen können, dass die Bestimmung um das Jahr 1470 für beide Gruppen der Burggrafen erlassen und von Reiner von Dalen in die entsprechende Schriftform gegossen worden ist. 1343 verwarnte der Rat den Burggrafen Gerhard von Pulheim (Poilheym), weil er den Fleischer (vleischmenger) Abel Muesegin, Nesa von Wolresheym und andere habe entkommen lassen.17 Das konnte der Rat nicht dulden und urteilte, dass der genannte Burggraf künftig keine andere Person mehr empfehlen dürfe. Verhältnismäßig sicheren Boden betreten wir erst wieder mit dem Einsetzen der Ausgaben der Stadtrechnungen 1370–1380/81.18 Sie geben vor allem Auskunft über die verantwortlichen Burggrafen, wie sie später genannt wurden, weniger über die sogenannten „Kurwächter“, die wohl die eigentliche Arbeit zu tun hatten. Betroffen waren vor allem die Tore zur Feldseite hin, die vielfach einen Durchgang für Fußgänger oder auch für Fuhrwerke hatten, und der sogenannte Frankenturm am Rheinufer. Einschließlich des Frankenturms sind auf den Tortürmen zur Feldseite hin 14 Männer der „Geschlechter“19 und 16 sonstige Bürger oder Einwohner oder auch Söldner20 namentlich bezeichnet. 12 Ibid., S. 252 f. Nr. 92,X,16–17. Ein entsprechendes Taubenverbot galt auch für die Burggrafen auf den geschlossenen Toren: Ibid., S. 253 Nr. 92,XI,8. 13 Es handelt sich um ein bewegliches Fest, das frühestens auf den 22. März und spätestens auf den 25. April fallen konnte. 14  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 345 f. Nr. 159,XIV,12. 15 Ibid., S. 442 f. Nr. 243,2. 16 Ibid., S. CLXXIV f. 17  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 13 f. Nr. 20. 18 Vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 199 ff. 19 Es waren: Werner von der Aducht senior, Johann Birkelin, Emund Birkelin von der Velen, Cono und Richolf Gir von Kovelshoven, Eberhard Gir vom Tempel, Dietrich Grin, Johann Grin vom Lebarde, Johann Hardevust, Frank vom Horne, Gerhard Kranz, Gobelin vom Kusin, Gottschalk Overstolz und Matthias vom Spiegel; zu Einzelheiten vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 3 ff., und das Register, S. 429 ff. 20 Es waren: Johann vom Aren, Bruno Bedenkaff, Johann Beirbuch, Johann vom Buchel, Matthias von Damme, Wilhelm vom Eynhorne (Unicornu), Marsilius von der Halle, Johann vom Hase (Lepore), Dietrich von Koppingen, Gerhard Loschard, Johann Marse-

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Dabei war es unerheblich, ob die Betroffenen ein „offenes Tor“ oder eines der anderen bewachten. Wir beginnen im Norden. Der Kunibertsturm samt dem Tor war zunächst einem Johann Lebard aus dem Geschlecht Grin übergeben worden.21 Jener Johann wurde schon 1372 durch Johann de Lepore oder vom Hasen aus einer bürgerlichen Familie, die nicht zu den „Geschlechtern“ zählte, ihnen aber nahe stand, abgelöst.22 Der Eigelstein blieb allerdings 1370–1380/81 in den Händen von Vertretern der „Geschlechter“, zunächst eines Richolf Gir von Kovelshoven und dann eines Matthias vom Spiegel von Rodenberg. Matthias ist auch 1372–1375 im engen und 1377/78 im weiten Rat nachzuweisen23, falls es sich um dieselbe Person handeln sollte. Das ist aber nicht selbstverständlich, weil die Aufgaben eines Ratsherrn sehr zeitaufwendig waren. Dagegen war das allerdings nicht „offene“ Gereonstor nicht in den Händen der „Geschlechter“. Johann Florin und Johann Stilkin hatten ihr Amt als Burggrafen 1370 aufgegeben.24 Johann Florin saß bis zu seinem Tod 1382 wenigstens dreimal im weiten Rat.25 Aber es kommt eventuell auch dessen gleichnamiger Sohn in Frage.26 Johann Stilkin war der Sohn von Bruno und ist 1385 als verstorben bezeugt.27 Alle drei oder beide, sowohl Johann Florin wie auch sein gleichnamiger Sohn als auch Johann Stilkin, waren Kölner Bürger. Es ist auffallend, dass zwei Männer, wenn man den Stadtrechnungen trauen darf, das Tor bewachten, während sonst nur ein Mann als ausreichend empfunden wurde. Nach ihnen kamen Wilhelm vom Eynhorne 1370–137128 und Dietrich Koppingen 1379–138029, die kaum Kölner Bürger oder Eingesessene waren. Bei ihnen ist vielmehr anzunehmen, dass sie als Söldner von der Stadt für ihren Dienst an den Toren angeworben worden sind.30 Dagegen ist der zwischen beiden „Burggrafen“ 1371–1378 amtierende Gerhard Loschard31 als Kölner

lis, Gerhard Morart, Gerhard von Odendorp, Gobelin von Rore, Stedinch, Johann vom Tolhus; zu Einzelheiten vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 3 ff., und das Register, S. 429 ff. 21 Ibid., S. 20, 30, 55, 75, 82, 87. 22 Ibid., S. 102, 121, 137, 254, 270, 286, 322, 346 ff., 366, 383. 23 Wolfgang Herborn: Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter (Rheinisches Archiv 100), Bonn 1977, S. 463, 493. 24 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 30. 25 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 476; HAStK, Schreinsbuch 357, fol. 50v 26 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 477. 27 Ibid., S. 494; HAStK, Schreinsbuch 153, fol. 94v. 28 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 15, 34. 29 Ibid., S. 342, 359, 377. 30 Sie sind weder in den Schreinsbüchern oder in den Neubürgerverzeichnissen noch sonst in den gedruckten Quellen oder andernorts nachzuweisen. 31 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8), S. 53, 311.

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Klaus Militzer

Bürger belegt. Er ist laut den Schreinsbüchern 1386 als verstorben gemeldet und war mit einer Christine vom Iserenmart verheiratet.32 Das damals noch „offene“ Friesentor33 war zur Zeit der Stadtrechnungen im 14. Jahrhundert in den Händen der „Geschlechter“. Das Tor beherrschte ein Eberhard Gir vom Tempel als Burggraf. Von ihm sind keine Aktivitäten als Ratsherr bekannt geworden. Wenn in den Stadtrechnungen 1378 von einem Gerhard die Rede war, ist wohl dieser Eberhard Gir vom Tempel gemeint gewesen.34 Das folgende Ehrentor war ein „offenes“ Tor, das an einer Römerstraße lag.35 Für dieses waren verschiedene Männer tätig. 1371–1372 sind Gobelin von Rore, 1372 Johann vom Tolhus, 1372–1373 wieder Gobelin von Rore und 1374–1381 Emund von der Velen zu belegen. Johann vom Tolhus kann nur kurze Zeit vom Rat ernannt worden sein. Er ist 1380 als verstorben erwähnt und war mit einer bereits 1364 gestorbenen Bela, der Tochter eines Marsilius von Odendorp, verheiratet.36 Er war also gewiss ein Bürger oder Eingesessener Kölns. Das kann man von seinem Vorgänger Gobelin von Rore nicht behaupten, denn er ist weder in den Schreinsbüchern noch im Neubürgerverzeichnis verzeichnet. Er wird also wie andere auch als Söldner angeworben worden sein. Dagegen gehörte Emund von der Velen zur Familie der Birkelin und ist damit zu den „Geschlechtern“ zu zählen. Das Hahnentor war in den Händen der „Geschlechter“. 1371 ist Dietrich Grin nachzuweisen. Ihm folgte 1372–1375 Johann Birkelin, 1376 Werner von der Aducht und schließlich 1376–1381 Gobelin Kusin.37 Bei dem Hahnentor handelte es sich auch um ein „offenes“ Tor, das auch Fuhrwerke passieren konnten.38 Werner von der Aducht hatte im Anschluss die Severinstorburg bewacht. Er ist 1372–1396 im engen Rat bezeugt39, wenn es sich um dieselbe Person handelte. Dietrich Grin hat auch 1358–1362 im weiten Rat gesessen,

32 HAStK, Schreinsbuch 116, fol. 99v, 110v. 33  Hermann Keussen: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde. (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung 2), Bonn 1910, hier Bd. 2, Sp. 244b Nr. 1. Erst 1473 wurde das Tor auf Anordnung des Rats bis auf einen kleinen Durchgang geschlossen. 34  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 310. 35 Hans Vogts (Bearb.): Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln. Die profanen Denkmäler (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, hg. von Paul Clemen, 7. Bd., 4. Abteilung), Düsseldorf 1930, S. 207 f. 36 HAStK, Schreinsbuch 257, fol. 122r, 124v; 312, fol. 46v, 69r. 37  Klaus Militzer: Ein Wahrzeichen der Größe und Freiheit Kölns. Die Hahnentorburg im Mittelalter, in: Axel Schwarz/Marcus Leifeld (Hg.): Die Hahnentorburg. Vom mittelalterlichen Stadttor zum Domizil der EhrenGarde der Stadt Köln 1902 e. V., Köln 2008, S. 14 f. 38  Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 104 ff. 39  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 444.

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wenn er mit dem Burggrafen zu identifizieren ist.40 Alle genannten Burggrafen gehörten jedenfalls den „Geschlechtern“ an. Das Schafentor oder die Schafenportze war zur Zeit der Stadtrechnungen im 14. Jahrhundert noch ein „offenes“ Tor. Erst im 16. oder bereits im 15. Jahrhundert wurde es bis auf einen Durchlass für Fußgänger zugemauert.41 Es bewachte 1370–1373 Emund von der Velen, der zum Geschlecht der Birkelin zählte. Anschließend wurde Emund Burggraf des Ehrentores. 1374–1375 wurde Gottschalk Overstolz zum Burggrafen der Schafenportze ernannt. 1377–1378 folgte ihm Johann Marselis. Er könnte bis 1380 im Amt geblieben sein. Er wird mit einem Marsilis von Halle identisch sein, der 1376 im engen Rat und 1374/75 oder 1377/78 im weiten Rat saß.42 Dieser Marselis zählte zu den „Geschlechtern“. 1380–1381 verwaltete Matthias vom Damme das Amt eines Burggrafen. Er ist 1385 als verstorben bezeugt und war mit Bela, der Tochter Richolfs, des Stadtboten, verheiratet.43 Matthias könnte sehr wohl ein Bürger oder Eingesessener Kölns gewesen sein. Das Schafentor wurde also anfangs von Mitgliedern der „Geschlechter“ und später auch von einfachen Bürgern bewacht. Es folgt das Weihertor. Es war ein „offenes“ Tor, durch das auch Fuhrwerke fahren konnten.44 Es wurde 1370 von Johann Hardevust und 1372–1381 von Johann vom Büchel (de Monticulo) bewacht. Johann Hardevust zählte zu den „Geschlechtern“. Johann vom Büchel oder wie er sich sonst genannt haben mag, kann kein Bürger oder Eingesessener der Stadt Köln gewesen sein, da er weder in den Schreinsbüchern noch in den Neubürgerverzeichnissen oder sonst in den Quellen auftaucht. Er wird vielmehr wie auch andere vom Rat der Stadt als Söldner angeworben worden sein. Das Weihertor wurde also zunächst von einem Angehörigen der „Geschlechter“ und anschließend von einem Söldner bewacht. Die Bachpforte oder das Bachtor ist wenigstens im frühen 16. Jahrhundert vollständig zugemauert gewesen. Es ist wohl wahrscheinlich, dass auch schon vorher eine Mauer den Zugang zu der Bachpforte versperrte. 1370–1372 verwaltete Johann vom Büchel das Amt eines Burggrafen dort, bevor er zum Weihertor wechselte. 1372–1374 folgte ihm Bruno Bedenkaff. 1375 löste ihn Gerhard Morart ab. Dann folgte von 1376–1380 ein Gottschalk Overstolz, der vorher das Burggrafenamt der Schafenpforte abgegeben hatte und eindeutig zu den „Geschlechtern“ gehörte. Jedoch ist die Abfolge von einfachen Bürgern 40 Ibid., S. 477. 41 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 424a-b Nr. 4. 42 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 455, 478. 43 HAStK, Schreinsbuch 180, fol. 61v, 96r, 97r. 44 Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 101 f.

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zu den „Geschlechtern“ nicht so eindeutig gewesen, wie es der Nachweis der Namen andeuten könnte. Bruno Bedenkaff war nämlich mit einer Bela Grin verheiratet und ist 1378 als verstorben bezeugt.45 Gerhard Morart war in zweiter Ehe mit einer Durgin Hardevust verheiratet und ist außerdem als Amtmann von Airsburg zu belegen.46 Beide Männer hatten zumindest durch ihre Frauen Berührungspunkte mit den „Geschlechtern“, wenn sie auch nicht zum engeren Führungskreis zählten. Das Pantaleonstor war auch im 16. Jahrhundert bis auf einen kleinen Durchlass zugemauert.47 Vielleicht ist das auch schon vorher geschehen. Jedenfalls war die auf das Tor zuführende Straße nur in geringem Maße ausgebaut. 1370– 1374 ist ein Mann namens Stedinch verantwortlich gewesen. Zwischendurch ist 1371 auch ein Johann Loschard genannt48, der spätestens 1372 wieder zum Gereonsturm oder -tor gewechselt ist.49 1375 hatte ein Johann Beirbuch das Amt eines Burggrafen vom Pantaleonstor inne. Schließlich gelangte es in die Hände eines Frank vom Horne 1379–1380. Dieser Frank vom Horne zählte zu den „Geschlechtern“. Ein Mann gleichen Namens ist als Mitglied des engen Rats 1369–1395 nachzuweisen.50 Ob es sich um dieselbe Person gehandelt haben könnte, ist nicht gewiss. Sein Vorgänger Johann vom Aren ist als Kölner Bürger bezeugt.51 Für die beiden anderen, nämlich Stedinch und Beirbuch, gilt, dass sie weder in den Schreinsbüchern noch in den Neubürgerverzeichnissen oder sonst in den Quellen zu fassen sind. Sie werden wohl als Söldner wie andere auch angeheuert worden sein. Somit haben Angehörige der „Geschlechter“, Bürger und Söldner das Pantaleonstor bewacht. Die Ulrepforte war geplant als Tor, wurde aber schon früh zugemauert.52 Es ist auch nicht ersichtlich, welche Straße zu dem Tor oder jenseits der Stadt hätte weiterführen sollen. Das Tor wurde später im 15. Jahrhundert für die Errichtung einer Windmühle benutzt. Es ist auffallend, dass die Stadtrechnungen keine Burggrafen nennen. Diese Tatsache spricht ebenso dafür, dass das Tor schon frühzeitig „geschlossen“ wurde.

45 HAStK, Schreinsbuch 36, fol. 4r–v; 361, fol. 4r–5v. 46 HAStK, Schreinsbuch 292, fol. 51r; 315, fol. 81v. 47  Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 98 f. 48  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 56. 49 Ibid., S. 75. 50  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 445. 51 Es ist nicht auszumachen, auf wen die Eintragungen zutreffen könnten. Denn es gibt zwei Personen namens Johann vom Aren, die auch nahezu gleichzeitig gelebt haben. Beide waren Kölner Bürger. 52  Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 89, 94 ff. Ein Nachklang findet sich noch in dem Nachsatz: ubi alias fuit intratum; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 308.

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Es folgt die Severinstorburg. Sie ist verbunden mit einer Römerstraße, die auch nach dem Zusammenbruch der Römerherrschaft ihre Bedeutung nicht eingebüßt hatte und nach Bonn und weiterführte. Sie wurde von einem Burggrafen namens Johann Marselis 1370–1376 bewacht. 1377–1378 ging er zur Schafenpforte. Er war 1374/75 auch Mitglied des weiten und um 1376 des engen Rats.53 1377 wurde er bis zum Auslaufen der Stadtrechnungen 1380 bzw. 1381 von Werner von der Aducht abgelöst. Noch 1376 war Werner Burggraf vom Hahnentor gewesen. Er saß 1372–1396 im engen Rat.54 Er gehörte sicher zu den „Geschlechtern“. Aber auch Johann Marselis ist jedenfalls zu der Zeit der überlieferten Stadtrechnungen zu den „Geschlechtern“ zu zählen. Mit ziemlicher Sicherheit wurde der Severinstorturm von Mitgliedern der „Ge­schlechter“ bewacht. Als letztes Tor auf der Feldseite ist der Bayenturm zu erwähnen. Auf ihm waren Burggrafen Marsilius von Halle 1370–1376 und Gerhard Kranz 1376– 1381. Marsilius von Halle war mit Greta von der Eren verheiratet und 1374/75 und 1377/78 Mitglied des weiten Rats. 1380 ist er gestorben.55 Er zählte also nicht unmittelbar zu den „Geschlechtern“, stand ihnen aber nahe. Sein Nachfolger Gerhard Kranz saß 1374–1390 im engen Rat56 und gehörte zu den „Geschlechtern“. Mit einigen Abstrichen sind also die Burggrafen des Bayenturms den „Geschlechtern“ zuzurechnen. Die Übersicht hat ergeben, dass in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die meisten Stellen von Burggrafen auf den feldseitigen Tortürmen an Angehörige der „Geschlechter“ vergeben worden sind. Es gab außerdem nur wenige auswärtige Söldner, die wahrscheinlich der Rat angeworben hatte und die die besagten Stellen bekamen. Nur noch wenige reichere Bürger kamen in den Genuss der Burggrafenstellen. Sie konnten sich wie auch die übrigen Burggrafen noch etwas dazuverdienen, indem sie Pfeile herstellten oder sonstige Hilfstätigkeiten ausübten. Bei der Besetzung der entsprechenden Ämter ist es unerheblich, ob die Zeit der sogenannten „Weberherrschaft“ 1370–137157 in Betracht genommen wird oder nicht. Es kann diesbezüglich kein Unterschied 53 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 455, 478; vgl. Klaus Militzer: Ursachen und Folgen der innerstädtischen Auseinandersetzungen in Köln in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 36), Köln 1980, S. 313. 54 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 444. 55 Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 313. 56 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 453. 57 Vgl. Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 164 ff.; Gabriele Annas: Innerstädtische Auseinandersetzungen: „Weberaufstand“ – „Weberherrschaft“ – „Weberschlacht“ (1370/71), in: Wolfgang Rosen/Lars Wirtler (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1: Antike und Mittelalter. Von den Anfängen bis 1396/97, Köln 1999, S. 264–283.

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vor 1370 wie nach 1371 oder zur Zeit der „Weberherrschaft“ festgestellt werden. Ferner ist zu beobachten, dass viele dieser Burggrafen auf den Toren früher oder später im weiten Rat und teilweise auch im engen Rat gesessen haben. Zumindest waren Angehörige dieser Familien Mitglieder des engen Rats, wenn man davon ausgeht, dass kein Mann die Zeit hatte, neben seinem Wächteramt auch noch das aufreibende Geschäft eines Mitglieds des engen Rats zu erfüllen.58 Aber das ist zur Zeit der „Geschlechterherrschaft“ noch nicht so ausschlaggebend gewesen. Ein Burggraf konnte sich durch die von ihm abhängigen Männer vertreten lassen. Spätestens seit 1406, also nach einer Verordnung des neuen Rats nach dem Verbundbrief von 1396, konnte aber kein Burggraf mehr in den Rat oder ein Ratsherr zum Burggrafen gewählt werden.59 Sie konnten jedoch seit dem 15. Jahrhundert immer dann als Ratsherren gewählt werden, wenn sie nicht mehr das Burggrafenamt ausübten. Vom Ende des 14. Jahrhundert und für das 15. Jahrhundert sind keine Rechnungen bis auf wenige Fragmente erhalten, die eine Kontrolle für die Zeit nach 1396, dem Sturz der „Geschlechterherrschaft“, ermöglichen würden. Lediglich zum Jahr 1396 ist ein Johann Scheylard bezeugt, der mit seinen Helfern Ausgaben am Kunibertsturm veranlasst hatte.60 Es ist nicht gesagt, dass er Burggraf des Turmes war. Es ist auch möglich, dass er die Kosten für die Stadt verursachte, weil er irgendwelche Aufgaben am Kunibertsturm übernommen hatte, als die Stadtverfassung im Umbruch war. Wie dem auch sei, er ist jedenfalls nicht eindeutig zu identifizieren, auch mit Hilfe der Schreinsbücher nicht. Denn es gab zwei Johann Schelart, die beide Söhne eines Hühnermengers (pul­ lator) waren.61 Es ist auch nicht möglich, das Wohnhaus für beide Personen zu bestimmen. In den Schreinsbüchern ist kein Hinweis auf die Tätigkeit eines von beiden als Burggraf bezeugt. Die Ratsbeschlüsse des 15. Jahrhunderts liefern einen gewissen Ausgleich für die fehlenden Stadtrechnungen aus der Zeit nach 1380/81. 1409 wurde ein Wilhelm vom Kusin, genannt vom Wolve, Burggraf auf dem Pantaleonsturm.62 Der städtische Rat scheute sich damals nicht mehr, einen Angehörigen der 58 Vgl. die Listen bei Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 444 ff. (Mitglieder des engen Rats), S. 471 ff. (Mitglieder des weiten Rats). 59  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 235 Nr. 84; vgl. auch Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 238; Robert Giel: Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450–1530) (Berliner Historische Studien 29), Berlin 1998, S. 212. 60  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 390. 61 HAStK, Schreinsbuch 51, fol. 5r. 62 Beschlüsse des Rates der Stadt Köln, bearb. von Manfred Huiskes und Manfred Groten, 6 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 65), Düsseldorf 1988–2003, hier Bd. I, S. 81 Nr. 1409,1; HAStK, Baumeister, S. 96.

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„Geschlechter“ in dem Amt eines allerdings weniger wichtigen Turmes einzusetzen. 1436 wurde Matthias von Gleen (Geleyne) Burggraf auf dem Kunibertsturm.63 Ein gleichnamiger Mann hatte 1432–1442 für die Gaffel Himmelreich im Rat gesessen.64 Aber wie wahrscheinlich ist es angesichts der Beschlusslage, dass er mit dem Burggrafen identisch sein könnte? 1444 wurde Johann von Erpel als Burggraf des Weihertors abgesetzt, weil er keine zwei Knechte angestellt habe, wie es vorgeschrieben sei. Er durfte auch nicht mehr in den Rat gewählt werden.65 1464 war Johann Eychman, der Burggraf des Kunibertsturms, abgesetzt worden, weil er einen Gefangenen hatte entkommen lassen.66 Bei dem abgesetzten Burggrafen des Gereonsturms namens Reinhard hatte sich dessen Unschuld herausgestellt, so dass ihm die nächste freiwerdende Stelle versprochen wurde.67 Jedoch sind Entlassungen wegen Verfehlungen als Einzelfälle aufzufassen. 1469 ist ein Heinrich von Beecke Burggraf des Bayenturms gewesen68, 1475 ein Gobel Bloyme auf dem Pantaleonstor.69 Es ist allerdings nicht gesagt, dass er dort Burggraf war. Im Gegensatz dazu wurde ein Mann namens Hildebrand 1475 als Burggraf des Severinstores bezeichnet. Im gleichen Jahr wurde ein Hermann Muysgin auf dem Frankenturm und ein Tilmann von Elverfelde auf dem Schafentor erwähnt.70 In den beiden letzten Fällen ist nicht vermerkt worden, dass die Männer auch Burggrafen der entsprechenden Türme waren, aber es ist sehr wahrscheinlich so gewesen. Außerdem lassen sich wenigstens zwei Ratsbeschlüsse nachweisen, die auf ein Erbe des Amtes hindeuten könnten. 1472 hatte Johann Buschoff, Kölner Schöffe und Burggraf des Hahnentores, darum gebeten, seinen Sohn Johann, ebenfalls Kölner Schöffe, als Mit- oder Unterburggrafen zu ernennen. Denn des Bittstellers Vater habe 30 Jahre lang das Burggrafenamt am Eigelstein und er selbst sein Amt 26 Jahre ausgeübt. Schließlich gab der Rat nach und ernannte den Sohn Johanns zum Unterburggrafen.71 1474 bat Johann Jude aus einem 63 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 166 Nr. 1436,8. 64 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 542; vgl. auch Joachim Deeters (Bearb.): Rat und Bürgermeister in Köln 1396–1797. Ein Verzeichnis (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 99), Köln 2013, S. 119. 65 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 314 Nr. 142; vgl. Giel, Öffentlichkeit (Anm. 59), S. 214. 66 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 320 Nr. 1464,30. 67 Ibid., S. 666 Nr. 1483,2. 68 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 406; vgl. Deeters, Rat (Anm. 64), S. 384. 69 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 407. Er war jedenfalls kein Ratsherr; Deeters, Rat (Anm. 64), S. 108. 70 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 408. Beide Männer sind nicht als Ratsherren anzusprechen; Deeters, Rat (Anm. 64), S. 188, 393. 71 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 487 Nr. 1472,75. Vgl. Wolfgang Herborn/Peter Arnold Heuser: Vom Geburtsstand zur regionalen Juristenelite – Greven und Schöffen des kur-

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ehemaligen Kölner „Geschlecht“ den Rat darum, seinen Sohn Johann zum Unterburggrafen zu ernennen, da der Bittsteller der Stadt 31 Jahre treu gedient habe. Wahrscheinlich ist Johann seinem Vater gefolgt. Denn 1488 genehmigte der Kölner Rat einem Johann Jude auf dem Weihertor, auf dem schon sein mutmaßlicher Vater gedient hatte, den Sohn Johanns namens Daniel samt dessen Frau für das genannte Tor aufzunehmen. Daniel erhielt das Recht zur Nachfolge seines Vaters Johann.72 1439 ernannte der Rat Heinz Roede einen ehemaligen Söldner zum Burggrafen auf dem Schafentor. Er blieb allem Anschein nach eine Ausnahme.73 Der Rat war in der Wahl der Burggrafen auf den Toren zur Feldseite hin in gewisser Weise frei. Im Allgemeinen hat er aber im 15. Jahrhundert Kölner Bürger oder Eingesessene, darunter auch ehemalige Angehörige der „Geschlechter“, bevorzugt. Ferner ist eine zeitliche Entwicklung des Entgeltes für die Burggrafen zu beobachten.74 Laut des Eidbuches von 1341 gewährte der Rat den Burggrafen auf den sogenannten „offenen Toren“ jährlich 25 Mark75, während er jenen auf den „geschlossenen Toren“ nur fünf Mark jährlich zubilligte. Allerdings ist den Burggrafen auch noch zusätzlich 100 Mark von den Gefangenen zugestanden worden.76 Der Rat hat also für die Wache auf den relativ sicheren Toren, die keine Durchfahrt zuließen, geringere Summen als für die Wache auf den „offenen Toren“, die eine Durchfahrt mit Fuhrwerken erlaubten, als Lohn ausgegeben. Allerdings hat er 1370–1373 für die „offenen Tore“ Eigelstein, Ehren-, Hahnen-, Weiher- und Severinstor 40 Mark kölnisch oder mehr, manchmal auch weniger, bezahlt und hatte den Lohn im Laufe der anschließenden Jahre erhöht. Ab 1373 oder wenigstens ab 1374 gab er jährlich 150 Mark kölnisch. Dazu konnten die Burggrafen noch mehr verdienen, wenn sie besondere Aufgaben übernahmen.77 Ähnlich hoch waren die Zahlungen für den Kunibertsund den Bayenturm. Seit 1372 bzw. 1374 erhielten die Burggrafen beider Türme jeweils 150 Mark kölnisch. Niedriger waren die Löhne an die Burggrafürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 59–160, hier S. 123 Nr. 19, 23; Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 630. 72 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 521 f. Nr. 1474,49; S. 723 Nr. 1488,29. 73  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 158. 74 Vgl. dazu auch ibid., S. 277 ff. 75  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 41 Nr. 6,XIV,10; S. 41 Nr. XV,6. 76 Ibid., S. 146 f. Nr. 48. 77 Vgl. auch Richard Knipping: Ein mittelalterlicher Jahreshaushalt der Stadt Cöln (1379), in: Beiträge zur Geschichte, vornehmlich Kölns und der Rheinlande. Zum 80. Geburtstag Gustav von Mevissens, dargebracht von dem Archiv der Stadt Köln, Köln 1895, S. 131– 159, hier S. 134. Ein Steinmetzmeister verdiente 1374 allerdings 160 Mark kölnisch, vgl. Klaus Militzer: Wirtschaftsleben am Niederrhein im Spätmittelalter, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49 (1985), S. 62–91, hier S. 81. Wollten die Burggrafen einen ihnen angemessenen Lebensstandard halten, mussten sie hinzuverdienen.

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fen der teilweise oder ganz zugemauerten Tore, nämlich des Gereons-, des Friesen-, des Schafen-, des Bach- und des Pantaleonstores. Sie kamen über 25 Mark kölnisch im Jahr nicht hinaus, aber konnten durch zusätzliche Arbeiten für die Stadt hinzuverdienen.78 1392–1396, also vor der „Revolution“, wurde bestimmt, dass die Burggrafen auf dem Kuniberts- und Bayenturm jährlich 400 Mark ausgezahlt bekommen sollten.79 40 Gulden, also immerhin 136 Mark 8 Schillinge, erhielt ein Unterburggraf.80 Jedoch hat der Rat in den folgenden Jahrzehnten höhere Summen bezahlt als in den normativen Quellen angegeben sind. Wahrscheinlich handelt es sich bei den höheren Zahlungen entweder um Zuwendungen für Gefangene oder der Rat erhielt für die im Etat vorgeschlagenen Löhne keine vertrauenswürdigen Personen. Nach dem Eid der Burggrafen des Bayen- und des Kunibertsturms unmittelbar vor der sogenannten „Revolution“ von 1396 oder auch um 1396 herum erhielten beide jährlich jeweils 400 Mark und weitere Zahlungen, die aber im Wesentlichen den Gefangenen zugutekommen sollten. Ein Unterburggraf erhielt laut den Stadtrechnungen einen Lohn von 40 Mark.81 Allerdings ist dabei zu beachten, dass wahrscheinlich außerordentliche Verhältnisse in der Stadt herrschten und sich unter den Gefangenen Anhänger der Partei der „Greifen“ oder auch der der „Freunde“ befunden haben könnten.82 In den Eidbüchern und Eiden der Folgezeit sind die Entlohnungen für die Burggrafen auf den „offenen“ wie auch auf den „geschlossenen“ Toren wie im 14. Jahrhundert beibehalten worden.83 Ob in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Löhne an die Inflation angeglichen worden sind, ist den rechtlich relevanten Dokumenten nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Wahrscheinlich haben die Ratsherren einen frei ausgehandelten Lohn bevorzugt und sich nicht mehr in das Korsett einer verbindlichen Vorgabe zwängen lassen.84 Jedoch ist dem Burggrafen auf dem Bayenturm 1469 400 Mark jährlich als Lohn gezahlt85, dagegen dem Burggrafen auf dem Schafentor 1475 20 Mark oder 40 Mark im

78 Die Angaben von Giel, Öffentlichkeit (Anm. 59), S. 213, sind unzureichend. 79 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48. 80 Für die Berechnung der Zahlen vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. XXVIII. 81 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48. 82 Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 124 ff.; Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 196 ff.; vgl. auch die Aussagen der Gefangenen aus dem Jahr 1396, in: Quellen (Anm. 3) VI, S. 379 ff. Nr. 265. 83 Statuten von 1407: Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 253 Nr. 92,X,18. Nach dem Eidbuch von 1413/14 waren die Löhne für die Wächter der „offenen“ und „geschlossenen Tore“ wie im 14. Jahrhundert geblieben: Ibid., S. 280 Nr. 107,VII,18; VIII,9. Das gilt auch noch für das Eidbuch von 1450: Ibid., S. 345 Nr. 159,XIII und XIV. 84 Im Eid von 1475 fehlen Verdienstangaben: Ibid., S. 442 ff. Nr. 243. 85 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 406.

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Jahr als Lohn gewährt worden.86 Der Verdienst der Burggrafen auf den „offenen Toren“ war in jedem Fall deutlich höher als der für die Burggrafen der „geschlossenen Tore“. Insgesamt wird man feststellen können, dass die Löhne für die Burggrafen auf den „offenen Toren“ wie auch den „geschlossenen Toren“ auf der Feldseite, aber auch auf manchen Toren oder Türmen zur Rheinseite hin angehoben worden sind. Vielleicht wollte der Rat doch einen Inflationsausgleich erstatten. Es ist aber ebenso denkbar, dass zuverlässige Männer nur gegen ein steigendes Entgelt zu haben waren, wie schon vermutet worden ist. Dass die Burggrafen nicht immer allein auf den ihnen zugewiesenen Torburgen lebten, wird deutlich, wenn 1335 bestimmt wurde, dass der Burggraf einen Wächter und zwei seiner Diener mitbringen solle.87 1372 ist von einem famu­ lus des Johann vom Lebarde oder 1373 von einem solchen des Gottschalk Birkelin die Rede gewesen.88 Johann vom Lebarde gehörte zum „Geschlecht“ der Grin und war Burggraf des Kunibertsturms 1370–1372. Gottschalk Birkelin, Angehöriger eines stadtkölnischen „Geschlechts“, ist nicht ausdrücklich als Burggraf nachzuweisen. Dennoch wird man sich vorzustellen haben, dass auch andere Angehörige der „Geschlechter“ ihre Diener bei sich hatten. Diese mussten sie im 14. Jahrhundert allerdings aus eigener Tasche bezahlen. Sie sind deshalb in den Stadtrechnungen nur ausnahmsweise bezeugt. Mehr als Einzelnachweise können die Belege aus rechtlichen Bestimmungen des Rats bezeugen, dass die Burggrafen nie allein auf den Türmen waren, sondern vielmehr Diener oder Vertraute bei sich hatten. Die Burggrafen wurden zunehmend auf ihren Türmen festgehalten, so dass sie sie nur in Ausnahmefällen verlassen durften. Für die Wache wurde von Ende 1371 bis Anfang 1372 Geld ausgegeben. Danach entlohnte man nur noch selten die vigilatores. 1380 ist ein vigilator namens Gerhard bezeugt, der für den Ruschenberg genannten Turm zwischen Gereonstor und Eigelstein eingeteilt war.89 Aber diese städtische Ausgabe galt vor allem für den Ruschenberg, denn auch 1378 hatte jemand den Ruschenberg zu bewachen.90 Allerdings war der Ruschenberg kein Tor, durch das Fuhrwerke fahren oder auch nur Menschen gehen konnten. Die Vorschriften für die Burggrafen und deren Untergebenen wurden ständig verschärft. Ferner wurde mit der Zeit genau geregelt, bis wohin jeder Pfört86 Ibid., S. 408. 87  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 25 Nr. 2; vgl. ibid., S. 205 f. Nr. 54; S. 251 ff. Nr. 92,X–XII; S. 278 ff. Nr. 107,VII f., XI. 88  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 87, 119. 89 Ibid., S. 363, 379. 90 Ibid., S. 316.

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ner oder Untergebener von seinem Sitz auf den Türmen oder Toren gehen konnte. Die Wegstrecke ist genau angegeben und betrug durchschnittlich 220–360 Meter.91 Die Einhaltung der Bestimmungen hatten die vier reitenden Nachtwächter oder Wächter zu kontrollieren, vor allem die Einhaltung der Entfernungen durch die Burggrafen. Aber wichtig waren die reitenden Nachtwächter insbesondere für die Gewährleistung der Ruhe und des Friedens innerhalb der Stadt.92 Unregelmäßigkeiten hatten sie den Gewaltrichtern zu melden, die den Missbrauch abzustellen oder diejenigen zu bestrafen hatten, die die Misshelligkeiten zu verantworten hatten. 1469 stieg die Zahl der Nachtwächter sogar auf zwölf.93 Nun ist die Gelegenheit, auf den Frankenturm zu sprechen zu kommen, der als einziger Turm am Ufer des Rheins lag. 1370–1381 wurde er von Johann Beirbuch und Cono Gir von Kovelshoven bewacht. Beide erhielten damals jährlich fünf Mark kölnisch.94 Außerdem kleidete der Rat nicht nur sie, sondern die Burggrafen vom Frankenturm allgemein in die städtischen Farben ein.95 Einen besonderen Eid hatte der Burggraf auf dem Frankenturm am Rheinufer 1430–1440 zu leisten. Denn er hatte die Gefangenen des Rats zu betreuen und ihnen ihr Essen zu besorgen. Darüber hinaus hatte er die Akzisesätze und die Morgensprachen zu verkünden. Er musste also in der Stadt herumgehen und die Ratsbeschlüsse mit lauter Stimme verkünden. Er hatte ferner im Gericht der Gewaltmeister und an jedem Mittwoch in der Rentkammer zu erscheinen, um dort weitere Befehle entgegenzunehmen. Bei Sonnenuntergang hatte er seinen Turm aufzusuchen und dort zu schlafen.96 Die Bestimmungen könnten zum großen Teil auch schon im 14. Jahrhundert gegolten haben. Neben den Burggrafen hat der städtische Rat auf den einzelnen Toren auch sogenannte „Wächter“ (vigilatores) bezahlt, in der Regel alle drei Monate. Es konnten aber auch Nachzahlungen erfolgen, weil der Rentmeister den entsprechenden Lohn vergessen hatte oder auch nicht genügend Geld in der Kasse war, als dass er sie hätte ausbezahlen können. Anscheinend wurden wiederum die „offenen Tore“ bevorzugt und den dortigen Wächtern höhere Löhne gewährt, und zwar jährlich bis zu 30 Mark kölnisch. Am Friesen-, Bach- und Pantaleonstor sind 1370–1381 gar keine Wächter nachzuweisen, was auch ein 91 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 25 Nr. 2. 92 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 203 f.; vgl. auch Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 191 f. Nr. 114,XXXIV; S. 205 Nr. 116; S. 367 Nr. 219,8–9. 93 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 404. 94 Vgl. ibid., S. 3 ff., und das Register, S. 429 ff. 95 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 278 Nr. 168,46. 96 Stein, Akten (Anm. 6), I, S. 302 Nr. 130; Stein, Akten II, S. 277 f. Nr. 168,42. Im Wesentlichen bestätigt durch Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 401, für das Jahr 1466.

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Anlass sein könnte, diese damals schon als „geschlossene“ Tore zu betrachten. Bei den übrigen Feldtoren sind die Wächter meistens mit dem Vornamen belegt, mit denen aber nicht viel zur Identifizierung anzufangen ist.97 Deshalb sollen sie auch nicht alle aufgezählt werden, lediglich die mit einem Nach- oder Familiennamen. Am Eigelstein ist 1370–1376 ein Hennes Kessel zu ermitteln98, dessen Vorname allerdings nur deshalb aufgeschrieben wurde, weil er auf der Innenseite eines Pergamentumschlags steht. Daher ist auch dieser Name kaum zu verwenden. 1373–1376 wachte ein Graf von Loon auf dem Kunibertsturm und wechselte 1377–1381 zum Ehrentor.99 1373 ist ein Peter von Siberg als Wächter auf dem Bayenturm auszumachen100, der aber noch im selben Jahr von einem Mann namens Winkin abgelöst worden ist. Peter von Siberg ist in den Schreinsbüchern als Gürtelmacher bezeugt.101 Ob er jedoch mit dem in den Stadtrechnungen genannten Mann identisch ist, bleibt wie so vieles in Köln ungewiss. Wächter bestellte der Rat auch 1372 nach der Niederschlagung des „Weberaufstands“ auf dem Abschnitt zur Feldseite zum zwischen dem Gereonstor und dem Eigelstein gelegenen Ruschenberg. Seit 1372 wachten auf dem Ruschenberg vigilatores unter dem Befehl eines Johann vom Hirtze von der Landskronen.102 Dazu kam zur damaligen Zeit das Judenwichus zwischen Eigelstein und dem Kunibertsturm, das bewacht werden sollte.103 Nach dem glücklichen Aufstand gegen die „Geschlechter“ von 1396 haben die neuen Ratsherren, wie gesagt, auch weiterhin Burggrafen ernannt. Aber es gab auch schon vor 1396 vigilatores oder curwechter an den Befestigungen für die Feldseite. Zwar sind sie nur sporadisch nachzuweisen, aber es gab sie. Zu den Ersten gehörten 1376 zwei Wächter auf dem Bayen- und dem Weihertor.104 Einmal wurde sogar einer, der Deutz bewachte, „Kurwächter“ genannt.105 Zudem wurde ein Mann namens Winkin im selben Jahr als „Kur-

 97  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 20, 30 (1370) Heinrich; S. 29 (1370) Martin; S. 101 (1372) Tilmann; S. 106 (1373) Peter; S. 108 (1373) Abel; S. 188, 190, 192 f., 200, 202, 208, 210, 232, 238, 240 f., 243, 245, 249 ff, 255, 257, 268, 280, 288, 295 f., 309, 314, 318, 326, 358, 364, 367 (1375–1380) Winkin; S. 222 (1376) Gobelin; S. 241, 244, 246 f., 249 ff., 255 ff., 301, 317 (1376–1378) Paul; S. 280, 284, 320 (1378) Rost oder Rostgin; S. 284 (1377) Sifridus.   98 Ibid., S. 55 Anm. 3 (1370), S. 212, 233, 238, 240 ff., 255 ff., 263, 280, 283, 299, 330 (1376– 1379).   99 Ibid., S. 457 (Register). 100 Ibid., S. 106, 130; er gab aber schon Ende 1373 das Amt auf. 101 HAStK, Schreinsbuch 40, fol. 10r (1380); Schreinsbuch 70, fol. 13r (1380). 102  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 67 ff., 75 f. 103 Ibid., S. 69 ff. 104 Ibid., S. 233, 235. 105 Ibid., S. 237 (1376).

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wächter“ bezeichnet106, der sonst als vigilator in den Stadtrechnungen auftauchte, ebenso im folgenden Jahr Paul und ein Mann namens Kessel.107 Danach kommen erst wieder „Kurwächter“ im Laufe des 15. Jahrhunderts vor, und zwar für die „offenen Tore“ zur Feldseite hin.108 „Kurwächter“ und vigi­ latores wurden oft gleichbedeutend für eine Gruppe von Männern gebraucht, wie unten noch näher dargelegt werden wird. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sind sogenannte „Kurwächter“ bezeugt, die auch einen Eid abzulegen hatten.109 Unter ihnen sind einfache Wächter auf den Tortürmen. Danach hatten die „Kurwächter“ von Ostern110 bis Remigius (1. Oktober) um neun Uhr und von Remigius bis Ostern um acht Uhr abends auf den Tortürmen zu sein und ein Vierteljahr zu dienen. Die tagsüber Wachhabenden, genannt „Wächter“, sollten die „Kurwächter“, die des Nachts die Tortürme bewachten, so ablösen, dass die Tore nie unbeaufsichtigt waren. 1463 wurde bestimmt, dass die „Kurwächter“ auch tagsüber die Tore nicht verlassen sollten, um Essen zu holen. Danach hatten die „Kurwächter“ den Nachtgegen den Tagdienst getauscht. Den Nachtdienst hatten danach vielmehr die „Wächter“ oder „Nachtwächter“ übernommen.111 1468 wurde festgelegt, dass auf dem Pantaleonstor noch ein „Kurwächter“ anzustellen sei.112 Ob damit gemeint war, dass zusätzlich ein „Kurwächter“ oder überhaupt nur ein „Kurwächter“ für das entsprechende Tor eingestellt wurde, bleibt unklar. Zum Jahr 1469 sind wiederum „Kurwächter“ bezeugt.113 In den Dokumenten von 1476 und 1501 ist festgehalten, dass die beiden Knechte der Burggrafen vor dem Rat einen Eid abzulegen und dass sie auf den Tortürmen zu schlafen hätten.114 Übrigens haben sich die Wächter oder „Kurwächter“ nicht immer so verhalten oder aufgeführt, wie es der Rat gefordert hatte. 1481 kam es zu einem Besäufnis und zu einer Schlägerei zwischen den Wächtern und einem Eingesessenen.115 Die beteiligten Personen wurden verhört und konnten sich von dem Vorwurf der Prügelei kaum reinwaschen. Anders war die Bewachung der in den Rhein hineinragenden Arken geregelt. Die Ark im Norden am Kunibertsturm wurde laut den Stadtrechnungen von 106 Ibid., S. 242, 245. 107 Ibid., S. 257. Auch schon 1376: ibid., S. 244. 108 Ibid., S. 405, 407, Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 364 f. Nr. 168; S. 445 Nr. 243,18. 109 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 364 f. Nr. 168. 110 Ostern ist ein bewegliches Fest, das je nach dem Jahr auf einen Sonntag (der erste Sonntag nach Frühlingsvollmond) zwischen dem 22. März und dem 25. April fallen konnte. 111 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 396 f. Nr. 260,1–3. 112 Ibid., S. 435 Nr. 282. 113 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 405, 407. 114 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 346 Nr. 153,XVI,3–4. 115 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 639 f. Nr. 1481,2; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 205.

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1370–1380/81 meist vom Grafen von Loon bewacht, während im Süden die Ark am Bayenturm in den Händen Johanns von Valkenstein lag. Beide waren wohl Söldner, die neben der Wache noch andere Aufgaben zu verrichten hatten. Wie viel Geld der Bewacher der Ark am Kunibertsturm, der Graf von Loon, erhalten hat, ist schwer zu sagen, weil die Unterlagen dazu unvollständig sind und sich unter anderen Summen verstecken könnten. Dagegen erhielt Johann von Valkenstein 1370–1371 wohl fünf Mark, 1372 sieben Mark, 1373– 1375 zehn Mark und 1376–1381 25 Mark kölnisch. Allerdings haben beide Wächter, wie gesagt, andere Aufgaben übernommen und konnten dadurch zu ihrem Lohn für die Wache hinzuverdienen.116 Für die vigilatores an der Rheinseite der Stadtmauer war die Zuständigkeit wiederum anders organisiert. 1341 beispielsweise verzichtete die Witwe des Gerhard vom Turne auf ihre Rechte an der Hasenpforte. Der Rat übertrug sie 1348 dem Johann vom Turne.117 Ob er in der Zwischenzeit die Wache auf dem Tor den „Wächtern“ übertragen hatte, ist denkbar, aber nicht bezeugt. Einmal wurde nach der Niederschlagung der „Weber“ der Hauskran Ende 1371 bis Anfang 1372 extra bewacht.118 Diese Aufgabe übernahm ein Mann namens Culwes, der mutmaßlich ein Söldner war. Culwes hatte mit seinen Genossen nicht nur den Hauskran zu bewachen, sondern ebenso das Rheinufer entlang der Stadtseite. Auf diese Wache bezog sich das ausgegebene Geld in den Stadtrechnungen. Da die Wache schon früher erwähnt ist, wird man davon ausgehen können, dass Culwes und seine Mitstreiter das Rheinufer vor der Stadt schon Ende des Jahres 1371 verteidigen sollten. Später übernahmen auch Bogenschützen die Wache des Ufers, abgesehen davon, dass auch verschiedene Häuser in Köln wegen des niedergeschlagenen Aufstands gegen die „Weber“ bewacht wurden.119 Es kam bereits im Oktober 1371 zu einer Besetzung des Bauplatzes am Holzmarkt durch einen Beauftragten des Rats.120 Erst 1375 bewachten ein Mann namens Gerhard und seine Bogenschützen die Befestigung und das Tor am Holzmarkt zur Nächelsgasse hin.121 Von dem Zeitpunkt an wurden die Befestigung und das Tor bewacht.122 Es kamen andere Türme und Befesti-

116 Vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 3 ff., und das Register: ibid., S. 437 und S. 457. 117  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 18 f. Nr. 28. 118  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 69, 71 ff., 99 ff. 119 Ibid., S. 92, 153 und öfter. 120 Ibid., S, 57; vgl. Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 25b Nr. 8. 121  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 182; vgl. Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 25b Nr. 8. 122  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 233, 235, 237, 239, 241 ff.

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gungswerke hinzu.123 Der Holzmarkt lag vor den Toren der Stadt. Er wurde ebenso wie die Tore des Rheinufers bewacht. Der Lohn für die vigilatores war unterschiedlich. Die Angabe, dass der vigi­ lator Winkin 1375 zwei Mark vier Schillinge für eine Woche Wache erhalten habe, kann so nicht richtig sein.124 Eher dürften die Abrechnungen stimmen, die von drei Monaten ausgingen. Danach betrug der Verdienst der Wächter zwischen 28 und 32 Mark im Jahr.125 Das war weniger als die Burggrafen in ihren Ämtern verdienen konnten. Allerdings ist auch bei den Wächtern zu beobachten, dass sie ihren Lohn aufbessern konnten, wenn sie zusätzliche Arbeiten übernahmen. Schon 1376 wurde die Bezeichnung curwechter oder vigilatores für Wächter auf dem Bayen- und dem Kunibertsturm gebraucht.126 1475 erhielten die sogenannten Kurwächter vierteljährlich 16 Mark 3 Schillinge oder 65 Mark im Jahr.127 Auch das war deutlich mehr, als Wächter im 14. Jahrhundert erwarten konnten. Ob sich der Satz hat halten lassen oder gar erhöht worden ist, bleibt allerdings ungewiss. Abgesehen von dem alle anderen Befestigungen am Rheinufer überragenden Frankenturm und den Besonderheiten, die die Söldner betrafen, wurde die Wacht der Türme und Tore zum Rheinufer hin anders als bei den Feldtoren gestaltet. Das lag wohl auch daran, dass der Rat das Rheinufer im Allgemeinen weniger anfällig für einen Überfall gehalten hat. Diese Tore wurden meist von Angehörigen reicher Bürger oder der „Geschlechter“ geschlossen, die dafür einen gewissen Betrag erhielten.128 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bekamen die entsprechenden Personen vom Rat ein Weindeputat.129 Die Hasenpforte hatte Johann vom Turne 1345 auf eigene Kosten angelegt. Der Rat verlangte, die Hasenpforte durch Johann vom Turne schließen und bewachen zu lassen.130 Es ist nicht zu erwarten, dass Johann selbst das Tor bewacht oder geschlossen hat. Er hat vielmehr Bedienstete gehabt, die diese Arbeit verrichteten. Johann gehörte anscheinend zu den reichen Bürgern der Stadt. Aber bereits 1371 oder noch früher ist Johann vom Turne die von ihm errichtete Pforte genommen und an Johann von Ulrepforten übertragen wor-

123 Ibid., S. 243; vgl. auch ibid., S. 107 Anm. 4. 124 Ibid., S. 188. 125 Vgl. ibid., S. 212, 233, 238, 305, 314 und öfter. 126 Ibid., S. 233. 127 Ibid., S. 407. 128 Vgl. ibid., S. 105, 107, 114, 123, 131, 139, 141, 153 und öfter. 129 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 477 f. Nr. 307,55,60 (1470); S. 650 Nr. 485 (1494). 130 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 86b-87a Nr. 13–17; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 23 (1370).

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den.131 Schon 1370 schloss ein Johann vom Spiegel Pforten an der Rheinseite der Stadt.132 Vielfach hat der enge Rat der Stadt die Tore an der Rheinseite vor der „Revolution“ von 1396 an Angehörige der „Geschlechter“ vergeben und sie entsprechend entlohnt.133 Die Vergabe der Tore auf der Rheinseite wurde anders als die der Feldtore geregelt, und zwar wurden die Tore an der Rheinseite reichen Bürgern wie Johann vom Turne übertragen. So schlossen 1370 Johann von dem Buchel134 oder 1377, 1378 und 1381 Heinrich Westhoven das Trankgassentor und das Tor an der Walmoisgassen (Walmansgasse) gegenüber der Kostgasse135 oder Johann Bůck die Blomengassen- und die Mönchspforte oder die Blümchens- und die südlich anschließende Servatiuspforte136 oder auch 1381 Werner von der Molen (de Molendino) die genannten Pforten oder Tore.137 1381 setzte man Johann Ubach für die Witzgassenpforte und andere Tore ein.138 Von den soeben genannten Personen hatte Johann (von dem) Büchel das Bachtor und das Weihertor als Burggraf bewacht.139 Heinrich Westhoven hatte 1353 ein Haus in Köln erworben, war Goldschmied und ist 1394 verstorben.140 Er saß 1375/76 im weiten Rat.141 Johann Buck vom Herschiffe saß ebenfalls im weiten Rat 1375/76 und wieder 1378/79.142 Er war mit einer Katharina Loschard verheiratet und ist 1394 verstorben.143 Werner von der Molen ist 1375/76 im weiten Rat nachzuweisen144 und 1385 verstorben.145 Johann Ubach ist dagegen nicht im weiten Rat zu belegen. Er war Zimmermann, Neubürger und hat mit Holz gehandelt.146 1378 131  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 53. 132 Ibid., S. 46. 133 Ibid., S. 105, 107, 114, 123, 128, 131, 138, 141, 153, 174 f., 210, 225, 257, 264, 279, 292, 305, 338, 350, 359, 383, 388. 134 Ibid., S. 73. 135 Ibid., S. 274, 306, 383; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 74a Nr. 5. 136  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 313, Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 73b–74a Nr. 1; Sp. 74a Nr. 4. 137  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 384. 138 Ibid., S. 383; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 25a Nr. 4. Es hat aber zwei Witzgassentore gegeben. 139 S. oben, S. 7. 140 Quellen (Anm. 3) IV, S. 388 Nr. 352; HAStK, Schreinsbuch 8, fol. 11v; 56, fol. 13r; 227, fol. 11r. 141  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 474. Er wurde auch „Buck“ genannt. 142 Ibid., S. 475. Der Autor hat allerdings zwei Personen zusammengefasst. Der genannte Johann Buck ist dagegen nur 1375/76 und 1378/79 im weiten Rat nachweisbar. 143 HAStK, Schreinsbuch 27, fol. 91r. Er wohnte in der Nähe des Eigelsteins. 144  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 486. 145 HAStK, Schreinsbuch 258, fol. 4r. 146 HAStK, Schreinsbuch 307, fol. 148r; Hugo Stehkämper (Bearb.): Kölner Neubürger 1356–1398 Bd. 1: Neubürger 1356–1640 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln 61), Köln 1975, S. 4 Nr. 83; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. LXX. Ob er jedoch mit dem Johann Ubach, dem Wächter und Schließer, identisch sein könnte, bleibt ungewiss.

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schloss Heinrich Junge die Bleipforte.147 Er kann jedoch nicht mit dem Heinrich Junge aus Nordhausen identisch sein.148 Insgesamt gesehen hat der enge Rat mehrere Bürger mit der Schließung der Tore an der Rheinseite beauftragt, wenn auch ein deutliches Übergewicht auf Seiten der Angehörigen der „Geschlechter“ bestand. Nun hat sich der enge Rat nicht nur auf die Bürger oder Mitglieder der „Geschlechter“ verlassen, sondern, wenn Gefahr drohte, auch andere Mittel eingesetzt. Wenn vom Rhein aus eine Eroberung der Stadt anstand, hat sich der enge Rat nicht gescheut, den öffentlich zugänglichen Hauskran zu besetzen. In ähnlicher Weise dürfte beispielsweise ebenso die Wache auf dem Hof Brempt zu deuten sein, die seit 1374 in den Stadtrechnungen belegt ist149, oder die Bewachung der Rheinmühlen gegenüber der Salzgassenpforte.150 Ob schon während der Zeit der sogenannten Weberherrschaft für die Wache auf den Türmen und Mauern Korporationen an die Stelle der Sondergemeinden getreten sind151, ist und bleibt zweifelhaft, da darüber keine Nachweise zu finden sind. Die Stadtrechnungen geben keine Anhaltspunkte, so dass man wohl davon ausgehen kann, dass die Verantwortlichen von 1370 bis 1371 hinsichtlich der Verteidigung nichts Wesentliches verändert haben, sondern den alten Zustand beibehielten. Sie griffen vielmehr auf Örtlichkeiten zurück, an denen sich die Bürger oder auch Eingesessene zu versammeln hatten, wenn die Sturmglocke ertönte. Nach der „Revolution“ von 1396 scheint sich die Wehrverfassung insofern geändert zu haben, als von nun an die Wache auf den Mauern und Toren im Verteidigungsfall korporativ geregelt war. Jedoch fehlen dazu wiederum die Quellen, um an der Behauptung festhalten zu können. Es kann sich für die Zeit des ausgehenden 14. Jahrhunderts nur um eine Vermutung handeln. Es spricht allerdings viel für eine solche These, so dass alle Untersuchungen, sofern sie sich mit dem Problem befasst haben, zu dem gleichen Ergebnis kommen.152 Erst für 1496 kann Brigitte Maria Wübbeke feststellen, dass Gaffeln die genannten Tore bewachten.153 Zunächst ist einzuwenden, dass die Reihung der Gaffeln nicht mit der aus dem Verbundbrief überlieferten Reihenfolge über147 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 311. 148 Vgl. Klaus Militzer: Die Kölner Neubürger Bruno und Heinrich Junge aus Nordhausen in Thüringen, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 50 (1979), S. 91–118, hier S. 98 ff. 149 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 165. 150 Ibid., S. 239. 151 Das behauptet Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 23 ff. 152 Ibid., S. 28 ff.; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4) S. 53 f.; vgl. auch Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 391, zum Jahr 1396. 153 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 54.

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einstimmt, sodann sind Zimmerleute anstelle von Steinmetzen, wie es noch im Verbundbrief geheißen hat, genannt. Für vier Gaffeln ist zudem unbekannt, welches Tor oder welchen Mauerabschnitt sie bewachen sollten. Zudem ist anzumerken, dass bereits 1488 eine Mannschaftsaufstellung nach Gaffeln nachzuweisen ist.154 Die dort aufgeführten Korporationen haben die Reihenfolge wie im Verbundbrief und auch das ansonsten übliche Verfahren eingehalten. Allerdings haben die Gaffeln laut dem Dokument von 1488 Zahlungen für Mannschaften geleistet, die für fünf Monate anzuheuern waren. Die Gaffeln hatten allerdings zu dem fraglichen Zeitpunkt noch nicht vollständig gezahlt.155 Ferner könnte man die Kopfsteuer von 1417 hinzuziehen, die auch von reicheren Bürgern, nach Gaffeln geordnet, eingesammelt worden ist. Jedoch weicht die Anordnung der Gaffeln von der im Verbundbrief genannten ab, weil die sogenannten Kaufleutegaffeln vorangestellt worden sind.156 Man könnte also auch diese Quelle heranziehen und feststellen, dass die Gaffeln die ausschlaggebenden Korporationen für die Wehrverfassung gewesen sind. Seit dem Verbundbrief von 1396 war keineswegs jede Institution nach Gaffeln oder Korporationen gegliedert. Das Alarmwesen, das vor allem bei Brandgefahr griff, beruhte auch weiterhin auf Sondergemeinden oder Kirchspielen, wie es schon vor 1396 üblich gewesen war und auch für das Wehrwesen gegolten hatte.157 Allerdings waren die Plätze für die Sammlung der Bürger und Einwohner nicht für immer vorgegeben, sondern konnten sich im Laufe der Zeit ändern.158 Selbst die Einsammlung einer Sonderabgabe der reicheren Bürger von 1417/18 war einmal nach Gaffeln, aber nicht nach der Reihenfolge des Verbundbriefs, und ein anderes Mal nach Kirchspielen geordnet.159

154 Zum Verbundbrief vgl. Manfred Huiskes: Kölns Verfassung für 400 Jahre. Der Verbundbrief vom 14. September 1396, in: Joachim Deeters/Johannes Helmrath/Dorothee Rheker-Wunsch (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 2: Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit (1396–1794), Köln 1996, S. 1–28, passim; vgl. ferner auch Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 187 ff. Nr. 52; Heinrich von Loesch (Bearb.): Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 22), Bonn 1907, hier I, S. 148 f. Der Verbundbrief wird zusätzlich noch in verschiedenen Arbeiten erwähnt und ist immer wieder abgedruckt worden. 155  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. 147; vgl. Franz Irsigler, Kölner Wirtschaft im Spätmittelalter, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Köln 1975, S. 217– 319, hier S. 230. 156  Klaus Militzer: Die vermögenden Kölner 1417–1418. Namenlisten einer Kopfsteuer von 1417 und einer städtischen Kreditaufnahme von 1418 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 69), Köln/Wien 1981, S. 1 ff. 157  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 296. 158 Ibid., S. 57; Heinzen, Zunftkämpfe (Anm. 1), S. 92. 159  Militzer, Die vermögenden Kölner (Anm. 156), passim.

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Bürger und Eingesessene haben also auch neben anderen Männern die Mauer bewacht und gegebenenfalls verteidigt. Während im Eid der Neubürger noch festgelegt wurde, dass die neu Aufgenommenen der Sturmglocke zu folgen hätten, ist der Abschnitt in dem entsprechenden Eid von 1421 nicht mehr aufgenommen.160 1397 hat der Rat den Wachen die sorgfältige Ausübung ihres Auftrags vorgeschrieben.161 Seit 1467 wurde der Anteil der Bürger und Eingesessenen an der Wache auf den Mauern, Türmen und Toren erhöht.162 Ihr Anteil vermehrte sich noch einmal während des Kriegs gegen Karl den Kühnen 1473–1474.163 Nach dem Abzug Karls von Neuss wurde die Bürgerwache beibehalten, weil das Geld fehlte, um entsprechende Söldner anzuwerben und zu bezahlen.164 Man wird aber annehmen können, dass die reicheren Bürger sich dem Wachdienst entzogen, stattdessen Geld gegeben und eigene Bedienstete oder auch Söldner eingesetzt und bezahlt haben. Nach 1500 wird man von dem bisherigen mittelalterlichen Vorgehen weitgehend abgewichen sein. Jedoch gehört diese Zeit nicht mehr zu unserem Berichtszeitraum. Die Feldseite der Kölner Befestigung war vor 1396 vorwiegend in die Hände von Angehörigen der „Geschlechter“ gelegt worden. Daneben gab es auch Mitglieder der Söldner und Angehörige der reicheren Bürger. Auf der Rheinseite begnügte sich der jeweilige Rat mit dem Schließen der Tore durch Bürger, die auch anderweitig tätig sein konnten. Vermutlich hielt der Rat die Rheinseite für weniger gefährdet. Allerdings war diese Seite auch als Anlegestelle für die Schiffe von oberhalb wie auch unterhalb Kölns vorbehalten. Außerdem konnten Schiffer und Kaufleute, die nachts ankamen, in ihren Schiffen übernachten. Daher war ein vorsorgliches Öffnen der Tore zur Abend- oder Nachtzeit nicht erforderlich. Der Lohn für die Tätigkeit als Burggraf war insgesamt hoch. Allerdings hatten dafür auch die Burggrafen die mit ihnen Wache haltenden Knechte anfangs zu bezahlen. Im Lauf der Zeit übernahm der städtische Rat den Lohn. Nach dem Zusammenbruch der „Geschlechterherrschaft“ 1396 wurden die Burggrafen und ihre Untergebenen immer stärker reguliert und von Nachtwächtern kontrolliert. Die „Kurwächter“ waren meist wohl Bürger, während die normalen „Wächter“, wie die vigilatores auch genannt wurden, in den allermeisten Fällen Söld160 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 70 Nr. 29,2; S. 287 f. Nr. 112. Auch Joachim Deeters: Das Bürgerrecht der Reichsstadt Köln seit 1396, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 104 (1987), S. 1–83, kennt keine solche Pflicht der Bürger und Eingesessenen seit 1396. 161  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 85 Nr. 68,4; vgl. auch ibid., S. 384 f. Nr. 248, S. 392 ff. Nr. 260; S. 416, und vor allem ibid., S. 420 Nr. 275. 162 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 207. 163 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 409. 164 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 208.

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ner gewesen sind, die auch entlohnt wurden. Sie wurden vom Rat der Stadt variabel eingesetzt, immer dort, wo die meiste Gefahr in den Augen der jeweiligen Ratsherren oder Mächtigen drohte. „Kurwächter“ war ein Begriff, der für vigilatores wie auch für andere „Wächter“ eingesetzt werden konnte. Überhaupt sind die Begrifflichkeiten, abgesehen von den Burggrafen, schwankend gewesen.

Die Bewaffnung auf den Kölner Toren und den übrigen Türmen der Mauern Die Nachweise der Bewaffnung von Toren und Türmen von 1446 und 1468 sind in Köln in ihrer Art einzigartig. Es ist aber ungewiss, zu welchem Anlass die Rentmeister die Register von 1446 und 1468 anfertigen ließen und ob es überhaupt dazu eines Anlasses bedurfte. Als solche kämen in Frage die Ausein­ andersetzungen des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers mit der Stadt Soest, aber auch der sogenannte Schöffenstreit innerhalb der Stadt. Beide Ereignisse hatten die Kölner bewegt, wie die Eintragungen in die Koelhoffsche Chronik von 1499 bezeugen.165 Aber was die Rentmeister Gerhard Hair und Johann Muysgin am 6. Juni 1446 veranlasste, unter anderem das unten näher zitierte Register anzulegen, bleibt unklar, da sie sich dazu nicht äußerten.166 Ebenso wenig erklärten die Rentmeister Johann Krulman und Peter von der Clocken am 31. Mai 1468, weshalb sie ein Register anfertigen ließen, das dem von 1446 entsprach.167 Schon 1379 trafen die Herren des engen Rats Vorsorge, die Stadt zu beschützen.168 Im selben Jahr gingen die Rentmeister mit ihren Gehilfen in der Stadt umher, um die Türme und Mauern zu inspizieren.169 Es ging dabei auch um die Verteidigung der Stadt, auch wenn der Zweck nicht ausdrücklich genannt ist. Allerdings zeichneten weder der Rat noch die Rentmeister die Zahl der auf den Toren und Mauern vorhandenen Geräte zur Verteidigung auf.

165  Karl Hegel u. a. (Bearb.): Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, XII–XIV (Die Chroniken der niederrheinischen Städte – Cöln, I–III), Leipzig 1875–1877, hier Bd. XIV, S. 784 f., 786 ff. Zur Soester Fehde vgl. nun Heinz-Dieter Heimann: Die Soester Fehde (1444–1449), in: Harm Klueting (Hg.): Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803, Münster 2009, S. 321–342. 166  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 323 ff. Nr. 202,II. 167 Ibid., S. 439 ff. Nr. 284,II. 168  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 332: pro expensis factis per dominos nostros soperiores in circuitu civitatis, quando circoerunt civitatem. 169 Ibid., S. 334.

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Die Aufzeichnung von 1446 ist die Erste, die die Bewaffnung der Tore, Türme, Rondelle, Bollwerke und teilweise auch der Mauerabschnitte festhält.170 Ein weiteres Register desselben Inhalts aus dem Jahr 1468 versetzt uns in die Lage, die Angaben von 1446 zu kontrollieren und gleichzeitig Veränderungen festzustellen.171 Ferner ermöglichen es beide Aufzeichnungen, den Verlauf der Mauer im 15. Jahrhundert genauer zu beschreiben. Bezüglich der Waffen fallen teilweise Ausdrücke, deren Bedeutung heute nicht mehr ohne Weiteres geläufig ist. Beide Register sprechen von kupfernen Kanonen, jedoch wird man davon ausgehen müssen, dass es sich um bronzene Kanonen handelte.172 Denn reine kupferne Kanonen hätten dem Druck des Pulvers nicht standgehalten. Im ersten und auch im zweiten Register ist von loetboessen oder in ähnlicher Schreibung die Rede. Dabei wird es sich nicht um eigentliche Büchsen oder auch Hakenbüchsen gehandelt haben, die auf die Mauer gelegt wurden und deren Haken den Rückschlag aufhielten. Man wird vielmehr davon ausgehen müssen, dass es sich bei den loetboessen um eine Art von Musketen, mit denen Bleikugeln verschossen werden konnten, handelte. Die eigentlichen Hakenbüchsen scheinen erst 1468 oder noch später verwendet worden zu sein.173 In beiden Registern sind stoelpijle oder in vergleichbarer Schreibung vermerkt. Laut Walther Stein sollen sich dahinter „Wurfgeschütze“ verborgen haben.174 Das ist durchaus möglich, ergibt aber keinen rechten Sinn, wenn man an Bliden oder dergleichen denkt. Man wird wohl davon auszugehen haben, dass es sich bei den stoelpijlen um große, auf Bänken oder Wällen installierte Armbrüste, um sogenannte Bank- oder Wallarmbrüste, handelte175, mit denen Pfeile weiter als mit normalen Armbrüsten geschossen werden konnten. Die stoelpijle haben als große Armbrüste zu gelten und sind in anderen Texten außerhalb Kölns als Bank- oder Wallarmbrüste bekannt.176 Ebenfalls ist der Begriff „Kammer“ heutzutage unverständlich. Darunter verstand man eine mit Schießpulver versehene Vorrichtung, die anstelle des 170 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 323 ff. Nr. 202,II; vgl. Klaus Militzer: Die Verteidigung der Kölner Stadtmauer im Mittelalter, in: Olgierd Lawrynowicz (Hg.): Non sensistis gladios. Studia ofiarowane Marianowi Głoskowi w 70. rosznicę urodzin, Łódź 2011, S. 289– 296, hier S. 293 ff. 171 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 439 ff. Nr. 284,II. 172 Vgl. Volker Schmidtchen: Bombarden, Befestigungen, Büchsenmeister. Von den ersten Mauerbrechern des Spätmittelalters zur Belagerungsartillerie der Renaissance, Düsseldorf 1977, S. 27 ff.; Ders.: Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie, Weinheim 1990, S. 197. 173 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 408: Eintragung zum Jahr 1475. 174 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 762 (Register). 175 Vgl. Schmidtchen, Kriegswesen (Anm. 172), S. 174 ff. 176 Sven Ekdahl: The Siege machines during the Baltic crusades, in: Fasciculi archaeologiae historicae 20 (2007), S. 29–51, hier S. 36 f.

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abgefeuerten Pulvers in die Kanone eingesetzt werden konnte. Eine „Kammer“ hatte also die Aufgabe, vor die Kugel in die Kanone eingesetzt zu werden, wenn das Metall selbst abgekühlt war.177 Die Bezeichnung vogeler oder ähnlich ist für unsere Ohren ungewöhnlich.178 Darunter verstand man kleinere Geschütze, die auch für die Tore zum Feld hin tauglich waren und dort ohne nennenswerte Vorbedingungen aufgestellt werden konnten. Unter slange verstand man eine Kanone mit einem besonders langen Lauf. Schlangen werden in Köln erstmals 1468 erwähnt. Sie waren im Feld wie auch auf den Türmen und Mauern zu benutzen. Auch die Spanngürtel (spangurtel) sind nur schwer verständlich. Da es sich um die Zeit des 14. Jahrhunderts handelt, wird es um Vorrichtungen gegangen sein, die zum Spannen der Armbrüste gebraucht wurden. Denn im 14. Jahrhundert waren hauptsächlich Wurfgeschütze und Armbrüste und noch keine Kanonen üblich. So erstand Meister Gerhard, der balistarius, auch einen Spanngürtel.179 1376 wurden Spanngürtel und Beutel (spangůrdel et […] bursis) angeschafft.180 Die Beutel dienten wohl der Aufbewahrung der Spanngürtel oder auch des Pulvers und seiner Vorprodukte. Was dagegen mit einem sogenannten schurtzkreich oder in differierender Schreibung gemeint sein könnte, bleibt ungewiss. Es könnte ein Leder gemeint sein, das vor eine Kanonenöffnung gespannt und beim Abfeuern der Kanone beiseitegeschoben wurde.181 Es könnte auch eine Vorrichtung zum Spannen der Armbrüste gemeint gewesen sein. Aber, wie gesagt, bleibt das ganz ungewiss. Es fällt auf, dass in den Aufzeichnungen der Rentmeister kaum Erwähnungen von Kugeln, weder aus Stein noch aus Metall, zu finden sind. In späteren Quellen ist allerdings von Steinkugeln ausdrücklich die Rede.182 Ebenso fehlt weitgehend ein Hinweis im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf Pulver in Säcken oder Fässern.183 In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sprechen die Quellen jedoch von Ledersäcken, in denen Pulver gehandelt oder 177  Schmidtchen, Kriegswesen (Anm. 172), S. 195. 178 Vgl. Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 737. Stein gibt nur die Bezeichnung „Geschütz“ an. 179  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 9 (1370). 180 Ibid., S. 237. 181 Vgl. Militzer, Wahrzeichen (Anm. 37), S. 13; Schmidtchen, Bombarden (Anm. 172), S. 65, deutet sie als „Schutzschürzen“, die vor der Mündung einer Kanone aufgebaut und vor dem Schuss hochgeklappt worden seien. 182 Vgl. Schmidtchen, Bombarden (Anm. 172), S. 13 ff., 102 ff. 183 Vgl. aber Gobelin Tolner, der verschiedene Fuhren für pixides tonitruores durchführte; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 3, für das Jahr 1370. Zwar verbergen sich dahinter Donnerbüchsen, aber auch sie mussten mit Pulver gefüllt werden.

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zu Kanonen oder deren Bedienern gebracht wurde.184 Aber auch schon vorher ist von Beuteln die Rede gewesen, in denen Salpeter aufbewahrt wurde.185 Wir beginnen mit der Beschreibung der Bewaffnung der einzelnen Tore und Mauerabschnitte, und zwar von Süd nach Nord und zunächst zur Feldseite hin und benutzen zunächst das Register der Rentmeister von 1446.186 An der Südostecke stand zunächst im Rhein ein Vorbau, der die „Ark“ oder „Arken“ genannt worden ist (Abb. 1). Sie diente vor allem dazu, den Rheinverkehr zu überwachen und die Fuhrleute zu zwingen, die Leinen loszulassen, wenn sie ein Schiff über Köln hinaus den Rhein aufwärts treideln wollten. Zweifellos war die Ark im Süden der Stadt älter. Denn schon im Oktober 1370 erhielt ein Johann von Valkenstein Lohn für die Wache auf der Ark.187 1376 verpfählten die Kölner den Rhein von der Ark bis an das andere Ufer.188 Damals wehrten sich die Kölner gegen vermeintliche Übergriffe des Kölner Erzbischofs.189 Schließlich ist 1446 von den Rentmeistern festgestellt worden, dass auf der Ark zu Bayen, wo Richard wohne, eine Eisenkanone mit drei Kammern, eine bronzene190 Kanone mit drei Kammern, drei Bleibüchsen, vier Armbrüste mit Zubehör, drei Spanngürtel (spangurdell) und zwei festinstallierte Armbrüste (stoelpijlle) zur Verfügung stünden. Eine spätere Hand wohl um 1450 fügte hinzu: einen schurtzkreich. Die Ark hatte also einen eigenen Wächter und eine starke Bewaffnung, die bei Bedarf noch vermehrt werden konnte. Der Ark benachbart war eine Warte, die ebenfalls mit einer eisernen Kanone mit zwei Kammern und einer leichteren Kanone aus Kupfer oder eher aus Bronze, einem sogenannten vogeler, bestückt war. Nach der Warte kam das Bayentor, das allerdings selten benutzt wurde. Auf dem Torturm lagen drei bronzene Steinkanonen mit jeweils drei Kammern. Aus den Kanonen konnten also Steinkugeln geschossen werden. Dazu kamen zwei leichtere Kanonen, genannt vogeler, drei Bleibüchsen, sechs Armbrüste, vier Spanngürtel, fünf Fässer mit eisernen Ringen, je ein Schloss oben und unten an dem Tor, acht festinstallierte Armbrüste und von späterer Hand wohl um 1450 hinzugefügt: ein Bolzen und zwei schurtzkriege. Der Bayenturm und das entsprechende Tor 184 Ibid., S. 407 f.; vgl. Schmidtchen, Bombarden (Anm. 172), S. 114 ff. 185 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 212. 186 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 323 ff. Nr. 202,II 187 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 27; 1371 erhielt wohl derselbe Lohn, ibid., S. 63. 188 Ibid., S. 226; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIII, S. 26: 1376 Mitte Mai. 189 Vgl. Joseph Milz: Studien zur mittelalterlichen Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte der Abtei Deutz (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 30), Köln 1970, S. 228 f. 190 In der Quelle steht stets „kupfern“, jedoch ist eine Kanone aus reinem Kupfer nur schwer vorstellbar. Es wird sich um Bronzekanonen gehandelt haben.

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Abb. 1: Bayenturm mit Ark. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan (Colonia Agrippina anno Domini MDLXXI. exactissime descripta), 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

waren also gut bestückt. Zwischen dem Bayenturm und dem Severinstor sind weitere fünf Türme191 erwähnt, die bis auf den zweiten mit Kanonen und Bleibüchsen ausgestattet waren.

191 Die Quelle nennt die Türme rondeell oder rondeill. Sie erwähnt jedoch nach dem Severinstor noch keine Bottmühle, die als Windmühle hätte betrieben werden können. Vgl.

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Abb. 2: Severinstor mit St. Severin. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

Auf der Severinstorburg (Abb. 2) standen vier eiserne Kanonen mit je zwei Kammern, zwei bronzene kleinere Kanonen, sogenannte voegeler, drei Bleibüchsen, sechs Armbrüste und drei Haken zum Spannen der Armbrüste (span­ haeche), zwei Schlösser, sechs festinstallierte Armbrüste (stoelepijle) und von anderer Hand um 1450 hinzugefügt: zwei schuotzkrege. Nach dem Severinstor folgten mehrere Türme. Bis zur Windmühle an der Ulrepforte sind vier Türme, die es damals samt der Mühle schon gegeben haben muss, mit Kanonen und Bleibüchsen erwähnt. Der zweite Turm ist nicht belegt. Wohl um 1460 hat der städtische Beauftragte Reiner von Dalen192 festgehalten, dass die Stadt hinter den Kartäusern eine Warte angelegt und bestückt habe. Ob sie mit dem Windmühlenrondell identisch gewesen ist, ist auch anhand des Mercator-Plans von 1571 nicht mehr zu verifizieren. Allerdings müssen schon zu Beginn des

Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 197a Nr. a. Der Mercator-Plan von 1571 kennt sieben Türme und schon die Bottmühle, die zu den sieben Türmen zu zählen ist. 192 Vgl. Stein, Akten (Anm. 6) I, S. CLXXIV.

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Abb. 3: Weingärten der Kölner Kartause, oben die Ulrepforte mit Windmühle. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 (Wikimedia Commons, Public Domain).

16. Jahrhunderts die Ulrepforte und die dortige Windmühle samt dem Säulenumgang gebaut worden sein (Abb. 3).193 Von der Ulrepforte mit der Windmühle waren zwei Türme bis zum Pantaleonstor mit Kanonen und Bleibüchsen ausgerüstet. Es muss jedoch in dem Abschnitt mehr Türme gegeben haben, wie insbesondere der Mercator-Plan von allerdings 1571 beweisen kann (Abb. 4). Es werden nicht in allen Türmen 193  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 183b Nr. 6.

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Abb. 4: Die Türme entlang der Stadtmauer zwischen Ulrepforte und Pantaleonstor, ganz rechts oben das Bachtor. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

Waffen gelegen haben, so dass die Rentmeister sie in ihren Registern von 1446 und von 1468 übergehen konnten. Auf dem Pantaleonstorturm gab es zwei bronzene Kanonen mit je zwei Kammern, eine bronzene kleinere Kanone (voegeler), zwei Bleibüchsen, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und zwei festinstallierte Armbrüste (stolepijle). Da das Tor ohnehin nur für Fußgänger offen oder ganz gesperrt war, brauchte es keine so starke Bewaffnung wie die „offenen Tore“, die auch für Karren und Fuhrwerke zugänglich waren. Zwischen dem Pantaleons- und dem Bachtor stand nur ein Turm, in dem unten und oben Kanonen und Bleibüchsen lagen. Auf dem Bachtor und dem mit der Pforte verbundenen Turm wurden eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, zwei Bleibüchsen, eine kleinere Kanone, genannt voegeler, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und sieben alte und neue festinstallierte Armbrüste (stoelpijle) aufbewahrt. Das Bachtor war aber wohl schon im 15. Jahrhundert zugemauert, jedenfalls war es nicht mehr „offen“. Auch Fußgänger konnten wohl die Stadt durch die genannte Pforte nicht mehr betreten. Allerdings floss der Duffesbach durch das Tor. Angesichts des Zustands hatte dieser Torturm jedoch ein ausreichendes Waffenarsenal. In dem

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Abb. 5: Die Stadtmauer im Bereich des Weihertores. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

auf das Bachtor unmittelbar folgenden Turm und dem Turm bei der Weiherpforte wurden jeweils oben und unten Kanonen zur Verfügung gestellt. Ein Turm blieb aber von Waffen unbestückt. Auf dem Weihertor (Abb. 5) standen eine eiserne Kanone mit drei Kammern, zwei kleinere Kanonen, genannt voegeler, wobei eine etwas spätere Hand um 1450 zugefügt hat, dass zwei kleinere Kanonen oben und eine unten stünden. Dazu kamen aber sechs Armbrüste, fünf Bleibüchsen, drei Spannhaken und vier fest installierte Armbrüste (stoelepijle). Die Hand aus dem Jahr um 1450 hat wiederum hinzugefügt: zwei schurtzkrege. Das Weihertor scheint also mit Waffen gut ausgerüstet gewesen zu sein. Es folgten fünf Türme, die alle bis auf den dritten Turm mit Kanonen bestückt waren. Von dem zweiten Turm ist sogar das obere Stockwerk von dem unteren geschieden. Das Schafentor (Abb. 6) war ebenfalls nur noch für Fußgänger zugänglich, da es wohl schon im 15. Jahrhundert für den Verkehr mit Karren und Fuhrwerken gesperrt gewesen ist. Denn in den Stadtrechnungen wird zum Jahr 1370 von einem kleinen Tor (dorlin) davor gesprochen.194 Immerhin wurden auf dem Tor zwei bronzene Kanonen mit vier Kammern, zwei Eisenkanonen mit zwei Kammern, eine eiserne Bleibüchse, vier Armbrüste, zwei Spanngür194  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 12.

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Abb. 6: Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 mit (von links nach rechts) dem Schafen-, dem Hahnen- und dem Ehrentor (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

tel, drei Fässer mit eisernen Ringen, sieben Schlösser, drei festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), ein großes Fass und zwei geschliffene Schlösser aufbewahrt. Von einer Hand von ungefähr 1450 ist eine eiserne kamerbusse mit zwei Kammern und eine schurtzkrege hinzugefügt worden. Damit war das an sich relativ unbedeutende Stadttor gut zu verteidigen. Bis zum Hahnentor folgte nur noch ein Turm, der aber wieder mit mehreren Geschützen auf zwei Etagen ausgestattet war. Das Hahnentor (Abb. 6) war ein wichtiges Tor zur Außenwelt, vor allem in Richtung Aachen und Antwerpen, obwohl die in Aachen gewählten Könige die Stadt nicht durch das genannte Tor betreten haben, soweit wir es nachweisen können. Auf diesem Tor lagerte die Stadt eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, zwei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern, sechs Armbrüste, vier festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), drei Gürtel und haeche, wohl zum Spannen der Armbrüste, drei Schlösser und vier Bleibüchsen. Eine Hand um 1450 hat zugefügt: zwei schurtzkrege. Das Hahnentor wurde um 1450 durch zwei Bollwerke ergänzt, eines vor dem Hahnentor und ein sogenanntes „neues“ Bollwerk an beiden Seiten des Eingangs. Jedenfalls hat der schon genannte Beauftragte der Stadt, Reiner von Dalen, das „neue“ Bollwerk mit seiner Bewaffnung beschrieben. Wo es jedoch gelegen haben könnte, ist nicht

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genau bekannt.195 Der Mercator-Plan von 1571 gibt darüber keine Auskunft. Bei dem „neuen“ Bollwerk kann es sich eigentlich nur um eine Erweiterung des Tores über den Graben hinaus gehandelt haben.196 Dort waren in jedem Falle laut der Hand Reiners von Dalens um 1460 je eine Kanone an jeder Seite mit jeweils zwei Kammern aufgestellt. Zwischen dem Hahnen- und dem Ehrentor standen laut Mercator-Plan von 1571 zwei Türme, von denen jedoch nur einer ausgebaut war. Der ausgebaute Turm hatte zwei Etagen. In ihm standen drei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern, die jedoch nur Steinkugeln verschießen konnten, ferner zwei Lafetten mit zwei Kanonen mit jeweils drei Kammern, dazu zwei Bleibüchsen. Auf dem oberen Geschoss stand noch eine eiserne Kanone mit drei Kammern. Dann folgte das Ehrentor, das den Weg nach Kaster in das Jülichsche Land freigegeben hat und wie das Hahnentor eine Durchfahrt auch für Karren und Fuhrwerke gestattete. Auf dem Ehrentor lagerten drei bronzene Kanonen, die Steinkugeln verschießen konnten, mit jeweils zwei Kammern, eine bronzene kleinere Kanone, genannt voegeler, vier Bleibüchsen, sechs Armbrüste, vier Spanngürtel, vier festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), zehn Schlösser, zwei Bolzen und drei geschliffene Schlösser. Ferner hat eine Hand um 1450 zugefügt: zwei schurtzkrege. Auf den beiden folgenden Türmen bis zum Friesentor lagen eine bronzene Kanone mit zwei Kammern bzw. zwei bronzene Kanonen mit insgesamt fünf Kammern, eine kleinere Kanone, genannt voegeler, und zwei Bleibüchsen. Das Ehrentor konnte gut verteidigt werden. Das folgende Friesentor (Abb. 7) war wohl nur noch für Fußgänger geöffnet, dagegen nicht mehr für Karren oder Fuhrwerke. Auf ihm lagen eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern, eine bronzene kleinere Kanone, genannt voegeler, eine Bleibüchse, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel, vier festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), dazu Fußeisen (voess­ yseren), und zwar Eisen mit drei Widerhaken. Ferner hat eine Hand um 1450 zugefügt: einen schurtzkrege. Damit war das Friesentor deutlich weniger stark mit Abwehrwaffen als die sogenannten „offenen Tore“ bestückt worden. Es folgten laut dem Mercator-Plan von 1571 vier Türme bis zum nächsten Torbau. Das Register zählt jedoch nur drei Türme, auf denen jeweils unterschiedlich viele Kanonen standen, deren Kammern ausgewechselt werden konnten. Dazu traten Bleibüchsen, die teilweise auch um 1450 nachgetragen worden sind. Auf der Gereonspforte, die allerdings damals schon keine Rolle mehr spielte und wahrscheinlich auch, wie jedenfalls nachweislich einige Jahre später, zugemauert war, lagen zwei bronzene Kanonen, die Steine verschießen konnten, 195 Vgl. Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 424a Nr. 2. 196 Vgl. ibid., Sp. 409b Nr. 3 (oben).

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Abb. 7: Das Friesentor mit angrenzender Stadtmauer auf dem Mercator-Plan 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern. Sodann verfügte der Torturm über zwei kleinere Kanonen, genannt voegeler, zwei Bleibüchsen, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel, zehn fest installierte Armbrüste (stoelepijle), sieben Schlösser, zwei Bolzen, zwei Ringe und eine Kette. Mit der Kette konnte das Tor endgültig verschlossen werden. Möglicherweise wurde sie auch zur Sperrung von Straßen vorrätig gehalten.197 Nach dem Mercator-Plan von 1571 folgten vier Türme. In der Quelle von 1446 sind aber nur drei erwähnt. Zwei von ihnen sind mit Kanonen und auch Bleibüchsen bewehrt gewesen. Wenigstens ein Turm scheint zwei Geschosse gehabt zu haben. Der letzte Turm zur Windmühle hin hieß Russenberg.198 Dieser Turm verfügte über einen eigenen Ausgang und wurde bewacht.199 Auf dem Russenberg oder, wie er auch genannt wurde, Ruschenberg, standen eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, eine kleinere Kanone, genannt voegeler,

197 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 279 f. 198 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 255b Nr. 9; vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 67. 199 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 316 (1378).

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zwei Bleibüchsen, zwei Armbrüste, zwei Spanngürtel und eine fest angebrachte Armbrust (stoelpijle). Nach dem Russenberg oder Ruschenberg kam die Windmühle, die 1446 bereits bestanden hat und auch mahlte. Allerdings kann sie nicht zu Beginn des Baus von Windmühlen in der Stadt vorhanden gewesen sein, weil die erste Windmühle 1392 auf dem Neumarkt errichtet worden ist.200 Immerhin war die Windmühle, die auch auf dem Mercator-Plan von 1571 eingezeichnet ist (Abb. 8), ein stattlicheres Bauwerk als die übrigen Türme, verfügte aber über keinen Durchlass nach außerhalb der Stadt. Auf der Windmühle befanden sich zwei eiserne Kanonen mit je zwei Kammern und eine Bleibüchse. Es folgten bis zum Eigelstein sieben Türme, die auch noch auf dem Mercator-Plan zu identifizieren sind. Nicht auf allen von ihnen standen Kanonen mit zwei oder auch drei Kammern, kleinere Kanonen oder Bleibüchsen. Der Eigelstein oder der Eigelsteintorturm (Abb. 9) gehörte zu den wichtigsten Pforten der Stadt und bewachte die Straße nach Neuss. Auf ihm lagerte die Stadt zwei bronzene Kanonen, die Steinkugeln verschießen konnten, mit jeweils zwei Kammern, vier Bleibüchsen, sechs Armbrüste, drei Spanngürtel, sechs festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), drei Ringe und zwei Schlösser. Eine spätere Hand um das Jahr 1450 fügte hinzu: zwei schurtzkrege. Für eines der Haupttore der Stadt war der Eigelstein allerdings nur bedingt bewehrt. Man hätte auf ihm mehr Kriegsgerät vermutet. Es folgten zwei Türme zum Rhein hin, die jeweils mit Kanonen ausgestattet waren. Der zweite Turm hatte überdies zwei Etagen und unten zwei Brüstungen, so dass der Graben zu beiden Seiten bestrichen werden konnte. Allerdings sollten eigentlich drei Türme folgen. Zumindest einer von ihnen war also unbewehrt. Sodann kam das Judenwichus. Es lag gegenüber der Straße „Unter Kah­len­ hausen“.201 Wieso der Turm damals noch den Namen Judenwichus getragen hat, ist bislang ungeklärt. Da in Köln mit Wichus ein festes Haus bezeichnet wurde, ist es möglich, dass der Turm, der einen Durchlass für Fußgänger enthielt, Juden oder der jüdischen Gemeinde in Köln zunächst zur Bewachung überlassen worden war oder dass er nach der älteren Judenpforte benannt worden ist. Aber das alles bleibt im Dunkeln der Geschichte. Wenn man dem Mercator-Plan von 1571 trauen darf, folgten bis zum Kunibertsturm noch zwei Türme, von denen aber nur der am Judenwichus gelegene Turm im unteren Stockwerk zwei Kanonen und andere Schusswaffen, im oberen Stockwerk noch eine Kanone hatte. 200 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIII, S. 729; XIV, S. 79 f. 201 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 284a Nr. 2.

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Abb. 8: Stadtmauer zwischen Gereonstor und Eigelstein, in der Bildmitte die Windmühle. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

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Abb. 9: Der Eigelstein auf dem Mercator-Plan von 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

Die folgende Kunibertspforte stand am Rhein und schloss die Mauer zur Feldseite hin ab (Abb. 10). Der eigentliche Turm hatte einen Durchlass wohl auch für Fuhrwerke, stand aber hinsichtlich seiner wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Bedeutung hinter dem Eigelstein zurück. Er war in der Hauptsache zuständig für die Kontrolle des Treidelverkehrs der Schiffe rheinaufwärts. Er bezog seine Funktion vor allem aus dem Schutz, den er der Stadt gegenüber dem Rheinufer als Wehrturm gewährte. Auf ihm lagen eine bronzene und eine eiserne Kanone mit insgesamt vier Kammern, acht Armbrüste, vier Spanngürtel, vier festinstallierte Armbrüste (stoelepijle), acht Schlösser, ein Fass mit zwei Schlössern, drei mit Metallringen versehene Fässer, fünf Bolzen und ein mit Metallringen gefülltes Fass mit einer langen Kette. Eine Hand um 1450 fügte hinzu: zwei schurtzkrege und zwei Salzbehälter zum Vermessen. Die Kunibertspforte war ähnlich wie der Bayenturm im Süden durch eine sogenannte Ark verstärkt, die in den Rhein hinein gebaut war. Sie wurde auch Weckschnapp genannt. Auf ihr befanden sich eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils drei Kammern.

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Abb. 10: Die Stadtmauer im Bereich der Kunibertspforte mit den Türmen in Richtung Eigelstein, der Ark sowie dem Rundturm vor dem eigentlichen Tor. Ausschnitt aus dem Mercator-Plan von 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

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Vor der Kunibertspforte war ein Turm errichtet worden, genannt der nuwe ronde thorn. Auf ihm lagerten lediglich zwei Bleibüchsen (loetboessen). Der runde Turm wurde wohl am ersten Graben gebaut, soweit der Mercator-Plan von 1571 (Abb. 10) eine Aussage erlaubt. Der Turm könnte aber auch weiter rheinabwärts am kleinen äußeren Graben errichtet worden sein.202 Wie dem auch sei, die beiden Türme am Rheinufer, der Bayen- wie der Kunibertsturm, waren schon früh die am stärksten befestigten Verteidigungswerke zur Feldseite hin. Das Rheinufer war bereits frühzeitig durch eine Mauer von einer Anlegestelle und dem Fluss selbst getrennt. Wie sich die Kölner gegen Überfälle vom Rhein aus geschützt haben, ist genauer erst durch die Niederschrift der Bewaffnung der Verteidigungsanlagen von 1446 zu ermitteln. Danach wurden erst wieder im Stadtteil Niederich am Alten Ufer im Haus Everstein Waffen hinterlegt, nämlich eine bronzene Kanone, aus der Steinkugeln abgefeuert werden konnten und die zwei Kammern hatte, zwei Bleibüchsen, zwei Armbrüste, zwei Gürtel, wohl zum Spannen der Armbrüste, und eine festinstallierte Armbrust (stoell­pijle). Dazu hat eine Hand um 1450 statt der bronzenen Kanone mit Steinkugeln zugefügt: drei eiserne Kanonen mit insgesamt sechs Kammern. Das Haus Everstein wurde wenigstens im 16. Jahrhundert Wichus genannt.203 Dazu gehörte auch die Blümchenspforte zum Rhein hin, die allerdings zumindest Ende des 15. Jahrhunderts oder zu Beginn des 16. Jahrhunderts zugemauert wurde. Als nächstes Befestigungswerk am Rheinufer folgte das Haus up Erbach. Dabei handelte es sich wohl nicht um den Erbacher Hof, sondern um die Servatius- oder Mönchspforte an der Befestigungslinie am Rhein. Dieses Haus lag auf der Rheinmauer und bewahrte eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern und zwei Bleibüchsen auf. Dazu hat Reiner von Dalen um 1460 notiert: auf der unteren Etage abermals zwei eiserne Kanonen mit insgesamt vier Kammern. Dieses Haus wurde auch als Wichus bezeichnet.204 Das Kloster Eberbach im Rheingau hatte am Ende des 13. Jahrhunderts, nämlich 1292, die Servatiuspforte erworben und damit einen direkten Zugang zum Rhein und zu dem auf ihm transportierten Wein gefunden.205 Jedoch behielt sich der städtische Rat damals das Recht der Verteidigung des Tores vor. Am

202 Vgl. ibid., Bd. 2, Sp. 284a Nr. 7. 203 Ibid., Sp. 74a Nr. 2; Das Buch Weinsberg, bearb. von Konstantin Höhlbaum, Friedrich Lau u. Josef Stein, 5 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 3, 4, 16), Leipzig 1886–1887/Bonn 1897–1926, hier Bd. IV, S. 251. 204  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 74b Nr. 4; Buch Weinsberg (Anm. 203) IV, S. 260. 205  Gerd Steinwascher: Die Zisterzienserstadthöfe in Köln, Bergisch Gladbach 1981, S. 23 f., 99 ff.

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Abb. 11: Das Trankgassentor und links daneben der Frankenturm auf dem Mercator-Plan von 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

Ende des 15. oder zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde das Tor allerdings zugemauert, als das Kloster Köln wegen des Verkaufs von Wein verlassen hatte. Sodann folgte das Trankgassentor bzw. das Haus, das mit dem Tor verbunden war. Das Tor blieb „offen“ und ermöglichte den Zugang zum Rheinufer (Abb. 11). Das weiter nördlich gelegene Wallmannsgassentor gegenüber der Kostgasse blieb zwar auch zugänglich, hatte aber keine eigenen Befestigungen, wie auch die Darstellung Woensams von 1531 und der Mercator-Plan von 1571 zeigen. Auf dem Trankgassentor lagen eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, zwei Bleibüchsen, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und drei festinstallierte Armbrüste (stoelepijle). Dazu hat eine Hand um 1450 bemerkt, dass dort noch zwei schurtzkrege aufbewahrt würden. Der folgende Zusatz von derselben Hand um 1450 ist falsch eingeordnet worden. Er gehört in die übernächste Rubrik, nämlich zu den Befestigungsanlagen an der Neugasse. Als nächstes wird der mächtige Frankenturm erwähnt (Abb. 11). Er hatte zum Rhein hin drei Skulpturen aufzuweisen, deren Identifizierung allerdings Schwierigkeiten bereitet, weil die Figuren bereits im 19. Jahrhundert so stark

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verwittert waren, dass nicht mehr angegeben werden konnte, um wen es sich gehandelt haben könnte. Dass die Heiligen Drei Könige gemeint gewesen sein könnten, ist eine ansprechende Vermutung, die jedoch nicht mehr eindeutig verifiziert werden kann.206 Immerhin ist zugunsten der geäußerten These anzuführen, dass der Turm seinen Beinamen turris trium regium den Heiligen Drei Königen zu verdanken hat. Ob daraus allerdings auf den Figurenschmuck im 15. Jahrhundert zurückzuschließen ist, bleibt offen. Der Frankenturm hatte ursprünglich auch ein Tor, das aber schon lange Zeit vor dem 14. Jahrhundert zugemauert und zugunsten des Trankgassentores aufgegeben worden war. Immerhin hat der Kölner Rat auf dem genannten Turm zwei Bleibüchsen, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und eine festinstallierte Armbrust (stoellpijle) gelagert. Eine Hand von um 1450 fügte hinzu: zwei neue Hakenbüchsen oder Handbüchsen und einen schurtzkrege. Der Frankenturm war also keineswegs sonderlich mit Waffen versehen worden. Der Burggraf diente der Stadt in einem anderen Zusammenhang.207 Seit dem 14. Jahrhundert ist der Turm immer wieder als Gefängnis erwähnt worden, in dem Gefangene einsaßen, die dann dem Hohen weltlichen Gericht zugeführt werden sollten. Das anschließende Schorlingsgassentor hatte keine eigene Befestigung, wie die Ansicht Woensams und auch der Mercator-Plan ergeben. Wir gehen über zum nächsten Tor am Rheinufer. An der Neugasse lag die nächste Befestigungsanlage. In der Vorlage steht zwar up der Nuwergassen, gemeint ist aber das Neugassentor. Auf diesem Tor lagerte die Stadt zwei Bleibüchsen, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und zwei festinstallierte Armbrüste (stoellpijle). Eine Hand um 1450 hat hinzugefügt: zwei schurtzkrege. Sodann hat Reiner van Dalen um 1460 zwischen Trankgassentor und Frankenturm hinzugeschrieben: In dem thoirngijn bij der Nuwergassen: in der unteren Etage eine eiserne Kanone mit zwei Kammern und in der oberen eine kleine Kanone, aus der mit Steinkugeln geschossen werden konnte. Was mit dem „Türmchen“ [thoirngijn] gemeint sein könnte, ist nicht ganz klar. Auf dem Mercator-Plan von 1571 ist zwar ein Turm nördlich der Neugassenpforte zu erkennen, ob er jedoch damit angedeutet sein könnte, bleibt ungewiss. Trotzdem hatte die Neugassenpforte oder das Neugassentor eine besondere Funktion, da vor ihr in der Regel ein schwimmender Kran oder auch zwei die Löschung der Ladung vor allem der Schiffe von Norden den Rhein aufwärts oder das Beladen dieser Schiffe erleichtern sollten, die dann den Strom abwärts segelten.208 206  Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 148 f.; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 121a–b Nr. 1. 207 S. oben, S. 15. 208  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 109a; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. LX; Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 59 Nr. 52; S. 105 f. Nr. 82,I; S. 262 ff. Nr. 152.

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Abb. 12: Ansicht der Stadtmauer auf der Rheinseite vom Trankgassentor (ganz rechts) bis St. Maria Lyskirchen (ganz links). Mercator-Plan von 1571 (Digitalisat der Universitätsund Stadtbibliothek Köln)

Das Fleischhaus an der Mauthgasse war die nächste größere Befestigung mit einer Bewaffnung. Unmittelbar nördlich davon lag die Mühlengassenpforte. Das Fleischhaus am Rheinufer war seit 1437 der alleinige Hof für die Schlachtung.209 Es bestand aber schon länger, mindestens seit 1360210, und diente wenigstens im 15. Jahrhundert auch der städtischen Verteidigung. Deshalb waren dort Waffen gelagert, und zwar eine eiserne Kanone mit drei Kammern, eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, zwei Bleibüchsen, eine kleinere Kanone, genannt voegeler, drei Armbrüste, zwei Spanngürtel und zwei festinstallierte Armbrüste (stoellpijle). Dazu hat die Hand um 1450 zugefügt: einen schurtzkrege. Damit hatte das Fleisch- oder Schlachthaus eine besondere Rolle

209 Loesch, Zunfturkunden (Anm. 154) II, S. 140 Nr. 356; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 174 Nr. 1437,26; Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit Bd. 6: Reichsstädte 2: Köln, hg. von Klaus Militzer, 2 Bde. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte – Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 191), Frankfurt am Main 2005, hier I, S. 140 Nr. 453. 210 Quellen (Anm. 3) IV, S. 464 f. Nr. 415; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 136a Nr. 2.

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in der Verteidigung der Stadt gegen Angreifer vom Rhein oder vom jenseitigen Rheinufer aus erhalten. Anschließend kam schon sehr bald das Haus der Fischmengergaffel an der Hafengasse hinzu, nicht weit von dem Fleischhaus entfernt. Neben dem Gaffelhaus befand sich die wichtige Salzgassenpforte, auf der ein Einnehmer der Weineinfuhrakzise saß. Das Gaffelhaus selbst haben die Fischmenger erst 1422 erworben.211 Allerdings spielte es, obwohl es inzwischen im Besitz der Gaffel und damit halb offiziell war, laut der Aufzeichnung von 1446 keine wesentliche Rolle in der Verteidigungsstrategie der Stadt. Auf dem Haus lagen nur vier Bleibüchsen, mit denen an sich nicht viel auszurichten war. Danach kamen die Baulichkeiten des Hauskrans gegenüber der Hafengasse. Er stand direkt am Rheinufer, war aber im Gegensatz zu den schwimmenden Kränen fest am Ufer verankert und stand gegenüber der Markmannsgasse und dem Markmannsgassentor. Später wurde die Gasse in Friedrich-WilhelmStraße umbenannt. Dieser Kran diente vor allem der Entladung von Schiffen von oberhalb Kölns und zur Beladung von Schiffen unterhalb der Stadt.212 Aber der Hauskran war wegen seiner festen Installation auf dem Ufer auch als vorgeschobener Posten für die Verteidigung der Stadt bedeutsam. Denn auf ihm lagerte die Stadt drei Bleibüchsen, zwei bronzene Kanonen mit insgesamt fünf Kammern und eine eiserne mit drei Kammern, zwei Armbrüste mit Zubehör und zwei fest installierte Armbrüste (stoelenpijle). Ob mit dem vorhandenen Gerät allerdings das jenseitige Ufer erreicht werden konnte, mag zweifelhaft und unentschieden bleiben. Immerhin konnten mit diesen Geräten etwaige Angriffe auf Booten abgewehrt werden. Sodann wandten sich die Rentmeister der Rheingasse zu. Dort befanden sich zwei Tore, die große und die kleine Rheingassenpforte. Laut dem MercatorPlan von 1571 und auch der Woensamansicht von 1531 ist eher mit der großen Rheingassenpforte zu rechnen.213 Dieses Tor an der Rheinseite war besonders gut bewacht. Auf ihm lagerten zwei eiserne Kanonen mit insgesamt fünf Kammern, eine bronzene Kanone mit drei Kammern, eine Kiste mit zwei kleineren Kanonen, genannt voegeler, und zwei Bleibüchsen mit Zubehör. Dazu hat eine Hand von um 1450 zugefügt: eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, und um 1460 Reiner van Dalen: eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern. Ferner hat derselbe Reiner von Dalen eingefügt: im Kornhaus unten eine eiserne Kanone mit zwei Kammern. Dieses Kornhaus lag am Rheinberg, nicht weit von der großen oder kleinen Rheingassenpforte entfernt, 211  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 122b Nr. 10. 212 Vgl. Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 262 ff. Nr. 152; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. LIX ff.; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 13b. 213  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 65a-b Nr. 8.

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direkt an der Mauer. Es ist 1439 Eberhard Hardevust abgekauft, neu gebaut und spätestens 1443 fertiggestellt worden. In ihm scheint die Stadt tatsächlich Korn aufgeschüttet zu haben, das sie dann in Notzeiten ausgeben konnte.214 Das Haus diente nach 1450 auch der Stadtverteidigung, wie die Lagerung von Kanonen beweist. Zwischen den Toren des Filzengrabens und Lyskirchens lag ein Turm, in dem die Stadt Waffen gelagert hatte.215 Er kontrollierte also beide Tore. In dem Turm lagen eine eiserne Kanone mit drei Kammern, eine bronzene Kanone mit zwei Kammern und zwei Bleibüchsen. Reiner von Dalen hat um 1460 zugefügt: eine eiserne Kanone mit zwei Kammern. Von dem Turm aus konnte man die beiden Tore bestreichen und etwaige Angreifer zusammenschießen oder vertreiben. Der sogenannte Hitzgassenturm war die Befestigung des Hitzgassentores. Die Hitzgasse ist heute die Kleine Witschgasse und hatte damals ein Tor zum Rheinufer hin.216 Der Turm bei der Kleinen Witschgasse lag südlich des Tores217 und ist sowohl auf der Woensamansicht von 1531 wie auch auf dem Mercator-Plan von 1571 zu erkennen. Auf dem Tor hatte die Stadt zwei Bleibüchsen, zwei Armbrüste, zwei fest installierte Armbrüste (stoelepijle) und zwei Spanngürtel und auf der oberen Etage des benachbarten Turms eine eiserne Kanone mit zwei Kammern, eine kleine Kanone, genannt voegeler, sowie in der unteren Etage eine bronzene Kanone mit drei Kammern und eine Kiste mit Geräten gelagert. Reiner von Dalen hat um 1460 hinzugefügt: noch zwei bronzene Kanonen mit je zwei Kammern. Sie lagen offenbar in der unteren Etage. Der Turm gegenüber der Klappergasse und die Befestigung der Neckelskaule, der Nächelsgasse, können zusammengefasst werden, da beide nah beieinanderlagen. Die Befestigung an der Neckelskaule bewachte außerdem ein kleineres Tor zum Rheinufer hin, die Nächelspforte. Beide Befestigungswerke, sowohl die an der Neckelskaule als auch die an der Klappergasse, sind in der Woensamansicht von 1531 und im Mercator-Plan von 1571 zu erkennen. Im Turm an der Klappergasse lag eine eiserne Kanone mit drei Kammern. Reiner van Dalen fügte um 1460 hinzu: eine eiserne und eine bronzene Kanone mit 214 Jakob Lindlar: Die Lebensmittelpolitik der Stadt Köln im Mittelalter, Diss. Münster 1914, S. 10 (allerdings mit irrigen Daten); Franz Irsigler: Getreidepreise, Getreidehandel und städtische Versorgungspolitik in Köln vornehmlich im 15. und 16. Jahrhundert, in: Werner Besch u. a. (Hg.): Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen, Bonn 1972, S. 571–608, hier S. 589; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 64b–65a Nr. 4. 215 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 26a–b Nr. 1–4. 216 Ibid., Sp. 25a Nr. 4. 217 Ibid., Sp. 25a Nr. 5.

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jeweils zwei Kammern, eine Bleibüchse und oben auf dem Turm eine bronzene Kanone mit zwei Kammern. Der Turm an der Klappergasse wurde also erst nach 1446 aufgerüstet. Auf der Neckelskaule befanden sich eine bronzene Kanone mit drei Kammern, eine bronzene Kanone, mit der Steinkugeln verschossen werden konnten, mit zwei Kammern und in der zweiten Etage oder auf dem Dach eine eiserne Kanone, mit der Steinkugeln verschossen werden konnten, zwei Bleibüchsen (loetboessen) und eine festinstallierte Armbrust (stoellpijle). Reiner von Dalen fügte um 1460 hinzu: zwei eiserne Kanonen, mit denen man Steinkugeln verschießen konnte, mit jeweils zwei Kammern. Ferner hat er vermerkt, dass die zweite bronzene Kanone wohl nach Bayen verlegt worden sei. Im Gegensatz zum Turm gegenüber der Klappergasse war die Befestigung an der Neckelskaule 1446 bereits gut gerüstet. Die Verteidigungsanlage Vollenhoe wurde auch Klackroysenturm genannt218 und lag an der Bayenstraße. Ob dort damals schon ein Tor vorhanden war, muss ungeklärt bleiben. Allerdings haben sowohl der Woensamprospekt von 1531 wie auch der Mercator-Plan von 1571 kleinere Durchlässe eingezeichnet. Auf der Befestigung lagen zwei Bleibüchsen und eine fest installierte Armbrust (stoellpijle). Mattias Kran von Dülken hat um 1460 zugefügt:219 zwei Armbrüste, zwei Spanngürtel und ein schurtzhaich. Damit gehörte diese Befestigungsanlage auch nach der erneuten Aufrüstung von um 1450 zu den weniger gut bestückten Türmen an der Mauer zum Rheinufer hin. Nicht weit von dem Turm über dem Tor Kalckroysen oder der Befestigung Vollenhoe lag die „Neue Warte“ an der Bayenstraße nahe am Bleipförtchen. Die Neue Warte scheint tatsächlich erst im 15. Jahrhundert gebaut worden zu sein. Jedenfalls ist sie vorher nicht, jedenfalls nicht mit Sicherheit zu ermitteln.220 Die Neue Warte wurde mit zwei Bleibüchsen, drei Armbrüsten, einer festinstallierten Armbrust (stoellpijle) und einem Spanngürtel bestückt. Hinzu kamen laut Matthias Kran von Dülken um 1460 zwei Armbrüste. Die Befestigung ist also nicht gut ausgerüstet gewesen. Zum Schluss erreichten die Rentmeister den Hof Brempt an der Bayenstraße bei der Mühlenpforte.221 Der Hof war zum Teil über die Rheinufermauer gebaut worden. Er wurde daher in die Befestigung der Stadt einbezogen. Auf ihm lagen drei Bleibüchsen, eine kleine Kanone, mit der Steinkugeln verschossen werden konnten, mit vier Kammern, zwei Armbrüste, drei Spanngürtel

218 Ibid., Sp. 177b Nr. 1. 219 Vgl. Stein, Akten (Anm. 6) I, S. CLXXI. 220  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 177b Nr. 5. 221 Vgl. ibid., Sp. 178a Nr. 10. Der Woensamprospekt von 1531 und der Mercator-Plan von 1571 decken sich in diesem Fall nicht ganz.

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Abb. 13: Die Befestigungen auf der Rheinseite von St. Maria Lyskirchen (ganz rechts) bis zum Bayenturm (links) auf dem Mercator-Plan von 1571 (Digitalisat der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln).

und eine festinstallierte Armbrust (stoelepijle). Auch er ist kaum befestigt worden. Zum Jahr 1468 ist eine weitere Liste der mit Waffen versehenen Türme und Tore erhalten.222 Das Register enthält auch spätere Zusätze und Änderungen, die aber meistens Angaben zu Beilen enthalten, die auf den Verteidigungsanlagen gebraucht worden sind, aber wohl nicht zu Kampfzwecken dort hinterlegt wurden. Ferner sind Rasuren und Überschreibungen zu bemerken, die in vielen Fällen eine Angabe gemäß dem älteren Register richtigstellten. Auf sie können wir verzichten. Wichtiger ist der zu beobachtende Fortschritt in der Verteidigung der Befestigungswerke. Ohne im Einzelnen darauf einzugehen, sei hervorgehoben, dass auf vielen Anlagen zusätzliche „Schlangen“ aufgestellt worden sind. Gemeint sind damit kleinere Kanonen, die sowohl aus Eisen wie aus Bronze bestehen konnten. Dazu kamen gelegentlich schelme mit jeweils einem haich223 oder Haken. Was damit gemeint sein könnte, ist unklar. Wahrscheinlich wurden damit besondere Hakenbüchsen oder kleinere Kanonen mit Haken zum Auffangen des Rückstoßes durch die Mauer gemeint. Dazu sind fast alle Bleibüchsen durch Hakenbüchsen ersetzt worden. Im Folgenden sollen nur die Anlagen, die verändert worden sind, näher beleuchtet werden. An erster Stelle sind der Bayenturm samt der Warte und die Ark zu nennen. Letztere wurde zu einem runden Turm ausgebaut und erhielt eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern. Ferner war die Ark durch einen Gang mit dem Bayenturm verbunden. Auf dem Gang hatte die Stadt eine „Schlange“ und eine bronzene Kanone mit jeweils zwei Kammern gelagert. Die Ark selbst erhielt in der obersten Etage eine bronzene Kanone mit drei Kammern, drei Hakenbüchsen, vier Armbrüste, vier Spanngürtel, einen schurtz­krieghe und zwei festinstallierte Armbrüste (stoilepijle). Eine spätere 222 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 438 ff. Nr. 284,II. 223 Ibid., S. 759 übersetzt schelm mit einem „Kriegsgerät“; ibid., S. 743 haich oder hegghe mit „Haken“. Es handelt sich bei dem schelm wahrscheinlich um eine kleine Kanone.

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Hand hat zugefügt: ein Beil. Die Warte außerhalb des Bayenturms hatte nur noch eine eiserne Kanone. Der sogenannte voegeler fehlt im Register von 1468. Der Bayenturm selbst war mit einer „Schlange“ mit zwei Kammern und einem schelm mit einem Haken bewehrt, dazu mit den übrigen schon genannten Waffen. Der Turm nächst dem Bayenturm war deutlich stärker bestückt, nämlich statt mit nur einer eisernen Kanone mit drei Kammern mit zwei bronzenen und einer eisernen Kanone mit je zwei Kammern und oben auf dem Turm mit einer eisernen Kanone mit zwei Kammern und zwei Hakenbüchsen. Der zweite Turm war nach einem Zusatz auch bewaffnet. Der vierte Turm hatte dagegen nach dem Register von 1468 wohl keine Bewaffnung. Dagegen waren der fünfte und sechste Turm wieder stärker als 1446 ausgerüstet, wobei der sechste Turm im Register von 1446 fehlt. Nach einer chronikalischen Nachricht ließ der Rat 1474 ein Bollwerk vor dem Bayenturm errichten.224 Das Severinstor hatte zusätzlich zu der Bewaffnung von 1446 noch einen schelm mit Widerhaken und zwei reitzbanck225, wobei unklar ist, was mit den letzteren gemeint sein könnte. Vielleicht hat der Autor eine Art Lafette vor Augen gehabt. Eine spätere Hand hat noch ein Beil zugefügt, das aber die Wehrhaftigkeit des Tores nicht nachhaltig gesteigert haben wird. Hinzu kamen sechs Türme, die 1468 bis auf den vierten mit Waffen ausgerüstet waren. Ein Jahr später kam ein Bollwerk zum Schutz des Tores hinzu, das mindestens 1476 schon bestanden hat.226 Dann kam der Turm mit der Windmühle, die im Wesentlichen die Bewaffnung wie 1446 zeigte. Geändert hatten sich die Waffen der „Neuen Warte“ bei der Windmühle hinter den Kartäusern. Was mit der „Neuen Warte“ gemeint sein könnte, bleibt auch in dem neuen Dokument dunkel, da auch der Mercator-Plan von 1571 keine weiteren Anhaltspunkte liefert. In dem Register von 1446 hatte Reiner von Dalen um 1460 einen Zusatz angebracht, so dass die „Neue Warte“ erst nach 1446 errichtet worden sein kann. Die Bewaffnung dieser Warte ist denn auch 1468 unterschiedlich zu dem vorhergehenden von Reiner von Dalen notierten Zustand gehandhabt worden. Auf ihr lagen 1468 eine bronzene Kanone mit drei Kammern, zwei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern und zwei Hakenbüchsen. Auf der obersten Etage der Warte befanden sich eine eiserne Kanone mit zwei Kammern, zwei Armbrüste, ein schurtzkriegh und eine festinstallierte Armbrust (stoilepijle) und zusätzlich nach einem Zusatz eine Hakenbüchse. Von den fünf folgenden Türmen bis zum Pantaleonstor sind der dritte und der vierte ungefähr so wie 1446 bewehrt 224 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 830. 225 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 755, nennt das Gerät nur „Kriegsgerät“. Es handelt sich aber wahrscheinlich um eine Art von Lafette. 226 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 823, 843.

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gewesen. Der erste Turm nach der Windmühle ist als Zusatz von etwa gleichzeitiger Hand falsch eingeordnet worden, war aber mit drei eisernen Kanonen mit je zwei Kammern und zwei Hakenbüchsen bewehrt. Die Bewaffnung des Pantaleonstorturms unterschied sich von der Liste von 1446, denn man vermerkte nun zwei Etagen des Turms. Unten standen zwei bronzene Kanonen mit je zwei Kammern und drei Hakenbüchsen mit hölzernen Gestellen, wohl eine Art von Lafetten. Oben waren eine bronzene Kanone mit zwei Kammern, vier Armbrüste, zwei Spanngürtel und zwei festinstallierte Armbrüste (stoilepyle). Dazu wurde von einer etwas späteren Hand vermerkt: einen schelme. Der Turm zwischen dem Pantaleons- und dem Bachtor hatte ebenfalls zwei Etagen. Unten befanden sich zwei eiserne Kanonen mit je zwei Kammern, zwei Hakenbüchsen und der schon 1446 genannte vogeler, allerdings als späterer Zusatz. Oben waren eine bronzene Kanone mit zwei Kammern und eine Hakenbüchse. Die Bewaffnung des Bachtores blieb im Wesentlichen gleich. Nicht mehr aufgeführt wurde der voegeler, stattdessen ein schelm mit Haken und eine reitz­banck. Es folgen drei Türme bis zum Weihertor, soweit der Mercator-Plan von 1571 Auskunft gibt. Allerdings sind laut dem Register von 1468 vier Türme angegeben, die außerdem nicht in der rechten Reihenfolge aufgeführt sind. Jedenfalls waren alle vier Türme mit Waffen versehen. Das Weihertor wurde ebenfalls mit zwei Etagen angegeben, wie die Zusätze von um 1450 belegen. Das aber wird schon vorher gegolten haben. Im Register von 1468 ist von dieser Zweiteilung keine Rede mehr. Hinzu gekommen waren ein schelm mit seinem Haken und als Zusätze späterer Hände eine bronzene „Schlange“ mit zwei Kammern sowie ein Beil. Von den fünf Türmen bis zum Hahnentor sind der erste 1468 überhaupt nicht und der dritte Turm als nicht bewaffnet aufgeführt. Auf den anderen Türmen lagen Waffen. Das Schafentor war ungefähr wie auch schon 1446 bestückt. 1468 kamen neben anderen kleineren Zusätzen drei Bolzen und ein schelm hinzu. Im Turm zwischen dem Schafen- und dem Hahnentor blieb die Bewaffnung ungefähr gleich. Das Hahnentor erfuhr allerdings eine Änderung zwischen 1446 und 1468. Das Bollwerk und das „neue“ Bollwerk wurden in dem Register zusammengezogen. Auf der rechten wie der linken Seite unten standen jeweils drei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern und am Aufgang, also oben jeweils rechts und links, zwei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern. Eine andere Hand hat hinzugefügt: eyne bijle. Das habe ich seinerzeit als Blide gedeutet.227 Aber ob man das weiterhin tun darf, ist mir zweifelhaft geworden. Walther Stein 227 Militzer, Wahrzeichen (Anm. 37), S. 15.

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übersetzt mit „Beil“.228 Das scheint nach der Schreibung auch zutreffender zu sein. Was aber hat ein Beil in der Bewaffnung der Türme und Tore zu suchen? Es könnte nur zum Zerkleinern von Holz gebraucht worden sein. Jedenfalls hat es die Wehrhaftigkeit des Hahnentores nicht nachhaltig gesteigert, wie dies auch sonst bereits festgestellt worden ist. Dessen Bewaffnung selbst hat im Übrigen auch kaum Veränderungen erfahren. An die Stelle der beiden bronzenen Kanonen sind zwei bronzene „Schlangen“ mit ebenfalls je zwei Kammern getreten. Hinzu gekommen sind eine reitzbanck und als Zusatz zwei schelme. Man kann also kaum sagen, dass die Bewaffnung der Hahnentorburg verstärkt worden ist. Von den beiden Türmen zwischen dem Hahnen- und dem Ehrentor ist wiederum nur einer bewaffnet und dieser ist wie schon vorher doppelstöckig gewesen. Die Ehrentorburg war wie schon 1446 bewaffnet. An die Stelle des bronzenen voegeler war eine kleine bronzene „Schlange“ mit zwei Kammern getreten. Dazu kamen ein schelm und eine reitzbanck. Bemerkenswert ist noch, dass in diesem Fall die beiden Bleibüchsen beibehalten worden sind. Die Bewaffnung der beiden folgenden Türme blieb im Wesentlichen gleich der von 1446. Die Bewaffnung der Friesentorburg glich der von 1446, außer dass sie vielleicht etwas stärker bestückt war. Sie hatte ferner einen schelm mit zugehörigen Haken und eine reitzbanck. Bis zum Gereonstor gab es vier Türme, von denen der erste bei dem Friesentor in beiden Registern nicht erwähnt ist. Die anderen Türme glichen sich in der Bewaffnung an, wobei der zweite Turm als doppelstöckig angegeben ist. Das Gereonstor hatte wohl eine vergleichbare Bewaffnung wie schon 1446 behalten. Die folgenden Türme einschließlich des Windmühlenturms bis zum Eigelstein wiesen eine ähnliche Bewaffnung wie 1446 auf. In beiden Registern von 1446 und 1468 fehlen der erste Turm nach dem Gereonstor und der achte und neunte oder der dritte und vierte nach dem Windmühlenturm mit eigenen, dort gelagerten Waffen. Auf dem Eigelstein wurden die beiden bronzenen Kanonen durch neue bronzene „Schlangen“ ersetzt. Hinzu kamen zwei voegeler und zusätzliches Schießgerät wie zwei schelme mit Haken und ein Beil, das aber wohl eher der Versorgung des Wachpersonals gedient haben dürfte. 1474 ließ der Rat den Eigelstein durch ein Bollwerk schützen.229 Nach dem Mercator-Plan von 1571 standen zwischen dem Eigelstein und dem Kunibertsturm sechs Türme. Allerdings sind sowohl 1446 als auch 1468 nur vier Befestigungsanlagen angegeben. 228  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 725 (Register); das scheint deshalb plausibler, weil die Stadt 1475 zwölf Beile für insgesamt zehn Mark eingekauft hat; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 407. 229 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 830.

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Der erste Turm nach dem Eigelstein fehlt im Register von 1468. Der zweite Turm und das dann folgende Judenwichus sowie der folgende Turm sind in beiden Registern angegeben und wiesen eine vergleichbare Bewaffnung auf. Bemerkenswert scheint zu sein, dass der Ruschenberg die sonst ersetzten Bleibüchsen behalten hat. Der Kunibertsturm blieb auch 1468 stark bewaffnet. Dort lagerten außer den schon genannten Verteidigungswaffen weitere vier Hakenbüchsen, eine „Schlange“ mit zwei Kammern, zwei schelme mit ihren Haken und eine reitz­ banck. Insgesamt scheint der Kunibertsturm gegenüber der Zeit von 1446 verstärkt worden zu sein. Dazu kam eine Ark, die zusätzlich eine Hakenbüchse und ein Beil erhielt. Der neue runde Turm vor dem Kunibertstortum erhielt statt den beiden loetboessen nun eine lange eiserne Hakenbüchse (haichbusse) mit drei Kammern. Damit war eine Verstärkung der Feuerkraft des vorgeschobenen Turmes gegeben. Am Rheinufer trafen die Rentmeister 1468 zunächst auf das „Wichus“ Everstein. Nun ist auch vermerkt, dass links von dem Haus ein Eingang war, der damals wohl noch nicht zugemauert war. Das Haus bestand aus zwei Ebenen. Zur Rechten unten stand eine eiserne Kanone mit zwei Kammern und zur Linken zwei eiserne Kanonen mit jeweils zwei Kammern. Auf der zweiten oberen Ebene befanden sich zwei Hakenbüchsen, zwei Armbrüste, ein Spanngürtel und eine festinstallierte Armbrust (stoilepijle). Die übrigen Befestigungsanlagen am Rheinufer waren meist ebenso wie 1446 bewaffnet. Es hatte sich kaum etwas geändert. Am Hauskran war eine bronzene Kanone hinzugekommen. Sie wie die alte verfügten über fünf Kammern. Die Bewaffnung an der Rheingasse hatte sich geändert. Nun war ein Türmchen vor der Verteidigungsanlage von 1446 errichtet worden, in dem 1468 eine bronzene und eine eiserne Kanone mit jeweils zwei Kammern lagen. Neben dem Türmchen gab es noch eine bronzene Kanone mit zwei Kammern. Vor dem Torhaus befand sich eine große eiserne Kanone mit drei Kammern, in dem Haus selbst eine bronzene Kanone mit drei Kammern und eine eiserne kleine Kanone, genannt voegeler. In dem Kornhaus, das schon 1446 genannt worden ist, lagen eine eiserne Kanone und zwei eiserne Hakenbüchsen. Der Turm bei Lyskirchen war ähnlich wie schon 1446 ausgestattet. Allerdings war bei dem Turm eine „neue“ Anlage (nuwen arckyre) gebaut und mit einer bronzenen Kanone mit zwei Kammern ausgestattet worden. Der Turm an der Kleinen Witschgasse und der Turm daneben sind im Grunde gleich gut bewaffnet geblieben. Indes hatte sich die Bewaffnung am Turm bei der Kleinen Witschgasse 1468 etwas geändert. Dort waren nämlich drei Bronzekanonen stationiert worden. Dagegen ist am Klappergassenturm kaum eine Änderung festzustellen. Offenbar ist zwischen 1446 und 1468 an der Nächelsgasse eine

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neue Befestigungsanlage gebaut worden. Zudem wurden die Kanonen verteilt. Auf dem Nächelsgassentor blieb eine große bronzene Kanone mit zwei Kammern. Im neuen Haus darunter gab es eine eiserne Kanone mit zwei Kammern, im Wachhaus zwei Hakenbüchsen, im ersten Haus danach eine bronzene Kanone mit zwei Kammern und im folgenden Haus eine eiserne Kanone mit zwei Kammern und zwei Hakenbüchsen, so dass das Nächelstor insgesamt gut mit Waffen ausgerüstet war. Die Verteidigungsanlage Vollenhoe und die „Neue Warte“ blieben im We­sentlichen so wie schon 1446. Allerdings bekam die Bleipforte einen Turm zugewiesen, der mit drei eisernen Kanonen mit jeweils zwei Kammern ausgerüstet war. Jedoch ist dieser Eintrag die Zufügung einer anderen gleichzeitigen Hand. Die Angaben zum Haus Brempt stimmen im Wesentlichen mit denen im Register von 1446 überein. Zum Jahr 1476 hat der Rat der Stadt wiederum die beiden Rentmeister und auch Geschickte angewiesen, die Befestigungen an den Toren zum Feld anzusehen und gegebenenfalls zu erneuern oder auszubauen.230 Am Bayentor sollte vor dem Bollwerk am äußeren Graben ein Zaun aus Dornengestrüpp und Weiden errichtet werden. Ein halb mannshoher Zaun sollte auch den gesamten äußeren Graben umgeben. Am Severinstor waren das Bollwerk zu erhöhen und die hameyde231 auszubessern. Am Pantaleonstor war ein „kleines Bollwerk“ zu errichten. Am Hahnentor sollte das Bollwerk auf den neuesten Stand gebracht, mit „Schlangen“ und anderen Kanonen ausgestattet werden. Vom Gereonstor bis zum Rhein waren die Bollwerke auszubessern und am äußeren Graben wieder herzustellen. Der Mittelstreifen zwischen dem inneren und äußeren Graben war mit Zäunen oder Staketen zu bepflanzen oder zu bestücken. Die voislochere in Grabennähe waren wieder einzuebnen. Am Eigelsteintor sollte das Bollwerk wiedererrichtet und dasselbe mit einem Zaun aus Weide und Dornengestrüpp umgeben werden. Damit endet die Aufstellung der Tore zum Feld zu. Die Rheinseite ist nicht berücksichtigt. Alle Tore und Torburgen glichen sich zumindest seit dem 14. Jahrhundert nicht immer. Einmal abgesehen von der unterschiedlichen Bezahlung der Verantwortlichen, waren auch die Zugänge in die Stadt von der Feldseite her von unterschiedlicher Bedeutung. Man wird davon ausgehen müssen, dass einige Tore schon im 14. Jahrhundert zugemauert oder nur noch von Fußgängern, vornehmlich aus der Stadt selbst, zu passieren waren. Seit 1469 haben wir den 230  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 549 f. Nr. 390. 231 Die sogenannten hameyden sind wohl als Brustwehren zu verstehen. Sie waren zunächst wohl für die Möglichkeiten zur Abwehr von Feinden aus Holz, wurden aber mit der Zeit durch steinerne ersetzt, bildeten also die erste Abwehrlinie zur Verteidigung der Stadt und lagen nicht weit von den Gräben und der Stadtmauer entfernt.

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Nachweis, dass nur fünf Tore für den Warenverkehr und damit für Karren oder Fuhrwerke geöffnet waren. Es waren zur Feldseite hin das Severins-, das Weiher-, das Hahnen-, das Gereonstor und der Eigelstein. Denn auf diesen Toren saßen sogenannte kurwechter.232 Allerdings sind die fünf Wächter auf den „offenen“ Toren schon früher belegt. Denn im Eidbuch von 1407 heißt es, dass die fünf „Burggrafen“ auf den „offenen“ Toren und die auf den zwei Türmen, gemeint sind der Bayenturm und der Kunibertsturm, einen Eid zu leisten hätten. Genannt sind außerdem das Severins-, das Weiher-, das Hahnen-, das Gereonstor und der Eigelstein.233 Aber das war noch nicht der Anfang für die Tore zum Feld hin. Vielmehr ist im Eidbuch von 1341 bereits von „offenen“ Toren, und zwar genau den schon genannten, die Rede.234 Man wird also davon ausgehen können, dass schon im 14. Jahrhundert nur diese fünf Tore für Karren oder Fuhrwerke geöffnet, während die anderen entweder zugemauert waren oder nur Fußgängern zur Verfügung standen. Da selbst in dem ältesten Eidbuch von 1321 porcenere up den offenen porzen ze velde wert genannt sind235, kann man schließen, dass diese Pförtner wohl den fünf genannten „offenen“ Toren entsprochen haben werden, auch wenn sie explizit nicht so bezeichnet worden sind. Wann also genau – vielleicht noch im 13. Jahrhundert – das Zumauern oder die Unzugänglichkeit für Karren oder Fuhrwerke der anderen Tore veranlasst worden sein könnten, ist nicht mehr zu ermitteln. Bei allen Anlässen des Rats ist nichts über die Frage mitgeteilt worden, wie viele Männer er brauchte, um die Türme und Mauern besetzen zu können. Zwar ist hin und wieder in den Eiden der neu aufgenommenen Bürger verzeichnet, dass sie auch zum Wachdienst herangezogen werden konnten.236 Jedoch ist nirgends vom Rat angegeben, wie viele Männer er zur Bewachung für die Tore und Türme benötigte. Man wird wohl von mindestens 40 Personen für die Tore und Türme zum Felde hin ausgehen können. Ebenso viele wird man für die Rheinseite voraussetzen dürfen. Das sind immerhin 80 Männer in Friedenszeiten. Es mögen mehr als 100 gewesen sein, wenn ein Krieg oder auch nur eine Fehde drohte. Nun haben die Bürger oder Eingesessenen nur in seltenen Fällen selbst gehandelt und gewacht, sondern warben Söldner an. 1371 standen meißnische Söldner in städtischen Diensten und halfen vor allem den „Geschlechtern“, 232 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 405, 407. 233 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 251 Nr. 92,X,2. 234 Ibid., S. 41 ff. Nr. 6,XIV; vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 198; Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 263. Schon 1335 sind allerdings schon „offene Tore“ genannt; Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 25 Nr. 2; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 10 Nr. 1335,3. 235 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 23 Nr. 1,57. 236 Ibid, S. 70 Nr. 20 von ca. 1355 oder 1355/56 und von ca. 1450; ibid., S. 366 Nr. 170; vgl. Deeters, Bürgerrecht (Anm. 160), S. 21 f., 27 f.

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ihre Herrschaft gegen die „Weber“, andere Handwerker und einfache Leute wieder zu erringen.237 In den folgenden Jahren vor der sogenannten Revolution von 1396 warb der Rat der Stadt auch englische und genuesische Bogenschützen an, die wohl einen besonderen Ruf genossen.238 Aber diese Söldner aus anderen Ländern waren doch wohl die Ausnahme. Sicher konnten sie die Mauern und Tore der Stadt bewachen helfen, haben aber ebenso das Kölner Umland gesichert und die Macht der „Geschlechter“ im 14. Jahrhundert aufrechterhalten. Sie hatten jedoch zumindest im darauffolgenden Jahrhundert, für das die Quellen reichlicher fließen, als Hauptaufgabe, den Burgbann und die Bannmeile und damit den Gemüse- und sonstigen Anbau der Kölner vor der Stadt und deren Mauer abzusichern.239 Seit wann die Stadt Bogenschützen als Söldner angeworben hat, bleibt jedoch ungewiss. Es wird wohl seit der Mitte des 14. Jahrhunderts oder vielleicht sogar noch früher gewesen sein. Es ist bezeichnend für den städtischen Rat, dass er 1443 ausdrücklich verbot, an Landesherren städtische Waffen welcher Art auch immer auszuleihen. Damals ging es vor allem um Büchsen, aber auch um Armbrüste mit ihren Pfeilen.240 Es ist durchaus vorstellbar, dass das Verbot schon länger bestand, wahrscheinlich schon vor 1396, also zur Zeit der „Geschlechterherrschaft“. Eine ernsthafte Belagerung der Stadt und seiner Mauern vor allem zur Feldseite hin war ohne schweres Gerät, wie man heute wohl sagen würde, nicht durchzustehen. Dazu gehörten seit dem 13. Jahrhundert und schon früher sogenannte Wurfmaschinen oder Bliden, oder wie auch immer sie genannt worden sein mögen.241 Sie konnten jedenfalls unterschiedlich konstruiert sein, was uns in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren braucht. Jedenfalls waren sie sich im Ergebnis ähnlich.242 Sie konnten Felsbrocken und andere Gegenstände, auch abgeschlagene Köpfe, in die gegnerischen Reihen werfen. In unserem Fall mussten die Wurfmaschinen auf der Mauer oder den Toren und Türmen aufgebaut werden, damit sie Steine oder dergleichen in die Richtung der Feinde auf dem Feld oder auf Schiffen auf dem Rhein werfen konnten. Solche Wurfmaschinen besaß die Stadt zwar, aber in den Quellen ist nie die Rede davon, dass sie auch zur Verteidigung der Stadt eingesetzt wurden. Immerhin wissen wir aus Aachener Stadtrechnungen von 1385, dass eine Blide 237  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 65; Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 177. 238  Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 257 f.; Klaus Militzer: Die Bewaffnung der Bürger westdeutscher Städte im Spätmittelalter, in: Fasciculi archaeologiae historicae 11 (1998), S. 47–50, hier S. 50; vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8), S. LXXV Nr. 129 (1391– 1394), S. 59 Nr. 129 (1392). 239 Vgl. vor allem Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 126. 240  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 313 Nr. 141. 241 Vgl. Schmidtchen, Kriegswesen (Anm. 172), S. 152 ff., auch S. 133. 242  Ekdahl, Siege machines (Anm. 176), S. 39 ff.

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zerlegt und an Ort und Stelle vom Blidenmeister oder dem Zimmermannsmeister oder beiden zusammen wieder aufgebaut wurde.243 Was für Aachen für das Jahr um 1385 nachzuweisen ist, dürfte auch in Köln üblich gewesen sein. Die Teile der Wurfmaschinen wird man also in den sogenannten Zeughäusern suchen müssen, von denen eines zunächst vor St. Maria Lyskirchen angesiedelt war244, bevor die Stadt 1348 vom Kloster St. Gertrud ein Haus an der Zeug­ hausstraße kaufte245, das spätestens 1374 als Blidenhaus bekannt ist.246 1370 wurde nämlich verfügt, dass das Zeughaus künftig die Bliden, die bisher bei Maria Lyskirchen bewacht wurden, beherbergen solle.247 Auf jeden Fall wurden in den beiden Zeughäusern die Teile der abgebauten Wurfmaschinen aufbewahrt. 1371 ist sogar von einer großen Wurfmaschine (magna balista) die Rede.248 Ältere Wurfmaschinen wurden noch 1374 auf den neuesten Stand gebracht.249 Ein Mann namens Rost bewachte die Bliden in dem Blidenhaus, dem heutigen Zeughaus.250 Dieser Mann ist nicht zu identifizieren, weil der Name in Köln und der Umgebung der Stadt üblich war. Blide und Blidenmeister sind aber Begriffe, die sowohl für Wurfmaschinen wie auch Kanonen gebraucht wurden. Das gilt auch für die lateinischen Wörter balista und balistarius. Beide Wörter wie auch die lateinischen Übersetzungen konnten die Wurfmaschinen wie auch die Kanonen und den Bediener der Wurfmaschinen wie auch der Kanonen bedeuten. Bereits 1370 wurde ein Wort gebraucht, das einen Unterschied zwischen Bliden und Kanonen machte, nämlich noitstelle oder ähnlich für die Bliden.251 1374 wurde sogar Geld für die Beleuchtung der Wurfmaschinen ausgegeben.252 Häufig wird Meister Gerhard, der balistarius, in den Stadtrechnungen erwähnt. Es ist wahrscheinlich, dass auch der genannte balistarius gemeint war, der Seile für die Wurfmaschinen besorgte.253 Wenn beispielsweise ein Umlauf und seine

243 Aachener Stadtrechnungen aus dem XIV. Jahrhundert, nach den Stadtarchiv-Urkunden mit Einleitung, Registern und Glossar herausgegeben von Josef Laurent, Aachen 1866, S. 59 f., 287 ff.; Klaus Militzer: Stadt und Fehde: Das Kölner Beispiel, in: Fasciculi archaeologiae historicae 15 (2002/2003), S. 87–92, hier S. 90. 244 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 160. 245 Quellen (Anm. 3) IV, S. 309 Nr. 296. 246 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 151, ebenso S. 265 (1377); Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 263b Nr. 5; Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 326. 247 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 26. 248 Ibid., S. 57. 249 So ibid., S. 141: 1374 pro reformatione antiquarum balistarum. 250 Vgl. ibid., S. 254, 256, 260 und öfter. 251 Ibid., S. 4, 74, 78, 98 f., 100 ff., 105, 114, 118; vgl. auch S. 477. 252 Ibid., S. 161. 253 Vgl. beispielsweise ibid., S. 140, 159, 161, 226.

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Mitarbeiter254 Bliden wegschafften (ad deponendum), so ist doch in erster Linie an Wurfmaschinen zu denken.255 Wenn ein Meister balistarius Leinen erstand256, so ist ebenfalls in erster Linie an entsprechende Maschinen zu denken. Aber weder die Wurfmaschinen noch später die großen und weittragenden Kanonen standen auf den Türmen oder Mauern, sondern wurden offenbar im Bedarfsfall aus dem Zeughaus herbeigeschafft und auf den Vorbauten der Türme aufgestellt. Die auf den Türmen aufgestellten Kanonen waren jedenfalls leichter als die im Zeughaus aufbewahrten. Was dagegen mit den beiden Schuhen für die Bliden gemeint sein könnte, erschließt sich mir nicht.257 Die Wurfmaschinen und auch Kanonen mussten bewacht werden. Dafür war in erster Linie Gerhard, der balistarius oder ähnlich genannt wurde, zuständig.258 Vielfach mag sich hinter der Belohnung für den balistarius die Gabe für die Wache verstecken. In solchen Fällen wurde nicht extra die Bewachung erwähnt. Aber der Rat konnte auch andere Personen mit der Aufbewahrung der Kanonen oder Wurfgeschütze beauftragen.259 Der balistarius oder der Bediener der Wurfmaschinen oder der Kanonen konnte nicht nur sein Gehalt aufbessern, wenn er die Maschinen oder Kanonen sorgfältig bewachte und instand hielt, sondern auch durch Anfertigung von besonderen Pfeilen wie den Feuerpfeilen oder durch die Besorgung von Schwefel oder Pulver und Salpeter.260 Er konnte auch sein Geld vermehren, indem er balistae von auswärts heranschaffte, zum Beispiel aus Ahrweiler261, oder auch Kanonen aus Duisburg.262 1375 oder 1376 scheint es zu einem Umschwung gekommen zu sein. In diesen Jahren ging die Stadt von den Wurfmaschinen zu den Kanonen über, ohne allerdings die älteren Wurfmaschinen ganz aus ihrem Arsenal zu verbannen. 1375 bemühte sich Meister Gerhard, der balistarius, vermehrt um Kanonen.263 Außerdem vermerkte man in den Stadtrechnungen, dass die Zeit des Wandels bezüglich der balistae gekommen sei.264 Von dem Augenblick an 254 Der sogenannte Umlauf bestand aus Personen, die die Aufgabe hatten, die privaten und städtischen Bauten, also auch die Befestigungsanlagen, zu besichtigen und eventuelle Fehler zu melden. Sie waren den Rentmeistern unterstellt. 255  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 30. 256 Ibid., S. 100, 102 (1372). 257 Ibid., S. 87. 258 Vgl. ibid., S. 174, 238. 259 Z. B. einen magister Johann oder auch Männer namens Ritz oder Rost, ibid., S. 190, 219, 255 ff., 260 f. 260 Ibid., S. 94, 97, 116, 197, 214, 234, 236. 261 Ibid., S. 92. 262 Ibid., S. 330. 263 Ibid., S. 185, 214, 238 f., 247, 254 f. 264 Ibid., S. 219 (12. März 1376).

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könnte sich der Meister Gerhard mehr um Kanonen als um die Wurfmaschinen gekümmert haben. In der Folge bemühten sich neben anderen auch der Umlauf und der städtische Zimmermann um eine ausreichende Menge an Pulver.265 1377 fertigte der städtische Steinmetz Arnold noch Steine für Wurfmaschinen an.266 Es handelte sich um Arnold Franke von Winteren, der 1399 als verstorben galt. Er ist seit 1373 in den Schreinsbüchern erwähnt und wurde bezeichnet als Steinmetz der Stadt (lapicida operarius civitatis). Er dürfte mit seiner Frau am Filzengraben im Stadtteil Airsburg gewohnt haben.267 Jedenfalls bildeten diese Bliden noch bis weit in das 15. Jahrhundert hinein einen Teil der Kölner Verteidigung oder auch des Angriffs von außerhalb auf die Stadt.268 Erst 1466 formte ein Schmied Büchsen und ihm folgte ein Meister269, der die Kugeln nun für die Kanonen herstellte. Aber es wurden auch weiterhin Kugeln aus Stein, für die ein Steinmetz verantwortlich war und die ein solcher Meister herstellte, verwandt. Seit dem 15. Jahrhundert wurden zunehmend Feuerwaffen angeschafft, wenn auch nicht in so großer Zahl, wie es später der Fall sein sollte. Es hat sie aber schon im 14. Jahrhundert gegeben.270 1377 wurden offenbar französische Fachleute für das Gießen von Kanonen angeheuert.271 Armbrüste blieben zwar die Hauptverteidigungswaffen auf und vor der Mauer, aber daneben wurden schon Handfeuerwaffen auf Pulverbasis gebraucht und angewandt. Ebenso verloren die Wurfmaschinen zunehmend zugunsten von Kanonen an Bedeutung.272 Büchsenmacher sind zwar schon seit 1370 bezeugt, wie die Stadtrechnungen belegen273, aber sie waren wahrscheinlich auch noch zuständig für die Armbrüste. Die Armbrüste blieben jedenfalls die wichtigsten Verteidigungswaffen bis zum Ende des 15. Jahrhunderts274 und darüber hinaus. Die Blidenmacher haben wohl nicht nur die Wurfmaschinen gewartet, sondern auch die neuen Kanonen gegossen oder geschmiedet. Bliden- und Büchsenmacher wurden in den Quellen des 14. Jahrhunderts weitgehend synonym gebraucht, so dass man sie nicht immer auseinanderhalten kann. Seit dem 15. Jahrhundert verschwanden jedoch die Blidenmacher zusehends aus den 265 Ibid., S. 235, 258 f., 292, 317. 266 Ibid., S. 278; 1380 formte derselbe Steinmetz aber auch runde Steine für Kanonen: ibid., S. 379. 267 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 11a Nr. 10; S. HAStK, Schreinsbuch 292, fol. 83v, 101r. 268 So auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 159. 269 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 402, 404, 494. 270 Vgl. z. B. ibid., S. 67. 271 Ibid., S. 265. 272 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 160 ff. 273 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 3 ff.: mag. Gerardo balistario. 274 Ibid., S. 402.

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Quellen, an ihre Stelle traten Kanonengießer oder -schmiede und solche Meister, die die Geschützkunst mehr oder weniger beherrschten. Immerhin kaufte die Stadt nachweislich bereits seit 1370 Kanonen, über deren Wert allerdings keine Aussagen zu machen sind.275 Vielleicht hat sie schon vor 1370 Kanonen erworben. Wenn der städtische Steinmetz 1380 runde Steinkugeln herstellte, so fertigte er sie für eine Kanone an.276 Er war mithin durch die Herstellung von Steinkugeln für Kanonen wenigstens in das Verteidigungssystem eingebunden.277 Allerdings waren die von Kanonen abgegebenen Schüsse keineswegs billig, ganz im Gegenteil. Wenn von einer Kanone eine Steinkugel abgefeuert wurde, hatte ein Steinmetz vorher die Kugel zu runden und dem Maße der Kanone entsprechend zu formen. Ein Steinmetz erhielt für seine Arbeit immerhin eine Menge Geld. Beispielsweise bekam der Stadtsteinmetz für die Kugeln 1380 genau 91 Mark und 8 Schillinge278, eine enorme Summe, die wohlgemerkt für Steinkugeln ausgegeben wurde. 1481 betrug der Wert für eine Steinkugel, die ein Steinmetz anfertigte, zwei oberländische Gulden oder zehn Mark.279 Kugeln aus Metall waren dagegen noch teurer. In den Quellen sind die Büchsenmeister zwar auch schon im 14. und auch noch im 15. Jahrhundert nachweisbar, aber sie waren noch in der Minderzahl gegenüber den Meistern der Wurfmaschinen und denen, die noch nicht auf Pulver und deren Abfeuerungsmechanismen setzten. Das änderte sich spätestens im Laufe des 15. Jahrhunderts. Seit 1397 sind in den Fragmenten der Stadtrechnungen mehr und mehr Feuerwaffen oder Pulver und Vorprodukte erwähnt. Das zeigte sich auch daran, dass zunehmend Büchsenmeister und Leute des Pulvers wegen entlohnt wurden.280 Während Köln noch im 14. Jahrhundert und wohl auch noch bis kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts kein Markt für Geschütze war, stieg die Stadt danach zum Exporteur von Kanonen auf und erlangte einen gewissen Ruf für gute Kanonen.281 Anders war es schon 1477, als Erzbischof Ruprecht aus dem Niederstift vertrieben wurde. Damals half die Stadt dem Gubernator des Erzstifts, Hermann von Hessen, mit Kanonen und Mannschaft aus. Unter ande275 Ibid., S. 3, 67, 86, 133, 253. 276 Ibid., S. 379. 277 Vgl. dazu auch Militzer, Stadt und Fehde (Anm. 243), S. 90. 278  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 379. 279  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 477 Nr. 261,81; vgl. Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. XXVIII. 280  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 395, 402, 404–408; vgl. auch Alfred Geibig/ Axel Gelbhaar: Art. „Waffe. A. Westen. I. Allgemeines und Archäologie“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (1997), Sp. 1893 f.; Rainer Leng: Art. „Waffe. A. Westen. II. Gewerbe und Handel“, in: ibid., Sp. 1897 f. 281  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 177.

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rem waren es eine alte und eine neue große Büchse, die zu Schiff nach Linn gebracht werden sollten.282 Beide Kanonen dürften einen gewissen Ruf gehabt haben, als sie angefordert worden sind. Aber beide sind nie für die Verteidigung der Stadtmauer gebraucht worden. Die großen Büchsen lagerten wohl im Zeughaus. Bliden und schließlich Kanonen waren nicht die einzigen Verteidigungsmöglichkeiten.283 Während die Bliden im 15. Jahrhundert allmählich nicht mehr gebraucht wurden, haben Armbrüste ohne weiteren Einspruch der Experten ihre Dienste auf den Mauern und Türmen getan. Die Träger solcher Waffen hießen auf Lateinisch auch balistarii. Sie kommen in den Rechnungen der Jahre 1370–1380/81 immer wieder vor. Die Reichweite einer Armbrust lag bei 300 Metern und sie konnte bei einer Entfernung von bis zu 200 Metern oder noch etwas darüber hinaus tödlich sein. Die Armbrustschützen hatten also gar nicht die Möglichkeit, von der Mauer oder den Tortürmen aus über den doppelten Graben hinaus zu schießen und dabei jemanden tödlich zu treffen.284 Die Schützen mussten also in den der Mauer und den Tortürmen vorgelagerten Stellungen untergebracht werden, wenn sie dem Feind wirkungsvoll entgegentreten wollten. Hatte ein Feind jedoch die Gräben überwunden, konnte der Armbrustschütze von der Mauer oder den Türmen aus ein gefürchteter Gegner werden. Die Armbrüste waren aber wohl nicht die einzigen Waffen, die Pfeile verschossen. Dazu traten sogenannte stoelpijle. Diese weiter tragenden Armbrüste waren meist fest installiert und konnten nur zu beiden Seiten oder nach unten gedreht werden. Sie konnten die Pfeile vielleicht sogar 400 Meter oder weiter schießen, so dass Getroffene getötet werden konnten. Solche Geschütze sind in Köln für das 15. Jahrhundert nachzuweisen, dürften aber älter sein und vielleicht schon um die Jahrhundertwende um 1400 oder noch eher gebraucht worden sein. Immerhin waren diese Armbrüste auch noch im 15. Jahrhundert und darüber hinaus in Gebrauch.285 282 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 846; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 228 f. 283 Bliden wurden vorwiegend bei der Kirche St. Maria Lyskirchen gelagert, Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 26 (1370). Später kamen sie in das Zeughaus zwischen den Straßen Burgmauer und Zeughausstraße, wo bis 2021 das Kölnische Stadtmuseum seinen Sitz hatte. 284 Egon Harmuth: Art. „Armbrust“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 (1980), Sp. 965– 969; Sven Ekdahl: Horses of Crossbows: Two Important Warfare Advantages of the Teutonic Order in Prussia, in: Helen J. Nicholson (Hg.): The Military Orders vol. 2: Welfare and Warfare, Aldershot 1998, S. 119–151, hier S. 136 ff. 285 Vgl. den „Pfeilschmied“ Tiel von Siegburg in den Stadtrechnungen, Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 403, oder auch einen Armbrustmacher von 1466 in ibid., S. 402; vgl. auch Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 159 f.

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Zum Jahr 1418 hat sich der städtische Büchsenmeister Godekin Volger genannt Fynzinck verpflichtet, Pfeile herzustellen, die auf mannigfache Art wirken sollten.286 Zunächst sei er in der Lage, fünferlei verschiedene Feuerpfeile herzustellen.287 Dabei ist nicht ausdrücklich gesagt, wie die verschiedenen Pfeile auszusehen hätten. Ferner könne er sogenannte blynde Feuerpfeile, die sich erst eine halbe Stunde nach dem Abschuss entzündeten, und außerdem Pfeile mit Griechischem Feuer anfertigen. Diese Pfeile waren wohl vorwiegend für die fest installierten und weiter tragenden Bank- oder Wallarmbrüste, die in Köln sogenannten stoelpijle, vorgesehen. Dass sie von Personalarmbrüsten verschossen worden seien, war eher ein ungewöhnlicher Fall, aber er war wohl auch nicht auszuschließen. Selbstverständlich stand an erster Stelle seit der zweiten Hälfte des 14. und dann im 15. Jahrhundert nicht die Herstellung von Pfeilen, sondern die Ausrichtung der Kanonen auf den Türmen und den Bollwerken oder das Aufstellen von Geschützen vor den Mauern. Das musste ein Büchsenmeister vor allem können. Ein Büchsenmeister konnte auch Fußangeln (voissyseren) anfertigen und vor der Mauer und den Toren ausstreuen lassen. Außer den Kanonen rechnete die Stadt damals auch noch mit Bliden, also den Wurfgeschützen, die von den Kanonen schon bald überholt wurden. Denn mit den traditionellen Wurfgeschützen konnten Tonnen mit Griechischem Feuer in das feindliche Lager geschleudert werden. Allerdings war das auch damals schon mit Kanonen möglich, wie in dem Schriftstück von 1418 ausdrücklich hervorgehoben ist.288 Godekin Volger genannt Fynzinck war aber keineswegs erst 1418 angestellt worden, sondern hatte die Stelle eines Büchsenmeisters bereits 1414 erhalten.289 Der Zusatzvertrag von 1418 belegt einmal mehr den Charakter einer Übergangszeit von den Wurfgeschützen zu den Kanonen, die bald die Oberhand gewinnen sollten. Im 14. Jahrhundert verdiente vor allem der comes de Loyn an der Zubereitung von Pfeilen. Er lässt sich seit den Jahren 1370–1380, dem Beginn und dem Ende der erhaltenen Stadtrechnungen, teilweise auch als Wächter auf dem Kunibertsturm und dem Ehrentor nachweisen.290 Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Wache und auch die wachhabenden Bürger ihre Pfeile für die 286  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 223 f. Nr. 135; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 106 Nr. 1418,9; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 162 ff.; Militzer, Stadt und Fehde (Anm. 243), S. 89. 287  Feuerpfeile wurden allerdings schon 1376 angefertigt; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 234, 236, 247, 249, 253. 288  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 223 f. Nr. 135. Zu den Büchsenmeistern vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 160 ff. 289  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 125. 290  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 22, 24, 249, 256, 263, 266, 270, 276, 293, 301, 312, 336, 351.

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Armbrüste nicht mitbringen mussten. Das gilt wohl auch für die Armbrüste selbst. Allerdings ist diese Aussage nicht eindeutig zu verifizieren. Jedenfalls steht nirgendwo, dass ein Neubürger eine Armbrust sein Eigen nennen konnte, wenn er seinen Eid ablegte. Der Rat der Stadt stellte vielmehr die Pfeile wie die Armbrüste. Laut Eintragungen in die städtischen Rechnungen verdiente ein Büchsenmeister 1469 jährlich zwischen 192 und 240 Mark.291 Das war nicht übermäßig viel, wenn man den Verdienst in Relation zu den Werten für Kriegspferde setzt, jedoch genug zum Leben, zumal einem Büchsenmeister weitere Verdienstmöglichkeiten offenstanden. 1472 ließ der Rat Kanonen aus Eisen (groesse ijsernslangen) mit den zugehörigen Geräten kaufen.292 Dazu kam 1474 Salpeter, den der Rat in Frankfurt erstanden hat.293 Damals scheint die Stadt noch kein zentraler Markt für Waffen aller Art gewesen zu sein. Jedenfalls geben Rechnungen der Stadt keinen Anlass zu einer derartigen Aussage.294 1443 war bereits verordnet worden, dass kein Kriegsgerät, das der Stadt gehörte, ausgeliehen werden dürfe.295 Ob die Verordnung allerdings immer streng gehandhabt worden ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Es mag durchaus vorgekommen sein, dass befreundete Städte oder Herrscher hin und wieder eine Kanone oder eine Büchse oder auch mehrere ausgeliehen erhielten. Aber solche Nachrichten sind in anderen Beständen zu suchen als solchen, die ich durchgesehen habe. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Stadt Köln sowohl zur Feldseite wie auch zur Rheinseite hin gut zu verteidigen war. Am Ende des 14. Jahrhunderts trat eine Entwicklung von den Bliden hin zu Kanonen ein. Aber die Armbrüste blieben noch für lange Zeit das Rückgrat der Verteidigungsanstrengungen der Stadt. Die Rentmeister hatten die Oberaufsicht über die Stadtmauern und deren Türme. Ihren Aufzeichnungen ist der Zustand der Verteidigung um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu verdanken. Die Büchsenmeister hatten 291 Ibid., S. 405 f. 292 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) I, S. 160. 293 Ibid., S. 161. 294 Vgl. aber Franz Irsigler: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 65), Wiesbaden 1979, S. 156 ff., der einige Beispiele für die Waffenproduktion und -ausfuhr bringt. Vgl. auch Hiromichi Takita: Wirtschaftliche Stadt-Umland-Beziehungen des Kölner Raums im Spätmittelalter. Eine Fallstudie zur Kölner Harnischmacherzunft, in: Adriaan E. Verhulst/Yoshiki Morimoto (Hg.): Economie rurale et Economie urbaine au Moyen Âge. Landwirtschaft und Stadtwirtschaft im Mittelalter, Gent/Fukuoka 1994, S. 185– 224, hier S. 198 ff. 295 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 313 Nr. 141.

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wie alle anderen städtischen Bediensteten auch die Möglichkeit, sich zu ihrem Gehalt durch andere Tätigkeiten etwas hinzuzuverdienen.

Gefangene auf den Türmen, vor allem auf den feldseitigen Stadttoren Bereits 1329–1330 wurde ein Johann Kornegil gefangen gesetzt296, aber es ist nicht angegeben, auf welchem Turm er sich einzustellen hatte oder an welchem Ort er gefangen gehalten wurde. 1343 verwarnte der Rat den Burggrafen Gerhard von Pulheim (Poilheym), weil er den Fleischer (vleischmenger) Abel Muesegin und Nesa von Wolresheym und andere von seiner Befestigung habe entkommen lassen.297 Allerdings ist nicht festgehalten worden, welchen Turm der Burggraf innehatte. In den Jahren 1392–1396 wurde für die beiden Burggrafen auf dem Kuniberts- und dem Bayenturm festgelegt, dass sie jeweils einen Unterburggrafen, der die Gefangenen regelmäßig wohl im unteren Teil der Türme besuchen und Essen und Trinken geben sollten, einzustellen hatten. Die Burggrafen sollten von jedem Gefangenen 100 Mark erhalten. Der Knecht, der die Gefangenen versorgte, sollte von letzteren entlohnt werden.298 Die Burggrafen hatten ihre Diener ebenfalls mit Kleidung zu versorgen. Auch andere Stadttürme wurden zur Unterbringung von Gefangenen benutzt. Meist besaßen sie ein Verlies, das in einer der unteren Etagen eingebaut war. Es war mit einer Leiter versehen, die hochgezogen werden konnte, wenn der Delinquent unten angekommen war. Vielfach war er auch nur mit einem Seil heruntergelassen worden.299 Dann hatte der Turm eine runde Öffnung am oberen Ende des Verlieses. Manchmal kam es auch vor, dass ein Raum im Erdgeschoss zur Verfügung stand. Dann wurde der Gefangene in Eisen gelegt. Aber auch bei anderen Gefangenen war das üblich. Je nachdem, wie die Schwere des Vergehens vom Rat eingeschätzt worden ist und wie der jeweilige Turm ausgestattet war, legte der Rat die Art und Weise der Gefangenschaft fest. „Zum Turm gehen“ wurde eine geflügelte Redensart der Bevölkerung, weil die Turmstrafe sowohl für schwere Vergehen, nämlich Mord oder Diebstahl und anderes, wie auch für unerlaubte Zahlungsverweigerung oder Zahlungsunfähigkeit300 ver296 Ibid., S. 24 Nr. 1,59. 297  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 13 f. Nr. 20. 298 Ibid., I, S. 146 Nr. 48. 299 1470 ist von dunklen Kellern die Rede: Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 392 Nr. 1470,79. 300 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 277 ff.; Ulf Heppekausen: Die Kölner Statuten von 1437. Ursachen, Ausgestaltung, Wirkungen (Rechtsgeschichtliche Schriften 12), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 116 ff.

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hängt wurde, aber auch für andere Sachen.301 Vor allem galt es den Frieden in der Stadt und seinem Umfeld zu wahren und dem Fehdewesen des Landadels einen Riegel vorzuschieben. Der Turmgang war keineswegs angenehm. Es lassen sich auch in den Quellen Hinweise dafür finden, dass der Gang in ein Gefängnis vielmehr schwer und äußerst unangenehm war. Einmal abgesehen davon, dass ein Schuldner seinen Kredit verlor, kerkerte der Burggraf oder dessen Stellvertreter des Tores nicht nur Schuldner ein, sondern auch andere Delinquenten oder solche, die man dafür hielt. Die Stadtrechnungen von 1370–1380/81 erwähnen zum Beispiel eiserne Fesseln.302 Ein anderes Beispiel kurz vor der „Revolution“ ist, dass die Gefangenen auf dem Bayen- wie auch auf dem Kunibertsturm in einem Stock zu halten seien.303 Ein weiteres Beispiel ist, dass 1427 ein Delinquent gefesselt eingekerkert wurde, der sich auf seine Hinrichtung vorbereitete.304 Das Hohe Weltliche Gericht gebrauchte gewöhnlich das Hachtgefängnis am Domhof, aus dem Gefangene des Öfteren entkommen konnten.305 Der Rat der Stadt benutzte daher die Hacht eher nicht.306 Auf der Hahnentorburg sollte 1411 Heinrich Huysgin mit zwei Eisen an den Beinen angeschmiedet werden.307 Noch 1450 vereidete der Rat die Burggrafen auf den „offenen“ Toren, dass etliche Gefangene zu besmeden, also anzuketten seien.308 Ein solches Anketten geschah durch die Mitwirkung des Schmieds Wetzelo.309 Andere Gefangene wurden auf eine Entscheidung des Rates hingerichtet, wie zum Beispiel 1370 die captivi iudicati mortui310 oder ein captivus decollatus.311 Im Bayenturm sollten die Gefangenen 1392–1396 im Stock sitzen.312 Was damit gemeint war, ist nicht gesagt. Aber man wird wohl an eine Unterbringung in einer Art von Gefangenenhaltung denken, in der die Beine 301 Hans-Peter Korsch: Das materielle Strafrecht der Stadt Köln vom Ausgang des Mittelalters bis in die Neuzeit (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 20), Köln 1958, S. 19 ff. 302 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 60. 303 Stein, Akten (Anm. 6) I, S.146 f. Nr. 48. 304 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 122 ff. Nr. 1427,6; vgl. Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 344 Nr. 159,XIII,11. 305 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 291 f. Nr. α–β; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 15 Nr. 1343,8; S. 37 Nr.1396,1; S. 99 f. Nr. 1414,8; S. 266 Nr. 1455,33; vgl. auch Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 167 ff. Nr. 49. 306 Vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 291 Nr. α; Buch Weinsberg (Anm. 203) III, S. 145. 307 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 92 f. Nr. 1411,3. 308 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 344 Nr. 159,XIII,11. 309 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 104. 310 Ibid., S. 27. 311 Ibid., S. 60. 312 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48.

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oder auch die Arme und Hände in einem hölzernen Stock eingeschlossen oder auch in Eisen gelegt worden waren. Andererseits durften die Burggrafen die Gefangenen nicht verwahrlosen oder gar entkommen lassen. Letzteres wurde immer wiederholt und ist um 1450 in einem Eidbuch festgehalten.313 Allerdings ist der Zusatz, der sich auf das Anschmieden bezieht, erst auf 1464 datiert.314 Er dürfte aber schon früher gegolten haben, wie auch angedeutet worden ist. Der Frankenturm, auch Turm der Heiligen Drei Könige genannt, enthielt solche Gefängnisse.315 Der Rat der Stadt zahlte 1370 wohl für den Unterhalt der Gefangenen im Frankenturm allerdings nur wenig Geld.316 Das Gefängnis benutzte er noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und darüber hinaus und sorgte auch bei Bedürftigkeit der Gefangenen für eine Beteiligung an ihrer Verpflegung.317 Die Gefangenen wurden im Hachtgefängnis wohl von einer Frau versorgt. Ob sie auch von ihr bewacht wurden, ist nicht gesagt.318 Selbst wenn von einer Wache des Hachtgefängnisses die Rede gewesen ist, ist damit nicht gesagt, dass Frauen die Gefangenen beaufsichtigten. Die Versorgung eines Inhaftierten mit Speisen und Getränken konnte sehr wohl eine Angelegenheit der Frauen sein, dagegen weniger die Bewachung der Gefangenen. Einmal ist sogar geschrieben worden, dass ein Gefangener auf den Befehl der Herren des Rates den Frankenturm aufgesucht habe. Das sei auf Ansuchen Grotenrodes geschehen.319 Man kann vermuten, dass der Gefangene seine Schuld nicht bezahlt hat. Denn Grotenrode stammte aus Aachen, ist seit 1366 als Kölner Grundbesitzer bekannt und verstarb um 1393.320 Er erhielt 1367 das Kölner Bürgerrecht und 1370 die Weinbruderschaft.321 Er handelte also auch mit Wein322 und aus einem solchen Handel könnte der Turmgang, den Groten313 Ibid., S. 344 f. Nr. 159,XIII. 314 Ibid., S. 345 Nr. 159,XIII,17. 315 Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S 149; Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 121a–b Nr. 1. 316  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 31: 11. Dezember 1370: 1 Mark 9 Schilling. 317  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 302 Nr. 130; S. 346 Nr. 153,XV,5; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 63 Nr. 1404,4; S. 122 ff. Nr. 1427,6; S. 165 Nr. 1436,3; S. 175 Nr. 1438,1; S. 185 Nr. 1441,13; S. 455 Nr. 1471,76; S. 794 Nr. 1497,8. 318  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 130: 21. September 1373: uxori custodient(is) hachtam pro expensis quorundam captivorum scil. pro famulo dicti Frambach. Sie erhielt 10 Mark ersetzt. Schon am 18. Mai 1373 lag der Diener Frambachs in der Hacht in Haft: ibid., S. 117. Damals erhielt der oder die Essensbeschafferin 9 Mark ersetzt. Beide Zahlungen hatte der Fehdeführer wohl angesetzt, wie auch die Stadt an der Zahlung für eine entsprechende Mahlzeit interessiert war. Waren die Gefangenen weniger prominent, fiel die Summe für die Verpflegung entsprechend magerer aus. 319 Ibid., S. 198. 320 HAStK, Schreinsbuch 169, fol. 61v, Schreinsbuch 480, fol. 107br. 321  Stehkämper, Neubürger (Anm. 146) I, S. 17 Nr. 22, S. 23 Nr. 27. 322 Wolfgang Herborn/Klaus Militzer: Der Kölner Weinhandel. Seine sozialen und politischen Auswirkungen im ausgehenden 14. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen,

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rode veranlasst hatte, resultieren. Mithin ist die geflügelte Redensart „Zum Turm gehen“ in diesem Fall erfüllt worden, wenngleich sich die Delinquenten eines Turmgangs durch die Flucht aus der Stadt manches Mal entzogen. Die Gefangenen wurden in der Regel von Burggrafen oder deren Beauftragten bewacht. Im Falle des Frankenturms handelte es sich anfangs um einen Angehörigen der „Geschlechter“, seit 1396 um einen Bürgerlichen, und zwar Cono Gir von Kovelshoven323 und Johann Beirbuch.324 Beirbuch war jedoch verheiratet mit der Tochter eines Ritters Johann vom Forste.325 Er gehörte also nicht ohne Weiteres zu den „Bürgerlichen“. Da er sonst nicht zu fassen ist, könnte er zu den angeheuerten Personen zählen, die der Rat in seinen Dienst genommen hatte, zumal Johann auch auf Befehl der Ratsherren solche Gefangenen bewachte326, die offenbar zu den besiegten „Webern“ gehörten.327 Aber nicht nur im Frankenturm hat der Rat Gefangene in dem Zeitraum, zu dem die Stadtrechnungen aufgezeichnet sind, untergebracht. Ferner ist das Gereonstor samt dem Turm zur Gefangenenaufbewahrung erwähnt. In ihm wurde der Ort für die Gefangenen gereinigt.328 Das ist die einzige Aussage für den erwähnten Turm, die den Stadtrechnungen 1370– 1380/81 zu entnehmen ist. Immerhin wurde der Raum in diesem Turm gesäubert. Man kann sich vorstellen, dass in anderen Türmen diese Räumlichkeiten ebenfalls gesäubert werden mussten. Immer dann wird das Säuberungskommando tätig geworden sein, wenn ein Gefangener den Turm verlassen hatte und ein neuer angekündigt wurde. Das mag auch gelten, wenn dazu keine Unterlagen zur Verfügung stehen und die Stadtrechnungen keine Anhaltspunkte dafür geben. Anschließend kommt das Ehrentor in Frage, wenn man den Stadtrechnungen folgen will. Das Tor bewachte Gobelin von Rore, der auch vom Dauwe genannt wurde. Er ist der Sohn eines Gobelin von Dauwe alias von Rore. Der ältere Gobelin war in erster Ehe mit einer Oria und in zweiter Ehe mit Johanna verheiratet.329 Gobelin der Jüngere hat jedenfalls für Gefangene Geld erhalten.330

Sonderband 25), Sigmaringen 1980, S. 50 Nr. 209: Er erwarb immerhin 37 Fuder 5 ¼ Ohm Wein, das macht insgesamt ungefähr 33.087 Liter oder 330,87 Hektoliter aus. 323 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 193, 195, 240 und öfter. 324 Ibid., S. 76. 325 HAStK, Schreinsbuch 338, fol. 20r; vgl. Schreinsbuch 357, fol. 35v. 326 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 76. 327 Vgl. Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 173 ff.; Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 100 ff. 328 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 15: ad purgandum locum captivorum 1 Mark 4 Schillinge. 329 HAStK, Schreinsbuch 354, fol 69r. 330 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 13, 17; vgl. auch ibid., S. 33 f., 102.

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Denn am 6. November 1370 bekam er Geld für zum Tode Verurteilte.331 Er ist 1373 verstorben und seine zweite Frau empfing Gelder von der Ehrenpforte. Er war auch Burggraf desselben Tores oder Turms und hatte bereits am 26. Juli 1370 einen Betrag erhalten, nämlich 25 Mark.332 Ob er einen Nachfolger hatte, der auf dem Ehrentor auch Gefangene hielt, ist den Stadtrechnungen nur unzureichend zu entnehmen. Auf dem Kunibertstor oder -turm hielt Johann vom Hasen, von Hase oder einfach Hase (de Lepore) als Burggraf Wache und gleichzeitig beaufsichtigte er auch seit 1373 Gefangene.333 Zwei Jahre später ist von alten und neuen Gefangenen auf dem Kunibertsturm die Rede gewesen.334 Darunter wird man wohl Angehörige der Schöffen während des sogenannten Schöffenstreits oder -kriegs zu verstehen haben335, eventuell kommen auch noch Gefangene aus der „Weberherrschaft“ hinzu. 1379 bewachte Johann vom Hasen einen Engelbert von Oeffte336, der der Stadt während einer der zahlreichen Fehden in die Hände gefallen war. Weder Johann vom Hasen noch dessen Sohn Ludolf haben das Kölner Bürgerrecht empfangen.337 Da Ludolf relativ spät im Jahr 1393 ein Haus in Köln erwarb und Johann gar nicht in den Schreinsbüchern auftaucht338, wird man wohl davon ausgehen können, dass Johann wie auch andere für die Torwache und die Bewachung der Gefangenen vom Rat aus dem Umland engagiert wurden. Zur gleichen Zeit wie den Kunibertsturm bewachte das Schafentor und dessen Gefangene ein Emund von der Velen.339 Emund zählte zum „Geschlecht“ der Birkelin, war also ein Angehöriger der „Geschlechter“ und genoss zumindest vor dem Auszug eines Großteils der Schöffen aus der Stadt ein höheres Ansehen als diejenigen, die aus dem einfachen Bürgertum in die Ämter gelangten und Gefangene bewachten. Vorübergehend haben auch Burggrafen des Bachtores, genannt vom Büchel oder de Monticulo, Gefangene bewacht.340 Johann von dem Büchel ist 1377 als 331 Ibid., S. 27: …de expensis factis circa captivos iudicatos mortuos per Ludolphem de Cornu et Johannem de Grine ex iussu dominorum. 332 Ibid., S. 141. 333 Ibid., S. 136 ff. 334 Ibid., S. 181. 335  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 111 ff. 336 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 322; vgl. auch Uta Lindgren: Kölner Fehden als Problem von Verwaltung und Verfassung (1370–1400), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 54 (1983), S. 1–134, hier S. 34 ff. 337 Sie sind in der Liste der Neubürgeraufnahmen nicht bezeugt; vgl. Stehkämper, Neubürger (Anm. 146) IV, S. 251. 338 HAStK, Schreinsbuch 219, fol. 63r, 79r; 394, fol. 95v. 339  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II; S. 144, 146, 148, 155 und öfter. 340 Ibid., S. 280.

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jemand bezeugt, der Gefangene beaufsichtigte. Ob dieser Johann allerdings mit einem in den Schreinsbüchern Genannten zu identifizieren ist, bleibt ungewiss.341 Johann Marselis, Marsilis oder Marsilii wird ebenfalls erwähnt. Er ist nur 1376 benannt342 und war vorher Burggraf auf dem Severinstor und danach 1377–1378 auf dem Schafentor.343 Allerdings hat er auf dem Schafen- im Gegensatz zum Severinstor keine Gefangenen mehr bewacht. Jedenfalls hat er kein Geld von der Stadt zu diesem Zweck bekommen. Er zählte auch zu den „Geschlechtern“. Daneben gab es auch solche Männer, die Gefangene bewachten oder beaufsichtigen sollten, ohne dass jene Personen nachweislich Burggrafen waren oder einen Turm verwahrten. So bewachte 1376 Gottfried von Lyskirchen sogar auf der Ehrenpforte Gefangene.344 Er nahm auch Personen gefangen. Gottfried von Lyskirchen gehörte zweifellos zu den „Geschlechtern“. Ob er allerdings mit dem 1376–1396 erwähnten Herrn des engen Rats identisch ist345, kann man nicht mit Sicherheit behaupten. Jedenfalls war er zu der Zeit kein Burggraf mehr auf dem Ehrentor. Heinrich Molenpesch hat ebenfalls 1379 Gefangene bewacht. Es gab einen Älteren und einen Jüngeren gleichen Namens. Der Ältere saß vielleicht 1350 im weiten Rat346, während der Jüngere um 1405 gestorben ist und Kinder hinterließ.347 Einer von beiden ist vorwiegend für die Stadt tätig geworden, wie in den Stadtrechnungen von 1370–1380/81 zu lesen ist. Die beiden Johann Beren und Johann Mirveit haben Gefangene gemacht, aber diese dürften beiden eher im Laufe einer Fehde in die Hände gefallen sein. Die Gefangenen mussten dem Rat abgeliefert werden, der die beiden entsprechend entlohnte.348 Da sowohl Beren wie auch Mirveit in den Schreinsbüchern nicht erwähnt werden, wird man wohl davon ausgehen können, dass sie von der Stadt als Söldner angeworben worden sind. Ein Burggraf oder dessen Knecht hatte den Gefangenen mit Lebensmitteln zu versorgen.349 Diese Aufgabe konnten sie einer Frau überantworten. Das könnte die Regel gewesen sein, aber das weiß man nicht genau. Der Burggraf erhielt Geld von der Stadt, aber er konnte es nicht restlos für sich einstreichen, 341 Vgl. HAStK, Schreinsbuch 357, fol. 44r; 380, fol. 51v. 342 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 218, 220–224 und öfter. 343 Ibid., S. 257, 272, 291, 306, 321. 344 Ibid., S. 217, 228, 239 f. 345  Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 454. 346 Ibid., S. 487. 347 HAStK, Schreinsbuch 379, fol. 36v. 348 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 146 f. 349 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48.

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sondern hatte damit den Beauftragten, sei es nun eine Hausfrau, eine arme Begine350 oder einen anderen Bediensteten, zu bezahlen. Kurz vor der „Revolution“ von 1396 ist sogar festlegt worden, dass die Gefangenen ihren Bewachern Geld zu geben hatten.351 Eine Sonderstellung nehmen Gottfried und Hermann von Lyskirchen ein. Beide waren Angehörige der „Geschlechter“ und wachten über das Ehrentor oder diverse Tore, wie es in den Quellen heißt. Sie bewachten auch Gefangene, Hermann von Lyskirchen sogar drei Männer auf verschiedenen Toren oder Türmen.352 Leider sind die Gefangenen, bei denen es sich um Kölner handelte, nicht genauer zu identifizieren. Ob es sich bei ihnen um Gefangene während des sogenannten Schöffenstreits oder -kriegs gehandelt haben könnte, ist nicht sicher zu beurteilen. Sowohl Gottfried als auch Hermann von Lyskirchen waren jedenfalls keine Schöffen und wurden weder vom Rat noch vom Erzbischof in der Zukunft als Schöffen vorgeschlagen. Für die Burggrafen war die Bewachung von Gefangenen ein lohnendes Geschäft oder eine ordentliche Nebeneinnahme. Allerdings ist den Kölner Stadtrechnungen von 1370–1380/81 nicht zu entnehmen, wie viel der Kölner Rat für einen Gefangenen zu zahlen bereit war. Dazu schwanken die Geldbeträge für die Gefangenen zu sehr. Es ist auch nicht klar, von welcher Höhe der Rat ausgegangen ist. Man wird allerdings annehmen können, dass die Stadt und die Burggrafen adlige Gefangene und deren Gefolgsleute besser als einfachere Leute oder auch einfache Bürger, vor allem Kölns, einstuften. Aber selbst bei den Bessergestellten ist nicht genau zu ermitteln, wie viel Geld der Rat bewilligte. Man kann höchstens sagen, dass die Taxe zwischen zwei Mark sechs Schillingen oder 2 ½ Mark und drei Mark pro Monat schwankte. Einmal, 1371, ist angegeben, wie viel die Stadt für einen Gefangenen pro Tag ausgab, nämlich zehn Schillinge.353 Wie bereits erwähnt, ist vor 1396 sogar festgelegt worden, dass die Gefangenen selbst ihren Aufenthalt auf den Türmen bezahlen sollten.354 Jedoch sind die Ausnahmen zahlreich. Von den Gefangenen auf den 350  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 253; vgl. auch Letha Böhringer: Geistliche Gemeinschaften für Frauen im mittelalterlichen Köln (Libelli Rhenani. Series minor 5), Köln 2009, S. 50. 351  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48. 352  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II; S. 228, 239 f., 244, 249. 353 Ibid., S. 34. Damals gab die Stadt für den Gefangenen Gerhard von Boitberg für 88 Tage 73 Mark 4 Schillinge. Das macht pro Tag zehn Schillinge. Da Gerhard von Boitberg in den Schreinsbüchern nicht vorkommt und auch sonst nicht nachweisbar ist, wird es sich bei ihm um einen Niederadligen gehandelt haben. Vgl. Bruno Kuske: Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter, 4 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 33), Bonn 1917–1934, hier Bd. I, S. 288 f. Nr. 835. 354  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 Nr. 48.

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Türmen, die wegen einer Schuld eingewiesen wurden, ist jedenfalls eine Rückzahlung auch für die Nahrung des Delinquenten und des vorgestreckten Geldes erwartet worden.355 Es kam auch vor, dass ein Gefangener sich selbst versorgte oder versorgen ließ356, besonders wenn es sich um Zahlungsunwillige handelte. Ob dagegen die Gefangenen aus den zahlreichen Fehden ihre Gefangenschaft selbst bezahlen mussten, ist nicht sicher überliefert. Auf jeden Fall ließ der Rat seine Gefangenen nicht verhungern, auch wenn die Speisen, falls die Gefangenen nicht selbst zahlten, einfach bis dürftig waren und kaum über Brot und Wasser, wie ihnen versprochen worden ist, hinausgingen. 1466 hielt Johann Haer, Burggraf auf dem Ehrentor, zwei Gefangene des Rats namens Rutger von Venlo und Lenssen von Neuss in seinem Turm fest. Der Burggraf erhielt für 49 Wochen für Nahrung und Stroh zusammen 29 Mark und 9 Schillinge. Das wären etwa 43 ¾ Pfennige pro Woche oder 12 ½ Pfennige oder wenig mehr als ein Schilling pro Tag für beide gewesen. Für einen weiteren Gefangenen ist die Verpflegungshöhe angegeben. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erhielt ein Gefangener maximal einen Schilling pro Tag.357 Damit war kein üppiges Mahl zu bekommen. Im Gegenteil wird ein Gefangener wohl Wasser und Brot erhalten haben, und der Rest wird für neues Stroh ausgegeben worden sein. 1470 heißt es lapidar, dass der Inhaftierte sich mit Wasser und Brot zufrieden geben müsse.358 Das wird man auch unterstellen können, wenn von wenig vermögenden Gefangenen die Rede war. 1411 wurde ausnahmsweise bestimmt, dass die Stadt die Kosten für die Verpflegung des Delinquenten trage.359 Ansonsten hatte der Burggraf oder auch der Turmmeister darauf zu achten, dass ein wegen einer Schuld eingesessener Gefangener vor seiner Freilassung das Geld für die Verpflegung ersetzte, das während seines Aufenthalts im Turm aufgelaufen ist.360 Nur einmal sind wir in der Lage, einen realen Vergleich mit einem vermögenden Schuldgefangenen zu ziehen, und zwar beim Haushalt des reichen Großbürgers Hermann von Goch. Er hat sich während seiner Haft großzügig verpflegen lassen.361 Ihm fehlte es an nichts außer der Freiheit, die ihm allerdings noch 1394 gewährt wurde. 355 Ibid. II, S. 498 Nr. 328; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 479 Nr. 1472,46. 356 Vgl. unten, S. 60: Hermann von Goch. 357 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 302 Nr. 130; vgl. ibid., S. 344 Nr. 158,XIII,11. 358 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 431 Nr. 1470,266. 359 Ibid., S. 92 f. Nr. 1411,3. 360 Ibid., S. 479 Nr. 1472,46; Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 498 Nr. 328. 361 Franz Irsigler: Ein großbürgerlicher Kölner Haushalt am Ende des 14. Jahrhunderts, in: Edith Ennen/Günter Wiegelmann (Hg.): Studien zur Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte. Festschrift Matthias Zender, 2 Bde., Bonn 1972, hier Bd. 2, S. 635–668; ebenso Quellen (Anm. 3) VI, S. 20 ff. Nr. 17.

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Abgesehen von den ausführlichen Stadtrechnungen 1370–1380/81 sind noch weitere Rechnungsfragmente bekannt und abgedruckt. In ihnen ist auch von Gefangenen die Rede. So hatte ein Gobelin von Pasternach 1397 Geld für einen Besuch der ersten Gefangenen erhalten.362 Darunter sind die Männer zu verstehen, die zur Partei der „Greifen“ zählten.363 Gobelin war Fleischer und Sohn eines Metzgers namens Konrad Pasternach, der um 1382 als verstorben galt.364 Engelbert vom Turne erhielt ebenfalls 1397 Geld für Männer, die auf seinem Turm festgesetzt wurden.365 Er ist in den Schreinsbüchern nicht erfasst und war auch kein Ratsherr.366 Es ist auch nicht gesagt, für welchen Turm oder Türme er die Verantwortung trug. Wenn wir die Stadtrechnungen mit der ihnen zukommenden Ausführlichkeit, die nur die Jahre 1370–1380/81 abdecken, verlassen, können die Beschlüsse des Rats eine gewisse Lücke füllen. Allerdings ist oft nur von einem „Turmgang“ die Rede, ohne dass vermerkt worden wäre, welcher Turm oder welches Gefängnis in Frage gekommen sei. Immerhin ist in einigen Fällen verzeichnet, welche Türme gewählt wurden. Neu ist das Hahnentor, das allerdings nur einmal erwähnt wird.367 Es handelte sich um die Inhaftierung eines Mannes namens Heinrich Huysgin. Ansonsten ist das Hahnentor während des Mittelalters von der Aufnahme anderer Gefangener befreit gewesen.368 Jedenfalls lassen sich keine „Turmgänge“ von Gefangenen auf dem Hahnentor oder -turm in der Zeit bis 1500 einschließlich nachweisen. Dagegen ist der Bayenturm nach den bisher bekannt gewordenen Quellen geradezu bevorzugt worden. Er ist 1392–1396, 1414, 1461, 1462, 1465 und 1478 genannt369, dürfte aber häufiger gewählt worden sein, zumal der Bayen- mehrfach zusammen mit dem Kunibertsturm, zu denen sich Gefangene begeben müssten, genannt ist.370 Beide waren die Tortürme, die am festesten ausgebaut waren und daher als sicher gelten konnten. Daneben wurde auch das Schafen-

362  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 393. 363 Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 283 ff.; vgl. Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XII, S. 302. Danach wurden sie gefoltert und auf dem Bayen- und dem Kunibertsturm eingekerkert und angeschmiedet. 364 HAStK, Schreinsbuch 129, fol. 59r, 60r. 365  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 934; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XII, S. 309. Die Gefangenen der „Freunde“ wurden in den städtischen Türmen verteilt. 366  Deeters, Rat (Anm. 64), S. 430. 367 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 92 f. Nr. 1411,3. 368  Militzer, Wahrzeichen (Anm. 37), S. 28. 369 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 146 f. Nr. 48; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 99 f. Nr. 1414,8; S. 302 Nr. 1461,9; S. 311 Nr. 1462,29; S. 321 Nr. 1465,1; S. 327 Nr. 1465,31; S. 604 Nr. 1478,47. 370 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 306 Nr. 1462,4; S. 302 Nr. 1461,9; S. 577 f. Nr. 1477,15.

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tor oder der Schafenturm371 und auch nur der Kunibertsturm372 erwähnt. 1394 und 1401 ist ebenfalls das Bachtor373 und 1466 und 1477 das Gereonstor bezeugt.374 Ansonsten sind keine Türme vom Ende des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts erwähnt, die als Gefängnisse in Frage gekommen wären. Immerhin sind im Bayenturm bei einer Begehung 1709 im ersten Stock zwei Räume für Gefangene beschrieben worden.375 1476 beschloss der Rat letztlich, alle Gefangenen in den Türmen aufzuschreiben.376 Bei dem Beschluss ist es geblieben, erneut 1492.377 Die Namen der Inhaftierten und die Orte, an denen man sie festhielt, sind in beiden Aufzeichnungen nicht genannt worden, wie man es überhaupt nur selten für nötig hielt, die Namen der Gefangenen zu notieren, zumindest für die Nachwelt aufzuschreiben. Laut einer Anordnung von 1484 durften die Burggrafen auch keine Gefangenen ohne Ratsbeschluss freilassen.378 Wenn Söldner Fehdegegner gefangen nahmen, hatten sie sie der Stadt abzuliefern. Die Stadt entschied dann, wie der Gefangene zu behandeln sei.379 Zumindest war es im 15. Jahrhundert so. Deshalb sind auch viele Gefangene nicht mit Kölner Bürgern zu identifizieren. Es hat vielmehr den Anschein, dass nur wenige Bürger oder Eingesessene der Stadt einen Turm haben aufsuchen müssen oder sie jedenfalls nicht so oft wie andere Gefangene genannt wurden. Aber nicht nur der Aburteilung der Delinquenten oder des Festhaltens von Fehdegegnern oder sonstigen Feinden der Stadt dienten die Türme zum Feld hin, sondern auch zur Aufnahme von insani, also von Personen, die der Allgemeinheit zur Last fielen oder gefährlich werden konnten.380 1378 begleitete eine Frau namens Gerburg die insana Else zu einem Turm oder in sonstige sichere Verwahrung.381 Ob diese „Unsinnigen“ allerdings angekettet wurden, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Die Tortürme vornehmlich zur Feldseite hatten demnach also vielfältige Aufgaben zu erfüllen. Dafür waren in erster Linie die Burggrafen verantwortlich, aber auch andere Bedienstete der Stadt 371 Ibid., S. 99 f. Nr. 1414,8; S. 215 Nr. 1447,9. 372 Ibid., S. 166 f. Nr. 1436,9; S. 320 Nr. 1464,30; S. 646 Nr. 1481,17. 373 Franz Irsigler: Hermann von Goch, in: Rheinische Lebensbilder 8 (1980), S. 61–80, hier S. 74; Loesch, Zunfturkunden (Anm. 154) II, S. 436 f. Nr. 671; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 56 f. Nr. 1401,7–8. 374 Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 329 Nr. 1466,2; S. 433 Nr. 1470,274. 375 Vogts, Denkmäler (Anm. 35), S. 128. 376 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 554 Nr. 395; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 481 Nr. 1476,52. 377 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 643 f. Nr. 480; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 768 Nr. 1493,1. 378 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 587 Nr. 445; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 682 Nr. 1484,27. 379 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 146. 380  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 45: zu 1371; vgl. Frank Meier: Gaukler, Dirnen, Rattenfänger. Außenseiter im Mittelalter, Ostfildern 2005, S. 86 ff. 381 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 311.

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oder des Burggrafen. Der städtische Rat benutzte vor allem den Frankenturm als Gefängnis, während die Hacht vorwiegend von dem Schöffengericht gebraucht wurde.

Turniere der „Geschlechter“, Übungen der Bürger und Eingesessenen Die städtischen Truppen mussten für eine wirksame Verteidigung der Mauern und auch für sonstige Unternehmungen außerhalb der Stadt üben. Eine wesentliche Übung der „Geschlechter“ bestand in den Turnieren, an denen vor allem Adlige des umliegenden Territoriums beteiligt waren. Die Turniere fanden vorwiegend auf dem Altermarkt statt, der zu solchen Ereignissen mit Sand oder Mist für die beteiligten Pferde griffig gemacht wurde. Vorwiegend für die Fastnacht wurden die Veranstaltungen gebucht. An ihnen nahmen Angehörige der „Geschlechter“ und nach der „Revolution“ 1396 möglicherweise auch Mitglieder der neuen Schicht der maßgeblichen Herren teil.382 Aber Letzteres ist nicht ausgemacht oder durch Quellen belegt. Zweifellos dienten die Turniere ebenfalls der Belustigung aller Menschen in Köln und der willkommenen Unterbrechung des Alltags.383 Aber sie führten auch dazu, dass der Körper ertüchtigt und der Umgang mit den Pferden und Waffen geübt wurde. Obwohl die Kirche immer wieder die Beteiligung an einem Turnier verbot384, ließen sich Ritter und Angehörige der städtischen Oberschicht die Freude an demselben nicht nehmen.385 Die Turniere, die in der Stadt Köln nicht nur zur Fastenzeit veranstaltet wurden386, waren zum Teil mit aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen verbunden. Sie reichten durchaus in die Zeit zurück, als die „Geschlechter“ noch den engen Rat und damit die Geschicke der Stadt lenkten. Es hieß nämlich in den

382  Wolfgang Herborn: Die mittelalterlichen Kölner Fastnachtsturniere, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 36 (2005–2006), S. 25–44; Klaus Militzer: Turniere in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 64 (1993), S. 37–59; Ders.: Turniere in Köln, in: Fasciculi archaeologiae historicae 8 (1995), S. 55–66; vgl. auch Richard W. Barber/Juliet R. V. Barker: Tournaments. Jousts, Chivalry and Pageants in the Middle Ages, Woodbridge 1989, S. 49 ff.; Thomas Zotz: Adel, Bürgertum und Turniere in deutschen Städten vom 13. bis 15. Jahrhundert, in: Josef Fleckenstein (Hg.): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), Göttingen 1985, S. 450–499, hier S. 462 ff. 383  Militzer, Turniere 1993 (Anm. 382), S. 44 f. 384  Sabine Krüger: Das kirchliche Turnierverbot im Mittelalter, in: Fleckenstein (Hg.), Turnier (Anm. 382), S. 401–424. 385 Vgl. auch Zotz, Adel (Anm. 382), passim. 386 Vgl. Herborn, Fastnachtsturniere (Anm. 382), S. 26 f.

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Stadtrechnungen zu 1378, dass die angemieteten Bogenschützen sowohl die Tore wie auch den Platz des Turniergeschehens bewachen sollten.387 Es gab auch Turniere nach der sogenannten Revolution von 1396 in Köln.388 Aber ob wohlhabende Bürger daran teilnahmen, indem sie selbst an den Turnieren der Adligen mitmachten und nicht nur Fensterplätze zum Zuschauen belegten, ist eher zweifelhaft oder gar unwahrscheinlich. Immerhin blieb die Stadt Köln für den Adel, der im Umkreis der Stadt seine Burgen oder Residenzen bewohnte, ein idealer Turnierplatz.389 Schließlich haben Angehörige der „Geschlechter“ auch in Italien und andernorts gekämpft390 und ihre Erfahrungen der Stadt vermacht. Deren Angehörige ließen sich darüber hinaus als Söldner anwerben. Ferner ist zu beobachten, dass sie sich ebenfalls nach 1396 zur Verfügung stellten, ohne dass sie in den Soldlisten geführt werden.391 Es ist auch sonst bezeugt, dass Mitglieder der „Geschlechter“ zu Pferde kämpften.392 Nach ihrer Entmachtung 1396 haben sich viele in den Dienst der Stadt gestellt, weil ihnen die Rentmeister oder die zuständigen Amtleute ein auskömmliches Einkommen versprachen oder in Aussicht stellten.393 Angehörige der „Geschlechter“ hatten einen Brustharnisch zu tragen und waren auch sonst mit Verteidigungswaffen ausgerüstet. Sie hatten auch ihre Pferde zu schützen, zumindest wenn sie an Turnieren teilnehmen wollten.394 Wenn sie ihre Pferde allerdings im Auftrag der Stadt verloren, erhielten sie

387  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 321; vgl. auch Militzer, Turniere 1993 (Anm. 382), S. 39 ff., und Herborn, Fastnachtsturniere (Anm. 382), S. 30 ff.; Ders.: Die Geschichte der Kölner Fastnacht von den Anfängen bis 1600 (Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums 10), Hildesheim/Zürich/New York 2009, S. 28. 388 Herborn, Fastnachtsturniere (Anm. 382), S. 33 ff. 389 Ibid., S. 30 f. 390 Vgl. Karl Heinrich Schäfer: Deutsche Ritter und Edelknechte in Italien während des 14. Jahrhunderts, 4 Bde. (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte 15, 16, 25), Paderborn 1911–1940, hier Bd. 4, passim; Stephan Selzer: Deutsche Söldner im Italien des Trecento (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 98), Tübingen 2001, S. 199 f., 209 ff., 262 ff.; Walther Föhl: Der Bürger als Vasall. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Neuss im 14. und 15. Jahrhundert (Schriftenreihe des Stadtarchivs Neuss 3), Neuss 1965, S. 73 ff.; Klaus Militzer: Kölner Söldner im Mittelalter, in: Jerzy Maik (Hg.): Weaponry as a mirror of the epoch (Fasciculi archaeologiae historicae 27), Łódź 2014, S. 73–78. 391 Militzer, Kölner Söldner (Anm. 390), S. 76. 392 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 133; Klaus Militzer: Die Beteiligung von Bürgern an Schlachten des 13.–15. Jahrhunderts, dargestellt insbesondere an Kölner Beispielen, in: Witold Switoslawski (Hg.): Warfare in the Middle Ages (Acta Archeologica Lodziensia 47), Łódź 2001, S. 61–66, hier S. 65. 393 Militzer, Kölner Söldner (Anm. 390) S. 75 f.; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 153 f. 394 Kölnisches Stadtmuseum: Auswahlkatalog, Red.: Irmgard Tietz-Lassotta, Köln 1984, S. 151 ff.

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neue. Wenn ihre Tiere erkrankten, bekamen sie Medizin zu deren Heilung. Es konnte auch sein, dass ein Schmied die Tiere kurierte.395 Ohne Infanterie war keine Fehde zu gewinnen und keine Burg oder anderweitige Befestigung zu erobern. Daher waren Bürger der Stadt als Fußsoldaten tätig, weil sie sich die kostspielige Haltung von Pferden nicht leisten konnten. Bürger waren vielmehr mit Spießen ausgestattet, wie die Koelhoffsche Chronik nahelegt (Abb. 14).396 Immerhin sind auch Armbrüste abgebildet, die jedenfalls am Ende des 14. und im 15. Jahrhundert zu den ständigen Waffen der Kölner Bürger, aber auch der Söldner gehörten.397 Wahrscheinlich wurden Bürger und Eingesessene, aber auch Söldner schon im 13. Jahrhundert zur Verteidigung der Mauern oder Wälle angehalten.398 Armbrüste und auch andere Verteidigungswaffen auf den Toren und Mauern stellte im Allgemeinen die Stadt selbst. Die Frage ist, über welche Waffen überhaupt die Bürger verfügten. Es dürfte unbestreitbar sein, dass die meisten Bürger zu Fuß gekämpft haben. Das war schon so, als die Kölner halfen, den Erzbischof Siegfried von Westerburg in der Schlacht bei Worringen 1288 zu schlagen.399 Jan van Heelu berichtet, dass die Kölner „Kettenhemden, Halsberge und Schwerter“ gehabt hätten. Ob das stimmt, ist weder zu widerlegen noch zu bestätigen. Jedenfalls müssen sich die Kölner Fußtruppen von den sogenannten bergischen Bauern, die vor allem mit „Kriegsflegeln“ und „Morgensternen“ ausgestattet waren, unterschieden haben.400 Nach dem Bürgereid von 1355 hatte ein Kölner beim Läuten der Sturmglocke in vollem Harnisch bereit zu sein.401 Was darunter im Einzelnen zu verstehen war, ist nicht erläutert. Ferner ist das Wort „ganz“ oder „voll“ in der Vorlage ausradiert, so dass ein Verständnis erschwert wird. 395 Vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 147 ff. 396  Militzer, Beteiligung (Anm. 392), S. 65; Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 711 f.; Die Cronica van der hilliger Stat van Coellen (Koelhoffsche Chronik von 1499), ND Köln 1972, fol. 275r. 397  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4) S. 150 ff. 398  Militzer, Beteiligung (Anm. 392), S. 65. 399 Vgl. die Übersetzung der Schilderung der Schlacht von Jan von Heelu durch Franz W. Hellegers in Werner Schäfke (Hg.): Der Name der Freiheit 1288–1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute. Handbuch zur Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums in der Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln 29.1.1988–1.5.1988, Köln 1988, S. 105– 154, hier S. 141, 146; dazu Hugo Stehkämper, Die Stadt Köln in der Salierzeit, in: Ders. (Hg.): Köln – und darüber hinaus. Ausgewählte Abhandlungen, 2 Bde. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 93), Köln 2004, hier Bd. 1, S. 353–445, hier S. 374 f.; Militzer, Bewaffnung (Anm. 238), S. 47. 400 Vgl. Ulrich Lehnart: Kampfweise und Bewaffnung zur Zeit der Schlacht von Worringen, in: Schäfke (Hg.), Name der Freiheit (Anm. 399), S. 155–176, hier S. 161 f. 401  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 70 Nr. 20,2.; vgl. auch Stein, Akten II, S. 384 f. Nr. 248, ferner Militzer, Bewaffnung (Anm. 238), S. 47; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 60.

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Abb. 14: Ausschnitt aus der Koelhoffschen Chronik mit bewaffneten Bürgern Kölns während der Kölner „Weberschlacht“ 1371 (aus: Die Cronica van der hilliger Stat van Coellen [Koelhoffsche Chronik von 1499], ND Köln 1972, fol. 275r).

1383 verlangte der Rat von den Salzmüddern, die das Salz vermaßen und dem Erzbischof unterstanden, dass jene sich, falls jemand von ihnen keinen Harnisch hätte, einen solchen ausleihen sollten. Den Wert der Verteidigungswaffen verantworteten die Meister der Bruderschaft. Ferner hatten die zu einer Wache abgestellten Salzmüdder von den Meistern der Bruderschaft weitere Verteidigungswaffen zu besorgen, nämlich unter anderen einen Beinharnisch, Handschuhe, eine Armbrust und ein Schwert.402 Ob die vom Erzbischof damals noch abhängigen Salzmüdder für alle Bürger und Eingesessenen Kölns repräsentativ waren, ist nicht zu ermitteln. Man wird jedoch von einer gewissen Repräsentativität für die übrigen Bürger ausgehen können. Denn an einer ähnlichen Formulierung hielt der Rat auch nach der „Revolution“ von 1396 fest, indem er 1405–1410 forderte, dass ein Neubürger einen Harnisch vorzuweisen habe. 1444 verlangte er, dass jemand, der ein Handwerk ausüben wolle, einen Panzer, einen burst, einen Eisenhelm und ein 402 Kuske, Quellen (Anm. 353) I, S. 70 f. Nr. 199,12,14; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 150.

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Paar Handschuhe haben müsse.403 In diesem Fall ist von Bürgern und Eingesessenen die Rede, also auch von denen, die kein Bürgerrecht erworben hatten.404 In der Wachtordnung von 1467 wurde „wiederholt“ festgelegt, dass jeder auf der Wache mindestens einen Panzer, einen Eisenhelm, einen burst und ein Paar Eisenhandschuhe haben müsse.405 Wiederum ist zwischen Bürgern und Eingesessenen in dieser Hinsicht kein Unterschied gemacht worden. Dazu passen auch die Angaben in den Stadtrechnungen von 1370–1380/81. Danach hatte 1372 ein Meister Jakob die Panzer (panzerii) auszubessern und zu reinigen, ebenso die Pfeile, die Handschuhe und anderes instand zu halten406, auch ein Jakob Wecbrie hatte die eisernen Pfeile und die Eisenhandschuhe für die Ratsherren zu säubern und bereitzuhalten.407 1374 hatte sich Reinhard Claitze zu rechtfertigen, dass er seinen Panzer verloren habe.408 1375 übernahm ein Jakob Ecberti die Aufgabe, die Panzer zu reinigen.409 Ein Panzer kostete übrigens 27 Mark, eine für die damalige Zeit gewaltige Summe. 1378 hat ein Meister Eckbert wiederum Panzer reinigen müssen.410 In beiden Fällen handelt es sich wohl um dieselbe Person. Nach Hermann Keussen wohnte Jakob mit seinen drei Frauen im vornehmen Viertel St. Laurenz an der Straße Unter Taschenmacher. Er ist 1386 als verstorben bezeugt.411 Erst seit 1444 ist genauer ausgeführt, was ein Bürger vorzuweisen hatte, nämlich wie schon genannt zum wenigsten einen Panzer, einen Helm aus Eisen, eyne burst und ein Paar Handschuhe.412 Es ist nicht gesagt, welcher Art die Handschuhe waren. Was aber hat man unter einer burst zu verstehen? Brigitte Maria Wübbeke macht es sich einfach, indem sie burst mit Armbrust übersetzt. Das ist durchaus möglich. Aber trifft es auch zu? Eine Armbrust war in vielen Haushalten vorhanden, weil schon die Gewinnspiele mit den Armbrüsten ausgetragen wurden. Aber trug der Pfeil der Armbrust so weit, dass er einen Feind töten oder zumindest kampfunfähig machen konnte? Dazu hätte der Armbrustschütze vor den Toren am Graben stehen müssen. Außerdem stellte die Stadt selbst Armbrüste auf den Mauen und Toren. Ich neige eher der 403  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 314 Nr. 143; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 60, übersetzt aber burst mit Armbrust, vgl. dagegen Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 728. 404 Vgl. Deeters, Bürgerrecht (Anm. 160), S. 9 ff. 405  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 423 Nr. 275,2. 406  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 91. Schon vorher wurde befohlen, die Panzer instand zu halten. 407 Ibid., S. 95. 408 Ibid., S. 114. 409 Ibid., S. 196. 410 Ibid., S. 312. 411  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 291a-b Nr. 7–9; HAStK, Schreinsbuch 468, fol. 29v, 44bv, 46r, 48r. 412  Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 314 Nr. 143; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 199 Nr. 1444,18.

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Interpretation von burst als Brustpanzer zu. Allerdings umschloss ein Harnisch bzw. Panzer auch einen Brustpanzer. Ein Harnisch sollte nicht gepfändet werden dürfen, verlangte der Rat und ließ einen entsprechenden Passus in das Ratsmemorialbuch eintragen.413 Aber er schränkte die Bestimmung auch wieder ein. Falls nämlich keine andere Möglichkeit zur Pfändung bestehe, erstrecke sie sich auch auf den Harnisch. Was ist aber unter einem Harnisch bzw. Panzer zu verstehen? Ist damit die gesamte Ausrüstung, über die ein Bürger verfügen sollte, wie der Eisenhelm oder die Eisenhandschuhe oder anderes Zubehör, beispielsweise der Brustharnisch, gemeint? Das ist jedoch nicht gesagt. Es bleibt dabei, dass der Harnisch oder Panzer den Körper, also auch die Brust, bedeckte und schützte. Der Brustpanzer, die burst, wäre dann nur zusätzlich genannt. Auffallend ist nun, dass die Bürger oder Eingesessenen keine Angriffs-, sondern ausschließlich Verteidigungswaffen haben mussten, es sei denn, man übersetzt burst nicht mit „Brustharnisch“, sondern mit „Armbrust“. Tut man das nicht, hatte die Stadt Angriffswaffen bereitzustellen, also vor allem Armbrüste mit den zugehörigen Pfeilen. Allerdings verlangte die Ordnung der Salzmüdder den Besitz von Armbrüsten, was sonst aber nicht nachzuweisen ist. Nach der „Revolution“ von 1396 ist in keiner Quelle eine Armbrust erwähnt, die die Männer zur Wache mitzubringen hätten. Man wird also davon ausgehen können, dass die Stadt viele Armbrüste zumindest nach 1396 gestellt hat und dass sie auch die zugehörigen Pfeile und nicht nur Spezialpfeile vorrätig gehalten hat. Schwerere Waffen waren ohnehin in den Händen des Rats und wurden nach Bedarf zur Verfügung gestellt, wie auch die bereits erläuterten Listen von 1446 und 1468 über die von den Rentmeistern zu überwachenden Festungswerke, Türme und Tore nahelegen. Im Übrigen war es seit dem Verbundbrief von 1396 stets so, dass Bürger oder Eingesessene nie allein, sondern stets mit besoldeten Burggrafen, Schützen oder Söldnern den Wachdienst versahen.414 Abgesehen von den Bürgern, Eingesessenen oder Söldnern, die auch die Tore und Mauern bewachten, gab es noch weitere Männer zu Pferde, die der Stadt dienten und vorzugsweise in der Umgebung Kölns eingesetzt worden sind. Sie hatten den Burgbann und die Bannmeile zu verteidigen und zu schützen. Vor 1396 wie auch unmittelbar danach waren viele Söldner der Stadt gleichzeitig Angehörige der „Geschlechter“. Denn nur sie konnten es sich leisten, ein Pferd mit der entsprechenden Panzerung zu unterhalten. Im Laufe des 15. Jahrhunderts gab es auch immer wieder einzelne Kölner, die als Söldner der 413 Stein, Akten (Anm. 6) I, S. 408 Nr. 212; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 337 Nr. 1467,12. 414 Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 62.

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Stadt zu Pferd dienten415, aber ihre Zahl war begrenzt. Diese reitenden Bewaffneten wurden fast ausschließlich zur Sicherung des Umlandes, zur Bestreitung von Fehden oder Anforderungen des Landfriedens eingesetzt.416 Die Pferde und deren Zustand wurden in der Zeit nach 1396 von den sogenannten Stimmmeistern geschätzt. Wenn das Pferd im Kriegs- oder Fehdefall erkrankte, verletzt oder getötet wurde, hatte der Rat den Wert der Tiere zu ersetzen.417 Wenngleich die Bürger wehrhaft waren, so weigerten sie sich vielfach doch, Wachdienste zu übernehmen. Diese Anschauung fand im 15. Jahrhundert zunehmend Anhänger, so dass es bald darauf hinauslief, dass Bürger und Eingesessene lieber Geld für Söldner gaben, als dass sie selbst die Wache auf den Toren oder Mauern übernahmen.418 Wenn allerdings Gefahr im Verzug war, fanden sich viele Bürger und Eingesessene bereit, auf den Mauern und Türmen Wachdienste zu leisten.419 Das war beispielsweise der Fall, als Karl der Kühne Neuss belagerte. Das Schweigen der Stadtrechnungen zu den Bürgerwachen ist vor allem damit zu erklären, dass Bürger und Eingesessene, die auf den Mauern und Türmen Wache hielten, keinen Anspruch auf Entschädigung hatten420 und daher in den Stadtrechnungen vor 1396 und auch danach nicht zu finden sind. Vor allem die Schützen, die Bürger und Eingesessenen mussten üben. Sie taten das zumindest seit dem 15. Jahrhundert auf dem Neumarkt.421 Ein „Schützenhof“ ist dort seit 1444 bezeugt. Er diente wohl in der Hauptsache den Armbrustschützen.422 Das war auch noch im 16. Jahrhundert so.423 Spätestens seit dem 15. Jahrhundert wurden zu den Schießspielen auf dem Neu-

415 Zu Johann von Elsich und Gerhard vom Wasservas vgl. Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4) S. 103 ff.; Manfred Groten: Gerhard vom Wasservas (um 1450–1520). Ein kölnischer Bürgermeister, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 52 (1981), S. 93–130, hier S. 104 f. 416 Vgl. Claudia Rotthoff-Kraus: Die politische Rolle der Landfriedenseinungen zwischen Maas und Rhein in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Beihefte 3), Aachen 1990, passim; Martina Stercken: Königtum und Territorialgewalten in den rhein-maasländischen Landfrieden des 14. Jahrhunderts (Rheinisches Archiv 124), Köln/Wien 1989, S. 145 ff. 417  Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 77 ff. 418 Ibid., S. 206 ff., vgl. Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 270 Nr. 164. 419 Vgl. beispielsweise Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 407. 420 Vgl. etwa Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 72 ff. Nr. 63; S. 95 ff. Nr. 79. 421  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, Sp. 430b Nr. 3–8; vgl. Sp. 433b Nr. u; Sp. 434a Nr. u und y. Der Schützenhof wurde 1594 verkauft. 422  Thomas Schnitzler: Die Kölner Schützenfeste des 15. und 16. Jahrhunderts – Zum Sportfest in „vormoderner Zeit“, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 63 (1992), S. 127–142, hier S. 128. Der Schützenhof ist 1466 erneut erwähnt; Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 403, 405. 423 Buch Weinsberg (Anm. 203) III, S. 107.

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markt auch immer wieder Auswärtige geladen.424 Denn im Messen mit dem Können der auswärtigen Bürger konnten die Kölner ihre Vorzüge oder auch ihre Nachteile erfahren. Das führte dazu, dass unter anderem der Niederadlige Götz von Berlichingen eine Stellvertreterfehde mit der Stadt Köln führte.425 Auch die Büchsenschützen mussten üben. Für sie war als Möglichkeit zum Zielen und zum Abfeuern ihrer Büchsen seit 1481 der Holzmarkt oder die Holzwerft vorgesehen.426 Man wird aber davon ausgehen können, dass der Rat die Erlaubnis dazu schon früher gegeben hatte. Seit 1528 spätestens ist der Graben zwischen dem Schafen- und dem Weihertor den Büchsenschützen zugewiesen worden.427 Während die Holzwerft Bedenken hervorrief, weil sie hin und wieder von Kölnern besucht wurde und der Niederlage von Waren diente, war der Graben zwischen den beiden Toren unbedenklicher. Er bot sich als Übungsgelände an, da nicht davon auszugehen war, dass sich darin Bürger der Stadt aufhielten.428 Es war ihnen vielmehr verboten, den Graben oder die Gräben insgesamt zu betreten. Insgesamt lehrt uns das Vorgehen sowohl der „Geschlechter“ wie auch der Bürger und Eingesessenen, dass beide Parteien Spaß hatten. Sowohl die Turniere als auch das Armbrustschießen auf dem Neumarkt hatten eine vergnügliche wie auch eine ernsthafte Seite. So dienten die Turniere wie auch das Armbrustschießen der Freude am Gelingen eines Schusses von der Armbrust wie aus der Büchse. Das Schießen und das Turnier galten auch dem Erproben der eigenen Fähigkeiten und damit der Wehrhaftigkeit der städtischen Bevölkerung. Es gilt allerdings festzuhalten, dass das Vergnügen die Fähigkeit zur Verteidigung überwog.

Das Umland der Kölner Türme und Mauern Es geht in diesem Kapitel nicht um eine Schilderung des Umlandes der Stadt Köln in seiner ganzen Breite und Komplexität, sondern nur um das Umland in Bezug auf die Befestigung der Stadt. Es wird also nicht danach gefragt, was einzelne Bürger im Burgbann besessen haben oder wie sie ihre Besitzungen im 424 Vgl. Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 899 f., 912; Irsigler, Kölner Wirtschaft (Anm. 155), S. 235. 425  Helgard Ulmschneider (Bearb.): Götz von Berlichingen, Mein Fehd und Handlung (Forschungen aus Württembergisch Franken 178) Sigmaringen 1981, S. 50 ff.; vgl. Militzer, Bewaffnung (Anm. 239), S. 50. 1483 verbot der Rat allerdings die Schießspiele; Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 577 Nr. 433. 426  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 23b Nr. 5–7; Sp. 26a Nr. 1; Schnitzler, Kölner Schützenfeste (Anm. 422), S. 128. 427 Schnitzler, Kölner Schützenfeste (Anm. 422), S. 128. 428 Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 378 Nr. 239.

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Einzelnen genutzt haben. Vielmehr soll herausgestellt werden, wie das Umland außerhalb der Stadtmauern zu den Befestigungen der Stadt eingeschätzt wurde.429 Mit Franz Steinbach gehen wir davon aus, dass Köln samt seinem Umland, dem sogenannten Burgbann, aus einem größeren Gerichtsbezirk wohl von Erzbischof Bruno I. im 10. Jahrhundert herausgelöst worden sei.430 Wahrscheinlich sei der Burgbann anschließend erweitert worden, ohne dass uns die Quellen des 14. Jahrhunderts darüber genau unterrichten würden. Wohl schon im 14., aber auf jeden Fall im 15. Jahrhundert sei der Gerichtsbezirk und damit die Herrschaft der Stadt auf das Umland über den Bischofsweg hinaus ausgedehnt worden. Dennoch blieb diese Ausweitung zwischen der Stadt und dem jeweiligen Erzbischof strittig, so dass sogar Kriege oder Fehden ausbrachen oder ausbrechen konnten. Bei allen Stadterweiterungen zur Feldseite hin musste die Stadt Land der Stifte und Klöster enteignen oder kaufen. Vor allem ging es um fest aus Stein oder entsprechenden Materialien gebaute Häuser oder Höfe. Das alles mag Probleme aufgeworfen haben, über die wir aber mangels Quellen nur ungenügend unterrichtet sind, weil vieles auch mündlich erledigt wurde. Allerdings wissen wir, dass der Propst von St. Kunibert 1295 mit der Stadt Köln einen Vergleich schloss, laut dem die Stadt berechtigt war, Gebäude des Stifts nahe der Befestigung abzubrechen. Das Stift hatte die Möglichkeit, Tore in die Mauer zu brechen, damit es an seine Grundstücke und Höfe außerhalb der Stadt am Leinpfad gelangen konnte. Allerdings ist die Lage der Grundstücke nicht genau beschrieben.431 Offensichtlich, da nichts weiter schriftlich festgehalten oder zu uns gekommen ist, hat das Stift – vielleicht auf Druck der Stadt 429 Vgl. auch Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 231 ff. 430  Franz Steinbach: Der Ursprung der Kölner Stadtgemeinde, in: Franz Petri (Hg.): Collectanea Franz Steinbach. Aufsätze und Abhandlungen zur Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, geschichtlichen Landeskunde und Kulturraumforschung (Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn), Bonn 1967, S. 659–670, hier S. 660 f., 667; zustimmend Hermann Jakobs: Verfassungstopographische Studien zur Kölner Stadtgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: Hugo Stehkämper (Hg.): Köln, das Reich und Europa. Abhandlungen über weiträumige Verflechtungen der Stadt Köln in Politik, Recht und Wirtschaft im Mittelalter (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 60), Köln 1971, S. 49–123, hier S. 59; Heppekausen, Kölner Statuten (Anm. 300), S. 225 f.; Dieter Strauch: Das Hohe Weltliche Gericht zu Köln, in: Dieter Laum (Hg.): Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, Köln 1994, S. 743–831, S. 749 f.; vgl. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter (im Folgenden: REK), bearb. von Friedrich Wilhelm Oediger et al., 12 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Bonn/Düsseldorf 1961–2001, hier I, Nr. 473. 431 Quellen (Anm. 3) III, S. 396 ff. Nr. 415 f.

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– von dieser Möglichkeit, ein Tor in die Mauer zu brechen, keinen Gebrauch gemacht. Der Burgbann bezog sich ursprünglich auf ein Gebiet, das sich nur wenig über die seit 1180 errichteten Mauern Kölns hinaus erstreckte. Dass dieser Bereich der ausschließlichen städtischen Gerichtsbarkeit unterstand, hatten die Kölner erst 1239 ertrotzt.432 Sie haben sich dieses Privileg in der Folgezeit immer wieder bestätigen lassen. Zwar hat König Karl IV. den Kölnern die Gerichtshoheit in der Bannmeile bereits 1349 zuerkannt und 1355 als Kaiser bestätigt, sie aber 1356 und wieder 1376 einschränken lassen.433 Die Einschränkungen erkannten die Kölner nicht an. Vielmehr beschwerte sich die Stadt bereits 1372 beim Kölner Erzbischof darüber, dass jener die Kölner in ihrer Bannmeile störe. Denn Kaiser, Könige, Päpste und Erzbischöfe hätten die Gerichtsbarkeit der Stadt außerhalb der Mauern bestätigt.434 Daher ist es wohl nicht ausgeschlossen, dass die Kölner bereits im 14. Jahrhundert Friedensbrecher in der Bannmeile aufbrachten und aburteilten.435 Formal besaßen die Kölner Schöffen wohl seit 1407 oder zumindest seit 1475, dem Jahr der Reichsfreiheit, die Hohe Gerichtsbarkeit über einen Halbkreis von Godorf an im Süden bis zum Norden.436 Ob dieses Privileg allerdings tatsächlich ausschlaggebend war und blieb, ist fraglich. Jedenfalls konnte die Stadt die Herrschaft über die Ländereien innerhalb des Bischofswegs und darüber hinaus wenigstens teilweise durchsetzen.437 Die Herrschaft über die Bannmeile oder den „Schweid“ blieb aber auch weiterhin von jeher zwischen der Stadt und dem Erzbischof strittig. Ohnehin war das Reichsstadtprivileg 432 Quellen (Anm. 3) II, S. 191 f. Nr. 194; Heppekausen, Kölner Statuten (Anm. 300), S. 225. 433 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 249; Karlotto Bogumil: Die Stadt Köln, Erzbischof Friedrich von Saarwerden und die päpstliche Kurie während des Schöffenkrieges und des ersten großen abendländischen Schismas (1375–1387), in: Stehkämper (Hg.), Köln, das Reich und Europa (Anm. 430), S. 279–303, hier S. 280 ff.; auch Herborn, Führungsschicht (Anm. 23), S. 111 ff.; Anna-Dorothee von den Brincken: Privilegien Karls IV. für die Stadt Köln, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 114 (1978), S. 243–264, hier S. 249 ff. 434 Quellen (Anm. 3) IV, S. 558 f. Nr. 559; REK (Anm. 430) VIII, Nr. 739. Allerdings ist die Jahreszahl erschlossen, da das Schreiben nur in einem Briefbuch überliefert ist. Wenn man die Jahreszahl für richtig hält, was kaum zu bezweifeln ist, gehört das Stück zum 6. Oktober 1372. 435 So Heppekausen, Kölner Statuten (Anm. 300), S. 226 f.; vorsichtiger dagegen Strauch, Gericht (Anm. 430), S. 752. 436 Anna-Dorothee von den Brincken (Bearb.): Köln 1475 – des Heiligen Reiches Freie Stadt. Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln zum 500. Jahrestag der Anerkennung Kölns als Freie Reichsstadt am 19. September 1975, Köln 1975, S. 60 f.; vgl. auch die Karte in Steinbach, Ursprung (Anm. 430), S. 668. 437 Vgl. die Karte in: Köln, hg. von der Stadt Köln, Köln 1948, Tafelabbildung 6: Plan des Kölner Schweids von Hogenberg 1616. Danach war die vom städtischen Rat beanspruchte Gerichtshoheit stark eingeschränkt.

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von 1475 nahezu ohne eine Nachwirkung, weil es eine Sache zu verbriefen schien, die schon seit Generationen entschieden war. Zu Beginn des 16. Jahrhundert war die Angelegenheit jedenfalls scheinbar beigelegt, auch wenn sich der Rat auf das Privileg Karls IV. von 1355 und nicht auf das Reichsstadtprivileg von 1475 berief. Durchgesetzt hat der Rat seine Herrschaft aber gleichwohl nicht so weit, wie es das Reichsstadtprivileg von 1475 garantierte.438 Denn der Streit um das Recht zur Aburteilung von Friedensbrechern und um die Hoheit über das Land blieb zwischen der Stadt und dem Erzbischof auch noch in der Neuzeit ab 1500 strittig.439 In den Ackerfluren vor der feldseitigen Stadtmauer gab es verschiedenartige Nutzungsformen.440 Zwischen dem Bischofsweg im Norden bis zum Duffesbach und weiter zwischen dem Weg zum Judenbüchel und zum Rhein hin und der Stadtmauer lag der Teil, der vorwiegend als Gartenland – auch als Weingärten – genutzt wurde.441 Diese Gärten bearbeiteten Gärtner oder Weingärtner, die aber meist in der Stadt wohnten. Jenseits des Bischofswegs und der übrigen Wege dehnte sich das Gelände der Bannmeile von St. Severin im Süden über das Weihertor und St. Christoph zum Eigelstein im Norden. Während die Flur südlich vom Severinstor auf durchschnittlich fünf Kilometer Ausdehnung kam, erreichte das Weihertor gerade einmal dreieinhalb Kilometer. Der Bezirk St. Christoph kam immerhin auf durchschnittlich sechs Kilometer. Am weitesten konnte der Eigelstein seinen nördlich gelegenen Bereich auf durchschnittlich elf Kilometer ausdehnen.442 Der Bereich jenseits des Bischofswegs und diesseits der Bannmeile galt als Ackerflur, in der anfangs die Dreifelder- und später die Mehrfelderwirtschaft angewandt wurde.443 Jedoch blieben die Ausdehnung der Bannmeile und das Recht Kölns, dieses Gebiet seiner Aufsicht und seinem Recht zu unterwerfen, strittig, wie schon mehrfach berichtet worden ist. Nach dem Bannmeilenrecht sollte sich dieses zusätzliche Gebiet sogar von Godorf in einem Halbkreis um Köln herum ausdehnen und den sogenannten Kölner Schweid ausmachen.444 Köln bemühte sich auch um den „Schweid“, konnte aber die alleinige Zuständigkeit der Stadt und des Rats nie durchsetzen. 438 Vgl. die Karte in Steinbach, Ursprung (Anm. 430), S. 668. 439  Susanna Gramulla: Wirtschaftsgeschichte Kölns im 17. Jahrhundert, in: Kellenbenz (Hg.), Kölner Wirtschaft, Bd. 1 (Anm. 155), S. 429–517, hier S. 434. 440 Franz Irsigler: Köln extra muros: 14.–18. Jahrhundert, in: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 1 (1983), S. 137–149. 441 Vgl. auch Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, S. 317: terra ortulana (1361). 442 Nach den Angaben von ibid., Sp. 315aff., über die identifizierten Flurstücke. 443 Vgl. auch ibid., S. 324: terra arabilis (1383); S. 317: artland (1406). 444 Vgl. Irsigler, Köln extra muros (Anm. 440), S. 139 und die Abbildung des Schweids S. 140, mit weiteren Literaturangaben.

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Da die Gärten und Äcker nicht von einer Mauer geschützt waren, haben sie Feinde der Stadt oft verwüstet. Zweifellos wurden schon vor der Mitte des 14. Jahrhunderts der Stadt Fehden angekündigt, die nicht nur die Kaufleute, sondern auch die Bauern und Gärtner vor den Mauern trafen.445 So ist schon 1367 von einer Fehde des Kölner Erzbischofs die Rede446, von der vorher wie auch nachher weitere feindliche Vorgehensweisen nachzuweisen sind.447 Wenn auch nicht in allen Fällen ausdrücklich gesagt worden ist, dass Gärtner und Bauern auf ihren Feldern geschädigt worden seien, wird man doch davon ausgehen können, dass die Gegner die Äcker und Gärten der Stadt nicht geschont haben. Die Gärtner und Bauern selbst werden in der Regel hinter den Mauern der Stadt Schutz gesucht und gefunden haben. Wie nach den Schreinseintragungen für das Umland zu schließen ist, haben die Behörden zunächst im 13. Jahrhundert Güter aus den Bereichen vor der Mauer noch in den innerstädtischen Büchern angeschreint. Eine Ausnahme machte das Gericht Eigelstein, das ursprünglich in Volkhoven seinen Hauptsitz hatte und erst im 14. Jahrhundert in die Stadt am Eigelstein verlegt worden ist.448 Bemerkenswert ist nun aber, dass eine Niedericher Schreinsurkunde im 13. Jahrhundert über die Stadtmauer hinausgriff und Liegenschaften außerhalb des Mauerrings beschrieb.449 Analoges gilt auch noch für die übrigen Liegenschaften außerhalb der Mauern im frühen 14. Jahrhundert.450 Ansonsten haben die städtischen Behörden erst seit demselben Jahrhundert damit begonnen, die Güter außerhalb der Mauern in den Schreinsbüchern extra muros zu erfassen. In Urkunden versuchten Kölner und Kölner Institutionen jedoch schon früher, ihre jeweiligen Rechte zu sichern. So ritten Heinrich Hardevust und wohl die ihn begleitenden Söldner 1371 außerhalb der Stadtmauern umher, um die Ansprüche der Stadt ebendort zu unterstreichen. Er erhielt dafür Hafer für die Pferde oder das Pferd ersetzt.451 Später übten die Aufgabe die Nachtwächter oder Söldner allein aus. Vielleicht gehörte Heinrich Hardevust auch zu den Nachtwächtern oder als Führer zu den angeworbenen Söldnern. Die Söldner (stipendiarii) waren 1372 für drei Wochen auf dem Feld.452 Sie wurden zur 445 Vgl. Lindgren, Kölner Fehden (Anm. 336), S. 1 ff.; Andrea Boockmann: Art.: „Fehde, Fehdewesen“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (1989), Sp. 331–334.; skeptisch bis ablehnend Hans-Henning Kortüm: Kriege und Krieger. 500–1500, Stuttgart 2010, S. 70 ff. 446 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIII, S. 30. 447 Vgl. beispielsweise ibid., S. 26, 31 f., 42, 47, 54, 57, 63, 119, 129, 135, 153. 448 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 43 ff. 449 Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 321b Nr. a–c; Sp. 324b Nr. a. 450 Ibid., Sp. 315b Nr. g; Sp. 318a Nr. d; Sp. 325a Nr. d; Sp. 325b Nr. a; Sp. 327a Nr. a. 451 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 44. 452 Ibid., S. 93.

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Absicherung des zweiten Grabens eingesetzt.453 Der Meister Gerhard lag mit Bogen- oder Armbrustschützen (sagittariis) vor den Toren der Stadt.454 An­sonsten setzte man Söldner hauptsächlich am Rheinufer an der Anlegestelle vor der Stadt ein.455 1474 wurden Söldner und andere Bewaffnete auf das Feld geschickt, um die dort arbeitende Bevölkerung zu schützen.456 Im Übrigen bewachten sie die Stadt in vielerlei Hinsicht, unter anderem vor den städtischen Toren, wie auch die genannten Beispiele verdeutlichen. Ansiedlungen mit festen Mauern – von Ausnahmen abgesehen – duldete die Stadt im Bereich des Burgbanns, also zwischen Mauer und Bischofsweg, nicht. Jenseits des Bischofswegs gab es in der Bannmeile einzelne feste Ansiedlungen, vor allem Klöster wie Weiher und Mechtern, die 1474 in die Stadt geholt wurden.457 Gebäude am Judenkirchhof vor St. Severin, das Siechenhaus in Riehl und die Niederlassung in Melaten, die ursprünglich für Aussätzige eingerichtet worden war, sind des Weiteren zu nennen.458 Ferner soll die Stadt auch den Hof des Klosters St. Pantaleon, genannt Sülz, vor der Stadtmauer samt der Nikolauskapelle hat abbrechen lassen.459 Ebenso geschah es mit einem festen Haus in Riehl vor den Toren Kölns.460 Damit beabsichtigte der Rat, den Angriffen Karls des Kühnen eher begegnen zu können und dessen Heer keine Möglichkeiten zu geben, diese gemauerten Gebäude zu benutzen und sich vor der Stadt festzusetzen. Die zerstörten Baulichkeiten wurden nicht wieder in Stein oder überhaupt nicht wiedererrichtet. Ein Bau in unmittelbarer Nähe, jedoch außerhalb der Stadtmauer im Bezirk Eigelstein namens „Kusin“ oder „Coesin“, war nur aus Holz gezimmert, besaß zumindest seit 1428 ein hölzernes Kelter- und Wohnhaus461 und durfte nicht aus Stein errichtet werden. Im Falle einer Belagerung konnte man es also schnell beseitigen oder abbrennen. 453 Ibid., S. 144. 454 Vgl. beispielsweise ibid., S. 113; ibid., S. 180 ist allerdings von einem Mann namens Rost die Rede, der sich außerhalb der Stadtmauern aufgehalten habe. Er tat das wahrscheinlich nicht allein, sondern hatte seine Begleiter oder auch bewaffnete Gruppen dabei. 455 Ibid., S. 182. Culwes wachte auch außerhalb der Stadtmauern, allerdings wohl auf dem Rheinufer vor der Mauer: ibid., S. 204. 456  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 510 Nr. 346. 457 Irene Gückel: Das Kloster Maria zum Weiher vor Köln (1198–1474) und sein Fortleben in St. Cäcilien bis zur Säkularisation (Kölner Schriften zur Geschichte und Kultur 19), Köln 1993, S. 55 ff.; Hermann-Josef Hüsgen: Zisterzienserinnen in Köln. Die Klöster Mariengarten, Seyne und St. Mechtern/St. Apern (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 19), Köln/Weimar/Wien 1993, S. 258 ff. 458 Die Koelhoffsche Chronik von 1499, in: Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165), XIV, S. 834 f.; Beschlüsse (Anm. 62) I, S. 527 Nr. 1474,70. 459  Irsigler, Köln extra muros (Anm. 440), S. 142; von Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, nicht erwähnt. 460 Chroniken der deutschen Städte (Anm. 165) XIV, S. 835. 461  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 1, S. 97*; Bd. 2, Sp. 326 Nr. o: 1409 noch im Besitz eines Emund vom Kusin.

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Weiter außerhalb Kölns standen zwar noch Höfe und zwei Dörfer, aber sie konnten mit der damaligen Feuerkraft den Stadtmauern nicht gefährlich werden.462 Ein Festsetzen in ihnen durch Feinde war wegen der doch größeren Entfernung nicht denkbar, jedenfalls damals, bis weit über das 15. Jahrhundert hinaus, noch nicht. Kölner Bauerbänke haben den Burgbann wie die Bannmeile überwacht. Über deren Entstehung gehen die Meinungen etwas auseinander. Es dürfte aber sicher sein, dass die Bauernschaft an der Weyerstraße 1334 bereits existierte.463 Man kann davon ausgehen, dass sie ein paar Jahre vorher ins Leben gerufen worden ist. Jedenfalls trat die Genossenschaft wohl schon im 14. Jahrhundert auf. Sie sollte die Gärten und Felder in ihrem Bereich überwachen und den Viehtrieb ordnen.464 Neben ihren wirtschaftlichen Funktionen hatte sie auch eine religiöse Komponente, da sie eine „engere“ Bruderschaft in St. Nikolaus in Sülz betrieb.465 Allerdings bestand die Bruderschaft wohl bis 1374 noch nicht, da die Stadt 1371–1374 Kerzen zur Kirche nach Sülz hat tragen lassen.466 Die Bauerbank an der Weyerstraße ist wohl von Angehörigen der „Geschlechter“ gegründet worden. Sie haben ihre Interessen in dem zugehörigen Bereich verfolgt. Gleichzeitig waren sie Besitzer umfangreicher Ländereien in den entsprechenden Außenbezirken Kölns. Jedoch waren nie alle Landeigentümer in einer Bauerbank organisiert. Hinzu kamen die Vorsteher von Männer- und Frauenklöstern sowie die Vertreter oder auch ganze Kapitel stadtkölnischer Stifte, die eben ihre Ländereien außerhalb der Stadtmauern Kölns oder Rechte daran hatten und nie den Genossenschaften angehörten. Es wurden auch Frauen in die Bauerbänke aufgenommen, falls sie über Ländereien außerhalb der Kölner Stadtmauern verfügten.467 Im Allgemeinen leiteten zwei Bauermeister die Gerichtsbarkeit der Bezirke oder Bauerbänke und sprachen Recht nach dem Urteil des Umstandes ihrer Mitglieder. Die Bauermeister wurden für jeweils ein Jahr gewählt. Ausführende Organe waren in beschränktem Maße die Flurschützen oder Boten, die bestimmte Urteile umsetzten oder für deren Umsetzung sorgten, auch Frevler in Gewahrsam nahmen. Allerdings waren sie gebunden an die Zuständigkeiten der örtlichen Gerichte.468 Zur Zeit der Gründung der Weyerbauerschaft war 462 Vgl. die Aufzählung von Irsigler, Köln extra muros (Anm. 440), S. 141 f. 463 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 188. 464  Adam Wrede: Die Kölner Bauerbänke. Ein Beitrag zur Volkswirtschaftsgeschichte Kölns im Mittelalter, Köln 1905, S. 15 ff. 465 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 188 f. 466 Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 44, 83, 152. 467 Vgl. Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 187 ff. 468  Strauch, Gericht (Anm. 430), S. 41; Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 193 f.; Wrede, Bauerbänke (Anm. 464), S. 34 ff. Die ältere Datierung in das 13. Jahrhundert können wir

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die Genossenschaft noch ein loser Zusammenschluss der mächtigeren Landbesitzer zur Durchsetzung von deren Interessen und Vorhaben. Der enge oder weite Rat der Stadt hatte noch kein Monopol an ihnen errichtet, wie auch das Kerzentragen zur Sülzer Kirche bezeugt. Wesentlich jünger ist die Ordnung der Bauerbank von St. Severin. Sie stammt aus dem Jahr 1384.469 Es wird vermutet, dass die Bauerbank nicht viel älter gewesen sein kann, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass diese Bank schon früher bestanden haben könnte.470 Von 1391 sind die ersten erhaltenen Ordnungen der Bauerbänke von St. Gereon und der Friesenstraße überliefert.471 Es fehlt noch die Bauerbank von der Schafenstraße, von der jedoch keine alte Ordnung erhalten geblieben ist. 1391 scheint der enge Rat der Stadt Köln die Ordnungen der Bauerbänke stärker geregelt zu haben. Denn in der Ordnung der Bauerbank vom Eigelstein ist ausdrücklich der Rat genannt, der den Bauermeistern die Macht und das Recht gegeben habe, eine Ordnung zu erlassen.472 Ferner ist in der gleichzeitig aufgestellten Regelung der Friesenstraße die Anwesenheit und die Kontrolle von Ratsherren, vor allem des engen Rats, in den bis zur „Revolution“ von 1396 nur Angehörige der „Geschlechter“ gelangen konnten, so übermächtig, dass wohl von einer Beeinflussung des Rats auf die Ordnung der Bauerbank an der Friesenstraße ausgegangen werden kann.473 Adam Wrede meint sogar, dass die Bauerbänke 1391 gegründet worden seien474, und Franz Irsigler spricht von einem um 1390 erreichten Abschluss der „Entwicklung von privaten Grundbesitzervereinigungen zu halb-öffentlichen, vom Rat kontrollierten Einrichtungen“475. In der Tat passt die „Verstaatlichung“ der Bauerbänke in diese Zeit recht gut, da sie sich mit der von Hilger von der Stessen und seiner Partei verfolgten Politik kombinieren lässt.476 Allerdings ist erst 1442 ausdrücklich eine Oberhoheit des Rats über die Bauerbänke belegt.477 Spätestens 1391 wird man also wohl mit den fünf Bauerbänken der Weyerstraße, von St. Severin, der Friesenstraße, vom Eigelstein und der Schafenstraße rechnen müssen. Allein die Bauerbank vom Eigelstein scheint geringer vermögetrost beiseitelassen. 469  Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 189; Abdruck von Volker Henn: Kölner Landwirtschaft: Die Statuten der Bauernbank von St. Severin vom 12. Juni 1384, in: Rosen/Wirtler (Hg.), Quellen (Anm. 57), S. 288–295, hier S. 290 ff. 470  Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 189 Anm. 2. 471 Ibid., S. 190; Abdruck S. 380 ff. Nr. XIX. 472 Ibid., S. 391. 473 Ibid., S. 190. 474  Wrede, Bauerbänke (Anm. 464), S. 14. 475  Irsigler, Köln extra muros (Anm. 440), S. 138. 476  Militzer, Ursachen (Anm. 53), S. 183 ff. 477  Wrede, Bauerbänke (Anm. 464), S. 44; vgl. auch ibid., S. 80 Nr. 1.

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gende Grundbesitzer aufgenommen zu haben.478 Die anderen Bauerbänke nahmen nur reiche Grundbesitzer auf. Die Genossen der Bauerbänke tagten in oder unter den entsprechenden Stadttoren479, jedoch innerhalb der Stadt und ihrer Befestigungen. Das Gericht der Bauerbänke war ein Rügegericht für die ihnen zustehenden Streitsachen.480 Zu erwähnen bleibt, dass der Burgbann wie die Bannmeile zumindest seit dem 14. Jahrhundert von den reitenden Söldnern unabhängig von den Bauerbänken bewacht wurde. Sie hatten dafür zu sorgen, dass die Gärtner und Bauern ihre Gärten bzw. Felder bestellen und in Ruhe abernten konnten. Dass sie die Ordnung der Gärten und Felder nicht immer gewährleisten konnten, steht auf einem anderen Blatt. Eine etwas andere Einteilung zeigt der Schweid, den Hogenberg 1609 zeichnete (Abb. 15).481 Am besten ist er wiedergegeben, wie schon Irsigler ausgeführt hat, in der Klapptafel im zitierten Buch Köln.482 Danach gab es mehrere Marksteine. Einige trennten die Zuständigkeiten der Bauerbänke oder des Schweids von St. Severin oder des Severintores, des Weihertors, des Hahnentors, des Ehrentors und des Eigelsteins. Dabei könnte das Ehrentor mit dem Friesentor und das Hahnentor mit dem Schafentor zu identifizieren sein. Wichtiger als diese Ungenauigkeiten ist aber die einheitliche Fünfzahl der Bauerbänke, wobei noch der Bauerbank des Eigelsteins eine Besonderheit bezüglich des Viehtriebs zugeschrieben worden ist. Bemerkenswert ist ferner die Vielzahl der Marksteine (23), die auch als solche bezeichnet worden sind, aber keineswegs die Bannmeile insgesamt umfasst haben, sondern sich mit einem geringeren Anteil der Liegenschaften über den Bischofsweg hinaus zufriedengaben. Die in die Stadt führenden Wege oder Straßen waren – nach dem Plan zu urteilen – keineswegs durch Zäune von den Ackerflächen oder Gärten getrennt, wie es bei Landwehren sonst üblich war.483 Eine eigentliche Landwehr hat es in Köln und seinem Vorland im Gegensatz zu anderen Orten nicht gegeben. Möglicherweise hätte der Kölner Erzbischof gegen eine solche Anlage Protest eingelegt, so dass der Rat der Stadt gar nicht 478 Lau, Entwicklung (Anm. 1), S. 190. 479 Strauch, Gericht (Anm. 430), S. 41. Allerdings ist in den mittelalterlichen Quellen kein bestimmter Ort genannt, vgl. Wrede, Bauerbänke (Anm. 464), S. 24. 480 Wrede, Bauerbänke (Anm. 464), S. 23. 481 Köln (Anm. 437), Tafelabbildung 6. 482 Irsigler, Köln extra muros (Anm. 440), S. 139, mit weiterer Literatur. 483 Vgl. Cornelia Kneppe (Hg.): Landwehren. Zu Erscheinungsbild, Funktion und Verbreitung spätmittelalterlicher Wehranlagen. Beiträge zum Kolloquium der Altertumskommission für Westfalen am 11. und 12. Mai 2012 in Münster (Veröffentlichungen der Altertumskommission für Westfalen 20). Münster 2014, passim. Das Rheinland hat Wolfgang Wegener, ibid., S. 307–322, vorgestellt, ist aber auf Köln nicht eingegangen.

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Abb. 15: Ausschnitt aus der Schweidkarte (Cöllnischer Schweidt) von Abraham Hogenberg, 1609 (aus: Köln [Anm. 437], Tafelabbildung 6.

erst an eine derartige auf das Vorland sich beziehende Verteidigungsmöglichkeit gedacht hat. Immerhin gibt es einzelne Hinweise, dass das Vorland nicht ganz unbefestigt war. 1348 ist von einer Hecke die Rede.484 1444 sprach der Rat von Schlagbäumen.485 Am Ende des 15. Jahrhunderts ist ein Schlagbaum am Judenbüchel erwähnt, an dem Erzbischof Hermann von Hessen während seines feierlichen Einzugs von Vertretern der Stadt abgeholt worden sei.486 1475 ist ein Schlagbaum, der geschlossen werden sollte, genannt, ohne allerdings zu bestimmen, wo sich er befand.487 Jedoch sind die genannten Schlagbäume weder vorher noch nachher oder auf einer Karte des 15. oder 16. Jahrhunderts bezeugt. Ferner ist der Schlagbaum am Judenbüchel als ein Zeichen der Grenze des sogenannten Burgbanns und nicht der Bannmeile zu deuten. Aber auch er ist auf Karten und Skizzen nicht eingetragen. Man kann also kaum von einer ausgeprägten Landwehr, die Köln umgeben hat, sprechen. Sie ist auch archäologisch nicht nachgewiesen worden. Damit entfällt die Landwehr als Schutz für die außerhalb der Stadt arbeitenden Menschen vor Fehden, marodierenden Soldaten oder Söldnern und auch vor Raub 484  Keussen, Topographie (Anm. 33), Bd. 2, Sp. 315b Nr. e. 485  Stein, Akten (Anm. 6) II, S. 309 Nr. 192,3. 486  Klaus Militzer: Die feierlichen Einritte der Kölner Erzbischöfe in die Stadt Köln im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55 (1984), S. 77–116, hier S. 89. 487  Knipping, Stadtrechnungen (Anm. 8) II, S. 409.

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und Diebstahl durch sie. Jedoch gaben die zahlreichen Hecken einen gewissen Schutz vor ihnen. Außerdem war der im Allgemeinen schnell heranreitenden Kavallerie der unmittelbare Zugang zur Stadtmauer durch die Hecken und auch Schlagbäume verwehrt. Das jedenfalls zeigen die Karten des 16. Jahrhunderts von Arnold Mercator und anderen. Der Rat hat offensichtlich auch auf andere Weise der Kavallerie und auch dem Heer die Annäherung an die Stadtmauer erschwert. Dazu schaffte er in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Fußeisen (voissyseren) an, so 1469. Das wiederholte sich im selben Jahr und 1475.488 Was ist unter voissyseren zu verstehen? Es handelte sich offensichtlich um dreieckige, einfach herstellbare Geräte, von denen jeweils ein Stachel nach oben zeigte, während die beiden anderen im Erdboden lagen und mit ihm verbunden waren. Wenn ein Reiter sich den Fußeisen näherte, brachte er sich und sein Tier in Gefahr, weil das Pferd in seiner Bewegung mit den Hufen den nach oben gerichteten Stachel immer weiter in das Fleisch trieb. Ebenso war es mit den Fußtruppen. Wenn ein Fußsoldat in ein Eisen trat, durchdrang der dritte Stachel die Sohle und blieb im Fleisch stecken, so dass der Soldat kampfunfähig wurde. Die Eisen waren also ein höchst wirksames Mittel, zumindest einen ersten Ansturm zu verhindern. Warum finden sich solche Eisen nicht in der Zeit der Stadtrechnungen 1370– 1380/81? Darüber kann man nur spekulieren. Die Eisen bedrohten nämlich nicht nur das anrückende feindliche Heer, sondern auch die Menschen, die den Boden für die Gartenarbeit oder für das Getreide bereiteten. Solange kaum oder keine Kanonen, die relativ weit schießen konnten, erfunden oder üblich waren, konnte man den Boden den Gärtnern und anderen Leuten überlassen und brauchte keine entsprechenden Eisen. Wenn aber bereits die Annäherung an die Mauer in späterer Zeit, vor allem seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, als die Kanonen üblich waren, eine Gefahr darstellte, streute man im Vorgelände vielleicht solche Eisen aus. Aber das ist nur eine von mehreren möglichen Hypothesen. In jüngster Zeit ist dargestellt worden, dass der südliche Bischofsweg und der südliche innere Burgbann frei von Bebauung, allerdings der weitere Umkreis, genannt „äußere Burgbannzone“, von Gebäuden durchsetzt gewesen sei.489 Die Angaben für bestehende Höfe stammen aber alle aus dem 488 Ibid., S. 404, 406, 408. Das wird wohl in den genannten Jahren häufiger vorgekommen sein. 489 Vgl. Alexander Hess: Das südwestliche Umfeld der mittelalterlichen Stadt Köln. Auswirkungen der Verteidigungspolitik der Stadt, in: FORTIS – Das Magazin (2014), Fortis Colonia e. V., S. 27–34, hier S. 29 ff.; Ders.: Burgen in Köln, in: FORTIS – Das Magazin (2018), Fortis Colonia e. V., S. 12–32.

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16. Jahrhundert oder sind sogar noch später, oder sie sind gar nicht ausschlaggebend gewesen. Die Nachweise gehören jedenfalls mindestens teilweise in die Neuzeit oder gar nicht zum Kölner Burgbann oder Schweid während des Mittelalters. Jedenfalls bieten die Quellen keinen Anhaltspunkt für eine derartige Interpretation. Es ist aber nicht zu leugnen, dass spätestens im 16. Jahrhundert auch feste, aus Stein errichtete Gebäude entstanden sind. Vor dem Angriff Karls des Kühnen auf Neuss hat es auch im Kölner Umland feste Häuser gegeben, die aber alle abgerissen werden mussten. Es handelte sich um die Klöster Weiher und Mechtern, die in die Stadt Köln übersiedeln mussten. Ferner waren von den Maßnahmen auch andere Häuser oder Höfe betroffen. Solange der Erzbischof, Fehdegegner oder marodierende Söldner das Kölner Umland nicht mit Kampf oder auch Krieg überzogen, ist der Bau von mehr oder weniger festen Häusern oder Klöstern vom Rat geduldet worden. Das Gremium änderte seine Sichtweise, wenn ein mächtiger Feind die Stadt und ihre Befestigungen mit weitreichenden Kanonen und einem großen Heer bedrohte. Es ist sicherlich so gewesen, dass das Leben für eine Vielzahl von Bürgern oder Eingesessenen hart war. Aber es gab doch einmal oder zweimal im Jahr eine Abwechslung. Das war erstens die jährlich stattfindende Gottestracht, die um eine Vielzahl der Tore und Einlassmöglichkeiten in die Stadt sowohl auf der Feld- wie auch auf der Rheinseite führte, und zweitens die sogenannte Holzfahrt, die eine Ausflugmöglichkeit für sich und die Familie bot. Beide Feste haben die Kölner Bevölkerung bereits im ausgehenden Mittelalter begangen, gelegentlich auch unter dem Schutz von Söldnern.490

Zusammenfassung und Schluss Die Wache auf den Toren zur Feldseite hin hielten Burggrafen, die vor allem vor der „Revolution“ von 1396 den „Geschlechtern“ angehörten. Ob das auch nach der „Revolution“ so gewesen ist, ist aus Mangel an Quellen nicht genau zu sagen. Die Burggrafen wurden begleitet von vigilatores oder auch „Kurwächtern“ neben dem üblichen Personal. Bei Bedarf wurden auch Bürger für die Bewachung der Tore und Mauern hinzugezogen. Sie haben sich in der Regel aber freigekauft. Vor der „Revolution“ von 1396 war die Organisation der Bürger und Eingesessenen nach Örtlichkeiten und nach der „Revolution“ nach Gaffeln, also genossenschaftlich, organisiert. Die Wache zur Rheinseite hin wurde anders gestaltet, weil die Überwindung des Rheins im 14. und auch 490 Vgl. Repertorium (Anm. 209), S. 324 Nr. 612; Beschlüsse (Anm. 62) III, S. 226 Nr. 406. Dazu HAStK, Verf. u. Verw. V 50a, fol. 118v.

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noch im 15. Jahrhundert als ungewöhnlich angesehen wurde und nur mit Booten möglich erschien. Die Bewaffnung auf den Türmen ist erst mit der Liste von 1446 nachweisbar. Damals überwogen schon Kanonen als Verteidigungswaffen alle anderen Wehrgattungen. Die Tendenz verstärkte sich noch, wenn man die Liste von 1468 danebenhält. Kanonen sind aber schon im 14 Jahrhundert angeschafft worden, konnten jedoch die Bliden und Wurfgeschütze während des gesamten Mittelalters nicht verdrängen. Im frühen 14. Jahrhundert waren Söldner noch mit Bogen ausgerüstet. Im Lauf des 14. Jahrhunderts statteten sie sich selbst mit Armbrüsten aus oder die Stadt lieh ihnen oder den wachhabenden Bürgern solche aus. Im Gegensatz zu den Wurfgeschützen blieben Armbrüste eine Waffe, die auch Söldner noch im 14. und 15. Jahrhundert gern verwendeten. Jedoch war der Siegeszug der Feuerwaffen – auch der Büchsen – nicht aufzuhalten. Kanonen und Armbrüste oder Büchsen wurden auch auf der Rheinseite verwandt. Gefangene der Stadt wurden gern auf den Toren zur Feldseite hin festgehalten. Es kam nur der feste Frankenturm zur Rheinseite hin noch in Frage. In solchen Türmen wurden auch die Gefangenen bewacht, die die Söldner gefangen nehmen konnten, aber der Stadt übergeben werden mussten.491 Es ist aber nicht immer ersichtlich, wann und durch wen ein bestimmter Mann in einen Turm gebracht wurde oder ob Bürger oder Eingesessene in einen Turm gingen. Aber nicht nur für Delinquenten oder Gefangene von Söldnern waren die Türme vorgesehen, sondern auch für Schuldner. Sogenannte insani, also psychisch Kranke, wurden teilweise auch von ihren Pflegern abgeliefert und in den Stadttürmen untergebracht. Bürger und Eingesessene mussten mit den Waffen üben. Die Turniere, die vor allem von Adligen veranlasst wurden, waren auch für Angehörige der „Geschlechter“ zugänglich und sorgten dafür, dass diejenigen, die an ihnen teilnahmen, die Pferde und die Waffen ausprobieren konnten. Das war den Bürgern oder Eingesessenen, sofern sie nicht zu den „Geschlechtern“ zählten, verwehrt. Auch nach der „Revolution“ von 1396 hielten sich nur reiche Personen Pferde. Bürger und Eingesessene haben sich im Armbrustschießen mit Einwohnern anderer Städte gemessen. Dazu konnten sie – wenigstens im 15. Jahrhundert – auf dem Neumarkt im „Schützenhof“ üben. Die Büchsenschützen wurden am Ende des 15. Jahrhunderts auf den Holzmarkt am südli-

491 Vgl. Hans J. Domsta: Die Kölner Außenbürger. Untersuchungen zur Politik und Verfassung der Stadt Köln von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Rheinisches Archiv 84), Bonn 1973, S. 143 f.; Wübbeke, Militärwesen (Anm. 4), S. 146.

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chen Ende des Kölner Rheinufers verwiesen. Erst im 16. Jahrhundert gelang es ihnen, im Graben am nördlichen Ende der Stadt eine Heimat zu finden. Zum Schluss war noch das Kölner Umland zu betrachten. Köln hatte nur wenig Land vor seinen Toren im Unterschied etwa zu Rothenburg ob der Tauber oder anderen Städten im Süden und Norden.492 In der Nähe der Mauern lebten Gärtner, die auch das Land für andere Leute bearbeiteten. Hinter den Gärten folgte das Ackerland, das auch von Kölner Bürgern oder Eingesessenen gepflügt und abgeerntet wurde. Die notwendige Sicherheit hatten meist Söldner oder deren Hauptleute mithilfe ihrer Truppen zu gewährleisten. Dennoch blieb der „Schweid“ zwischen dem Erzbischof von Köln und der Stadt umstritten. Bauerbänke regelten seit der Mitte des 14. Jahrhunderts die Tätigkeiten der Gärtner und Bauern im Umland vor den Mauern. Die Bauerbänke unterstanden allerdings seit dem Ende des 14. Jahrhunderts dem städtischen Rat. Er konnte auch Söldner zur Sicherheit der Gärtner und Bauern schicken.

492 Vgl. Isenmann, Deutsche Stadt (Anm. 429), S. 239.

Johannes Hünseler – ein rheinisches Bauernleben am Ende des Ancien Regimes von Wolfgang Hünseler Um das Jahr 1800 lebten etwa 75 Prozent der deutschen Bevölkerung in Dörfern auf dem Lande. Ihr Leben war überwiegend von großer Armut geprägt. In unserer Gesellschaft heute wird Armut als ein Zustand von Randgruppen angesehen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein jedoch war Armut das beherrschende Element im Alltag des Dorflebens. Schon in zeitgenössischen Quellen, so zum Beispiel in der Pfarrchronik von Lövenich, einer Junkersdorfer Nachbargemeinde von Johannes Hünseler, wird seit dem 18. Jahrhundert ein Großteil der Dorfbewohner ausdrücklich als arm bezeichnet. „Es gibt aber zu wenige, fast keine genauen Informationen über das Alltagsleben der einfachen Menschen in ihren Häusern […], um einen Lebensstandard, der als Armut galt, genügend zu würdigen“, konstatiert Uwe Griep in seiner Dokumentation der Siedlungsgeschichte von Lövenich, Weiden und Junkersdorf.1 Die nachfolgende Skizzierung des mühseligen Lebenswegs meines rheinischen Vorfahren Johannes Hünseler, der von 1774 bis 1794 als Pächter auf einem Kleinstgehöft im heutigen Kölner Stadtteil Junkersdorf lebte, beabsichtigt, einen Beitrag zur Klärung dieses Forschungsdesiderats zu leisten.

Der Armutsbegriff 2015 definierte die Brockhaus Enzyklopädie Armut im weitesten Sinne als eine „Lebenslage von Individuen und deren Haushalten, bei der die Ausstattung mit Gütern und Dienstleistungen in einem oder mehreren Bereichen der Haushalts- und Lebensführung den menschlichen Minimalstandards nicht ge­nügt“.2 Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich verschiedene Armutskonzepte und -definitionen unterscheiden, etwa die der absoluten und der relativen Armut.3 Absolute Armut wird laut Georg Wiesinger als „Gefährdung des physischen Existenzminimums bzw. als Zustand einer unzureichenden Sicherung im Bereich der körperlichen Selbsterhaltung von einem normativen Standpunkt aus“ definiert. Das absolute Armutskonzept beruht auf der Annahme, „dass es ein wertneutrales, von der Zeit unabhängiges und weitgehend physiologisch 1 Uwe Griep: Köln: Lövenich, Weiden und Junkersdorf. Siedlungsgeschichte bis 1950 (Stadtspuren – Denkmäler in Köln 27), Köln 2003, S. 53 2  Brockhaus [Online-Ausgabe], Art.: „Armut“, URL: https://brockhaus.de/ecs/enzy/ article/armut (Stand: 10.3.2022). 3 Vgl. für einen Überblick den Artikel „Armut“ auf Wikipedia, URL: https://de.wikipedia. org/wiki/Armut#Absolute_Armut (Stand: 10.3.2022). Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 99–120

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bestimmtes Existenzminimum gebe und dass Armut entsprechend losgelöst vom allgemeinen Lebensstandard der Bevölkerung definiert werden könne“.4 Angesichts der hohen Agrarquote bis ins 18. Jahrhundert bedeutete ländliche Armut bäuerliche Armut. 70–80 Prozent der bäuerlichen Familien lebten ständig am Existenzminimum. Armut wurde kaum als solche wahrgenommen, „weil Armut und Hunger vor allem auf dem platten Lande und im Gebirge eine jahrhundertealte Tradition hatten“.5 Absolute Armut stellte eine ständige Bedrohung in der früheren Menschheitsgeschichte dar. Sie war zum einen bedingt durch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Missernten, Schädlingsplagen, Unwetter, Dürrephasen und Kälteeinbrüche, zum anderen durch Kriege, Truppeneinquartierungen, Requisitionen, Brände, Hungersnöte, Epidemien und Pandemien.

Ursachen der dörflichen Armut in Junkersdorf Junkersdorf, der Lebensmittelpunkt von Johannes Hünseler, war nach Ausweis der Kirchenbücher seiner Pfarrgemeinde St. Pankratius von Ereignissen aller Art betroffen, in besonderer Weise jedoch von den Folgen der europäischen Kriege des 18. Jahrhunderts. Mit Frankreich im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) gegen das Heilige Römische Reich verbündet, wurde das Kurfürstentum Köln Schauplatz verheerender kriegerischer Ereignisse. So berichtet das Sterbebuch der Pfarre Junkersdorf für die Jahre 1702–1710 von gestorbenen Soldaten, was darauf schließen lässt, dass der Ort von durchziehenden bzw. lagernden Truppen heimgesucht wurde, für die die Bewohner jeweils Unterkunft und Verpflegung bereitzustellen hatten. Gleiches wird, auch vor dem Hintergrund des Österreichischen Erbfolgekriegs (1740–1748) und des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763), für die Jahre 1732, 1733, 1740, 1757, 1763 und 1780 berichtet.6 Der Siebenjährige Krieg war ein Zeitraum erneuter Mortalitätsmaxima. Er „brachte Franzosen und Preußen ins Land,

4  Georg Wiesinger: Ursachen und Wirkungszusammenhänge der ländlichen Armut im Spannungsfeld des sozialen Wandels, in: Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft für Agrarökonomie 12 (2005), S. 43–73, URL: https://oega.boku.ac.at/fileadmin/user_upload/ Tagung/2002/02_Wiesinger.pdf (Stand: 10.3.2022), hier S. 46. 5 Zit. nach Georg Wiesinger: Armut im ländlichen Raum, in: Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft für Agrarökonomie 7 (1999), S. 101–116, URL https://oega.boku.ac.at/fileadmin/user_upload/Tagung/1997/wiesinger.pdf (Stand: 10.3.2022), hier S. 108; Originalzitat: Friedrich Hagspiel: „Alte“ und „Neue“ Armut in Österreich. Genesis und Wandel eines sozialhistorischen Begriffes, Wien 1986, S. 22. 6  Johann Dünn: Geschichte der ehemaligen Herrlichkeit Junkersdorf bei Köln (Geschichte der Gemeinde Lövenich 1), Köln 1896, S. 14.

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deren Requisitionsbefehle sich endlos folgten“.7 Schon im 17. Jahrhundert war der Ort Schauplatz heftiger Kämpfe und Zerstörungen gewesen, als 1642 die Dorfbewohner vor den „Hessen“ in Köln Zuflucht gesucht hatten und 1674 „Holländer die Kirchen und alles zerstörten“. 1678 wurde die Kirche erneut ausgeraubt und zerstört, wobei auch ihre Kirchenbücher gestohlen wurden.8 Durch die Requisitionsforderungen der durchziehenden und einquartierten Truppen wurde die Landbevölkerung rücksichtslos ausgeplündert. Ersatz für die dadurch fehlenden Nahrungsmittel war wegen überhoher Getreidepreise kaum zu erhalten. 1739–1743 kam es zudem in ganz Westeuropa zu einer Reihe von Missernten. 1748 folgte im Rheinland eine Dürrephase, 1749–1751 erlitt das nahegelegene Erftgebiet Überschwemmungen und eine Viehseuche. Das nasskalte Wetter der Jahre 1770/71 brachte schlechte Ernten und als Folge steigende Getreidepreise.9 Die Landbewohner waren somit physisch geschwächt und anfällig für Krankheiten aller Art. So hatte es schon 1665 und 1666 neun Pesttote in Junkersdorf gegeben, 1672 fünf weitere.10 1676 starben im Sommer 23 Dorfbewohner an der Ruhr, „welche sich, nachdem sie zuerst in Düsseldorf furchtbar gewütet, nachher in der ganzen Landschaft ausgebreitet hatte“.11 1728–1730 und noch einmal 1739–1743 sind die ersten Mortalitätskrisen des 18. Jahrhunderts in der Region zu verzeichnen. Die Mortalitätsmaxima in den Jahren 1741–1743 können offenkundig auf die Einwirkungen des Österreichischen Erbfolgekrieges zurückgeführt werden, die in der Untersuchung über die Landbevölkerung an der Erft von Harald Bongart u. a. wie folgt beschrieben werden: „Es waren schlimme Jahre für die Bewohner des Erfttales und darüber hinaus für das ganze Gebiet des Kölner Raumes. […] Dabei war die Zivilbevölkerung weniger durch die Kampfhandlungen als von den dauernden Durchzügen und Einquartierungen der Heerzüge in Mitleidenschaft gezogen. Mit ihren Forderungen an Verpflegung, Geld, Ausrüstungsgegenständen, Hilfsdiensten und Futter für die Pferde wurden Land und Leute bis zur völligen Erschöpfung ausgeplündert. Hunger, Not und Seuchen waren die Begleiterscheinungen, die Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten.“12

 7  Harald Bongart/friederike Kuhl/Gabriele Rünger: Landbevölkerung im 18. Jahrhundert – Lebens- und Rechtsverhältnisse in den Dörfern an der mittleren Erft (Geschichte im Kreis Euskirchen 12), Weilerswist 1998, S. 30.   8 Ibid., S. 13 f. Es handelte sich um Zerstörungen im Niederländisch-Französischen Krieg (1672–1678).   9 Ibid., S. 29 f. 10 Dünn, Geschichte (Anm. 6), S. 13. 11 Ibid. 12 Bongart/Kuhl/Rünger, Landbevölkerung (Anm. 7), S. 27.

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1777/78 gab es eine weitere Mortalitätskrise. Die hohe Sterblichkeit dieser beiden Jahre lässt auf das Auftreten einer ansteckenden Krankheit schließen, deren Verlauf für eine Pockenepidemie spricht.13 Den Höhepunkt der Sterblichkeitsrate brachte dann die französische Besetzung des Rheinlandes ab 1794, in deren Verlauf das Jahr 1795 das absolute Maximum der Sterbequoten des 18. Jahrhunderts verzeichnete.14 Ein Jahr zuvor war auch Johannes Hünseler im Gefolge einer die Dorfbevölkerung heimsuchenden epidemischen Krankheit mit „bösartigem Fieber“, wahrscheinlich Typhus, Ruhr oder Tuberkulose, gestorben.

Herkunft und Heirat Johannes Hünselers Der Familienname „Hünseler“ und seine älteren Schreibweisen „Hunseler“, „Honseler“ und „Honselaer“ ist niederrheinischer Herkunft. Die bisher ältesten Belege für die Variante „Honselaer“ stammen aus dem 13. Jahrhundert und stammen vom Ortsteil Wetten der Stadt Kevelaer im heutigen Kreis Kleve. Von dort hat sich der Name nach Süden entlang des Rheines bis in den Kölner Raum ausgebreitet. Johannes Hünseler war laut Sterbeeintrag Sohn der Eheleute Friedrich Hünseler und Maria Fischer.15 Sein Geburtsdatum ist nicht bekannt, da sein Taufbucheintrag bis heute nicht gefunden werden konnte. Es liegt vermutlich um 1744 und kann nur rechnerisch erschlossen werden aus den divergierenden Angaben aus dem Sterbebucheintrag und den Belegakten zur Trauung seiner ältesten Tochter. Gesichert ist hingegen sein Geburtsort Hemmersbach (Abb. 1), heute ein Ortsteil der Stadt Kerpen im Rhein-Erft-Kreis. Seit dem 13. Jahrhundert bildete Hemmersbach mit Sindorf und Horrem eine Unterherrschaft im Herzogtum Jülich-Berg. Mittelpunkt der Unterherrschaft war die Burg Hemmersbach, die ab 1751 den Grafen Berghe von Trips gehörte, deren letzter Spross, der Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips, 1961 beim Formel1-Rennen in Monza tödlich verunglückte. Getauft wurde Johannes Hünseler wohl in St. Clemens in Hemmersbach. St. Clemens war bis 1931 römischkatholische Pfarrkirche und ist heute Filialkirche des Ortsteils Hemmersbach. Die Bevölkerung im Bereich der späteren Zivilgemeinde Horrem, zu der Hemmersbach zählte, war fast ausschließlich katholisch und gehörte zum größeren Teil der Pfarre Hemmersbach, zum kleineren der Pfarre Götzenkirchen an. Ein Visitationsbericht von 1764 berichtet, dass unter dem damaligen Pfarrer 13 Ibid., S. 31. 14 Ibid., S. 33. 15 Kirchenbuch Junkersdorf 5, 1794, Historisches Archiv der Erzdiözese Köln (AEK), KB00192, S. 11.

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Abb. 1: Hemmersbach mit Burg um 1725 auf einer Tuschezeichnung des wallonischen Malers Renier Roidkin (aus: Susanne Harke-Schmidt/Frank Kretzschmar: Burg Hemmersbach – Rittersitz, Herrschaftsgut, Byteburg, Köln 2002, S. 40)

Dionisius Ransa fünf Dörfer zur Pfarre Hemmersbach gehörten: Hemmersbach mit 29 Häusern und 103 Kommunikanten, Horrem mit 65 Häusern und 201 Kommunikanten, Groß- und Klein-Habbelrath mit zusammen 40 Häusern und 131 Kommunikanten sowie Boisdorf mit acht Häusern und 35 Kommunikanten. Die Zahl der insgesamt 470 Kommunikanten dürfte wohl der Zahl der erwachsenen Pfarrangehörigen entsprechen.16 Johannes Hünseler wohnte möglicherweise im Erwachsenenalter in der Nachbargemeinde Götzenkirchen, denn 1774 – zu diesem Zeitpunkt muss er ungefähr 30 Jahre alt gewesen sein – stellte ihm der Pastor seiner Heimatgemeinde St. Cyriakus ein Dimissoriale aus, einen „Entlassschein“, eine „Bestätigung, die es erlaubt, eine kirchliche Amtshandlung aus bestimmtem Anlass (Kasualie) bei einer anderen als der eigenen Ortsgemeinde (Kirchengemeinde) durchführen zu lassen, die diese eigentlich durchführen müsste“.17 Der Grund für die am 5. Februar 1774 erfolgte Ausstellung dieses kirchlichen Papiers18 16 Georg Steinmann: Aus der Geschichte der katholischen Pfarrgemeinde zu Horrem, in: Gemeinde Horrem (Hg.): Horrem – Beiträge zur Geschichte und Entwicklung, Ratingen 1964, S. 87–111. 17 Art.: „Dimissoriale“, Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Dimissoriale (Stand: 17.3.2022). 18 Kirchenbuch Horrem 3, Historisches Archiv der Erzdiözese Köln (AEK), S. 194.

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war die Absicht Johannes Hünselers zu heiraten, eine Amtshandlung, die normalerweise in der Pfarrkirche von Götzenkirchen hätte stattfinden müssen, aber nach dem Grundsatz „wo die Braut, da getraut“ in der Heimatpfarre der zukünftigen Ehefrau vollzogen werden sollte. Bei der Braut handelte es sich um die zu diesem Zeitpunkt 25-jährige Eva Langen, die am 20. Februar 1748 in Junkersdorf als fünftes von sechs Kindern des Pächters Matthias Langen geboren worden war. Junkersdorf liegt etwa 15 Kilometer östlich von Götzenkirchen auf Köln zu und gehörte zu Kurköln, während Hemmersbach und Götzenkirchen auf dem Territorium des Herzogtums Jülich-Berg lagen. Johannes Hünseler und Eva Langen wurden am 6. Februar 1774 in der Junkersdorfer Pfarrkirche getraut. Die Trauung vollzog der Franziskanerpater Anastasius Imfeld, der nur ein Jahr lang, vom 25. November 1773 bis zum 19. Dezember 1774, die Junkersdorfer Pfarrstelle innehatte.19 Trauzeugen waren Josef Langen, ein Bruder der Braut, und Johannes Römer, über dessen Identität nichts Näheres bekannt ist. Nach seiner Trauung mit Eva Langen 1774 in Junkersdorf ließ sich Johannes Hünseler in diesem heutigen Kölner Stadtteil nieder, der 2012 sein 1050-jähriges Bestehen beging. Die „Herrlichkeit Junkersdorf“ stellte bis zur französischen Besetzung des Rheinlands 1794 eine freie Herrschaft im Erzstift Köln dar. Die Herrschaftsbefugnisse lagen in den Händen des jeweiligen Besitzers des Statthalterhofs. Dessen Eigentümer war seit 1425 das Kloster St. Antonius in der Schildergasse in Köln. Von Beginn des 15. Jahrhunderts bis zur Säkularisation waren somit die Antoniter die Dorfherren. Die nachfolgende Karte des Kölner Gereonsstifts (S. 105) von 1777 zeigt Junkersdorf als typisch rheinisches Bauerndorf, in dem sich fünf größere Höfe und etwa zwei Dutzend Wohnhäuser um die Kirche gruppieren (Abb. 2). Deutlich zu sehen sind die folgenden Höfe: Fronhof, Lammetzhof, Brennerscher Hof, Gertrudenhof und links neben der Kirche der Statthalterhof. Bodenhof und Esserhof kamen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzu.20

Die wirtschaftliche und soziale Lage Johannes Hünselers Johannes Hünseler war wie die Bauern des Rheinlandes persönlich frei. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen bewirtschaftete auch eigenen Grund und Boden. Dennoch gab es im Bauernstand soziale und wirtschaftliche Unter19  Dünn, Geschichte (Anm. 6), S. 52. 20  Christoph Selbach/Reiner Selbach: Junkersdorfer Höfe. Eine Übersicht über die Entwicklung Junkersdorfs am Beispiel der landwirtschaftlichen Höfe rund um die alte Dorfkirche in Köln-Junkersdorf mit Bezug auf eine Landkarte aus dem Jahre 1777, KölnJunkersdorf 2008, S. 2.

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Abb. 2: Plan von Junkersdorf. Ausschnitt aus einer Zeichnung von Johann Michael Wintzen, 1777 (aus: Gerd Schwerhoff: Köln im Ancien Régime. 1686-1794 (Geschichte der Stadt Köln 7), Köln 2017, S. 18).

schiede. Neben den freien Bauern gab es im Dorf die Pächter, die Halfen, die die grundherrlichen Fronhöfe gegen eine Pachtabgabe verwalteten. In Junkersdorf waren dies der zu dem Kölner Stift St. Gereon gehörige Fronhof und der dem Antoniterkloster zugehörige Statthalterhof. Die meisten Bauern im Dorf waren jedoch keine Pächter, sondern Eigentümer ihrer Hofstellen, die laut Thomas P. Becker „durch die Aufweichung der Villikationsverfassung und die von der Kirche durchgesetzten Erblichkeits-Bestimmungen allmählich aus dem Grundbesitz des Herrn in das Eigentum der bäuerlichen Familien übergegangen waren“.21 Neben den freien Bauern und Pächtern gab es als dritte Gruppe von Dorfbewohnern noch die landlose Schicht des Gesindes, der Tagelöhner und der 21 Thomas P. Becker: Leben im rheinischen Dorf. Alltagsimpressionen aus dem AhrgauDekanat im 17. Jahrhundert, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises 60/61 (1992/1993), S. 155–170, hier zit. nach der Online-Version unter URL: http://www.thomas-p-becker. de/TPB/Geschichte/DORF.htm (Stand: 21.3.2022).

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von unregelmäßiger Arbeit lebenden Armen.22 Dieser unterbäuerlichen Schicht gehörte allem Anschein nach Johannes Hünseler zunächst an. Ihm gelang es erst durch seine Einheirat in den Langen-Hof, im Sozialgefüge des Dorfes aufzusteigen. Sichtbarer Beweis seiner Integration dürfte seine Mitgliedschaft in der Jun­ kersdorfer St. Sebastianusbruderschaft sein, die 1613 neu aufgerichtet worden war, mehrfach infolge kriegerischer Ereignisse unterging, aber über den Einmarsch der französischen Revolutionstruppen 1794 und den Ersten Weltkrieg hinaus bis 1926 Bestand hatte. Sechs Jahre nach seiner Trauung erscheint im Mitgliedsverzeichnis der Bruderschaft 1780 auch sein Name.23 Hatten die mittelalterlichen Schützenbruderschaften zunächst die Aufgabe, Haus und Hof in Kriegszeiten, bei Seuchengefahren und Glaubensstreitigkeiten zu schützen, besonders aber vor Gesindel, brandschatzenden Banden und Räubern zu verteidigen, so verlor sich die militärische Funktion ab dem 17. Jahrhundert und sie entwickelten sich zu Bruderschaften zum Schutz bei kirchlichen Feiern und Prozessionen. Hinzu kamen karitative Aufgaben.24 Die Junkersdorfer Schützenbruderschaft zählte 1653 bei ihrer erneuten Aufrichtung nach dem Dreißigjährigen Krieg 68 Mitglieder. Die Satzung aus dem Rent- und Ordnungsbuch der Bruderschaft wird von Johann Dünn in seiner Geschichte der ehemaligen Herrlichkeit Junkersdorf bei Köln wie folgt zitiert: „Der vorjährige König sollte geben eine guette gesottene scheinck, zwei brötter und eine guette ahm bier. Wer den Vogel abschoß, erhält 6 ellen bommesin, die ehl zo 16 alb. Einschreibungsgebühren waren 12 alb. für einen Mann, 6 alb. für eine Frau. Nachmittags nach gehörter christlicher Lehre zogen die Brüder insgesammt zum schießen aus der Kirche nach der Vogelruthe. Zänkische oder ungepeurliche Brüder wurden in Strafe genommen, im Wiederholungsfalle ausgestoßen. Alle Quartertemperwochen wurde eine Messe für die verstorbenen Mitglieder gehalten. Für die Messe erhielt der Pastor 26 alb., der Opferman 6 alb.“25 Das Rentbuch enthält auch eine Liste der jedes Jahr ermittelten Schützenkönige. Sie beginnt 1653. Johannes Hünseler war offenbar kein erfolgreicher Schütze. Sein Name ist in der Liste nicht verzeichnet. Überraschenderweise findet sich aber doch ein Namensvetter von Johannes Hünseler in der Aufstellung. Es ist Gorgen Honseler aus dem benachbarten Müngersdorf, der 1672

22 Vgl. ibid. 23 Kirchenbuch Junkersdorf 1, 1780, AEK BA 1097, S. 66. 24  Wilhelm Capitaine: Die Sebastianus-Schützenbruderschaft in Junkersdorf, in: Heimatkalender für den Landkreis Köln 6 (1931), S. 99. 25  Dünn, Geschichte (Anm. 6), S. 63.

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Abb. 3: Dorfplan von Junkersdorf 1818 (aus: Heinrich Welters: Junkersdorf, wie es vor 130 Jahren war, in: Zwischen Scholle und Grube. Heimatblätter für den Landkreis Köln, 5. Jg. [1951)], S. 15).

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die Königswürde errang.26 Er war offensichtlich der Bruderschaft 1666 zusammen mit Severinus Hünseler beigetreten.27 1683, bei der zweiten Wiedererrichtung der Bruderschaft, werden als weitere Müngersdorfer Mitglieder Herman­ nus Honseler und Gertrud Honseler Eheleut erwähnt.28 Johannes Hünseler wurde infolge seiner Trauung mit Eva Langen für das Gehöft ihrer Eltern Pächter und Abgabenpflichtiger des Statthalterhofs, auch Tönneshof genannt. Der Hof seines Schwiegervaters Matthias Langen lag unweit der Dorfmitte an der historischen schmalen und kurvigen Straße Am Hof, die seit alters her der Weg vom Fronhof ins Dorf und zur Dorfkirche war (Abb. 3).29 Es war ein noch auf der Preußischen Uraufnahme von 1845 erkennbares traufständiges Kleingehöft, dessen Nachfolgebau heute die Hausnummer Am Hof 1 trägt.30 Wie die meisten der dort verzeichneten Gehöfte standen die einzelnen Gebäudeteile zwar wie in einem mehr oder weniger gleichmäßigen Viereck angeordnet und stießen nur aneinander, waren aber nicht baulich als eine Einheit miteinander verbunden (Abb. 4).31 Der Langen-Hof entsprach vermutlich dem typischen bäuerlichen Wohnhaus, dem Lehmfachwerkhaus. „Das Holzfachwerk war das übliche Baumaterial, es hatte großflächige Gefache, die mit einem Strohgeflecht und Lehm ausgefacht waren. […] Die Dächer waren mit Haferstroh gedeckt.“32 Gemäß einer Klassifizierung der Kölner Bezirksregierung von 1821 gehörte das Wohnhaus des Hofes vermutlich zur zehnten und letzten Klasse der Wohnhäuser, die laut Griep „nur eben den notwendigsten Raum zur Menschen-Wohnung darbieten“.33 Die 1777 entstandene, sehr detaillierte und realitätsnahe Darstellung von Junkersdorf mit den kleinen weißen, einstöckigen Lehmfachwerkhäusern mit Anbauten für Stall oder Werkstatt bestätigt diese Beschreibung (Abb. 2).34 Zu Johannes Hünselers Integration in die Dorfgesellschaft könnte die Tätigkeit seines Schwiegervaters als Dorflehrer beigetragen haben. Matthias Langen übte neben seiner bäuerlichen Tätigkeit die Stelle eines Ludimagisters, d. h. eines Dorf- bzw. Elementarschullehrers aus. Er hatte dieses Amt bis zu seinem 26 Kirchenbuch Junkersdorf 1, 1780, AEK BA 1097, S. 9. 27 Vgl. ibid., S. 35. 28 Ibid., S. 37 und 39. 29  Griep, Köln (Anm. 1), S. 505. 30 Preußische Kartenaufnahme 1:25 000 – Uraufnahme – 1845, Blatt 5007 Köln. Traufständig bedeutet, dass die Dachtraufe eines Gebäudes an der oder parallel zur Straße steht. 31  Griep, Köln (Anm. 1), S. 60. 32 Ibid., S. 61. 33 Ibid., S. 52. 34 Vgl. Selbach/Selbach, Junkersdorfer Höfe (Anm. 20), S. 2.

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Abb. 4: Der Hof der Erben Johannes Hünselers 1880 im Grundbuch der Gemarkung Lövenich, Flur J, Fortf. Riß Bl. 23 (LAV NRW R, Roerdepartement 1733 I, 1. Heft).

Tode 1761 inne. Ihm folgte bis 1775 Anton Klein.35 Rolf Engelsing beschreibt die „Schulmeister“ im 18. Jahrhundert wie folgt: „Meistens waren die Lehrer gleichzeitig Handwerker, gelegentlich auch ehemalige Soldaten oder Küster. Sie betrieben Landwirtschaft und Gewerbe, da die Lehrergehälter zum Leben nicht ausreichten. Ihre Vorbildung war dürftig.“36 Es wurden rudimentäre Kenntnisse des Lesens und Schreibens vermittelt, die Grundrechenarten (wenigstens Addieren und Subtrahieren) und ein wenig Naturkunde und Geographie. Sehr viel Wert wurde auf die Erziehung im christlichen Glauben gelegt, ebenso auf Gesang und Auswendiglernen.“37 Schulunterricht gab es in Junkersdorf schon mindestens seit dem 17. Jahrhundert. Dies geht aus einem Protokoll anlässlich einer Visitation der Pfarrei vom 20. August 1682 hervor.38 Es handelte sich um Elementarunterricht, der in einer Pfarrschule erteilt wurde, von deren Lehrern vier namentlich bekannt 35 Ursula Ehlen (Red.): 1025 Jahre Junkersdorf, hg. von der Dorfgemeinschaft Junkersdorf, Köln-Junkersdorf 1987, S. 49. 36  Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973, S. 69. 37 Vgl. Art. „Ludimagister“, GenWiki des Vereins für Computergenealogie (CompGen) e. V., URL: https://genwiki.genealogy.net/Ludimagister (Stand: 21.3.2022). 38 Ehlen, 1025 Jahre (Anm. 35), S. 49.

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sind, darunter für 1761 Matthias Langen. Unterrichtet wurde einklassig in einem Anbau der alten Schmiede neben der Kirche in der heutigen Wilhelmvon-Capitaine-Straße 1.39 Ob Matthias Langens Enkel Hermann, geboren 1783, unter seinem Nachfolger im Lehreramt, Anton Klein, auch Elementarunterricht in der Dorfschule erhalten hat, ist angesichts der Tatsache, dass er seine Heiratsurkunde im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Johannes nicht unterschrieben hat, zu bezweifeln.

Abgabeverpflichtungen Matthias Langen war einer der vielen kleinbäuerlichen Eigenbesitzer in Junkersdorf, deren zinsbäuerlich zu Eigentum besessene Güter den Großteil der Höfe im Dorf ausmachten. Wie die beiden großbäuerlichen Halfen war er, wie nach seinem Tode 1761 sein Schwiegersohn Johannes Hünseler, zinspflichtig und das in zweifacher Hinsicht. Da war zum Ersten der Zehnt, die Abgabe an die Pfarrkirche zu Junkersdorf, festgehalten in einer Aufstellung, die 1783 von Erzbischof und Kurfürst Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels erlassen worden und überschrieben war mit Specification der Länderey, ahn der Kirchen zu Junkersdorf schuldig. Diese bestand einerseits aus Naturalien, meist einigen Fässern Korn, andererseits aus Geldzinsen in unterschiedlicher Höhe. Was die Geldzinsen betrifft, so hatte Friedericus Peefgen, der Pächter des Statthalterhofes, zwölf Alben an die Kirche zu entrichten, Johannes Hünseler deutlich weniger. Der ihn betreffende Eintrag im Junkersdorfer Kirchenbuch von 1783 lautet: Johannes Hünseler wegen wittib Cecilia Langen gibt jährlich 2 alb. 4 heller von Haus und Hof gelegen zwischen Fridericus Becker und Petro Linnartz (Abb. 5).40 Naturalien hatte er übrigens wohl wegen der geringen Größe seines Hofes im Gegensatz zum Pächter des Statthalterhofs keine zu entrichten. Der vorgenannte Albus war eine silberhaltige Münze des Spätmittelalters, die ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im niederrheinischen Raum weite Verbreitung fand. Der Name albus stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „weiß“. Als Silbermünze war der Weißpfennig im Gegensatz zur Goldwährung, dem Gulden, der als Handelsmünze benutzt wurde, eine Münze des täglichen Gebrauchs. 1620 wurden in Jülich-Berg folgende Umrechnungswerte festgelegt: Ein Reichstaler = 78 Albus; ein Albus = zwölf Heller.41 39  Griep, Köln (Anm. 1), S. 47. 40 Kirchenbuch Junkersdorf 1, 1783, AEK BA 1097, S. 93. 41 Art. „Albus“, Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Albus_(Münze) (Stand: 21.3.2022).

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Abb. 5: Geldzinsenabgabe Johann Hünselers an die Pfarrkirche zu Junkersdorf (aus: Kirchenbuch Junkersdorf 1, 1783, AEK BA 1097, S. 93).

Der Kirchenbucheintrag vermittelt uns einen Einblick in die wirtschaftliche Lage Johannes Hünselers in den späten 1770er Jahren. Als Erstes offenbart er, dass Johannes zu diesem Zeitpunkt als Hofinhaber Rechtsnachfolger seines Schwiegervaters Matthias Langen, der am 31. Dezember 1761 verstorben war, und dessen Frau Cäcilia Langen geworden war. Sodann lässt der Vergleich der Höhe des Kirchenzehnten zwischen dem Pächter des Statthalterhofs, Friedrich Paefgen, und Johannes Hünseler einen Rückschluss auf die Größe des der Abgabe zugrunde liegenden Grundbesitzes zu. Rechnet man zwölf Alben in Heller um, so ergibt sich ein Wert von 144 Hellern, denen bei Johannes Hünseler 28 Heller gegenüberstanden, was einem Grundeigentum von ca. 20 Prozent des Landbesitzes des Statthalterhofs entspricht. Dieser beinhaltete 50,8 Hektar Land42, somit dürfte Johannes Hünseler etwa 10,2 Hektar Pachtland, was etwas mehr als zehn großen Fußballfeldern entspricht, gehabt haben, darunter ein Hamechers- oder Kehrengut bezeichnetes Grundstück. Neben dem Zehnten, der Zinsabgabe an den Dorfpfarrer, bestand eine weitere Abgabenverpflichtung auch gegenüber den Grundherren von Junkersdorf, dem Antoniterkloster in Köln. Diese Abgabe entstammte dem aus dem mittelalterlichen System der Grundherrschaft herrührenden Rechtsgrundsatz der Übertragung von herrschaftlichem Grundbesitz an abhängige Bauern zur Bewirtschaftung gegen einen Erbzins. Auf der Basis dieser Rentengrundherrschaft forderten und erhielten die adeligen bzw. geistlichen Grundherren Abgaben und Dienste, wobei es sich bei diesen um oft nur relativ niedrige Anerkennungsgebühren handelte.43 Grundherr in Junkersdorf war, wie bereits beschrieben, von Beginn des 15. Jahrhunderts bis zur Säkularisation das Anto42 Richard Büttner: Die Säkularisation der Kölner geistlichen Institutionen. Wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Auswirkungen (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 23), Köln 1971, S. 331. 43 Susanne Rosendahl: Untersuchungen zur demographischen und sozialen Struktur der rheinischen Stadt Neuss um das Jahr 1800 auf dem Hintergrund der durch die Französische Republik verursachten Staatsumwälzung, 2 Bde., Köln 2005, hier Bd. 1, S. 48 f.

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niterkloster in Köln. Ihm gegenüber war Johannes Hünseler zusätzlich zum Kirchenzehnt mindestens seit 1784 zins- und abgabenpflichtig. Dies geht aus dem Zins- und Heberegister des Antoniterklosters – seine Besitzungen zu Junkersdorf 1784–1795 betreffend – hervor.44 Mittelpunkt der fast vier Jahrhunderte währenden Herrschaft der Antoniter über die Herrlichkeit Junkersdorf war der Statthalterhof, auch Tönneshof, Hof von St. Antony oder Sterrenhof genannt. Als der Konvent von St. Antonius im Rahmen der Säkularisation am 14. August 1802 aufgehoben wurde, wurden seine Gesamteinnahmen aus Grundvermögen und Renten nach französischen Angaben auf 19 452 Francs beziffert. Davon gingen 14 Prozent in Geld und 86 Prozent in Naturalleistungen ein.45 Sein Besitz im Kanton Weiden, zu dem Junkersdorf ab 1798 gehörte, umfasste vier Höfe mit 240,1 Hektar Land, 54,4 Hektar Landparzellen, zwei Häuser mit 9,8 Hektar Land und 9,5 Hektar Wald.46 In diesem Kanton lag der Eigentumsanteil der ehemaligen Kölner geistlichen Institutionen bei 58,5 Prozent der gesamten Bodenfläche und war damit der höchste im Arrondissement Köln, wo ihnen im Durchschnitt lediglich 21 Prozent des Bodens gehörten.47 Nach Matthias Langens Tod am 31. Dezember 1761 wurde zunächst seine Frau, die wittib Cäcilia Werres, Hofbesitzerin und damit in der Nachfolge ihres Mannes gegenüber dem Antoniterkloster mit jährlich drei Sümbern48 (= Scheffeln) Korn abgabenpflichtig. Dies bezeugt das Rentenverzeichnis des Klosters für die Jahre 1760–1765 (Abb. 6).49 Cäcilia Werres scheint den Hof bis 1783 – da war sie 75 Jahre alt – geführt zu haben. Weitere Aufzeichnungen über ihre AbgabeverpfIichtungen für diese Zeit sind nicht bekannt. 1784 erscheint dann in den Heberegistern des Antoniterklosters erstmalig der Name ihres Schwiegersohns Johannes Hünseler als Erbzinspflichtiger des Langen-Hofs.50 Dem Register zufolge besaß Johannes Hünseler 1784 drei Morgen Land aus Hamechers Gut, von dem er eine Naturalienrente an Martins Zins- und Schef­ fengehalt in Form einer Korn- und Geldabgabe entrichten musste (Abb. 7).

44 Heberegister betreffend die Besitzungen zu Junkersdorf 1784–95, HAStK Best. 202 (Antoniter), A 12. 45  Büttner, Säkularisation (Anm. 42), S. 110. 46 Ibid., S. 109 47 Ibid., S. 161 48 1 Sümber = Scheffel = ca. 14 kg, vgl. Marina Alice Mutz: Alte Maße und Gewichte, URL: http://www.zeitspurensuche.de/02/st1masse.htm (Stand: 21.3.2022). 49 Vergleichsurkunden, Heberegister und Deskriptionen betreffend die Herrschaft Junkersdorf 1760–1765, HAStK Best. 202 (Antoniter), A 50, S. 46. 50 Ibid., S. 47

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Abb. 6: Auszug aus dem Rentenverzeichnis des Antoniterklosters in Köln für die Jahre 1760–1765 (HAStK Best. 202 [Antoniter], A 4, S. 46).

Auch in den Folgejahren 1785–1793 kam er seinen Verpflichtungen jedes Jahr nach.

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Abb. 7: Johannes Hünseler als Erbzinspflichtiger des Langen-Hofs seit 1784 (HAStK Best. 202 [Antoniter], A 50, S. 17).

Der Einmarsch der Franzosen und das Ende der „Herrlichkeit Junkersdorf“ 1794 jedoch lieferte Johannes Hünseler nur die halbe Abgabe (rhent) ab. Die Begründung liefert ein weltgeschichtliches Ereignis, das auch Auswirkungen auf die Dorfbewohner im weit entfernten Junkersdorf hatte: die Französische Revolution und in ihrem Gefolge die französische Eroberung des Rheinlandes. Am 5. Oktober 1794, dem Kirmessonntag, wurde Junkersdorf von den französischen Revolutionstruppen besetzt. Den Einmarsch der Soldaten schildert der Ortsvorsteher des benachbarten Üsdorf sehr anschaulich: Heut den 5ten Oktober sind die französischen Sansclotten [!] von Königs­ dorff herabgekommen. Wir hanben das Oistorffer Kreitz in die Aerdt ver­ graben. 10 Mann sind bey mir einquartiret und ich habe auch keinen Platz

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gehabt, habe ihnen ein kalb schlachten müssen. Sie hanben mir andern Tags 10 lievre Papier gegeben. Sind also dann nach Kollen gezogen und hanben 20 Mann in der Gemeinde gelassen, 2 bey mir. Wir hanben gemeint, zu Kollen werden sie geschlagen werden, sind aber ohne gefährt durch die offene Han­ pforten herangezogen. Die Franzosen waren arg zerlumpt und hungrisch, hanben sich nit gar so schlimm auffgeführet, aber was wird noch’s geben.51 Die Besetzung des Rheinlands bedeutete das Ende des Erzstifts Köln und der freien Herrlichkeit Junkersdorf. Junkersdorf wurde eine Mairie (Bürgermeisterei) im Kanton Weiden, der zum Arrondissement de Cologne im Département de la Roer gehörte. Die Franzosen stellten bei ihrem Einrücken im Oktober 1794 Theodor Lievré als Municipalverwalter von Müngersdorf, Melaten und Junkersdorf ein.52 Die neuen Herrschaftsverhältnisse führten offensichtlich dazu, dass sich die Dorfbewohner noch vor dem anstehenden Termin der Abgabenentrichtung an Martini, d. h. am 11. November, 1794 nicht mehr an die überkommenen Rechts- und Besitzverhältnisse gebunden fühlten. Wie aus dem Heberegistereintrag des Antoniusklosters für 1794 hervorgeht, lieferte Johannes Hünseler deshalb pro anno 1794 (nur) die halbe rhent. 1795 blieb er die Abgaben aufgrund seines Todes Ende 1794 ganz schuldig. Mit dieser Bemerkung brechen die Einträge im Heberegister des Klosters ab, denn am 5. April 1795 erfolgte in den rheinischen Gebieten der erste Schritt zur Abschaffung von Privilegien für Klerus und Adel, als alle Vorrechte und Befreiungen des Adels abgeschafft wurden. Am 14. Fructidor IV (31. August 1796) verordnete der neue Generaldirektor für das Gebiet zwischen Rhein und Mosel die Sequestration der Güter der Geistlichkeit und forderte gleichzeitig deren Mieter und Pächter unter Strafandrohung auf, ihre Leistungen an den Domäneneinnehmer abzuführen.53 1798 kam dann auch formalrechtlich das Ende der mittelalterlichen Feudalherrschaft, denn „[…] mit einer umfangreichen Verordnung vom 6. Germinal VI [26. März 1798] wurden alle Feudalrechte aufgehoben. Sämtliche leibeigenschaftlichen Abgaben, die Fronen, Zwangs- und Bannrechte, das Jagdrecht und besonders Zehnten und Patrimonialgerichtsbarkeit wurden abgeschafft.“54 Richard Büttner fasst die Folgen der neuen französischen Gesetzgebung zusammen: „Durch diese Verordnungen und Gesetze wurden insbesondere die Lehnsherrschaft (Obereigentumsanspruch), die Grundherrlichkeit und die 51 Zit. nach: Griep, Lövenich (Anm. 1), S. 43. 52 Vgl. Dünn, Geschichte (Anm. 6), S. 69 53 Büttner, Säkularisation (Anm. 42), S. 50. 54 Rosendahl, Untersuchungen (Anm. 43), S. 48 f.

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Gerichtsherrlichkeit der Grundherren abgeschafft. Weiter bestehen blieben die Grund- und Erbrenten.“55 Zum Langen-Hof gehörte auch Pachtland, das die Bezeichnung Kehren Länderey trug. Nach Ausweis des betreffenden Heberegisters schuldete Johannes Hünseler davon in den Jahren bis zu seinem Tode 1794 eine Pacht in Form von Getreide und Geld. Die Abgabenpflicht für den Hof bestand jedoch auch danach fort, sogar über den Tod seiner Frau Eva Langen 1797 hinaus. Für 1798 und 1799 enthält das Register keine Angaben. 1800 meldet es den Übergang der Abgabepflicht für den Langen-Hof auf den Ehemann von Johannes’ ältester Tochter Cäcilia, Theodor Schlösser, und zwar bis 1802 (Abb. 8).56 Johannes Hünseler kam dem Register zufolge seinen Zahlungsverpflichtungen wie schon im Falle des Kirchenzehnten bis zu seinem Tode 1794 regelmäßig und im vollen Umfange nach. Auch in den beiden Folgejahren wurden die Zinsforderungen restlos beglichen. 1797, im Todesjahr seiner Ehefrau Eva, scheint es wirtschaftliche Schwierigkeiten gegeben zu haben, denn das Register meldet einen viabel erlittenen Schaden. Drei Jahre später, 1800, übernahm Theodor Schlösser den Hof und beglich 1802 die ausstehenden Schulden. Er tat dies in Franc, der Währung der neuen französischen Verwaltung. In jenem Jahre 1802 gab es die tiefgreifendste Änderung und Umschichtung der kirchlichen Verhältnisse in den linksrheinischen Gebieten mit dem Konsularbeschluss vom 20. Prairial X (9. Juni 1802), der am 2. Juli, am Fest Mariae Heimsuchung, veröffentlicht wurde: Mit ihm wurden laut Susanne Rosendahl „in den rheinischen Departements alle geistlichen Korporationen und Stiftungen aufgehoben und ihre Güter eingezogen, ausgenommen die bereits nach neuem Gesetz geschaffenen Institutionen und die der Krankenpflege und dem Unterricht dienenden Genossenschaften und Anstalten. […] Das gesamte Eigentum der aufgelösten Einrichtungen fiel an die staatliche Domänenverwaltung; im August und September legte der französische Domänenempfänger in Gegenwart eines Notars ein Verzeichnis aller Güter und Kirchensachen an und zwang die dabei anwesenden Stiftsdamen, Kanoniker und Klostergeistlichen, die Akten mit dem Bemerken zu unterschreiben, daß sie ihr Eigentum freiwillig abträten.“57 Mit dem Verlust des Grundbesitzes 1802 endeten deshalb die Aufzeichnungen des Heberegisters des Antoniterklosters, sodass das Deckblatt der Akte (Abb. 12) folgerichtig den Zeitraum „1786–1802“ angibt.58 55  Büttner, Säkularisation (Anm. 42), S. 45 56 Verzeichnis der bezahlten und restierenden Renten 1786–1802, HAStK Bestand 202 (Antoniter) A 5, S. 73. 57  Rosendahl, Untersuchungen (Anm. 43), S. 84 f. 58 Verzeichnis der bezahlten und restierenden Renten (Anm. 56), S. 2.

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Abb. 8: Übergang der Abgabepflicht für den Langen-Hof auf Theodor Schlösser (HAStK Bestand 202 [Antoniter] A 5, S. 73)

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Durch einen Beschluss des Präfekten vom 22. September 1802 wurden die Pächter und Mieter von Grundeigentum der ehemaligen geistlichen Institutionen aufgefordert, ihre Ansprüche gegenüber dem Domäneneinnehmer anzumelden und Berechtigungsnachweise vorzulegen. Auch sollten die Rückstände unverzüglich bezahlt werden.59 Theodor Schlösser, der als Hofinhaber schon 1800 bezüglich der Kehren-Länderei in Zahlungsrückstand geraten war, beglich laut Registerauszug am 25. März 1802 seine Zinsabgabeverpflichtungen in Höhe von drei französischen Franc und erhielt dafür eine Quittung.60 Die nachfolgenden Veränderungen für die Pächter beschreibt Büttner wie folgt: „Durch den Wechsel der Eigentümer waren die Pächter der ehemaligen geistlichen Kölner Institutionen zu Domänenpächtern geworden, die in der folgenden Zeit ihre Pacht in Geld an das zuständige Domänenbüro, dem die Verwaltung oblag, einzuzahlen hatten. Da viele Pachtverträge auf die Abgabe von Naturalien abgeschlossen waren, mussten neue Pachten mit Hilfe eines vom Präfekten festgelegten Marktpreises in Geldeinheiten festgelegt werden.“61 Die Neuverpachtung der jetzt der Domänenverwaltung gehörenden Grundstücke wurde vor dem Unterpräfekten in Gegenwart des Domänenbürovorstehers vorgenommen. Ab Ende 1805 wurden alle Verträge im Rur-Departement für neun Jahre abgeschlossen. Im Allgemeinen wurden die alten Verträge bis zum Ablauf ihrer Frist übernommen. Der Pachtpreis war dabei in Geld mit zwei Raten in jedem Jahr zu bezahlen.62 Johannes Hünselers Hof blieb noch bis 1925 im Besitz seiner Nachkommen. In jenem Jahre wurde er verkauft und ging in die Hände des Bäckermeisters Wilhelm Stupp und seiner Ehefrau Elisabeth über.63

Johannes Hünselers Tod und die Frage seines Geburtsdatums Johannes Hünseler wurde am 27. Dezember 1794 in Junkersdorf begraben.64 Die Beerdigung und den Kirchenbucheintrag (Abb. 9) nahm „Vicepastor“ Hilarius Göbell vor, der nach dem Tod seines Vorgängers, Pfarrer Benedikt Kölges, erst kurz zuvor, aus dem Brühler Recollektenkloster kommend, am 4. Oktober 1794 die Pfarrstelle übernommen hatte.65

59  Büttner, Säkularisation (Anm. 42), S. 184 60 Verzeichnis der bezahlten und restierenden Renten (Anm. 56), S. 73. 61  Büttner, Säkularisation (Anm. 42), S. 184 f. 62 Ibid., S. 185 63 Grundbuch von Lövenich, Bd. III, 1925, HAStK A 70, Artikel 97. 64 Kirchenbuch Junkersdorf Nr. 5, LAV NRW Rheinland PA 1106 LK 238, S. 19. 65  Dünn, Geschichte (Anm. 6), S. 53.

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Abb. 9: Ausschnitt aus Kirchenbuch Junkersdorf Nr. 5 mit Begräbniseintrag Johannes Hünselers vom 27. Dezember 1794, LAV NRW Rheinland PA 1106 LK 238, S. 19).

Vicepastor Göbell gab im Begräbniseintrag das Alter Johann Hünselers mit circiter annos 60, also „ungefähr 60 Jahre“ an. Diese vage Angabe überrascht angesichts der unter seinem Vorgänger ansonsten präzise gemachten Altersmitteilungen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass ihm die Person des Verstorbenen aufgrund seiner erst kurzen Amtszeit als Pfarrer in Junkersdorf nicht hinreichend bekannt war. Eine andere Begründung könnte die Herkunft des Toten aus einer anderen Pfarrei, nämlich Götzenkirchen, sein, und damit verbunden der Umstand, dass die Beschaffung von Taufbuchunterlagen angesichts der durch die Besetzung des Rheinlandes durch französische Revolutionstruppen inzwischen herrschenden Turbulenzen vielleicht unmöglich war. Wie alt wurde Johannes Hünseler tatsächlich und wann könnte er demzufolge geboren sein? Nach Aussage des Beurkundungstextes der Trauung seiner Tochter Cäcilia am 11. Mai 1799 wurde Johannes Hünseler in Hemmersbach geboren, das zu diesem Zeitpunkt, während der französischen Besetzung des Rheinlands, zum Kanton Kerpen gehörte.66 Hemmersbach liegt ca. zehn Kilometer westlich von Bachem, dem letzten bekannten Wohnort seines Vaters Friedrich Hünseler. Johannes’ Alter wird im Beurkundungstext von 1799 mit 50 Jahren angegeben (Abb. 10), d. h. er müsste, da er schon 1794 gestorben war, dann 1744 geboren sein. Demgegenüber wird sein Alter im Kirchenbuch von Junkersdorf zum Zeitpunkt seines Todes 1794 mit „ungefähr 60“ angegeben, was seine Geburt in das Jahr 1734 verlegen würde.

66 Frechen Heiraten, 1799, LAV NRW R, PA 2106.

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Abb. 10: Auszug aus dem Beurkundungstext der Trauung von Johannes Hünselers Tochter Cäcilia am 11.5.1799 mit der Altersangabe Hünselers (LAV NRW R, PA 2106).

Im Taufbuch von Hemmersbach gibt es jedoch für die Jahre von 1734–1744 keinen Eintrag auf den Namen Johannes Hünseler, wohl aber für das Jahr 1748. Dieser Johannes ist aber nicht der Gesuchte. Er ist mit großer Sicherheit dessen Neffe, der Sohn seines Bruders Friedrich. Somit wäre die Frage des Geburtsjahres von Johannes Hünseler – 1734 oder 1744 –angesichts der vagen Formulierung der Altersangabe im Sterbeeintrag eher zugunsten von 1744 zu entscheiden, zumal dieser Zeitpunkt nicht allzu weit entfernt vom Geburtsjahr seiner späteren Ehefrau Eva Langen, nämlich 1748, liegt. Eine vollständig gesicherte Aussage ist momentan jedoch nicht zu machen. Johannes Hünselers Todesursache wird im Kirchenbuch mit maligna febri exhaustus angegeben, das heißt er „starb an bösartigem Fieber“. Diese Formulierung erscheint 1794 im Junkersdorfer Sterbebuch des Öfteren. Man kann davon ausgehen, „dass bei einem gehäuften Auftreten der Kirchenbucheintragung ‚febri maligna‘ eine Epidemie grassierte. Dies konnten Seuchen wie Typhus und Ruhr (dissenteria) sein, aber auch Tuberkulose oder andere ansteckende Krankheiten.“67 1794–1796 ist während der französischen Besatzungszeit an der nahen Erft ein absolutes Hoch der Sterbefälle im 18. Jahrhundert zu verzeichnen. Seit 1792 war das linksrheinische Gebiet von durchziehenden Truppen oder Truppen im Winterquartier besetzt. Auch in Junkersdorf wird es deshalb zum Ausbruch einer ansteckenden Krankheit gekommen sein, laut Bongart u. a. „vielleicht einer Krankheit, die die französischen Truppen eingeschleppt hatten und die in der hungerleidenden Bevölkerung besonders viele Opfer fand“.68 Mit Johannes Hünselers Tod endete durch eine vermutlich von außen eingeschleppte Viruskrankheit abrupt vorzeitig ein 50-jähriges kleinbäuerliches Leben, das zudem durch die Besetzung seiner rheinischen Heimat durch französische Revolutionstruppen in die Strudel einer tiefgreifenden politisch-sozialen Veränderung geraten war. Seine Ehefrau Eva Langen starb zweieinhalb Jahre später am 20. September 1797 im Alter von 49 Jahren. Die Todesursache wird in ihrem Falle nicht genannt. Beiden sei durch diesen Beitrag ein Erinnerungsdenkmal gesetzt.

67  Bongart/Kuhl/Rünger, Landbevölkerung (Anm. 7), S. 126. 68 Ibid., S. 32.

Heinrich Mathias Schmitz (1806–1869), Weinhändler und ausübender Musikliebhaber in Köln – Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf Niederrheinischen Musikfesten in Aachen, Düsseldorf und Köln von Klaus Wolfgang Niemöller Im Beethoven-Jahr 2020 erschien zum 250. Geburtstag nach Jahren intensiver Editionsarbeit in der neuen Gesamtausgabe des Beethovenarchivs in Bonn die Symphonie Nr. 9, op. 125, herausgegeben von Beate Angelika Kraus.1 Die komplexe Geschichte der Werküberlieferung, der Ur- und Erstaufführungen ist schon länger ein Thema der Rezeptionsforschung.2 Der Fund von zwei Briefen von 1833/34 aus Köln an den Musikverlag B. Schott’s Söhne in Mainz zum Kauf von Notenmaterial im Historischen Archiv der Universität zu Köln durch den Archivar Dr. Andreas Freitäger vermittelt eine interessante neue Quelle zur frühen Rezeption der 9. Sinfonie im Rheinland.3 Sie stammt aus einem Handschriftenkonvolut, das Geschäftsbücher zweier Firmenarchive umfasst.4 Eines ist das Briefkopierbuch des Kölner Weinhändlers Heinrich Mathias Schmitz für die Jahre 1830–1834. Das Dokument gewährt einen konkreten Einblick in die damaligen Vorbereitungen einer Aufführung der Sinfonie. Diese Studie soll die damit verbundenen Verflechtungen des Wirtschaftsbürgertums als Träger der von Musikliebhabern organisierten Musikkultur in Köln anhand der Biographie des Briefschreibers Schmitz näher untersuchen, 1 Ludwig van Beethoven: Werke, Abt. 1, Bd. 5: Symphonie d-Moll Nr. 9 op. 125, München 2020. 2 Vgl. Andreas Eichhorn: Beethovens neunte Symphonie. Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption (Kasseler Schriften zur Musik 3), Kassel 1993; Beate Angelika Kraus: Europas Beethoven. Ein rezeptionsgeschichtlicher Vergleich, in: Bonner Beethoven-Studien, Bd. 3 (Veröffentlichungen des Bonner Beethoven-Hauses 5), Bonn 2003, S. 69–79; Dies.: „Seid umschlungen, Millionen!“ – Zur Rezeption von Beethovens 9. Symphonie, in: Albrecht Riethmüller (Hg.): The Role of Music in European Integration. Conciliating Eurocentrism and Multiculturalism (Discourses on Intellectual Europe 2), Berlin/Boston 2017, S. 100–124. 3 Der Verfasser dankt Herrn Dr. Freitäger für die produktive Zusammenarbeit. 4 Andreas Freitäger: Ein Schmitz will nach oben. Das Briefkopierbuch eines Kölner Weinhändlers aus den Jahren 1830–1834, in: Ders.: Wein und Eisen. Beiträge zu Geschäftsbuchüberlieferungen im Historischen Archiv der Universität zu Köln (Sedes Sapientiae. Beiträge zur Kölner Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 3), Köln 2020, S. 67–134; Textanhang. Zwei Briefe an die Firma B. Schott’s Söhne in Mainz, S. 135–136. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 121–146

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um die neue Quelle zur Beethoven-Rezeption kontextual zu situieren. Ausgehend von den Dokumenten zu den personellen und institutionellen Details der Beethoven-Aufführungen auf den Musikfesten zwischen 1834 und 1862, entsteht ein anschauliches Bild des damaligen Kölner Musiklebens insgesamt. Heinrich Mathias Schmitz stammte aus Bonn, wo er am 27. Januar 1806 geboren wurde. Sein Vater Michael Schmitz war Eigentümer des renommierten Hotels Goldener Stern. Zentral am Marktplatz gelegen, war es sozusagen die erste Adresse in Bonn. Nach dem Tod des Vaters 1842 führte der Bruder Joseph das Hotel weiter. Heinrich Mathias besuchte das Gymnasium, allerdings nur die beiden untersten Klassen Sexta und Quinta. 1818 verließ er das Gymnasium, um sich einem bürgerlichen Gewerbe zu widmen5. Seit 1822/23 arbeitete er in der Kölner Weinhandlung Rhodius, ehe er sich mit dem Erwerb der Weinhandlung von Johann Christian Noss in der Severinstraße 214 1830 als Weinhändler selbständig machte. Vielleicht schon in der Gymnasialzeit durch den Gesangslehrer für Musik besonders interessiert, dürfte Schmitz in der ersten Kölner Zeit das Violinspiel erlernt haben, das ihn eng mit dem Kölner Musikleben verband. Namentlich die Violinisten der 1826 wieder etatisierten Domkapelle, die mit Carl Leibl wieder einen Domkapellmeister erhielt, Johann Jakob Almenräder und Johann Jakob Lütgen kommen als Lehrer in Frage. In welchem Maße die Musik zu seinem Leben gehörte, erweist eine Briefstelle vom August 1830 an den Kapitän Engelmann in Neuss über die unterschiedlichen Geschmäcker der Weinkunden: Oder in einer musikalischen Metapher: der eine schätzt den klassischen gehaltvollen J. S. Bach oder Händel, der andere will nur den süssen Rossini hören.6 Gerade Köln war immer wieder Schauplatz besonderer musikalischer Ereignisse, die der musikinteressierte Kaufmann intensiv erlebte, etwa zu Pfingsten 1828 das Niederrheinische Musikfest, auf dem der Festdirigent Bernhard Klein sein Oratorium Jephta uraufführte.7 Die Niederrheinischen Musikfeste fanden seit 1818 abwechselnd in Düsseldorf, Aachen und Köln statt. Sie vereinigten jeweils mehrere Hundert Mitwirkende in Chor und Orchester und zogen viele Zuhörer an, nicht nur aus den Feststädten.8 Seit 1827 veranstaltete zudem die Kölner Concert-Gesellschaft, die sich aus den Vorständen der Musikalischen Gesellschaft (seit 1812) und des Singvereins (seit 5 Zit. nach: ibid., S. 60 (aus dem Jahresbericht des Bonner Gymnasiums). 6 Ibid., S. 118. 7 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Bernhard Klein und die Kirchenmusik in Köln, Berlin und Riga, in: Stefan Keym/Stephan Wünsche (Hg.): Musikgeschichte zwischen Ost und West: Von der „musica sacra“ bis zur Kunstreligion. Festschrift für Helmut Loos zum 65. Geburtstag, Leipzig 2015, S. 94–106. 8 Vgl. Wilhelm Hauchecorne: Blätter der Erinnerung an die fünfzigjährige Dauer der Niederrheinischen Musikfeste, Köln 1868.

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1818) gebildet hatte, im Winter Abonnement-Konzerte, geleitet von Carl Leibl.9 Am 28. Juli 1831 heiratete der katholische Heinrich Mathias Schmitz Eleonore Wilsing. Sie war die Tochter von Friedlieb Wilsing (1774–1823), der von 1804 bis 1813 als reformierter Prediger in der evangelischen Gemeinde in der ehemaligen Antoniterkirche wirkte.10 Lutherischer Pfarrer war Christian Gottlieb Bruch (1761–1836). Sein Sohn August heiratete Wilhelmine Almenräder, (evangelische) Sopranistin in der Domkapelle und Mutter des Komponisten Max Bruch. August Bruch, später Polizeipräsident in Köln, wurde schon 1820 als Bonner Jurastudent Mitglied in der Musikalischen Gesellschaft, dem Orchester der ausübenden Musikliebhaber.11 Johann Jakob Almenräder war seit der Gründung 1812 bis 1845 ihr Dirigent. Diese Gesellschaft war auch gesellschaftlich einflussreich: So gehörte der Kölner Oberbürgermeister von 1823 bis 1848, Johann Adolph Steinberger, ihr als Violinspieler ebenso an wie der Landgerichtspräsident Heinrich Erich Verkenius (1776–1846)12, der bis 1840 Intendant der Domkapelle war.13 Auch Heinrich Mathias Schmitz trat der Gesellschaft bei. Mit dem Doppelnamen Schmitz-Löhnis ist er eindeutig identifiziert.14 Eleonore Schmitz war über ihre Mutter Elisabeth Wilsing, geb. Löhnis Mitinhaberin der Speditionshandlung J. J. Löhnis Sohn, die Schmitz 1832 übernahm. In der Wohnung im Haus der Doppelfirma von Schmitz in der Severinstraße 214 gab es einen großen Stucksaal, in dem auch Hauskonzerte stattfinden konnten.15 In dem für den Unternehmer Schmitz so ereignisreichen Jahr 1832 fand zu Pfingsten zum vierten Mal in Köln wieder ein Niederrheinisches Musikfest statt. Festdirigent im Gürzenichsaal war Ferdinand Ries aus Bonn, der zwi 9 Vgl. Hermann Unger (Hg.): Festbuch zur Hundertjahrfeier der Concert-Gesellschaft in Köln. 1827–1927, Köln 1927; Gisela Mettele: Bürgerliches Musikleben in Köln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Arnold Jacobshagen (Hg.): Musikstadt Köln. Geschichte und Gegenwart (musicolonia 10), Köln 2013, S. 69–90, hier S. 70; Karlheinz Weber: Vom Spielmann zum städtischen Kammermusiker. Zur Geschichte des Gürzenichorchesters, 2 Bde. (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 169), Kassel 2009. 10 Vgl. Jochen Gruch: Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer im Rheinland von der Reformation bis zur Gegenwart, Bd. 4, Bonn 2020, S. 488. 11 Karl Wolff: Hundert Jahre Musikalische Gesellschaft, Köln 1912, S. 18 (Faksimile der Unterschrift im Mitgliederverzeichnis). 12 Vgl. Mettele, Musikleben (Anm. 9), S. 70. 13 Vgl. Josef van Elten. Musik im Konflikt zwischen Ästhetik und Liturgie. Die Kölner Domkapelle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Stefan Klösges/Eberhard Metternich (Hg.): In aeternum cantabo. Zeugnisse aus 1300 Jahren kölnischer DomMusikGeschichte. Ausstellung anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Kölner Domchores, Köln 2013, S. 114–126. 14 Wolff, Hundert Jahre (Anm. 11), S. 16. 15 Vgl. Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 76, Abb.

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schen 1825 und 1837 acht Mal die Direktion hatte. Am ersten Tag stand Händels Oratorium Samson auf dem Programm, am zweiten Tag neben der neuen Festouvertüre von Ries die 7. Sinfonie von Beethoven. Das Programmheft mit den Texten der Vokalwerke listet erstmalig auch alle 565 Mitwirkenden namentlich und mit Angabe des Herkunftsortes auf, allein 205 im Orchester.16 Kern waren die Musiker der Domkapelle, die im selben Jahr 1832 in einer Breslauer Zeitschrift nicht nur als das Fundament aller Musik in Cöln, sondern auch der Culminationspunkt derselben bezeichnet werden.17 Unter den 22 Violinisten waren aus der Domkapelle Almenräder, Wilhelm Kleinartz, Anton Wilhelm Lütgen und Johann Mecum. Das hohe spielerische Niveau spiegelt die Gruppe der Musikdirektoren und Kapellmeister aus Düsseldorf, Hamm, Arnsberg, Düren, Aachen, Utrecht, Solingen und Münster wider. Die vier in den Violinen mitspielenden Dilettanten mussten deren Ansprüchen gerecht werden. Sie waren führende Mitglieder der Festcomités, so der Tuchfabrikant Ignatz van Houtem aus Aachen, aus Köln der Oberbürgermeister Steinberger und der Präsident Verkenius, dazu Alfred DuMont aus der Familie des Verlags der Kölnischen Zeitung. Die Begegnung der Berufsmusiker mit den führende gesellschaftliche Positionen einnehmenden Mitspielern hat einen ganz spezifischen Vorstellungswert. Laut Zeitungsanzeige vom 13. Dezember 1833 kamen die Mitglieder der Musikalischen Gesellschaft regelmäßig jeden Samstag zum Musizieren zusammen, wobei immer auch Berufsmusiker zur Unterstützung teilnahmen oder in einem Konzert als Solisten auftraten. Nur wenige Zuhörer wurden zugelassen.18 Zum Notenbestand gehörten auch die Sinfonien 1–8 von Beethoven. In den beiden Jahren 1832/33 tritt nun der noch junge, aber erfolgreiche Kaufmann Schmitz für das Netzwerk der Kölner Musikinstitutionen, dem er als Mitglied der Musikalischen Gesellschaft angehört, als geschickter, aber auch kundiger Käufer von Noten beim Verlag B. Schott’s Söhne in Mainz auf, 1832 zu Beethovens Missa solemnis, op. 123. Schott hatte von Beethoven die Druckrechte für sie und auch die 9. Sinfonie, op. 125, erworben. Im Brief vom 17. Dezember 1833 schreibt Schmitz, er sei von jeher gewohnt 50 % Rabatt von Ihnen zu bekommen, so z. B. noch im vorigen Jahr auf der [sic] Beetho­

16 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Eine musikalische Freundschaft. Sibylle MertensSchaafhausen und Ferdinand Ries, Dirigent der Niederrheinischen Musikfeste, in: Ries Journal 2 (2012), S. 3–27, hier S. 20 f. 17 Zit. nach: Karl Gustav Fellerer: Die Kölner Dommusik und die kirchenmusikalische Reform im 19. Jahrhundert, in: Der Kölner Dom. Festschrift zur Siebenhundertjahrfeier 1248–1948, hg. vom Zentral-Dombau-Verein, Köln 1948, S. 324–340, hier S. 328 (Zeitschrift Eutonia). 18  Wolff, Hundert Jahre (Anm. 11), S. 33.

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venschen Messe.19 Unter den angekommenen Musikalien reklamiert er als Unrichtigkeiten: 1) [Christian Heinrich] Rin[c]k Missa fehlen 4 Chor-Stimmen Partien, stattdessen sind irrig 4 Partien von [Wenzel Johann] Tomaschek‘s Hymnen vorfindlich. Rincks Missa, op. 91, für vierstimmigen Chor und Orgel war 1831 bei Schott erschienen. Am 28. Januar 1834 bestätigt Schmitz dem Schott-Verlag die Zusendung der Noten von Rin[c]k Missa und Neukomm Hymne. Sigismund von Neukomms Hymne de la nuit (Hochgesang von der Nacht) nach Alphonse de Lamartine für vier Stimmen und Piano hatte Schott 1829 in Paris und Mainz erscheinen lassen. Der Text ist in Französisch und Deutsch unterlegt (Der Tag verlöscht…). Für wen Schmitz die beiden so unterschiedlich besetzten Messen und die Hymne bestellte, bleibt ebenso offen wie beim gleichzeitigen Kauf der Noten zur 9. Sinfonie, der hier im Fokus steht. Bei den am 17. Dezember 1833 angemahnten Unrichtigkeiten heißt es weiterhin: 2) habe ich von der Symph[onie] von Beethoven, vollständiges Orchester, worunter 6 Violini 1 [hoch] 0, 6 Violini 2 [hoch] 0, 4 Alt [Viola] und 5 Violon­ celle‘ bestellt. – Sie haben aber im Ganzen 14 Violini, 5 Alt und 6 VioloncellStimmen geschickt. Am 28. Januar 1834 übersandte Schmitz an Schott dann die Abrechnung von Beethoven op. 125: Partitur f[lorin] 15‘‘-/ Orchester [Bläsersatz] f 17‘’30 / 8 Violinen / 1 & 2 / f 12‘‘-/ 2 Alto f 12‘‘-/ 3 Basso f 8‘’18/ 10 Parthien Chorstimmen f 18‘‘-, insgesamt f 19‘’30, [Rabatt…] à 50 f 59‘’54 [Endsumme unter Einbezug der Noten von Rinck und Neukomm]. Der Brief endet mit den Worten: Wenn die Dampfschiffe wieder gehen, werde ich wieder Meh­ res bestellen.20 Da von Schmitz keine weiteren Briefkopierbücher nach 1834 erhalten sind, könnte darüber nur die Korrespondenz, die sich im Archiv des Schott-Verlages befindet, Auskunft geben, dessen einschlägiger Briefbestand sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München befindet.21 Einen Hinweis auf die mögliche Bestimmung des von Schmitz besorgten Notenmaterials der 9. Sinfonie von Beethoven gibt folgende Briefstelle vom 17. Dezember 1833: […] dieselbe bei Ihnen zu kaufen anstatt in Aachen zu leihen. Für das Niederrheinische Musikfest zu Pfingsten 1834 in Aachen war auch eine Aufführung der 9. Sinfonie vorgesehen. Bereits 1825, also zeitnah zur Wiener Uraufführung 1824, hatte Ferdinand Ries sie am 23. Mai, dem zweiten Tag des 8. Niederrheinischen Musikfests, in Aachen auf das Programm gesetzt: Symphonie in D-moll Nr. 9 mit Chören aus Schiller’s Hymne ‚An die Freude‘

19  Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 135: Historisches Archiv der Universität zu Köln, Zugang 908/1, S. 831. 20  Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 136: Historisches Archiv der Universität zu Köln, Zugang 908/1, S. 845. 21 Abt. Handschriften und Alte Drucke. Freundliche Mitteilung von Dr. Sabine Kurth.

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von Beethoven (Manuscript).22 Am ersten Tag war nach der neuen Sinfonie von Ries Das Alexanderfest von Händel aufgeführt worden. 204 Mitwirkende im Chor, 107 im Orchester versammelten sich auf der Bühne des gerade eröffneten Stadttheaters. Als Solisten werden für die Sopranpartien auch Fräul. Almenrä­ der aus Cöln und Frau Hauchecorne aus Aachen, die Frau des Comité-Vorsitzenden Wilhelm Hauchecorne, benannt, als Tenor auch Herr v. Woringen aus Düsseldorf.23 Sicherlich kamen auch in Chor und Orchester Mitwirkende aus den beiden anderen Musikfeststädten. Wegen der hohen Anforderungen an das Orchester, die begrenzte Probezeit und die heterogene Zusammensetzung entfiel jedoch bei der Aufführung der 9. Sinfonie der Scherzo-Satz.24 Da die Aachener Veranstalter 1834 für die erneute Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven angesichts ihrer beschränkten eigenen Kräfte für Chor und Orchester vor allem auf die Mitwirkung der Sängerinnen und Sänger sowie der Instrumentalisten aus Köln angewiesen waren und sicherlich eine entsprechende Einladung erging, war es sinnvoll, für die Kölner Mitwirkenden entsprechendes Stimmenmaterial zur Verfügung zu haben, um das zweifellos sehr schwierige Werk einüben zu können und bei der Generalprobe in Aachen zu bestehen. Diesem Zweck entspricht auch das von Schmitz bestellte Notenmaterial für vollständiges Orchester. Die Partitur war für das Einstudieren des Chores notwendig, wohl für Leibl, der 1832 ausdrücklich als Chor-Dirigent benannt ist.25 Stimmen für die Solisten fehlten, die ja erst zum Musikfest anreisten. Eine Kölner Aufführung der 9. Sinfonie erfolgte erst 1841. Mit dem Musikfest 1834 in Aachen wurde die rheinische Rezeptionsgeschichte der 9. Sinfonie fortgeschrieben.26 Ferdinand Ries schrieb am 17. April 1834 an den Vorsitzenden des Comités Wilhelm Hauchecorne: Von Beethovens Sinfonie muß nichts weiter doubliert werden bis ich die Partitur gesehen habe. […] Schi­ cken Sie mir die Partitur sobald wie möglich, und von jedem Instrument eine ausgeschriebene Stimme. Beethoven schreibt mir, daß ihm noch eine Akademie bevorsteht, wozu Er seine eigenhändige Partitur braucht, sonst hätte Er sie mir geschickt. […] Zu den Chorstimmen hat er mir eine eigene Directorstimme 22 Verzeichnisse der auf den Niederrheinischen Musikfesten in den Jahren 1818–1867 zur Aufführung gelangten Tonwerke, der Dirigenten, der Gesang-Solisten […], in: Hauchecorne, Blätter (Anm. 8), S. 9. 23 Ibid. 24 Vgl. Ferdinand Ries: Briefe und Dokumente, bearb. v. Cecil Hill (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 27), Bonn 1982, S. 207–228; Reinhold Sietz: Die Niederrheinischen Musikfeste in Aachen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 72 (1960), S. 109–164, hier S. 109–120. 25 Verzeichnisse (Anm. 22), S. 15. 26 Vgl. Reinhold Sietz. Das Niederrheinische Musikfest 1834 zu Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 70 (1958), S. 167–191.

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beigelegt. […] Sollte Schott wegen der Sinfonie anfragen oder sich beklagen, so soll man sagen, daß Beethoven es aus alter Liebe und Achtung für mich getan hat.27 Am zweiten Tag des Musikfests stand aber nur noch Erster Satz aus der neunten Symphonie von Beethoven auf dem Programm.28 Die beiden Berichte in der Neuen Zeitschrift für Musik (im Folgenden: NZfM) problematisieren diese Teilaufführung, überliefern aber auch die Gründe: Unser Tadel, daß man etwas halbes gäbe bei solchen Mitteln und bei solchem Werk, wird allerdings mit Rücksicht auf die großen Schwierigkeiten der anderen Sätze, namentlich in den Chören in etwas geschwächt. Dennoch.29 So isoliert konnte das Werk nicht befriedigend wirken. Kann man das Werk nicht ganz vorführen, so muß man zumal bei einer großen öffentlichen Aufführung auch auf einzelne Theile ver­ zichten.30 Die orchestralen Mittel (Ries) entsprachen durchaus einem Musikfest: allein 53 Violinen, 12 Violen, 16 Celli, 10 Kontrabässe, nicht zuletzt durch die Mitwirkung von Dilettanten, so dass Anton Schindler von einem Ripienor­ chester sprach.31 Die aus Köln mitwirkenden Musiker konnten jedenfalls dank der Bestellung durch Schmitz ihre Noten selbst mitbringen. Das Aachener Musikfest 1834 war auch aufgrund prominenter Zuhörer denkwürdig. Am ersten Tag stand das Oratorium Deborah von Händel auf dem Programm. Ries hatte Ferdinand Hiller, der seit 1830 in Paris war, gebeten, das Oratorium mit verstärkter Instrumentation zu versehen.32 Hiller bat seinen Freund Felix Mendelssohn Bartholdy, der 1833 durch den Einfluss des musikliebenden Regierungspräsidenten Otto von Woringen zum Musikdirektor in Düsseldorf berufen worden war, nach Aachen zu kommen, um sich selbst ein Urteil über das Gelingen der Instrumentation zu bilden. Mendelssohn kam nur widerwillig, da er sich bei der Wahl des Musikfestdirigenten übergangen fühlte. In Aachen traf er überraschend auch Frédéric Chopin, den Hiller aus Paris mitgebracht hatte. Die drei Freunde aus Pariser Jahren erlebten gemeinsam in einer Theaterloge die Aufführung, eilten dann jedoch, um sich gegenseitig ihre neuesten Klavierkompositionen vorzuspielen.33 Als ein Jahr später für den 7. und 8. Mai 1835 in Köln das 17. Niederrheinische Musikfest anstand, wurde unter Vorsitz von Oberbürgermeister Adolph 27 Ries, Briefe (Anm. 24), S. 221–223. 28 Verzeichnisse (Anm. 22), S. 17. 29 NZfM 1. Jg., Nr. 17 vom 29. Mai 1834, S. 68. 30 NZfM 1. Jg., Nr. 27 vom 3. Juli 1834, S. 108. 31 Zit. nach Eichhorn, Beethovens neunte Symphonie (Anm. 2), S. 28, Anm. 26. 32 Einladungsschreiben. Faksimile in Niemöller, Freundschaft (Anm. 16), S. 14. 33 Vgl. Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sämtliche Briefe. Auf Basis der von Rudolf Elvers angelegten Sammlung hg. v. Helmut Loos u. Wilhelm Seidel, Bd. 3: August 1832 bis Juli 1834, hg. v. Uta Wald, Kassel 2010, S. 724.

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Steinberger aus den 131 ausübenden Herren Musikfreunden laut Protokollbuch am 1. Februar auch Herr Matth. Schmitz in das siebenköpfige Comité gewählt.34 Dieses wählte Felix Mendelssohn Bartholdy als Festdirigenten, der bei Verkenius wohnte. Besonders denkwürdig wurde das Musikfest durch die Aufführung des Oratoriums Salomon von Händel nach der Originalpartitur und mit einer von Mendelssohn auskomponierten und von Alain Gehring 2012 wiederentdeckten Orgelstimme.35 Sie spielte der Domorganist Franz Weber auf einem eigens im Gürzenich-Saal aufgestellten Instrument.36 Die Positionen der Comité-Mitglieder und Kaufleute Julius Nacken und Jacob Bel in den Musikinstitutionen sind auch im Hinblick auf Schmitz interessant. Während Nacken später noch zusammen mit Schmitz in der Musikalischen Gesellschaft zu dokumentieren ist, wird über den Tuchkaufmann Bel die Verbindung zur Domkapelle erkennbar. Er hatte um 1840 die Domaltistin Josephine Fleming geheiratet, die beim Musikfest 1837 noch als Fräul. Flemming […] aus Geilen­ kirchen als Solistin aufgeführt ist.37 Bel wie Nacken, beide nicht katholisch, gehörten zu den zahlreichen Mitsingern, die den sieben besoldeten VokalMitgliedern der Domkapelle bei größeren Aufführungen chorisch zur Seite standen. So akzeptierte das Domkapitel, dass Bel 1850 aus Liebe zur guten Sache in der Nachfolge des 1846 verstorbenen Erich Verkenius sogar Intendant der Domkapelle wurde.38 Mendelssohn, inzwischen Gewandhaus-Kapellmeister in Leipzig, leitete dann auch im folgenden Jahr das Niederrheinische Musikfest in Düsseldorf am 22. und 23. Mai 1836. Als Abschluss am zweiten Tag stand die Symphonie mit Chören in D-moll von Beethoven auf dem Programm.39 Es war deren erste vollständige Aufführung im Rheinland. Unterstützt von seinem Freund und Nachfolger im Amt, Julius Rietz, war Mendelssohn um bestmögliche Aufführungsbedingungen bemüht; so ließ er keine Dilettanten mehr für die Solopartien zu, denn am ersten Tag wurde als Haupt-

34  Klaus Wolfgang Niemöller: Felix Mendelssohn-Bartholdy und das Niederrheinische Musikfest 1835 in Köln, in: Ursula Eckart-Bäcker (Hg.): Studien zur Musikgeschichte des Rheinlandes III (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 62), Köln 1965, S. 46–64. 35 Vgl. Alain Gehring: Händels Solomon in der Bearbeitung von Felix Mendelssohn Bartholdy (1835), in: Die Musikforschung 65/4 (2012), S. 315–337. 36 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Der Kölner Domorganist Franz Weber als Spieler von Mendelssohns Orgel-Stimmen zu Händels Oratorien. Ein kontextuales Porträt, in: Claudia Behn (Hg.): Barockmusik als europäischer Brückenschlag. Festschrift für Klaus-Peter Koch, Beeskow 2020, S. 187–196. 37 Verzeichnisse (Anm. 22), S. 20. 38  Klaus Wolfgang Niemöller: Zwischen Palestrina und Beethoven. Zur Kirchenmusik im Dom und im Gürzenich in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Arnold Jacobshagen/Annette Kreutziger-Herr (Hg.): 1863 – Der Kölner Dom und die Musik (MusikKultur-Geschichte 2), Würzburg 2016, S. 11–48, hier S. 42. 39 Verzeichnisse (Anm. 22), S. 19.

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werk sein Oratorium Paulus uraufgeführt. Sicherlich erhielt Mendelssohn aus Köln, wo er ein Jahr zuvor die maßgeblichen Persönlichkeiten kennengelernt hatte, entsprechende Unterstützung in Chor (356) und Orchester (172). Das Notenmaterial zur 9. Sinfonie konnten sie ja mitbringen. Als 1838 auf dem 20. Niederrheinischen Musikfest in Köln Händels Oratorium Joshua unter Mendelssohns Leitung nach der Original-Partitur mit Orchester- und Orgel-Begleitung40 aufgeführt wurde, spielte wieder Franz Weber mit ergreifender und mächtiger Wirkung (Mendelssohn)41 ebenso die Orgel wie bei J. S. Bachs Kantate zum Himmelfahrtstag (BWV 128). Mendelssohn hatte auf die Aufführung eines eigenen Werks verzichtet und im Gegenzug die erste Kölner Aufführung einer Bachkantate durchgesetzt, die durch vielseitige Instrumentation besonders festlich ist. Dies war sicherlich auch für Herrn Schmitz, H. M., a. Köln, so seine Nennung unter den 125 Bass-Sängern des Chors im Programmbuch, ein ganz besonderes Erlebnis.42 Einstudiert hatte die Chöre für Mendelssohn der Director der Chöre, Domkapellmeister Carl Leibl. Im Bass sangen auch Jacob Bel, August Bruch, Franz Heuser und der Bankier und Stadtverordnete Ignaz Seydlitz, Schwiegersohn von Verkenius, mit, im Tenor Julius Nacken, alle auch Mitglieder im Comité, das von Oberbürgermeister Adolph Steinberger angeführt wurde. Schmitz ist mit Erich Verkenius zudem auch unter den 74 Violinspielern des Orchesters benannt, das von den Konzertmeistern Franz Hartmann (Violine), Franz Weber (Viola) und Bernhard Breuer (Violoncello) angeführt wurde. Den 182 Instrumentalisten standen 452 Mitwirkende im Chor gegenüber. Der Sänger Schmitz ist als Mitglied in der 1836 gegründeten Liedertafel vernetzt und wird seit 1840 in der Mitgliederliste aufgeführt.43 Liedmeister war wohl der Domorganist Franz Weber, der ihr 1841 vier Männerquartette widmete. Die Satzung sah vor: Am ersten Mittwoch jeden Monats versammeln sich die Mitglieder, um bei einem einfachen Abendessen musikalische Unter­ weisung und praktische Übung im mehrstimmigen Männergesang zu pfle­ gen.44 Der Referent der NZfM skizziert die Liedertafel, die unter den Män­ nern die tüchtigen Stimmen ausbildet und weckt, und dadurch auf das musikalische, wie überhaupt gesellige Leben großen Einfluß äußert.45 Letzte40 Text der Gesangstücke, welche beim Musikfest in Köln am 3. und 4. Juni 1838 ausgeführt werden. Nebst einem Verzeichniß sämmtlicher Mitwirkenden. 41 Zit. nach Niemöller, Domorganist (Anm. 36). 42 Text der Gesangstücke (Anm. 40), S. 33. 43 HAStK Best. 1066, Bergungsgut Düsseldorf. Der Verf. dankt Herrn Archivar Niclas Esser für die Mitteilung. 44 Unger, Festbuch (Anm. 9), S. 44. 45 Zit. nach Klaus Körner: Das Musikleben in Köln um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 83), Köln 1969, S. 89 f.

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res kulminierte am 2. Februar 1847 bei der Liedertafel mit Damen im Casino. Der eigens gedruckte Text zu den Gesängen führt bei den zwölf Gedichten jeweils auch an: componirt von, darunter die Namen der Kölner Kapellmeister Konradin Kreutzer und Heinrich Dorn sowie den des Domviolinisten Franz Derckum.46 Auf dem 23. Niederrheinischen Musikfest 1841 in Köln kam nun als großes Abschlusswerk am Pfingstmontag, den 31. Mai, die Neunte Symphonie mit Chören von L. van Beethoven vollständig zur Aufführung. Dirigent war der 1840 als Städtischer Musikdirektor angestellte Komponist Konradin Kreutzer, der 1824 als Kapellmeister des Wiener Theaters am Kärntnertor die dortige Uraufführung erlebt hatte. Unter den Mitwirkenden wird H. M. Schmitz sowohl als Bassist wie die Comité-Mitglieder Bel und Heuser aufgeführt wie auch als Violinspieler.47 Schmitz ist als Violinspieler „o.[hne] H.[onorar]“ aufgeführt in der Liste von Honorarzahlungen an die Kölner Orchestermusiker, darunter auch – ebenfalls ohne Honorar – Franz Heuser als Hornist.48 Diri­ gent der Chöre war wieder Carl Leibl. Die Chorproben begannen am 13. April, die Orchester-Proben am 5. Mai unter Beteiligung der Mitglieder der Musikalischen Gesellschaft.49 Insgesamt gab es im Chor 513, im Orchester 182 Mitwirkende. Bei welchem Werk Schmitz sang, bei welchem er Violine spielte, bleibt offen. Am ersten Tag stand das Oratorium David von Bernhard Klein auf dem Programm, am zweiten Tag nach der neuen Ouvertüre von Kreutzer die Vierte Messe (C-Dur) für 8 Soli und Chor von Luigi Cherubini und der 100. Psalm Jubilate (HWV 279) von Händel, ehe in der zweiten Abteilung Beethovens 9. Sinfonie den Abschluss bildete. Von den acht Solisten für die Cherubini-Messe hatte Kreutzer vier aus Opernhäusern in Wien (Wilhelmine von Hasselt-Barth, Sopran), Darmstadt (Agnes Pirscher, Sopran), Berlin (Eduard Mantius, Tenor) und Frankfurt (Johann Baptist Pischek, Bass) engagiert. Die Altpartie vertraute auch er allerdings der Domsängerin Josephine Bel an, die bereits 1837, dann wieder bei den Musikfesten 1844 und 1846 als Solistin auftrat. Der schlichte, ehrliche Bericht50 über das Musikfest in der NZfM 46 Exemplar mit Besitz-Stempel „Conservatorium der Musik Cöln“ in der USB Köln (RhKasten 3406): Text zu den Gesängen für die Liedertafel mit Damen im großen Saale des Casinos zu Köln am 2. Februar 1847. 47 Text der Gesangstücke (Anm. 40), 1841, S. 32 u. 33. 48  Weber, Spielmann (Anm. 9), Bd. 1, S. 440. 49  Körner, Musikleben (Anm. 45), S. 54–57. 50 Aus Cöln (das letzte Musikfest daselbst), in: NZfM, 14. Bd., Nr. 49 vom 18. Juni 1841, S. 197 f. u. Nr. 50 vom 21. Juni 1841, S. 200f (auch folgende Zitate). Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Ferdinand Rahles (1800–1879) im Briefwechsel mit Robert Schumann (1840/1841), in: Correspondenz. Mitteilungen der Robert-Schumann-Gesellschaft e. V. Düsseldorf 41 (2019), S. 105–128.

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stammt von dem Dürener Musikdirektor Ferdinand Rahles, der beim Musikfest 1838 selbst als Viola-Spieler aufgeführt ist. Er schildert, auf welche Weise die gigantische Tondichtung zu Gehör gebracht wurde. Die Anzahl der Proben, die angesichts der technischen Schwierigkeiten und der Massen von Mitwirkenden aus vielen Orten notwendig gewesen wären, konnte nicht abgehalten werden. Allerdings strömten schon zu den beiden Hauptproben an den Tagen vor Pfingsten Zuhörer in zahlreicher Menge in den Gürzenich-Saal. So fragt Rahles rhetorisch: Sollte der Mangel eines bestimmten festen Eingreifens der Chöre, überhaupt der sichtbare Abgang der Präcision im Ensemble vom Directionspult ausgegangen sein? Für die verhinderte Sopranistin Pirscher hatte allerdings kurzfristig Fräulein Greve aus Arnsberg einspringen müssen. Der Musikrezensent Rahles sah die Musikfeste der folgenden Jahre 1842–1845 in ihrer traditionellen Form durchaus recht kritisch.51 Schmitz hatte 1843 wieder Gelegenheit, an einer Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven unter Franz Weber im sechsten Gesellschaftskonzert am 20. Juni mitzuwirken. Im April hatte eigens eine Zeitungsanzeige der Musikalischen Gesellschaft zur Beteiligung bei der Einstudierung aufgerufen.52 Ein weiteres Mal wurde die 9. Sinfonie im Februar 1845 aufgeführt, nun unter dem neuen Städtischen Musikdirektor Heinrich Dorn53, der in diesem Jahr auch die Direktion der Musikalischen Gesellschaft übernahm. Sein Freund Mendelssohn hatte ihm auf der Durchreise in Leipzig am 17. September 1843 einen Brief an Jacob Bel mitgegeben, damit Dorn gleich einen freundlichen Empfang habe, und bat ausdrücklich, Frau Bel möge ihm ein gutes Andenken bewah­ ren.54 Als 1845 auf dem Programm des Musikfestes in Düsseldorf unter dem Städtischen Musikdirektor Julius Rietz auch Beethovens 9. Sinfonie als Abschlusswerk des zweiten Tages stand, kritisierte Ferdinand Rahles in seiner ausführlichen Besprechung in der Allgemeinen musikalischen Zeitung (AmZ), dass Solopartien unzureichend auch mit Dilettanten besetzt würden.55 Bei Fräulein Graumann bemerkt er: Man ist bei unsern bisherigen Musikfesten durch die hervorragenden Leistungen der Frau Schloss im Vortrag der Altpartien ver­ 51 Vgl. Samuel Weibel: Die deutschen Musikfeste des 19. Jahrhunderts im Spiegel der zeitgenössischen Presse (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 168), Kassel 2006, S. 260, 282 f. u. 285. 52 Vgl. Körner, Musikleben (Anm. 45), S. 215 f. 53 Vgl. Weber, Spielmann (Anm. 9), Bd. 1, S. 264. 54 Zit. nach Klaus Wolfgang Niemöller: Die Gründung der Rheinischen Musikschule im Umfeld der Institutionen der Kölner Musikkultur, in: Erbe und Auftrag 2.0. 175 Jahre Rheinische Musikschule Köln, Köln 2019, S. 17. 55 AmZ Jg. 47, Nr. 23 vom 4. Juni 1845, Sp. 393–395 u. Nr. 25 vom 18. Juni 1845, Sp. 429–431 (auch folgende Zitate).

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wöhnt. Die Sopranistin Maria Sachs kam als Concertsängerin aus Cöln. Ausdrücklich vermerkt Rahles: Referent hat seit 1828 die Niederrheinischen Musikfeste besucht. Nach einer Pause begann die riesenhafte neunte Sympho­ nie Beethoven’s. Der Totaleindruck war großartig. Die drei ersten Sätze wur­ den prächtig gespielt. Als vor neun Jahren diese Symphonie unter Mendelssohn’s Leitung ebenfalls in Düsseldorf am Pfingstfest aufgeführt wurde, wollte die Violinvariation im Adagio von den ersten Geigen gar nicht zusammen gehen, so daß Mendelssohn fast in Verzweiflung darüber gerathend sie nur von den ersten Pulten spielen ließ. Dagegen wurde sie diesmal von den zwanzig ersten Geigen mit seltener Vollendung vorgetragen. Konzertmeister war Ferdinand David. Trotz der vortrefflichen Direction durch Herrn Musikdirector Rietz gibt Rahles interessante Hinweise zur Frage der bei großer Besetzung in großen Sälen zu nehmenden Tempi: Der letzte Satz ließ hier und da an Deutlich­ keit in den Singstimmen etwas zu wünschen übrig, woran wohl die sehr raschen Tempi mit Schuld haben mochten. Die Dirigenten unserer Musikfeste berück­ sichtigen mitunter zu wenig das Local und die zu leitenden grossen Kräfte. Eine Passage von acht Geigen ausgeführt ist eine ganz andere in der Wirkung und wird durchsichtiger erscheinen als wenn dieselbe von dreißig oder vierzig gespielt wird und so ist es auch mit der Besetzung des Chores. Werden die Tempi nicht darauf berechnet, so wird Undeutlichkeit entstehen. Zwei Dokumente im Historischen Archiv der Stadt Köln bezeugen konkret Aktivitäten von Schmitz in seinen musikalischen Vereinen. Am 5. März 1851 bescheinigt er, von Herrn Plasmann aus der Kasse der Liedertafel zehn Thaler erhalten zu haben, um solche den Th. 190 beizufügen, welches das Konzert für die Witwe und die Tochter Conr. Kreutzer eingebracht hat, deren Überweisung der ersten Pension ich übernommen habe.56 Kreutzer war am 14. Dezember 1849 in Riga verstorben, nachdem er wegen der Entlassung seiner Tochter Marie als Opernsängerin einen Gehirnschlag erlitten hatte. Johann Baptist Plasmann hatte beim Musikfest 1841 auch im Bass mitgesungen. Der Name Schmitz begegnet bis 1859, dem Jahr der Auflösung, in den Mitgliederlisten der Liedertafel. Das zweite Dokument beleuchtet eindringlich die gesellschaftliche Bedeutung der musikalischen Vereinigungen.57 Auf einem vorgedruckten Formular teilen im Namen der Direktion der Musikalischen Gesellschaft unterschriftlich Julius Nacken und Heinr. Math. Schmitz am 11. Januar 1845 Herrn Gustav Mevissen mit, dass er seinem Wunsch gemäß zum wirklichen Mitglied aufge56 HAStK, Best. 1066, A 49. 57 HAStK, Best. 1073, A 692 Nachlass Mevissen. Vgl. Wolff, Hundert Jahre (Anm. 11), S. 17.

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nommen worden sei. Der Textilkaufmann Mevissen (1815–1899) war 1841 von Dülken, dem Stammsitz der väterlichen Firma, nach Köln gekommen und stieg zum erfolgreichsten deutschen Unternehmer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. 1844 wurde er Präsident der Rheinischen EisenbahnGesellschaft, 1852 Direktor des A. Schaafhausen’schen Bankvereins. 1847 wurde der liberale Politiker als Abgeordneter in den Ersten Vereinigten ­Landtag in Berlin gewählt.58 Klara van Eyll stellt in Bezug auf den Eintritt Mevissens in die Musikalische Gesellschaft fest: „Das Entrée in die Kölner Gesellschaft sucht der junge Mevissen sofort gezielt über die Musikalische Gesellschaft und die Casino-Gesellschaft. Von Hauskonzerten und den hierbei gewonnenen Kontakten zu einzelnen führenden Familien schrieb er seiner Mutter begeistert“.59 Auch die Mitglieder der Casino-Gesellschaft kamen aus der gehobenen Gesellschaftsschicht, Verantwortliche aus der Regierung, dem Stadtrat und führenden Firmen.60 Der von der Casino-Gesellschaft 1832 errichtete repräsentative Bau am Augustinerplatz hatte einen großen Festsaal, in dem viele Konzerte stattfanden. Mevissens Biograph Joseph Hansen teilte 1906 mit: „Gewissermaßen die Ouvertüre bildete das Niederrheinische Musikfest, das Pfingsten 1841 stattfand und als Neuigkeit das Oratorium David von B. Klein brachte. Mevissen, der sich an der Aufführung erfreute und zu dem Dirigenten des Festes, dem neuen städtischen Kapellmeister Konradin Kreutzer, in nahe persönliche Beziehungen trat, faßte die erhebenden Eindrücke in einem Bericht zusammen, der das neue Oratorium eingehend analysiert, besonders aber sein eigenes Empfinden wiedergibt […].“61 Hansen erkannte die gesellschaftliche Bedeutung, indem er formulierte: „Die Musikfeste wurden mehr und mehr zu einem geistigen Bindemittel. […] Der ganze in seinen Eigentümlichkeiten starr gesonderte Kreis der Zuhörer bildet sich im Tempel der Kunst zum schönen Baum.“ Nachdem Mevissen Franz Liszt am 6. Oktober 1841 in seinem Konzert gehört hatte, äußerte er brieflich seine Freude darüber, „daß er in seiner neuen Umgebung mit ihren vorwaltend materiellen Interessen doch auch für Geist und Gemüt Nahrung“ fand.62 1846 heirate Mevissen Elise Leiden, Tochter des Kaufmanns Damian Leiden und Schwester 58 Vgl. Ulrich S. Soénius/Jürgen Wilhelm (Hg.): Kölner Personen Lexikon, Köln 2008, S. 363–365. 59  Klara van Eyll: Kölns Wirtschaftsbürgertum im 19. Jahrhundert (bis 1914), in: Karl Möckl (Hg.): Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 21), München 1996, S. 265. 60 Vgl. Hanno Gilgenberg: 175 Jahre Casino-Gesellschaft Köln von 1809 bis 1984, masch. (USB Köln: RH-Kasten 3379). 61 Joseph Hansen: Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815–1899, Bd. I, Berlin 1906 (ND Hildesheim 2020), S. 238 f. 62 Ibid., S. 239 f.

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seines Freundes Franz Leiden. Die Väter des Ehepaars waren schon seit 1828 befreundet. Elise bzw. ihre Schwester sangen bei den Musikfesten 1838 und 1841 im Alt mit.63 Der aus Hamm vom Militärdienst zum Musikfest 1841 angereiste Karl Schorn erinnert sich später an sein Entzücken, als nach dem ersten geisterhaft beginnenden Allegro […] der damals noch wenig bekannten neunten Symphonie von Beethoven die himmlischen sanften Melodien des Adagios begannen. Nachdem er das größere Verständnis gebildeter Dilettanten als Gesangssolisten gegenüber Berufsmusikern hervorgehoben hat, verweist er auf Namen aus diesem Kreis: Damals wirkten im Alt die schöne noch späterhin lang bewährte Frau Bel, geborene Knecht aus Aachen, und die stattliche Fräu­ lein Leiden, spätere Frau und noch lebende Wittwe eines reichen Fabrikanten […] mit.64 Im Heiratsjahr 1846 standen H. M. Schmitz, Severinstraße und G. Mevissen, Kaufmann, Sternengasse, gemeinsam auf der Kandidatenliste des Gewerbe-Vereins für die Wahlen zum Gemeinderat.65 Die Rückkehr von Liszt nach Köln 1845 werden Mevissen und Schmitz mit Interesse verfolgt haben. Liszt kam zum Beethoven-Fest anlässlich der Enthüllung des Beethoven-Monuments in Bonn im August 1845. Schmitz war von den Umständen her in mehrfacher Hinsicht persönlich involviert, durch die Bedeutung seines väterlichen Hotels und durch den Konflikt mit dem Kölner Comité um das Notenmaterial von Missa solemnis und 9. Sinfonie.66 Festdirigenten waren Franz Liszt und Hofkapellmeister Louis Spohr. Die organisatorische Leitung hatte als Vorsitzender des Comités der Universitäts-Musikdirektor Prof. Heinrich Carl Breidenstein.67 Schon im Vorfeld des Festes wurde Breidenstein von seinem Konkurrenten im heillos zerstrittenen Bonner Musikleben, Privatdozent Dr. Friedrich Heimsoeth, ausgerechnet in der Köl­ nischen Volkszeitung (anonym) geschmäht, weil der verhasste Franz Liszt als Ehrengast des Festes eingeladen worden war, was den traditionell und restaurativ eingestellten Altertumswissenschaftler zum Verlassen des Comités veranlasste. Nach dem Programmbuch („Festgabe zu der am 11. August 1845 63 1838 Fräul. Leiden a. Köln; 1841: Fräul. Leiden II a. Köln. Verzeichnis sämmtlicher Mitwirkender im Programm-Buch, S. 30 (1838) bzw. 28 (1841). 64  Karl Schorn: Lebenserinnerungen, Bd. I (1818–1848), Bonn 1898, S. 144. 65  Jürgen Herres: Köln in preußischer Zeit 1815–1871 (Geschichte der Stadt Köln 9), Köln 2012, S. 221 (Abb.). 66 Vgl. Theodor Anton Henseler: Das musikalische Bonn im 19. Jahrhundert. Aus Anlaß der Einweihung der neuen Beethovenhalle am 8. September 1959 (Bonner Geschichtsblätter 13), Bonn 1959, S. 198–200; Günther Massenkeil: Die Bonner Beethoven-Kantate (1845) von Franz Liszt, in: Jobst Peter Fricke (Hg.): Die Sprache der Musik. Festschrift Klaus Wolfgang Niemöller zum 60. Geburtstag (Kölner Beiträge zur Musikforschung 165), Regensburg 1989, S. 381–400. 67 Vgl. Siegfried Kross: Heinrich Carl Breidenstein (1796–1876), in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Bonn 1968, S. 441–443.

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stattfindenden Inauguration des Beethoven-Monuments“) von Heinrich Carl Breidenstein war Heinrich Mathias Schmitz’ Bruder Joseph Schmitz, Gast­ wirth, im Comité zuständig für Vorbereitung und Anordnung der Inaugura­ tionsfeier.68 Herr Capellmeister Spohr kam am 6. August Abends an und bezog die im Gasthofe zum Stern für ihn bereit gehaltenen Zimmer, während Liszt in Köln bei seinem Freund Josef Maria Lefebvre, Mitinhaber der Pianofortefabrik Eck & Lefebvre, wohnte, wo ihn Ferdinand Rahles besuchte.69 Detaillierte Einblicke in den Verlauf des Beethoven-Festes, an dem mich zu bethei­ ligen, ich natürlich nicht verfehlte (im Tenor), vermittelt auch dazu Karl Schorn, inzwischen Gerichtsreferendar in Köln.70 Als dem angereisten Franz Liszt, die Seele des Ganzen71, vom Comité die militärische Reitbahn als Bauplatz für die Halle benannt wurde, verhinderte er die weitere Planung und brachte am neuen Platz mit Hilfe des Kölner Dombaumeisters Ernst Friedrich Zwirner in kürzester Zeit den Bau der BeethovenFesthalle in Gang. Er dauerte ab dem 3. Juli nur 14 Tage. Die aus Holz errichtete Festhalle gab nun Platz für ca. 2 500 Zuhörer. Breidenstein wurden auch die Umstände angelastet zur Kölner Verweigerung, das 1832/33 von Schmitz gekaufte Notenmaterial zur Missa solemnis und der 9. Sinfonie zur Verfügung zu stellen. Heinrich Dorn hielt fest: Unterdessen nahte das Beethovenfest und gab Veranlassung zu allerlei Skandal, vorläufig nur zwischen dem Bonner Komitee und der hiesigen Direktion der Pfingstkonzerte. Die Kölner hatten den besten Willen, fehlten aber insofern, als sie ihre Notenschätze verweigerten; es war im Grunde eine Opposition gegen Breidenstein und Liszt, die man beide für unfähig hielt, grössere Massen und schwierige Werke zu leiten, wie anfangs in Bonn beabsichtigt war. Zum Glück störte das mein persönliches Einverständ­ nis mit den beiden Genannten nicht, und in Liszts Kantate habe ich die Harfe auf dem Pianoforte gespielt.72 Die Situation rettete der Schott-Verlag, der das Notenmaterial kostenlos zur Verfügung stellte. Breidenstein formulierte in seinem Bericht 1846 diplomatisch ohne Angabe der Kölner Beweggründe nur: Eine Herleihung der Musikalien dieser beiden wichtigsten Werke durch benachbarte Musikvereine vermochten wir nicht auf diesem Wege erlangen. Da 68 Faksimiledruck Bonn 1983, S. 17 (auch folgendes Zitat). Ein Exemplar der „Festgabe“ befindet sich in der Sammlung Mevissen der USB Köln. Vgl. Gunther Quarg: Gustav von Mevissen (1815–1899) und seine Bibliothek. Katalog der Ausstellung (Schriften der Universitäts- u. Stadtbibliothek Köln 9), Köln 1999. 69 Niemöller: Rahles (Anm. 50), S. 119. 70  Schorn, Lebenserinnerungen (Anm. 64), S. 193–216: IX. Das Beethoven-Fest in Bonn (1845). 71 Ibid., S. 194. 72 Zit. nach Henseler, Bonn (Anm. 66.), S. 186, Anm. 28 (Zitat: Otto Dorn: Heinrich Dorn in Köln, in: Rheinische Musik- und Theater-Zeitung, 19. November 1904).

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inzwischen Breidenstein die Bewältigung der organisatorischen Probleme, die in über 100 Sitzungen des Comités besprochen wurden, sehr beanspruchte, bat er nach einer Absage von Dorn Franz Weber, die Proben zu leiten. So wird Musicdirektor F. Weber im Programm nach den drei Dirigenten als Chordirec­ tor eigens aufgeführt. Weber fuhr ab dem 3. Juli jede Woche zwei Mal zu Proben nach Bonn mit den dortigen 150 Choristen, darunter auch das Ehepaar Heimsoeth. Schorn berichtet dazu: Der Kölner Gesangverein […] fuhr mit der neuen Köln-Bonner Bahn in billigen Extra-Zügen zu den Proben hinüber und herüber und stärkte sich […] in Bonn in den neu erbauten Sälen des bekannten Gasthofsgebäudes zum goldenen Stern. Der weit und breit […] bekannte Besit­ zer dieses renommirten Gasthofs, Joseph Schmitz, hatte in kluger Voraussicht der großen Völker-Vereinigung zum Beethovenfeste, sein Hotel durch Ankauf von Nebenhäusern und Umbau eines großen Speisesaales und entsprechender Nebensäle vergrößert.73 Während des Festes konnte Joseph Schmitz täglich etwa 450 Gäste mit Speis und Trank bedienen. Spohr fand so die beiden Beethoven-Hauptwerke gut einstudiert vor. Das große Orchester, allein 117 Streicher, wurde ohnehin von den Kölnern Franz Hartmann, Franz Derkum, Franz Weber und Bernhard Breuer als Konzertmeistern angeführt. Nach kurzfristigen Einladungen an die Musikvereine der Nachbarstädte bildete sich ein Chor von 343 Sängerinnen und Sängern, deren Namen Breidenstein 1846 unter Per­ sonal der Mitwirkenden auflistet, darunter aus Köln das Ehepaar Bruch, die Ehefrauen von Leibl und Weber, im Bass Lefebvre und Plasmann. Auch Solistinnen, die erfahrenen Konzertsängerinnen Maria Sachs (Sopran) und Sophie Schloss (Alt) kamen aus Köln. In der 2. Violine spielte Ferdinand Rahles neben seinem Musikverleger („Lieder des Mittelalters“) Michael Schloss mit, Bruder der Altistin und ein Freund der Familie Offenbach.74 Unter der sicheren, festen und erprobten Leitung Spohrs (Schorn) gelang so am ersten Tag die Aufführung von Missa solemnis und 9. Sinfonie, die unge­ heuerste Anstrengungen erfordernden Werke (Breidenstein) mit den noch fri­ schen, ungeschwächten Kräften. Dagegen zwang die Situation Liszt, seine Festkantate, bei der die Instrumentierung mit Klapphörnern und Harfe besonderen Effekt machte, zwei Mal aufzuführen. Wegen der verspäteten Anreise von Königin Victoria von England mit Prinz Albert verzögerte sich auch die Ankunft von König Friedrich Wilhelm IV., so dass die Enthüllung des Denkmals mit vorausgehender Festkantate um einen Tag verschoben wurde. Da 73  Schorn, Lebenserinnerungen (Anm. 64), S. 195 f. 74  Heinrich Carl Breidenstein: Zur Jahresfeier der Inauguration des Beethoven-Monuments. Eine actenmäßige Darstellung dieses Ereignisses, der Wahrheit zur Ehre und den Festgenossen zur Erinnerung, nebst einem Verzeichniss der Mitwirkenden, Bonn 1846 (Faksimiledruck Bonn 1983), S. 44–52.

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Königin Victoria mit ihrem großen Gefolge immer wieder den Zeitplan durchbrach, hatte der König schon bedeutet, mit dem Anfang des Konzertes nicht auf ihn zu warten. Nachdem zur Überbrückung der Wartezeit die Pianistin Camilla Pleyel aus London das Concertstück von Carl Maria von Weber gespielt hatte, konnte Liszt mit seiner Kantate nicht länger warten. Während der letzten Takte trafen die hohen Gäste ein, und der stets schlagfertige gewandte Dirigent und Componist klopfte mit seinem Taktirstock auf das Pult, rief seine Truppen ein Da capo zu und die Cantate ging aufs Neue in Scene und löste enthusiastischen Beifall aus.75 Das Fest endete nach Abschluss der Konzerte mit einem peinlichen Skandal. Nach Breidensteins Bericht fand das Fest­ essen im Gasthof zum Stern statt. An den drei Tafeln führten Liszt, Spohr und Breidenstein jeweils den Vorsitz. Wir Kölner Gäste hatten ausgezeichnete Plätze […] am Spohr’schen Tische durch die brüderliche Verwandtschaft unse­ res Landsmannes, des Consuls Schmitz-Löhnis von der Sternenstraße mit dem Besitzer des Hotels, so Schorn.76 Den fünften Toast „auf die fremden Gäste aller Nationen“ brachte Liszt aus, vergaß aber „der Franzosen zu gedenken“. Das löste so heftige Tumulte aus, dass dann laut Günther Massenkeil von einem „Streit- und Skandalessen“ geredet wurde.77 Schorn schildert den Skandal, ausgelöst durch die Tänzerin Lola Montez, die protestierend zwischen Sektgläsern auf den Tisch sprang. Von dem klugen Herrn Schmitz78 war der Halbweltdame die Aufnahme ins Hotel verweigert worden. Sie fand aber einen weitherzigen Bonner Herrn, der sie als einzigen weiblichen Gast zu Tisch geführt hatte.79 Als Reaktion ließ unsre Kölner Gesellschaft mit den bekannten Namen: P. Mühlens [sic], Farina, Hennekens, Alb. Heymann, Michael Dumont, Bel und andere […] ihrem kölnischen Humor die Zügel schießen.80 Breidenstein verschweigt ein Jahr später diskret die Peinlichkeiten in seinem ausführlichen Bericht über das Fest, in dem er sich durch actenmäßige Darstellung gegen die fortdauernden Angriffe seiner Gegner zu rechtfertigen sucht.81 Als König Friedrich Wilhelm IV. in Köln die Ankunft der englischen Königin erwartete, suchte Gustav Mevissen eine Petition an ihn um Einführung einer Gemeindeverfassung ins Leben zu rufen, deren Übergabe aber nicht gelang.82 Auch wenn Heinrich Mathias Schmitz nicht in Bonn war, wurde er sicherlich

75 Schorn, Lebenserinnerungen (Anm. 64), S. 208. 76 Ibid., S. 209. 77 Massenkeil, Beethoven-Kantate (Anm. 66), S. 384. 78 Schorn, Lebenserinnerungen (Anm. 64), S. 200 f. 79 Ibid., S. 209. 80 Ibid., S. 211. 81 Vgl. den Untertitel von Breidenstein, Jahresfeier (Anm. 74). 82 Schorn, Lebenserinnerungen (Anm. 64), S. 216.

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durch seinen Bruder, spätestens durch die teilnehmenden Vereinsfreunde über die denkwürdigen Ereignisse informiert. Dorn jedenfalls konnte umso zufriedener auf das Gelingen des 26. Niederrheinischen Musikfestes am 26. und 27. Mai 1844 zurückblicken, an dem Schmitz aktiv teilnahm, als es ihm gelang, bei der Generalprobe zur Missa solemnis eine skandalöse Provokation souverän abzuwehren.83 Als er nach dem Benedictus mit dem Violinsolo des Konzertmeisters Franz Hartmann eine kleine Erholungspause einlegte, stürmte aus den Zuschauerreihen Anton Schindler aus Aachen, einst Amanuensis von Beethoven, an die Orchesterbrüstung und rief: Dorn, das ganze Tempo ist vergriffen – das ist viel zu langsam. Dorn war natürlich über die Frechheit, den Dirigenten vor dem gesamten Personal von 417 Choristen und 167 Instrumentalisten instruieren zu wollen, empört, ignorierte jedoch gelassen Schindler und blätterte weiter in der Partitur. Als dieser aber dem Konzertmeister zurief: Hartmann, sagen sie dem Orches­ ter…, unterbrach Dorn, indem er mit der Battuta [Taktstock] auf das Pult schlug und mit fester Stimme entgegnete: Herr, hier hat niemand etwas zu sagen außer mir, worauf Schindler unter die Zuhörer zurückging, aber wegen seines ungebührlichen Benehmens von einem Mitglied des Comités des Saals verwiesen wurde. Sophie Schloss, die bis 1853 noch sechs Mal auf den Musikfesten sang, und Josephine Bel waren als Altistinnen die einzigen Kölner Solisten.84 Dorn hatte das Ehepaar Dietz (Sopran, Tenor) von der Hofoper München und Herrn Bötticher (Bass) von der Hofoper Berlin engagiert. Bei Händels Oratorium Jephta am ersten Tag spielte wieder Franz Weber die Orgel. Mendelssohn hatte nach einer Korrespondenz mit dem Comité-Miglied Bel seine Orgelstimme zum Oratorium Israel in Ägypten als Orientierungsvorlage für Weber aus Leipzig geschickt. Sein Vortrag ließ alles um sich herum vergessen.85 Das besondere Vertrauensverhältnis von Mendelssohn ermöglichte dann Franz Weber, seit 1842 Gründer und Dirigent des Kölner Männer-Gesang-Vereins (KMGV), ihn für das Deutsch-Vlämische Sängerfest in Köln am 14./15. Juni 1846 mit 2 300 Sängern im Gürzenich-Saal nicht nur als Dirigent zu gewinnen, sondern auch als Komponist des Festgesangs an die Künstler, op. 68.86 Das Gro83 Vgl. Unger, Festbuch (Anm. 9), S. 69–71 mit ausführlichen Zitaten aus den Erinnerungen von Dorn (auch folgende Zitate). Vgl. auch Ulrich Tank: Die Geschwister Schloss. Studien zur Biographie der Altistin Sophie Schloss (1822–1903) und zur Geschichte des Musikalienverlages ihres Bruders Michael (1823–1891) (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 115), Köln 1976. 84 Vgl. Niemöller: Zwischen Palestrina (Anm. 38), S. 17–21. 85  Diamond [Anton Wilhelm von Zuccalmaglio]: Correspondenz aus Köln. September 1844, in: NZfM Bd. 21 (1844), Nr. 28, S. 111. 86 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Das Sängerfest des Deutsch-flämischen Sängerbundes 1846 in Köln unter Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Weber. Die

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ßereignis dürfte auch das kundige Interesse des Liedertafel-Sängers Schmitz gefunden haben. Am zweiten Tag des Musikfestes 1844 war Beethovens Missa solemnis das Hauptwerk, wohl mit dem Notenmaterial, das Schmitz 1832 vom Schott-Verlag gekauft hatte. Seine Beteiligung am Musikfest ist dank des Protokollbuches vom Comité und des Programm-Buches genauer rekonstruierbar.87 Auf der Versammlung aller Dilettanten, die beim Musikfest 1841 mitgewirkt hatten, am 15. September 1843 im Lokal der Musikalischen Gesellschaft wurde das siebenköpfige musikalische Comitée gewählt. Der Kandidat H. M. Schmitz unterlag mit elf Stimmen als achter. Von den Gewählten war Bel für die Her­ beischaffung der Noten, Heuser für Orchesterangelegenheiten und Nacken für die Liste der Sängerinnen und Sänger zuständig. Am 28. Februar 1844 wurde Schmitz dann zum Mitglied des großen Comités mit 18 Mitgliedern gewählt, zusammen mit Oberbürgermeister Steinberger, Seydlitz und Stadtrat Heinrich von Wittgenstein. Zur ehrenvollen Aufgabe anlässlich der Musikalischen Eisenbahn-Festfahrt nach Brühl der Mitwirkenden am Dienstag nach dem Musikfest heißt es im Protokoll: Die Einladung an die hohen Herrschaften übernahm H. M. Schmitz. Das Namen-Verzeichnis der Mitwirkenden für Chor (417) und Orchester (167) zeigt, wie die Ehefrauen der Musiker Leibl (Sopran) und Weber (Alt), auch die des Comité-Mitglieds Seydlitz (Alt) im Chor mitsangen. Die Liste der Männerstimmen führt über die Tenoristen Bruch, Nacken und Steinberger zu den Bassisten Bel, Joseph Maria Farina, Heuser, Lefebvre und Schmitz, H. M. a. Köln. Auch in der Liste der Mitwirkenden des 29. Musikfestes am 23./24. Mai 1847 in Köln erscheint Herr Schmitz, H. M. a. Köln im Programmbuch, nun unter den 61 Violinisten. Unter Verantwortung des Comité-Mitglieds Heuser hatte man das Orchester wieder zusammengestellt aus dem Theaterorchester, den Militärmusikern, Musiklehrern und Dilettanten. In der Liste der honorierten Berufsmusiker erscheint Ferdinand Rahles als Violaspieler.88 Wegen der auch in der Rheinprovinz gärenden politischen Unruhen bedurfte es neuer Reizmit­ tel (Dorn), um das Musikfest attraktiv zu machen, und so lud Heinrich Dorn zwei Berühmtheiten aus Frankreich, George Onslow und Gaspare Spontini,

Chorpartitur der Gesänge und das Festprogrammbuch im Kontext der Mitwirkenden, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte 96 (2016), S. 15–36; Felix Mendelssohn Bartholdy: Werke für Männerstimmen und Orchester, hg. v. Birgit Müller u. Ralf Wehner (Leipziger Ausgabe der Werke, Serie VII, Bd. 3), Wiesbaden 2020, Vorw. S. XXXII. 87 Rheinisches Musikarchiv im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Köln: Karton A 3, Mappe 40 (auch folgende Zitate). 88 Weber, Spielmann (Anm. 9), Bd. 1, S. 469–471, Bd. 2, S. 297.

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ein, eigene Werke zu dirigieren.89 Als Onslow 1843 auf Einladung des Comités von seinem Landsitz in Clermont-Ferrand zum Musikfest nach Aachen gekommen war, war er von der ceremonielosen, fast cordialen Aufnahme so angenehm berührt, daß er den vereinigten Comités eine Rheinische Sinfonie zu componiren versprach, welche dann auch im Laufe des Jahres an unsere Musi­ kalische Gesellschaft in Cöln eingeschickt wurde. […] Das Finale schilderte ein Ungewitter auf dem Rhein […] – das Ganze etwas schwächlich. Dennoch wurde der alte fidele Herr als ‚Nothelfer‘ eingeladen. Das Finale der 4. Sinfonie, op. 71, bildete so eine Hommage an den Rhein: IV. LE COUP DE VENT (Souvenir du Rhin).90 Den „Windstoß“ gestaltete Onslow unter weitgehender Verwendung der Unwetter-Musik aus seiner Oper Guise (1837). Die Sinfonie erklang am ersten Tag nach Händels Messias, der allerdings gekürzt wurde. Obwohl sonst auf den Musikfesten keine Oper aufgeführt wurde, erreichte Spontini, dass außer der Ouvertüre auch der II. Akt seiner Oper Olimpia aufs Programm des zweiten Tages gesetzt wurde91, obwohl mit Beethovens 7. Sinfonie, Mendelssohns 114. Psalm, op. 51, und der Freischütz-Ouvertüre von Weber bereits drei Werke vorangingen. In der einzigen Probe mit Solisten erinnerte Spontini die Altistin Sophie Schloss, die mit ihrer wunderbar schönen Stimme und Gesangskunst doch immer wieder in den kälteren Oratorienstyl zu verfallen drohte, an ihre Rolle: Sie sein die Frau [Strateira] von dem gross Alexandre. Der 73-jährige ehemalige preußische Hofkapellmeister Spontini, der aus Paris anreiste, war allerdings kaum mehr in der Lage, die Rekordzahl von 789 Mitwirkenden als Dirigent zusammenzuhalten. Nach der Ouvertüre übergab Spontini die Direktion an Dorn. Er nahm Platz zwischen den beiden Solosängerinnen. Diese Position hielt er auch während der Aufführung inne. Spontini schenkte Medaillen mit seinem Brustbild, eine für die musikalische Gesellschaft (in welcher die Orchester-Vor-Probe stattgefunden hatte), eine für die Liedertafel, welche ihn zu ihrem Ehrenmitglied ernannt hatte. Derart war Schmitz über seine Mitwirkung als Violinist hinaus auch noch als Mitglied beider Musikgesellschaften mit dem Musikfest eng verbunden. Am 17. März 1857 wurde nach längerer Bauzeit der Umbau des Gürzenich zum großen Konzertsaal mit 1 027 nummerierten Plätzen mit einem großen Konzert unter Leitung von Ferdinand Hiller gefeiert, in dem Clara Schumann als Solistin mitwirkte, würdig beschlossen mit der 9. Sinfonie von Beethoven. 89 Heinrich Dorn: Aus meinem Leben, Berlin 1870, Bd. 1, Kap.: 3.: Ritter Gasparo Spontini, S. 21-30 (auch folgende Zitate). 90 Partitur S. 95. Der Verfasser dankt Prof. Dr. Stefan Keym, Leipzig, für die Übermittlung. Vgl. CD Label cpo Nr. 999 738–2, 2002 mit Booklet von Bert Hagels. 91 Vgl. Martin Jira: E. Th. Hoffmanns deutsche Übersetzung von Gasparo Spontinis Oper Olimpia, Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 59, 3, 2002, S. 186–202

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Auf der Orchesterbühne, die in elf Stufen anstieg und hinten durch den Platz für die erst 1861 eingebaute Orgel der Firma Ibach abgeschlossen wurde, versammelten sich nahe 400 Personen im Chor und an den Instrumenten.92 Bei dem nun wieder in Köln möglichen Niederrheinischen Musikfest 1858 ist H. M. Schmitz neben den bekannten Musikfreunden nochmals Mitglied des Comités, dem erstmalig auch der Justizrat Robert Schnitzler angehörte, der 1857 Vorsitzender der Concert-Gesellschaft geworden war.93 Am ersten Tag führte Hiller sein neues Oratorium Saul auf. Dem großen Saal angemessen, wirkten im Chor 519, im Orchester 153 Teilnehmer mit. Franz Weber erhielt am zweiten Tag Gelegenheit, in einer II. Abteilung mit seinem Männerchor aufzutreten.94 Das besondere Interesse von Schmitz galt weiterhin der Kirchenmusik im Kölner Dom. Im Comité des Musikfestes war 1844 auch der Stadtrat Heinrich von Wittgenstein. Er war 1841 zum Präsidenten des Kölner Zentral-DombauVereins (ZDV) gewählt worden und damit maßgeblich an der Gestaltung des ersten Dombaufestes am 4. September 1842 beteiligt.95 Im Vorstand waren auch die Musikfreunde Seydlitz, Heuser und Joseph Maria Farina. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. kam zur zweiten Grundsteinlegung zum Weiterbau des Kölner Doms, den er wesentlich mitfinanzierte. In den folgenden Jahren wurde der Dom mit der Devise „Religion – Kunst – Vaterland“ konfessionsübergreifend zu einem mehrfachen Bezugspunkt. Eine Wand im Westen des gotischen Hochchors trennte diesen bis 1863 vom unvollendeten Langschiff ab. An ihr befand sich auf einem Gerüst die Musikempore mit Orgel für die Domkapelle. Die Festkantate des Domkapellmeisters Carl Leibl auf einen Text von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio war mit ihrer Bläserbegleitung des Männerchors für die Aufführung im Freien angelegt.96 Für die führende Bürgerschicht ermöglichten die Dombaufeste, die zur 600-Jahrfeier des Doms 1848 einen Höhepunkt erreichten, Kontakte mit den hohen Gästen, denen ein prächtiges Festprogramm zu bieten war. In ihm war Musik stets 92 Unger, Festbuch (Anm. 9), S. 91. 93 Verzeichnisse (Anm. 22), S. 37: U. a. sind Bel, Dumont, Farina, Heuser, Mülhens, Nacken, Plasmann, Seydlitz, ferner neu Bankier Eduard Oppenheim als Mitglieder des Comités verzeichnet. 94 Vgl. Klaus Wolfgang Niemöller: Hillerfeste. Ferdinand Hiller und die Niederrheinischen Musikfeste, in: Peter Ackermann u. a. (Hg.): Ferdinand Hiller. Komponist, Interpret, Musikvermittler (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte 177), Kassel 2014, S. 415–446, hier S. 421–423. 95 Vgl. Kathrin Pilger: Der Kölner Zentraldombauverein im 19. Jahrhundert. Konstituierung des Bürgertums durch formale Organisation (Kölner Schriften zu Geschichte und Kultur 26), Köln 2004. 96  Carl Leibl: Festkantate zur Feier der Grundsteinlegung für den Fortbau des Kölner Doms 1842, hg. v. Paul Mies (Denkmäler rheinischer Musik 5), Düsseldorf 1955.

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präsent.97 So wurde im Oktober 1847 auf Vorschlag von Wittgensteins der Bankier Ignaz Seydlitz zum Vorsitzenden des Festcomités gewählt. Heinrich Mathias Schmitz, der wohl schon 1842 Mitglied im ZDV wurde, erscheint 1847 mit seiner Unterschrift in der prunkvollen Adresse des ZDV an Papst Pius IX.98 Mit der Gestaltung hatte der ZDV den Lithographen David Levy Elkan beauftragt, der schon 1842 ein „Gedenkblatt an die Wahlversammlung des Dombau-Vereins am 14. Februar 1842“ erstellt hatte.99 Auf seinem neogotischen Schmuckblatt zum Niederrheinischen Musikfest 1844, das kostbar mit Goldfarbe ausgestattet ist, figurieren beziehungsreich auch zwei musizierende Engel mit Portativ und Cister vom Engelskonzert im Dom.100 Gut vorstellbar ist, dass Schmitz es sich nicht nehmen ließ, beim großen Vocal- und Instrumental-Concert auf dem Gürzenich am 16. August 1848 unter den Dirigenten Heinrich Dorn und Franz Weber mitzuwirken, denn es wurde ausge­ führt von sämmtlichen hiesigen musicalischen Vereinen.101 Die Aufführung der Missa in C-Dur, op 86, von Beethoven im musikalischen Hochamt mit Erzbischof Johannes von Geissel, bei der die Domkapelle in Orchester und Chor durch Dilettanten verstärkt wurde, wie Ferdinand Rahles in der NZfM berichtet102, hat das ZDV-Mitglied Schmitz möglicherweise erlebt. Auf der Liste der „unbesoldeten Mitglieder“ der Domkapelle in der Dienstordnung von 1851 stehen unter den 30 Sängern auch die Nichtkatholiken Bel und Heuser.103

 97 Vgl. Christoph Müller-Oberhäuser: „…zur Verherrlichung des Festes…“. Die Musik beim Kölner Dombaufest 1848 (Libelli Rhenani 65), Köln 2015; Ders.: Musizieren für den Dombau. Zur Musik der Dombaubewegung in der Zeit der Domvollendung (1842– 1880), in: Kölner Domblatt 81 (2016), S. 121–155; Ders.: Zwischen bürgerlicher Selbstdarstellung und kirchenmusikalischer Reform. Zur Kirchenmusik bei den Kölner Dombaufesten 1848 und 1863, in: Jacobshagen/Kreutziger-Herr (Hg.), 1863 (Anm. 38), S. 95–122.  98  Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 121.  99  Elfi Pracht-Jörns: Der Kölner Lithograf und Maler David Levy Elkan, in: Bernd Wacker/Rolf Lauer (Hg.): Der Kölner Dom und „die Juden“. Fachtagung der Karl Rahner-Akademie Köln in Zusammenarbeit mit der Dombauverwaltung Köln vom 18. bis zum 19. November 2006, (Kölner Domblatt 73), Köln 2008, S. 207–248. 100 Vgl. Niemöller, Zwischen Palestrina (Anm. 38), Abb. S. 12 u. 26. 101 Konzertprogramm. Faksimile bei Müller-Oberhäuser, Verherrlichung (Anm. 97), S. 59. Karten gab es nicht nur in der Musikalienhandlung B.[ernhard] Breuer, dem 1. Domcellisten, sondern auch bei Johann Maria Farina. Die Fest-Ouvertüre / Charak­ teristisches Tongemälde für Orchester, Solo und Chorstimmen, op. 60, von Heinrich Dorn ist im Blick auf das Nationaldenkmal Dom eine Phantasie über das Lied Was ist des Deutschen Vaterland?. Vgl. Müller-Oberhäuser, Verherrlichung (Anm. 97), S. 59 u. 109–111. 102 Ferdinand Rahles: Aus Cöln. Die musikalischen Aufführungen während der DombauFestlichkeiten, in: NZfM, Bd. 29, Nr. 2 vom 12. September 1848, S. 121. 103  Stefan Klösges/Christoph Müller-Oberhäuser (Bearb.): Die Musikaliensammlung Leibl. Neukatalogisierung der Musikalien der Kölner Domkapelle des 19. Jahrhunderts

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Jedenfalls wurde diese Aufführung der Messe von Beethoven Ausgangspunkt zu einer Diskussion über wahre Kirchenmusik, an der auch Schmitz teilnahm. Seine kirchenmusikalische Position entwickelte Schmitz auch auf seinen regelmäßigen Reisen nach Italien. 1854 empfing ihn Papst Pius IX. in Rom zu einer Privataudienz, nachdem er allerdings glaubte, dem vermittelnden Rektor des Collegium Germanicum gegenüber nicht verhehlen zu dürfen, daß meine Gattin Protestantin sei.104 Der Papst würdigte den Beitrag von Schmitz zum schönen Buch, der 1848 überreichten Adresse, und erkundigte sich nach dem Fortschreiten des Dombaus. Ausführlich berichtet Schmitz über die Audienz in seinem 1858 als Privatdruck veröffentlichten Buch Schwärmerei in Italien. Nur für Freunde (407 S.). In den Kathedralen von Rom und Mailand erlebte er die Praxis, moderne Violinkonzerte und die trivialsten Opernarien als Zwi­ schensätze aufzuführen.105 Das einschlägige Kapitel VII ist mit dem Zitat Nur im Fache der Musik ist der ungeschichtliche Hochmuth an der Tagesordnung (Thibaut) überschrieben. 1825 hatte der Heidelberger Juraprofessor Anton Justus Friedrich Thibaut die Schrift Über Reinheit der Tonkunst veröffentlicht, in der er eine Reform der Kirchenmusik fordert, im Anschluss an Giovanni Pierluigi da Palestrina und dessen italienische Tradition. Thibauts Ablehnung der instrumental begleiteten Messen, gerade auch für den Kölner Dom, griff sein Schüler Anton Wilhelm von Zuccalmaglio auf, der seit 1840 aus Köln für Robert Schumanns Neue Zeitschrift für Musik kritisch über die Kölner Dommusik schrieb. Zur Aufführung von Beethovens C-Dur-Messe beim Dombaufest 1842 schreibt er, dass im Dom die reiche Instrumentation durch den Wider­ hall ganz verwirrte, in welchem nur Tonstücke in der Art Palestrina’s aufgeführt werden könnten.106 Schmitz, in der Mitte der streitenden Parteien stehend, begründet seine Vorstellungen zur Reform der Kirchenmusik aus der Geschichte, auf die er von der Gregorianik an ausführlich eingeht. Obwohl er nach 1750 eine Verweltlichung sieht, will er den Stab über die Kirchenmusik von Haydn, Mozart, Cherubini und Beethoven nicht brechen. Er beanstandet aber Beethovens Auffassung des Messe-Textes in seiner zweiten Messe [Missa solemnis] als willkürlich und erachtet die Instrumentation als mächtig und kunstvoll, letzteres oft in sofern zu sehr, als sie sich in großen hallenden Kir­ chenräumen nicht durchsichtig klar genug darstellen kann.107 Im uebrigen ist es heutzutage bei den Komponisten Mode geworden, Messen zu schreiben, und auf der Grundlage des Katalogs von Gottfried Göller (Libelli Rhenani 66), Köln 2016, S. 480. 104 Zit. nach Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 120 f. (auch folgendes Zitat). 105 Heinrich Mathias Schmitz: Schwärmerei in Italien. Nur für Freunde, Köln 1858, S. 96 f. 106 Zit. nach Niemöller, Zwischen Palestrina (wie Anm. 38), S. 34–40. 107 Schmitz, Schwärmerei (Anm. 105), S. 94 (auch folgendes Zitat).

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zwar in dem Maße, daß sogar Andersgläubige und diejenigen, welche stets nur profane Musik produziren, zur Abwechslung auch einmal eine Messe schreiben wollen. Sicherlich dürfte er auch die Missa für den Kölner Dom von Ferdinand Hiller, jüdischer Herkunft, protestantisch getauft, darunter gerechnet haben, die erstmals am 21. November 1858 aufgeführt wurde. Das Stimmenmaterial ist in der Sammlung Leibl der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek erhalten.108 Allerdings konzediert Schmitz: So oft wir am heiligen Ostertage, namentlich im Kölner Dom, als Einlage zum musikalischen Hochamt das gewaltige Halleluja aus seinem Messias hörten, dünkt es uns, daß dieser volle, mächtig dahinbrausende Chor und besonders die breite, gewaltige Grundlage der Orchesterbegleitung mit dem die heiligen Worte klar aussprechenden Gesang nicht wetteifern.109 Im Bestreben, die Kirchenmusik wieder auf ihre, dem Gottesdienst allein würdige Reinheit der Tonkunst zurückzuführen, wartet er im Schlusswort auf einen neuen Gregor oder neuen Palestrina. Es thut noth, daß ein solcher neuer Messias in der Kirchenmusik erscheint. Möchte er nicht lange auf sich warten lassen.110 1853 wird H. Schmitz als Kölner Subskribent im I. Band der von Carl Proske in Regensburg edierten Musica divina aufgeführt.111 In ihm erschien die Missa von Hans Leo Hassler (1599), die erste a-cappella-Messe, die an Allerheiligen 1863 der aus Männerstimmen neu gebildete Domchor sang. Als 1863 die Trennwand zum fertiggestellten Langhaus abgerissen wurde und mit ihr auch die Musikempore, hatte Erzbischof Kardinal Geissel als Endpunkt seiner cäcilianistischen Reformen die Domkapelle bereits aufgelöst.112 Als Heinrich Mathias Schmitz am 31. August 1869 im Alter von nur 54 Jahren starb, war er laut Todesanzeige als Ritter vom Roten Adler-Orden, portugiesischer Konsul und spanischer Vizekonsul hochgeehrt.113 Zwar hatte auf dem 39. Niederrheinischen Musikfest unter Ferdinand Hiller 1862 wieder als Abschluss am Pfingstmontag die „Sinfonie Nr. 9 mit Schlusschor über Schiller’s Ode An die Freude von L. van Beethoven“ auf dem Programm gestanden, das Programm-Buch verzeichnet im Comité und als Chorsänger seine langjährigen Vereinsfreunde J. Bel, J. M. Farina, Fr. Heuser, J. Nacken und J. B. Plasmann, aber der Name Heinrich Mathias Schmitz fehlt. Die Briefe des Kaufmanns Heinrich Mathias Schmitz 1833/34 an den SchottVerlag eröffnen nicht nur die Aufführungsgeschichte der 9. Symphonie von 108  Klösges/Müller-Oberhäuser, Musikaliensammlung Leibl (Anm. 103), S. 212. 109  Schmitz, Schwärmerei (Anm. 105), S. 98. 110 Ibid., S. 100. 111 Musica divina, Tomus I, edidit Carolus Proske, Regensburg 1853, S. IX u. XI; vgl. Niemöller, Zwischen Palestrina (Anm. 38), S. 43 f. 112 Vgl. Müller-Oberhäuser, Zwischen bürgerlicher Selbstdarstellung (Anm. 97), S. 112– 118. 113 Abb. der Todesanzeige bei Freitäger, Schmitz (Anm. 4), S. 126.

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Beethoven im Rheinland, sondern auch die bedeutende Rolle des führenden Wirtschaftsbürgertums im musikkulturellen Leben der Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Selbst in den entsprechenden Vereinen wie als Violinspieler in der Musikalischen Gesellschaft oder als Sänger in der Liedertafel aktiv, traf Schmitz dort auf weitere Mitglieder wie Gustav Mevissen, die die erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit ebenfalls mit vielfältigen Aktivitäten im musikkulturellen Gefüge verbanden. So kam es zur persönlichen Bekanntschaft nicht nur mit den städtischen Musikdirektoren, sondern auch mit berühmten Komponisten und Dirigenten seiner Zeit wie Ferdinand Ries oder Felix Mendelssohn.

Oskar Jäger (1830–1910). Biographische Notizen zur (historischen) Bildung im Kaiserreich von Wolfgang Hasberg Um also von dem Gymnasium zu reden: so haben wir, die wir an der Schule wirken, die in jedem Fall die prinzipiell bedeutungsvollste Stelle unter den höheren Lehranstalten einnimmt, jetzt vor allem die Pflicht, dass wir den Dingen selbst ins Auge sehen und uns keine Täuschung machen über die Tragweite der Veränderung, die vor sich gegangen ist. Meine Herren, es ist wie dort in Rom, als am Tage nach der Schlacht am trasimenischen See, nachdem die ersten Nachrichten angelangt waren, am Abend der Prätor Pomonius aus dem Senatsgebäude heraus vor das Volk trat und ihnen die schwere Zeitung mitteilte: Pugna magna victi sumus. Das alte Gymnasium ist durch die neue Wendung der Dinge in seinen Grundfesten erschüttert. Den alten Namen einer Gelehrtenschule verdient es nicht mehr.1

I. In einer großen Schlacht sind wir geschlagen worden. – So lässt sich das eingestreute Zitat in lateinischer Sprache für diejenigen übersetzen, die bei der Lektüre darüber gestolpert sind. Und die Schlacht am Lago Trasimeno in der italienischen Provinz Umbrien, auf die es sich bezieht, fand 217 v. Chr. statt. In einer Reihe von Niederlagen wurden die römischen hier von den Truppen Hannibals geschlagen.2 Vielleicht hätte das Zitat keine so große Berühmtheit erlangt, dass es noch am Ende des 19. Jahrhunderts als allgemein bekannt hat vorausgesetzt werden können, wäre es nicht in Livius’ Römischer Geschichte dramaturgisch mit der Schlacht in Verbindung gebracht worden3 – und hätte

1 Oskar Jäger: Nach der Niederlage, in: Ders.: Pro domo. Reden und Aufsätze, Berlin 1894, S. 393–400, hier S. 393 f. 2 Zum Kontext s. bspw. Pierre Grimal: Der römische Westen vom Krieg gegen Pyrrhos bis zum Sieg über Hannibal, in: Ders. (Hg.): Die Mittelmeerwelt im Altertum, Bd. 2: Der Hellenismus und der Aufstieg Roms (Fischer Weltgeschichte 6), Augsburg 2000, S. 300–354 u. 387–392, hier S. 343 f. Vgl. auch Oskar Jäger: Die Punischen Kriege, nach den Quellen erzählt, 3 Bde., Halle 1866–1870. 3 Livius: Ab urbe condita Liber XXII / Römische Geschichte 22. Buch, lat.-dt., hg. v. Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 2000, XXII, 7, 8. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 147–173

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das Werk nicht noch in dieser Zeit zur Lektüre im Latein- und Geschichtsunterricht gezählt. In der Gegenwart gehört die Römische Geschichte längst nicht mehr, zumindest nicht in allen Schulformen und keineswegs in tiefer gehender Dichte, in den Kanon des Geschichtsunterrichts. Und gymnasiale Bildung heißt seit Langem nicht mehr, des Lateinischen mächtig zu sein. Hat das mit der Niederlage zu tun, von welcher der Autor den rheinischen Schulmännern berichtete, die sich 1892 im Kölner Gürzenich versammelt hatten? Besaß der Redner prophetische Gaben, indem er die Mängel der Schulreform schilderte, die bis in die Gegenwart fortbestehen, aber in der Neuordnung des preußischen Schulwesens ihren Ausgang genommen haben? So weit wird man wohl nicht gehen wollen. Zumal der kurze Auszug noch keineswegs zu erkennen erlaubt, warum der Redner den preußischen Schulreformen derart massiv entgegentrat, als ob sie noch aufzuhalten gewesen wären. Was trieb ihn dazu, das Menetekel des Untergangs einer altehrwürdigen Institution wie der des Gymnasiums an die Wand zu malen? Und weshalb stellte er seine Kritik unter das Diktum eines römischen Historiographen? In Köln ist der Redner keine unbekannte Person. Immerhin trägt eine mehrere Kilometer lange, vom Verkehr stark frequentierte Straße seinen Namen (Abb. 1).4 Allerdings wird die Bedeutung von Personen nicht durch die Größe und Belebtheit der öffentlichen Räume bestimmt, die ihnen gewidmet sind. Abgesehen vom Straßennamen, hat Oskar Jäger (1830–1910), von dem hier die Rede ist, in der öffentlichen Erinnerung (in Köln) kaum Spuren hinterlassen. Selbstverständlich findet er auf der Homepage des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums Erwähnung, dessen Geschicke er als Direktor für mehr als drei Jahrzehnte (1865–1900) gelenkt hat. Aber darüber hinaus sind seine Schatten verblasst. Wer also war dieser Mann, der sich im April 1892 im Isabellensaal des Kölner Gürzenich derart nachdrücklich gegen die preußische Schulreform ausgesprochen hat, die er 1890 mit beschlossen hatte, bevor sie 1892 in Form neuer Lehrpläne in Gang gesetzt wurde? Wer sich mit dem Leben und dem Werk O. Jägers zu beschäftigen gedenkt, dem kommt entgegen, dass nicht nur sein ehemaliger Mitstreiter Friedrich Marcks, 1911–1925 Schulleiter des traditionsreichen Gymnasiums in Wesel5,  4  Konrad Adenauer/Volker Gröbe: Straßen und Plätze in Lindenthal, Köln 1992, S. 121 f.   5 Dr. Friedrich Marcks war 1890–1904 Oberlehrer am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln, bevor er zunächst (1904–1911) Direktor des Pädagogiums in Putbus und dann in Wesel wurde, s. Franz Kössler: Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahrbüchern und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen, Teilbd. Maack – Mylius, Gießen 2018, URL: http://geb.unigiessen.de/geb/volltexte/2008/6118/ (Stand: 29.3.2022) sowie Liste der Schulleiter des

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Abb. 1: Straßenschild Oskar-Jäger-Straße in Köln (Foto: Yannik Hasberg, 2020)

ihm 1930 eine Biographie gewidmet hat, die vornehmlich aus der reichen Korrespondenz ihres Protagonisten herausgearbeitet ist und den programmatischen Untertitel trägt: „Das Leben eines deutschen Schulmannes“.6 Zugleich kann er auf eine Reihe biographischer Skizzen zurückgreifen, die zumeist anlässlich von Jubiläen entstanden sind7 oder sich in den Festschriften der Schulen finden, an denen er tätig war (Wetzlar, Moers).8 Darüber hinaus gibt es autobiographische Notizen auch in den Anthologien, in denen O. Jäger selbst seine verstreut publizierten Reden und Aufsätze zusammengetragen hat.9 Schließlich finden sich einschlägige Lemmata in den renommierten Lexika Konrad-Duden-Gymnasiums Wesel, URL: https://www.kdg-wesel.de/archiv/geschichte/ schulleiter (29.3.2022). Vgl. auch Festschrift 650 Jahre Konrad Duden Gymnasium, Wesel 1992.  6 Friedrich Marcks: Oskar Jäger. Das Leben eines deutschen Schulmannes, Leipzig/Berlin 1930 sowie Karl Beckmann: Die geistige Gestalt Oskar Jägers. Zu seinem 100. Geburtstag am 26. Oktober 1930, Köln 1930 u. Hermann Planck: Jäger, Oskar, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. 15, hg. v. Anton Bettelheim, Berlin 1913, S. 90–95. S. auch Pinar Dal: Oskar Jäger als Geschichtsdidaktiker, unveröffentl. Staatsexamensarbeit, Köln 2008.  7 Karl Beckmann: Oskar Jäger. Zu seinem 100. Geburtstag am 26. Oktober 1930, Kölner Volkszeitung Nr. 549, 29.10.1930 (Kölner Sammlung von Zeitungsschnitten II.153,344) u. Kreutzer: Zum 100. Geburtstag Oskar Jägers, ibid. (KSvZ II.153,345 f.).  8 Andreas Klein-Reesink: Das Gymnasium Adolfinum in Moers in der Zeit von 1815 bis 1950, Moers 1992, S. 93–103. Keinerlei Erwähnung findet O. Jäger dagegen in der Festschrift Gymnasium Adolfinum: Schola Meurensis 1582–1982, Moers 1982.  9 Oskar Jäger: Aus der Praxis. Ein pädagogisches Testament, Wiesbaden 1883; Ders.: Lehrkunst und Lehrhandwerk. Aus Seminarvorträgen (Aus der Praxis. Ein pädagogisches

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der Zeit (Abb. 2). In aktuellen Darstellungen der kaiserzeitlichen Geschichte haben sich seine Spuren inzwischen weitgehend verloren. Selbst im Bereich der Geschichte einer Didaktik der Geschichte, für die sich der Kölner Gymnasialdirektor vor allem engagiert hat, lassen sich kaum Hinweise darauf finden10, abgesehen von seiner Betätigung als Schulbuchautor. Denn als Historiograph für den Schulbereich, aber auch für eine breitere Öffentlichkeit hat sich Oskar Jäger insbesondere hervorgetan.11 Schließlich taucht sein Name auch im Rahmen der historischen Bildungsforschung ab und an auf12, denn bereits in seiner Zeit wurde er vornehmlich als Schulmann wahrgenommen (Abb. 2).13 Fragt man nach der Bedeutung des Mannes, dem im weltoffenen Köln eine solch lange Straße gewidmet ist, so sind es mindestens drei Felder, auf denen sich O. Jäger Verdienste erworben hat: Er war nicht nur Schulmann und Schriftsteller, wie die Lexika vermerken, sondern zugleich Politiker und ein Historiker, der sich mit Aspekten der Vermittlung von Geschichte befasst und dabei – das ist für das Folgende entscheidend – ganz besonders der Alten Testament, Tl. 2), Wiesbaden 1897; Ders.: Pro domo (Anm. 1) u. Ders.: Erlebtes und Erstrebtes. Reden und Aufsätze, München 1907. 10 So fehlt ein entsprechender Eintrag bei Siegfried Quandt (Hg.): Geschichtsdidaktiker des 19. und 20. Jahrhunderts. Wege, Konzeptionen, Wirkungen, Paderborn u. a. 1978 u. selbst in der Textsammlung von Wolfgang Jacobmeyer/Holger Thünemann (Hg.): Grundlegung und Ausformung des deutschen Geschichtsunterrichts. Schulische Diskurse zur Didaktik und Historik im 19. Jahrhundert (Geschichtskultur und historisches Lernen 17), Berlin 2018, S. 183–186 hat nur ein kurzer Auszug aus seinem umfangreichen Schrifttum Berücksichtigung gefunden. S. allerdings die ausführlichen Hinweise bei Ernst Weymar: Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1961, S. 205–226. Nur knappe Hinweise finden sich bei Elisabeth Erdmann: Tendenzen und Neuansätze in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1848 bis in die Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500–1980, Düsseldorf 1982, S. 77–103, hier S. 90. 11 Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700–1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte, 3 Bde. (Geschichtskultur und historisches Lernen 8), Berlin/Münster 2011, Nr. 651 u. 830 nennt ihn nur als Überarbeiter älterer Unterrichtswerke. Vgl. auch Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen (Geschichtskultur und historisches Lernen 6), Berlin/Münster 2010, S. 42. 12  James C. Albisetti/Peter Lundgreen: Höhere Knabenschulen, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 228–278, hier S. 232 u. 234. S. auch Kurt Düwell: Das Schul- und Hochschulwesen der Rheinlande. Wissenschaft und Bildung seit 1815, in: Franz Petri/Georg Droege (Hg.): Rheinische Geschichte in drei Bänden, Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 465–537, hier S. 494. 13 S. etwa Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Bd. 2, Berlin/ Leipzig ³1921, S. 605, 616, 629, 715, 735 f., 740, 748 u. 754 f.

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Abb. 2: Eintrag zu Oskar Jäger in Herders Konversations-Lexikon, Freiburg i. Br. ³1905, Sp. 982.

Geschichte das Wort geredet hat. Denn seine schulpolitischen Ambitionen sind von seinem Engagement für den Unterricht in Alter Geschichte schwerlich zu trennen.

II. Seine politische Tätigkeit als Förderer der Deutschen Fortschrittspartei und Mitglied der Nationalliberalen braucht dagegen nur kurz skizziert zu werden, wenngleich seine bildungspolitischen Bemühungen selbstverständlich nicht von seiner politischen Gesinnung zu trennen sind, die sich in einer glühenden Bismarckverehrung widerspiegelte.14 Kurz nach Eintritt in den preußischen Schuldienst hätte ihm sein politisches Engagement fast die Karriere gekostet. Als er 1859 in Wetzlar, seiner ersten Station als Lehrer in preußischen Gefilden, eine Ortsgruppe des Deutschen Nationalvereins ins Leben rief und im Rahmen einer Schillerfeier eine Freiheitsrede hielt, wurde das für die Schulbehörde 1863 zum Anlass, ihn nicht als Direktor des Städtischen Gymnasiums in Bielefeld zu bestätigen, zu dem er gewählt worden war.15 Bereits 1862 war er von Wetzlar nach Moers gewechselt, wo er das Direktorat des Progymnasiums übernommen hatte.16 Und nur kurz nach dem Scheitern der Bielefelder Angelegen14 Vgl. die aus O. Jägers Aufzeichnungen abgeleiteten Darstellungen eines Besuchs bei Bismarck 1892 in Kissingen und als Redner einer Abordnung der preußischen Philologenschaft bei dessen 80. Geburtstag 1895 in Friedrichsruh bei Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 184–195. Ein Bericht über den zuerst genannten Besuch findet sich bei Jäger, Erlebtes (Anm. 9), S. 55–68, einer über den zuletzt genannten, einschließlich der dort gehaltenen Rede, ibid., S. 82–94. 15 Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 87–93 u. Weymar, Selbstverständnis (Anm. 10), S. 205. 16 Klein-Reesink, Gymnasium Adolfinum (Anm 8), S. 93–103, der das entsprechende Kapitel mit „Ende einer Phase der Stagnation“ überschreibt. Ausführlich dargestellt ist die

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heit wurde O. Jäger 1865 an das größte Gymnasium des Rheinlandes berufen, an das Königliche Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln17, das er bis zu seiner Pensionierung 35 Jahre leitete. In der rheinischen Metropole angelangt, hielt er sich mit politischen Betätigungen zunächst betont zurück. Gleichwohl verfolgte der Schwabe die bewegten Jahre, die seinem Amtswechsel folgten, mit offenen Augen und gelegentlichen Kommentaren. Vom Erfolg des Krieges gegen Österreich 1866 in Euphorie versetzt, wandte er sich – freilich anonym – in einer Broschüre an seine schwäbischen Landsleute, um sie von der Richtigkeit einer konkret-realistischen Politik zu überzeugen, wie sie Bismarck in Bezug auf die Deutsche Frage verfolgte. Die Württemberger, die in diesem Krieg noch auf Seiten des habsburgischen Reiches gegen Preußen gestanden hatten, suchte er damit in die Reihen der kleindeutschen Einigungsbewegung zu ziehen. Der Sieg bei Königgrätz und der daraus hervorgehende Friede von Prag waren die Momente, die O. Jäger sich dem preußischen Kanzler zuwenden ließen, den er bis dahin – wie so viele – für einen reaktionären Junker gehalten hatte.18 Gleichwohl hielt er sich in seinen ersten Kölner Jahren von der aktiven Politik abstinent. Erst im Zuge des Kulturkampfes wandte er sich ihr wieder zu und trat dem Deutschen Verein für die Rheinprovinz bei, dem allerdings nur ein kurzes Schicksal beschieden war. In dessen Auftrag verfasste er 1876 eine Geschichte über den Deutsch-Französischen Krieg19, die zwar ihren Weg auch in die Schulen fand, mit der er allerdings den Zorn der Ultramontanisten auf sich zog. Die Nationalliberale Partei, die aus der Deutschen Fortschrittspartei hervorgegangen war und der O. Jäger sich zugehörig fühlte, war in diesen Jahren im Rheinland noch wenig organisiert. Sie existierte vor allem in Form wenig ausdifferenzierter lokaler Wahlvereine, die für die Wahl liberaler Parlamentarier einen Resonanzraum bildeten. Nachdem die Partei wegen Bismarcks Schutzzollpolitik zu Beginn der 1880er Jahre in eine ernste Krise geraten respektive in diverse Flügel zerfallen war, hielt O. Jäger es für an der Zeit, ihr im Rheinland festere Strukturen angedeihen zu lassen. Aufgrund seiner Initiative und unter seinem Vorsitz fand 1882 ein erster Parteitag der Nationalliberalen in Schulgeschichte im Internet unter URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Gymnasium_ Adolfinum_Moers (Stand: 29.3.2022). 17 Zur Geschichte der Schule s. Karl Beckmann: Das staatliche Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und Realgymnasium zu Köln 1825–1925. Hundert Jahre deutsche Kulturarbeit am Rhein. Festschrift Köln 1925 u. Gisela Conrad-Kohler/Marlies Spancken/Werner Frizen (Hg.): 175 Jahre Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, Köln 2000. 18  Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 102 f. 19  Oskar Jäger: Der Deutsch-Französische Krieg im Jahre 1870–71. Als Festgabe zum 79. Geburtstage Sr. Majestät des deutschen Kaisers, Bonn 1876.

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Köln statt.20 Auf diesem wurde das Nationalliberale Zentralkomitee der Rheinprovinz gegründet, dem der Kölner Gymnasialdirektor fortan (bis 1905) vorstand, ohne dass er je für ein parlamentarisches Amt kandidiert oder ein solches auch nur angestrebt hätte. Nur während seiner Zeit in Moers hatte er 1863 einmal als Wahlmann für einen Kandidaten für das preußische Abgeordnetenhaus fungiert. Und nach seiner Pensionierung ließ er sich 1903 von seiner Partei – freilich ohne ernsthafte Erfolgsaussichten – als Kandidat für den Reichstag und den Landtag aufstellen21, bevor er 1905 seine Parteitätigkeit aus Altergründen aufgab. Insgesamt sind die politischen Aktivitäten des Kölner Gymnasialdirektors und auch seine Präsenz in der domstädtischen Gesellschaft allzu wenig erforscht, als dass sie sich angemessen würdigen oder überhaupt kritisch beurteilen ließen. Zu den politischen Aktivitäten des Schulmanns O. Jäger kann man im weiteren Sinne auch die Funktionen zählen, die er als – häufig leitendes – Mitglied diverser Vereinigungen der Fach- und Standespolitik übernommen hat. Recht bald nach Aufnahme seiner Kölner Tätigkeit richtete er gemeinsam mit Gleichgesinnten die „Osterdienstagsversammlung“ ein, die zum institutionellen Ort der bereits 1862 ins Leben gerufenen „Versammlung rheinischer Schulmänner“ wurde. Das Gremium traf sich fortan jährlich in Köln, um schulpolitische, didaktische oder unterrichtsmethodische Problemkreise zu erörtern. Bis 1907 leitete er diesen Verband. Dann fusionierte jener mit der rheinischen Abteilung des Philologenverbandes.22 Zu dieser Zeit gehörten bereits mehr als 90 Prozent der in Preußen tätigen Oberlehrer den in den 1860er Jahren entstandenen regionalen und provinziellen Gruppen des (Deutschen) Philologenverbandes an, der sich um die Interessenvertretung der Oberlehrerschaft gegenüber staatlichen Ansprüchen kümmerte. Direktoren waren in diesen Vereinigungen in ihrer Frühzeit zwar nur selten Mitglieder – O. Jäger aber gehörte dazu. Und noch nach seiner Pensionierung besuchte er bis 1905 nicht nur zahlreiche von ihren Tagungen, an denen er sich immer wieder mit eigenen Vorträgen beteiligte, sondern übernahm für 1895 auch die Organisation einer solchen Konferenz in Köln.23 20 Die Eröffnungsrede O. Jägers ist abgedruckt bei Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 131– 133, weitere politische Reden im Anhang, ibid., S. 255–267. Zur Entwicklung der Liberalen in dieser Zeit s. Wilhelm Ribhegge: Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789–1947, Münster 2008, S. 235–239. 21 Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 89 und 228 f. 22 Ibid., S. 106–113 u. 218–226. Die im Rahmen dieser Tätigkeiten gehaltenen Vorträge sind abgedruckt bei Jäger, Pro domo (Anm. 1); Ders., Lehrkunst (Anm. 9) u. Ders., Erlebtes (Anm. 9). 23 Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 201 f. u. 225 f.

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Dabei wurde er schließlich noch Ehrenmitglied des Deutschen Gymnasialvereins, zu dessen Mitbegründern er 1890 gehört, dessen Leitung er 1901 übernommen und dessen Zeitschrift Das Humanistische Gymnasium er bereits seit 1900 redaktionell (mit-)betreut hatte.24 Die Vereinsgründung war ursprünglich eine Reaktion auf die Niederlage, von der eingangs die Rede war und um die es sich im Folgenden handelt25, wenn es darum geht, die bildungspolitischen Ambitionen des rheinischen Schulmannes und deren ideellen Hintergrund zu beleuchten. Ähnlich wie seine (partei-)politische Tätigkeit bislang von der Forschung kaum behandelt worden ist, verhält es sich mit seinen Aktivitäten als Funktionär unterschiedlicher Vereine des Bildungssektors. In den einschlägigen Überblicksdarstellungen werden sie zwar gelegentlich gestreift, sind aber bislang in keiner Weise systematisch erschlossen und im (biographischen) Zusammenhang dargestellt worden.

III. Geboren im schwäbischen Stuttgart, stammte O. Jäger aus einem Elternhaus, in dem die illustren Gestalten des schwäbischen Dichterkreises ein und aus gingen. Gustav Schwab, der sich nicht nur um die Sagen des klassischen Altertums verdient gemacht hat, war sein Onkel, und Ludwig Uhland, Eduard Mörike und Justinus Kerner gehörten zu den Freunden seines Vaters Georg Friedrich Jäger, der selbst Obermedizinalrat und Naturforscher war.26 Die humanistische Bildung war dem jungen Oskar mithin in die Wiege gelegt. Deshalb war es nur folgerichtig, dass er 1848 sein Studium in Tübingen aufnahm, und zwar mit dem Ziel, die theologische Kandidatenprüfung abzulegen. Als er diese 1852 absolvierte, hatte er die Absicht, ein Priesteramt anzutreten, längst aufgegeben. Seine philologischen Studien hatten in ihm das Interesse für die klassischen Sprachen und insbesondere für die Geschichte geweckt. Wie eine Fügung des Schicksals war es, dass die theologische Fakultät eine kirchengeschichtliche Preisaufgabe stellte, an der O. Jäger sich mit einer Arbeit zu John Wyclif beteiligte, mit der er schließlich promoviert wurde.27 Nach einigen Reisen, auch ins europäische Ausland, und Anstellungen als Hilfslehrer legte er 24 Ibid., S. 171, 225 f. u. 233. 25 So auch Paulsen, Geschichte (Anm. 13), S. 715. 26  Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 1–6 u. Beckmann, Geistige Gestalt (Anm. 6), S. 3. Vgl. Oskar Jäger: Die schwäbische Dichterschule, in: Ders., Erlebtes (Anm. 9), S. 2–31. 27  Oskar Jäger: John Wycliffe und seine Bedeutung für die Reformation. Eine Untersuchung seiner Lehre, seiner theoretischen und praktischen Opposition gegen die katholische Kirche, und seines Verhältnisses theils zu J. Huss und J. Wessel, theils zu Luther, Halle 1854.

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Abb. 3a und 3b: Oskar Jäger im Jugendalter und im Alter (aus: Marcks, Oskar Jäger [Anm. 6], vor Titel u. nach S. 40, ohne Herkunftsangabe).

1856/57 seine Prüfungen für das höhere Lehramt (Professorat) ab. Es war seine Bekanntschaft mit Gerd Eilers (1788–1863), dem ehemaligen Schul- und Regierungsrat im Oberpräsidium in Koblenz und seinem späteren Schwiegervater, die ihn schließlich nach Preußen führte, wo man Kandidaten für das höhere Lehramt dringend suchte. Wetzlar war die erste Station, von der er über das Direktorat des Progymnasiums in Moers als Direktor an das FriedrichWilhelm-Gymnasium nach Köln kam. Der bereits als 35-Jähriger in dieses Amt eingetretene O. Jäger hatte nicht nur eine lange, sondern auch eine bewegte Zeit vor sich, in der er bei allen Schulreformen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen stattfanden, seine Rolle spielte. Vier größere Reformen waren es, die vom preußischen Schulministerium in diesem halben Jahrhundert angestoßen wurden. Marksteine dieses Prozesses sind neben den Lehrplanreformen von 1882 die Schulkonferenzen von 1872/73, 1890 und 1900. An allen war der Wahlpreuße persönlich beteiligt.28 28 Für Preußen sind die Schulreformen dieser Zeit recht gut erforscht. Darauf beziehen sich die Überblicksdarstellungen bei Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick, Teil I: 1770–1918, Göttingen 1980, S. 53–100; Düwell, Schul- und Hochschulwesen (Anm. 12), S. 486–498; Frank-Michael Kuhlemann: Schulsystem, in: Berg, Handbuch (Anm. 12), S. 149–228; Albisetti/Lundgreen, Höhere Knabenschulen

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In den Bildungswissenschaften wird häufig zwischen innerer und äußerer Schulreform unterschieden, wobei unter der äußeren die Formen der Schulorganisation und unter der inneren die inhaltlichen Vorgaben verstanden werden, die Veränderungen erfahren.29 Darüber hinaus muss freilich nach dem ideellen Umfeld gefragt werden, in dem solche Reformen Platz greifen, weil äußere und innere Schulreformen sowie die bildungsgeschichtlichen Bewegungen der Zeit sich schwerlich säuberlich sezieren lassen. Was die äußerlichen Veränderungen anbetrifft, so lassen sich die in Dekaden gestaffelten reformerischen Bemühungen in Preußen zwar nicht eindeutig, aber mit ausreichender Trennschärfe in drei Ansätze untergliedern. Umfassend waren die Angelegenheiten, die 1872/73 im Berliner Kulturministerium geregelt werden sollten, insofern sie sich sowohl auf das Volksschul- als auch auf das höhere Schulwesen bezogen. Zu der Konferenz von 1873, die sich mit den höheren Schulformen befasste, wurde auch der Kölner Gymnasialdirektor eingeladen. Sie stand vor allem vor dem Problem, dass seit den 1850er Jahren sich das Realschulwesen in einem Aufschwung befand, der dazu geführt hatte, dass nicht nur die Realschullehrer sich zu einem eigenen Verband zusammenschlossen („Allgemeiner deutscher Realschulmännerverein“), sondern sie zugleich Ansprüche anmeldeten, die sowohl ihre eigene Situation betrafen, vor allem aber die Stellung des von ihnen vertretenen Schultyps gegenüber dem Gymnasium. Befassen sollte die Konferenz sich mit der Frage, ob es im nationalen Interesse größerer Einheit der Bildung zweckdienlich sei, verschiedene Lehranstalten der höheren Bildung (Gymnasium, Progymnasium, Realschule erster Ordnung, Realschule zweiter Ordnung, Bürgerschule mit und Bürgerschule ohne Latein) zu haben (vgl. Abb. 4). Im Zentrum der Verhandlungen stand deshalb die Rolle der Realschulen.30 Die Auseinandersetzung spiegelte sich laut F. Marcks in der Haltung der beiden Antipoden O. Jäger auf der einen und Julius Ostendorf (1823–1877)31 auf

(Anm. 12); Margret Kraul: Höhere Mädchenschulen, in: Berg, Handbuch (Anm. 12), S. 279–303; Peter Lundgreen: Schulsystem, Bildungschancen und städtische Gesellschaft, in: ibid., S. 304–313 sowie zur allgemeinen Einordnung Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, Sonderausgabe München 1998, S. 531–568. 29 S. bspw. Winfried Böhm: Wörterbuch der Pädagogik, Stuttgart 121982, S. 473. 30 So die Vorlage von Minister Adalbert Falk für die Konferenz, s. Protokolle der im October 1873 im Königlich Preußischen Unterrichtsministerium über verschiedene Fragen des höheren Schulwesens abgehaltene Konferenz, in: Centralblatt für die gesammte Unterrichts-Verwaltung in Preußen 1874, Heft 1–3, S. 1–172, hier S. 1–4, online unter URL: https://scripta.bbf.dipf.de/viewer/image/985843438_0016/2/#topDocAnchor (Stand: 29. 3.2022). 31  Konrad Friedlaender: Art.: „Ostendorf, Julius“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 24, Leipzig 1887, S. 503–507.

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der anderen Seite.32 Der Düsseldorfer Realschuldirektor deckte die Mängel des Gymnasiums auf, dessen Schülerschaft allenfalls zu einem Viertel das Abitur erreichte.33 Deshalb plädierte er für die Aufgabe des Lateinischen und für die Einrichtung einer Bürgerschule, die den Ansprüchen des Bürgertums genüge34 und den Schülern die Möglichkeit gebe, ihre Interessen unabhängig vom starren Programm humanistischer Bildung auszubilden.35 Solches Ansinnen musste bei seinem Kölner Kollegen Widerspruch erzeugen. Dem Protokoll nach schaltete dieser sich allerdings nur bei Gelegenheit in die Diskussion ein36, während J. Ostendorf mit Vehemenz und Ausdauer für seine Ideen warb. Geradezu entrüstet trat O. Jäger seinem Kollegen allerdings entgegen, als dieser forderte, den Französischunterricht in der Realschule bereits in der Sexta beginnen zu lassen, und zwar mit dem (von heute aus befremdlich anmutenden) Argument, dass der Genius der Franzosen dem der Deutschen nicht entspreche.37 Und auch als dieser Zweifel an der Zeitgemäßheit des Religionsunterrichts äußerte, wies er solche energisch zurück.38 Offensichtlich stellt sein Biograph die Rolle O. Jägers und die Konkurrenz zu J. Ostendorf im Rahmen der Konferenz etwas überpointiert dar, auch wenn O. Jäger ein Referat über die „Pflege des Bewusstseins deutscher Nationalität“ hielt, in dem er die Zurückdrängung der preußischen zugunsten der deutschen Geschichte forderte, was laut Protokoll allgemein Zustimmung fand.39 Das Protokoll lässt erkennen, dass während der 14 Tage in Berlin offensichtlich ein von Respekt getragenes, konstruktives Gespräch geführt wurde, bei dem neben anderen zwar auch die Realschulproblematik behandelt wurde, diese aber nicht das die Tagung beherrschende Thema war und die Grenzen keineswegs zwischen zwei Teilnehmern verliefen. Eine Entscheidung, ob nur lateinlose Realschulen neben 32 Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 108–111. 33 S. auch Julius Ostendorf: Mit welcher Sprache beginnt zweckmäßigerweise der fremdsprachliche Unterricht?, Düsseldorf 1873, S. 1. S. auch Ders.: Volksschule, Bürgerschule und höhere Schule. Rede, gehalten am 9. April 1872 bei der Einführung als Director der Realschule zu Düsseldorf, Düsseldorf 1872 u. Ders.: Das höhere Schulwesen unseres Staates. Ein Bericht, den städtischen Behörden zu Düsseldorf, Düsseldorf 1873. 34 S. Ostendorf, Sprache (Anm. 33), S. 59: Jede durchgreifende Reform unseres Schulwesen aber hat zur unumgänglichen Voraussetzung, dass wir den Wahn aufgeben, ein gründli­ cher fremdsprachlicher, und überhaupt höherer Unterricht müsse mit dem Lateinischen beginnen. 35 So Ostendorf, in: Protokolle (Anm. 30), S. 85 u. Ders., Das höhere Schulwesen (Anm. 33), S. 5. 36 S. seine Einlassungen in: Protokolle (Anm. 30), S. 15, 28, 37, 72, 79, 88 f., 89, 94, 97, 98, 103, 110, 119, 122–125, 138, 140, 141, 143, 148, 150, 155, 157, 165, 166. 37 Ibid., S. 88 f. 38 Ibid., S. 111. 39 S. Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 108–111. Die Gedanken seines Referats, s. Protokolle (Anm. 30), S. 122–125, hat O. Jäger später wieder aufgenommen, s. Oskar Jäger: Was versteht man unter nationaler Erziehung?, Wiesbaden 1903.

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Abb. 4: Typen der höheren Schulen für Knaben in Preußen (aus: Albisetti/Lundgreen, Höhere Knabenschulen [Anm. 12], S. 241).

dem Gymnasium existieren sollten, wurde nicht getroffen. Ohnehin endete die Konferenz – wie vorgesehen – ohne Beschlüsse. Sie stand vielmehr in einer Reihe von Tagungen, mit deren Hilfe Kultusminister Adalbert Falk (1827–1900) ein Unterrichtsgesetz vorbereiten wollte. Zwar konnte ein solches nicht verwirklicht werden, so dass der Kultusminister 1879 seinen Abschied nahm. Stattdessen aber wurde eine umfangreiche Lehrplanreform in Gang gesetzt, die 1882 zum Abschluss kam. Darin wurde den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern am Gymnasium mehr Zeit eingeräumt und auch dem Lateinischen an den Realgymnasien, deren Abschluss zum Studium der modernen Fremdsprachen berechtigte.40 Durch die mäßige Reduzierung des Griechisch- (zwei Stunden) und die drastische des Lateinunterrichts (neun Stunden) fühlte O. Jäger sich als Verfechter des humanistischen Bildungsideals zur Kritik herausgefordert, wiewohl der Geschichts- im Ver-

40  Albisetti/Lundgreen: Höhere Knabenschulen (Anm. 12), S. 235. Zur Einordnung der Lehrplanreform s. auch Paulsen, Geschichte (Anm. 13), S. 576–637, insb. S. 581–594, der sie als erfolglos bezeichnet.

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bund mit dem Geographieunterricht einen geringen Zuwachs (drei Stunden) verbuchen konnte.41 Die Anstrengungen der Lehrplanmacher goutierte er sehr wohl. Die Einrichtung der Bürgerschule hob er durchaus als positiv heraus. Dagegen richtete sich seine Kritik verständlicherweise auf die Errichtung des Realgymnasiums und dessen Verhältnis zum Gymnasium herkömmlicher Art. Deren Lehrpläne ähnelten sich für ihn in mannigfaltiger Hinsicht und ließen folglich eine Unterscheidung ihrer Eigenarten und spezifischen Zielrichtungen kaum mehr zu.42 Kritik gebührte aus O. Jägers Sicht aber vor allem der Reduzierung der klassischen Sprachen am Gymnasium, insbesondere der des Lateins, weil diese Sprache die Grundlage aller wissenschaftlichen Bildung sei, da sie auf das Kultur­ leben der westeuropäischen Völker seit 2000 Jahren den größten – nicht relativ, sondern absolut größten – Einfluß gehabt hat.43 Und wenn er die Bedeutung des Lateinischen für die Schule einerseits aus dem Aspekt der formalen Bildung herleitete, so wies er andererseits mit höchstem Nachdruck auf das historische Bildungspotenzial hin. In dieser Hinsicht erweist er sich als Anhänger des Historismus alter Prägung, indem er betonte, dass durch die Kulturadaption, die auf diesem Wege stattfinde, beste Einsichten nicht nur in das Gewordensein, sondern in das Wesen der Gegenwart zu erzielen seien. Dass eine derart verstandene kulturelle Bildung, die sprachliches und historisches Lernen und Denken integriert, dem Historischen keine allzu engen Grenzen setzen kann, kommt auch in seinen Bemerkungen zum Geschichtsunterricht zum Ausdruck. Deutliche Worte fand er, wenn es darum ging, einem echauffierten Teu­ tonismus entgegenzutreten, den er in den Lehrplanvorgaben angelegt sah. Mit Verve vertrat er die Auffassung, dass man dem vaterländischen Gedanken beim Unterrichte […] an einer wissenschaftlichen Vorbereitungsanstalt am besten diene, wenn man sich bestrebt, das Vaterländische in seinen Beziehungen und im Vergleich zum Fremden zu würdigen, und dazu ist doch ein freierer und höherer Standpunkt nötig […].44 Gewonnen wird ein solcher Standort – das liegt nahe – durch die humanistische Bildung, die ihren Ausgang bei den klassischen Sprachen und Kulturen nimmt. Mit der Rede vom „vaterländischen Unterricht“ greift er eine in seiner Zeit aufkommende Wendung auf, um sie sogleich in eine andere Richtung zu wenden, als dies allgemein üblich war.45 41 S. Paulsen, Geschichte (Anm. 13), S. 582. 42 Oskar Jäger: Bemerkungen zu den neuen Lehrplänen von 1882 für die höheren Schulen Preußens, in: Ders.: Pro domo (Anm. 1), S. 376–392 (zuerst in: Neue pädagogische Jahrbücher 1882). 43 Ibid., S. 386. 44 Ibid., S. 381 in Bezug auf den Lehrplan für das Realgymnasium. 45 Zurück geht der Begriff vor allem auf Ferdinand Stiehl: Der vaterländische Geschichtsunterricht in unsern Elementarschulen, Koblenz 1842 (demnächst auch in Wolfgang

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Aufgrund seines streng humanistischen Standpunkts war O. Jäger bei allem Patriotismus ein echter Liberaler, der andernorts durchaus für politische Bildung eintrat, nicht aber für eine, die eine nationale Verengung zur Folge gehabt hätte.46 In diesem, seinem Geschichtsverständnis trafen sich Humanismus und Liberalismus, die den positivistischen Historismus, dem er zweifelsohne frönte, in freie Bahnen lenkte. Schon die Lehrplanreformen von 1882 waren für die Anhänger des humanistischen Gymnasiums eine herbe Niederlage. Daran kann kein Zweifel bestehen. Und jeder Schritt darüber hinaus – so betonte O. Jäger 1882 unverhohlen – würde unweigerlich einen Bruch mit dem bedeuten, was das Gymnasium traditionellerweise ausmache.47 Dass dieser Bruch 1890 tatsächlich eintrat und wie O. Jäger ihn beurteilte, ist bereits eingangs ausgeführt worden. Wie aber konnte es dazu kommen, wo er doch selbst wieder der Kommission angehört hatte, die im Berliner Kultusministerium die Reformen vorbereiten sollte? Die Initiative war dieses Mal von Kaiser Wilhelm II. selbst ausgegangen, der im Mai 1889 eine Ordre erließ, die sich sowohl auf das niedere wie das höhere Schulwesen bezog.48 Kultusminister Gustav von Goßler (1838–1902) sah sich dadurch in die Pflicht genommen und beraumte für 1890 eine weitere Schulkonferenz an. Anliegen des Kaisers war es gewesen, den Schulunterricht gegen sozialdemokratische und kommunistische Umtriebe zu feien und stattdessen Gottesfurcht und Vaterlandsliebe als dessen Ziele zu festigen. Mithin waren vor allem Religions- und Geschichtsunterricht in den Fokus genommen worden; aber die Ambitionen des Kaisers zielten auf eine umfassende Reform des Schulsystems.49 So auch die Konferenz, die im Dezember 1890 in Berlin vonstattenging und die sich auf Wunsch des Kaisers erneut mit der Stellung der

Hasberg [Hg.]: Schriften zur Formierung von Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, Bd. 3, Berlin 2022). 46 S. Weymar, Selbstverständnis (Anm. 10), S. 224, der aufzeigt, wie sich diese Haltung, die mit einer intensiven Behandlung der Neueren Geschichte verbunden war, mit den Jahren abschliff. 47  Jäger, Bemerkungen 1882 (Anm. 42), S. 391 f. macht keinen Hehl daraus. 48 Der Erlass ist abgedruckt u. a. in: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin, 4. bis 8. Dezember 1890, Berlin 1891, S. 3–5. Vgl. dazu Gerhard Schneider: Geschichtsunterricht in der Ära Wilhelms II., in: Bergmann/Schneider, Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht (Anm. 10), S. 132–189, hier S. 134–136 u. zum Kontext s. Frank-Michael Kuhlemann: Das Kaiserreich als Erziehungsstaat? Möglichkeiten und Grenzen der politischen Erziehung in Deutschland 1871–1918, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 728–745. 49 Damit entsprach er einem Beschluss des Preußischen Abgeordnetenhauses, der aufgrund einer Petition im März 1889 eine umfangreiche Schulreform eingefordert hatte, vgl. Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 160.

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Abb. 5: Auszug aus dem Verhandlungsprotokoll der Schulkonferenz 1890 (aus: Verhandlungen 1890 [Anm. 48], S. 7.

Realgymnasien befasste.50 Zwar handelte es sich um ein Gremium, das eine Vielzahl von Verfechtern der gymnasialen Idee in seinen Reihen zählte, das in seinen Beschlüssen aber dennoch den Losungen folgte, die der Kaiser bei seiner Eröffnungsrede ausgegeben hatte, die er persönlich gehalten hatte. Dementsprechend wurde entschieden, dass Gymnasium und Oberrealschule zukünftig gleichberechtigt als neunjährige Schulen existieren sollten, während das Realgymnasium abgeschafft werden sollte. Freilich wurden die Beschlüsse nicht durchgeführt. Da für ihn die Konsequenzen absehbar waren, hatte O. Jäger schon im Vorfeld des Berliner Treffens gegen eine solche Entwicklung polemisiert. In einer unmittelbar an den Realschulmännerverein, den er für den Initiator der Berliner Bemühungen hielt, gerichteten Broschüre kritisierte er noch einmal den Verzicht auf das Griechische an den Realgymnasien und die Konzentration des Lateinunterrichts auf das Übersetzen. Beide Entwicklungen hielt er für ungeeignet, um das klassische Bildungsideal zu verwirklichen.51 Damit veränderte 50 Für die Konferenz liegt ein stenographisches Protokoll vor, s. Verhandlungen 1890 (Anm. 48), S. 65 ff. 51 Oskar Jäger: Das humanistische Gymnasium und die Petition um durchgreifende Schulreform, Wiesbaden 1889. Zum Kontext vgl. Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 160–163.

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er keineswegs seine bereits 1882 vorgetragenen Argumente, zog allerdings den Zorn der Realschulmänner auf sich, die sich zu Unrecht angegriffen fühlten. Auf die Entscheidungen der Konferenz hatte der Streit augenscheinlich keinen Einfluss. Auf deren Beschlüsse aber reagierte O. Jäger – wie dargelegt – umso kämpferischer. Zwar musste er die Niederlage eingestehen, die er als Erschütterung des humanistischen Bildungsideals erachtete, wie es vom Gymnasium repräsentiert werde.52 Im Zentrum seiner Kritik stand selbstverständlich der Rückgang von Latein und Griechisch, wobei es nicht zuletzt die Veränderung der (Unterrichts-)Methode war, die er kritisierte, vor allem die Preisgabe des Übersetzens vom Deutschen ins Lateinische. Solche Methodenfragen – so monierte er – verdeckten die Sache selbst, nicht zuletzt im Geschichtsunterricht, aber auch in Bezug auf den Turnunterricht, der zwar eine Stunde dazugewonnen habe, methodisch allerdings in falscher Weise verwirklicht werde.53 Seine Kritik, auch an der Verringerung der Gesamtstundenzahl, ist harsch. Nachdrücklich klagte er zudem die mangelnde Unterstützung durch die Universitäten an. Insgesamt führte er für die humanistische Bildung ins Feld, dass sie der Deutschtümelei entgegenwirke, denn nicht, indem man sie [die Jugend] mit sogenanntem Gesinnungsstoff aufpäp­ pelt, macht man sie patriotisch und deutsch, sondern vor allem dadurch, dass man alle ethischen Keime und dadurch die Triebe erweckt, die in der Zuge­ hörigkeit zu einer großen Nation liegen, – dadurch, dass man diese Knaben und Jünglinge lehrt, und wo nötig, sie nötigt, die ernsthaften Pflichten ihrem Volk und Staat gegenüber […] ernst zu nehmen – : indem man sie zu diesem Zwecke an strenge, unablässige, unerbittliche Arbeit gewöhnt, erzieht man sie zu nationalgesinnten Männern, und das ist’s, was wir mit der großen Hebelkraft des Lateinischen und Griechischen gethan haben.54 Ausdrücklich wendete er sich gegen eine Vereinnahmung der (humanistischen) Bildung für die Politik, insofern diese – wie von Kaiser Wilhelm II. gewünscht – die Erzeugung eines bestimmten Standpunkts respektive die Ausgrenzung anderer zum Ziele habe.55 Die Position des Kölner Gymnasialdirektors war mithin bekannt und unüberhörbar, wenn die Bildungspolitik einstweilen auch andere Wege beschritt – als 1900 eine weitere Reform ins Haus stand, die dieses Mal vom Kultusministerium ausgegangen war, namentlich von Friedrich Althoff (1839–

52 Jäger, Nach der Niederlage (Anm. 1), S. 394. S. auch Ders.: Vergängliches und Bleibendes am humanistischen Gymnasium, in: Ders., Pro Domo (Anm. 1), S. 401–410. 53  Jäger, Nach der Niederlage (Anm. 1), S. 397–399. 54 Ibid., S. 400. 55  Jäger, Vergängliches (Anm. 52), S. 405 f. plädiert für das Tendenzlose.

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1908), dem Ministerialdirektor und „heimlichen Kultusminister“.56 Die Konferenz war zeitlich auf drei Tage begrenzt und die Zusammensetzung deutlich schmaler als in der 1890 vorausgegangenen.57 Trotz seiner zum Jahresende 1900 unmittelbar bevorstehenden Pensionierung war O. Jäger wieder geladen worden, und zwar wohl als herausragender Exponent des Gymnasialverbandes auf der einen und als Experte für den Geschichtsunterricht auf der anderen Seite, zu dem er seit Mitte der 1860er Jahre verschiedene Schriften publiziert und über den er in Berlin zu berichten hatte.58 Damit ist er der einzige, der an allen drei preußischen Schulkonferenzen teilgenommen hat. Im Mittelpunkt der Erörterungen standen Probleme der Zugangsberechtigungen zur Universität und der äußeren Schulreform, verbunden mit der Frage nach der Berücksichtigung des Griechischen und des Lehrplans für das Realgymnasium sowie eines gemeinsamen Unterbaus aller drei gymnasialen Schulformen. Eine der Folgen der Beratungen war die Öffnung des Universitätszugangs für alle drei neunklassigen Schulformen (Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule). Den Widerstand, den O. Jäger diesem Ansinnen stets entgegengebracht hatte, hat er während der Konferenz nicht aufrechterhalten.59 Er vertrat ganz die Linie des Gymnasialvereins, der kurz vor der Konferenz getagt und einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte. „Die Gleichberechtigung der drei höheren Schulformen führte im Jahre 1901 auch zu einer gewissen Angleichung der Lehrpläne, wobei der Schwerpunkt stärker auf die Fächer Deutsch und Geschichte gelegt, in den Gymnasien der Lateinunterricht etwas gekürzt, in den Realgymnasien dagegen der Lateinunterricht etwas verstärkt wurde.“60 So lapidar fasst Kurt Düwell die Ergebnisse der äußeren Schulreform von 1900 zusammen und trifft damit die wesentlichen Punkte. In den Folgejahren waren es weniger strukturelle als vielmehr Gesichtspunkte der inneren Schulreform, die eine Rolle spielten.

56  Franz Schnabel: Art.: „Althoff, Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 222–224. 57 Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 6. bis 8. Juni 1900. Nebst einem Anhang von Gutachten, Halle 1901. 58 S. sein Gutachten ibid., S. 348–354. Den Schulprogrammen des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums, die dort für 1883–1905 in gesammelter Form vorliegen, ist zu entnehmen, dass O. Jäger neun bis sechs Stunden in der Woche selbst unterrichtete, in der Regel sechs Stunden Lateinlektüre und drei Geschichte resp. Geschichte/Geographie, beides vornehmlich in der Prima. 59 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 24 f. Sein Biograph Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 178 legt diesen Wandel als Ergebnis eines Lernprozesses aus, Beckmann, Geistige Gestalt (Anm. 6), S. 26 dagegen – wohl zu Recht – als unabwendbares Zugeständnis an die „diplomatischen Schulmänner“, mithin an die konzessionsbereiten Mitglieder des Gymnasialverbandes. 60 Düwell, Schul- und Hochschulwesen (Anm. 12), S. 495.

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Neben Prinzipien pädagogischer (z. B. Reformpädagogik) und lerntheoretischer respektive unterrichtsmethodischer (bspw. Arbeitsschulgedanke) Art, die im niederen und höheren Schulwesen jeweils eine unterschiedlich gewichtige Bedeutung annahmen, war es nicht zuletzt die Ausgestaltung der Fächer, die infolge der Auflösung des neuhumanistischen Ansatzes in den höheren Schulformen neu verortet werden musste, da ihr ein orientierendes Zentrum nunmehr fehlte. Mit diesen Aspekten hatte sich auch bereits die Schulkonferenz von 1900 befasst. Standen dabei der Griechisch- und Lateinunterricht im Fokus, so war auch dem Geschichtsunterricht ein eigener Fragekreis gewidmet, zu dem O. Jäger das grundlegende Referat hielt. Dabei war Geschichte auch im von den Sprachen dominierten Gymnasium stets ein wichtiges Fach gewesen, erfüllte es doch nicht nur eine subsidiäre Funktion, indem es Kontextwissen zu den Autoren und ihrer Umwelt zur Verfügung stellte, die im Sprachunterricht behandelt wurden. Historische Bildung besaß eine durchaus eigenständige Funktion, die Kaiser Wilhelm II. 1889 für staatliche Zwecke zu instrumentalisieren versucht hatte. Wohl nicht zuletzt deshalb wurde auf die Tagesordnung der Schulkonferenz von 1900 auch die Weiterentwicklung des Geschichtsunterrichts seit 1892 gesetzt. In seinem Bericht macht O. Jäger gleich eingangs deutlich, dass ein Wandel des Geschichtsunterrichts vor allem dahingehend stattgefunden hatte, dass nunmehr auch der Sprachunterricht, insbesondere die Lektüre, unter historischem Gesichtspunkt stehe. Die Erkenntnis – so führt er aus – dass die Bildung, welche das Gymnasium zu vermitteln hat, wesentlich historische Bil­ dung ist, wächst und beginnt Früchte zu tragen. […] Wissenschaftlich gebildet zu sein, heißt die Dinge in ihrem großen Zusammenhange begreifen, heißt historisch denken gelernt haben.61 In diesem vollmundigen Bekenntnis, das die historische vor der sprachlichen Bildung rangieren lässt, kann man einen Sinneswandel im Denken des Berichterstatters erkennen, der auch in seinem publizistischen Werk seinen Niederschlag gefunden hat.62 Zwar blieb der Kölner Direktor bis zu seinem Tod ein aufrechter Verfechter des humanistischen Gymnasiums, für das er sich in vielfältigen Funktionen unterschiedlicher Vereinigungen mit nicht nachlassendem Elan engagierte. Wie allerdings schon seine Haltung auf der Berliner Konferenz zeigt, hatte er sich offensichtlich mit den Entwicklungen im Rahmen der äußeren Schulreform

61 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 349. Vgl. auch schon Oskar Jäger: Bemerkungen über den geschichtlichen Unterricht, in: Programmschrift des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums und Realschule I. Ordnung, Köln 1866, S. 1–15, hier S. 1. 62 S. den folgenden Abschnitt IV.

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abgefunden63, zumindest an den Stellen, wo sie ihm irreversibel erschienen. Dabei ist ihm offenkundig auch nicht verborgen geblieben, dass sich die Gewichte im gymnasialen Fächerkanon verschoben hatten, so dass die historische Bildung ihm womöglich als das Terrain erschien, auf dem am meisten Substanz des humanistischen Erbes zu retten war. Vielleicht rührte daher sein Interesse für die Alte Geschichte, für die er einen zeitlichen Zuwachs der Unterrichtszeit empfahl, während er die Lehrpläne ansonsten für gut eingerichtet und den Geschichtsunterricht im Allgemeinen als befriedigend betrachtete.64 Weder von den Schulgeschichtsbüchern, die an Zahl erheblich zugenommen hatten65, noch von den Methodiken zum Geschichtsunterricht, gegen die er polemisierte, versprach er sich eine Verbesserung.66 Zumal im Falle der Geschichte der Gegenstand die (Unterrichts-)Methode vorgebe.67 Allein die Ausbildung der Lehrer könne ihn weiter vervollkommnen, wobei es nicht in der Macht der Universitäten, sondern in jener der (an den Gymnasien angesiedelten) pädagogischen Seminare liege, diese anzuleiten und den Unterricht durch Inspektionen der Schulaufsicht zu reformieren.68 Nicht wesentlich anders fällt das Gutachten seines Ko-Referenten, Ferdinand Schultz (1829– 1901), Direktor des Kaiserin Augusta-Gymnasiums in Charlottenburg, aus.69 Beide wollen sie den Geschichtsunterricht vom reinen Gedächtniswissen befreien und schwören einer politischen Funktionalisierung nicht zuletzt mit dem Hinweis darauf ab, dass ein entsprechendes Ansinnen von den Schülern entdeckt und schon deshalb zurückgewiesen werden würde. Sie vertrauen dar63 Vgl. o. Anm. 59. Planck, Jäger (Anm. 6), S. 93 weist darauf hin, dass die „Braunschweiger Erklärung“ des Gymnasialvereins die Grundlage für seine Haltung auf der Konferenz in Berlin gewesen sei, der er nur auf Drängen der Mehrheit und nicht ohne Vorbehalt zugestimmt hätte. 64 Vgl. auch seine nach der Konferenz erfolgte Stellungnahme bei Oskar Jäger: Die neuen Lehrpläne für die höheren Schulen in Preussen, in: Erlebtes (Anm. 9), S. 201–212, hier S. 208–210 (zuerst in: Humanistisches Gymnasium 1902). 65 S. die Statistiken bei Jacobmeyer, Schulgeschichtsbuch (Anm. 11), S. 143 u. 177. Zur inhaltlichen Ausrichtung der Schulgeschichtsbücher s. insb. Horst Schallenberger: Untersuchungen zum Geschichtsbild der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit. Eine vergleichende Schulbuchanalyse deutscher Schulgeschichtsbücher aus der Zeit von 1888–1933, Ratingen 1964, S. 51–162. 66 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 353. Ganz unverhohlen kommt seine Abneigung gegen die Unterrichtsmethodik zum Ausdruck bei Jäger, Aus der Praxis (Anm. 9), S. 3–7, wo er sie als aufgeblasene Geschichtsdidaktik (S. 6) bezeichnet. 67 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 353. Deutlich günstiger schätzt sein Ko-Referent die Entwicklung der Methodik des Geschichtsunterrichts ein (s. ibid., S. 355 u. 362). 68 Ibid., S. 353 f. Vgl. das aus solchen Seminarvorträgen hervorgegangene Buch von Jäger, Lehrkunst (Anm. 9). Differenzierter zur Seminarausbildung auch Ders.: Die Zukunft des Geschichtsunterrichts, in: Ders., Erlebtes (Anm. 9), S. 252–271, hier S. 270. 69 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 355–364. Wesentlich knapper und ganz darauf bedacht, die Stundenzahl und die Kenntnisse in Bezug auf die römische Kaiserzeit zu erhöhen, ist das dritte Gutachten des Berliner Kirchenhistorikers Adolf Harnack (ibid., S. 364 f.).

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auf, dass eine objektive Darstellung der Vergangenheit die ethische Wirkung entfalten würde, die Vaterlandsliebe und strenges Pflichtbewusstsein gegen den Staat erwecke, und deshalb auch von der Behandlung der Alten Geschichte Strahlen ausgehen würden, die sich auf die vaterländische Geschichte richteten.70 Jedem Chauvinismus und jeder Deutschtümelei erteilen die Berichterstatter eine Absage. Zugleich heben beide die Verbundenheit der Geschichte mit den Philologien hervor, so dass die klassischen Sprachen und der Geschichtsunterricht eine symbiotische Beziehung eingingen. Diese Beobachtung führt zu der Hypothese zurück, dass womöglich der Geschichtsunterricht und seine enge Beziehung zu den in ihrem Stundenvolumen drastisch reduzierten Sprachfächern als letztes Refugium humanistischer Bildung verstanden wurde und deshalb zunehmend in den Fokus eines dem Neuhumanismus anhängenden Schulmannes wie O. Jäger gerückt ist.

IV. Nicht nur als Politiker und „Schulmann“ erwarb O. Jäger sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Berühmtheit. Auch als Historiograph war er weithin bekannt. Bereits vor seiner Übersiedlung nach Wetzlar, noch während er als Lehrer in Ulm tätig war, begann er, sich schriftstellerisch mit der Alten Geschichte zu befassen. Zunächst wandte er sich der Römischen Geschichte zu, die er 1857–1860 in einem voluminösen Werk für eine jugendliche Leserschaft bearbeitete.71 Neben kleineren historischen Arbeiten, die in Zeitschriften und Programmschriften erschienen, wandte er sich einer Geschichte der Griechen zu, die 1866 im Bertelsmann-Verlag veröffentlicht wurde.72 In der Geschichte der Griechen sah er die des deutschen Volkes vorgezeichnet.73 Diese Schriften, die an ein jugendliches Publikum gerichtet waren, wurden immer wieder neu aufgelegt. Und bereits kurz darauf wandte er sich einer Geschichte der Punischen Kriege zu, die in drei Bänden zwischen 1866 und 1870 veröffentlicht wurde.74 Noch während er damit zugange war, wurde er vom Verleger beauftragt, gemeinsam mit Theodor Creizenach die 70 Ibid., S. 355 u. 359. 71  Oskar Jäger: Geschichte der Römer, Gütersloh 101913 (Orig.-Ausg. Gütersloh 1861). 72  Oskar Jäger: Geschichte der Griechen, 2 Bde., Gütersloh 61896 (Orig.-Ausg. Gütersloh 1866). 73 So Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 95 f. 74 Oskar Jäger: Darstellungen aus der römischen Geschichte für die Jugend und für Freunde geschichtlicher Lektüre. Die punischen Kriege nach den Quellen erzählt, Bd. 1: Rom und Karthago, Halle 1866; Bd. 2: Der Krieg Hannibals, Halle 1869; Bd. 3: Marcus Porcius Cato, Halle 1870.

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vielbändige Weltgeschichte für das deutsche Volk des Frankfurter Historikers Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) zu überarbeiten und fortzusetzen.75 O. Jäger selbst behandelte dabei in drei Bänden die Zeit „vom Wiener Kongress bis in die Gegenwart“.76 Mit der Fortschreibung eines etablierten und vielgelesenen Überblickswerkes hat der passionierte Historiograph sich indes nicht zufriedengegeben. Es drängte ihn, selbst ein Überblickswerk zu schaffen, dass er nach seinem Maßstab gestalten konnte, denn wer sich lange mit geschichtlichen Studien lernend und lehrend beschäftigt hat, dem wird sich zuletzt eine Art Bedürfnis nach einer zusammenhängenden Darstellung des Ganzen der Menschengeschichte ergeben.77 Deshalb nahm er den Plan des Bielefelder Verlagsbuchhändlers Johannes Klasing auf und schloss eine vierbändige Weltgeschichte 1889 ab, die eine Art Hausbuch war und von der er sich vorstellte, dass sie im Familienkreis gelesen werden möge.78 Auch sie wurde immer wieder neu aufgelegt und erreichte bis in die 1920er Jahre Auflagezahlen von mehr als 70.000. Im hohen Alter erfüllte sich für O. Jäger dann noch ein Traum79, als der Münchener Verleger Oskar Beck mit dem Wunsch an ihn herantrat, eine Deutsche Geschichte zu verfassen. Sie wurde erst in seinen Bonner Jahren fertiggestellt, wohin der Pensionär umgezogen war, um an der Universität eine Honorarprofessur wahrzunehmen. Auch dieses zweibändige Werk, das erst 1909 erschien, erlebte bis 1914 bereits vier Auflagen und war wiederum an ein breites Publikum adressiert.80 Das Überblickswerk, in das man den Geist des Menschseins quasi eingießen konnte, war sein Metier. Deshalb ist das, was er vorlegte, keine Global- und keine Welt-, sondern Universalgeschichte, in der die Geschichte des Menschseins erzählt wird, um das Wesen des Menschen – nicht der Gattung, sondern das sich in jedem einzelnen widerspiegelnde – zum Vorschein zu bringen. Beide Werke, die Deutsche wie die Weltgeschichte, atmen den Geist des Idealismus im humanistischen Gewand Friedrich Schiller’scher Prägung81, wie vor allem im Vorwort zur Weltgeschichte deutlich wird, die teleologisch auf den 75 Friedrich Christoph Schlosser: Weltgeschichte für das deutsche Volk, 19 Bde., Frankfurt am Main 1844–1857. 76 Oskar Jäger: Geschichte der neuesten Zeit vom Wiener Kongress bis in die Gegenwart, 3 Bde. (Fr. Chr. Schlosser‘s Weltgeschichte für das deutsche Volk 16–18), Stuttgart 1874. 77 Oskar Jäger: Weltgeschichte in vier Bänden, Bd. 1: Geschichte des Altertums, Bielefeld/ Leipzig 1909, S. 1. Es handelt sich um eine Auflage, die sich auf die Exemplare 49.000– 58.000 bezieht. Erstmals aufgelegt wurde das Werk 1887–1889 im Verlag Velhagen & Klasing. 78 Ibid., S. 4. 79 Oskar Jäger: Deutsche Geschichte, 2 Bde., München 1909, hier Bd. 1: S. III. 80 Ibid., S. IV. 81 Beckmann, Geistige Gestalt (Anm. 6), S. 3 f.

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Begriff des Menschen abzielt und deshalb einem philosophischen oder gar religiösen Impetus folgt. Dafür bedarf es keineswegs moralischer Verallgemeinerungen oder ständiger Gegenwartsbezüge in der Darstellung, die im eigentlichen Sinne objektivistisch daherkommt, weil solche sich in der Beschäftigung mit der Geschichte wie von selbst ergeben.82 Bedarf es da noch gesonderter Überlegungen zur Didaktik und Methodik der Geschichtsvermittlung? Greift man über diese historiographisch schwergewichtigen Werke mit ihrer enormen Wirkkraft hinaus auf die „Gelegenheitsschriften“ zur Geschichte zurück, dann wird offenbar, dass sein Interesse vor allem auf die Alte Geschichte gerichtet war.83 Und das hat einen Grund, der insbesondere dann deutlich wird, wenn man den Blick nicht auf die historiographischen Publikationen beschränkt, sondern auf das Schrifttum hin erweitert, in dem O. Jäger sich zur Vermittlung von Geschichte (im Unterricht) äußert. Allerdings begann er erst spät, 1882, sich diesem Feld zuzuwenden, und zwar – erstaunlicherweise – mit einem Werk, das der damals 53-Jährige mit „Pädagogisches Testament“ untertitelte.84 Versammelt sind darin Beobachtungen der eigenen Unterrichtspraxis sowie Ratschläge an junge Kollegen. Zwar ist das Buch nicht nur an den Geschichtslehrer adressiert, aber es beginnt mit Hinweisen für denselben und rät gleich eingangs: Ist er noch jung, so braucht er von diesen Dingen gar nichts zu lesen und zu hören, sondern er studiere fleißig die Substanz der Sache – studiere Geschichte, nicht Methodik des Geschichtsunterrichts, die man doch nur ver­ steht, wenn man die Sache kennt. Später mag er dann lesen, wie die großen Pädagogarchen gemeint haben, dass er’s hätte machen sollen.85 Vermutlich sind es solche Phrasen, die seinen Biographen veranlasst haben, sein Praxisoder Rezeptbüchlein als polemisch zu bezeichnen.86 Und zugleich stellt sich die Frage, warum O. Jäger sich selbst mit zahlreichen Werken an diesem Diskurs beteiligte, bis hin zu einer Didaktik und Methodik des Geschichtsunter-

82  Jäger, Weltgeschichte, Bd. 1 (Anm. 77), S. 2 f. 83 Vgl. etwa Oskar Jäger: Über die Stellung des Unterrichts in der alten Geschichte im Gymnasiallehrplan, in: Ders., Erlebtes (Anm. 9), S. 239–251. 84 So Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 137, der freilich übersieht, dass bereits ein Jahr vor der Publikation Jäger, Aus der Praxis (Anm. 9) ein entsprechendes Heftchen erschienen war, s. Oskar Jäger: Bemerkungen über den geschichtlichen Unterricht, Wiesbaden ²1882 (teilweise zuerst 1866, s. o. Anm. 61) u. Ders.: Hilfsbuch für den ersten Unterricht in alter Geschichte, Wiesbaden 191892 (Orig.-Ausg. Wiesbaden 1866). 85  Jäger, Aus der Praxis (Anm. 9), S. III. In dieselbe Richtung geht Jäger, Nach der Niederlage (Anm. 1), S. 397: Ein guter Geschichtslehrer z. B. ist in erster Linie der, welcher Geschichte von Grund aus kennt, nicht der, welcher die vielen Folianten über die beste Methode des Geschichtsunterrichts gelesen hat. 86  Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 138.

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richts, die noch zu seinen Lebzeiten sogar in einer englischen Übersetzung erschien?87 Das Motiv, sich in den aufblühenden Diskurs zur Geschichtsmethodik, den er selbst gelegentlich als aufgeblasene Geschichtsdidaktik bezeichnete88, einzumischen, dürfte in seinem Impetus als Lehrer gelegen haben, der aus seiner Erfahrung – wie er nicht selten betonte – entsprechende Hinweise zu geben sich verpflichtet sah. Zu Auseinandersetzungen mit der vorliegenden geschichtsmethodischen Literatur kommt es folgerichtig in den didaktischen Werken des Kölner Direktors an keiner Stelle; allenfalls zur Polemik ihr gegenüber.89 Darauf muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden, wohl aber auf die Ziele, die der Historiograph dem Geschichtsunterricht respektive der Vermittlung von Geschichte insgesamt setzte. Es sind lediglich zwei, nämlich: 1. Mit­ teilung und Einprägung eines gewissen Quantums an historischem Wissen; 2. Entwicklung der Fähigkeit, mit diesem Wissen zu operieren.90 Das klingt einfach, kann indes durchaus anspruchsvoll sein, wenn im zweiten Schritt versucht wird, das erworbene Wissen in neue Wissensordnungen einzupassen, wie es der Praktiker O. Jäger am Beispiel eines Längsschnitts zur Orientfrage beschreibt, bei dem in der Phase der Repetition die Schüler veranlasst werden, ihre Geschichtskenntnisse auf diese Thematik zu applizieren und daraufhin neu zu ordnen.91 Auch auf die Vermittlungsmethode muss im vorliegenden Zusammenhang nicht tiefer eingegangen werden, wohl aber auf die Stellung des Geschichtsunterrichts im Rahmen der historischen Bildung, die für das Gymnasium gegenüber der Realschule der Zweck überhaupt sei und dessen Charakter ausmache. Dabei komme dem Geschichtsunterricht nur subsidiäre Bedeutung zu, weil er vornehmlich den Kontext für die (klassischen) Sprachen herstellen müsse.92 Zudem vermittelten auch der Religions-, Deutsch- und Geographieunterricht historische Kenntnisse.93 Deshalb sei es entbehrlich, vor der Quarta (siebtes Schuljahr) Geschichte eigenständig zu unterrichten. Ein Grund dafür sei, dass zu diesem Zeitpunkt im Lateinischen zusammenhängende Lektüre beginne. Nun gelte es auch die in den anderen Unterrichtsfächern verstreut aufgenom87 Oskar Jäger: Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts, München ²1905 (Orig.Ausg. München 1895) u. Ders.: The Teaching of History, Oxford 1908 (Chicago 1915). 88 Jäger, Aus der Praxis (Anm. 9), S. 6. 89 Vgl. etwa Jäger, Bemerkungen (Anm. 84), S. 8 u. 12. 90 Ibid., S. 10. Vaterländischen Sinn zu entwickeln, betrachtete er demgegenüber als eine sekundäre Aufgabe, die der Geschichtsunterricht zudem mit (allen) anderen Fächern teile. 91 Ibid., S. 16 f. 92 Ibid., S. 21–23. 93 Ibid., S. 23–27.

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men historischen Kenntnisse zu sammeln und als Kontextwissen für die Lektüre bereitzustellen.94 Wenn in der Tertia (achte und neunte Klasse) die deutsche Geschichte von 476–1871 thematisiert wird, dann weist der Kölner Schulmann das Ansinnen einer vaterländischen oder auch nationalen Verengung ebenso zurück wie die Behauptung, dass die gleichzeitige Quellenlektüre in den Sprachfächern beidem nicht diene. Vielmehr befördere diese den historischen Sinn, durch die Bewäl­ tigung der sprachlichen Schwierigkeiten zum Verständnis des Sachlichen zu gelangen und aus dem widerstrebenden lateinischen oder griechischen Stoffe korrekte deutsche Sätze und Perioden zu bilden.95 Es ist die kategoriale Bildung durch die Sprache, die diese zwar vor dem Geschichtsunterricht rangieren, die aber zugleich die Sprache für die historische Bildung in Dienst nehmen lässt, die das inhaltliche Ziel aller Bildung ist, ganz gemäß den Grundsätzen des Historismus, wonach in ihrem Gewordensein das Wesen der Dinge zu erkennen ist. Das korrespondiert mit dem humanistischen Bildungsideal, in dem sprachliche und historische Bildung zu einem Ganzen zusammengebunden sind: ohne Geschichte keine sprachliche und ohne Sprache keine historische Bildung. Das erklärt die Stellung des Geschichts- und Sprachunterrichts im Fächerkanon des Gymnasiums, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts höchst kontrovers diskutiert wurde und durch die preußischen Bildungsreformen mehrfach Veränderungen erfuhr. Es war das humanistische Bildungsideal, das weiten Kreisen den gesellschaftlichen Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr angemessen erschien und deshalb in Misskredit geriet. Das erklärt indes nur zu einem Teil, dass zugleich auch die vormoderne, insbesondere die Alte Geschichte in den Veränderungssog gezogen wurde. Aber die zweite Breitseite, die ihr entgegenschlug, ist bereits angedeutet worden: Es war der Siegeszug der vaterländischen Geschichte, der spätestens nach den Revolutionen der Jahre 1848/49 begonnen hatte. Er erschütterte die Stellung der Alten Geschichte, die aufgrund ihrer engen Verbindung zu den klassischen Sprachen im humanistischen Gymnasium eine unangefochtene Vorrangstellung hatte, die nicht nur wegen der Kritik des humanistischen Bildungsideals ins Wanken geraten war, sondern eben auch wegen der politischen Funktionalisierung der historischen Bildung, wie sie nicht erst Kaiser Wilhelm II. mit seiner Ordre von 1889 entfacht hatte.96 Für O. Jäger war es der kategoriale Aspekt der Bildung, der es legitimierte, in der Sekunda (Klasse zehn und elf) am Beispiel der Griechen und Römer das 94 Ibid., S. 28–31. So auch Jäger, Über die Stellung (Anm. 83), S. 250. 95  Jäger, Bemerkungen (Anm. 84)., S. 34 u. 37. 96 Vgl. o. Anm. 55.

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Aufblühen, Reifen, Welken, Absterben zu verfolgen […], teils weil diese dem Schüler sonsther am besten bekannt, teils weil sie am meisten einer rein objek­ tiven Behandlung fähig sind.97 In dem Bekenntnis zur Objektivität, das sich im vorliegenden Fall wohl auf die vermeintlich günstige Überlieferungslage stützt, spiegelt sich seine historistische Grundhaltung, die mit einem substantialistischen Geschichtsverständnis verbunden war, was aus heutiger Sicht leicht antiquiert wirkt.98 Doch an dieser Stelle muss der Blick nicht darauf, sondern auf die Exemplarität gelenkt werden, die hinter der Thematisierung der griechischen und römischen Geschichte steht. Es ist der Aufstieg, die Realisation und freilich auch der Verfall zweier Kulturen, in denen – idealtypisch – auch das Schicksal des deutschen Volkes erkennbar wird.99 Im Schulunterricht wird das greifbar, wenn in der Prima die Geschichte vom Mittelalter bis 1871 zum Gegenstand der besonderen Geschichtsstunden wird, während der Gesamtunterricht der Prima durch die Lektüre der klassischen Autoren das Eindringen in den Geist der alten Geschichte ermöglicht. Durch die Simultaneität der Alten Geschichte in den Sprachfächern und der Neueren Geschichte im Geschichtsunterricht werden beide zur Symbiose geführt, zu dem was als Weltgeschichte bezeichnet werden kann.100 Das ist es, was O. Jäger unter historischer Bildung verstand: das (kausalgenetische) Erkennen des Zusammenhangs der Weltläufe, wie es am deutlichsten bei der Behandlung des griechischen und römischen Staates zu erkennen ist. Nicht Kulturgeschichte, sondern politische Geschichte stand für ihn dabei im Vordergrund. Deshalb erstaunt es, wenn er andererseits mit Nachdruck dafür plädierte, die Geschichte nicht bis in die Gegenwart zu treiben, weil das Fach ansonsten in den Strudel der aktiven Politik geraten würde.101 Damit trat er einer Tendenz entgegen, die um die Jahrhundertwende vor allem im Bereich des niederen Schulwesens um sich griff102, von der aber auch das höhere nicht verschont blieb. Der Kölner Schulmann hielt von Anfang an dagegen, weil er  97 Jäger, Bemerkungen (Anm. 84), S. 39, das sonsther meint selbstverständlich den Sprachunterricht. Ebenso Jäger, Zukunft (Anm. 68), S. 266.  98 Der Unmöglichkeit, Geschichte ‚rein objektiv‘ darzustellen, war Jäger, Didaktik (Anm. 87), S. 4 sich durchaus bewusst.  99 Vgl. auch Jäger, Über die Stellung (Anm. 83), S. 241: Die alte Geschichte […] ist hier von vornherein besonders fruchtbar, weil sie das Werden jener Menschheitsidee, die vorchrist­ liche Entwicklung, zum Gegenstand hat. 100 Jäger, Bemerkungen (Anm. 84), S. 41–46. 101 Verhandlungen 1900 (Anm. 57), S. 392. Vgl. ibid., S. 282 u. 395. 102 Vgl. Wolfgang Hasberg: Kriegsbegeisterung. Geschichtsunterricht als Kriegstreiber?, in: Guido von Büren/Michael D. Gutbier/Wolfgang Hasberg (Hg.): Kriegsenden in europäischen Heimaten. Bracknell, Haubourdin, Jülich, Leverkusen, Ljubljana, Racibórz, Schwedt, Villeneuve d’Ascq (Montanus 18), Neustadt a. d. Aisch 2019, S. 57–80. Vgl. auch Schneider, Geschichtsunterricht (Anm. 48).

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einem Ideal folgte, das keiner kurzschlüssigen Funktionalisierung das Wort redete, sondern auf die bildende Kraft einer historischen Bildung setzte, die sich wissenschaftlich am Postulat der Objektivität ausrichtete. Darum setzte er auf die Alte Geschichte, von der in erster Linie er das Potenzial erwartete, im Verein mit der Lektüre antiker Autoren die Bildung auf den Pfad zur Erkenntnis des menschlichen Wesens zu führen. Damit folgte er einer humanistischen Idee und war deshalb alles andere als ein „Abbilddidaktiker“103, der allein die Befunde der wissenschaftlichen Forschung an seine Schüler vermitteln wollte. Mit der historischen Bildung, wie er sie durch seine historiographischen Werke wie durch den Schulunterricht zu verwirklichen suchte, verfolgte er vielmehr eine Idee, die auf einem christlichprotestantischen Menschenbild ruhte. Die historische Bildung, die durch das humanistische Gymnasium realisiert werden sollte, sollte nicht nur Einsichten in das Wesen des Menschen erzeugen, sondern zugleich in seinen sittlichen Auftrag, sich durch Arbeit und Pflichterfüllung (wie in der Antike) für das Staatswesen zu engagieren. Nicht erst die Herstellung der nationalen Einheit hatte 1871 diese Idee entstehen lassen, aber sie hatte es umso dringlicher erscheinen lassen, an ihrer praktischen Vollendung mitzuwirken. Die humanistische Grundlage, auf der sie stand, wehrte zugleich von Beginn an einer nationalistischen Verengung.104 Historische Bildung im Sinne des Neuhumanismus konnte per se nicht national, sondern immer nur universal verstanden werden! Mit der Lehrplanrevision von 1901 wurde nicht nur der Neueren Geschichte der Vorrang vor der älteren gewährt, zugleich kam mit ihr das Monopol des humanistischen Gymnasiums vollends zu Fall. Von daher war die Niederlage von 1900 für einen Humanisten wie O. Jäger wohl schmerzlicher als die von 1890. Aber zu diesem Zeitpunkt war der Elan des alternden Schulmanns offenkundig ein Stück weit erlahmt. Ob es das Alter oder die Einsicht war, sich in einem aussichtslosen Kampf zu befinden, muss einstweilen offenbleiben – was 103 S. etwa den Wikipedia-Eintrag unter URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Jäger (Stand. 30.3.2022). Ganz anders die differenzierte Analyse und Einschätzung von Weymar, Selbstverständnis (Anm. 10), S. 205–226. 104 Wohl aufgrund seiner humanistischen Gesinnung zeigte O. Jäger sich auch gegenüber der simultanen Bildung offen, die ebenfalls zu den umstrittenen Problemen der äußeren Schulreform gehörte. Gemeint ist die Überwindung der konfessionellen Bildung. Die Schulprogramme des königlichen Gymnasiums, dem er vorstand, zeigen, dass der Anteil der katholischen Schüler zwischen 1882 und 1904 leicht (von 37,63 % auf 41,26 %) anstieg, während allerdings jener der jüdischen Schüler leicht rückläufig war. Nur die Hälfte aller Schüler war 1904 noch protestantisch. Dass er zugleich der Mädchenbildung offen gegenüberstand, lässt sein Engagement für die Evangelische Töchterschule erkennen, deren Kuratorium er seit deren Neugründung 1874 leitete und an der er gelegentlich Unterricht erteilte, s. Marcks, Oskar Jäger (Anm. 6), S. 116 f.

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indes mit einiger Sicherheit ausgeschlossen werden kann, ist, dass Zweifel an der humanistischen Idee der ausschlaggebende Grund gewesen sein könnten.

V. Als Politiker, Schulmann und Historiker war O. Jäger von seinen Studientagen an eine ideell gefestigte Persönlichkeit105, deren eigentümliches Bekenntnis zum Nationalliberalismus auf der einen und dem (Neu-)Humanismus auf der anderen Seite zugleich eine schillernde Persönlichkeit entstehen ließ, die – verpflichtet auf protestantische Werte wie Arbeit und Pflichterfüllung – gestalterisch auf vielerlei Geschicke Einfluss zu nehmen versuchte und genommen hat. Nicht alle Bereiche davon sind bislang mit der gebührenden wissenschaftlichen Akribie erkundet worden und nur wenige in angemessener Tiefe. Deshalb konnten die vorstehenden Ausführungen nur eine Skizze zeichnen, die einer dichteren Füllung bedarf, der gediegene Analysen zugrunde zu legen sind106, damit sie an Farbigkeit gewinnt und das Schillern der Person in ihrer ganzen Vielfalt hervortreten lässt.

105 Ähnlich auch die durchaus kritische Einschätzung bei Beckmann, Geistige Gestalt (Anm. 6), S. 28–31, der O. Jäger eine „Stetigkeit“ attestiert, die seiner geistigen Flexibilität im Wege gestanden hätte. 106 Bislang fehlt es sogar an einer verlässlichen Bibliographie, die das Werk des umtriebigen Politikers, Schulmannes und Historikers erschließen helfen könnte.

Ein europäischer Rabbiner: Abraham Frank in Köln und im jüdischen Weltbund von Carsten Wilke

Einleitung Kein Rabbiner hat länger in Köln gewirkt als Dr. Abraham Frank.1 Die Amts­ zeit dieses gebürtigen Niederländers umspannt die 42 Jahre vom 29. Januar 1876 bis zu seinem Tod am 11. November 1917, fast die gesamte Dauer des (zweiten) Deutschen Kaiserreichs. Während jener Epoche vervielfachte sich die Zahl der Juden in Köln von unter 3 200 auf über 12 000, womit Franks Gemeinde eigenen Bekundens sich unter ihm aus kleinen Anfängen zu einer führenden unter den Großgemeinden Deutschlands entwickelt hat.2 In einer Zeit, in der sich die jüdischen Gemeinden der meisten deutschen Großstädte zwischen Reform und Orthodoxie gespalten hatten, erfüllte Rabbiner Frank lange die in ihn gesetzte Erwartung, die Einheitsgemeinde zusammenzuhalten. Erst nachdem er 1906 dem Willen der Mehrheit nachgab, die Synagoge in der Roonstraße mit einer Orgel auszustatten, wurde auch in Köln die Trennung vollzogen, so dass die jüdisch-orthodoxe Gemeinde in der St.-Apern-Straße eine eigene Körperschaft bildete.3 Die Hauptgemeinde konnte allerdings einen Teil ihrer orthodoxen Mitglieder vom Austritt abhalten, indem sie ihnen die ältere Synagoge in der Glockengasse zu Gottesdiensten anbot, ohne Orgel und mit Dr. Ludwig Rosenthal (1870–1938) als eigenem Rabbiner. Schon seit 1897 kooperierte Frank als „Erster Rabbiner“ mit dem jüngeren und konservativeren Kollegen. Das Lob, das Kölner Gemeindeangehörige ihrem allbeliebten und allverehr­ ten Rabbiner Dr. Frank wiederholt in der Presse spendeten4, lässt darauf schließen, dass dieser trotz des Austrittsstreits für die meisten jene ideale Verbindung aus beruflicher und sozialer Kompetenz verkörperte, die man von 1 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, der am 14. Juni 2021 bei der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e. V. im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Das Lehrhaus“ gehalten wurde. Eine Aufzeichnung ist im Internet zugänglich, URL: https://www.youtube.com/watch?v=ICCo15NUJig (Stand 31.3.2022). 2 Todesanzeige der Synagogengemeinde in Kölnische Zeitung, 13.11.1917, Abend-Ausgabe, S. 3. 3 Zvi Asaria: Die Juden in Köln. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Köln 1959, 217, 241; Alexander Carlebach: Die Orthodoxie in der Kölner jüdischen Gemeinde der Neuzeit, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u. a. (Hg.): Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959–1984, Köln 1984, S. 341–358, hier S. 347. 4 [Anon.:] Brief aus Köln, in: Allgemeine Zeitung des Judentums [im Folgenden: „AZJ“], Jg. 70, Nr. 17 (27.4.1906), S. 199–200, hier S. 200. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 175–206

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einem modernen Rabbiner erwartete. Vielleicht ist gerade seine harmonische Amtsführung während dieser langen Zeit dafür verantwortlich, dass er in historischen Werken über das jüdische Köln weit weniger Erwähnung gefunden hat als seine orthodoxen und zionistischen Gegner, von denen eine stärkere ideologische Polarisierung ausging.5 Die massiven Dokumentationen Monu­ menta Judaica und Juden in Köln, die das Stadtmuseum 1963 bzw. 1984 herausgab, erwähnen ihn nicht einmal.6 Um über sein Leben und Werk Näheres zu erfahren, greift man am besten auf die biographischen Abrisse aus der Feder von Zeitgenossen zurück. Zwei dieser Aufsätze sind noch zu Franks Lebzeiten in der jüdischen Presse erschienen, und zwar wurde der erste 1907 anonym, der zweite im September 1917 von dem Hamburger Rabbinerkollegen David Leimdörfer (1851–1922) zum 50-jährigen Amtsjubiläum veröffentlicht. Leimdörfer hat seine Laudatio nur zwei Monate später zu einem Nachruf umschreiben müssen, der in den Gedenkblättern der Synagogengemeinde zu Ehren des Rabbiners nachgedruckt wurde. Ein lokaler Nachruf wurde von Philipp Amsel (1847–1930) verlegt und wohl auch verfasst. Franks letzter Biograph war 1932 sein Assistent und Nachfolger Adolf Kober (1879–1958).7 In jüngerer Zeit lassen einige Einträge in Lexika auf ein erneutes Interesse an dem Rabbiner schließen.8 5  Carl Brisch: Geschichte der Juden in Cöln und Umgebung aus ältester Zeit bis auf die Gegenwart, Mülheim am Rhein 1879, S. 160–161; Asaria, Juden (Anm. 3), S. 202–203; Kirsten Serup-Bilfeldt: Zwischen Dom und Davidstern. Jüdisches Leben in Köln von den Anfängen bis heute, Köln 2001, S. 76. 6 Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Im Auftrage der Stadt Köln hg. v. Konrad Schilling, 3 Bde., Köln 1963; Juden in Köln von der Römerzeit bis ins 20. Jahrhundert: Foto-Dokumentation, hg. v. Liesel Franzheim und Jutta Bohnke-Kollwitz, Köln 1984. 7  [Abraham Frank:] Rabbiner Dr. Frank-Coeln. In: Ost und West, Jg. 7 (1907), Nr. 3, Sp. 211–214; David Leimdörfer: Rabbiner Dr. Abraham Frank. Zu seinem fünfzigjährigen Amtsjubiläum, in: AZJ, Jg. 81, Nr. 36 (7.9.1917), S. 421–422; Ders.: Rabbiner Dr. Abraham Salomon Frank, in: Ost und West, Jg. 17 (1917), Nr. 11–12, Sp. 563–566; Ders.: Nachruf, in: Gedenkblätter zur Erinnerung an den am 11. Nov. 1917 (27. Cheschwan 5678) im 79. Lebensjahre aus dem Leben geschiedenen Rabbiner der Synagogengemeinde Cöln Herrn Dr. phil. Abraham Salomon Frank, hg. auf Veranlassung d. Vorstandes d. Synagogengemeinde Cöln, Köln o. J. [1918], S. 27–30; [Philipp Amsel:] Nachrichten aus Köln, in: Israelitisches Gemeindeblatt, Jg. 30, Nr. 46 (16.11.1917), S. 4–5; Adolf Kober: Abraham Frank – Köln, in: Jüdisches Jahrbuch für Hessen-Nassau, Berlin 1932–33, S. 17–22. Die Kölnische Zeitung verwies in ihrem kurzen Nachruf auf ihren Artikel zum Amtsjubiläum; siehe [Anon.:] Ein goldenes Berufsjubiläum, in: Kölnische Zeitung, 5.9.1917, Abend-Ausgabe, S. 2; [Anon.:] Rabbiner Dr. Frank, in: Kölnische Zeitung, 12.11.1917, Mittags-Ausgabe, S. 1. 8  Carsten Wilke: Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, 2 Bde, München 2004, Bd. I, S. 315–317; Ulrich S. Soénius/Jürgen Wilhelm (Hg.): Kölner Personen-Lexikon, Köln 2008, S. 163; Wikipedia-Artikel „Abraham Frank (Rabbiner)“, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Frank_(Rabbiner) (Stand: 1.4.2022).

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Abb. 1: Porträt Abraham Franks mit den beiden preußischen Orden (aus: Gedenkblätter [Anm. 7]).

Im vorliegenden Aufsatz sollen Franks Persönlichkeit und Wirken aus einer neuen Perspektive gewürdigt werden. Als Angehöriger jenes liberalen Konservatismus, der für die Schüler des Breslauer Rabbinerseminars typisch war, brachte er die Vitalität und Langlebigkeit auf, um den religiös-dogmatischen und nationalistischen Frontziehungen moderner Massenpolitik zu widerstehen. Mit seinem Beharren auf den weltbürgerlichen Aufklärungsidealen war er im jüdischen Umfeld um eine deutsch-französische Verständigung bemüht, die aus damaliger Perspektive unzeitgemäßer scheinen mochte als aus der heutigen.

Zwei preußische Orden Sowohl die erwähnten Gedenkblätter, die während des Ersten Weltkriegs erschienen, als auch Kobers Aufsatz aus der Zeit der Weimarer Republik sind mit Franks Porträt illustriert. Es handelt sich um dieselbe Fotografie, doch nur die erstere Veröffentlichung zeigt auf Franks Brust die beiden preußischen Orden, die er in Anerkennung seines Lebenswerks erhalten hat (Abb. 1). Entweder hat der Herausgeber von 1918 diese monarchischen Auszeichnungen hineinmontiert oder jener von 1932 hat sie abgeschnitten; jedenfalls handelt es sich bei den abgebildeten Orden rechts um das Königliche Kronen-Orden

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Kreuz 3. Klasse und links um den Rote-Adler-Orden 4. Klasse. Letzterer war der angesehenere der beiden; ihn trugen in Köln zum Beispiel Alfred Neven DuMont (d. Ä.) und Konrad Adenauer. Neven DuMonts Kölnische Zeitung brachte am 30. Januar 1907 eine M ­ eldung über die Ordensverleihung an den in weitesten Kreisen der Stadt bekannten und geschätzten Ersten Rabbiner der hiesigen Synagogengemeinde.9 Wörtlich heißt es im Verleihungsschreiben, die Auszeichnung ergehe als An­er­kennung für patriotisches Wirken und stets betätigte Vaterlandsliebe, für Ausübung der Seelsorge und das stete Bemühen, Verträglichkeit und Harmonie unter den verschiedenen Konfessionen zu fördern. Das wissen wir aus dem erwähnten anonymen biographischen Aufsatz, der in der Berliner jüdischen Zeitschrift Ost und West erschien.10 Aus Gründen, die ich noch ausführen werde, waren die Berliner Herausgeber des Blattes dem Kölner Rabbiner feindlich gesonnen, und als Frank sich diese Laudatio erstritt, musste er sie selbst verfassen.11 Diese Anekdote belegt Franks Teilnahme am wilhelminischen Patriotismus und zeigt zugleich, wie sehr der Rabbiner auf sein öffentliches Image bedacht war. Was die Ordensehrung von 1907 allerdings nicht erwähnt, war seine internationale Tätigkeit, die er innerhalb der ersten jüdischen Weltorganisation entfaltete: der Alliance Israélite Universelle [im Folgenden: „Alliance“], die in Paris ihr Hauptquartier hatte und bis heute hat. 1860 gegründet, koordinierte die Alliance ein weltweites jüdisches Solidaritätsnetzwerk, das benachteiligten Juden in aller Welt helfen wollte, gleichberechtigte Bürger ihrer Heimatländer zu werden. Mittel waren eine koordinierte politische Interessenvertretung, ein Netz von 150 Volksschulen im Mittelmeerraum und gezielte Informationsarbeit, um antisemitische Lügen zu widerlegen.12 Frank war ein begeisterter Aktivist der Alliance, deren oberstem Gremium, dem Zentralkomitee, er zeit seines Kölner Wirkens angehörte. Diese jüdische Weltvertretung baute besonders auf eine Zusammenarbeit zwischen den französischen Mitgliedern, welche die Zentrale besetzten, und den deutschen, welche die größte Mitgliedergruppe stellten.13 So schrieb Frank am Tag nach der Ordensverleihung hocherfreut an seine französischen Freunde nach Paris:   9 Zeitungsausschnitt, mitgeteilt von Abraham Frank an Jacques Bigart, 30.1.1907. Archives de l’Alliance Israélite Universelle [im Folgenden: „AAIU“], Archives Historiques [im Folgenden: „AH“] Allemagne VII B 47. 10 [Frank,] Frank-Coeln (Anm. 7), Sp. 212. 11 Frank an Bigart, 1.7.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. 12  Carsten Wilke: Art.: „Alliance Israélite Universelle“, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, hg. v. Dan Diner, Stuttgart 2011, Bd. I, S. 42–50, mit Hinweisen auf weitere Literatur. 13  Carsten Wilke: Das deutsch-französische Netzwerk der Alliance Israélite Universelle, 1860–1914. Eine kosmopolitische Utopie im Zeitalter der Nationalismen, in: Frankfurter

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Am Sonntag, am 27. Jan. hat unser Kaiser seinen Geburtstag gefeiert und an diesem Tage hat Seine Majestät mir den Roten-Adler-Orden IV verliehen. Der Orden ist mir gestern vom hiesigen Polizeipräsidenten in einer feierli­ chen Ansprache, in welcher besonders mein Patriotismus und meine unter den verschiedenen Confessionen friedenstiftende seelsorgerliche Tätigkeit hervorgehoben wurde, überreicht worden. Ich bin überzeugt, daß Sie alle an dieser Auszeichnung Ihre Freude haben.14 Und tatsächlich erhielt Frank vom Präsidenten der Alliance aus Paris ein herzliches Gratulationsschreiben zu seinem Orden.15 Die Franzosen planten auch ein Arbeitstreffen mit dem Kölner Rabbiner, das dieser wegen der Feiern zu Kaisers Geburtstag auf den Karnevalssonntag verschob, um auf jeden Fall von Gemeindepflichten frei zu sein.16 Zu einer sehr problematischen Zeit der deutsch-französischen Beziehungen standen Juden beider Nationen nicht nur in einem regen Austausch miteinander, sondern sie vermochten auch die nationale Integration im jeweiligen Kontext miteinander zu teilen. Rabbiner Frank feierte den Kaisergeburtstag jeden 27. Januar in der Synagoge17; einige seiner französischen Freunde kandidierten derweil zu demokratischen Wahlen im Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.18 Eingebunden in unterschiedliche Systeme und Ideologien, synchronisierten die Mitglieder des jüdischen Weltbundes ihre monarchischen, republikanischen und karnevalistischen Kalender, ja sie ermutigten einander ausdrücklich, am jeweiligen Gemeinwesen und seinem Vaterlandskult teilzunehmen. Über die patriotische Begeisterung der deutschen Juden im Kaiserreich ist viel geschrieben worden19, aber an diesem Beispiel ist auch zu erkennen, dass Teile des deutschen und insbesondere rheinischen Judentums gar nicht so national borniert waren, wie das Klischee des „Deutschen mosaischer Konfession“ judaistische Beiträge 34 (2007/08), S. 173–199. 14 Frank an Bigart, 30.1.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47. 15 Frank an Bigart, 11.2.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47, mit Franks Dank für dieses Dokument. 16 Frank an Bigart, 14.1.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47: Am 27. Jan. fällt der Geburts­ tag des Deutschen Kaisers, wir feiern ihn hier in der Gemeinde am Tage vorher, am Sams­ tag 26 in der Synagoge; ibid., 17.1.1907: ich schlage Ihnen daher den 10. Febr. vor, da ist hier Carneval und werden wohl keine Verhinderungsfälle eintreten. 17 AZJ, Jg. 76, Heft 32 (9.8.1912), S. 374. 18 Moritz Landsberg an Adolphe Crémieux, 23.11.1869. AAIU AH Pologne III B, gratuliert dieser schlesische Rabbiner dem Alliance-Präsidenten zum Einzug ins französische Parlament nach seiner Wahl als Deputirter von Paris, wovon die Zeitungen heute melden. 19 Siehe als klassische Studie Jehuda Reinharz: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew, 1893–1914, Ann Arbor 1975.

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es haben will. Die Gleichstellung der Juden in den europäischen Staaten war nur um den Preis einer kulturellen Anpassung an die Mehrheit möglich gewesen: Wer Jude bleiben wollten, musste verschiedene Zugehörigkeitsebenen miteinander in Harmonie bringen; und diese Erfahrung einer BindestrichIdentität praktizierten viele Alliance-Mitglieder auch im kontinentalen und universalen Rahmen. Mit Rabbiner Frank treffen wir eine Führungspersönlichkeit des rheinischen Judentums, die weitgehend konfliktlos Niederländer, Deutscher, Jude und Europäer nebeneinander sein konnte. Franks Fall lädt ein, zurückzuschauen auf eine jüdische Praxis transnationaler Offenheit, die im wilhelminischen Deutschland einen bewussten Gegenentwurf zur konfrontativen Form von Patriotismus darstellt. Die Tragik dieses Unterfangens liegt auf der Hand: Nur ein Dreivierteljahrzehnt nach Franks Orden, mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, brach die internationale Zusammenarbeit in der Alliance für immer zusammen. Im Rückblick von heute ist es nicht einfach, das deutsch-jüdische Europäertum des Fin de Siècle zu verstehen20, aber der Fall Rabbiner Franks bietet eine gute Gelegenheit dazu. Das Archiv der Alliance in Paris bewahrt drei umfangreiche Archivbündel mit Briefen, Postkarten und Telegrammen, die Frank von Köln an die Zentrale in Paris geschickt hat, in aller Regel an den Sekretär Jacques Bigart, einen Elsässer, der mit ihm auf Deutsch korrespondierte, wie aus den erhaltenen Antwortkonzepten hervorgeht.21 Frank ging ganz in dieser Zusammenarbeit auf und schrieb oft mehrere lange Briefe pro Woche über vielfältige Angelegenheiten der weltweiten jüdischen Wohltätigkeit und Nothilfe.22 In den Vordergrund des Briefwechsels drängte sich allerdings immer mehr die Frage, wie eine jüdische Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und anderen Ländern überhaupt möglich und in der Praxis zu organisieren sei. Ein schwerer Streit über dieses Thema erschütterte seit der Jahrhundertwende die deutsch-französischen Beziehungen innerhalb der Alliance, als die Mitglieder in Berlin gegen die zentralistische Leitung in Paris aufbegehrten

20 Die jüdische Beziehung zu Europa ist verschiedentlich erforscht worden, namentlich von Jehuda Reinharz/Yaacov Shavit: Glorious, Accursed Europe. An Essay on Jewish Ambivalence, Hanover/London 2010. Siehe auch die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee.“ Ausstellung im Volkskundemuseum Wien, 21.1.–18.04.2022, URL: https://www.volkskundemuseum.at/dieletzteneuropaeer (Stand. 1.4.2022). 21  Eugène C. Black: Jacques Bigart, le maître d’oeuvre de l’Alliance israélite universelle (1853–1934), in: André Kaspi (Hg.): Histoire de l’Alliance israélite universelle. De 1860 à nos jours, Paris 2010, S. 92–94. 22 AAIU, AH, Allemagne, VI B 46 enthält die Korrespondenz der Jahre 1876–1893, VII B 47 die der Jahre 1893–1906, und VIII B 48 die der Jahre 1906–1914.

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und einen autonomen deutschen Landesverband anstrebten.23 Es ist erstaunlich, wie das rheinisch-jüdische Bürgertum sich in dieser Auseinandersetzung positionierte. Frank nämlich, von seinem Ortskomitee unterstützt, stemmte sich mit aller Macht gegen die deutschen Sezessionsbestrebungen und hielt am ursprünglichen Ideal des jüdischen Weltbundes als einer einheitlichen und universalen Organisation fest. Sein Widerstand gegen die preußisch-jüdischen Ambitionen entfachte einen Streit zwischen Berlin und Köln, in dem es immer wieder der Pariser Zentrale zufiel, zur Besonnenheit zu mahnen und Kompromisse zu vermitteln. Diese Dreiecksbeziehung innerjüdischer Europapolitik ist detailreich dokumentiert in Franks Briefen, die nur durch ein Wunder erhalten geblieben sind. Da die Alliance den deutschen Nationalsozialisten als Zentrum der „jüdischen Weltverschwörung“ galt, wurde ihr Archiv gleich nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris 1940 geplündert und an das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ nach Frankfurt geschickt. NS-Propagandisten sichteten die Akten; und da sie nichts in ihrem Interesse Verwertbares fanden, gaben sie sie zur Vernichtung frei. Die Archive wurden aber mit anderer NS-Beute in hessische Depots ausgelagert, dort von amerikanischen Truppen entdeckt und durch Vermittlung des französischen Großrabbiners schon 1946 nach Paris restituiert.24 Sie sind heute der Öffentlichkeit zugänglich und erlauben, eine europäische Geschichte zu erzählen, in deren Zentrum der Kölner Rabbiner steht.

Ein Niederländer vom Breslauer Seminar Wer war Abraham Frank und welchem der zahlreichen Berufsbilder entsprach er als Rabbiner? In der Vormoderne stand die Überwachung der talmudischen Ritual- und Rechtsordnung im Zentrum der Rabbinerpflichten. Im napoleonischen Frankreich wurde der Rabbiner zum Staatsbeamten mit Sitz im Konsistorium. Im Süddeutschland der Restaurationszeit wurde der Beruf zuerst als der eines Geistlichen definiert, der im Talar von der Synagogenkanzel predigte, Religionsunterricht gab und seiner Gemeinde seelsorgerlich beistand. Wenig später, von Preußen ausgehend, erschien der Rabbiner als akademischer Wissenschaftler, der den Doktortitel führte und gelehrte Schriften und Vorträge zu jüdischen, mitunter auch orientalistischen und philosophischen Themen ver-

23 Über die hier ansetzenden Kämpfe s. Wilke, Netzwerk (Anm. 13), S. 193–196; Kaspi (Hg.), Histoire (Anm. 21), S. 59–62. 24  Jean-Claude Kuperminc: La Reconstruction de la bibliothèque de l’Alliance israélite universelle, 1945–1955, in: Archives Juives 34 (2001), S. 98–113.; Jean Laloum: Les Locaux de l’AIU sous l’Occupation, in: Kaspi (Hg.), Histoire (Anm. 21), S. 305–308.

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fasste. Eine spätere, besonders in Amerika wirksame Entwicklung gab dem Rabbiner vor allem soziale Aufgaben in Wohltätigkeit und Jugendarbeit. Abraham Frank war etwas von alldem, doch fand er auch einen eigenen Idealtyp: Er war ein Politiker, der sich mit der Planung und Finanzierung großer und kleiner Projekte zum Wohl der Gemeinde beschäftigte, der mit Gruppen innerhalb und außerhalb der Gemeinde diplomatisch verhandelte, der repräsentativ im öffentlichen Leben stand, sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Im Geist des 19. Jahrhunderts fand Politik vor allem in Korrespondenz und vertraulichen Treffen am Ort und im In- und Ausland statt. Frank war im regelmäßigen Kontakt mit dem Kardinal-Erzbischof von Köln, mit der Elite des deutschen Judentums in Berlin, er hatte Adolphe Crémieux, den langjährigen Präsidenten der Alliance, in Paris getroffen und diskutierte auch mit jüdischen Gemeindevertretern anderswo, innerhalb der Alliance etwa mit Simone Ravenna in Ferrara oder mit Isaac Fernandez in Konstantinopel.25 Schon Leimdörfers Nachruf hebt hervor, dass Frank durch seine europäische Biographie zu einer solchen Mittlertätigkeit vorbereitet war. Israel trauert um den Verlust eines weithin bekannten geistlichen Patriarchen, dessen Wiege in Holland gestanden, dessen Schule in Deutschland und dessen Arbeitsfeld und Wirkungsstätte in Oesterreich und Deutschland für die Gesamtjudenheit der Welt gewesen ist.26 Franks familiäre Ursprünge im alten niederrheinischen Landjudentum nehmen seine Grenzüberschreitungen in mancher Hinsicht vorweg. Mit der Frankfurter Familie von Anne Frank war er nicht verwandt; vielmehr stammten seine väterlichen Vorfahren aus dem kleinen Burgort s’Heerenberg in Gelderland, der unmittelbar an der deutsch-niederländischen Grenze liegt, nur fünf Kilometer von Emmerich und dem Rhein entfernt. Juden lebten hier seit dem Mittelalter in Unterschichtverhältnissen; im Grenzgebiet hauste Anfang des 18. Jahrhunderts auch eine jüdische Räuberbande. Auf dem Jüdischen Friedhof des Ortes, der schon 1560 erwähnt wird, liegen Rabbiner Franks Vorfahren begraben. Sein Großvater Nathan (1758–1832) war Schächter in s’Heerenberg, seine Großmutter väterlicherseits, Roosje geb. Pach (1771–1861), stammte aus Arnheim.27 Als das Paar 1797 vor den Standesbeamten der Batavischen Republik trat, sie 16 und er 29, waren sie unter den ersten jüdischen Brautleuten des rechtsrheinischen Europas, die als gleichberechtigte Staatsbürger ihre Familie gründeten. Roosje erreichte ein Alter von 25 Bigart an Frank, 5.9.1893. AAIU AH Allemagne VI B 46. 26  Leimdörfer, Rabbiner Dr. Abraham Salomon Frank (Anm. 7), Sp. 563. 27 Art.: „Joodse gemeenschap in ‘s-Heerenberg“, in: Berghapedia. Encyclopedie van het land van Bergh, Kollektivartikel 2007 ff., URL: https://www.berghapedia.nl/index.php/ Joodse_gemeenschap_in_%27s-Heerenberg (Stand: 1.4.2022).

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90 Jahren; sie zog einige Zeit nach ihrer Verwitwung, 1844, über die Grenze nach Emmerich, wohl zu einem ihrer sieben Kinder.28 Unter diesen war Salomon Frank (1799–1864), der Vater unseres Rabbiners, welcher dessen Namen nach aschkenasischer Art als Zweitnamen benutzte. Salomon Frank war kurzzeitig als Lehrer und Kantor in Oud-Beijerland ansässig, einem Städtchen südlich von Rotterdam, wo er Johanna Behr (1797–1849) heiratete, Rabbiner Franks Mutter, eine Tochter von Henoch Behr Melchspeiser und Schoontje Wolf. Abraham Frank wurde in Oud-Beijerland geboren, und zwar am 22. Februar 183829 und nicht 1839, wie oft angegeben.30 Seine Mutter starb, als er elf Jahre alt war, und der Vater kehrte mit den beiden Söhnen ins Gelderland zurück. Er ließ sich in Arnheim nieder und führte dort mit seiner zweiten Frau Lena Stibbe eine Gastwirtschaft. Der ältere Sohn Nathan Frank (1837– 1893) wurde Seidenmaler, der jüngere, unser Abraham, besuchte in Arnheim das Gymnasium. Man kann vermuten, dass die beiden von ihrer Mutter verwaisten Jungen oft bei ihrer Großmutter Roosje im nahen Emmerich gewesen sind, so dass es nicht überrascht, dass Abraham das Deutsche perfekt beherrschte und zum Studium nach Preußen zog. Für Frank, den Enkel eines Schächters und Sohn eines Lehrers, lag es nahe, nach der Rabbinerwürde zu streben. Als er 1858 das Abitur ablegte, hatte das Lehrhaus in Amsterdam einen schlechten Ruf31, während eine Privatstiftung in Breslau kurz zuvor die erste Seminarinstitution für eine akademisch-wissenschaftliche Rabbinerausbildung geschaffen hatte. Frank wurde dort Seminarschüler für die üblichen neun Jahre.32 Parallel zum Seminarunterricht absolvierte Frank von 1860 bis 1863 auch das philosophische Triennium an der Königlichen Universität zu Breslau und erwarb sodann den Doktorgrad an der Universität Leipzig, vermutlich mit einer Prüfung ohne förmliche Dissertation.33 Der Direktor des Jüdisch-Theologischen Seminars, Zacharias Frankel, betreute ihn bis zum Rabbinatsdiplom; er war von Franks hebräischem Stil so angetan, dass er sich seine Briefe von ihm formulieren ließ.34 Frank ist aller28 Art.: „Pach, Roosa Mozes“, in: Berghapedia (Anm. 27), Kollektivartikel 2016 ff., URL: https://www.berghapedia.nl/index.php?title=Pach,_Roosa_Mozes (Stand: 1.4.2022). 29 Abraham Franks Geburtsurkunde ist wiedergegeben in der genealogischen Datenbank openarchives, URL: https://www.openarch.nl/rzh:e56500d3–6a45–4cff-8995–381509a5c f8d (Stand: 1.4.2022). 30 So Leimdörfer, Rabbiner Dr. Abraham Salomon Frank (Anm. 7), Sp. 563. 31 Carsten Wilke: „Den Talmud und den Kant.“ Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne (Netiva 4), Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 396–400. 32 Markus Brann (Hg.): Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum 50. Jubiläum der Anstalt, Breslau 1904, S. 157. 33 Universitätsarchiv Leipzig, Pro-Cancellar-Buch der Philosophischen Fakultät, B 128a, S. 223, Promotionseintrag; keine Dissertation erwähnt. 34 [Frank,] Frank-Coeln (Anm. 7), Sp. 212.

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dings kaum jemals mit wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetreten, obwohl seine Rezensionen in der Monatsschrift des Seminars von profunder Sprachund Sachkenntnis zeugen. Diese wenigen wissenschaftlichen Publikationen zeigen auch insofern eine gewisse Originalität, als der Niederländer völlig immun schien gegen den kulturellen Minderwertigkeitskomplex der damaligen deutsch-jüdischen Gelehrten, welche die arabisch-jüdische Literatur des mittelalterlichen Spanien verherrlichten.35 Frank vertrat demgegenüber die Ansicht, dass die aschkenasische Tradition den Geist der biblischen Quellen viel verlässlicher erfasst habe als die gepriesenen sephardischen Rationalisten.36 Später hütete er ein Objekt, das diese vom Mittelalter in die Moderne reichende Tradition symbolisierte: die prächtige Haggada der Familie van Geldern, aus der Heinrich Heine in seiner Kindheit die Festgebete gehört haben soll.37 Während seines Studiums verlor Frank den Vater38, konnte aber bis zum Diplom weiterstudieren und im September 1867 seine erste Stelle antreten, die er in Saaz (tschechisch Žatec) im Sudetenland fand. Im Juni 1868 heiratete er Therese Block, mit der er, wie es im Nachruf heißen sollte, ein fast fünfzigjäh­ riges glückliches Eheleben führen sollte.39 Das Brautpaar aus der Donaumonarchie unternahm seine Hochzeitsreise nach Berlin: Zwei Jahre nach der Schlacht bei Königgrätz war dies eine durchaus originelle Wahl.40 Als Rabbiner war Frank ein Pionier in Saaz, wo sich Juden erst seit wenigen Jahren ansiedeln durften. Er organisierte die Finanzierung und den Bau einer ansehnlichen Synagoge, der damals zweitgrößten in Böhmen, und weihte sie am 18. März 1872 ein.41 Noch im selben Jahr wechselte er auf eine bessere Stelle in der Donaumonarchie, nach Linz, wo ebenfalls Juden erst seit wenigen Jahren geduldet waren. Dort war er auch für Salzburg zuständig, das noch bis 1867 35  John M. Efron: German Jewry and the Allure of the Sephardic, Princeton 2016. 36  Abraham Frank: Rezensionen, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums [im Folgenden: MGWJ], Jg. 16 (1867), Nr. 7, S. 272–279 u. Nr. 8, S. 316–318, hier S. 272. 37  Gustav Karpeles: Der Rabbi von Bacharach. Zur Charakteristik Heines, IX, in: AZJ, Jg. 70, Heft 36 (7.9.1906), S. 430; Jakob Hessing: Das Heil auf den Kopf gestellt. Heinrich Heine und die Pessach-Haggadah seines Urgroßvaters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1997. 38 Siehe die Wiedergabe der Sterbeurkunde in der genealogischen Datenbank openarchives, URL: https://www.openarch.nl/gld:03FDA2D6-C1C0–4CB2-A090-B22893569B88 (Stand: 1.4.2022). 39 Gedenkblätter (Anm. 7), S. 9. 40  Abraham Frank: Eine Erinnerung an Berthold Auerbach, in: AZJ, Jg. 73, Nr. 30 (23.7.1909), S. 355–356, hier S. 355. 41  Abraham Frank: Rede zur Einweihungsfeier des neuen israelitischen Tempels in Saaz, Žatec 1872; s. die Internetseite „Die Juden von Saaz“, betrieben vom Förderverein der Stadt Saaz/Žatec e. V., URL: https://www.zatec-zide.eu/ (Stand: 1.4.2022).

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ein Ansiedlungsverbot durchgesetzt hatte. Frank musste die Juden bei den oft ablehnenden Autoritäten vertreten, doch er war der richtige Mann dafür. In einem Land aufgewachsen, wo Juden schon lange gleichberechtigt waren, konnte er gebildet und diplomatisch, und zugleich vornehm und selbstbewusst auf Nichtjuden zugehen. Am 2. Dezember 1873 hielt er in Linz eine Rede zum 25. Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph, in der er ihm für die Freiheiten der neuen Zeitepoche dankte.42

Kölner Rabbineraufgaben In Köln, wo auch fast 400 Jahre keine Juden leben durften, erwartete Frank eine ähnliche Aufbauaufgabe; aber er hat sicherlich zusätzliche regionalpatriotische Beweggründe gehabt, sich auf eine Stelle zu bewerben, die so nah an seiner Heimat lag. Die aufstrebende Gemeinde mit ihren Handels- und Bankhäusern war reich und konnte ihm manches bieten, zum Beispiel eine vornehme Amtswohnung am Friesenplatz mit Blick auf die soeben fertiggestellten Domtürme.43 Frank wusste sehr wohl, dass das jüdische Köln auch viel soziales und kulturelles Konfliktpotenzial barg. Dem Großbürgertum der Familien Oppenheim, Herstatt und Tietz standen eine breite Unterschicht und eine beträchtliche ostjüdische Migrantenbevölkerung gegenüber.44 Insbesondere war die Gemeinde von der Spaltung zwischen Reformern und Orthodoxen bedroht. Frank kam vom Breslauer Seminar mit seiner systematisch vermittelnden Richtung; und wie sein Nachfolger Kober überliefert, hat er sich gleich bei seiner Bewerbung als integrative Führungspersönlichkeit angeboten. Der Führer der Gesamtheit, so sagte er in seiner Gastpredigt in Köln, vermittle die Einheit, die Zusammengehörigkeit des Volkes, und ebenso reiche Israels Lehrer der Gegenwart die eine Hand den einen und die andere den andern und führe sie hinauf auf die Bahn, die zu Gott hinaufleitet.45 Frank wurde mit großer Mehrheit gewählt, gegen den Protest der Orthodoxen, die einen entschiedeneren Parteigänger ihrer Richtung vorgezogen hätten.46 42 Abraham Frank: Zwei patriotische Reden zum Vermählungsfeste Ihrer kaiserl. Hoheit der durchlauchtigsten Frau Erzherzogin Gisela […] und zum 25jährigen RegierungsJubiläum Seiner kaiserl. und königl. Apostolischen Majestät Franz Joseph I. am 2. Dezember 1873, Linz 1873. 43 43 Nach den Angaben auf seinem Briefpapier wohnte Frank dort im ersten Stock des Hauses Hohenzollernring 59. 1906 zog er in eine Amtswohnung am Königsplatz 24, dem heutigen Rathenauplatz. 44 Zur Gemeindegeschichte im 19. Jahrhundert siehe Shulamit S. Magnus: Jewish Emancipation in a German City: Cologne, 1798–1871 (Stanford Studies in Jewish History and Culture), Stanford 1997. 45 Zit. nach Kober, Abraham Frank – Köln (Anm. 7), S. 19. 46 AZJ 1875, Heft 47 (16.11.1875), S. 757.

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Während sich die Gemeinden in Berlin und Frankfurt längst gespalten hatten, hielt die Kölner Gemeinde noch über ein Vierteljahrhundert zusammen; und das war sicherlich auch das Verdienst ihres Rabbiners, der Mitglieder jeglicher Couleur in das Gemeindeleben einband. „Ein frei gesinnter Mann hat er sich gleichwohl stets konservativ geführt“, schreibt der Kölner Rabbiner Adolf Kober über seinen Vorgänger. Sollte man Frank ideologisch einordnen, müsste man mit dem Historiker Johannes Wachten zu dem Schluss kommen, dass er ein „konservativer Reformer oder gemäßigter Konservativer“ war.47 Sein Mittelwegsideal leitet sich zum Teil aus der Breslauer Schule ab, die in ihrer Religionspraxis traditionell, in ihrer Haltung zu Wissenschaft, Kunst und Meinungsvielfalt jedoch sehr offen war. Auch die niederländische Tradition der Glaubensfreiheit mochte Frank verinnerlicht haben, wenn er religiöse Überzeugungen sogar da respektierte, wo sie den seinigen völlig widersprachen. Deutlich wird dies hinsichtlich des Rechtsanwalts Max Isidor Bodenheimer, der quasi Franks Nachbar war.48 Wie Bodenheimers Tochter, die Lehrerin Henriette Bodenheimer, überliefert, wollte ihr Vater den Rabbiner für „den Gedanken einer nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes in Palästina“ gewinnen, kaum dass 1891 die Bezeichnung „Zionismus“ für dieses Vorhaben erfunden worden war. Frank lehnte den Zionismus zwar entschieden ab, empfing Bodenheimer jedoch freundlich in seiner Wohnung und lud ihn dazu ein, in seinem neuen „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ einen Vortrag zu halten.49 Bodenheimer kam der Einladung 1892 oder 1893 nach, indem er mit viel nationalem Pathos über die Makkabäer sprach.50 Nach diesem ersten Auftritt dauerte es nur wenige Jahre, bis Bodenheimer zum Organisator einer „National-jüdischen Vereinigung“ und Köln (in den Worten von Theodor Herzl) zum Hauptort des deutschen Zionismus wurde.51 Frank bedauerte dies in einem vertraulichen Brief nach Paris: Hier in Köln ist der Hauptherd des Zionismus in Deutschland; der Herr Bankdirektor Wolfsohn [!] u. der Wühler und Lärmmacher Bodenheimer wohnen hier.52 Aus den Erinnerungen von

47  Kober, Abraham Frank – Köln (Anm. 7), S. 19; Johannes Wachten: David Wolffsohn und die Kölner Judenschaft, in: Bohnke-Kollwitz u. a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum (Anm. 3), S. 300–307, hier S. 301. 48 Bodenheimer gründete seine zionistische Vereinigung in seiner Wohnung am Hohenzollernring 18, von wo er um 1900 in die Richmodstraße 6 umzog; s. Juden in Köln (Anm. 6), S. 230. 49 Henriette H. Bodenheimer (Hg.): So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Erinnerungen von Dr. M. I. Bodenheimer, Frankfurt am Main 1958, S. 305– 306. 50  Wachten, David Wolffsohn (Anm. 47), S. 302. 51 Zit. nach Juden in Köln (Anm. 6), S. 229. 52 Frank an Bigart, 18.5.1902. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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Henriette Bodenheimer stammt eine Notiz über Franks Persönlichkeit und Privatleben. Dr. Frank soll ein ausgezeichneter Kanzelredner gewesen sein, der in der Kölner Gemeinde einen großen Anhang hatte und freundschaftliche Bezie­ hungen zum hohen katholischen Klerus pflegte. Dabei haben wir uns eine stattliche Erscheinung und eine aufrechte Persönlichkeit vorzustellen. Trotz seiner aus diesen Zeilen hervorgehenden beherrschenden Stellung in der Kölner Gemeinde pflegte mein Vater immer lächelnd hinzuzufügen, daß die eigentliche Herrscherin die Frau Rabbiner gewesen sei. Dies kam durch eine seinerzeit in Köln übliche Bauweise, bei der ein Kachelofen zwei Zimmer zu beheizen hatte, und man wußte, daß der Lieblingsplatz der Frau Rabbiner an der anderen Seite des Kachelofens neben dem Arbeitszimmer ihres Man­ nes war. Von diesem stillen Winkel aus konnte die Frau alle interessanten Gedankenfäden auffangen. Sie soll sie stets als echte Rabbinerin zu gutem Garn gesponnen haben.53 Dass Therese Frank auch die Heine-Begeisterung ihres Ehemanns geteilt hat, verrät der Name des gemeinsamen Sohnes Heinrich, genannt Heinz (1880– 1943), der wie sein Vorbild Rechtsanwalt wurde. Was die Rabbinerin ansonsten durch den Ofen mithörte, waren meist nicht talmudische oder hebraistische Themen. Köln war keine Universitätsstadt und erwartete von seinem Rabbiner anderes als wissenschaftliche Forschung. Hier, so sollte sein Amtskollege Salomon Samuel rühmen, ist Rabbiner Frank zum Symbol des praktischen Seelsor­ gers in einer modernen Großstadtgemeinde geworden, der wie kaum ein ande­ rer die Bedürfnisse der Zeit erkannte, die alten Aufgaben des Judentums pflegte, ihm aber auch unendlich viel Neuland eroberte.54 Frank hat den Bau der Synagoge in der Roonstraße initiiert und bei deren Einweihung am 22. März 1899 mitgewirkt.55 Er weihte 24 weitere rheinischwestfälische Synagogen ein, wobei die Einweihungsfeier am 10. September 1886 in Lechenich (heute Erftstadt) besonders ansprechend von einem Grafiker als Bilderbogen gestaltet wurde. Er schrieb über gesellschaftliche Themen wie Antisemitismus, Zionismus und die Manie, sich zu duellieren. Frank war aktiv im Rheinisch-Westfälischen Rabbinerverband und im Allgemeinen Rabbinerverband Deutschlands. Wiewohl er selbst nicht als Wissenschaftler hervortrat, leitete er den eben erwähnten Kölner Verein für jüdische Geschichte 53 Bodenheimer, So wurde Israel (Anm. 49), S. 305. 54 Gedenkblätter (Anm. 7), S. 18. 55 Festprogramm zur Einweihungsfeier der neuen Synagoge in Köln am 22. März 1899, Köln 1899 (Exemplar in der Universitätsbibliothek Köln).

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und Literatur; er war auch lange Zeit neben seinem Freund Gustav Karpeles stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland. Gerade weil er gemeindlich mehr als wissenschaftlich in Erscheinung trat, war Frank derjenige Rabbiner des 19. Jahrhunderts, der die meisten unabhängigen Publikationen verfasste. Er begann nämlich schon bald nach seinem Amtsantritt, seine Grabreden in vier- bis zwölfseitigen Broschüren drucken zu lassen, so dass Hinterbliebene und Trauergäste eine tröstende Lektüre in die Hand bekamen. Der Rabbiner arbeitete dazu mit einem jüdischen Druckunternehmer zusammen, Moritz Kohn, der am Mauritiuswall 23 sein Geschäft hatte56; für anspruchsvolle Kunden wurde auch bei DuMont-Schauberg gedruckt. Dieses Angebot war unter den Kölner jüdischen Familien sehr beliebt; und Rabbiner Frank hat im Laufe seines Lebens Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher Heftchen drucken lassen. Sie waren zum Gebrauch bestimmt und sind heute kaum mehr zu finden; nur die Nationalbibliothek in Jerusalem besitzt eine Anzahl von ihnen, die zusammen ein soziales Panorama des Kölner jüdischen Bürgertums während seiner Glanzperiode liefern.57 Bei aller Anpassung an die Rituale der Bourgeoisie verschrieb sich Frank mit ebenso großem Nachdruck dem Anspruch der Zeit, die Lebensverhältnisse der Unterschichten zu verbessern. Innerhalb der jüdischen Gemeinde hatte er sich vor allem auch als Sozialpolitiker betätigt. Kurz nach der Synagogenweihe, am 23. Juli 1899, eröffnete er das Israelitische Lehrlingsheim. Sein ambitioniertes persönliches Projekt war das Israelitische Waisenhaus. Er sammelte für dessen Finanzierung seit 1878 und konnte es endlich am 19. September 1910 in Braunsfeld, Aachener Str. 443, eröffnen, der Leitung seiner Frau anvertraut. Die selbstgeschriebene Laudatio in Ost und West bezeichnet diese Institution als ganz und gar sein Werk, und Kober bestätigt: „Pfennig auf Pfennig wurde von ihm gesammelt, Stein auf Stein wurde von ihm herbeigetragen“. Am Ende seines Lebens verfolgte Frank außerdem das Projekt, ein Heim für gefährdete jüdische Mädchen zu gründen.58 In Franks Sicht war Sozialpolitik eine überkonfessionelle Aufgabe, für die er die Zusammenarbeit mit anderen Persönlichkeiten des Kölner öffentlichen Lebens suchte. So war er Mitbegründer des „Cölner Vereins für entlassene 56 Greven’s Adreßbuch für Köln […], 31. Jg., Köln 1885, S. 106; ibid., 49. Jg., 1903, S. 312; s. auch die Rechnung von Kohn an Frank, 12.2.1891. AAIU, AH, Allemagne VI B 46. 57 Liste in Wilke, Handbuch der Rabbiner (Anm. 8), Bd. I, S. 315–317. Eine Digitalisierung dieser stadtgeschichtlich aufschlussreichen Quellen wäre wünschenswert. 58 [Frank,] Frank-Coeln (Anm. 7), Sp. 213; Kober, Abraham Frank – Köln (Anm. 7), S. 21; [Philipp Amsel:] Das 50jährige Amtsjubiläum des Kölner Gemeinderabbiners Dr. Frank am 6. Sept. 1917, in: Israelitisches Gemeindeblatt, Jg. 30, Nr. 37 (14.09.1917), S. 6.

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Strafgefangene“, bei dessen Versammlung im großen Gürzenich-Saal am 13. Dezember 1895 er den Vortrag Ueber die Bedeutung der Arbeit bei der Fürsorge für Entlassene hielt. Als Mitglied der städtischen Schuldeputation regte er erfolgreich eine Initiative an, in Volksschulbibliotheken keine Bücher einzustellen, deren Tendenz irgend Herabsetzung oder Verächtlichmachung des Katholizismus, Protestantismus oder Judentums, oder deren Bekenner durchblicken läßt.59 Philipp Amsel, der ebenfalls Niederländer war, lobt die Überzeugungskraft des Rabbiners: Jud’ und Christ lauschten ihm gerne. Jedesmal wenn er bei öffentlichen Gelegenheiten gewissermaßen als Vertreter des Judentums auf­ trat, tat er dies mit großer Würde und nicht geringem Erfolge.60 Dennoch hat Frank instinktiv verstanden, wie in Köln Politik betrieben wurde, nämlich durch persönliche Absprachen quer durch politische Lager. Frank bemühte sich um gute Beziehungen zu den katholischen Wortführern und Würdenträgern bis hin zum Erzbischof Anton Fischer (1902–1912). Als der Antisemitismus aufkam, habe dieser dem Rabbiner bedeutet, er solle ihm sagen, ob ein Geistlicher irgendwo in seiner Diözese gegen die Juden agitiere, denn er werde das nicht dulden.61 Erzbischof Felix von Hartmann stattete bei seinem Amtsantritt 1912 auch dem Rabbiner einen persönlichen Besuch ab, was für Aufmerksamkeit in der Presse sorgte. In gewisser Weise nahm der Kölner Erzbischof die berühmte Geste Papst Johannes Pauls II. vorweg, der 1986 den Oberrabbiner von Rom in der Synagoge besuchte. Dass Rabbiner Franks Verdienste um Verträglichkeit und Harmonie unter den verschiedenen Konfessi­ onen bei der Verleihung des preußischen Ordens hervorgehoben wurden, war also keine leere Floskel, sondern würdigt intensive religionsdiplomatische Bemühungen auf beiden Seiten.

Die Alliance Israélite Universelle Zu dem von Frank erschlossenen Neuland gehörte auch seine unermüdliche internationale Tätigkeit im Rahmen der Alliance Israélite Universelle, die seines Erachtens unstreitig […] das größte Institut des Judentums der Gegenwart darstellte.62 Gerade am Breslauer Rabbinerseminar, wo man den Zusammen59  Abraham Frank: Antisemitische Jugendliteratur, in: AZJ, Jg. 73, Nr. 26 (25.6.1909), S. 305–306, hier S. 306. 60 [Amsel,] Nachrichten (Anm. 7), S. 4. 61 Abraham Frank: Kardinal Dr. Antonius Fischer, Erzbischof von Köln, in: AZJ, Jg. 76, Nr. 32 (9.8.1912), S. 373–374, hier S. 373. 62 Abraham Frank: Die Culturarbeit der Alliance Israélite Universelle, Köln o. D. [1902], S. 1.

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halt der Juden über Parteien und Nationen hinweg zu stärken suchte, empfand man eine starke Verbundenheit mit der Alliance.63 Schon auf einem Absolvententreffen 1868 wurde für den Pariser Weltbund geworben, welcher auch im Gegenzug Seminardirektor Frankel als erstes deutsches Mitglied in sein Zentralkomitee berief.64 Um Franks raschen Aufstieg zu einer Schlüsselstellung in der Alliance zu verstehen, muss man den Zeithintergrund nach dem DeutschFranzösischen Krieg 1870–1871 berücksichtigen, das Gefühl der Erbfeindschaft, das er zurückließ zwischen den beiden Nationen und die schüchternen Kontaktversuche, die Einzelne immer wieder unternahmen. Vor allem muss man die Geschichte von Franks Vorgänger kennen, Rabbiner Israel Schwarz (1828–1875), der sehr früh die Alliance-Idee in Deutschland publik machte, der sich während des Krieges um die französischen Gefangenen in Wahnheide kümmerte und der dann kurz nach dem Krieg, als der Deutschenhass am höchsten wogte, nach Paris fuhr und mit dem alten Adolphe Crémieux die Generalversammlung der Alliance davon überzeugte, die Zusammenarbeit unter deutschen und französischen Juden wieder aufzunehmen. Schwarz wurde bald darauf zum Mitglied des Zentralkomitees gewählt.65 Vielleicht war man bei der Alliance in Paris davon überzeugt, dass zur Annäherung zwischen Deutschen und Franzosen niemand so viel beitragen könne wie der Rabbiner von Köln; jedenfalls erhielt Abraham Frank, noch bevor er sein rheinisches Amt überhaupt antrat, einen Brief aus Paris mit dem Vorschlag, den verwaisten Platz im obersten Gremium des Weltbundes zu übernehmen. Frank versicherte im Gegenzug seinen Willen, in die Fußtapfen des verewigten Dr. Schwarz zu treten, u. in dessen Geiste u. Sinn für die Interessen der A.I.U. zu wirken.66 Vier Wochen später schon wurde er bei einem der weltweiten Wahlgänge gewählt; und ein paar Monate später, im Dezember 1876, war er Delegierter auf der „Conférence juive internationale“, die auf die verschiedenen internationalen Abkommen zur Zukunft der Balkanländer Einfluss nehmen sollte. In Paris wurde Frank auch persönlich mit Crémieux bekannt. Das Alliance-Archiv enthält einen Brief, in dem er sich für den liebenswürdigen Empfang bedankt. Die Eindrücke, die ich in Paris erhalten, werde ich nie vergessen. Kommende ‫שבת‬ [d. h. Sabbat] predige ich über die Conferenz. Nächste Woche Mittwoch reise ich nach Rotterdam, um dort für die Alliance einen Vortrag zu halten.67 63  Zacharias Frankel: Die Alliance Israélite Universelle, in: MGWJ, Jg. 17 (1868), Nr. 10, S. 361–373; Nr. 11, S. 401–418. 64 Zacharias Frankel an das Zentralkomitee, 15.5.1868. AAIU AH Pologne XI B. 65  Carsten Wilke: La Fraternité sauvegardée. Les militants français et allemands de l’Alliance israélite universelle à l’épreuve de la guerre (1868–1873), in: Archives juives 46, 2 (2013), S. 59–80. 66 Frank an Isidore Loeb, 23.1.1876. AAIU AH Allemagne VI B 46. 67 Frank an Loeb, 22.12.1876. AAIU AH Allemagne VI B 46.

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Franks Sprung von der „Conférence internationale“ zur Kanzel in der Glockengasse zeigt, wie eng für ihn die globalen mit den lokalen Aufgaben verbunden waren. Beinahe vier Jahrzehnte lang sollte Frank im Zentralkomitee tätig sein. Verschiedentlich ist er nach Paris zu Sitzungen gereist, doch zumeist gab er seine Voten per Korrespondenz ab. Er gab Vorschläge für Veröffentlichungen und Pläne für das Erziehungssystem oder die Migrantenhilfe, berichtete über antisemitische Vorfälle in Deutschland, etwa 1891 über die Ritualmordanklage in Xanten68, unternahm auch eigene Spendenaktionen, so 1905 zugunsten der russischen Juden. Von Köln aus bemühte sich Frank, in der Rheinprovinz und in Westfalen Mitglieder zu werben. Überall zwischen Goch und Bielefeld richtete er satzungsgemäß Ortskomitees ein, nur in Köln selbst nicht, wo er sich um alle Geschäfte persönlich kümmerte. Sein Vorgehen war typisch für die Organisation der Alliance: Obwohl die Gesellschaft etwa 13 000 Mitglieder in Deutschland zählte, folgte sie einem dezentralen Plan, der es Gemeindeführern, Rabbinern und anderen Autoritätspersonen erlaubte, Spendernetzwerke unter ihrer besonderen regionalen, beruflichen oder religiösen Klientel aufzubauen; im selben Geist hat eine Lehrerin in Bingen kurzzeitig auch ein Alliance-Frauennetzwerk unterhalten. Im tief gespaltenen deutschen Judentum konnten auf diese Weise Orthodoxe und Reformer, Preußen und Bayern friedlich nebeneinander der Zentrale in Paris zuarbeiten. Zum Beispiel sammelte der orthodoxe Rabbiner Adolf Salvendi in Bad Dürkheim bei gleichgesinnten Spendern in der pfälzischen Region, aber auch bei Komitees und Einzelpersonen in Franken und in Halberstadt in Preußisch-Sachsen, die ihm mehr vertrauten als den nichtorthodoxen Aktivisten. Rabbiner Frank in Köln wurde nicht nur aus der Rheinprovinz und aus Westfalen Geld anvertraut, sondern auch von Komitees aus Erfurt, Konstanz, Ulm, Wiesbaden und anderen ferneren Städten bis hin nach Ostpreußen und Kroatien.69 Die Korrespondenzen lassen sich als ein Austausch von Spenden gegen Informationen und symbolische Güter beschreiben: Die Schatzmeister der einzelnen Komitees sandten Jahresbeiträge und zusätzliche Spenden an Frank oder einen anderen Korrespondenten des Zentralkomitees, welcher im Gegenzug Quittungen zurückstellte sowie Dankesbriefe und allerlei Ehrungen vermittelte. Alle Mitglieder erhielten die Berichte der Gesellschaft, welche die Sitzungsprotokolle des Zentralkomitees, Tätigkeitsberichte der Gesellschaft und monatliche namentliche Listen eingegangener Spenden bekannt machten. Darin 68 Frank an Loeb, 4.10.1891. AAIU AH Allemagne VI B 46. 69  Frank sandte zu jeder Jahreswende einen Bericht mit der chronologisch geordneten Spenderliste, die letzte (undatiert) für das Jahr 1905 in AAIU, AH, Allemagne VIII B 48.

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sah jedes einzelne Mitglied seine Spenden aufgelistet; Geber aus Köln fanden ihre Beiträge zwischen Kairo und Konstantinopel alphabetisch aufgeführt und in ein gut organisiertes Netz weltweiter Solidarität eingefügt. Frank wusste, wie sehr seine rheinischen Juden von dieser Ehrung zehrten: Ich befürchte sehr, dass unsere Mitarbeiter erkalten, wenn man sie nicht mehr nennt.70 Alle diese Berichte mussten aus dem Französischen übersetzt, gedruckt und an Tausende Empfänger versendet werden. Diese aufwendige ehrenamtliche Tätigkeit hatte zunächst Rabbiner Moritz Landsberg in Liegnitz, Niederschlesien, durchgeführt.71 Nach dessen Tod im Dezember 1882 übernahm Frank sie in Zusammenarbeit mit seinem verlässlichen Drucker Kohn. Die Herstellung und ­Verbreitung der Berichte war ihm eine wichtige Verantwortung ein Vierteljahrhundert lang, wie er später schrieb: 6–7 Stunden bis tief in die Nacht hinein saß ich über der Correctur der Monats- u. Jahresberichte; ja meine Kinder, als sie noch jung waren, haben mir geholfen. Er lehnte es ab, eine Bürokraft anzustellen, um der Alliance keine Kosten zu verursachen.72 Indem er Tausenden Mitgliedern regelmäßig aus Köln die Berichte des Weltbunds zuschickte, erhielt Frank ein hohes symbolisches Prestige. Dieses reichte auch in Länder wie die Niederlande, Dänemark und Ungarn, wo man eher die deutschen als die französischen Berichte las, um sich über das weltweite Wirken der Alliance zu informieren. Auch nach Amerika gelangten deutsche Berichte aus Köln.73 Frank hat die Alliance nicht als eine französische Institution aufgefasst, sondern als eine Sache aller Juden, die, über allen religiösen Parteien und Nationalitäten stehend, nichts Anderes sein will als eine Alliance Israélite Universelle.74 Sein europäisches Engagement war nicht durch eine kulturelle Frankophilie motiviert. Obwohl er fließend Französisch sprach und schrieb, tätigte er alle seine Korrespondenzen mit Paris auf Deutsch, allerdings nicht in deutscher Schrift, sondern in eleganter lateinischer und (wenn er Vertrauliches auf Postkarten schrieb) manchmal auch in hebräischer.75 Auch auf Reisen sprach er gern seine erste Fremdsprache. Sein Pariser Lieblingshotel in den späteren Jahren war das Hôtel de Bavière, 11 rue Richer, wo ihm deutschsprachiges Personal aufwartete.76 Die Mitarbeiter der Alliance trafen sich auch an anderen Orten, wie die Briefköpfe der Korrespondenz zeigen. Während der Sommerferien kam Frank 70 Frank an Loeb, 10.11.1885. AAIU AH Allemagne VI B 46. 71 Frank an Loeb, 8.4.1877. AAIU AH Allemagne VI B 46. 72 Frank an Bigart, 1.11.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. 73 Frank an Loeb, 23.11.1887. AAIU AH Allemagne VI B 46. 74  Frank, Culturarbeit (Anm. 62), S. 36. 75 Z. B. Frank an Loeb, 18.8.1887. AAIU AH Allemagne, I C 2. 76 Frank an Bigart, 14.10.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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mit Bigart manchmal in Bad Ems zusammen.77 Zu Konferenzen mit seinen deutschen Mitarbeitern unternahm er Reisen nach Berlin oder Frankfurt, die von geselligen Treffen in der Wohnung des Gastgebers abgerundet waren.78 Für den Rabbiner war das Bewusstsein, ein Deputierter des Gesamtjudentums zu sein, von zentraler Bedeutung für sein Selbstverständnis als Diener einer Gemeinschaft, die sich in konzentrischen Kreisen von Köln und die Rheinprovinz in die Nachbarländer Frankreich, Niederlande und Ungarn bis hinaus in die nichteuropäische Welt erstreckte. Eine Mentalität, die wir heute als „glocal“ bezeichnen, entdeckt man in seiner Broschüre Die Culturarbeit der Alliance Israélite Universelle von 1902, wo Frank den Kölner Weltreisenden Wilhelm Joest (1852–1897) zu Wort kommen lässt, dessen Sammlung den Grundstock des späteren Rautenstrauch-Joest-Museums bildete. Dieser hatte nämlich in Nordafrika Schulen der Alliance besucht und überaus positiv darüber berichtet.79 Im Dezember 1903 entschloss sich die Alliance, ihrem verdienten Kölner Mitarbeiter 3 000 Mark zur Finanzierung seines Waisenhauses zuzuschießen. Offiziell wurde diese Subvention mit der Unterstützung russischer und rumänischer Waisen rechtfertigt80, doch geschah sie in Wahrheit, wie Bigart vertraulich mitteilte, ausschliesslich um Ihnen einen Beweis unserer Anerkennung für die Verdienste, die Sie sich um unser Werk erworben, zu geben.81 Quintessentiell aufeinander bezogen erscheinen die drei Bezugspunkte von Franks Wirken bei der fünfzigsten Jahresfeier des Rabbinerseminars, dessen Schüler er war, als er nämlich als Festredner in Breslau im Namen der Alliance Israélite Universelle und zugleich im Namen der alten Kolonie Agrippinensis, der aller­ ersten jüdischen Gemeinde Deutschlands, der Anstalt ein frohgemutes vivat, crescat, floreat zurief.82

77 Frank an Bigart, 24.8.1905. AAIU AH Allemagne VII B 47, enthält ein Telegramm mit den Worten Bin hier Ems. Villa Britannia. Erwarte Sie hier. Frank. Auch in den Vorjahren hatte Frank Badeorte aufgesucht, so schrieb er am 21.8.1901 aus dem Holland-Hotel in Baden-Baden, dann am 10.8.1903 und 18.8.1904 aus der Emser Villa Britannia, wo er sich zur Cur bzw. zur Erholung aufhielt. 78 Frank an Bigart, 13.2.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47, gibt Franks Planung für eine Konferenz in Frankfurt wieder: Hallgarten hat für Montag abend zu einem geselligen Zusammenkommen in seiner Wohnung eingeladen. Ich werde wahrscheinlich im Hotel National am Bahnhof wohnen. 79  Frank, Culturarbeit (Anm. 62), S. 27–35. 80 Sitzungsprotokoll des Zentralkomitees, 16.12.1903. AAIU AM PV 4. 81 Bigart an Frank, 31.5.1905. AAIU AH Allemagne VII B 47. 82 [Anon.:] Die 50jährige Jubelfeier des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, in: AZJ, Jg. 68, Nr. 47 (18.11.1904), S. 557–558, hier S. 558. Frank gab bei der Grundsteinlegung der Synagoge einen Überblick über die Kölner jüdische Geschichte: Köln sei die älteste Niederlassung der Juden in ganz Deutschland; Allgemeine Israelitische Wochenschrift (im Folgenden: AIW), Jg. 4, Nr. 44 (1.11.1895), S. 718–719.

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Der Streit zwischen Berlin und Köln Franks Position in der Alliance war nach der Jahrhundertwende nicht mehr so unangefochten wie zuvor. Seine Generation, die im kosmopolitischen Bürgertum vor 1870 aufgewachsen war, fand unter den Jüngeren kaum Nachwuchs, wohl aber Verdacht und Kritik. Das Zentralkomitee der Alliance, wo Juden aus vielen Ländern Europas zu Rat saßen, hat die Fantasie der Antisemiten ungemein angeheizt. Seit Gründung der Gesellschaft wähnte man in ultramontanen oder nationalistischen Kreisen, hier würde der jeweilige Kriegsfeind favorisiert, Pläne zur Vernichtung des Christentums vereinbart oder riesige Summen an Revolutionäre und Anarchisten verteilt. Das Image- und Nachwuchsproblem wurde schmerzhaft klar, als im Mai 1901 eine deutsche Konkurrenzorganisation, der „Hilfsverein der deutschen Juden“, ins Leben trat und ganze Alliance-Komitees dorthin abwanderten. Frank meldete dies beunruhigt nach Paris; zum Beispiel seien mit einem Mal sämtliche Mitglieder in Bielefeld ausgetreten.83 Nach seinem Vorschlag sollte die Alliance sich von nationalen Initiativen stärker distanzieren und alle Fac­ toren zusammenhalten, die uns in der Aufrechterhaltung der Universalität der Alliance in Deutschland unbedingt nötig sind, darunter einflussreiche jüdische Journalisten. Sie kennen ebenso gut die hohe Bedeutung der Presse in der Gegenwart wie ich.84 Unter Franks Kollegen in Frankreich und Deutschland setzte sich jedoch die Meinung durch, dass man die Struktur der Gesellschaft, bisher ein internationaler Kreis von Honoratioren mit ihrer jeweiligen Klientel, dem neueren Stil der nationalen Massenorganisationen anpassen müsse. Insbesondere eine Gruppe von Aktivisten in Berlin um den Geheimen Kommerzienrat Ludwig Max Goldberger (1848–1913) forderte die Gründung eines eigenverantwortlichen deutschen Zweiges, mit dem die Alliance in der Öffentlichkeit weniger französisch erscheinen würde; außerdem wollte man mehr Deutschunterricht an den Alliance-Schulen und überhaupt die Umverteilung der Ressourcen von dem Schulwerk auf die Hilfe für ostjüdische Migranten, die den deutschen Juden dringender erschien. Die Berliner verlangten eine professionelle Verwaltungs- und Öffentlichkeitsarbeit anstelle der ehrenamtlichen Selbstausbeutung, wie sie Frank betrieb. Simon Bernfeld erklärte die Schwächen der Alliance-Struktur: Im gewissen Sinne war die Allianz die Vorläuferin der zionistischen Kongresse, nur mit dem Unterschiede, dass sie eine zu aristo­ kratische Grundlage hatte und nicht im Volke wurzelte. Dadurch wird sich

83 Frank an Bigart, 27.2.1903. AAIU AH Allemagne VII B 47. 84 Frank an Bigart, 30.3.1905. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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auch ihr Niedergang erklären lassen.85 Vor allem aber wollten die Berliner die deutschen Mitglieder einer eigenen Leitung, ihrer Leitung, unterstellt wissen. Frank hatte schon um 1885 gegen solche Trennungssüchtigen gekämpft, weil sie seiner Ansicht nach darauf hinausliefen, die Alliance, ja überhaupt das europäische Judentum, in nationale Lager zu spalten. Aber wir müssen die Berliner auf die Finger sehen, sonst treten sie zu selbständig auf, hatte er damals geraten.86 Die Konkurrenz des „Hilfsvereins“ bewegte das Zentralkomitee der Alliance jedoch schon 1901 zu dem Schritt, seine 23 deutschen Mitglieder in Zukunft gemeinsam als „Deutsche Conferenz-Gemeinschaft“ auftreten zu lassen. Ab 1903 wurde ihnen zu Propagandazwecken ein sogenanntes „Deutsches Bureau“ in Berlin an die Seite gestellt, das Vortragsveranstaltungen organisierte und die illustrierte Zeitschrift Ost und West unterhielt.87 Frank hatte vor all diesen Maßnahmen gewarnt. Er glaubte umso weniger an ihren Nutzen als er wusste, dass die Berliner Juden stets weniger Einsatz für Alliance-Belange gezeigt hätten als die Provinz. Das ist wiederum so ein Berli­ ner Zug: Sie wollen in Berlin alles leiten, aber in Berlin selbst geschieht nichts.88 Tatsächlich benutzte die neue Berliner Elite ihr Bureau sogleich als ein Mittel, um sich von der Pariser Zentrale zu emanzipieren; auch wollte sie die persönlichen Spendernetzwerke, wie sie etwa Frank von Köln aus betrieb, durch ein hierarchisch verwaltetes System ersetzen, wie der Sekretär des Deutschen Bureaus erklärte: Wenn aber in einer Provinz von 4 Seiten aus gearbeitet wird, nämlich von Paris, von Cöln, von Dürckheim und schließlich von einem soge­ nannten Provinzial-Komitee, das jedoch keine ausschliesslichen Befugnisse hat, so wird auf die Dauer nicht das Vierfache, sondern eher der vierte Teil desjeni­ gen Resultates erzielt, das man bei klarer Organisation erreichen kann.89 Die Berliner Alliance-Oberen machten sich ab Dezember 1905 an eine straffere Organisation der deutschen Mitglieder und sahen darin den Beginn einer Renaissance der Gesellschaft in Deutschland.90 Die Mitgliederzahl stieg erfreulich, was aber vor allem dem Gratis-Abonnement der Illustrierten zu verdanken war. Finanziell war die angebliche Renaissance ein Zuschussgeschäft, denn der Aufwand für Verwaltung, Werbung und die teure Zeitschrift verschlang mehr Spenden, als er einbrachte. Frank, der jahrzehntelang jede Quittung selbst geschrieben hatte, sah mit Empörung die neuen Berliner Anführer nun die Mit85 Simon Bernfeld: Die Alliance Israélite Universelle, in: Ost und West, Jg. 3 (1903), Nr. 4, Sp. 255–260, hier Sp. 257–258. 86 Frank an Loeb, 8.4.1885 und 26.7.1885. AAIU AH Allemagne VI B 46. 87 Sitzungsprotokolle des Zentralkomitees, 28.4.1903. AAIU Archives de Moscou PV 4. 88 Frank an Bigart, 15.3.1903. AAIU AH Allemagne VII B 47. 89 M. Friedländer an Bigart, 21.9.1904. AAIU AH Allemagne II A 2. 90 [Anon.:] Die General-Versammlung der Berliner Mitglieder der A. I. U., in: Ost und West, Jg. 7 (1907), Nr. 7, Sp. 473–484, hier Sp. 475.

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gliedsbeiträge für ihre Büroangestellten und Hotelspesen verprassen; nur noch ein kleiner Rest wurde an das Schulwerk nach Paris geschickt. 1906 wurde für Frank zum Katastrophenjahr. Bei einem unglücklichen Sturz vor der Jahreswende brach er sich ein Bein.91 Heinz Frank, der die Pariser Zentrale über das Befinden seines ans Bett gefesselten Vaters informierte, konnte monatelang kaum eine Besserung melden.92 Vom Krankenzimmer aus erlebte Frank das Auseinanderbrechen seiner Gemeinde. Nachdem bei einem Gottesdienst zu Pessach, am 9. April 1906, zum ersten Mal die Orgel in der Roon­ straße erklang, traten die Orthodoxen aus und gaben dem Gemeinderabbiner die Schuld an der Spaltung.93 Ein anonymes Spottgedicht verhöhnte Frank, der mit zerschmettertem Oberschenkel für sein Einknicken gegenüber der liberalen Gemeindemehrheit büße. Gerade er, der doch so unablässig in ehrenamtlichen Funktionen tätig war, wird hier als käuflicher Opportunist verleumdet. Als man mich rief nach Cöln hin, Vor mehr als dreissig Jahren, Da bracht die Mittel-Richtung Gewinn, Bin gut damit gefahren. Verschwunden ist fast das Geschlecht, Die meisten hab’ ich begraben, Und nun mach ich’s den jüngeren recht, Die sollen mich ganz nun haben. Dies neue Geschlecht ist meistens reich, Zählt grösstenteils zu den Liberalen, Mir ist das – auf Ehre – wahrhaftig ganz gleich, Wenn sie bei Gelegenheit – zahlen. So ist erreicht das schöne Ziel, Die Gemeinde ist gespalten, Im Tempel spielt das Orgelspiel, Jetzt wisst Ihr was – von mir zu halten.94 91 AZJ, Jg. 70, Heft 2 (12.1.1906), S. 17, berichtet, dass der Rheinische Rabbinerverband am 27.12.1905 des von einem schweren Unfall heimgesuchten Kollegen Dr. Frank gedachte. 92 Heinz Frank an Bigart, 17.12.1905, 19.1.1906, 3.2.1906 und 21.2.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. Mehr als ein Jahr nach dem Unfall schreibt Frank, 22.1.1907, ibid., dass auch das Gehen nicht besser geworden ist. 93 Frank war bei der Gelegenheit nicht anwesend, da er noch an den Folgen seines Unfalls laborierte; [Anon.,] Brief (Anm. 4), S. 200. 94 Zit. nach Wachten, David Wolffsohn (Anm. 47), S. 306. Frank hatte lange die Orgel abgelehnt; AIW, Jg. 5, Nr. 35 (28.8.1896), S. 593.

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Damit nicht genug, sollte Frank rückblickend über 1906 schreiben müssen, er habe noch nie solch ein ärgerliches Jahr in Alliancesachen erlebt.95 Auftakt war am 17. Januar ein unerwarteter Schuss aus dem Kölner Verlagshaus von Alfred Neven-DuMont. Dessen Kölnische Zeitung, damals die meistgelesene deutschsprachige Tageszeitung, druckte eine Artikelserie ihres Korrespondenten in Tanger, der die Alliance als französische Propagandainstitution und ihre deutschen Förderer als Verräter hinstellte. Schon weil das Schulsystem der Alliance französischsprachig sei, würde es die deutschen Kolonialbestrebungen insbesondere in Marokko behindern, so dass deutsche Interessen durch deutsches Geld geradezu geschädigt werden.96 Das Berliner Bureau brachte eine Gegendarstellung in der Kölnischen Zei­ tung unter97, nutzte aber den Anlass, um den eigenen Forderungen nach einer Machtverlagerung innerhalb der Organisation Nachdruck zu verleihen. In ihren Briefen an die Pariser Zentrale beklagten sich die Berliner über Franks lebhafte Opposition und verlangten von ihm eine Fügung in das grosse Ganze.98 Max Albert Klausner (1848–1910), ein Börsenjournalist und Schriftsteller, nun Geschäftsführer des Deutschen Bureaus, eröffnete einen Kampf um jedes Ortskomitee gegen den Kölner Rabbiner. Auch die Zeitschrift Ost und West wurde eingesetzt, um Frank und seine Altersgenossen verächtlich zu machten: Die Männer, die im Dienste dieser glorreichen Institution in hohen Verdiensten grau geworden sind, sind eben – grau geworden. Und die Gegenwart erfordert jüngere, frischere Kräfte und auch – frischere Grundsätze. Die Stärkung des Berliner Zentrums galt dem Autor als lebendiger Föderalismus, nicht starrer Zentralismus.99 Frank war erbost über diese Angriffe. Obwohl immer noch bettlägerig, ging er nun zu einer härteren Gangart über: Man muß den Herren in Berlin nur die Zähne zeigen und sich nichts gefallen lassen, dann geben sie schon nach. Ich werde in der Zukunft mich bemühen, daß die Herren, ganz im großen Interesse der Alliance, nicht zu allmächtig werden.100 Nach scharfen Polemiken zwischen Goldberger und dem Kölner Rabbiner, in denen beide mit der Niederlegung ihrer Alliance-Tätigkeiten drohten101,   95 Frank an Bigart, 30.11.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47.  96  [August Hornung:] Die deutschen Interessen in Marokko, VI: Deutschland und die Alliance Israélite in Marokko, in: Kölnische Zeitung, 17.1.1906, Mittags-Ausgabe, S. 1.  97 [Ludwig M. Goldberger:] Deutschland und die Alliance israélite in Marokko, in: Kölnische Zeitung, 24.1.1906, Mittags-Ausgabe, S. 1; siehe auch AZJ, Jg. 70, Heft 48 (30.11.1906), S. 567–568.   98 Klausner an Bigart, 26.1.1906. AAIU AH Allemagne II A 2.  99 Mathias Acher [d. i. Nathan Birnbaum]: Die ideale Organisation einer Allgemeinen Israelitischen Allianz, in: Ost und West, Jg. 6 (1906), Nr. 3, Sp. 159–168. 100 Frank an Bigart, 1.3.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. 101 Frank an Bigart, 23.2.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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konnte Charles Hallgarten aus Frankfurt bewirken, so Frank, dass Frieden zwischen Berlin und Cöln geschlossen ist. Wie lange es dauern wird, weiß ich nicht.102 Da der Konflikt bald wieder aufbrach, lud das Zentralkomitee die Berliner Spitze zum 17. Oktober 1906 zu einer Besprechung nach Paris ein. Frank setzte es durch, dass man ihn auch einlud. Wiewohl er nur mit Mühe gehen konnte, schleppte er sich auf die Bahn und warf sich in die Schlacht gegen die Berliner. Es gelang ihm, einen Kompromiss auszuhandeln: Den ungehorsamen Komitees im Rheinland, Bayern und anderswo wurde die Freiheit von Berliner Oberherrschaft und die direkte Korrespondenz mit Paris garantiert.103 Goldberger, der außer sich vor Wut war, lieferte sich mit Frank einen beleidigenden Briefwechsel, beschuldigte diesen gar, er habe durch seine Tiraden gegen die Berliner Führung Deutschland herabgesetzt.104 Franks angebliche historische Ansprüche auf bestimmte Ortskomitees seien Phanta­ siegebilde; ja sogar an seinem Wohnort sei er gescheitert, da unter F. die Anhän­ gerschaft der A.J.U. in Köln am Aussterben ist.105 Frank war dem Berliner Komitee vor allem deswegen ein Dorn im Auge, weil sein rheinisches Widerstandsnest die Befreiungsrhetorik entlarvte und zeigte, dass es den Berlinern vor allem um die Macht über die deutschen Juden ging. Der Kölner Rabbiner wurde nicht müde zu betonen, dass nicht von Paris, sondern von Berlin die zentralistische Bedrohung ausgehe. Nicht Centralisa­ tion, die Macht darf nicht in einer Hand liegen, sondern Decentralisation, dadurch entsteht Eifer und gegenseitiges Vertrauen, schrieb er, nur kein com­ mandirender General in Berlin, der seine Befehle austeilt. Wenn Frank nach Paris schrieb, hagelte es stets antipreußische Klischees. Das Berliner Komitee wolle Vorschriften machen, Befehle erteilen, […] und wir, die Comités, müssen blindlings alles befolgen: das ist ja der reine Militärstaat, wie er den Berlinern vorschwebt.106 Mit der Devise Nicht Centrisolation [sic!] sondern Dezentri­ rung107 verteidigte auch Frank seine Hausmacht am Rhein, wobei er die exorbitanten Verwaltungskosten des „Deutschen Bureaus“ zu seiner unbezahlten Arbeit in einen krassen Gegensatz stellte. Einige Zugeständnisse allerdings verlangte die Übereinkunft von dem Kölner Rabbiner. Er hatte sich verpflichtet, seine Spendensammlungen fortan auf 102 Frank an Bigart, 4.3.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. 103 Siehe das Circulär vom 6.11.1906, erwähnt in dem Brief von Frank an Bigart, 21.11.1910. AAIU AH Allemagne IV A 5. 104 Frank an Bigart, 12.11.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47, mit Mitteilungen aus einer polemischen Korrespondenz mit Goldberger, der behauptet habe, seine einjährige Liebe zur Alliance sei stärker als Franks dreißigjährige. 105 Goldberger an Salomon Reinach, 11.12.1906. AAIU AH Allemagne II A 2. 106 Frank an Bigart, 21.10.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47. 107 Frank an Bigart, 2.1.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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die Rheinprovinz und Westfalen zu beschränken; außerdem musste er die Anomalie beenden, dass er für alle Kölner Alliance-Mitglieder persönlich verantwortlich war. Auch Köln erhielt nun ein förmliches Alliance-Komitee. Vorsitzender war Frank selbst, stellvertretender Vorsitzender der Stadtverordnete Louis Eliel (1852–1919), bekannt auch als Gemeindevorstand und Mäzen des Sonderbunds Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler. Schriftführer war Bernhard Feilchenfeld (1858–1934), der Sohn des Posner Rabbiners, ebenfalls ein Bundesgenosse Franks.108 Vier Jahre später war Goldberger an der Frank’schen Frage109 verzweifelt und hatte seine Stellung in der Alliance aufgegeben. Jüngere radikale Kräfte um den Juristen Max Fuchs dominierten nun in Berlin und strebten offen nach einem Reichscomité.110 Sekretär Klausner forderte die Alleinvertretung seines Berliner Büros für alle Alliance-Mitglieder in Deutschland; sogar den Aktivisten in Elsass-Lothringen drohte er, dies mit der Gewalt der öffentlichen Mei­ nung einzufordern.111 Am 30. November 1910 war erneut eine Pariser Schlichtungskonferenz fällig. Frank sah dieses Treffen als entscheidende Schlacht. Iacta est alea, die Würfel sind geworfen; am 30. Nov. wird entschieden werden, ob der Centralpunkt der Alliance in Paris bleibt oder ob er nach Berlin verlegt wird. Dennoch zog Frank es diesmal vor, nicht an dieser Besprechung teilzunehmen, da er wusste, wie isoliert er mit seiner paristreuen Linie war: […] dann stehe ich denn allein wohl als Deutscher da und werde schließlich noch des Vaterlandsverraths angeklagt.112 Von Frank in Briefen und Telegrammen zur Unnachgiebigkeit angehalten, wies das Zentralkomitee die von Fuchs formulierten Autonomieansprüche zurück. Daraufhin verfiel die Berliner Spitze zur anstehenden allgemeinen Zentralkomitee-Wahl im Sommer 1911 in einen förmlichen Konfrontationskurs: Sie stellte eine eigene Gegenliste zur Kandidatenliste des Zentralkomitees auf, an der man vor allem die Aufnahme des Altphilologen Salomon Reinach (1858–1932) monierte, eines bekannten Rationalisten, der die jüdischen Speisevorschriften als überwundenen altorientalischen Aberglauben hinzustellen pflegte. Rabbiner Frank hatte kein Problem, mit diesem Freidenker zusammenzuarbeiten, denn es sei doch gerade der Grundsatz der Alliance, Juden jeglicher Überzeugung ohne Gesinnungskontrolle zu vereinigen. Reinach hat bei allen seinen abweichenden 108 Ost und West, Jg. 7 (1907), Nr. 2, S. 132. 109 Goldberger an Bigart, 27.12.1906. AAIU AH Allemagne D. 110 Nathan Porges an Bigart, 7.6.1910, erwähnt die Tagung vom 29.5.1910, wo Max Fuchs diese Forderung erhob. 111 Klausner an Simon Salomon und das Bezirkskomitee für Lothringen in Metz, 19.5.1910. AAIU AH France I D 2. 112 Frank an Bigart, 21.11.1910. AAIU AH Allemagne IV A 5.

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Meinungen über Judentum und seinen Inhalt doch niemals während seiner viel­ jährigen Mitarbeit an und in der Alliance in diesen seinen abweichenden Ansich­ ten den Gang und die Leitung der Geschäfte, sei es in den Schulen oder anderswo, zu beeinflussen gesucht; was will man daher? Es hätte kein Hahn danach gekräht, wie man im Deutschen sagt, wenn nicht die Berliner die Angelegenheit aufge­ bauscht hätten.113 Die Polemik gegen Reinachs Person mochte ein Vorwand gewesen sein, es gelang der Berliner Alliance-Spitze damit jedoch, alle Kräfte im deutschen Judentum, seien sie nationalistisch, zionistisch oder orthodox, hinter sich zu bringen und einen beispiellosen Pressesturm gegen die angebliche Unterdrückung der Deutschen in der Alliance zu entfachen. Der eingeschüchterte Frank schlug dem Zentralkomitee vor, die Wahl abzusagen, um dem drohenden Zweikampf zwischen Deutschland und Frankreich auszuweichen. Könnte die Berliner Partei die deutsche Mitgliederüberzahl mobilisieren, dann läge für alle Zeiten der moralische Mittelpunkt der Alliance nicht in Paris, sondern in Berlin. Die Kölner Zionisten seien seines Wissens bereits sehr aktiv, um mit unredlichen Mitteln Alliance-Wähler in der Stadt zu identifizieren und zu beeinflussen. Die Lage ist in der Tat ernst, sehr ernst, schloss Frank.114 Das Zentralkomitee ging dennoch auf den Wahlkampf ein, bei dem im April und Mai 1911 die Gegensätze vor allem in Köln zusammenprallten. Auf ihre Gegenliste setzten die Berliner nämlich zwei rheinische Zionisten, Bodenheimer und Adolf Apfel (1866–1920); und die Aussicht auf einen solchen Kollegen empfand Frank als ultimative Provokation – das fehlte uns auch noch, so ein ausgeprägter Zionist in unserem bis heute Zionistenreinen Central-Comité.115 Ihm war klar, was man erreichen wollte: mich, der ich fast stets in Opposition zu Berlin stehe, unschädlich machen. Fast täglich schrieb er militante Briefe an seine französischen Freunde und warnte sie vor dem Berliner Griff nach der Macht in der jüdischen Welt. Es gebe durchaus eine universalistisch gesinnte Gegenpartei in Deutschland, aber das ist es eben, Berlin und nur Berlin will herrschen, sowohl über alles, was in Deutschland unter den Juden vorgeht, wie außerhalb Deutschland[s].116 Angesichts der großen Unterstützung für die Berliner Ambitionen befürchtete er, dass die Alliance von Berlin zerrissen werde.117 Dieselben Befürchtungen regten sich auch in der französisch-jüdischen Presse118, während die deutsch-jüdischen Zeitungen, 113 Frank an Bigart, 5.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 114 Frank an Bigart, 23.4.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 115 Frank an Bigart, 18.4.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 116 Frank an Bigart, 1.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 117 Frank an Bigart, 11.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 118  Benzev: L’Alliance en Allemagne, in: Univers israélite, Jg. 66, Nr. 2 (2.6.1911), S. 357– 363, hier S. 361–363.

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einschließlich des Israelitischen Gemeindeblattes in Köln, in einstimmiger Front die Berliner unterstützten. Die jüdischen Blätter bemühten alle erdenklichen gallophoben Stereotype gegen das Zentralkomitee, wagten jedoch die Tatsache nicht anzusprechen, dass der als Patriot bekannte und kaiserlich dekorierte Erste Rabbiner von Köln auf Seiten der Franzosen stand. Gestützt auf sein persönliches Ansehen, suchte Frank die verbliebenen Gleichgesinnten um sich zu scharen. Wiewohl die Orthodoxie ihn in Köln wegen der Orgel angriff, hatte er die verlässlichsten Bundesgenossen im orthodoxen Alliance-Zweig um den Pfälzer Rabbiner Salvendi, einen Ungarn, der ihm an Widerstandsgeist ebenbürtig war.119 Er verständigte sich mit dem für Bayern zuständigen Komitee in Nürnberg und hoffte, er könne auch die Frankfurter gegen die Berliner ausspielen, da immer eine Rivalität zwischen beiden Städten in der Judenheit vorhanden war. Frank setzte auf den Widerstand der deutschen Provinz: Die Süddeutschen können die Berliner nicht gut leiden u. auf diese Weise könnten wir diese erstere für uns gewinnen.120 Aber sogar sein ehemals so weit gespanntes rheinisch-westfälisches Netzwerk hatte sich ausgedünnt. Nur noch zehn Komitees hielten ihm und Paris die Treue: Außer Köln waren das im Rheinland Düsseldorf, Grevenbroich, Koblenz, Kreuznach, Mayen, Siegburg und Wesel, sowie in Westfalen Brakel und Iserlohn. Wie traurig sieht es aus! schrieb Frank zwei Wochen vor der Wahl. Am selben Tag versandte er ein gedrucktes Flugblatt, auf dem er seine Korrespondenten beschwor, die Pariser Liste zu wählen: Diese Wahl ist besonders sehr wichtig, weil nach ihrem Ausfall entschieden wird, ob, wie bisher, die Centralstätte des grossen Werkes im Central-Comité in Paris verbleibt, oder ob die Einheit und die Universalität der Alliance vernichtet wird. Ich kann die Gründe für meine Behauptung hier nicht aus­ führlich angeben, aber ich bitte Sie, der ich 35 Jahre ehrenamtlich für die Alliance arbeite und schaffe, mir dieses zu glauben. Nur die eine Tatsache möchte ich hier hervorheben, dass nach dem Jahresbericht pro 1910 die Alli­ ance 150 Schulen mit 45 000 Schülern und Schülerinnen, 1 300 Lehrern und Lehrerinnen mit einem Jahresbudget von 2 Millionen Francs unterhält. Sie ist ein Institut, wie es während der vieltausendjährigen Existenz des Juden­ tums kein zweites gegeben hat.121

119 Frank an Bigart, 28.1.1907. AAIU AH Allemagne VII B 47: außer Salvendi sind alle übrigen Teilnehmer Jasager. 120 Frank an Bigart, 25.3.1910, 15.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 121 Frank an Bigart, 21.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48.

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Tags darauf war „Kaisertag“ in Köln. Tausende säumten die Straßen beim Besuch des Kaiserpaares und der Einweihung der Hohenzollernbrücke. Als einer der städtischen Honoratioren sprach Rabbiner Frank persönlich mit Wilhelm II., der sich bei ihm nach dem Wohlergehen der Juden in Köln erkundigte.122 Doch gerade an diesem Tag warnte Frank das Zentralkomitee in Paris besonders eindringlich vor der Berliner Liste. Man solle die Wähler außerhalb Deutschlands dazu bewegen, die Fuchs-Partei auszubremsen, die bei Zionismus und Orthodoxie „Hilfstruppen“ gefunden habe. Es ist entschieden wahr, daß deutscher Chauvinismus zur Wahlparole gehört, endlich ist die Großmannssucht der Berliner auch in diesem Kampfe von großem Einfluß. […] Nochmals, setzen Sie in der ganzen Welt Ihre Organe in Bewegung, in Europa, Asien, Amerika u. Afrika, u. klären Sie die Öffentlichkeit über das Vorgehen der Berliner, nicht der Deutschen, denn wie Sie sich überzeugt haben, stehen sehr, sehr viele nicht hinter Berlin, auf. Aux armes! Aux armes! Ihr ergebener Dr. Frank.123 Der Schlusssatz („Zu den Waffen! Zu den Waffen!“) ist ein Zitat aus der Marseillaise. Franks Berliner Gegnern gelang es eine Woche später, ihn mit einem Paukenschlag sogar vom eigenen Kölner Parkett zu treiben. Der zionistische Kandidat Apfel ging so weit, im stattlichen Saal der Rheinlandloge von B’nai B’rith in der Cäcilienstraße am 30. Mai 1911 eine Wahlversammlung abzuhalten, aufwendig beworben in der Kölnischen Zeitung und im Stadt-Anzeiger sowie begleitet von einem Aufruf zur Revolte gegen das starre autokratische Regime der Pariser Leitung und das unjüdische System des Herrn Reinach124. Anwesend bei der Veranstaltung waren Wolffsohn, Bodenheimer und andere Zionisten; als Redner war Abraham Shalom Yahuda eingeladen.125 Rabbiner Frank wagte nicht zu erscheinen. Ich lasse mich mit Jehuda nicht in eine Polemik ein; ich würde vor Aufregung krank werden, schrieb er an Bigart. Er schleuste immerhin einen Freund in die Diskussion ein, der sich Apfel gegenüber als Dr. Baum vorstellte. Dieser schickte sich an, das Zentralkomitee und Reinach 122  Frank, Kardinal (Anm. 61), S. 374; zum Kaisertag siehe Kölnische Zeitung, 23.5.1911, Morgen-Ausgabe, S. 1. 123  Frank an Bigart, 22.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 124 Aufruftext und Zeitungsausschnitt, mitgeteilt von Frank an Bigart, 29.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48. 125 Über diesen Wissenschaftler und zionistischen Aktivisten siehe Allyson Gonzalez: Abraham S. Yahuda (1877–1951) and the Politics of Modern Jewish Scholarship, in: Jewish Quarterly Review 109 (2019), S. 406-433, hier S. 412 über seine Beziehung zur Alliance.

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zu verteidigen, aber er wurde niedergeschrieen. Man hatte auch Berliner Wahl­ zettel mitgebracht, die unter dem Eindruck des Fanatismus auch unterschrie­ ben wurden. Wie Frank eingestand, hatte die Gegenseite die öffentliche Meinung ganz an sich gerissen. Wir müssen unbedingt ein Organ für die Alliance in Deutschland haben, um Berlin lahm zu legen.126 Bei der Wahl am 4. Juni 1911 wurde die Berliner Liste zwar weltweit überstimmt, siegte aber in Deutschland haushoch mit 87 Prozent127 und errang sogar in den Niederlanden die Mehrheit. Letzte Refugien der paristreuen Partei gab es in Köln, wo die Alliance-Mitglieder zu 77 Prozent die Liste des Zentralkomitees gewählt hatten128, desgleichen in Bayern und in Frankfurt, wo die Pariser Liste auf 66 Prozent kam, allerdings bei vielen Wahlenthaltungen. Das Ergebnis lief auf eine Spaltung des Weltverbandes hinaus. Am 6. November 1911 unternahm Frank noch einen Versuch, beim „Alliancetag“ in Berlin seine Ansichten zu vertreten, doch wurde er von der Übermacht zum Schweigen gebracht. Das zionistische Organ Die Welt schrieb: Die Diskussion gestal­ tete sich sehr lebhaft. Rabbiner Dr. Frank-Köln warnte vor allzu scharfem Vorgehen gegen die französischen Juden (!). Direktor Adler-Frankfurt a. M., oft durch Lärm unterbrochen, äußerte sich in demselben Sinne. Im Bruch mit dem Zentralkomitee gründete die Berliner Leitung mit 121 deutschen Ortskomitees am 24. März 1912 ein autonomes „Landescomité“, das aber an inneren Streitigkeiten zerbrach, so dass eine am 24. November 1912 in Berlin gegründete „Freie Organisation der deutschen Alliance-Mitglieder“ die frühere Verbindung nach Paris wieder herstellte.129 Durch die jahrelangen Kämpfe war das Ansehen der Gesellschaft zerrüttet und die Mitgliederschaft in Deutschland schon zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zusammengeschmolzen. Frank sammelte beharrlich die Beiträge seiner letzten Kölner Anhänger ein, bis seine Korrespondenz mit Paris bei Kriegsbeginn nach mehr als 38 Jahren jäh abbrach.130

126 Frank an Bigart, 30.5.1911 und 31.5.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48; [Anon.:] Eine Versammlung in Köln, in: Die Welt, Jg. 15, Nr. 22 (1.6.1911), S. 509–510. 127 [Anon.:] Die Alliancewahlen, in: Der Israelit, Jg. 52, Nr. 24 (15.06.1911), S. 6–7: Die Berliner Liste gewann die Wahl in Deutschland mit 6024 zu 930 Stimmen. In Berlin erhielt Reinach nur 5 von 1114 abgegebenen Stimmen. 128 Frank an Bigart, 13.6.1911. AAIU AH Allemagne VIII B 48, teilt Frank mit, dass in den bei ihm eingereichten Wahlzetteln die Pariser Liste mit 154:36 Stimmen über die Berliner Gegenliste gesiegt habe, davon in Köln mit 89:26. 129 [Anon.:] Der Alliancetag, in: Die Welt, Jg. 15, Nr. 45 (10.11.1911), S. 1192–1193; [Anon.:], Friede in der Alliance. Tagung der deutschen Lokal-Comités der Alliance Israélite Universelle. in: Ost und West, Jg. 12 (1912), Nr. 12, Sp. 1135–1142. 130 Frank an Bigart, 30.3.1914. AAIU AH Allemagne VIII B 48, ist der letzte Brief, den Rabbiner Frank nach Paris geschrieben hat.

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In memoriam Als Frank dreieinhalb Jahre später starb, kommunizierten Deutsche und Franzosen nur mehr mit den Waffen. Sein ältester Sohn war seit vier langen Jahren im Feindesland und konnte nicht einmal an der Beerdigung des Vaters teilnehmen.131 Leimdörfer erwähnte im Nachruf nur vorsichtig, der Rabbiner habe einst über den Rahmen seiner Gemeinde hinaus gewirkt; er war ihr Sachwalter in dem Weltbunde der Israeliten, den erst der Weltkrieg lösen konnte. Amsel sah in Frank den Streiter für eine verlorene Sache, deren Scheitern er den Franzosen anlastete: Auch nachdem durch die vollständige Schwenkung in der Geschäftsführung ein Bestehen der Alliance in Deutschland kaum mehr mög­ lich war, hielt er getreulich zur alten Fahne. Sogar die Kölnische Zeitung erinnerte lobend an Franks internationale Kooperation.132 Für viele deutsch-jüdische Aktivisten, die jahrzehntelang solidarisch mit den französischen Partnern gearbeitet hatten, war der politisch verfügte Bruch dieser Beziehungen schwer zu verkraften.133 So hat Heinz Frank verschiedentlich versucht, den väterlichen Briefkontakt zu Bigart wieder aufzunehmen.134 Frank hat kurz vor seinem Tod die Erinnerung an die erloschene Zugehörigkeit zu einem Weltbund aller Juden auf subtile Weise weiterzugeben versucht. Er hat der Synagogengemeinde nämlich für ihren Sitzungssaal eine Mosesbüste vererbt, die ihm die Alliance als Dank für seine Arbeit gewidmet hatte. Vor diesem Bild eines religiösen Führers würden, so hoffte man bei der Trauerfeier, für den Beschauer die Gedankenfäden sich spinnen von der grauen Vergangenheit zur jungen Gegenwart.135 Wer sich in der Gemeinde auskannte, der wusste natürlich auch, dass dieser Moses aus Paris kam und ein Symbol sein sollte für die Alliance-Überzeugungen vom Zusammenhalt aller Juden und von ihrer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit den anderen Staatsbürgern. Die Mosesbüste im Saal an der Roonstraße hat Kober noch 1932 erwähnt. In der Kölner Synagogengemeinde gibt es unbestätigte Gerüchte, wonach die symbolträchtige Skulptur die Verwüstungen vom 9. November 1938 beschädigt überstand.

131 Gedenkblätter (Anm. 7), S. 9. 132 Ibid., S. 18; [Amsel,] Nachrichten (Anm. 7), S. 5; [Anon.,] Berufsjubiläum (Anm. 7). 133 Kriegsbedingt stellte die „Freie Organisation“ ihre Tätigkeit unter gallophoben Verlautbarungen ein und löste am 7. November 1915 das „Deutsche Bureau“ auf; siehe AAIU, AH, Allemagne, III B 14bis, 12.8.1919. In einer kontroversen Entscheidung schloss das Zentralkomitee am 15. Januar 1919 alle Staatsbürger der ehemaligen Mittelmächte von der Mitgliedschaft in der ehemals universalen Alliance aus. 134 Heinz Frank an Bigart, 3.4.1922. AAIU AH Allemagne G. 135 Gedenkblätter (Anm. 7), S. 10.

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Überhaupt erinnert im heutigen Köln noch einiges an den Rabbiner: die Synagoge, die er einweihte, sein Ehrengrab auf dem jüdischen Friedhof in Bocklemünd, wohin man seinen Leib ein Jahr nach dem Tod aus Deutz überführt hatte136, und zwei Stolpersteine am Hansaring 39 für Heinz Frank und dessen Frau. Beide emigrierten 1933 in die Niederlande, von wo sie 1943 ins Todeslager Sobibor deportiert wurden. Stolpersteine liegen auch vor dem von Rabbiner Frank gegründeten Waisenhaus in Braunsfeld, nach seinem Tod in Abraham-Frank-Haus umbenannt und 1941 von den Nationalsozialisten geschlossen. Seine Renovierung ist unter Diskussion.137 Aus der Rotterdamer Familie von Franks Bruder Nathan fielen alle drei Neffen und sechs Großneffen der deutschen Besatzung zum Opfer.138 Rabbiner Frank war die religiöse Autorität der Kölner jüdischen Gemeinde zu der Zeit ihres größten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfolgs. Als Persönlichkeit der Öffentlichkeit hat er sich trotz des grassierenden Antisemitismus eine erstaunliche Achtung erworben, in weitesten Kreisen der Stadt, wie die Kölnische Zeitung schrieb, und noch weit darüber hinaus. In Anspielung auf seine drei wesentlichsten Wirkungskreise schrieb er 1906, daß mein Beruf, das hiesige Waisenhaus und wörtlich last not least die Alliance Isr. Univ. meine ganze freie Zeit beanspruchen.139 Seine Pariser Korrespondenz belegt seine Begeisterung für die universalistischen Ideen des Weltbundes, eine Überzeugung, die auch in seiner persönlichen Geschichte wurzelt. Diese Geschichte führt zurück zu den Viehhändlern, Schächtern und Räubern im niederrheinischen Grenzland, welche die Emanzipation früher als andere aschkenasische Juden erfuhren. Jede Geste und jede Zeile Franks verströmt die Selbstgewissheit eines Mannes, dessen Großmutter bereits als freie Batavierin in die Ehe getreten war; und diese Erfahrung der Gleichberechtigung nahm er mit nach Böhmen, Österreich und Köln. Am Breslauer Seminar der 1860er Jahre war er geformt in dem bürgerlich-konservativen Klima der Zeit, das zugleich liberal, weltoffen und optimistisch war und sich vom aufkochenden Nationalismus nicht vereinnahmen ließ. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg warf der Neubürger sich mit Begeisterung und Erfolg in das jüdische 136 Die Eröffnung des Friedhofs in Bocklemünd am 8. Dezember 1918 war bei Rabbiner Franks Tod bereits abzusehen. Man hat seinen Leib zunächst am 15. November 1917 in einer provisorischen Grabstätte in Deutz bestattet, um ihn später in ein Ehrengrab umzubetten (Gedenkblätter [Anm. 7], S. 4), das von dem bekannten rheinisch-jüdischen Bildhauer Leopold Fleischhacker gestaltet wurde und bis heute erhalten ist (Flur 22 F). 137 Susanne Esch: Letzte Station für Amalia. Neue Pläne für ehemaliges jüdisches Waisenhaus, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13.7.2020. 138 Vgl. URL: (Stand: 6.5.2022). 139 Frank an Bigart, 11.12.1906. AAIU AH Allemagne VII B 47.

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Versöhnungswerk. Dem nationalstaatlichen Geist der Jahrhundertwende setzte er erst einen zähen Widerstand und dann einen verzweifelten Verteidigungskampf entgegen. In mancher Hinsicht spiegelt sich in Rabbiner Franks Leben die Geschichte der rheinischen Juden, ja der Rheinlande selbst, die auf halber Strecke zwischen Berlin und Paris oft eine Mittlerposition ausfüllten. Konrad Adenauers deutsch-französischer Brückenschlag ist im historischen Gedächtnis geblieben; aber wir sollten seinen jüdischen Adlerordensbruder nicht vergessen, der sich in Köln zwei Generationen früher an den innereuropäischen Gegensätzen abarbeitete und schließlich von ihnen besiegt wurde.

War Heinrich Böll ein Schriftsteller? Der Literaturnobelpreisträger und der Lastenausgleich von Max Plassmann War Heinrich Böll ein Schriftsteller? Diese Frage im Zusammenhang mit einem Literaturnobelpreisträger zu stellen, scheint absurd. Jedoch beschäftigte sie sowohl Heinrich Böll selbst als auch das Ausgleichsamt der Stadt Köln bis in die 1970er Jahre, also noch lange nach der Auszeichnung. Dabei ging es allerdings nicht um die damals aktuellen Aktivitäten des späteren Ehrenbürgers, sondern um seine beruflichen Anfänge. Auf die um diese Frage geführten Diskussionen wirft nun eine neu im Historischen Archiv der Stadt Köln erschlossene Akte Licht.1 Worum ging es? Strittig zwischen Böll und dem Ausgleichsamt war die Frage, ob er eine Entschädigung für seine im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff vernichtete Bibliothek im Rahmen des Lastenausgleichs beanspruchen konnte. Bereits während des Zweiten Weltkriegs waren Entschädigungen für sogenannte Kriegsschäden gezahlt worden, wobei es sich in Köln hauptsächlich um ausgebombte Wohn- und Geschäftsimmobilien handelte. Nach dem Krieg wurde mit dem Soforthilfegesetz von 1949 und mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 an der Idee der Entschädigung deutscher Opfer der Kriegshandlungen (ohne nationalsozialistische Verbrechen, aber inklusive der sogenannten Vertreibung) festgehalten.2 Dazu wurden die Vermögen derjenigen herangezogen, die keine oder keine vergleichbar schweren Einbußen erlitten hatten. Der Verlust der Existenzgrundlage in Form eines landwirtschaftlichen oder Gewerbebetriebs, der Arbeitsmittel eines Selbständigen oder auch eines Vermögens (zu dem auch privater Hausrat zählen konnte) berechtigten folglich zur Beantragung von Lastenausgleichszahlungen. Das Thema wird häufig in Verbindung mit der Integration von Vertriebenen gesehen, und hier bestand auch der größte Bedarf. In einer schwer von Bombenangriffen getroffenen Stadt wie Köln waren aber die Schäden der alteingesessenen Bevölkerung von nicht geringerer Relevanz. 1 Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK) Best. 520 A 873. Soweit nicht anders angegeben, finden sich alle zitierten Quellen hier. Zur Biographie Bölls vgl. Heinrich Vormweg: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, Köln 2000. 2 Vgl. auch im Folgenden Willi Albers: Der Lastenausgleich. Rückblick und Beurteilung, in: FinanzArchiv 47 (1989), S. 272–298; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 92–109; Rüdiger Wenzel: Die große Verschiebung? Das Ringen um den Lastenausgleich im Nachkriegsdeutschland von den ersten Vorarbeiten bis zur Verabschiedung des Gesetzes 1952, Stuttgart 2008. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 207–216

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Im Herbst 1953 reichte Heinrich Böll seinen Antrag auf Feststellung von Kriegsschäden auf Grund des Feststellungsgesetzes vom 21. April 1952 ein. Von entscheidender Bedeutung war dabei u. a. Ziffer 9 des umfangreichen Formulars: Hier gab er als Beruf vor Eintritt des Schadens Student/Soldat an, und als derzeit – also 1953 – ausgeübten Beruf Schriftsteller/Selbständiger. Insgesamt drei Ausbombungen machte er sodann für seine Kölner Wohnungen geltend: am 31. Mai 1942 einen Totalschaden durch Brandbomben in der Kleingedankstraße 20 / Ecke Volksgartenstraße, am 30. April 1943 eine Schädigung durch Sprengbomben in der Neuenhöfer Allee 38 und am 30. Oktober 1944 wiederum eine Schädigung durch Sprengbomben im Karolingerring 17.3 Durch die drei Schadensereignisse zusammen musste sein sämtlicher in den Wohnungen verwahrter Besitz von vor Ende 1944 als weitgehend verloren gelten. In einer genaueren Aufstellung des in der Kleingedankstraße erlittenen Totalschadens aus der Feder Bölls aus dem Jahr 1955 findet sich zunächst die Angabe, dass er bereits als Entschädigung 4.715 RM erhalten habe, für die er noch im Krieg neuen Hausrat angeschafft habe. Die Angaben sind natürlich aus der Erinnerung zusammengestellt, so dass die Wertangaben nur geschätzt und nicht durch Belege nachgewiesen sind. Aber zwei ehemalige Nachbarn bestätigten Bölls Aufstellung eidesstattlich, nämlich Irmgard Maurie und Kurt-Josef Spallenberg. Im Einzelnen handelte es sich um folgende Posten, die sich zu 4.495 RM summieren4: Kleidung 2 Betten mit „Matrazen“ Bettzeug Bett- und Tischwäsche Gardinen 1. Teppich 2. Teppich Glas und Porzellan Küchengeräte Küchenmöbel Gasherd 1 Staubsauger 1 Schreibtisch Couch, Tisch, Stühle 1 Kleiderschrank

450 RM 300 RM 400 RM 300 RM 250 RM 400 RM 250 RM 350 RM 150 RM 350 RM 150 RM 175 RM 300 RM 370 RM 300 RM

3 Dieser ist im Antrag von 1953 fälschlicherweise nicht erwähnt, stattdessen wird dort die Neuenhöfer Allee 38 zweimal ausgebombt. Im Haus Karolingerring 17 befand sich die elterliche Wohnung Bölls. 4 Der Sachbearbeiter des Ausgleichsamts kam auf 4.745 RM.

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Diese Anschaffungen gingen dann wiederum bei den beiden nachfolgenden Ausbombungen verloren. Die Angaben zu dem Totalschaden in der Kleingedankstraße interessierten allerdings 1955 das Ausgleichsamt nicht mehr. Sie werfen aber aus heutiger Sicht ein interessantes Schlaglicht auf die Verfügbarkeit von Hausrat bis hin zum Staubsauger in der ersten Kriegshälfte. Es wäre sicherlich lohnend, aber hier vom Thema abführend, nach der Herkunft der Wohnungsausstattung zu fragen.5 Wichtiger als der Hausrat – dessen Verlust dann 1961 mit 2.000 DM entschädigt wurde – war für Böll seit 1955 ohnehin etwas anderes. Denn neben dem normalen Inventar einer Wohnung war auch Bölls Bibliothek verbrannt, deren Wert er mit 10.000 bis 11.000 RM angab. Ihren Verlust meldete er als Schaden an Gegenständen der Berufsausübung an, um dessen Entschädigung es in den folgenden Jahren gehen sollte. Die Angaben zur Zusammensetzung der Bibliothek sind dabei recht vage. So fehlt bereits die bei der Einschätzung und Bewertung von Bibliotheken unabdingbare Basisinformation zum Umfang in Bänden oder laufenden Metern. Zum Inhalt nannte Böll zunächst nur die Themenbereiche Philologie, Philosophie und Pädagogik – woraus der Schluss gezogen werden könnte, dass er entweder keine literarischen Werke besaß oder diese nicht als Mittel der Berufsausübung ansah. 1965, zehn Jahre nach seiner ersten Beschreibung der verlorenen Bibliothek, berichtigte Böll aber in einer Erläuterung für das Ausgleichsamt seine früheren Angaben. Eine Bücherzahl nannte er immer noch nicht, sondern gab an, es seien viele gewesen: Die Bibliothek habe Gesamtausgaben von Dostojewski6, Tolstoi, Dickens7, ­Goethe, Fontane und Hamsun umfasst. Allerdings nannte Böll keine bibliographischen Daten, die eine genauere Beurteilung zulassen würden.8 Hinzu kam die fünfbändige Geschichte der Stadt Köln von Leonard Ennen, die er ausdrücklich als sehr teuer charakterisierte. Dabei orientierte er sich offensichtlich an ihrer antiquarischen Verfügbarkeit im Jahr 1965 und nicht an ihrem Preis vor dem Krieg, als es sich um ein im Kölner bildungsbürgerlichen Kontext ubiquitär anzutreffendes Werk gehandelt haben dürfte.9 Die Bücher aus den Bereichen Philologie, Philosophie und Pädagogik wurden nun nicht mehr thematisiert.

5 Vgl. auch Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005. 6 Dostojewski gehörte nach Vormweg zu den frühen Lektüren Bölls, vgl. Vormweg, Der andere Deutsche (Anm. 1), S. 19. 7 Laut Vormweg ebenfalls eine frühe Lektüre, vgl. ibid., S. 42. 8 Für Goethe kommen beispielsweise die Ausgabe Stuttgart/Tübingen 1827–1830 oder – wahrscheinlicher – die Weimarer Ausgabe 1887–1919 in Betracht. 9  Leonard Ennen: Geschichte der Stadt Köln, meist aus den Quellen des Kölner StadtArchivs, 5 Bde, Köln/Neuss 1863–1880.

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Die Ausführungen von 1965 dokumentieren das Bemühen, den hohen finanziellen Wert der Bücherbestände zu belegen. Im Schreiben vom 24. September 1965 werden in einem Postskriptum erstmals auch Manuskripte angeführt, die ebenfalls bei den Luftangriffen verloren gegangen seien.10 Böll bat nun das Ausgleichsamt um Mitteilung, ob auch derartige Verluste an seinem Werk zu einer Kriegsschadenszahlung qualifizierten.11 Eine Beantwortung dieser Frage ist in der Akte nicht überliefert, auch kam Böll im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht mehr auf sie zurück. Die Darstellung hat dem Gang der Ereignisse vorgegriffen. Die Bearbeitung des Antrags von 1953 sollte sich aber wie die vieler anderer in der Folge deshalb in die Länge ziehen, weil das Ausgleichsamt eine Vielzahl von Anträgen zu bearbeiten hatte. Daher finden sich erst 1965 wieder Bearbeitungsspuren in der Akte, also zu einem Zeitpunkt, als Böll längst vom hoffnungsfrohen Jungtalent zum etablierten Literaten geworden war. Ein gewissenhafter Beamter vermerkte handschriftlich: Student? Wann 1. Buch veröffentlicht?12 Wieso 11000,Bücher, nicht Altschaden?13 Diese kritischen Fragen verweisen auf den Kern der nun folgenden Auseinandersetzung. Wenn es sich bei den Büchern um die Sammlung eines Freizeitlesers gehandelt hätte, wäre sie unter dem Hausratschaden zu subsumieren gewesen und damit abgegolten. Hätte es sich bei ihnen aber um das Arbeitsmaterial eines selbständigen Schriftstellers gehandelt, so wäre ein Entschädigungsanspruch für Gewerbetreibende entstanden – entweder als Verluste im Rahmen einer freiberuflichen Tätigkeit oder als Schäden an Gegenständen der Berufsausübung mit jeweils anderen Folgen für die Berechnung der Entschädigung. Die Kernfrage lautete aber zunächst: War Heinrich Böll am 31. Mai 1942, als die Wohnung Kleingedankstraße ausbrannte, ein selbständiger Schriftsteller? 10 Vollständig verloren sind die Vorkriegswerke allerdings nicht. Vormweg hat einige von ihnen eingesehen und sie als „Teil der Vorgeschichte des Schriftstellers“ (Vormweg, Der andere Deutsche [Anm. 1], S. 54) bezeichnet, die von geringer Relevanz für die Literaturgeschichte seien. Diese Einschätzung würde die des Ausgleichsamts stützen, nach der Böll damals noch kein Schriftsteller war. 11 Gemeint sein dürften erste Werke aus den Jahren 1936 bis 1938, während er nach eigener Aussage nach 1938 bis Kriegsende außer Briefen fast nichts schrieb – aus dem naheliegenden Grund, dass Militärdienst und Kriegseinsatz keine Zeit dafür ließen. Heinrich Böll: Heimkehr in die Fremde, in: Hans Scheurer (Hg.): Heinrich Böll. Bilder eines Lebens, Köln 1995, S. 7. 12 Tatsächlich gelang es Böll erst nach 1945, langsam und mühsam als Autor, der auch tatsächlich publizierte, Fuß zu fassen. Sein erster wirklicher Erfolg war Und sagte kein ein­ ziges Wort im selben Jahr 1953, als er den Antrag auf Lastenausgleich stellte. Vgl. Frank Finlay: „Ein krampfhaftes Augenzumachen“: Heinrich Böll and the Literaturbetrieb of the Early Post-war Years, in: Monatshefte 95 (2003), S. 97–115. 13 Die Frage nach dem Altschaden zielt vermutlich darauf ab, warum die wertvolle Bibliothek nicht bereits 1942 als Schaden gemeldet wurde.

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Seine eigene Berufsangabe zu diesem Zeitpunkt (Student/Soldat) ließ den Sachbearbeiter des Ausgleichsamts offenbar daran zweifeln. Um das zu klären, wurde Böll im Sommer 1965 vorgeladen, was allerdings auf eine unmittelbare Schwierigkeit stieß: Die Vorladung scheiterte daran, dass Böll zusammen mit seiner Ehefrau für mehrere Monate Russland besuchte und damit nicht in Köln verfügbar war. Nach seiner Rückkehr kündigte er jedoch telefonisch an, die notwendigen Belege einreichen zu wollen. Konkret reichte er neben dem bereits zitierten Schreiben zum Inhalt seiner Bibliothek zwei schriftliche Zeugenaussagen ein. Sein Jugendfreund Caspar Markard14 versicherte am 16. September 1965 eidesstattlich, dass ihm die schriftstellerische Tätigkeit Herrn Heinrich Bölls […] seit 1935 bekannt sei. Und ein Dr. J. Lohr gab – nicht eidesstattlich – zu Protokoll, dass er Böll seit 1940 kenne. Bei gelegentlichen Treffen während des Krieges habe man aus seinen Manuskripten gelesen und diese diskutiert. Beide Zeugen untermauerten also die Angabe, dass Böll schon vor und während des Krieges als Schriftsteller tätig gewesen war – was indes gar nichts zur Sache tat, denn dem Ausgleichsamt ging es nicht um die Schriftstellerei als solche, sondern um eine nachweisbare berufliche Tätigkeit und um einen nachweislichen Schaden an der Bibliothek. Die Antwort des Ausgleichsamts muss entsprechend ernüchternd gewirkt haben. Es konnte auf eine Kriegsschadensakte aus dem Jahr 1942 zurückgreifen15, der zufolge in der Kleingedankstraße ca. 320 Bücher verbrannt waren und Böll selbst damals diesen Schaden mit 150 RM beziffert hatte. Angesichts dieser voneinander abweichenden Angaben bat das Amt um Erläuterung. Mit der Frage, ob denn in der zweiten Wohnung weitere Bücher verloren gegangen seien, eröffnete es zugleich einen Weg zur Auflösung der Widersprüche. Der Wert der verbrannten Buchbestände wurde also hinterfragt. Den Angaben von 1942 zufolge hätte jeder Band im Durchschnitt weniger als 0,50 RM gekostet, was möglicherweise durch antiquarische Ankäufe und empfangene Geschenke zu erklären ist und einen nachvollziehbaren Betrag für einen finanziell noch nicht erfolgreichen Jungschriftsteller darstellte. Den Wert von 10.000 bis 11.000 RM konnte der Bearbeiter jedoch offensichtlich nicht mit seinen bisherigen Erfahrungen bei ähnlich gelagerten Fällen übereinbringen. Zum Vergleich: Die Monatsmiete für die 1942 ausgebombte Wohnung Kleingedankstraße gab Böll 1953 mit 85 DM16 an. Bei 320 Bänden hätte jeder einzelne etwa 34 RM gekostet, also mehr als ein Drittel der Monatsmiete. Auch im Vergleich zu seinen selbst deklarierten Vorkriegseinkünften scheint der Wert der Biblio14 Vgl. Vormweg, Der andere Deutsche (Anm. 1), S. 52. 15 Heute im Bestand des HAStK nicht nachweisbar. 16 Wohl eine Verschreibung für Reichsmark.

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thek unverhältnismäßig hoch zu sein. 1953 gab Böll an, 1937 3.800 RM sowie 1938 und 1939 jeweils 4.500 RM eingenommen zu haben, also in den drei Jahren insgesamt 12.800 RM. Dabei ist zu beachten, dass Böll 1937 das Abitur abgelegt hatte, dann eine kurz darauf abgebrochene Buchhändlerlehre anfing, 1938 im Reichsarbeitsdienst war, 1939 ein Studium begonnen hatte und ab Sommer 1939 bei der Wehrmacht war. Böll erklärte aber, dass es sich bei den 320 Büchern nur um die seiner Frau gehandelt habe, die in der erst kurz vor der Ausbombung bezogenen gemeinsamen Wohnung untergebracht worden seien. Seine eigene Bibliothek wie auch die meisten seiner Manuskripte seien in der elterlichen Wohnung Karolingerring 17 verblieben und dort im Juni 1943 vernichtet worden.17 Neuanschaffungen während des Krieges seien im nennenswerten Umfang nicht möglich gewesen, beispielsweise sei keine neue Dostojewski-Gesamtausgabe zu bekommen gewesen. Das Amt gab sich mit diesen Angaben nicht zufrieden, vielleicht auch, weil die Bibliotheksfrage offenbar eine grundsätzliche Bedeutung gewonnen zu haben scheint. Jedenfalls erkundigte sich die Stadt Lünen 1968 bei der Stadt Köln diesbezüglich. Ihr lag ein Antrag auf Anerkennung eines Vertreibungsschadens18 des ungleich weniger als Böll erfolgreichen Schriftstellers Werner Warsinsky (1910–1992)19 vor, der ebenfalls seine Bibliothek als Gegenstand der Berufsausübung geltend machte. Er hatte in Lünen darauf hingewiesen, dass es in Köln den parallelen Fall Böll gab. Das Kölner Ausgleichsamt konnte jedoch damals aufgrund des noch schwebenden Verfahrens keine abschließende Auskunft geben. 1972 – Böll hatte mittlerweile den Literaturnobelpreis erhalten – kam wieder Bewegung in die Angelegenheit. Die Vertretung der Eheleute Böll hatte nunmehr der Rechtsanwalt Wilhelm Kather übernommen. Unter anderem fehlte zu diesem Zeitpunkt ein Nachweis der Vermögenssituation der Bölls für 1948, den Kather offenbar vergeblich über die Finanzverwaltung zu besorgen versucht hatte. Diesem Problem scheint dann aber keine ausschlaggebende Bedeutung zugekommen zu sein. Vielmehr ging es nach wie vor um die Frage, ob Böll bereits im Krieg als Schriftsteller tätig gewesen war. Am 22. August 1973 notierte ein Sachbearbeiter, dass weder diese Angabe noch die zum Wert und 17 Woher aber diese Bücher stammten und wie sie finanziert worden waren, gab er nicht an. 18 Seine Bibliothek war ihm nicht durch Luftangriffe vernichtet worden, sondern war in seiner ursprünglichen, nun hinter dem Eisernen Vorhang liegenden Heimat zurückgeblieben. 19 Vgl. Art. „Werner Warsinsky“, in: Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren – 1750–1950, o. J., URL: https://www.lexikon-westfaelischer-autorinnen-und-autoren.de/ autoren/warsinsky-werner/ (18.1.2022).

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Inhalt der Bibliothek bislang durch belastbare Zeugenerklärungen belegt seien. Am Folgetag erklärte Kather, diese Erklärungen beibringen zu wollen, was nach Aktenlage jedoch nicht geschah. Erst 1976 kam Kather auf das Problem des fehlenden Vermögensnachweises von 1948 zurück, den beizubringen auch dem Ausgleichsamt in direktem Kontakt mit der Finanzverwaltung nicht gelungen war. Der Rechtsanwalt schloss daraus am 27. März 1976, dass die Bölls zum Stichtag kein Vermögen besaßen, weshalb sie auch nichts versteuert hatten. Das Ausgleichsamt folgte dieser pragmatischen und in Anbetracht der schwierigen Anfänge des erst später erfolgreichen Autors Heinrich Böll in der unmittelbaren Nachkriegszeit schlüssigen20 Interpretation. Offen war zu diesem Zeitpunkt allein die Frage der Entschädigung der Bibliothek, während für die verbrannten Manuskripte offenbar kein formeller Antrag eingereicht worden war. Am 14. April 1976 machte das Ausgleichsamt in einem Schreiben an Rechtsanwalt Kather keine Hoffnung auf eine rasche Abwicklung dieses Themas. Denn es sei nach wie vor nicht zu ersehen, ob es sich hierbei [dem Verlust der Bibliothek] um Verluste an Gegenständen einer freiberuflichen Tätigkeit oder an Gegenständen der Berufsausübung handelt. Diese Unterscheidung war nicht akademisch, sondern hatte Folgen für den Entschädigungsanspruch. Wenn Böll 1942 Student gewesen war, wie er in seinem ersten Antrag angegeben hatte, würde es sich bei seinen Büchern um Gegenstände der Berufsausübung21 handeln, also um den Handapparat eines Studierenden. Ein solcher Schaden wurde jedoch ganz allgemein unabhängig vom tatsächlichen Wert der Gegenstände auf unter 500 RM beziffert und war demnach zu niedrig, um überhaupt für eine Entschädigung nach Lastenausgleichsgesetz in Frage zu kommen. Sollte aber Böll 1942 freiberuflicher Schriftsteller gewesen sein, so wäre der Verlust der Inspirationsquelle22 Bibliothek durchaus entschädigungsfähig gewesen, jedoch nicht mit deren tatsächlichen Wert, sondern nur pauschal mit 500 RM, was mittlerweile grundsätzlich so geregelt war. Nachdem weder Kather noch Böll23 auf das letzte Schreiben des Amts reagierten, wurde die Akte schließlich ohne finale Erledigung geschlossen. Verdient hat an dem gesamten Vorgang am Ende nur der Rechtsanwalt Kather. 20 Vgl. Finlay, „Ein krampfhaftes Augenzumachen“ (Anm. 12). 21 Vgl. Albers, Lastenausgleich (Anm. 2), S. 282. 22 Wobei er sich in seinem Nachkriegswerk gerade nicht an ältere Literatur anlehnte, sondern einen eigenen Weg ging, vgl. Vormweg, Der andere Deutsche (Anm. 1), S. 19. 23 In einer Fernsehdiskussion äußerte Böll 1983 Verständnis dafür, dass Richter Gesetze unterschiedlich und daher bisweilen gegen sein subjektives Rechtsempfinden auslegten. Vielleicht hat diese Haltung dazu beigetragen, die Lastenausgleichsfrage letztlich auf sich beruhen zu lassen. Vgl. Heinrich Böll: „Gesetze sind vielfältig und interpretierbar“, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 31 (1998), S. 384.

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Am Ende war die Frage, ab wann Böll denn nun als Schriftsteller gelten konnte, nicht auf dem Wege eines Verwaltungsakts zu lösen. Das Ausgleichsamt musste, um verwaltungsmäßig korrekt zu handeln, einen formalen Maßstab anlegen. Demnach ist Schriftsteller, wer etwas publiziert und wenn möglich von den Honoraren leben kann. In diesem Sinne wurde Böll tatsächlich erst nach dem Krieg Schriftsteller, obwohl seine persönliche Wahrnehmung eine andere sein musste. Für ihn war der Zeitpunkt des Beschlusses, diesen Beruf zu ergreifen, das entscheidende Kriterium, und dieser lag nach seiner Erinnerung in der Vorkriegszeit. Es sei allerdings dahingestellt, ob er diese Interpretation auch gerichtlich hätte durchsetzen können. Weil nahezu alle authentischen Quellen aus der Jugendzeit Bölls vernichtet sind, ist es heute nicht mehr möglich zu klären, wann genau er den ernsthaften Entschluss fasste, die Schriftstellerlaufbahn einzuschlagen.24 Was dazu etwa Heinrich Vormweg in seiner Böll-Biographie schreibt, beruht ausschließlich auf späteren Erinnerungen und Berichten Bölls selbst, die aber literarisch überformt sind und wie alle Zeitzeugenberichte Verschiebungen, Veränderungen, Projektionen und Leerstellen aufweisen.25 Das dürfte vorbehaltlich einer näheren Auswertung auch für die sogenannten Kriegsbriefe gelten, die die Zeiten überlebt haben. Dabei handelt es sich um Bölls Briefwechsel mit seiner Ehefrau während des Krieges, der sicher einer doppelten Brechung unterlag. Da waren zunächst die allgemeinen Probleme der Feldpost, mit denen jeder zu kämpfen hatte: Zensur, Selbstzensur, Verschonung der Angehörigen vor allzu verstörenden oder dem Schreiber peinlichen Episoden, Verkürzungen aus Zeit- und Papiermangel. Hinzu kam dann, insbesondere wenn Böll sich damals schon als Schriftsteller verstand, das mögliche Verschwimmen der Grenzen zwischen literarischem Werk und persönlichem Brief. Da er die Kriegsbriefe aber nicht im Lastenausgleichsverfahren als Beweise für seine schriftstellerische Tätigkeit vorlegte, dürften sie in dieser Hinsicht ohnehin nicht weiterhelfen. Das gilt auch für die Einschätzung des Umfangs, des Inhalts und des Werts seiner Bibliothek. Hier musste das Amt am Ende gar keine Einzelheiten mehr prüfen, so dass diese Details im Lastenausgleichsverfahren letztlich irrelevant waren und nicht abschließend bewertet wurden. Am Anfang ging es Böll noch sehr darum, sie als umfangreich und kostbar zu beschreiben, um auf dieser Basis eine entsprechend hohe Ausgleichszahlung zu erhalten. Maßgeblich war 24 Böll datiert diesen Beschluss auf 1938, vgl. Vormweg, Der andere Deutsche (Anm. 1), S. 52. 25 Das ist bereits bei einer seiner frühesten Erinnerungen der Fall, der zufolge er als Einjähriger auf dem Arm seiner Mutter die Rückkehr der deutschen Armee von der Westfront gesehen haben will, vgl. ibid., S. 32.

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letztlich wohl, dass er zwar Zeugen für seine damalige schriftstellerische Tätigkeit aufbieten konnte, nicht aber solche, die eine umfangreiche Bibliothek in seinem Elternhaus hätten bestätigen können. Die Rolle, die die Lektüre anderer Autorinnen und Autoren bei der Formung eines eigenen Stils spielen kann, macht die Frage nach den jeweils verfügbaren Buchbeständen für die Analyse eines Werks relevant. Es wäre tatsächlich interessant, Bölls genauen Lektürekanon sowie Anstreichungen und Kommentare des Jugendlichen in den genutzten Exemplaren zu kennen. Mehr als das, was Böll nach dem Krieg zu diesem Thema geschrieben hat, wird man jedoch nicht erfahren können. Auch über die Frage nach den Motiven Bölls, das Lastenausgleichsverfahren über mehr als 20 Jahre zu betreiben, kann allenfalls spekuliert werden.26 1953 war er als Schriftsteller noch nicht fest etabliert. Die Ausgleichszahlungen hätten also einen fühlbaren Beitrag zur materiellen Absicherung seiner Familie darstellen können. Gelegentlich hatte er sogar einer gewisse Sympathie für die Bewohner der kriegszerstörten Städte geäußert, die Diebstahl als so ’ne Art materieller Lastenausgleich27 in Selbsthilfe betrieben. Lag es daher nahe, auch ein Stück vom großen Kuchen für sich zu reklamieren? Ein solches materielles Motiv dürfte spätestens seit der Verleihung des Literaturnobelpreises keine Rolle mehr gespielt haben. Aber auch in den 1970er Jahren war es Böll ein Anliegen, eine angemessene finanzielle Ausstattung von Literaten ganz allgemein zu fordern.28 War deshalb der Lastenausgleichsantrag zu einer prinzipiellen Sache geworden? Weniger, weil jüngere Autorinnen und Autoren davon direkt hätten profitieren können – das Thema war ja auf die Kriegsgeneration beschränkt. Aber es kann Böll auch darum gegangen sein, eine amtliche Stelle zum Eingeständnis zu bringen, seine Warte zu akzeptieren, nämlich dass der bloße Entschluss eines jungen Menschen, seinen Lebensunterhalt mit der Schriftstellerei verdienen zu wollen, schon zur Anerkennung einer Berufsausübung qualifizierte – also nicht erst tatsächliche Veröffentlichungen oder gar nachweisbarer finanzieller Gewinn aus diesen. Auf der Basis einer solchen amtlichen Anerkennung hätte dann auch eine gesellschaftliche Diskussion darüber angestoßen werden können, ob und wie daraus öffentliche Bemühungen 26 Der Nachlass HAStK Best. 1326 enthält nach dem derzeitigen Stand der Erschließung keine Gegenüberlieferung zur Akte des Lastenausgleichsamts. 27 Zit. nach: Christian Linder: Heinrich Böll. Leben & Schreiben, 1917–1985, Köln 1986, S. 108. 28 Vgl. z. B. Janusch Carl: Wo warst Du, Nachlass? – Der Bestand 1326 (Heinrich Böll) im Historischen Archiv der Stadt Köln, in: Religiöse Vielfalt in Köln. Beiträge des Begleitprogramms der Ausstellung „Hilliges Köln 2.0 – Auf dem Weg zur religiösen Toleranz?“. Mit Beiträgen von Stefan Bachmann u. a. (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 104), Köln 2019, S. 105–115, hier S. 106.

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um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Literatennachwuchses folgen sollten. Wenn dies das Ziel der späten Initiativen gewesen sein sollte, sind diese jedoch ins Leere gelaufen. Die Frage „Wer ist Schriftstellerin oder Schriftsteller?“ lässt sich am Ende nicht durch einen Verwaltungsakt klären.

Archivierung von Fotobeständen aus Cellulosenitrat durch das Rheinische Bildarchiv Köln von Johanna Gummlich Das Rheinische Bildarchiv (RBA) produziert, sammelt, bewahrt und vermittelt seit seiner Gründung 1926 Fotografien in unterschiedlichsten Formaten. Es gehört zu den größten kunsthistorischen Fotoarchiven in Deutschland und ist als kommunale Einrichtung einzigartig. Das RBA entwickelt analoge und digitale Präsentationsstrategien und kooperiert mit den Kölner Museen und Kultureinrichtungen, vielen anderen Bildarchiven und der freien Szene. Seine zentralen Aufgaben sind: 1. Fotografische Dokumentation von Kunstwerken in den Kölner Museen und von Objekten, Architektur und Baudenkmälern in Köln und der Region um Köln 1. Bereitstellung von Bildern für Wissenschaft und Forschung, private und kommerzielle Zwecke 2. Sammeln und Bewahren von Fotobeständen mit einem Bezug zu Köln. Seit 2010 hat sich der Archivbestand verfünffacht. Er umfasst nunmehr rund 5,5 Millionen Fotografien in vielen Formaten vom Kleinbild bis zum größten Glasnegativ (70 × 90 cm) und Materialien, die die technische Geschichte der Fotografie seit dem 19. Jahrhundert widerspiegeln. Wir konservieren Glasund Filmnegative, Diapositive in Kleinbild und Mittelformat, Positivabzüge sowie über 800.000 Digitalaufnahmen. Die Bestände des RBA sind unterschiedlicher Provenienz. Es wurden Fotos von Vorgängereinrichtungen übernommen, doch produzierte das RBA seit seinen Anfängen einen großen Teil seiner Bestände selbst durch eigene Fotokampagnen. Vor allem durch diese Kampagnen wurde das RBA zum Dienstleister der Stadt Köln für anspruchsvolle fotografische Sachaufnahmen. Bis heute werden diese regelmäßig von sechs der neun fest angestellten Fotografinnen und Fotografen sowie von drei bis sechs Fotografen-Auszubildenden angefertigt. Im Zentrum der städtischen Aufträge stehen die Museen der Stadt Köln, deren Kunstwerke und Sammlungsobjekte für Bestands- und Ausstellungskataloge im Bild dokumentiert werden. Die Bestände aus Eigenproduktion werden ergänzt durch zahlreiche Schenkungen und Deposita, darunter das umfangreiche analoge Kölnmesse-Bildarchiv.

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Abb. 1: Screenshot von digitalisierten Cellulosenitratnegativen in der Bilddatenbank www. kulturelles-erbe-koeln.de (Stand 1.1.2022).

Für die konservatorische Betreuung der Bestände wurde 1970 eine Restauratorenstelle eingerichtet, die Klaus Brendel 41 Jahre bis Oktober 2011 innehatte; gefolgt von Anna Christine Wagner, die sich seit 2019 die Stelle mit Eva Boer teilt.1 Der Umstieg von der analogen zur Digitalfotografie für die Standardfotoaufträge erfolgte 2008 und leitete zugleich den Beginn der Digitalisierung des analogen Archivbestands ein. Der Erhalt des praktischen Wissens über analoge Fotoverfahren ist seitdem in den Aufgabenbereich der Restaurierung und Bestandserhaltung übergegangen. Seit 2012 verfügt das RBA mit www.kulturelles-erbe-koeln.de (KEK) über eine eigene Bilddatenbank. Dort sind aktuell über 883.000 Fotografien nachgewiesen. Ein großer Teil davon ist in einer Auflösung von 72 dpi bei maximaler Bilddateilänge von 1 200 Pixeln uneingeschränkt im Internet zugänglich. Die Nutzung dieser Bilddateien ist für wissenschaftliche oder private Zwecke frei, für kommerzielle gebührenpflichtig. Bilder in höherer Auflösung werden im Rahmen des Fotovertriebs individuell zur Verfügung gestellt. Der Fotovertrieb ist durch eine vom Kölner Stadtrat beschlossene Entgeltordnung geregelt.

1 S. auch: Anna C. Wagner: Fotonegative – konservieren oder restaurieren? Warum es für Fotonegative einer eigenen Restaurierungsethik bedarf, in: Rundbrief Fotografie N.F. 21 (2012), 4, S. 5–7.

Archivierung von Fotobeständen aus Cellulosenitrat

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Umzug als Auslöser Das Rheinische Bildarchiv ist 2021 gemeinsam mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln in den Archivneubau am Eifelwall umgezogen. Die Vorbereitungen für den Umzug des Bildarchivs begannen wesentlich früher. Hierzu gehörten unter anderem Zustands- und Materialprüfungen. Diese ergaben einerseits zuverlässige und nachprüfbare Ergebnisse über den Erhaltungszustand der verschiedenen Bestandsgruppen und ihre Transportfähigkeit und andererseits überraschend neue Erkenntnisse über Umfang und Inhalt der Bestände aus Cellulosenitratfilm. 2015 untersuchte Anna Christine Wagner die RBA-Fotobestände zunächst stichprobenartig auf Cellulosenitratfilm. Anschließend folgten Prüfungen in anderen stadtkölnischen Kultureinrichtungen. Cellulosenitrat ist in Deutschland von etwa 1890 bis in die 1950er Jahre hinein in chemischer Verbindung mit einem Weichmacher (meist Kampfer) und teilweise mit Füll- oder Farbstoffen als Trägermaterial für die Emulsionsschicht von Film- (Bewegtbild) oder Fotonegativen (Stehbild) verwendet worden. Das Material ist extrem entzündlich und gefährlich. Der Umgang mit Cellulosenitrat ist aufgrund der erwiesenen Explosionsgefährlichkeit in Verordnungen und Gesetzen geregelt. Der Verwendungszeitraum von Cellulosenitrat deckt sich mit gut einem Vierteljahrhundert des Bestehens des RBA und damit einem gewissen Teil der fotografischen Eigenproduktion. Durch ältere Bestände, die von den Fotobildstellen verschiedener Kölner Museen, zudem vom Stadtkonservator oder auch durch Schenkungen an das RBA gelangt sind, erweitert sich die Zeitspanne der betroffenen Bestände über den gesamten Nutzungszeitraum von Cellulosenitrat. Entsprechend wurden die Materialkontrollen 2020 bei einem groß angelegten Umverpackungsprojekt, das die Vorbereitung der Mittelformat-Bestände auf den Umzug zum Ziel hatte, noch einmal deutlich ausgedehnt. Glücklicherweise gibt es Verfahren, die es erlauben, die gefährlichen Bestände relativ rasch zu identifizieren. Neben dem Rückgriff auf vorhandene Filmkerben-Listen, die eine Identifikation anhand kleiner Einschnitte am Filmrand erlauben, wurden der Schwimmtest (Trichlorethylen-Methode) und die Methode der gekreuzten Polarisationsfilter genutzt, durch die die bestehenden Listen erweitert werden konnten. Schon bei den ersten Analysen ab 2015 zeichnete sich ab, dass die im RBA vorhandene Gesamtmenge an Cellulosenitratfilm die gesetzlichen Kleinmengenregelungen2 deutlich überschreitet. Damit ist eine Lagerung wie bisher

2 Sprengstofflager-Richtlinien: Richtlinie Aufbewahrung kleiner Mengen (SprengLR 410) vom 10. Dezember 1981, Bundesarbeitsblatt 2 (1982), S. 72.

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Abb. 2: Karl Hugo Schmölz: Köln. Brückenbau über den Rhein, 12.8.1947. Silbergelatine/ Zellulosenitratfilm (Filmkerbe rechts oben: Kodak Eastman 453), 18 x 24 cm. Köln, Rheinisches Bildarchiv (Inv.-Nr. RBA 713 476 (13232), Zugang 1999/2000). https://www. kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/05126340 (Stand: 1.4.2022).

ausgeschlossen. Die Überführung dieses Filmmaterials in den Neubau ist wegen der speziellen Auflagen hinsichtlich des Personen- und Brandschutzes grundsätzlich nicht möglich. Stattdessen wurden Prozesse und Lösungen entwickelt, die eine Bearbeitung mit uneingeschränkter Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des RBA gewährleisteten und durch die eine genehmigungsfähige Lagerung entsprechend § 17 „Sprengstoff-Gesetz“ erreicht werden kann.4 Das RBA wurde hierbei von Christian Hausen, dem 3 Vgl. Klaus Kramer: Nitratfilme identifizieren und aussondern. Stand: Mai 2009; URL: http://www.klauskramer.de/nitrofilm/Planfilm-Kerbungen_neu.pdf, (Stand: 1.4.2022). 4 Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz – SprengG), § 17 Lagergenehmigung (vgl. URL: https://www.gesetze-im-internet.de/sprengg_1976/__17.html, Stand: 1.4.2022). Das Sprengstoffrecht regelt den Umgang und Verkehr mit explosionsgefährlichen Stoffen. Der Umgang umfasst das Herstellen, Bearbeiten, Verarbeiten, Wiedergewinnen, Aufbewahren, Verbringen, Verwenden und Vernichten sowie innerhalb der Betriebsstätte den Transport, das Überlassen und die Empfangnahme. Anlage III zum SprengG (Explosivstoffliste) + (Wissenschaftliche Dienste / Deutscher Bundestag WD10 -3000–020/16): Bisweilen wird davon ausgegangen, dass Nitrocellulose in Form von Nitrofotos unter die Stoffgruppe C fällt und damit als sonstiger explosionsgefährlicher Stoff zu werten ist. Anzuwenden ist das Sprengstoffrecht in Bezug auf den

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Leiter des Fachdezernats 55 „Technischer Arbeitsschutz“ bei der Bezirksregierung Köln, das zugleich die für die Lagergenehmigung zuständige Stelle darstellt und die Koordination der zu beteiligenden Behörden wie Ordnungsamt, Feuerwehr, Unterer Landschaftsschutzbehörde, Kriminalpolizei und Bauordnungsamt organisiert, engagiert und fachlich hervorragend beraten. Hierfür gebührt ihm unser besonderer Dank! Im RBA-Bestand befinden sich rund 40 000 Negative unterschiedlicher Formate aus Cellulosenitratfilm mit einem überschlägig errechneten Bruttogesamtgewicht von etwa 200 kg. Eine Differenzierung in Gewicht von Trägermaterial und Beschichtungen (Schutzschichten und lichtempfindliche Schicht/ Emulsion) ist aufgrund der unterschiedlichen Formate und Fertigungstechniken und noch unbekannten Anteilen der unterschiedlichen Filme nicht ohne größeren Aufwand und vor allem nicht ohne Eingriff in das Material möglich. Daher wurde auf eine solche Differenzierung verzichtet zugunsten des Fokus auf die Erhaltungsmaßnahmen. Die Summe mag beeindruckend erscheinen. Es sind dennoch nur 0,5 Prozent des RBA-Gesamtbestands, obwohl sowohl RBA-eigene Bestände als auch Deposita betroffen sind. Aber auch diese im Verhältnis geringe Menge stellte in der früheren Aufbewahrungsform ein potentielles Risiko für den restlichen Bestand dar und vor allem auch für die Mitarbeiter*innen, weil die einzelnen Filme überall in den Beständen und Magazinräumen verteilt waren. Zudem bestand Handlungsbedarf aufgrund des stetigen autokatalytischen Zersetzungsprozesses. In den Museen und Sammlungen in der Zuständigkeit des Kölner Dezernats für Kunst und Kultur lagern verteilt weitere circa 100 kg Fotobestände aus Cellulosenitrat. Sowohl im RBA als auch in den Museen und Sammlungen handelt es sich weit überwiegend um Stehbilder, die in Einzelnegativtaschen oder Negativfilmhüllen verpackt in klimatisierten Magazinen aufbewahrt sind. Die Cellulosenitrat­ negative im RBA sind in sehr gutem und stabilem Erhaltungszustand. Einzelne weisen geringfügige Verfärbungen auf. Sie können durchweg in die niedrigste Kategorie nach dem siebenstufigen Klassifikationssystem der deutschen DINNorm zu Zellhornfilm5 bzw. Level 1–2 des sechsstufigen amerikanischen Klas-

Umgang mit Nitrofotos insoweit, wie deren Aufbewahrung im Zusammenhang mit der Wiedergewinnung steht. Bisweilen wird unter den Begriff der Wiedergewinnung auch die Aufarbeitung der Originale, also die Restaurierung, gefasst. 5 Vgl. DIN 15551–3: Strahlungsempfindliche Filme – Zellhornfilm – Teil 3: Begriffe, Eigenschaften, Handhabung, Lagerung, Februar 2011, S. 10, Anhang A.2: 1. Stadium: Vereinzelte Stockflecken und/oder Silberausfällungen, zum Teil muffiger Geruch.

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sifikationssystems des Northeast Document Conservation Center6 oder Stufe 1 (von 5) nach James Cummings7 eingestuft werden.

Schwarz-Weiß-Negative auf Polycarbonat-Filmträgern 2020 traten im Verlauf der Materialanalysen im Hinblick auf die Identifikation von Cellulosenitratnegativen mit der Methode der gekreuzten Polarisationsfilter uneindeutige Ergebnisse auf. Diese fielen dem für die Bestandsbetreuung zuständigen RBA-Fotografen Nikolaos Choudetsanakis auf. Die Negative waren von dem externen Restauratorenteam der Umverpackungskampagne zunächst als Acetatfilm eingestuft worden. Seiner sorgfältigen Beobachtung verdanken wir die neue Erkenntnis, dass es im RBA Schwarz-Weiß-Negative gibt, deren Filmträger aus dem selten verwendeten Polycarbonat besteht. Winzige Proben dreier Negative wurden daraufhin von Dirk Andreas Lichtblau mit seinem SurveNIR-System8 untersucht. Das Motiv RBA 012 571 (Abb. 3) war ursprünglich auf Glas fotografiert worden. Vermutlich in den 1970er Jahren wurde zur Schonung der Glasplatte ein Repronegativ hergestellt, das die gleiche Nummer trägt. Für die Reproduktion wurde ein Polycarbonatfilm verwendet. Das RBA besitzt also von der vermutlich gegen Ende der 1920er Jahre entstandenen Aufnahme der Buchseite fol. 93v mit Zierinitiale aus der Chronik von Sankt Pantaleon aus dem 12. Jahrhundert (Düsseldorf, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Inv.-Nr. G V 2) das Originalnegativ auf Glas und ein

6 Vgl. Monique Fischer: NEDCC Preservation Leaflet 5.1. A Short Guide to Film Base Photographic Materials: Identification, Care, and Duplication, S. 3, aktualisierte Fassung von 2020: Level 1: No deterioration. Level 2: The negatives begin to yellow and mirror. Online verfügbar unter URL: https://www.nedcc.org/assets/media/documents/Preserva tion%20Leaflets/5_1_FilmBaseGuide_2020.pdf (Stand: 8.4.2022). 7 Vgl. James W. Cummings/Alvin C. Hutton/Howard Silfin: Spontaneous Ignition of Decomposing Cellulose Nitrate Film, in: Journal of the SMPTE, 54 (March 1950), S. 268– 274. Vgl. Paul Messier: Preserving Your Collection of Film-Based Photographic Negatives, 1993, mit weiteren Literaturhinweisen, URL: https://cool.culturalheritage.org/byauth/ messier/negrmcc.html (Stand: 8.4.2022). 8 „ SurveNIR ist eine zerstörungsfreie, nicht invasive Messtechnologie auf der Basis der Nahinfrarotspektroskopie. Licht mit infraroten Anteilen wird vom Objekt teilweise absorbiert, das restliche Licht wird von der Probe zurückgeworfen und mittels eines lichtempfindlichen Sensors aufgefangen und mit chemometrischen Methoden ausgewertet. Eine Messung mit dem SurveNIR dauert nur wenige Sekunden, die Bearbeitungszeit wird weitestgehend durch den sicheren Umgang mit dem Objekt bestimmt.“ Aus: Dirk A. Lichtblau: Materialidentifikation von Filmträgern des Rheinischen Bildarchivs mit SuveNIR. Untersuchungsbericht Mai 2020/Januar 2021. Vgl. Antonia Teweleit u. a.: Auf den Träger kommt es an. Zerstörungsfreie Identifikation von Negativen aus Cellulosenitrat, Celluloseacetat und Polyester, in: Rundbrief Fotografie 24 (2017), No. 1 [N.F. 93], S. 23–29.

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Abb. 3 (l.o.): Chronik von Sankt Pantaleon, fol. 93 v, 12. Jh., Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Inv.-Nr. G V 2, Zierinitiale (RBA MF012 571). Abb. 4 (u.): Luftaufnahme der US-Luftwaffe vom kriegszerstörten Köln vom 19. November 1944 (RBA 161 376) Abb. 5 (r.o.): Kunstreproduktion im Fotografenbestand Heinrich Pieroth (RBA Pie KU XCIII 15)

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Repronegativ auf Polycarbonat.9 Bei den beiden anderen Proben konnte das Trägermaterial hingegen eindeutig als Celluloseacetat bestimmt werden. Das Negativ RBA 161 376 (Abb. 4) ist eine Luftaufnahme der US-Luftwaffe vom kriegszerstörten Köln vom 19. November 1944.10 Beim Negativ Pie KU XCIII 15 (Abb. 5) handelt es sich um eine Kunstreproduktion im Fotografenbestand Heinrich Pieroth, der in den 1920er bis 1950er Jahren tätig war. Ausgehend von Lichtblaus Untersuchungsbericht ist nun geplant, motivisch zusammenhängende Serien vertieft auf ihre Materialität hin zu überprüfen und hierdurch bessere Anhaltspunkte für eine optimale Konservierung zu ermitteln. Zugleich veranschaulicht der Fall, dass zur zuverlässigen Anwendung der bekannten Identifikationsverfahren ein erhebliches Maß an Erfahrungswissen notwendig ist.

Übergreifende Bewertungskriterien und Einzelfallprüfung Parallel zu Mengenanalyse und Zustandskontrolle wurde das betroffene Bildmaterial inhaltlich auf seine (foto-)historische, dokumentarische und künstlerische Bedeutung im Sinne der im RBA aufgestellten Bewertungskriterien untersucht. Diese Bewertungskriterien, die im RBA für die Ermittlung der Archivwürdigkeit bei der Beurteilung von Schenkungen und Ankäufen angewendet werden, lassen sich auch nutzen, um die Notwendigkeit eines Erhalts von Beständen aus Cellulosenitrat zu beurteilen. Für die Archivierung im Rheinischen Bildarchiv kommen Fotografien in Betracht, die einen Bezug zur Stadt Köln aufweisen • insbesondere zu den städtischen Museen und Sammlungen mit ihren breitgefächerten Sammlungen von der Antike bis in die Gegenwart, • zur Geschichte der Stadt Köln in ihren jetzigen bzw. früheren kunst- und kulturhistorischen Wirkungsbereichen (z. B. in den Dimensionen der Preußischen Rheinprovinz von 1822 bis nach dem Zweiten Weltkrieg) • zur Bedeutung Kölns als Stadt der Fotografie. Relevant sind ebenso Lebenswerke von Fotografen oder Fotografinnen, die eine maßgebliche Zeit in Köln gelebt und/oder gewirkt haben, oder eine repräsentative Werkauswahl oder bedeutende Einzelwerke solcher Fotografinnen und Fotografen. Von Bedeutung kann zudem sein, dass ein Bestand einen rele  9 Vgl. Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/20493623 (Stand: 8.4.2022). 10 Vgl. Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/20093894 (Stand: 8.4.2022).

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vanten Bezug zu einem bereits vorhandenen Sammlungsbestand des Rheinischen Bildarchivs aufweist. Ergänzend ist mit einzubeziehen, ob eine öffentliche Verfügbarmachung für Forschung und Wissenschaft, kommerzielle Verwerter oder private Zwecke realistisch erreichbar und zulässig ist a) hinsichtlich nachvollziehbarer Provenienzen und Bildrechte b) hinsichtlich der Identifizierung der Bildinhalte. Ebenso können die fotografische, fotohistorische, künstlerische und/oder dokumentarische Qualität entscheidende Argumente liefern. Schließlich muss der konservatorische Zustand analysiert werden, bevor eine Entscheidung über den Verbleib eines Bestands im RBA getroffen werden kann. Hierfür ist das Gefährdungspotential für den Bestand des RBA zu ermitteln und abzuschätzen, ob eine erfolgreiche Reinigung, Restaurierung oder zumindest Konservierung zielführend und mit einem realistischen Aufwand an Zeit und Kosten durchgeführt werden kann. Diese Bewertungskriterien sind aus praktischen Fällen zusammengetragen. Für sie wird weder Vollständigkeitsanspruch erhoben noch ersetzen sie eine sorgfältige Einzelfallprüfung. In der Gesamtschau der unterschiedlichen Bewertungskriterien wurde das zuletzt genannte Kriterium, die konservatorische Zustandsanalyse und Bewertung der Gefährlichkeit von Fotomaterial aus Cellulosenitrat aufgrund des autokatalytischen Zersetzungsprozesses oder auch von Acetatfilm (Essigsäure-Syndrom), in Deutschland über einen längeren Zeitraum zum Anlass genommen, Originalnegative zu vernichten.11 Diese Praxis wurde mit guten Gründen hinterfragt und kritisiert. Jüngere Forschungsarbeiten haben alternative Erhaltungskonzepte vorgelegt, die der Tatsache Rechnung tragen, dass Fotonegative „Gegenstand reflektierender wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ sind. Sie „dienen als Sachquelle für die Geschichtswissenschaft. Die formale Gestalt, die materielle Beschaffenheit, die Spuren der Herstellung, des Gebrauchs und des Alters machen als Summe die Authentizität der Negative aus und sind in die11 Vgl. Maxi Zimmermann: Cellulosenitrat-Fotonegative im Bestand „Bild 101 Propagandakompagnien der Wehrmacht“ im Bundesarchiv. Erfassung, Umkopierung, Digitalisierung und Erhaltung. Diplomarbeit, vorgelegt dem Fachbereich 5: Gestaltung, Studiengang Konservierung, Restaurierung/Grabungstechnik der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. 30.9.2009, S. 16, 23 f. und 36 mit Beschreibung der Informationsverluste bei Umkopierung auf Mikrofiche und hierdurch verursachte Einschränkungen bei der Erschließung (S. 29). Vgl. Rainer Hofmann: Neue Normen: Archivierung von Filmmaterialien, in: Rundbrief Fotografie 18, No. 2 / N.F. 70, Juni 2011, S. 309 f. mit Betonung der Kassation als Regelfall.

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sem komplexen Zusammenspiel so zu erhalten, dass sie der Wissenschaft dienen und dem Nutzer Zugang zu einem historischen Zeitraum ermöglichen.“12 In den vergangenen Jahrzehnten war in Deutschland der Umgang mit diesem Material von der Vorgehensweise des Bundesarchivs dominiert, die eine Ersatzverfilmung und anschließende Vernichtung des Materials vorsah.13 Die deutsche Archivierungspraxis bewegte sich damit außerhalb der europäischen Vorgehensweise, was kritische Stimmen monierten.14 Anfragen des RBA beim Bundesarchiv nach Übernahme der als eindeutig erhaltenswert eingestuften Kölner Cellulosenitratnegative wurden ablehnend beschieden. In anderen Ländern waren hingegen längst nationale Erhaltungsstrategien erarbeitet und umgesetzt worden, so beispielsweise das amerikanische Museum Handbook des National Park Service mit dem Appendix M: Management of Cellulose Nitrate and Ester Film (NPS Museum Handbook, Part I) von 1999 oder in Frankreich der 2005 veröffentlichte Plan de Nitrat15. 2016 hat das RBA daraufhin ein eigenes Sicherheitsmagazin für die langfristige Aufbewahrung von Fotomaterial aus Cellulosenitrat entsprechend der Auflagen der Bezirksregierung, der Kriminalpolizei und der Feuerwehr in einer Bunkeranlage außerhalb von Köln eingerichtet. Dort wird das Fotomaterial in Tiefkühlgeräten bei -18° C aufbewahrt. Damit folgt das RBA den 12  Zimmermann, Cellulosenitrat-Fotonegative (Anm. 11), S. 111. 13 Klaus Kramer resümiert in seinem bis heute online verfügbaren Artikel 2009: „Sollten Sie in Ihrem Archiv Nitrat-Filmmaterial aufbewahren, setzen Sie sich mit dem Bundesarchiv in Koblenz in Verbindung, das Sie über die weitere Vorgehensweise beraten wird. Als Staatsbehörde ist das Bundesarchiv verpflichtet, archivgefährdendes Nitratmaterial ­entgegenzunehmen und gegebenenfalls in eigens hierfür ausgestatteten Bunkern aufzubewahren. Das Bundesarchiv benutzt hierfür die Munitionslager einer aufgelassenen Raketenstellung im Westerwald, deren Zäune, Erdwälle und militärische Sicherheitseinrichtungen und Geländebewachung zum Schutz der Öffentlichkeit beibehalten wurden. Film- und Bilddokumente, die als unwichtig eingestuft werden, vernichtet das Bundesarchiv sachgemäß. Sie sollten daher gefährdete Negative durch eine möglichst großformatige Sicherungsfotografie mit archivfest verarbeitetem Filmmaterial für Ihr Archiv retten.“ S. Klaus Kramer: Nitratfilme identifizieren und aussondern (2009), URL: http://www.klauskramer.de/nitrofilm/nitratfilm_top_04-09.html (Stand: 11.4.2022). 14  Dirk Alt: Kassieren und blamieren. Skandal im Land der Dichter und Denker: Das Bundesarchiv vernichtet historisches Filmmaterial laufend und in großem Stil, in: Der Freitag, Ausgabe 3115 vom 3.8.2015, URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/kassierenund-blamieren (Stand: 12.4.2022); Sonja M. Schulz: Feuer frei aufs Filmerbe? Interview mit Dr. Dirk Alt, Initiative Filmdokumente retten, und Dr. Michael Hollmann, Leiter des Bundesarchivs, in: FILM & TV KAMERA 6 (2016), S. 26–30. 15 Les négatifs photographiques en nitrate de cellulose: Le «plan nitrate» de la Ville de Paris. Françoise Ploye. Atelier de restauration et de conservation des photographies de la Ville de Paris (ARCP). Article publié dans Support/Tracé n°5, 2005. Vgl. Françoise Ploye: Fotografische Negative aus Zellulosenitrat. Der Nitratplan der Stadt Paris (Teil 1), in: Rundbrief Fotografie 12 (2006) No. 1, S. 5–11; Ders.: Fotografische Negative aus Zellulosenitrat. Der Nitratplan der Stadt Paris (Teil 2), in: Rundbrief Fotografie 12 (2006) No. 2, S. 4–7.

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Abb. 6: Raumdokumentationsfoto vom RBA-Sicherheitsmagazin (Foto: Michael Albers)

Empfehlungen des National Park Service.16 Die Lagergenehmigung für die Einlagerung des Fotomaterials wurde im April 2017 von der Bezirksregierung Köln erteilt; darüber hinaus wurde eine separate Gefährdungsbeurteilung für die Arbeit im Sicherheitsmagazin mit Sonderauflagen in Zusammenarbeit mit der Steuerungsstelle Gesundheitsmanagement und Arbeitsschutz der Stadt Köln erstellt. Das Sicherheitsmagazin ist nicht nur mit der üblichen Alarmmeldetechnik ausgestattet, sondern zusätzlich mit Sensoren, die auf das dienstliche Smartphone des/der jeweils in Rufbereitschaft befindlichen Kollegen bzw. Kollegin aufgeschaltet sind. Diese Meldeanlage signalisiert per SMS Abweichungen der Raumtemperatur oder Bewegungen sowie Temperaturschwankungen in jedem einzelnen Kühlgerät. Ein leeres Kühlgerät steht immer zur kurzfristigen Umlagerung der tiefgekühlten Fotobestände zur Verfügung, falls es zu technischen Ausfällen kommt. Eine Umlagerung der Fotomaterialien ist bei solchen Ausfällen zu ihrem Schutz vor ungeplantem Auftauen innerhalb von 4–6 Stunden notwendig, da die Geräte etwa so lange ihre Temperatur halten. 16 Vgl. Museum Handbook des National Park Service, Appendix M: Management of Cellulose Nitrate and Ester Film (NPS Museum Handbook, Part I), 1999, S. M:17.

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Die Umlagerung ist inzwischen abgeschlossen und wird kontinuierlich nach neuen Materialidentifikationen fortgesetzt. Vor der Umlagerung werden die Negative hochaufgelöst digitalisiert, erschlossen und in der RBA-Bilddatenbank www.kulturelles-erbe-koeln.de publiziert.17 Hierdurch ist eine hohe Verfügbarkeit der Bildinformation gewährleistet und gleichzeitig sichergestellt, dass möglichst selten auf die wertvollen Originalbestände zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen oder für den RBA-Fotovertrieb mit erheblichem Sicherheits- und Zeitaufwand zugegriffen werden muss. Diese Digitalisierung zur praktischen Nutzung ist heute Standard in vielen Archiven und Bibliotheken.

Fallbeispiele Die nachfolgenden Fallbeispiele veranschaulichen, dass vielfältige Argumente und Begründungen für eine dauerhafte und konservatorisch verantwortungsvolle Aufbewahrung von Cellulosenitratnegativen sprechen. Es ist daher in jedem Einzelfall zu erwägen, welches Gewicht welchen Bewertungskriterien im individuellen Fall zukommen sollte bzw. welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn aufgrund eines oder mehrerer der zustandsunabhängigen Kriterien eine Archivierung von Fotografien auf einem problematischen Trägermaterial wie Cellulosenitrat für erforderlich erachtet wird. Die Nutzung von Cellulosenitratfilm war immer dann ganz besonders attraktiv, wenn im Außenraum fotografiert wurde. Der Transport von Glasnegativen forderte den Fotografen einen viel höheren logistischen Aufwand ab, sobald außerhalb des Fotoateliers gearbeitet wurde. Daher überrascht es nicht, in den Cellulosenitratbeständen des RBA gewisse Themenschwerpunkte zu finden, nämlich Fotokampagnen im Kölner Stadtraum und auch außerhalb Kölns. Zahlreiche dieser Aufnahmen dokumentieren das kriegszerstörte Köln im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und sind daher als Dokumente von sehr hohem Quellenwert für die Kölner Geschichte anzusehen. Andere gehören in den Kontext der intensiven Denkmälerinventarisierung im Rheinland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In beiden Fällen sind sie – über ihren Wert für die historische Dokumentation der ja vielfach zerstörten Motive hinaus – repräsentativ für unterschiedliche fotohistorische Aspekte. Von dem Kölner Fotografen August Kreyenkamp sind bisher 147 Negative aus Cellulosenitrat identifiziert (im Nummernbereich zwischen RBA 224 917 17 Permalink der Suche nach dem Material „Zellulosenitrat*“ in der Bilddatenbank zur Ansicht der dort fortschreitend publizierten Cellulosenitratnegative: https://www.kultu relles-erbe-koeln.de/gallery/encoded/eJzjYBJS42JLTy1OzC0REohKzckpzckvTs3LLCl KLNGSYnb0c1FiLsnJ1mIAAPnJC_s* (Stand: 12.4.2022).

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und RBA 225 104). Ein erheblich größeres Konvolut mit gut 1 000 Cellulosenitratnegativen stammt von dem Kölner Fotografen Karl Hugo Schmölz (RBA 711 001 – RBA 713 638). Aber auch über 12 000 Aufnahmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die der Kölner Stadtkonservator dem RBA zur dauerhaften Verwahrung und Bereitstellung übergeben hat, weisen als Trägermaterial Cellulosenitrat auf. Wie erwähnt, wurde zudem in den Anfängen des RBA von den eigenen Fotografen mit Cellulosenitratfilm fotografiert. 1. Fotokampagnen für Paul Clemens Reihe Die Kunstdenkmäler der ­Rheinlande Das RBA war in den 1930er Jahren intensiv an den Fotokampagnen für die vom Provinzialkonservator Paul Clemen herausgegebene Reihe Die Kunst­ denkmäler der Rheinlande beteiligt. Die Untersuchung der zugehörigen Fotokampagnen und der davon zeugenden Fotobestände im RBA ist in Planung. Zum jetzigen Zeitpunkt sind bereits erste Rückschlüsse unter anderem anhand der unterschiedlichen verwendeten Filmsorten möglich. Der RBA-Gründungsdirektor Dr. Joseph Boymann fotografierte offensichtlich persönlich und ist im Bildquellennachweis einiger Kunstdenkmäler-Bände als Urheber aufgeführt. Er war beispielsweise an der Fotokampagne im Kreis Ahrweiler beteiligt. Dort nahm er in der katholischen Pfarrkirche St. Michael die Aufnahme RBA 037 187 von einer Monstranz aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf Sicherheitsfilm (Acetat/Polyester) auf (Abb. 7).18 Das Negativ gehört in den Inventarnummernblock RBA 037 185 – RBA 037 202 mit Aufnahmen, für die durchgängig Sicherheitsfilm verwendet wurde. Mit RBA 037 203 bis RBA 037 221 folgen sodann 19 Aufnahmen auf dem Cellulosenitratfilm Eastman-Nitrate-Kodak 115 von einem namentlich unbekannten Fotografen, ebenfalls im Kreis Ahrweiler in Ortschaften wie Königsfeld, Waldorf, Remagen und Staffel entstanden (Beispiel: Abb. 8). Vom nachfolgenden Inventarnummernblock RBA 037 222 bis RBA 037 233 kann erneut eine Aufnahme der katholischen Pfarrkirche St. Mariä Verkündigung in Altenahr Joseph Boymann eindeutig zugewiesen werden (RBA 037 223, Abb. 9).19

18 Vgl. Joachim Gerhard u. a. (Bearb.): Die Kunstdenkmäler des Kreises Ahrweiler (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz), hg. v. Paul Clemen, 17. Band, 1. Abteilung, Düsseldorf 1938, S. 523. Permalink zum Bild: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/20752571 (Stand: 12.4.2022). 19 Vgl. Gerhard u. a., Kunstdenkmäler (Anm. 18), S. 143. Permalink zu der Bildserie: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/20470955 (Stand: 12.4.2022).

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Abb. 7: Monstranz, Erste Häfte des 15. Jhs., Standort: Reifferscheid (Kreis Ahrweiler), Katholische Pfarrkirche St. Michael, Fotograf: Joseph Boymann (RBA 037 187).

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Abb. 8: Altar, Retabel, Standort: Staffel (Kreis Ahrweiler), 1935/36 (RBA 037 214).

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Abb. 9: Katholische Pfarrkirche St. Mariä Verkündigung Altenahr (Mitte des 12. Jhs.), Inneres nach Osten, Fotograf: Joseph Boymann (RBA 037 223)

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Dieser Materialwechsel setzt sich fort, so dass der Rückschluss naheliegt, dass zwei Fotografen konsequent jeweils mit einer eigenen präferierten Filmsorte an einer gemeinsamen Fotokampagne um 1935/36 beteiligt gewesen sind. In der Kunstdenkmäler-Reihe veröffentlichte Fotografien lokaler Fotografen, beispielsweise von Heinrich Pieroth, der in Mayen ein Fotostudio besaß20, lassen darüber hinaus auf den Ankauf von Aufnahmen externer Fotografen schließen. Von der systematischen Auswertung sämtlicher KunstdenkmälerBände und des Materialbefundes der Filmidentifikation ist zusammen mit der Analyse der handschriftlichen Inventarbücher und weiterer Dokumente ein erheblicher Erkenntnisgewinn über die fotografische Praxis im Kontext von Denkmalschutz und Denkmalpflege zu erwarten. Daher ist die Erhaltung der originalen Negative, auch der aus Cellulosenitrat, als den zentralen historischen Fotodokumenten grundlegend für eine umfassende Untersuchung der Fotokampagnen. 2. Karl Hugo Schmölz: Analoge Retuschen Die Cellulosenitratnegative im RBA bieten vielfältige Einblicke in die Geschichte der Fototechnik und damit in die gängigen Verfahren der Vergangenheit, die professionellen Fotografen oder Fotografinnen geläufig waren, jedoch heute nicht mehr zum fotografischen Allgemeinwissen gehören. Als Beispiel sei hier das Negativ RBA 711 802, eine Aufnahme von Karl Hugo Schmölz, genannt (Abb. 10).21 Sie zeigt den Dom im zerstörten Köln, fotografiert durch einen Torbogen von der Brückenstraße aus gesehen. Schmölz hat das Negativ in einer für ihn typischen Weise retuschiert. Er trug mit dem Pinsel auf einige Stellen, die im Abzug ohne diese Veränderung besonders dunkel erschienen wären, beispielsweise an der Unterseite des verschatteten Torbogens, den rötlichen Anilinfarbstoff Neucoccin auf. Da Schwarz-Weiß-Fotopapier orthochromatisch – also rot-unempfindlich – ist, reduzierte er durch die Retusche auf dem Negativ die Lichtdurchlässigkeit in der rahmenden Architektur. Auf diese Weise wurde im Abzug an dieser Stelle der Kontrast reduziert und die Architekturfragmente wurden in ihrer Bedeutung als Rahmen des Hauptmotivs, des weitgehend unzerstörten Doms, zurückgenommen. Diesen Effekt hätte er vermutlich auch durch Abwedeln beim Vergrößern erreichen können. Die Neucoccin-Retusche auf dem Negativ sicherte allerdings dauer20 Vgl. In der Eifel: Fotografien von Heinrich Pieroth aus den 1920er bis 1950er Jahren. Bearb. für das Rheinische Bildarchiv Köln von Katja Hoffmann, hg. vom Rheinischen Bildarchiv Köln, Köln 2020. 21  Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/05124685 (Stand: 12.4.2022).

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Abb. 10: Karl Hugo Schmölz: Dom im zerstörten Köln durch einen Torbogen von der Brückenstraße aus gesehen. Silbergelatine/Cellulosenitratfilm, 18 × 24 cm (RBA 711 802 [22/776]).

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haft und jederzeit auch von beliebigen Studiomitarbeitern reproduzierbar das vom Fotografen intendierte Erscheinungsbild dieses Motivs. Auf seinen Negativen sind ebenso Bleistiftretuschen nachweisbar oder auch nachgezeichnete und eingemalte Wolken, Abschabungen, aufgetragene Lackschichten wie auch Abklebungen zur Markierung eines Bildausschnitts oder zum Freistellen eines Motivs, die zum gängigen Repertoire der Negativretusche gehörten. Alle diese Manipulationen können für die Nachwelt durch analoge oder digitale Reproduktionen immer nur in Teilen dokumentiert werden, da beispielsweise die spezifische Rotunempfindlichkeit des Fotopapiers im Scanverfahren nicht simuliert werden kann.22 Aus fotohistorischer Sicht ist die Kenntnis dieser Manipulationen von entscheidender Bedeutung, um die Arbeitsweise eines Fotografen oder einer Fotografin nachvollziehen und das Verhältnis der verschiedenen Manifestationen einer Fotografie vom Negativ über das Positiv bis hin zu gedruckten Reproduktionen wissenschaftlich einordnen zu können. Nur im analogen Vergrößerungsverfahren in der Dunkelkammer unter Nutzung des Originalnegativs kann das ursprünglich intendierte Bild präzise nachvollzogen werden. 3. August Kreyenkamp: Stereofotografie Von dem Kölner Fotografen August Kreyenkamp (1875–1950) befinden sich rund 4 000 Negative im RBA, darunter Stereofotografien, von denen die meisten in der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sein dürften. Sie gehören höchstwahrscheinlich zu einem Konvolut, das die Witwe des Fotografen 1957 an den Kölner Stadtkonservator verkauft hat. Mit der sukzessiven Übernahme der Stadtkonservator-Negativbestände gelangten sie seit den 1970er Jahren ins RBA.23 Der gelernte Maler Kreyenkamp war 1907 zum Beruf des Fotografen gewechselt. Innerhalb seines umfangreichen Œuvres mit Kunstreproduktionen, Mikroskop-Aufnahmen von Pflanzen, Insekten und Kristallen bildet die dokumentarische Architekturfotografie einen bedeutenden Schwerpunkt. Kreyenkamp bediente sich am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Dokumentation der Kriegsschäden im Kölner Stadtbild einer Zweiobjektiv-Kamera.24 22 Vgl. Horst Fenchel: Reprografie. Zur Digitalisierung retuschierter Schwarz-WeißNegative, in: Rundbrief Fotografie 21 (2014), No. 1/2 (N.F. 81/82), S. 77–81. 23 Vgl. Roswitha Neu-Kock: August Kreyenkamp, in: Elke Purpus: Die Kunst- und Museumsbibliothek der Stadt Köln. Die Geschichte der Bibliothek und des Fotoarchivs. Mit Beiträgen von Roswitha Neu-Kock, Essen 2007, S. 108–109. 24 Vgl. Wikipedia-Artikel „Stereoskopie“, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stereoskopie (Stand: 2.1.2022).

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Abb. 11: August Kreyenkamp: Groß St. Martin und Rhein-Hotel vor dem Krieg. Silbergelatine/Zellulosenitrat, 6 × 6 cm (RBA 225 028).25

62 stereoskopische Filmnegative, also synchron fotografierte Bildpaare auf einem Filmstreifen, sind im RBA erhalten. Zum Betrachten der stereoskopischen Teilbilder diente ein sogenanntes Stereoskop – ein im 19. Jahrhundert sehr beliebtes Betrachtungsgerät, das in den 1950er Jahren einen erneuten Aufschwung erlebte. Mancher Leser, manche Leserin erinnert sich vielleicht noch an die „View-Master“ ihrer Kindheit. Vermutlich wählte er diese Technik, bei der in das linke und rechte Auge jeweils unterschiedliche zweidimensionale Bilder aus zwei leicht abweichenden Betrachtungswinkeln gebracht werden und dadurch das menschliche Gehirn ein räumliches Bild erzeugen kann, um die Kriegszerstörungen noch eindringlicher zu vermitteln und womöglich auch besser zu vermarkten. Kreyenkamp verwendete für diese Aufnahmen mit ihrem sehr hohen historischen, aber auch fototechnischen Informationsgehalt 25 Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/40055477.

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Cellulosenitratfilme. Die reine Bildinformation könnte anhand von Abzügen überliefert werden. Eine Erhaltung der vollständigen Informationskette von der Konzeption über die Erstellung der Aufnahmen bis zu ihrer Wiedergabe ist wie bei den beiden Bildpaaren zur Zerstörung an Groß St. Martin und der umliegenden Wohnbebauung (Abb. 12 u. 13) nur durch den Erhalt der Originalnegative gewährleistet. Die wenigen erhaltenen Originalaufnahmen sind als Zeugnis dieser Ausprägung der analogen Fotografie erhaltungswürdig.

Abb. 12: August Kreyenkamp: Trümmer mit Groß St. Martin im Hintergrund, Silbergelatine/Cellulosenitrat, 4,5 × 11,5 cm (RBA 225 104).26

Abb. 13: August Kreyenkamp: Stereofotografien vom Jan van Werth-Denkmal mit Groß St. Martin inmitten kriegszerstörter Häuser (RBA 224 918).27

26  Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/40055541 (Stand: 12.4.2022). 27  Permalink: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/40055400 (Stand: 12.4.2022).

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Johanna Gummlich

Digitalisierung, Erschließung und digitale Bereitstellung Die Entscheidung für die Lagerung der Cellulosenitratnegative in einem externen Sicherheitsmagazin reduziert ihre Zugänglichkeit und Nutzbarkeit. Daher hat der Leiter der FotoMedienWerkstatt des RBA, Michael Albers, Mindestanforderungen für die Digitalisierung erarbeitet und die Auftragsvergabe an einen Dienstleister durchgeführt. Die Digitalisierung muss aufgrund der historischen Bedeutung und der besonderen Brandgefahr des Materials unter kontrollierten Bedingungen verlaufen. Der Anbieter musste insbesondere die Anforderungen an einen gesetzeskonformen Sicherheitstransport und an die Lagerung entsprechend des Sprengstoffgesetzes sowie zur Digitalisierungstechnik erfüllen. Das Material durfte nur in klimatisch geeigneten Räumen bei maximal 24°C und 55 Prozent Luftfeuchtigkeit bearbeitet und gelagert werden. Beim Scanprozess musste sichergestellt sein, dass das Filmmaterial nicht wesentlich erwärmt wird. Daher war eine LED Durchlicht-Einheit einzusetzen. Von jedem Cellulosenitratnegativ wurde ein Digitalisat erzeugt und mit einem Bilddateiennamen entsprechend der Inventarnummernsystematik des RBA für analoge Fotografien und ihre digitalen Reproduktionen benannt. Darüber hinaus wurde eine Excelliste mit diesen Bilddateinamen erzeugt, die auch für die Übertragung in die RBA-Erschließungsdatenbank zum Einsatz kam. Für die Digitalisate der Negative gelten als Grundparameter für den Farbraum Color ECI RGBv2, für die Farbtiefe 16 Bit und für das Dateiformat TIFF 6-Baseline-Standard. Die Scanauflösung orientiert sich an der Größe der Vorlage: Negativformat 18 × 24 cm 13 × 18 cm   6 ×   6 cm

Scanauflösung 1 200 dpi 2 000 dpi 3 200 dpi

Zur Qualitätssicherung wurde eine Prüfsummendatei angefertigt, die pro TIFF-Datei eine MD5-Prüfsumme dokumentiert (Textdatei „bilddateiname. tif.md5“ mit einem Eintrag pro Zeile und dem Format: „MD5-Prüfsumme, Leerzeichen, Dateiname“). Für die bildinternen Metadaten waren obligatorisch folgende Pflichtfelder vorgeschrieben:

Archivierung von Fotobeständen aus Cellulosenitrat

239

Obligatorische Metadaten der TIFF-Dateien TagID

Tag-ID (Hex)

Tag-Name

Bedingung

256

0100

ImageWidth

beliebiger Wert zwischen 1 und 4.294.967.295 (TIFF-Typ LONG)

257

0101

ImageLength

beliebiger Wert zwischen 1 und 4.294.967.295 (TIFF-Typ LONG)

258

0102

BitsPerSample

Tag muss den Wert „1“ (bitonal), „1“, „4“, „8“ (Graustufen) oder „8,8,8“ (RGB) enthalten. kein Pflichtfeld für bitonal Pflichtfeld für Graustufen Pflichtfeld für RGB

259

0103

Compression

Wert „1“ bedeutet „no compression“; keine anderen Werte erlaubt

262

0106

PhotometricInterpretation

Wert „0“ bedeutet WhiteIsZero, Wert „1“ bedeutet BlackIsZero, Wert „2“ bedeutet RGB. Zugelassen sind NUR die Werte „0“ oder „1“ oder „2“. Wert „3“ bedeutet Palettenfarben (verboten), „4“ bedeutet Transparency Mask (verboten).

273

0111

StripOffsets

beliebiger Wert zwischen 1 und 4.294.967.295 (TIFF-Typ LONG)

277

0115

SamplesPerPixel

muss den Wert „1“ (bitonal, Graustufen) oder „3“ (RGB) enthalten. Baseline TIFF erlaubt für dieses Tag auch Werte über „3“; das ist aber für die Langzeitarchivierung NICHT erlaubt.

278

0116

RowsPerStrip

beliebiger Wert zwischen 1 und 4.294.967.295 (TIFF-Typ LONG)

279

0117

StripByteCounts

beliebiger Wert zwischen 1 und 4.294.967.295 (TIFF-Typ LONG)

282

011A

XResolution

Wert vom TIFF-Typ RATIONAL

283

011B

YResolution

Wert vom TIFF-Typ RATIONAL

Die Metadaten und Listen wurden zum Import in die Erschließungsdatenbank des RBA verwendet und waren damit Grundlage der heute in der öffentlichen Bilddatenbank www.kulturelles-erbe-koeln.de verfügbaren Informationen und Bilddateien.

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Johanna Gummlich

Abschließende Auslagerung der Cellulosenitratnegative Im Oktober 2017 begann die Auslagerung der identifizierten Bildbestände aus Cellulosenitrat und war im Mai 2022 beendet. Vor der Auslagerung wurden die Negative in eine geeignete Umverpackung umgebettet. Als direkte Umverpackung von Cellulosenitratfilmnegativen im Großformat dienten U-Hüllen aus ungepuffertem Archivpapier. Jeweils 70–75 Cellulosenitratfilmnegative in U-Hüllen im Großformat wurden in Archivboxen aus Vollkarton eingelegt. Die Variante mit Lasche zum Einstecken auf der Frontseite ist wegen des Drucks, der bei diesem Vorgang auf die Negative in der Box ausgeübt wird, abzulehnen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie detailliert die Handhabung solcher Negative geplant und durchgeführt werden muss. Die Beschriftung der Archivboxen erfolgt mit einem Archivstift und umfasst den Nummernbereich der in der Archivbox eingelagerten Negative, die Anzahl der Negative und einen Vermerk, ob der Inhalt der Archivbox bereits digitalisiert wurde. Der Nummernbereich wird zur leichten Lesbarkeit auf weißem Archivgewebeband sowie präventiv (wegen des möglichen Ablösens des Archivgewebebands) auch direkt auf die Box geschrieben. Der Standortwechsel wurde in die datenbankgestützte Standortverwaltung eingetragen. Der Transport erfolgte in Klimaboxen und je nach Menge in einem PKW durch das RBA selbst bei Kleinmengen (bis 5 Kilogramm = fünf Archivboxen) oder durch einen zugelassenen Dienstleister, der über einen Wagen mit Zulassung als Gefahrguttransporter und geschultes Personal verfügte. Zwei Kli­ maboxen sind immer bei Magazinraumtemperatur im RBA und die zugehörigen Kühlelemente in einem Tiefkühlgerät im RBA gelagert, so dass die Negative bereits beim Transport heruntergekühlt werden können. Eine weitere Klimabox befindet sich in einer Tiefkühltruhe im Sicherheitsmagazin und ist dadurch für eventuelle Rücktransporte von Negativen ins RBA vorkonditioniert. Bei jedem Transport wird eine sogenannte Sicherheitsmagazinbox mitgeführt, die dauerhaft im RBA gelagert ist. Inhalt der Sicherheitsmagazinbox: 1. Protokollbuch (1. Liste Kontrollgänge/Belüften/Bes. Ereignisse, 2. Liste mit Auflösung von Mitarbeiternamenskürzeln, 3. Liste zu Deponieren und Reponieren von Negativen) 2. Merkblatt zum Umgang mit Cellulosenitratfilm im Sicherheitsmagazin 3. Akku-Taschenlampe 4. Thermohandschuhe (z.B. Power Grab, nach EN511 kälteisolierend) 5. Baumwollhandschuhe

Archivierung von Fotobeständen aus Cellulosenitrat

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  6. Nitrilhandschuhe   7. Fleece-Jacke   8. Löschdecke   9. Archivpapierhüllen (Ersatz) 10. Archivstift Die Archivboxen mit den Cellulosenitratnegativen sind in Kunststoffkisten mit tropfsicheren Deckeln stehend in Tiefkühltruhen und Tiefkühlschränken eingelagert. Auf der Tür bzw. dem Deckel des Gerätes ist eine Übersicht der Einlagerungsordnung angebracht. Diese dient der gezielten und damit schnellen Entnahme von Archivboxen, die direkt in bereitstehende konditionierte Transportboxen eingestellt und zum RBA transportiert werden können. Jedes Deponieren und Reponieren von Bildmaterial, die monatlichen routinemäßigen Kontrollgänge, die Wartung der Alarmierungsanlage, das Belüften der Truhen und alle sonstigen auffälligen Veränderungen (Klima, Reinigungsmaßnahmen) werden mit Datum und namentlicher Zeichnung im Protokollbuch festgehalten. Einmal jährlich schult die RBA-Fotorestauratorin alle Mitarbeiter*innen des RBA im Umgang mit Bildmaterial aus Cellulosenitrat. Darüber hinaus steht an den Arbeitsplätzen, an denen mit Cellulosenitratnegativen gearbeitet wird, eine Handreichung mit Sicherheitsvorschriften und Erläuterungen zur Verfügung. Die Bezirksregierung überprüft zur Verlängerung der Lagergenehmigung in einer jährlichen Begehung die Einhaltung all dieser Sicherheitsvorschriften. Der Standort des Endlagers der Cellulosenitratmaterialien ist geheim. Die vorgelegten Ausführungen sollen verdeutlichen, dass mit Sorgfalt und genauer Planung vorgegangen wurde, um Personal und Besucher*innen des Rheinischen Bildarchivs und des Historischen Archivs der Stadt Köln zu schützen. Darüber hinaus wurden die künstlerischen, historischen und dokumentarischen Inhalte so gesichert, dass sie zur Benutzung bereitliegen und für interessierte Kreise jederzeit zur Verfügung stehen.

Wolfram Hagspiel (1952–2021): Kunsthistoriker – Denkmalpfleger – Wissenschaftler von Hiltrud Kier Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Kölner Neustadt, die ich in den Jahren 1973 bis 1975 als Stipendiatin der Fritz Thyssen Stiftung durchführte und die eigentlich das Ziel meiner Habilitation hatte, stellte sich schnell heraus, dass die Gefährdung historistischer Architektur in Köln weiterhin absolut akut war und die Frage ihrer Erhaltung sich in den Vordergrund drängte. So schlitterte ich in die aktive Rolle der Denkmalpflege und war mir mit dem damaligen Stadtkonservator Fried Mühlberg sehr schnell einig, dass das Wichtigste die Aufstellung einer neuen Denkmalliste für Köln sein musste. Die damals vorhandene umfasste ganz wenige Objekte und endete mit der Erfassung von Bauten des beginnenden 19. Jahrhunderts. Da eine Stelle dafür bei der Stadt Köln nicht einzurichten war – die Denkmalpflege stand damals nicht im besonderen Interesse von Politik und Verwaltung in Köln –, erklärte ich mich zur Bearbeitung der neuen Denkmalliste mit einem Werkvertrag einverstanden, den ich 1976–1978 dafür erfüllte. Meine kunsthistorischen Schwerpunkte waren zu diesem Zeitpunkt Mittelalter und Barock, was der damaligen Ausbildung an der Universität entsprach, sowie der im Zuge der Neustadt-Bearbeitung neu bewertete Historismus des 19. Jahrhunderts. Da die neue Denkmalliste aber natürlich Bauten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts aufnehmen sollte, kam auch das 20. Jahrhundert in meinen direkten Gesichtskreis – eine mir absolut neue Epoche. Da fügte es sich wunderbar, dass 1975 im Kölnischen Kunstverein von seinem agilen Direktor Wulf Herzogenrath die aufsehenerregende Ausstellung Vom Dadamax bis zum Grüngürtel. Köln in den zwanziger Jahren stattfand und dabei auch die Architektur dieser Zeit durch den mir gut bekannten Kollegen Carl-Wolfgang Schümann vom Kunstgewerbemuseum und einen mir nicht bekannten Wolfram Hagspiel vorgestellt wurde. Schümann winkte auf meine Anfrage, ob er wohl bei der Denkmalliste den Part des 20. Jahrhunderts übernehmen könne, sofort ab und empfahl den jungen Studenten Wolfram Hagspiel dafür, der an einer Dissertation über den Architekten Wilhelm Riphahn (1889–1963) arbeitete und der dann ebenfalls mit einem Werkvertrag verpflichtet werden konnte. Wir haben dann bis 1978 die Stadt abgewandert und alle potentiellen Objekte registriert. Wolfram Hagspiel war insbesondere in den Bezirken 2 (Rodenkirchen), 3 (Lindenthal), 6 (Chorweiler) und 7 (Porz) unterwegs, da hier Schwer-

Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 243–247

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Hiltrud Kier

Abb. 1: Von rechts W. Hagspiel, H. Kier, G. Mörsch vom Amt Landeskonservator, H. Meynen, 1978 (Foto: Archiv Kier).

punkte der Bebauung des 20. Jahrhunderts sind. Allerdings wurden abschließend auch alle Objekte gemeinsam begutachtet und schließlich mit Vertretern des Landeskonservators abgestimmt. Die Abb. 1 zeigt eine gemeinsame Mittagsstärkung mit Kuchen-Teilchen bei einem dieser ganztägigen Termine, bei denen dann auch Henriette Meynen dabei war, die die Redaktion bei der Veröffentlichung der insgesamt sieben Bände des Denkmälerverzeichnisses der Stadt Köln (1979–1983) durchführte. Wie erwähnt, galt mein Interesse bei dieser Auflistung insbesondere der Erhaltung der akut gefährdeten historistischen Wohnhäuser, während sich Wolfram Hagspiel um das 20. Jahrhundert kümmerte und uns zu überzeugen bemüht war, was nicht immer einfach war. Ich erinnere mich noch gut an unsere diesbezügliche Diskussion um den UFAPalast von Riphahn am Hohenzollernring, den ich eigentlich nicht ins Denkmalverzeichnis aufnehmen wollte und den er dann so überzeugend verteidigte, dass wir alle seine Denkmal-Qualität erkennen mussten. Ich habe in diesen gemeinsamen Jahren der besonders engen Zusammenarbeit viel von ihm gelernt. Als ich Mitte 1978 als Nachfolgerin von Fried Mühlberg, der uns beide sehr gefördert hat und auch sehr selbstständig arbeiten ließ, Stadtkonservatorin in Köln wurde, hatte ich in den Verhandlungen vier neue Stellen zugesagt bekom-

Wolfram Hagspiel (1952–2021)

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Abb. 2: Amt des Stadtkonservators bei einem Besprechungstermin im Herbst 1983. W. Hagspiel ist zweiter von rechts (Foto: Archiv Kier).

men: zwei Kunsthistoriker:innen (Henriette Meynen und Wolfram Hagspiel), einen Architekten (Hans Haas) und eine Fotografin (Celia Körber). Natürlich musste ich diese Zusage dann auch noch gegen die einstellungsresistente Verwaltung durchkämpfen, aber es klappte. 1981 war bei Wolfram Hagspiel mit seiner erfolgreichen Promotion auch die formale Grundlage erfüllt. Wolfram Hagspiel hat in all den Jahrzehnten beim Stadtkonservator, wie auch alle anderen Mitarbeiter:innen, in doppelter Weise gewirkt: als praktischer Denkmalpfleger und als Wissenschaftler, der immer wieder die Grundlagen seiner Entscheidungen entsprechend untermauern konnte. In zahlreichen gemeinsamen Besprechungen und auch Besichtigungen haben wir alle uns bemüht, möglichst einheitliche Standards in der Bewertung und Betreuung der Kölner Baudenkmäler zu erreichen. Die Abb. 2 zeigt einen dieser Besichtigungstermine im Herbst 1983. Auch dabei war es die Aufgabe von Wolfram Hagspiel, die besonderen Qualitäten der Architektur des 20. Jahrhunderts zu vermitteln. Auch bei den periodischen Feierlichkeiten wie Weihnachtsfeiern oder Weiberfastnacht war Wolfram Hagspiel ein sehr vergnügter Mitspieler. Auch fanden private Zusammenkünfte statt, so wie auf Abb. 3 zu sehen, als das ganze Amt bei den Hagspiels in Klein-Vernich zu Besuch war. Seine Frau Lioba, mit

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Hiltrud Kier

der er jahrzehntelang ein (sehr schönes) Paar war, hat seine kunsthistorische Begeisterung geteilt und seine Leidenschaft für die Anschaffung von Büchern tapfer ertragen. Er hatte früh die (Original-)Literatur zur Architektur des 20. Jahrhunderts zu sammeln begonnen und im Laufe der Jahrzehnte eine große diesbezügliche Spezialbibliothek aufgebaut, aus der er für seine vielfältigen Publikationen schöpfen konnte. Seine Schwerpunkte waren dabei, außer natürlich Wilhelm Riphahn, die Villenviertel in Marienburg (insbesondere mit Fotos von Hans Georg Esch) und Rodenkirchen, aber auch die Zeit des Dritten Reiches und dann insbesondere die Nachkriegszeit. Seine profunde Kenntnis der Architektur der 1950er Jahre war Grundlage meines Vortrages am Kunsthistorikertag 1982 über dieses Thema, mit dem ich die kunsthistorische Kollegenschaft damals mehr als provoziert hatte. Wenige Jahre später war dann dieses Thema bundesweit aktuell geworden, wobei insbesondere sein diesbezüglicher Stadtspuren-Band von 1986 (Köln: Architektur der 50er Jahre) Maßstäbe setzte und für die Annahme der Fortschreibung des Kölner Denkmälerverzeichnisses in diese Epoche durch den Rat 1990 grundlegend war. Es ist mehr als bedauerlich, dass es danach dem Stadtkonservator nicht gelungen ist, die Expertise und detaillierte Kenntnis von Wolfram Hagspiel für eine Vertiefung dieser ersten 1950er-Denkmalliste zu nutzen, besonders aber für ihre Fortschreibung in die 1960er/70er Jahre. Dass er dafür genügend Überblick hatte, zeigt seine diesbezügliche Mitarbeit bei der Chronik zur Geschichte der Stadt Köln (1991), aber auch seine Bibliographie (die Lioba Hagspiel abschließend zusammengestellt hat). Ein weiterer Schwerpunkt seiner Publikationen war die Beschäftigung mit den jüdischen Architekten Kölns, denen er 2010 eine zusammenfassende Arbeit widmen konnte. Aber auch der Architektur-Fotografie war er überaus verbunden, wofür er sogar einmal sehr tief in die Zeit des Historismus tauchte: Sein opulentes Buch Köln in Fotografien aus der Kaiserzeit (2016) zeugt davon. Erwähnt sei auch noch, dass er viele Jahre eine Lehrtätigkeit an der Kölner Fachhochschule in den Bereichen Architektur und Denkmalpflege ausübte und dass er zu den engagierten Gründungsmitgliedern des Architekturforum Rheinland gehörte. Es war bekannt, dass er in den letzten Jahren gesundheitliche Probleme hatte, aber sein endgültiger Abschied am 3. Juni 2021 kam doch unerwartet. Ich hatte noch im April dieses Jahres bei ihm, wie so oft, nach einem mir unbekannten Kölner Architekten des 20. Jahrhunderts angefragt und die hoffnungsfrohe Antwort erhalten, dass dieser im demnächst erscheinenden Lexikon mit über 10 000 Biographien Kölner Architekten enthalten sein würde. Erfreulicherweise ist Wolfram Hagspiels Lexikon der Kölner Architekten vom Mittel­ alter bis zum 20. Jahrhundert posthum im Juli 2022 als Band 52 der Veröffent-

Wolfram Hagspiel (1952–2021)

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Abb. 3: Besuch des Amts Stadtkonservator bei Lioba und Wolfram Hagspiel in KleinVernich im Juni 1986 (Foto: Archiv Kier).

lichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e. V. erschienen, so dass wir alle weiterhin von seiner fulminanten Kenntnis gerade der Kölner Architektur zehren können.

Bibliographie Wolfram Hagspiel abschließend zusammengestellt von Lioba Hagspiel Wolfram Hagspiel und Carl-Wolfgang Schümann: Architektur zwischen den Kriegen, in: Vom Dadamax zum Grüngürtel. Köln in den 20er Jahren. Ausstellungskatalog. Kölnischer Kunstverein, 1975, S. 215–240. Wolfram Hagspiel und Carl-Wolfgang Schümann: Architektur zwischen den Kriegen, in: Köln, 1975, H. 4, S. 12–19. Wolfram Hagspiel: Wird das Dischhaus in Köln abgerissen? In: Rheinische Heimatpflege, 1977, H. 1, S. 10–12. Wolfram Hagspiel: Die Geschichte der Bastei. Köln 1977 (= Das Restaurant der europäischen Sonderklasse). Wolfram Hagspiel: Wilhelm Riphahn. Architekt unserer Zeit. Köln 1978 (= Kölner Biographien 10). Wolfram Hagspiel und Erhard Schlieter: Architektur in Köln. Anfänge der Gegenwart. Köln 1978. Wolfram Hagspiel: Rückblick nach 50 Jahren. Die Ausstellung Pressa im Jahre 1928, in: Köln, 1978, H. 3, S. 36–40 Wolfram Hagspiel: Ein Kölner Architekt. Hans Schumacher, in: Köln, 1978, H. 4, S. 12–17. Wolfram Hagspiel: Theodor E. Merrill (1891 bis 1978) – ein Kölner Architekt, in: Der Architekt, 1978, S. 266. Wolfram Hagspiel: Hans Hansen – ein Freund von Max Ernst, in: Max Ernst in Köln. Die rheinische Kunstszene bis 1922. Ausstellungskatalog. Kölnischer Kunstverein, 1980, S. 111–113. Wolfram Hagspiel, Hiltrud Kier und Ulrich Krings: Bestandsliste der erhaltenswerten Bauten im Stadtbezirk 7 (Porz) mit den Stadtteilen Eil, Elsdorf, Ensen, Gremberghoven, Langel, Libur, Poll, Porz, Urbach, Wahn, Westhoven und Zündorf, in: Denkmälerverzeichnis 12.6 Köln, Stadtbezirk 7 und 8 (Porz und Kalk). Köln 1980, S. 10–87.

Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 85, S. 249–258

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Bibliographie Wolfram Hagspiel

Wolfram Hagspiel: Beiträge, in: Köln: Kunstführer. Erstellt von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Hiltrud Kier, 1980 (= Universalbibliothek [Reclam] Nr. 10299). Wolfram Hagspiel: Bauwerke und Ausstellungsgestaltung internationaler Kölner Ausstellungen, in: Frühe Kölner Kunstausstellungen. Sonderbund 1912, Werkbund 1914, Pressa USSR 1928. Kommentarband zu den Nachdrucken der Ausstellungskataloge. Köln 1981, S. 21–146. Wolfram Hagspiel: Die nationalsozialistische Stadtplanung in und für Köln, in: Geschichte in Köln. Köln 1981, H. 9, S. 89–107. Veränderter Nachdruck in: Köln: 85 Jahre Denkmalschutz und Denkmalpflege, 1912–1997. Band 9.II: Texte von 1980–1997. Mit historischen Fotos und Neuaufnahmen = Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 1998, S. 572–579. Michael Behr, Wolfram Hagspiel, Werner Strodthoff u. a.: für köln geplant – nicht gebaut. am beispiel dom rheinumgebung von 1900 bis 1980. Köln 1981. Wolfram Hagspiel: Heinrich Hoerle als Mitarbeiter Kölner Architekten, in: Heinrich Hoerle. Leben und Werk 1895–1936. Köln 1981, S. 153–156. Wolfram Hagspiel: Marienburg, in: Glanz und Elend der Denkmalpflege und Stadtplanung, Coeln 1906–2006. Köln 1981, S. 49–51. Wolfram Hagspiel: Siedlungen, in: Glanz und Elend der Denkmalpflege und Stadtplanung, Coeln 1906–2006. Köln 1981, S. 55–58. Wolfram Hagspiel: Rheinufergestaltungen, in: Glanz und Elend der Denkmalpflege und Stadtplanung, Coeln 1906–2006. Köln 1981, S. 58–60. Wolfram Hagspiel: Der Kölner Architekt Wilhelm Riphahn. Sein Lebenswerk von 1913 bis 1945. Köln 1982 (Dissertation von 1981). Wolfram Hagspiel: Zur Architektur der Zwanziger Jahre in Köln, in: Werner Mantz. Architekturphotographie in Köln 1926–1932 aus der Graphischen Sammlung des Museums Ludwig der Stadt Köln. Köln 1982, S. 25–38. Veränderter Nachdruck in: Köln: 85 Jahre Denkmalschutz und Denkmalpflege, 1912–1997. Band 9.II: Texte von 1980–1997. Mit historischen Fotos und Neuaufnahmen = Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 1998, S. 560–571. Hiltrud Kier und Wolfram Hagspiel: Bestandsliste der erhaltenswerten Bauten. Stadtbezirk 6 (Chorweiler) mit den Stadtteilen Esch/Auweiler, Fühlingen, Hei-

Bibliographie Wolfram Hagspiel

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mersdorf, Lindweiler, Merkenich, Pesch, Roggendorf/Thenhoven, Volkhoven/ Weiler und Worringen. Köln 1982, in: Köln. Denkmälerverzeichnis 12.5, Stadtbezirke 5 und 6 (Nippes und Chorweiler). Köln 1982, S. 163–231. Wolfram Hagspiel: Die Wohnsiedlungen der 20er Jahre in Mauenheim, in: Nippes gestern und heute. Eine Geschichte des Stadtbezirks und seiner Stadtteile Nippes, Bilderstöckchen, Mauenheim, Weidenpesch, Longerich, Niehl, Riehl. Köln 1983, S. 53–60. Wolfram Hagspiel: Die „Pallenberg-Siedlung“, in: Nippes gestern und heute. Eine Geschichte des Stadtbezirks und seiner Stadtteile Nippes, Bilderstöckchen, Mauenheim, Weidenpesch, Longerich, Niehl, Riehl. Köln 1983, S. 77–81. Wolfram Hagspiel: Vom „Wintergarten“ zum „Colonius“, in: Stahlbauten in Köln und Umgebung. Köln 1984, S. 8–37. Wolfram Hagspiel und Erhard Schlieter: Vom „Wintergarten“ zum „Colonius“, in: Baukultur, 1984, H. 5, S. 9–19. Wolfram Hagspiel: Die Kölner Architekten um 1914, in: Der westdeutsche Impuls 1900–1914: Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Ausstellungskatalog Kölnischer Kunstverein 1984, S. 42–52. Veränderter Nachdruck in: Köln: 85 Jahre Denkmalschutz und Denkmalpflege, 1912–1997. Band 9.II: Texte von 1980–1997. Mit historischen Fotos und Neuaufnahmen = Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 1998, S. 550–559. Wolfram Hagspiel: Das „Neue Niederrheinische Dorf“, in: Der westdeutsche Impuls 1900–1914: Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Ausstellungskatalog Kölnischer Kunstverein 1984, S. 186–191. Wolfram Hagspiel: Die Bauten der Kölner Architekten, in: Der westdeutsche Impuls 1900–1914: Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Ausstellungskatalog Kölnischer Kunstverein 1984, S. 192–196. Wolfram Hagspiel: Die Schließung der Werkbund-Ausstellung und das Schicksal der Bauten, in: Der Westdeutsche Impuls 1900–1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914. Ausstellungskatalog Kölnischer Kunstverein 1984, S. 42.

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Bibliographie Wolfram Hagspiel

Wolfram Hagspiel: Architektur der zwanziger Jahre im neuen Glanz, in: Köln, 1984, H. 2, S. 14–17. Wolfram Hagspiel: Kulturpfade Bezirk 3 (Lindenthal) Braunsfeld, Junkersdorf, Klettenberg, Lindenthal, Lövenich, Müngersdorf, Weiden, Widdersdorf. Köln 1984 (= Köln Informationen). Wolfram Hagspiel, Hiltrud Kier und Ulrich Krings: Köln, Denkmälerverzeichnis 12.3, Stadtbezirke 2 und 3 (Rodenkirchen und Lindenthal). Köln 1984. Wolfram Hagspiel: Ein Rundgang zu Bauten der 50er Jahre, in: Köln zwischen Himmel und Äad. Köln 1984, S. 1–9. Wolfram Hagspiel: Wirtschaftsarchitektur in Köln. Köln 1985. Wolfram Hagspiel: Das Maternushaus, in: Köln Konzept, wie Köln plant und baut. Köln 1986, S. 16. Wolfram Hagspiel: Bauen in historischer und ländlicher Umgebung, in: Köln Konzept, wie Köln plant und baut. Köln 1986, S. 28–29. Wolfram Hagspiel, Hiltrud Kier und Ulrich Krings: Köln: Architektur der 50er Jahre. Köln 1986 (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln. Band 6). Wolfram Hagspiel: Das Kölner Opernhaus 1957–1987. Köln 1987 (= Oper der Stadt Köln). Veränderter Nachdruck in: Köln: 85 Jahre Denkmalschutz und Denkmalpflege, 1912–1997. Band 9.II: Texte von 1980–1997. Mit historischen Fotos und Neuaufnahmen = Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 1998, S. 385–394. Wolfram Hagspiel: Das Kölner Opernhaus am Offenbachplatz 1957–1987. Köln 1987 (= Stadtsparkasse Köln, die kleine Ausstellung). Wolfram Hagspiel: Architektur der 50er Jahre in Köln. Köln 1987 (= Stadtsparkasse Köln, die kleine Ausstellung). Ute Fendel und Wolfram Hagspiel: 100 Jahre Bauunternehmung Robert Perthel und die Entwicklung der modernen Architektur in Köln. Köln 1987 (= Kleine Schriften zur Kölner Stadtgeschichte 6). Wolfram Hagspiel: Worringen und seine Baudenkmäler, in: Kirche im Dorf. Köln 1987, S. 11–12.

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Wolfram Hagspiel u. a.: Köln/Cologne. Rhein auf und ab. Köln 1989. Wolfram Hagspiel: Erfassung, Schutz und Erhaltung von Bauten der 50er Jahre in Köln, in: Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre. Bühl/Baden 1990, S. 156– 169 (= Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz. Band 41). Wolfram Hagspiel: Großbauten und Privathäuser 1927 bis 1933, in: Köln – seine Bauten 1928–1988. Köln 1991, S. 69–76. Wolfram Hagspiel: Die Kölner Bauten, in: Bruno Paul. Deutsche Raumkunst und Architektur zwischen Jugendstil und Moderne. München 1992, S. 273–282. Wolfram Hagspiel: Profanbauten 1900–1918. Beispiele/Daten, in: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln Band 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. Köln 1993, S. 175–177. Wolfram Hagspiel: Profanbauten 1919–1932. Beispiele/Daten, in: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln Band 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. Köln 1993, S. 210–211. Wolfram Hagspiel: Profanbauten 1933–1945. Beispiele/Daten, in: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln Band 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. Köln 1993, S. 254–255. Wolfram Hagspiel: Profanbauten 1945–1990. Beispiele/Daten, in: Chronik zur Geschichte der Stadt Köln Band 2: Von 1400 bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Auflage. Köln 1993, S. 324–330. Wolfram Hagspiel: Reflexe. Die nationalsozialistische Stadtplanung von Köln und ihre Widerspiegelung im heutigen Stadtbild, in: Versteckte Vergangenheit. Hrsg. von Horst Matzerath, Harald Buhlan und Barbara Becker-Jákli. Köln 1994, S. 73–84. Wolfram Hagspiel: Helmut Goldschmidt, in: Bauwelt, Jg. 85, 1994, S. 2376. Wolfram Hagspiel: Köln: Marienburg. Bauten und Architekten eines Villenvorortes – einschließlich der Villengebiete von Bayenthal. Band I, Köln 1996 (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln. Band 8/I).

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Bibliographie Wolfram Hagspiel

Wolfram Hagspiel: Köln: Marienburg. Bauten und Architekten eines Villenvorortes – einschließlich der Villengebiete von Bayenthal. Band II, Köln 1996 (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln. Band 8/II). Wolfram Hagspiel: Hochhausplanungen für Köln in den 20er Jahren – Visionen zwischen gotischer Tuchhalle und amerikanischem Wolkenkratzer, in: Architektur Geschichten. Festschrift für Günther Binding zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Udo Mainzer und Petra Leser. Köln 1996, S. 239–247. Wolfram Hagspiel: Wilhelm Riphahn – ein Kölner Baumeister (ohne Seitenzählung) und Nachwort (S. I–XXI) zur Neuausgabe, in: Wilhelm Riphahn mit einer Einleitung von H. de Fries. Neuauflage der Ausgabe von 1927. Berlin 1996. Wolfram Hagspiel: Die Architektur der 50er Jahre in Köln. Versuch einer stilistischen Einordnung, in: Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, 1997, H. 5, S. 126–145. Wolfram Hagspiel: Ein Kleinod jüdischer Kultur, in: Monumente, 1997, H. 3/4, S. 50–51. Wolfram Hagspiel: Die Landhaus-Kolonie Sürth des Kölner Architekten Max Stirn, in: Südstadtmagazin, 1997, H. 6, S. 28–30. Wolfram Hagspiel: Die Großmarkthalle in Raderberg des Architekten Theodor Teichen, in: Südstadtmagazin, 1997, H. 10, S. 28–30. Wolfram Hagspiel: Architektur der 50er Jahre. Denkmäler der Nachkriegszeit, in: Köln. Denkmalschutz und Denkmalpflege. 1997, S. 23–27. Veränderter Nachdruck in: Denkmalschutz und Denkmalpflege. Köln. Stadt Köln – Stadtkonservator 2002, S. 20–23. Wolfram Hagspiel: Bauhaus-Architektur in bester Qualität. Die Wohnhäuser am Rodenkirchener Rheinufer der Architekten Hans Schumacher, Theodor Merrill und Joseph Op Gen Oorth, in: Südstadtmagazin, 1998, H. 4, S. 14–17. Wolfram Hagspiel: Carl Moritz (1863–1944), der „Hausarchitekt“ des Barmer Bank-Vereins, in: Kunst und Architektur. Festschrift für Hermann J. Mahlberg zum 60.Geburtstag. Wuppertal 1998, S. 58–65. Wolfram Hagspiel: Aspekte zu regionalen Traditionen in der Kölner Architektur des 20. Jahrhunderts, in: Architekten Almanach Köln. Wuppertal 1998, S. 9–13.

Bibliographie Wolfram Hagspiel

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Wolfram Hagspiel und Karola Waldek: Architektur der 20er Jahre im Kölner Süden – Eine Fahrt zu Architekturdenkmälern anläßlich des Tages des offenen Denkmals, in: Südstadtmagazin, 1999, H. 10, S. 28–31. Wolfram Hagspiel: Die Hahnenstraße – ein Plädoyer für Kölns letztes großes Zeugnis der Bauhaus-Kultur (1997), in: Köln: 85 Jahre Denkmalschutz und Denkmalpflege 1912–1997. Köln 1998, S. 395–408 (= Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Band 9.II). Wolfram Hagspiel: Karl Hugo Schmölz – Chronist einer wiedererstehenden Stadt, in: Köln-Ansichten – Fotographien von Karl Hugo Schmölz 1947–1985, in: Köln. Ein Architekturführer. Berlin 1999, S. 13–15. Wolfram Hagspiel: Einführung. Die römische Stadt, in: Köln. Ein Architekturführer. Berlin 1999, S. I–XIX. Wolfram Hagspiel: Bruno Paul und Franz Weber. Ein Architekturbüro und sein Weg im Nationalsozialismus, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 1999, H. 3, S. 44–47. Wolfram Hagspiel: „Aufruf zum Farbigen Bauen“ – Revolution im Kölner Stadtbild während der 20er Jahre, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 1999, H. 4, S. 44–46. Wolfram Hagspiel: Berliner Glanz in Rheinischen Städten – Das Architekturbüro Kayser & von Groszheim und sein Wirken in den Rheinlanden, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2000, H. 1, S. 44–46. Wolfram Hagspiel: Helmut Goldschmidt. Porträt eines ungewöhnlichen Kölner Architekten, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2000, H. 2, S. 34–39. Wolfram Hagspiel: Aspekte der Kölner Architektur, in: Zeitgenossen. August Sander und die Kunstszene der 20er Jahre im Rheinland. Göttingen 2000, S. 156–162. Wolfram Hagspiel: Das Schicksal der jüdischen Mitglieder des AIV, in: Köln – Seine Bauten 2000. Köln 2000, S. 25–28. Wolfram Hagspiel: Der Traum vom Wolkenkratzer, in: Rheinisches Jahrbuch für Architektur 1. Wuppertal 2000, S. 72–85.

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Bibliographie Wolfram Hagspiel

Reinhold Mißelbeck, Wolfram Hagspiel: Vision vom Neuen Köln. Werner Mantz, Fotografien 1926-1932. Köln 2000. Wolfram Hagspiel: „Ein Hauch von Weltstadt“ im Visier eines Fotografen, in: Werner Mantz. Vision vom Neuen Köln. Köln 2000, S. 12–14. Wolfram Hagspiel: Georg Falck (1878–1947). Der „Hausarchitekt“ der Leonhard Tietz AG, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2001, H.1, S. 34–41. Wolfram Hagspiel: Über Kölns Oper und den schönsten Platz der Wiederaufbauzeit, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2001, H. 2, S. 40–43. Wolfram Hagspiel: Über Kölns Oper und den schönsten Platz der Wiederaufbauzeit, in: Im Mittelpunkt: Die Denkmalpflege. Jörg Schulze zum Abschied. Köln 2001, S. 16–19. Wolfram Hagspiel: Hochhausträume. Die Vorkriegszeit in Köln und Düsseldorf, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2001, H. 3, S. 32–36. Wolfram Hagspiel: Grossstadtlichter. Als in den 1920er Jahren die Architektur zu leuchten begann, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2001, H. 4, S. 32–37. Wolfram Hagspiel: Der Kölner Architekt und Raumkünstler Rolf Distel (1897– 1968), in: Form und Stil. Festschrift für Günther Binding zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Stefanie Lieb. Darmstadt 2001, S. 366–371. Wolfram Hagspiel: Der Kölner Stadtbaurat Hubert Ritter. Wie Aufrichtigkeit und fachliche Kompetenz zum Fallstrick werden können, in: Polis. Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung 2002, H. 1, S. 42–45. Wolfram Hagspiel: Türme, Turmhäuser, Hochhäuser. Hochhausträume der 1920er Jahre in Köln und Düsseldorf, in: Der Traum vom Turm. Hochhäuser: Mythos – Ingenieurkunst – Baukultur. Berlin 2004, S. 229–243. Wolfram Hagspiel: Bauten und Architekten in Braunsfeld von 1900 bis zur Gegenwart, in: Köln: Braunsfeld – Melaten. Köln 2004, S. 271–336. Wolfram Hagspiel: Vom „Klinik-Palast“ zur „Hochhaus-Breitfuß-Anlage“. Stadtkölnische Krankenhausarchitektur vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart,

Bibliographie Wolfram Hagspiel

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in: Kölner Krankenhaus-Geschichten. Am Anfang war Napoleon … Köln 2006, S. 224–275. Wolfram Hagspiel: Das „St.-Claren-Viertel“ – seine bauliche und städtebauliche Entwicklung bis zur Gegenwart, in: Am Römerturm. Zwei Jahrtausende eines Kölner Stadtviertels. Köln 2006, S. 205–252 (= Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums Band 7). Wolfram Hagspiel: Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, in: 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907/2007. München 2007, S. 65–66. Wolfram Hagspiel: Die Entwicklung der stadtkölnischen Bauämter von 1821 bis 1945 und ihr Beitrag zur Baukultur, in: Kölner Stadtbaumeister und die Entwicklung der städtischen Baubehörden seit 1821. Köln 2007, S. 37–70 (= Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums Band 9). Wolfram Hagspiel: Marienburg. Ein Kölner Villenviertel und seine architektonische Entwicklung. Köln 2007. Wolfram Hagspiel: Erinnerung an einst vielfältiges Wirken. Über bedeutende jüdische Architekten Kölns, in: Gemeindeblatt der Synagogen-Gemeinde Köln. 2006– 2007, Nr. 12, S. 26–27. Wolfram Hagspiel: Köln und seine jüdischen Architekten. Köln 2010. Wolfram Hagspiel: Hans Heinz Lüttgen (1895–1976), in: Hans Heinz Lüttgen. Neuauflage der Ausgabe von 1932. Köln 2011 (= Neue Werkkunst). Wolfram Hagspiel: Villen im Kölner Süden. Rodenkirchen, Sürth, Weiß und Hahnwald. Köln 2012. Wolfram Hagspiel: Eine Zeitreise von der Rheinromantik bis in die Gegenwart. Dr. Hervey Cotton Merrill und Theodor Merrill und eine ungewöhnliche Köln-amerikanische Erfolgsgeschichte, in: Südstadtmagazin 2012, Febr./März, S. 16–20. Wolfram Hagspiel: Eine Zeitreise von der Rheinromantik bis in die Gegenwart. Otto Müller-Jena. Rodenkirchens erster großer Villenplaner, in: Südstadtmagazin 2012, April/Mai, S. 14–17. Wolfram Hagspiel: Eine Zeitreise von der Rheinromantik bis in die Gegenwart. Edmund Bolten (1882–1949). Einer der produktivsten Architekten im Kölner Süden, in: Südstadtmagazin 2012, Juni/Juli, S. 22–25.

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Bibliographie Wolfram Hagspiel

Wolfram Hagspiel: Eine Zeitreise von der Rheinromantik bis in die Gegenwart. Franz Brantzky (1871–1945). Der Architekt der Villa Dr. Wilhelm Kolvenbach, in: Südstadtmagazin 2012, Aug./Sept., S. 20–24. Wolfram Hagspiel: Eine Zeitreise von der Rheinromantik bis in die Gegenwart. Ludwig Paffendorf (1872–1949). Architekt, Kunstgewerbler und Reformkünstler, in: Südstadtmagazin 2012/2013, Dez./Jan., S. 12–15. Wolfram Hagspiel: Köln in Fotografien aus der Kaiserzeit. Rheinbach 2016. Wolfram Hagspiel: Lexikon der Kölner Architekten vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. 3 Bde. Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins e. V., Bd. 52. Köln 2022. Hinzu kommen ca. 50 Beiträge in: Saur Allgemeines Künstlerlexikon. Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. München/Leipzig 1992-2010.

Autorinnen und Autoren Dr. Johanna Gummlich, Rheinisches Bildarchiv, Eifelwall 5, 50674 Köln Lioba Hagspiel, Merheimer Straße 494, 50735 Köln Prof. Dr. Wolfgang Hasberg, Universität zu Köln, Historisches Institut, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Dr. Wolfgang Hünseler, Allée Christian de Duve 10/16, B-1200 Woluwé St. Lambert (Belgien) Prof. Dr. Hiltrud Kier, Institut für Kunstgeschichte, Regina-Pacis-Weg 1, 53113 Bonn Prof. Dr. Klaus Militzer (verstorben am 30. März 2022) Prof. Dr. Klaus Wolfgang Niemöller, Universität zu Köln, Musikwissenschaftliches Institut, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Dr. Max Plassmann, Historisches Archiv der Stadt Köln, Eifelwall 5, 50674 Köln Prof. Dr. Carsten Wilke, Central European University, Department of History & Department of Medieval Studies, Quellenstraße 51-55, A-1100 Wien (Österreich)