Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 45 2010 9783110223194, 9783110223200


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German Pages 223 [224] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Editorial
SATIRENWORKSHOP
Zu den Beiträgen des Satirenworkshops
Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire
Das enzyklopädische Ich
Pol und Gegenpol eines Magneten
»Gedanken mit tausend Schimmerecken.«
Jean Pauls Quellmaschinerie
Jean Paul als satirischer Philosoph
AUFSÄTZE
Zum »Rapport« von Musik und Mesmerismus bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann
Leitbildwechsel
Zur Monstrosität des Kindes
Jean Pauls Schriftsteller
BUCHBESPRECHUNGEN
Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, IV. Abteilung, Bd.3.1: Briefe an Jean Paul, 1797–1799 und Bd.3.2.: Briefe an Jean Paul, 1799–1800
Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano)
Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann
Backmatter
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Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft: Band 45 2010
 9783110223194, 9783110223200

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JAHRBUCH DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT 2010

JAHRBUCH DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT IM AUFTRAG DER JEAN-PAUL-GESELLSCHAFT, SITZ BAYREUTH HERAUSGEGEBEN VON ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN, HELMUT PFOTENHAUER, MONIKA SCHMITZ-EMANS, RALF SIMON 45. JAHRGANG

De Gruyter

Das Jahrbuch erscheint als Jahresgabe an die Mitglieder der Jean-Paul-Gesellschaft fr 2010. berweisung des Jahresbeitrags – fr Ordentliche und Korporative Mitglieder 25 Euro, fr Studenten 15 Euro – jeweils zum Jahresanfang auf das Konto der Gesellschaft. Kontaktadresse: Jean-Paul-Gesellschaft, c/o Jean-Paul-Museum, Richard-Wagner-Str. 48, 95444 Bayreuth, E-mail: [email protected] Informationen zu Jean Paul (hist.-krit. Ausgabe, Bibliographie) und zur Jean-PaulGesellschaft (Jahrbuch, Richtlinien zur Manuskripterstellung, Satzung, Beitrittsformulare) kçnnen auch von der Website der Gesellschaft bezogen werden: http://www.jean-paul-gesellschaft.de Redaktion dieses Bandes: Christian A. Bachmann

ISBN 978-3-11-022319-4 e-ISBN 978-3-11-022320-0 ISSN 0075-3580 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ? 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Christian A. Bachmann, Bochum Druck und Einband: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gçttingen

¥ Gedruckt auf sCurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

INHALTSVERZEICHNIS

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

SATIRENWORKSHOP RALF SIMON

Zu den Beiträgen des Satirenworkshops . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

ULRICH GAIER

Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire . .

5

MATTHIAS BAUER

Das enzyklopädische Ich. Überlegungen zum Regelwerk von Jean Pauls Jugendsatiren am Beispiel der Baierischen Kreuzerkomödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

MAXIMILIAN BERGENGRUEN

Pol und Gegenpol eines Magneten – Zwei Studien zu Jean Pauls Konzept der Doppelautorschaft in Siebenkäs, Flegeljahren und Komet . . . . . . . .

45

SONJA BÖNI

»Gedanken mit tausend Schimmerecken.« Ikonische Reflexionen in Jean Pauls satirischen Wort-Irrgärten . . . . . .

81

CHRISTIAN SCHWADERER

Jean Pauls Quellmaschinerie. Der satirische Nachlass aus textgenetischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN

Jean Paul als satirischer Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

VI AUFSÄTZE KATHERINE WEDER

Zum »Rapport« von Musik und Mesmerismus bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

ROLF-PETER CARL

Leitbildwechsel. Das Jean Paul-Bild bei Georg Gottfried Gervinus . . . . . . . . .

139

GABRIELE DÜRBECK

Zur Monstrosität des Kindes Otto. Altes und neues Wissen in Goethes Wahlverwandtschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

MONIKA SCHMITZ-EMANS

Jean Pauls Schriftsteller – Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen Schriftsteller im Siebenkäs (1796/1818) – und ihre Rückkehr in den Palingenesien (1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

BUCHBESPRECHUNGEN HELMUT PFOTENHAUER

Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, IV. Abteilung, Bd.3.1: Briefe an Jean Paul, 1797–1799 und Bd.3.2.: Briefe an Jean Paul, 1799–1800 . . . . . . . . . . . . .

197

TILL DEMBECK

Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

PETER BRANDES

Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Anschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . .

215

VII ANMERKUNG ZUR ZITIERWEISE

Die Werke Jean Pauls werden i.d.R. nach der historisch-kritischen Ausgabe Eduard Berends (Sigle: SW, Beispiel: SW II/4,69) oder der bei Hanser erschienenen zehnbändigen Ausgabe von Norbert Miller (keine Sigle, Beispiel: I/6,1037) zitiert. Dabei bezeichnet die römische Ziffer die Abteilung, nach dem Schrägstrich folgt die arabische Band- und, nach dem Komma, die Seitenzahl.

ELSBETH DANGEL-PELLOQUIN / HELMUT PFOTENHAUER / MONIKA SCHMITZ-EMANS / RALF SIMON

EDITORIAL

Das diesjährige Jahrbuch ist fast ein Tagungsband zu nennen: Es dokumentiert vor allem die Beiträge einer Satire-Tagung mit dem Titel »›Pfiffe im Kopf großbrüten‹. Poetologie, Ikonizität und Epistemologie in Jean Pauls Jugendsatiren«, die am 5. und 6. Juni 2009 in Basel stattfand. Dazu hat Ralf Simon ein gesondertes Vorwort geschrieben, wodurch nun dieses Jahrbuch, ganz im Sinne Jean Pauls, mit einer doppelten Vorrede ausgestattet ist. In diese Tagungsbeiträge eingegangen ist auch der sonst üblicherweise das Jahrbuch eröffnende Festvortrag der Bayreuther Jahresversammlung vom März 2009, den Maximilian Bergengruen zum Thema Der gespaltene Protagonist im ›Komet‹ gehalten hat und den er mit seinem Beitrag zur SatireTagung zu Zwei Studien zu Jean Pauls Konzept der Doppelautorschaft zusammengeführt hat. Auf diesen thematischen Schwerpunkt folgen weitere Beiträge mit verschiedenen Themenstellungen, zwischen denen es aber auch Korrespondenzen gibt. Katharine Weder fragt in ihrem Aufsatz danach, wie das Zusammenklingen von Musik und Mesmerismus bei E.T.A. Hoffmann und Jean Paul literarisch umgesetzt wird, wie sie sich in Analogien, aber auch in produktiven Abgrenzungen aufeinander beziehen. Die literarischen Beispiele vermitteln bei beiden Autoren ein Kunstkonzept, das durch die Koppelung von Musik und Mesmerismus außerästhetische Begründungskontexte an die Kunst heranträgt und damit in tendenzieller Gegenposition zur frühromantischen Autonomieästhetik steht. Der kurze Text von Rolf-Peter Carl Leitbildwechsel ist der Rezeption Jean Pauls in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gewidmet und behandelt das Jean Paul Bild von Georg Gottfried Gervinus (1805– 1871), das von einer jugendlichen emphatischen Identifikation zur strikten Ablehnung im Namen eines klassischen Maßes wechselt, wie es dann auch seine Literaturgeschichtsschreibung bestimmt. Diese Jean Paul gewidmeten Beiträge werden auch in diesem Jahrgang wieder durch einen Text aus dem literaturhistorischen Umfeld Jean Pauls ergänzt. Gabriele Dürbeck untersucht an Goethes Wahlverwandtschaften das

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Dangel-Pelloquin et al.

Verhältnis von altem okkulten Wissen (wozu neben der Medizin auch der Magnetismus gehört) mit neuen Wissensformen, die sich auf der Basis von empirischem Wissen und Rationalität bewegen. Sie zeigt am »monströsen« Kind, wie durch die Verklammerung beider Wissensformen das alte okkulte Wissen im kulturellen Gedächtnis präsent bleibt. Den Schluss der Beiträge bildet auch dieses Jahr das nun schon Tradition gewordene Schriftstellerlexikon von Monika Schmitz-Emans. Es wendet sich diesmal den Dichter- und Schriftstellerfiguren aus dem Siebenkäs zu, ihren vielfältigen Spiegelungen und vertrackten Autorschaftsfragen, und ergänzt damit aufs Beste den Aufsatz von Max Bergengruen. Der Band wird wieder durch einen Rezensionsteil abgerundet, der einmal den beiden neuen Briefbänden der vierten Abteilung der Historisch Kritischen Ausgabe Jean Pauls gilt (Briefe an Jean Paul, 1797–99 und 1799– 1800), zum andern einige der erfreulich vielen neueren Monographien zu Jean Paul vorstellt, andere werden im nächsten Jahrbuch folgen.

Elsbeth Dangel-Pelloquin, Helmut Pfotenhauer, Monika Schmitz-Emans, Ralf Simon Basel, Bochum, Würzburg, im September 2009

RALF SIMON

ZU DEN BEITRÄGEN DES SATIRENWORKSHOPS

Die in diesem Jahrbuch vorgelegten Beiträge zu Jean Pauls Satiren gehen auf einen Workshop zurück, der im Rahmen der Basler Bildkritik im Juni 2009 von Sonja Böni organisiert und verantwortet wurde. Die leitende Fragestellung, die an die Eingeladenen erging, war die nach dem Status der textuellen Bilder, die Jean Pauls Satirenwerk in reicher Fülle entwirft. Hat die 1975 erschienene Doktorarbeit von Wilhelm Schmidt-Biggemann die frühen Satiren Jean Pauls nach ihrer Modellgeschichte und ihrer epistemologischen Formierung untersucht, so richtet sich die Frage, wie solche Modelle in den satirischen Texten in Bilder übersetzt werden, zusätzlich auf die literarischen Eigentümlichkeiten und Verfahrensweisen. Der Basler Workshop hat diese Frage mit so reichen Antworten bedacht, dass die HerausgeberInnen des Jahrbuchs glücklich sind, zum von der Forschung am stiefmütterlichsten behandelten Werkkomplex Jean Pauls einige substantielle Studien vorlegen zu können. In der Tat wurde schnell deutlich, dass die gängige biographische Mythe, Jean Paul beende mit einer Todesvision seine ›satirische Essigfabrik‹ und beginne mit der Unsichtbaren Loge eine neue Werkepoche, einer Revision bedarf. Ulrich Gaier ebenso wie Matthias Bauer weisen intensiv nach, dass die Doppelung in Satire und Empfindsamkeit von Beginn an in Jean Pauls Schreiben angelegt ist. Genauer: sowohl das Satirische als auch das Empfindsame unterliegen einer Logik der Reduplikation (Bauer) oder einer Rhetorisierung des Denkens (Gaier), so dass sowohl die Skepsis als auch die Spaltung der Empfindsamkeit in das Wissen von ihrer Inszeniertheit zur Startbedingung Jean Pauls zählen. So lassen sich viele Verfahren und Strukturen, die das spätere Werk ausmachen, schon in den Satiren finden, wie Maximilian Bergengruen eindrücklich nachweisen kann, wenn er die Konzepte der Doppelautorschaft beim frühen und späten Jean Paul in einer Studie zusammenführt, die den Vortrag der Jahresversammlung und den zum Satirenworkshop vereint. Sonja Böni kann Jean Pauls satirische Anverwandlung des Cartesianischen Substanzendualismus nachweisen und dies in eine Analyse der Bildlogik des satirischen Textes als einer Verfahrensweise überführen, die Ecos Idee einer Kunst des Vergessens folgt. Ebenfalls einer Kompositionslogik des textuell Ikonischen geht Chris-

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Ralf Simon

tian Schwaderer nach, der eine Nachlassnotiz als Ausgangspunkt benutzt, um die Wanderung eines Bildes durch Jean Pauls Texte nachzuzeichnen. Auch dieser genuin philologische Zugang führt zu einer Analyse der Bildlogik dieses Textproduzierens. Schließlich ist der Beitrag von Wilhelm SchmidtBiggemann zu nennen, der die Frage nach dem, was ein satirischer Philosoph sei, mit der Tradition eklektizistischen Philosophierens im Ausgang von Erasmus beantwortet. Der hier vorgenommene Bezug zur ars memorativa hat eine interessante Parallele zu der von Böni aufgedeckten textuellen Logik der Vergessenskunst. Es lässt sich sagen, dass diese Beiträge die Rolle der Satiren in Jean Pauls Werk neu bedacht haben. Anstelle eines Bruches zwischen ›Essigfabrik‹ und Romanschreiben ist vielmehr eine konzeptionelle Kontinuität zu setzen. Die These, dass die Empfindsamkeit erst mit den Romanen, diese ermöglichend, Einzug gehalten hätte, ist zu revidieren. Dies ist ein substantielles Ergebnis, welches der künftigen Forschung für die Frage, wie denn nun die gleichwohl kaum zu leugnende Differenz zwischen dem Satiriker und dem Romancier zu denken sei, genug Stoff überlässt. Ralf Simon Basel, im August 2009

ULRICH GAIER

MÄNGEL DER EINBILDUNGSKRAFT ALS GEGENSTÄNDE DER SATIRE

Die Forschung zum frühen Jean Paul hat sich darauf verständigt, drei Phasen der Entwicklung seines philosophischen Denkens und seines Schreibens zu unterscheiden. Ich zitiere die Zusammenfassung dieses »Forschungskonstrukts« bei Maximilian Bergengruen: Nach einer Zeit der dogmatischen, aber größtenteils nicht durch Lektüre gedeckten, Leibniz-Verehrung (1780–82), die mit einem optimistischen Geschichtsbild einhergeht [...], folgt – durch das Studium in Leipzig bei Ernst Platner initiiert – eine skeptische Phase, in der Richter die Schulphilosophie in Frage stellt. In dieser Zeit beginnt er – quasi als Therapie – Satiren zu schreiben. Am Ende der 80er Jahre überwindet Richter die skeptische Phase, findet zurück zu Gott und der Unsterblichkeit der Seele und kann nun mit der Niederschrift von Romanen beginnen, in denen dieser Glauben seinen Ort hat.1

Hier nehme ich mir vor, mich nur mit den zwei Jahren der sogenannten ersten Phase, 1780 bis Anfang 1782, zu befassen bis hin zur Satire Das Lob der Dumheit (1782), um das zitierte Bild einer dogmatischen Leibniz-Verehrung mit optimistischem Geschichtsbild zu revidieren und umfassende Skepsis schon in den frühesten Schriften festzustellen. Ferner werde ich die schon in dieser Phase herrschende, üblicherweise der zweiten zugerechnete anthropologische, epistemische und literarische »Inkonsistenz«2 als Übung im Denken, d.h. denkrhetorisches Training in zeitgenössischen Diskursen aufdecken und ihre rhetorische Verfügbarkeit für Satire und Empfindungsstil der vor allem im englischen Empirismus und Sensualismus entwickelten Anthropologie, Episteme und Ästhetik der Einbildungskraft begründen. Die Zusammenhänge kann ich hier nur skizzieren. ––––––– 1

2

Maximilian Bergengruen, Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, S.9. Alexander Kosenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ›Philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989, S.86. Bergengruen ([Anm.1], S.9, Anm.37) entwickelt seine Interpretation dieser dualistischen »Inkonsistenz« über »dualistisches Irritationsmodell« (S.12) zum Begriff der »Rolle« (S.30), die dann auf eine »epistemische Theorie« bzw. »epistemische Prämisse« zurückgeht.

6

Ulrich Gaier

Anthropologie »Sonst las ich blos philosophische Schriften; iezt noch lieber wizzige, beredte, bilderreiche.« (SW III/1,32) Dieser Satz in einem Briefkonzept vom November 1781 bekennt die Hinwendung des 18jährigen zur Literatur der Einbildungskraft, die durch Bilder und den Terminus des Witzes, frz. esprit, engl. wit gekennzeichnet ist und die Rhetorik auf neue Weise einzusetzen versteht. Der Grund dieser Hinwendung ist nicht nur, wie bei Übersendung der Satire Das Lob der Dumheit Anfang März 1782 mit bitterem Witz geschrieben, die Armut, die Richter zwingt, Bücher zu schreiben, um Bücher kaufen zu können (ebd.,38); vielmehr sind es die philosophischen Bücher selbst, die diese Hinwendung bewirken und die wie Kants Kritik der reinen Vernunft, gleich 1781 gelesen, sogar als »wizzig, frei und tiefgedacht« (ebd.,19) gelten dürfen. Als »wizzig« daran wird Richter z.B. die »kopernikanische Wendung« gesehen haben, die erstens Kopernikus’ Einnahme einer fiktiven Beobachterposition zur Korrektur der menschlich eingeschränkten Perspektive und zweitens die Anwendung von Fiktion und Konjektur auch auf die Bedingungen des menschlichen Erkennens bedeutete und damit ein eminentes Produkt der Einbildungskraft ist. Hamann übrigens sagte Kant, er halte die Kritik der reinen Vernunft für »Mystik« (wohl wegen des bloß noumenalen Charakters der Dinge an sich);3 Herder bezeichnete sie als »Transzendental-Dichtung«;4 nach Herders Auffassung »dichtete« auch Leibniz.5 Zweierlei können wir diesen uns heute befremdlichen Einschätzungen entnehmen: Erstens deckten Einbildungskraft, Dichtung, Witz ein viel weiteres Feld ab als wir vermuten, schlossen Konjektur und Entdeckungslogik ein, zweitens hatte Descartes’ Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit von Verstand und Vernunft schon für viele Zeitgenossen einen Dämpfer erhalten, der auch mit dem heute üblichen rationalistischen Aufklärungsbegriff6 nicht zusammenstimmen will. Alternativen zum Rationalismus boten aber die englischen Empiristen und die schottischen Moralphilosophen, von denen Richter bis ––––––– 3

4

5 6

Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hrsg. von Arthur Henkel. Bd.4. Wiesbaden 1959, S.355. Johann Gottfried Herder, Werke in 10 Bänden, hrsg. von Günter Arnold u.a. Frankfurt a.M. 1985–2002 (künftig FHA). Bd.8, S.368f. Ebd., Bd.1, S.106. Dagegen schon Panayotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S.21 zur »Rehabilitierung der Sinnlichkeit«, und Ulrich Gaier, Gegenaufklärung im Namen des Logos: Hamann und Herder, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S.261–276.

Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire

7

1782 Hutcheson und Ferguson studierte,7 einiges von Bacon, vor allem aber David Hartley und Pope las8 und Hume in seiner Schulrede von 1780 wenigstens erwähnte (SW II/1,17). Descartes’ »cogito sum« stand Rousseaus »Exister pour nous, c’est sentir«9 gegenüber. Sogar Christian Wolff, Vater der deutschen Aufklärung, musste sich in seiner Praktischen Philosophie eingestehen, dass die Vernunft viel zu wenig gegründete und viel zu abstrakte Sätze bereitstelle, als dass das Handeln der Menschen dadurch in »lebendiger Erkenntnis«, begeisterter Willigkeit und überzeugter Einbildungskraft angeleitet werden könnte; dafür müsse ein Konsens von eigenem Erleben, gesundem Menschenverstand und rationaler Einsicht erzielt werden.10 Leibniz, einer der wichtigsten Philosophen für den jungen Richter, ›dichtete‹ insofern, als die monadische Anthropologie bestmögliche Konjektur ist, so wie Gottes Schöpfung die beste der möglichen Welten sein soll. Diese Schöpfung bezeichnet Leibniz in der Metaphysischen Abhandlung11 als »Ausdruck«, »expression« der Herrlichkeit Gottes, verwendet damit den Begriff der französischen Rhetorik für die elocutio und sieht also Welt als Rede, so wie Tun und Leiden der Monaden als stärkere und schwächere expression der Herrlichkeit erklärt werden. Der Rhetorisierung der Schöpfung und des menschlichen Handelns entspricht die Rhetorisierung des Denkens und Erkennens: Der von Leibniz konzipierte Unterschied in der Klarheit und Deutlichkeit der Ideen bei verschiedenen Monaden ist auch »Ausdruck«; wie der Redner sich in seiner elocutio dem Anlass, den Zuhörern, dem Gegenstand anmisst, so lassen sich verschiedene Erkenntniszugänge – Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Vernunft – einsetzen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Leibniz’ Schüler Christian Wolff, so haben wir gesehen, verlangte für eine lebendige Erkenntnis den Konsens der als heteronom und gar widersprechend verstandenen Erkenntnisquellen. Richter schreibt gleichzeitig strenge Übungen im Denken, witzige Briefe an Pfarrer Vogel, tränentriefend empfindsame Briefe und den Roman Abelard und Heloise für Adam Lorenz von Oerthel: Auch er ––––––– 7 8 9

10

11

Götz Müller, Jean Pauls Exzerpte. Würzburg 1988, S.24f., 85. Ebd., S.91, 84f., 106f. Jean-Jacques Rousseau, Emile ou De l’éducation, hrsg. von François und Pierre Richard. Paris 1957, S.353. Lektüre Richters: SW III/1,20. Vgl. Ulrich Gaier, »... ein Empfindungssystem, der ganze Mensch«. Grundlagen von Hölderlins poetologischer Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1993, S.724–746, hier: S.728–30. Gottfried Wilhelm Leibniz, Metaphysische Abhandlung. Discours de métaphysique, übers. und hrsg. von Herbert Herring. 2.Aufl. Hamburg 1985. Dazu Ulrich Gaier, Rhetorisierung des Denkens, in: homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik, hrsg. von Stefan Metzger und Wolfgang Rapp. Tübingen 2003, S.19–32, hier: S.22–28.

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Ulrich Gaier

trainiert durch Lektüre und Schreibstile die Erkenntnis-, Ausdrucks- und Kommunikationsweisen seines Jahrhunderts, wie er dies später im Siebenkäs abbildet. Unüberwindlich ist aber für Leibniz wie für Richter die Endlichkeit und Beschränkung der im Denken und Sprechen ihre Perspektivität ausdrückenden individuellen Monade. Für Leibniz im differentiell gestuften Monadenkosmos denknotwendig und als Schwäche der Ich-Monade dem Einwirken der Körpermonaden offen, bedingt diese Einschränkung nicht nur die Unvollkommenheit der Seele und die Reduktion deutlicher Ideen, sondern auch die Gängelung der Seele durch die Leidenschaften, die aus den körperlichen Vorstellungen entstehen.12 Unter dem Eindruck der gehirnphysiologischen Vibrations-Lehre David Hartleys konkretisiert und erweitert Richter die Bedeutung des Körpers. Alle Wirkungen unsers Geistes hängen in gewissem Grade – und die Erfarung scheint für den grösten zu sein – von unserm Körper ab. Das Gedächtnis nimt ab und zu, ie nachdem die Gehirnfibern sich verändern, härter oder weicher werden. [...] Die Einbildungskraft ist Knabe, Jüngling, Man und Greis, wie’s der Körper ist. Der Verständige ist ein Nar, wenn sein Körper in Unordnung ist. (SW II/1,40)

Damit entsteht auch eine dreifache Einschätzung des Todes: als Befreiung der Seele vom hinderlichen Körper, als Möglichkeit der Palingenesie, d.h. der Annahme eines weniger hinderlichen Körpers nach der Lehre von Charles Bonnet,13 endlich als Auflösung des Individuierten im unendlichen Leben und Sein, das dem Körper und der Seele als »das grose alumspannende Gefül« präsent ist (SW III/1,1); es garantiert mit Rousseaus Savoyischem Vikar das Gefühl der Existenz, das »unzergliederlich« und dem begrifflichen Erkennen unfassbar, bei Crusius, Condillac, Herder und endlich Kant scharf aus der Zuständigkeit und Kapazität des Verstandes herausgenommen wird.14 Die »Mai bis August« 1781 entstandene Abhandlung Etwas über den Menschen (SW II/1,171–190) lässt rhetorisch zuerst einen Optimisten, dann einen Pessimisten sprechen, deren Argumente nicht widerlegt werden: »Ich glaube dem Pope, oder Antipope, ie nachdem ich das Original von ihren Gemälden wechselsweise abgebe, und nur von den äussern Umständen hängt’s ab, welcher Meinung ich beitreten sol.« (Ebd., 181) Helvétius mit seiner These, dass nicht Ideen, sondern Umweltbedingungen den Menschen prägen,15 und Pope ––––––– 12

13 14 15

Leibniz, Die Hauptwerke, zusammengefasst und übertragen von Gerhard Krüger. 3.Aufl. Stuttgart 1949, S.217 (§ 66). Exzerpte [Anm.7], S.70, 86. Vgl. Herder FHA 1, S.9–21 (Versuch über das Sein) mit Kommentar ebd., S.844–869. Exzerpte [Anm.7], S.116–118.

Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire

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mit seiner Mahnung »Know then thyself, presume not God to scan; / The proper study of mankind is man«16 sind da zu hören, und Pope mit seinem Rat, die diesseitige Existenz des Menschen zum Gegenstand der Reflexion und Forschung zu machen, tönt lauter bei dem seit Beginn seines Theologiestudiums wie die Leipziger Studenten überhaupt (SW III/1,30) vom orthodoxen Christentum sich entfernenden Richter: »Ihr dichtet, herauszubringen, was ihr gewesen seid, und sein werdet – ich wil anbeten für das, was ich bin. Ich bin zuviel, als daß ich nicht nach dieser Welt mer sein solte. –« (SW II/1,189f.) Oder: »Wir haben eine Einbildungskraft, die das Unendliche nicht vorbilden kan, die aber eben so wenig bei dem Endlichen stehen bleibt.« (Ebd.,184) Das ist schon die Struktur der humoristischen Existenz des Menschen, wie wir sie in der Vorschule der Ästhetik im § 33 definiert finden: Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist. (I/5,129)

Die Zuversicht aber, im Bewusstsein der zeitlosen Dauer der Seele ihre hiesige Existenz anbeten zu können, im trüben Wassertropfen des Körpers die Sonne des Geistes abgebildet zu sehen (SW II/1,185), hat eine stark resignative, skeptische, ja bis an den Rand des von Pfarrer Vogel vertretenen Nihilismus (SW III/1,10) gehende Seite, da mit dem Tode »unsre ganze Beschaffenheit geändert [wird], weil wir unsern Körper entweder ablegen, oder umtauschen« (SW II/1,200). Wenn Richter sich hier von dem schon 1779 studierten Phädon Mendelssohns17 völlig löst und über die Fortdauer einer bestimmten Seele keine Aussagen mehr machen kann, so bleibt er von der Omnipräsenz Gottes (SW III/1,10) im Sinne jenes allumfassenden Seins und Lebens überzeugt, das sich im Gefühl manifestiert und das in den Leidenschaften erschreckend und faszinierend wirkt. Gefühle und Leidenschaften, unbekannt und unerkennbar, sind es, »die den Menschen zu einer Höhe bringen, die alzeit schauderhaft für ihn ist, die ihn in entgegengesezten Dingen gros machen und in Widerspruch mit sich selbst sezen« (SW II/1,188); Leidenschaft ist es, »die alles verändert, die den Menschen sich selbst unänlich macht, die unerklärbar wirkt und unwiderstehlich hinreist« (ebd.). Auch in Abelard und Heloise wirkt die Leidenschaft am Denken und der Besonnenheit des Menschen vorbei auflösend, unkontrollierbar, mit Goethes Begriff ––––––– 16

17

Alexander Pope, Essay on Man II, V.1f. (zit. nach W. Peacock, English Verse. London 1953, Bd.3, S.164). Exzerpte [Anm.7], S.51.

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Ulrich Gaier

»entselbstigend«,18 und vollendet sich im Wertherschen Selbstmord des Protagonisten. Hat die Leidenschaft dagegen Ziel und Widerstand, wirkt sie verfestigend und konstitutiv für das Ich, »verselbstend« mit Goethe. Das Auf und Ab der Leidenschaft kompensiert und bändigt nur das Genie, welches durch harmonische Stimmung seiner Gemütskräfte ausgezeichnet ist.19 Der Narr ist oft »ein verstimtes Genie; dan scheinen seine Torheiten am grösten zu sein, dan wird er durch den sonderbaren Kontrast von Vernunft und Unvernunft, Stärk’ und Schwachheit völlig unerklärbar« (SW II/1,252). Mit der Narrheit unter dem Exzess der die Einbildungskraft hochtreibenden Leidenschaften oder als Folge einer Verstimmung der Gemütskräfte sind wir schon im Bereich der Satire, aber wir müssen nach dieser anthropologischen Skizze der humoristischen Existenz des Menschen mit ihren gefühlsgeleiteten Rhetoriken der empfindsamen Entselbstigung und der reflexiven oder aggressiven Verselbstung zunächst noch einen Blick auf Verstand und Einbildungskraft werfen. Epistemologie Rasch entwickelt Richter in diesen zwei Jahren eine radikale Skepsis, von der die Forschung doch erst in der zweiten Phase nach 1782 hören will. Die notwendige Beschränkung der monadischen Erkenntnisfähigkeit wird zunächst optimistisch auf den bestmöglichen Willen Gottes gedeutet, ja, »reine Warheit ist für uns nicht, weil sie der Tätigkeit unsers rastlosen Geists Gränzen sezt« (SW II/1,97). »Hier, eure Welt, die ihr bewont, hat der Alvater nicht zum Orte bestimt, wo ihr Warheit finden solt – sondern hier wil er nur in euch den Trieb erwekken, sie zu suchen« (SW II/1,90). Dennoch gibt Richter sich nicht quietistisch zufrieden, sondern untersucht in pessimistisch kopernikanischer Wendung die Hindernisse der Möglichkeit von Erkenntnis. Da ist zunächst die Abhängigkeit der Denkungsart und der Begriffe vom Körper (SW II/1,192f.). Hier kuriert die Lektüre von Hume und Helvétius Richter von den angeborenen Begriffen Leibniz’ und subjektiviert die Erkenntnis: Nun hat ieder Mensch ein System von Begriffen, das vom System eines andern verschieden ist. Jeder hat einen andern Körper und eine andre Sele, andre Erziehung, befindet sich an andern Orten, hat andere äussere Umstände u.s.w. – und eben deswegen einen andern individuellen Vorrat von Begriffen (SW II/1,63).

––––––– 18 19

Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz. Bd.9. Hamburg 1955, S.353. Vgl. Vorschule der Ästhetik § 11; I/5,56.

Mängel der Einbildungskraft als Gegenstände der Satire

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So heißt es schon in der 9. Untersuchung der Übungen im Denken von 1780. Die Erkenntnis wird idiosynkratisch. Zur gleichen Zeit werden die Leidenschaften als Quelle der Subjektivierung erkannt: Man weis, was Leidenschaft für Wirkung auf den Verstand hat und wie leicht sie denselben irre führt. Sie verändert, verfälscht, verdirbt, oder vergütet die Sachen, der Verstand folgt dieser Empfindung; denn wer wird wol seine Empfindung für falsch halten? Mus nicht hernach der Verstand unrichtig urtheilen? (SW II/1,19)

Aber stoisch leidenschaftslos zu werden, bessert die Situation nicht: »Wer one Leidenschaft sein wil, der wil nichts sein; diesem ist dan seine Vernunft so wenig nüzze als ein Wegweiser dem Lamen, der nicht gehen kan.« (SW II/1,229) Auch die Stimmung, in die uns vorhergehende Ereignisse versetzt haben, beeinflusst Erkenntnis und Urteil: »Der vorige Zustand vermischt sich mit dem iezzigen auf eine bewundernswürdige Art und schattirt ihn gleichsam.« (SW II/1,71) Diese Abhängigkeit bringt Richter dazu, während der Hungerjahre bewusst Stimmungen bei sich zu erzeugen; das Schulmeisterlein Wuz kann ein Lied davon singen. Die Bedingtheit von Denkart, Begriffen und Urteilen durch Körper, Klima, Umstände, Stimmungen wird noch einmal verschärft durch die Veränderung der Zeit: »Jede Idee ändert sich durch die Länge der Zeit [...]. Ich kan mir keinen Begrif zweimal vorstellen – weil der eine nicht wie der andre ist. Die Sel’ ist der Veränderung eben so wie andre Ding’ unterworfen.« (SW II/1,50) Hinzu kommt endlich, was Eduard Berend als Lieblingsgedanken Richters bezeichnet (SW II/1,414), dass »ieder Mensch keinen Irthum als Irthum glaubt, und also sein ganzer Glaub’ aus lauter ihm wahr scheinenden Säzzen besteht« (SW II/1,35). Das Falsche als subjektive Wahrheit vollendet die Armee von Gründen für eine radikale Skepsis, und diese marschiert schon seit 1780. Man hat den Brief an Pfarrer Vogel vom 1. Mai 1783 als Beginn der zweiten, skeptischen, Phase Richters bezeichnet.20 Aber wenn er da schreibt: »selbst die Philosophie ist mir gleichgültig, seitdem ich an allem zweifle« und »viel vom Skeptizismus und von meinem Ekel an der tollen Maskerade und Harlekinade, die man Leben nent, schreiben« will (SW III/1,66f.), dann blickt er mit dieser Bilanz zurück auf die Jahre der Festigung dieser Skepsis in anthropologischer, theologischer und vor allem philosophischer Hinsicht. Mit »August 1779« datiert er die zweite Untersuchung der Übungen im Denken über die »Harmonie zwischen unsern wahren und irrigen Säzzen«. Wenn er hier die subjektive Konsistenz und Harmonie eines »Ideensystems aus einem Gemische von wahren und ––––––– 20

Z.B. Jean-Paul-Chronik. Daten zu Leben und Werk, zusammengestellt von Uwe Schweikert, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Gabriele Schweikert. München 1975, S.17.

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falschen Säzzen« bei jedem Menschen als gegeben ansieht (SW II/1,35), dann ist die Skepsis radikal: jeder hat seine idiosynkratische Erkenntnis, der Verstand hindert sogar das individuelle Gefühl für das Wahre und Richtige, auf dem dieses Ideensystem beruht (SW II/1,215, 217); »die Warheit ändert sich wie die Moden« (SW II/1,177), »eigentlich betrachtet hat iedes Individuum seine eigne, individuelle Religion« (SW II/1,58), »Got beurteilt ieden, nicht nach dem, was andre glaubten, sondern was er glaubte. Seine Begriffe von Recht und Unrecht sind der Masstab, wornach seine Handlungen abgemessen werden« (SW II/1,61). In den Rhapsodien vom Ende 1781 schreibt er über »die grausame Notwendigkeit, an allem zweifeln zu müssen«, weil die Erzieher dem Kind ihre subjektiven Mischungen von Wahrem und Falschem aufdrängen, statt es selber denken zu lehren (SW II/1,285) und es damit zur Entwicklung seiner idiosynkratischen Ideenwelt zu befähigen. Rückblickend schreibt Richter am 11. August 1790 an Wernlein: Die Geschichte Ihres Skept[izismus] ist meine. Im HeerrauchsJahr [1783] wölkte dieser SeelenHeerrauch meine so sehr ein, daß mir keine Wissenschaft mehr schmekte [...]. Ein Hauptgrund meines Skept[izismus] war der: ›es giebt für iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte. Die Säze, bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, sind meine wahren und es giebt kein andres Kriterium‹. (SW III/1,305)

Aber wie wir feststellen, ist dieses Heerrauchsjahr nur der Kulminationspunkt einer von 1779 an laufenden Entwicklung. Absurd wird angesichts der Erkenntnis der unhintergehbaren Idiosynkrasie der Anspruch des radikal subjektivierten homo-mensura-Satzes; die 9. Untersuchung der Übungen im Denken von 1780 behandelt das Thema: »Jeder Mensch ist sich selbst Masstab, wonach er alles äussere abmist« (SW II/1,62). Da heißt es etwa: »Wir sehen iemand handeln; und leihen ihm dan unsre Lage. Alsdan sehen wir freilich viel Ungereimtes, Lächerliches und Böses darinnen: es komt aber nur daher, weil wir dies hinein sezzen.« (SW II/1,63) Wer erinnert sich hier nicht an die Definition des Komischen als Selbstbetrug des Lachenden, der seine vermeintlich bessere Einsicht an den unter den Voraussetzungen seiner Einsicht Handelnden verleiht. Jean Pauls Beispiel ist dort Sancho Pansa, der sich die ganze Nacht in der Meinung, einen Abgrund unter sich zu haben, über einem seichten Graben in der Schwebe hält.21 Damit ist die Vorschule der Ästhetik 1780 vorweggenommen, aber Richter denkt hier unerbittlich weiter:

––––––– 21

Vorschule der Ästhetik § 28; I/5,110.

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Diese Täuschung, alles nach uns zu schäzzen, begleitet uns überal. Sie verläst auch den Weisern nicht völlig. Sie ist ein Feler, den man nur bemerkt, wenn er schon lange begangen worden ist [...]. Man würde weniger stolz, weniger feindselig sein, wenn man ihn nicht hätte: aber man würde dafür andre Vorteil’ entberen müssen. Man würde nichts beurteilen können, weil man keinen Masstab hätte, es darnach zu vergleichen. (SW II/1,67)

»Leibnizzens Monadologie« ist Richter zwar noch in den Rhapsodien von 1781 »ein Stral vom himmlischen Lichte, eine Warheit, die noch nicht für diese Erde gehört« (SW II/1,274), aber er durchdenkt ihre Folgen mit Hilfe der englischen Empiristen bis zum Punkt einer anthropologisch begründeten unhintergehbaren Skepsis hinsichtlich Erkenntnis und Urteilsfähigkeit. Einbildungskraft Im Brief über den »SeelenHeerrauch« des Skeptizismus von 1783 analysiert Richter weiter: Zum Glük wurd’ ich damals von der WizManie besessen, die mich, um Gegenstände etc. des Wizes zu haben, durch das neue Interesse zum Licht wandte, das ich durch das WizPrisma aus Stralen in Farben verkehrte. (SW III/1,305)

Mit dem Begriff des Witzes sind wir, wie anfangs bemerkt, im Gebiet der Einbildungskraft, deren reiche Geschichte seit Platon und deren fast zentrale Bedeutung für den englischen Empirismus seit Francis Bacon über Hobbes, Locke, Addison, Hume und Hartley zu wenig bekannt ist und in einem Sonderforschungsbereich über Bildtheorie eine Tagung füllen könnte. Der Begriff des Witzes kommt als wit neben Scharfsinn, judgment, aus der englischen Theoriebildung; während in England die Ideenassoziation seit Hobbes’ train of thought erkenntnistheoretisch besonders prominent ist, legt man in Deutschland auf die Erfindungskunst, die Entdeckungslogik besonderen Wert. Richter informierte sich durch eine Rezension von Henry Homes Elements of Criticism (1762) schon 1778 über die Assoziation von Ideen und Empfindungen sowie über den Witz22 und las in den Folgejahren außergewöhnlich viel Literatur zur Ideenassoziation und zur Einbildungskraft.23 Besonders interessierten ihn Arbeiten, die entgegen der Annahme der zweistämmigen Erkenntnis die Tätigkeit der Seele auf eine Grundkraft zurückführten, die wie etwa in Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele die konstruktive Arbeit der Seele von der Irritabilität der ––––––– 22 23

Exzerpte [Anm.7], S.29f. Ebd., S.58f. (Tiedemann), S.64f. (Hißmann, Tetens, Irwing), S.73 (Meister), S.78 (»Imaginazion«), S.88 (Hennings), S.89 (Sulzer), S.91 (Schmidt), S.93 (Feder).

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Muskeln über Sensibilität, Sinnentätigkeit, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft beschrieben.24 Ausführlich exzerpierte er David Hartleys Observations on Man, his Frame, his Duty, and his Expectations (1749, deutsch 1772), der das Denken in Analogien bis zum Aufbau eines analogischen Kosmos vorantrieb, in dem »all things become comments upon each other in an endless reciprocation«.25 Die Logik der Einbildungskraft führt von der Auffindung von Ähnlichkeiten, dem Spielfeld des Witzes, zur Analogie, die nach Hartley im strengen Sinne gilt, wenn die korrespondierenden Teile alle im gleichen Verhältnis zueinander stehen. [...] Da diese eingeschränkte Bedeutung auf die Dinge, wie sie wirklich sind, nicht anwendbar ist, benützt man eine weitere und praktischere Definition: Analogie ist jene Ähnlichkeit und in manchen Fällen Gleichheit von Teilen, Eigenschaften, Funktionen und/oder Gebräuchen etc. der Gegenstände A und B, wo unser Wissen über A und die solches Wissen ausdrückenden Worte ganz oder teilweise auf B angewandt werden können ohne spürbaren oder wenigstens gewichtigen praktischen Irrtum.26

So wird Analogie »ein Führer bei der Suche nach Wahrheit, und bis zu gewissem Grade ein Beweis für sie.« (Ebd.) Diese Entdeckungslogik stellt also im Bewusstsein der Konjekturalität aufgefundener Ähnlichkeiten und Analogien auf der Basis des von Peirce später so genannten abduktiven Schlussverfahrens27 vorläufige wahrscheinliche Entwürfe für das Begreifen von Sachverhalten auf, die sich in der Praxis bewähren müssen und in diesem trialand-error-Verfahren niemals adäquate Wahrheit, wohl aber bestmögliche Wahrscheinlichkeit und Verlässlichkeit erlangen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass mit zunehmender Skepsis Richters hinsichtlich der Wahrheit der begrifflichen Erkenntnis und der Verlässlichkeit des Gefühls, wie wir sie festgestellt haben, eine solche nur auf bestmögliche Wahrscheinlichkeit ausgehende, die Entwürfe der Einbildungskraft auf die Praxis beziehende und an ihr auf Brauchbarkeit prüfende Erkenntnis- und Handlungstheorie für ihn den einzigen Ausweg aus der Lähmung bot, in die ihn sein Philosophie- und Theologiestudium hineinzuführen drohte. Wenn es dem Menschen verwehrt ist, das Licht unmittelbar zu begreifen, hält er sich an die durch das »WizPrisma« ––––––– 24 25

26 27

Ebd., S.73 (Herder), S.110f. (Tiedemann, Eberhard). David Hartley, Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations. Sixth edition, London 1834, S.216. Ebd. S.185, 187 (Übers. U.G.). Zur Konjekturalität und Abduktion Stefan Metzger, Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, bes. S.132–137. Moses Mendelssohn nennt die abduktiven Schlüsse »Experimentalschlüsse«, vgl. Exzerpte [Anm.7], S.52. Hartley ausführlich zur Entdeckungslogik in Kap.III Sec.ii (Of Proposition, and the Nature of Assent), Propositions LXXXVI–VIII.

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aufgespreizten Farben in der Zuversicht, dass sie alle aus demselben Licht stammen und sich tendenziell wieder in seine Einheit zurückführen lassen müssen. Der Witz als Verbindung entfernter Ähnlichkeiten erscheint Jean Paul als geeignetes Mittel, die verschiedenen Kreise des Wissens zu vereinigen. [...] Jean Paul betrachtet die Dichtung als eine Agentur mit der Aufgabe, die Grenzziehungen der Einseitigkeiten aufzulösen und das diskrete Material neu zu verbinden. Er durchbricht die vom wissenschaftlichen Diskurs aufgerichteten Schranken und setzt auf eine neue, individuelle Herstellung von Ganzheit.28

Götz Müller, den ich hier zitiert habe, hätte auf die Parallele zu Novalis’ auf derselben »szientifischen Unzucht«29 beruhendem Enzyklopädie-Projekt hinweisen können. Hartley ist wohl derjenige, der die Logik der Einbildungskraft am weitesten auf ihre wissenschaftstheoretischen Folgerungen hin untersucht hat. In Deutschland war es Ernst Platner in Leipzig, bei dem Richter aufgrund seines Armutszeugnisses kostenlos studieren durfte (SW III/1,7) und über den er schreibt: »Platner neubearbeitet seine Aphorismen.30 Da ist ware Philosophie, die so selten ist, weil man soviel von ihr spricht. Platner ist unstreitig einer der besten Philosophen Deutschlands. Welch Glük für mich! sein Zuhörer sein.« (SW III/1,19) Platner verarbeitet die englische Theorie der Einbildungskraft und gründet seine Philosophie vollständig auf dieses Vermögen, das er in Vorstellkraft, Phantasie als das Vermögen bildlicher Ideen und Einbildungskraft als den »höheren Grad der Vollkommenheit der Phantasie, anlangend Lebhaftigkeit, Deutlichkeit oder auch Stärke und Wärme der Vorstellungen« auffächert.31 Es war sicher die Verwandtschaft der Platnerschen Philosophie mit der schon ausführlich studierten englischen Theorie der Einbildungskraft, die Richter das hohe Lob aussprechen ließ. Platner schreibt über Witz, Scharfsinn, Ideenassoziation, Metaphorologie und damit auch die literarischen Anwendungen der Theorie, für die Richter sich ebenfalls schon speziell interessiert hatte. Die Lektüre von Home, Sulzer, Hartley32 machte ihn mit Tropen und Stilfiguren weit über den rhetorischen Gebrauch hinaus bekannt, von Home, Addison, Tetens, Sulzer mit der psychologischen Ästhetik der Einbildungskraft.33 Das »WizPrisma« der Einbildungskraft, die Er––––––– 28 29 30 31 32 33

Exzerpte [Anm.7], S.347. Novalis, Werke, hrsg. und komm. von Gerhard Schulz. 2.Aufl. München 1981, S.423. Ernst Platner, Philosophische Aphorismen. Leipzig 1776, 2.Aufl. 1782/84. Ebd., Ausgabe 1776 §§ 271, 274, 288. Exzerpte [Anm.7], S.31, 62f., 84f., 92, vgl. Vergleich von Stilfiguren S.105. Ebd., 29, 31, 64, 89. Addisons Pleasures of the Imagination las Richter mit dem Spectator (SW III/1,32).

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kenntnistheorie der konjekturalen »Experimentalschlüsse«, die Neue Mythologie und Enzyklopädie der wie schon bei Hartley grenzenlos aufeinander bezogenen Wissenschaften werden also in den Jahren 1778–82 in Kompensation zur radikal skeptisch hinterfragten Zuverlässigkeit der Verstandeserkenntnis und der unkontrollierbaren Wandelbarkeit von Gefühl und Leidenschaft rettend entwickelt. Wohl bleibt die alle begrifflichen Leistungen des Verstandes anzweifelnde Skepsis, wohl bleibt das unkontrollierbare leidenschaftliche körpergesteuerte Gefühl, aber beide sind zugleich Antrieb für die konjekturale Arbeit der Einbildungskraft und können von ihr in ihre narrativen Systeme als Digressionen oder rhetorische Einschübe eingebaut werden. Die Narration, eine genuine, im Abelard früh geübte Leistung der Einbildungskraft, wird dann seit der Unsichtbaren Loge die Rhetorik, in der die Einbildungskraft zum Schweben kommt und über alle anderen Rhetoriken frei disponiert. Die Einbildungskraft wird somit in den frühen Jahren Richters zu dem Vermögen, in dem der anthropologischen Beschränkung gemäß die Wahrheitsforderung der Vernunft auf die wahrscheinlichen Entwürfe des Witzes herunter, die Gewalt des leidenschaftlichen Gefühls auf die Bilder der Empfindung als des reflektierten Gefühls herauf geläutert und humanisiert werden und wo die unvermittelt-ungemilderten Ausdrücke von zersetzendem Verstand und auflösender Leidenschaft in der Ökonomie der Narration aufgehoben sind. Diese bedeutende, zunächst philosophische, dann erzählerische Leistung legt Grund für das gesamte Werk Jean Pauls, wie immer die Rhetorik seiner intendierten Wirkung wechseln mag. Empfindsamkeit und Satire Die Werthersche Empfindsamkeit seines ersten überlieferten Briefs an Oerthel und der für diesen Freund geschriebene Roman Abelard und Heloise nach Anregungen von Pope, Rousseau, Miller und vor allem Goethe ist eine frühe Übung für die Spiegelung, Verbildlichung und den narrativen Ausdruck des in der Einbildungskraft reflektierten Gefühls und seine auflösende, entselbstigende Wirkung, analog zu den gleichzeitigen Übungen im Denken eine Übung im Fühlen und Empfinden. Leidenschaft und Gefühl erweisen sich als bedrohliche objektive Mächte, die nicht mehr kontrollierbar sind, nachdem der neue Abelard seine Heloise verloren hat. Ein Beispiel: »Gestern war ich unbeklemter; heute fieng’s wieder an aufzuwallen, tief braust’ es ein Brausen des Sturms, der Wut in mir – wie Ätna’s Lavaglut kocht’ es aus dem eingeengten Herzen herauf.« (SW II/1,150) Bevor er »seine Qualen enden mus«, indem er sich erschießt, nimmt er Abschied von »Mitbrüdern! Mitmen-

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schen!«, erheischt ihr Mitleid und bittet alle Liebenden um Erinnerung an ihn, »wie er in seiner Todesstund’ an euch alle dachte, und Tröstung für alle Mitleidende vom Alvater herunterstönte.« (SW II/1,153) In dieser Hinwendung zur Menschheit, zu den Liebenden, zu Gott lässt Richter seinen Abelard die Gewalt seines Jammers, seiner »langsam tödenden Qual« (ebd.) durch einen empfindsamen Entwurf der Einbildungskraft überwinden, wie er auch bis zum Abdrücken der Pistole den Brief an seinen Freund weiterschreibt: Es ist die empfindsame Kommunikation, durch die die existenzbedrohende Gewalt des Gefühls nicht physisch, aber in der Antizipation des Übergangs in eine höhere Existenzform durch die Einbildungskraft überwunden wird. Existenzbedrohend sind auf der rationalen Gegenseite die Übungen im Denken, die der unerbittlich analysierende Richter selbstquälerisch bis in den »Heerrauch« des verzweifelten Skeptizismus führt, aus dessen lähmender Gewalt ihn wiederum die Einbildungskraft mit dem Spiel des »WizPrismas« rettet. Um so bedrohlicher und beängstigender müssen Exzesse der Einbildungskraft selbst sein, die frei über der glühenden Lava der Leidenschaften und der eisigen Begriffswüste der Ratio schweben muss. Gegen die beängstigende Fesselung der freien Phantasie kämpft Richter mit den Mitteln der Satire. An den Jugendsatiren Richters hat Wolfgang Harich die politische Seite betont, Burghardt Lindner die Gesellschaftskritik mit den Mitteln des Komischen, Wilhelm Schmidt-Biggemann die differentiellen Veränderungen der Maschine und des Teufels als Welterklärungsmodellen der Aufklärung.34 Ich habe Satire definiert als »sprachliche Auseinandersetzung mit einer bedrohlichen Wirklichkeit«, wegen deren beängstigender unfassbarer Gestalt- und Gesichtslosigkeit der Kampf gegen einen Stellvertreter geführt werden muss, dessen vordergründige Rolle durch Rückübersetzungssignale angezeigt wird, die den Rezipienten auf die zugrunde liegende Bedrohung zurückführen.35 Die Exzesse der Einbildungskraft entstehen durch Über- und Unterfunktion der Phantasie. Überfunktion ist Narrheit oder Torheit: Torheiten sind uns so notwendig, wie die Luft zum Atmen, sie begleiten iede starke Einbildungskraft und kündigen oft den seltnen Man an, wie Insekten den Honig.

––––––– 34

35

Wolfgang Harich, Satire und Politik beim jungen Jean Paul, in: Sinn und Form 19 (1967), S.1482–1527. W.H.: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane. Berlin 1974. – Burghardt Lindner, Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen, in: JJPG 5 (1970), S.1–62. – Wilhelm SchmidtBiggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg/München 1975. Ulrich Gaier, Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart. Tübingen 1967, S.331–346.

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Ulrich Gaier Narheit ist das Ungewönliche in Gedanken, Worten und Werken; und wer wil dies vermeiden? (SW II/1,251)

»Torheit, Träumen und Raserei sind nur im Grade verschieden. Wenn man anders handelt, als es das Verhältnis der Zeit, des Orts usw. erfordert, so ist man ein Tor, oder ein Träumer, oder ein Rasender.« (SW II/1,253) Wie schon bei der Vermischung der wahren und falschen Sätze und Vorstellungen besprochen, baut der Narr eine in sich konsistente Vorstellungswelt auf, die ihn unerklärbar (ebd.) und seine Handlungen sprunghaft und bizarr erscheinen lassen. »Unser Herz hat ein Gefül für Moralität, unser Verstand ein Gefül für Evidenz – für die Torheiten haben wir das Gefül des Lächerlichen.« (SW II/1,271) Über den Narren wird also gelacht; lachende Satire ist das Kampfmittel gegen die Isolation eines Menschen in einer idiosynkratischen Welt, die ihn in der Alltagswelt Unverständliches tun und sagen lässt und so von den andern Menschen ausgrenzt. Wegen des Übermaßes an Einbildungskraft und der fehlenden Kontrolle darüber sind alle großen Menschen, insbesondere die Poeten, ständig in Gefahr, Narren zu werden (SW II/1,83). Die Bedrohung liegt also anthropologisch in der monadischen Individualität und Subjektivität, der die innere und gesellschaftliche Kontrolle abhanden kommt: »Den Narren kan man bessern, eben weil er schlimmer werden konte. Er ist ein Starker, dessen Kräft’ übel gebraucht worden sind.« (Ebd.) Lachende Satire kann von dieser beängstigenden Abweichung aus der Mitte des Menschseins heilen. Dummheit dagegen ist die Unterfunktion der Einbildungskraft. »Das Übel des Dumkopfs besteht darin, daß er zu wenig Einbildungskraft hat.« (Ebd.) Das wirkt sich auf seine Erkenntnis aus: »Die Blumen der Phantasie blühen nicht in seinem Gehirn. Lebhafte, neue Bilder sind gleichsam die Blüte von unsern Begriffen [...]. Wer neue Bilder schaft, schaft die Keime zu neuen Gedanken.« (SW II/1,256) Die geistige Unbeweglichkeit des Dummen macht ihn hartnäckig, stolz, eitel, boshaft, neidisch, hochmütig und machtbesessen – der Dumme fesselt die menschliche Gesellschaft, wenn er die Mittel dazu hat. »Sein Kopf ist eingeschränkt, seine Einbildungskraft tod, sein Verstand klein; sein Herz ist eben so eingeschränkt, eben so tod, eben so klein.« (SW II/1,257) Was bei der Dummheit droht und ängstigt, ist der Tod und das Tötende, nicht jenes Gefühl der befreienden Auflösung im Unendlichen wie bei Abelard, sondern die Vereisung und Erstarrung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens; der Kampf dagegen wird mit den Waffen der sprachlichen Vernichtung durch Ironie, Spottzorn, juvenalische Schärfe und boshaft gewährte Gelegenheit zur Selbstvernichtung geführt wie in der Prosopopöie Das Lob der Dumheit von Ende 1781/Anfang 1782. Wohl ist das

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die erste zur Veröffentlichung geschriebene Satire, aber schon mit dem Beginn des Studiums in Leipzig fallen satirische Bemerkungen über Studenten und Professoren, die sich zu satirischen Schilderungen ausbreiten und mit wenigen Änderungen etwa in den Grönländischen Prozessen wiederkehren. Zwei Übungen im Denken von 1780/81 und zwei Rhapsodien von 1781 widmen sich Narrheit und Dummheit im Vergleich oder der Dummheit allein; die satirische Schreibart, vor allem an Butler, Swift und Pope geschult, greift hier mit Biss und Schärfe, Ironie und Hohn, Zorn und Verachtung in die an Platner orientierte erfahrungspsychologische Untersuchung ein und macht auch sie zu ersten Satiren, wie sie Jean Pauls ganzes Werk mittragen, neben den Schreibarten des Humors, der Komik, der Empfindsamkeit und der hymnischen Idealität, die alle in diesen Jahren einzeln trainiert werden. Auch das Gewebe der Erzählung, das dieses »WizPrisma« von Schreibarten von der Unsichtbaren Loge an zusammenhält, wird ebenfalls in Ansätzen schon in den frühen Jahren geübt, tritt aber durch die an Sterne und der Ideenassoziation geschulte Digressionstechnik über und neben die selbständig sich behauptenden Rhetoriken der verschiedenen Schreibarten. Mit dieser Skizze habe ich versucht, ausgehend von Richters Leibnizischer Anthropologie, den Heerrauch des Skeptizismus gegenüber Verstand und Gefühl in seiner ganz frühen Entstehung zu zeigen, den er durch das »WizPrisma« der Einbildungskraft beherrschte, die ihm das unbeständige Gefühl in Empfindung reflektierte, die Forderung der Ratio nach adäquater Wahrheit in die bestmögliche Wahrscheinlichkeit der kreativen Konjektur und ihrer praktischen Erprobung humanisierte und endlich in der Ökonomie der Erzählung alle Schreibarten aufhob. Zu zeigen habe ich versucht, wie Richter, von den frühen unerbittlichen Übungen im Denken und der Übung des auflösenden Gefühls in Abelard und Heloise an, die Spielarten der witzigen Schreibformen erprobt und wie er mit lachender und zorniger Satire gegen die menschen- und gesellschaftsbedrohenden Exzesse der Einbildungskraft in Narrheit und Dummheit von den ersten Jahren seines Schreibens an streitet.

MATTHIAS BAUER

DAS ENZYKLOPÄDISCHE ICH Überlegungen zum Regelwerk von Jean Pauls Jugendsatiren am Beispiel der Baierischen Kreuzerkomödie

Von Ludwig Wittgenstein stammt die Bemerkung, das Spiel habe nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz.1 Im Hinblick auf die satirischen Sprachspiele des jungen Jean Paul muss man allerdings fragen, ob sie außer Witz auch Regeln haben. Die Lektüre der Texte weckt gewisse Zweifel. Dennoch möchte ich versuchen, am Beispiel der Baierischen Kreuzerkomödie einige Regeln aufzuzeigen, die das Wechselspiel von witzigem Einfall, bildlicher Rede und Erkenntnisvermittlung – vielleicht nicht nur in diesem Text – steuern. Dabei werde ich mir die Heuristik der Philosophischen Untersuchungen, in deren Kontext die Metapher vom Sprachspiel gehört, ebenso zu Nutze machen wie einige Überlegungen von Michel Foucault und Roland Barthes. Der Beitrag besteht aus drei, unterschiedlich langen Teilen: Zunächst werde ich die Eckpunkte des Verständnisrahmens benennen, der meine Texterfassung bestimmt. Danach werde ich einige ausgewählte Szenen aus dem ersten Akt der Baierischen Kreuzerkomödie besprechen, um im letzten Teil zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die über dieses Jugendwerk hinausgehen. Der erste Teil steht unter der Überschrift: Die performative Regel Die Metapher vom ›Sprachspiel‹ verhält sich in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen komplementär zum bildlichen Ausdruck ›Familienähnlichkeit‹. Familienähnlichkeiten bestehen zwischen Spielen, Sprachspielen und Sprachen – allesamt Phänomene, die sich nicht trennscharf bestimmen und auf den Begriff bringen lassen.2 Anstatt daher nach einer exakten Definition zu suchen, richtet der Philosoph seine Aufmerksamkeit auf die Züge, die Spielen, Sprachspielen und Sprachen gemeinsam sind. Von ›Zü––––––– 1

2

Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. 3.Aufl. Frankfurt a.M. 1975, Nr.564, S.237. Vgl. ebd., Nr.65, S.56 und Nr.67, S.57f.

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gen‹ zu sprechen, heißt, in ein Wortfeld einzutreten, in dem sich verschiedene Bedeutungen überlagern. Einerseits können sich Familienähnlichkeiten an bestimmten ›Gesichtszügen‹ zeigen; andererseits ergibt sich die Vergleichbarkeit von Spielen eher durch die ›Spielzüge‹, die sie gemeinsam haben. Diese Spielzüge wiederum hängen von ›Regeln‹ ab, die gewissermaßen die ›Grammatik‹ der Spiele bilden. Daraus folgt für die so genannten Sprachspiele, dass sie Formen des regelgeleiteten Verhaltens darstellen. Wittgenstein zieht aus dieser Erkenntnis einen wichtigen und weitgehenden Schluss: »Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten.«3 Wenn man nun bedenkt, dass ›Spiel‹ und ›Sprache‹ für Wittgenstein Begriffe »mit offenen Rändern« sind,4 kann man die Heuristik, die in seinen Philosophischen Untersuchungen steckt, etwa so formulieren: ›Wenn Du auf ein Sprachspiel mit unbekannten Regeln stößt, dann schau Dir die Züge an, die es mit anderen, Dir bekannten Sprachspielen gemeinsam hat. Auf diese Weise kommst Du wahrscheinlich den Regeln, vielleicht sogar dem Witz des Spiels auf die Spur.‹ Diese Heuristik kann sich, um Wittgenstein selbst zu zitieren, auf folgende Maxime berufen: »Wie ein Wort funktioniert, kann man nicht erraten. Man muß seine Anwendung ansehen und daraus lernen.«5 Im Hintergrund dieser Maxime steht die berühmte Gebrauchstheorie der Bedeutung, der zufolge man für eine große Klasse von Fällen – wenn auch nicht für alle Fälle – sagen kann: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«6 Analog gilt: »[...] die Bedeutung eines Steines (einer Figur) ist ihre Rolle im Spiel.«7 Wittgenstein führt die Semantik also zurück auf die Pragmatik. Er hat damit der Sprechakttheorie den Weg gewiesen, die sich insbesondere mit der performativen Dimension sprachlicher Handlungen beschäftigt. Er hat die Sprachphilosophie aber auch zurückgebunden an die Semiotik, die sich ebenfalls an der Trias von Grammatik, Semantik und Pragmatik orientiert und alle Zeichenhandlungen an ›Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit‹ koppelt. Dieser terminus technicus ist zwar relativ jung – er stammt von dem in Leipzig lehrenden Kulturanthropologen Michael Tomasello – vorbereitet worden war das Konzept aber bereits durch Johann Heinrich Lambert, der im Zeitalter der Aufklärung schrieb, ein jedes Zeichen müsse, bevor es bestimmte ––––––– 3 4 5 6 7

Ebd., Nr.206, S.129. Ebd., Nr.71, S.60. Ebd., Nr.340, S.172. Ebd., Nr.43, S.41. Ebd., Nr.564, S.237.

Das enzyklopädische Ich

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Vorstellungen auslöse, die zu gewissen Schlussfolgerungen führten, erst einmal in die Sinne fallen.8 Es sei also zugleich ein Instrument der Logik, ja sogar ein Principium cognoscendi,9 und ein ästhetisches Phänomen. Gut hundert Jahre später entwickelte der Begründer der modernen, pragmatisch orientierten Semiotik, Charles Sanders Peirce, den Gedanken, dass die Ästhetik des Zeichens eine spezifische Handlung auslöst, die man als ›perspektivische Mimesis‹ bezeichnen könnte. Denn ein Zeichen bringt einen Interpreten dazu, sich so auf den Bezugsgegenstand einzustellen, wie ihn das Zeichen konfiguriert.10 Das gilt insbesondere für komplexe Zeichenfolgen, für Texte und Bilder, Medien und Diskurse. Ein Zeichen erfüllt somit für Peirce in etwa die Funktion, die das Schema bei Kant hat, da es zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelt, also entweder, produktionsästhetisch betrachtet, dem Begriff zur Anschauung verhilft, oder, rezeptionsästhetisch betrachtet, dafür sorgt, dass die Wahrnehmung zur Erkenntnis voranschreitet.11 Die eigentlich pragmatische und, wenn man so will, wissenssoziologische Pointe liegt aber darin, dass die Zeichen im Unterschied zu den subjektiven Vorstellungen, die sie bei diesem oder jenem auslösen, intersubjektiv wahrnehmbare Phänomene darstellen, auf die sie die gemeinsame Aufmerksamkeit verschiedener Subjekte fokussieren. Eben diese Implikatur hat Tomasello herausgestellt und in eine evolutionäre, kognitionspsychologische Per––––––– 8

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11

Johann Heinrich Lambert, Anlage zur Architektonik, 2 Bde., Riga 1771, § 651, S.279. Dort heißt es: »Ein Zeichen muß nämlich in die Sinnen fallen, hingegen muß die Sache, die es anzeigt, nicht zugleich mit in die Sinnen fallen, und schlechthin nur durch die Zeichen bekannt werden.« Ebd., § 678, S.300: »Ein Zeichen ist überhaupt ein Principium cognoscendi und bezieht sich auf ein denkendes Wesen, welches sich die Verbindung zwischen dem Zeichen und der dadurch bedeuteten Sache wenigstens überhaupt vorstellet, um aus jenem auf diese zu schließen.« Zeichen lösen also Vorstellungen aus, die zu Schlussfolgerungen führen. Ihre Referenz erfordert einen Prozess der Inferenz. Sowohl die Vorstellung als auch das Zeichen sind, dieser Auffassung nach, Mittel einer gedanklichen Erfassung des Bezugsgegenstandes. In Lamberts Worten: »Im weitläufigsten Verstande kann man jedes Mittelglied einer Schlussrede als ein Zeichen ansehen [...].« (Ebd., § 650, S.278) Dass Jean Paul um die Bedeutung von Lamberts Semiotik wusste, geht aus einem Pasticcio hervor, das zur Auswahl aus des Teufels Papieren gehört (vgl. II/2,219ff.). So schreibt Peirce am 12.10.1904 an Lady Welby: »A sign therefore is an object which is in relation to its object on the one hand and to an interpretant on the other in such a way as to bring the interpretant into a relation to the object corresponding to its own relation to the object.« Zit. nach: Semiotics and Significs. The Correspondence between Charles S. Peirce and Victoria Lady Welby, hrsg. von Charles S. Hardwick. Bloomington, London 1975. Zu beachten ist, dass Peirce mit ›interpretant‹ die Vorstellung meint, die ein vom Subjekt der Semiose wahrgenommenes Zeichen auslöst. Das Subjekt der Semiose, der Interpret, ist also nicht mit dem Objekt (Interpretant), zu verwechseln, das im Wechselspiel von Wahrnehmung, Einbildung und Erinnerung erzeugt wird. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1993, (B180/A141), S.199f.

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spektive gerückt: Wie Zeichen funktionieren lernen Kinder, indem sie in Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit den Blicken ihrer Bezugspersonen folgen, die sich auf bestimmte Gegenstände in der Umgebung richten. Später, wenn sich bestimmte Gedächtnisinhalte gebildet haben, kann diese Kopräsenz aufgehoben werden. Das gereifte Kind ist dann in der Lage, sich anlässlich der Wahrnehmung bekannter Zeichen auch abwesende Gegenstände zu vergegenwärtigen.12 Immer dann jedoch, wenn die Einbildungskraft nicht auf Erinnerungen rekurrieren kann, bedürfen auch Erwachsene Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit, um entsprechende Bezugnahmen nachvollziehen zu können. So gesehen ist es eine wesentliche Aufgabe von Medien, die Aufmerksamkeit des Publikums auf (telematisch erzeugte) Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit zu fokussieren. Gerade literarische Texte, die eine szenische Qualität besitzen, können so, weit über den Kontext ihrer Entstehung hinaus, Beiträge zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit liefern, da man sie gleichsam als Vorrichtungen verstehen kann, die ihren Lesern immer wieder von Neuem die gleiche Form der perspektivischen Mimesis abverlangen. Zeichen schaffen daher Anschauungsweisen und Spielräume des Denkens und Handelns, die in der Kommunikation als ›synreferentielle Bereiche‹ behandelt werden.13 Dergestalt verschränken sie soziale und mentale Szenen, dergestalt lenken Zeichen die Aufmerksamkeit der Interaktionspartner auf bestimmte Aspekte einer Situation, dergestalt schaffen sie über zeitliche Unterbrechungen hinweg Impulse für physische und psychische Anschlussoperationen.14 Allerdings hat die Semiotik durch diese kulturanthropologischen, wissenssoziologischen und kognitionspsychologischen Erweiterungen auch eine Komplexität erreicht, die ihrer pragmatischen Orientierung zu widerstreiten droht, wenn man sich nicht um Anschauungsbeispiele bemüht. Es gilt also, die Probe aufs Exempel zu machen und sich den Prologus der Baierischen Kreuzerkomödie anzusehen, den Jean Paul am 6. Dezember 1789 in seiner ––––––– 12

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Vgl. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Aus dem Engl. von Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2001, S.71–113. Vgl. Peter M. Hejl, Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie. In: Siegfried J. Schmidt, Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. 3.Aufl. Frankfurt a.M. 1987, S.303–339, insb. S.327. Konrad Ehlich hat für die Eigenart der zeitlich getrennten Entstehung und Wahrnehmung schriftlicher Kommunikation den Begriff der »zerdehnten Situation« geprägt. Texte erscheinen in diesem Verständnisrahmen als vom Rezipienten »wiederaufgenommene Mitteilung« eines Produzenten, der u.U. längst verstorben sein kann. Vgl. Konrad Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis, hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann u. Christian Hardmeier. München 1982, S.24–43.

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Eigenschaft als »Redakteur der ›Auswahl aus des Teufels Papieren‹« (II/2,543) abgezeichnet hat.15 Dieser Prologus weist den nachfolgenden Text von vornherein als einen ›kointentional inszenierten Diskurs‹ aus:16 Die Leser sind aufgefordert, sich mit ihrer Imagination an der dialogischen Weise der fiktionalen Welterzeugung zu beteiligen, während der Autor in immer neue Rollen und Masken schlüpft, um sich als Briefschreiber oder Strafprediger, als Rezensent oder Teufels-Advokat zu betätigen. Bereits der erste Satz des Textes fungiert in dieser Hinsicht wie eine Regieanweisung: »Ich wolte, der Bänkelsänger und seine Frau bekämens einmal zu lesen, daß ich hier mit der gelehrten Welt davon rede, daß ich beiden einmal in Krumhübel (in Niederschlesien) zugehorchet.« (II/2,530) Die Leser sollen sich also, bitteschön, der gelehrten Welt zurechnen und entsprechend verständig agieren. Verstanden werden muss von ihnen vor allem, dass der gedruckte, narrative Diskurs eine Situation nachahmt, die durch eine mündliche Erzählrede – den Bänkelsang – bestimmt wird und insofern eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit darstellt, als sich im Prinzip alle Zuhörer respektive Leser auf dieselbe Moritat konzentrieren. Dieser Verständnisrahmen wird von Jean Paul jedoch sofort wieder ausgehebelt, da der Prologus den »mörderischen Hymnus« (ebd.) keinesfalls wiedergibt, sondern davon berichtet, wie die gemeinsame Aufmerksamkeit zerstreut wird. Der Bänkelsänger und seine Frau ziehen nämlich, sobald sie eine Episode vorgetragen haben, von Haus zu Haus, so dass nur derjenige der ganzen Geschichte folgen kann, der ihnen auf Schritt und Tritt folgt. Das aber hat angeblich nur der Verfasser des Prologus, das erzählende Ich, und sonst niemand in Krumhübel getan. Mit anderen Worten: Die Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit, die der Text mit der Anekdote vom Bänkelsang aufruft, wird von Jean Paul gleichsam virtualisiert und damit dem Strukturprinzip der schriftlichen Kommunikation, die immer diskontinuierlich, im Rahmen einer zerdehnten Situation, erfolgt, angepasst. Einerseits ist dies ein Appell an die Leser, sich mit dem ›shifting viewpoint‹ durch den Text zu bewegen; andererseits wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, dass es – wie beim Bänkelsang – eine thematische Kontinuität gibt, auf die es zu achten gilt. Ebenfalls zu beachten ist der Zusammenhang zwischen der Moritat und der eigenartigen Performanz der Baierischen Kreuzerkomödie, die der Pro––––––– 15

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Jean Paul, Abrakadabra oder Die Baierische Kreuzerkomödie am längsten Tage im Jahr. In: Jean Paul, Sämtliche Werke, hrsg. von Norbert Miller. München 1976, II/2, 529–644. Vgl. Rainer Warning, Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion, in: Funktionen des Fiktiven, hrsg. von Dieter Henrich u. Wolfgang Iser. München 1982, S.183–206.

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logus aufeinander bezieht. Die Eigenart dieses Possenspiels hatte Jean Paul vermutlich kennengelernt, als er Friedrich Nicolais Reisen durch Deutschland und die Schweiz las, wo das Prinzip anhand einer Wiener Aufführung beschrieben wird.17 Dementsprechend heißt es im Prologus, eine Kreuzerkomödie dauere oft länger als ein Junitag und umfasse eine »Universalhistorie« (II/2,531) in mehreren Akten, wobei das Publikum nach jedem Akt aus dem Theater herausgetrieben wird und für den nächsten mit einem weiteren Kreuzer zahlen muss (vgl. II/2,532). Kommen die Zäsuren im Bänkelsang dadurch zustande, dass sich der Volksdichter und die Volksdichterin von einem Ort zum nächsten begeben, während die Zuhörer, von einer Ausnahme abgesehen, in ihren Häusern bleiben, laufen in einer bayerischen Kreuzerkomödie umgekehrt die Zuschauer hin- und her. Wird hier ein Hymnus – und damit ein spezifischer Erzählzusammenhang – in Stücke gerissen, sind die Szenen und Akte dort zwar formal durch ihren Zusammenhang mit der Universalhistorie verknüpft, können, da die Menschheitsgeschichte alles Mögliche umfasst, aber gleichwohl thematisch sehr weit auseinander liegen. Mit der kointentionalen Inszenierung des Diskurses als Kreuzerkomödie verschafft sich der Autor also einerseits die poetische Lizenz, in seinem Buch höchst Disparates zusammenzubinden; andererseits stellt er die Interaktion von Text und Leser jedoch unter die performative Regel, dem Diskurs von Szene zu Szene und von Akt zu Akt selbst dann zu folgen, wenn ihr Zusammenhang nicht auf Anhieb evident erscheint. Der gesamte Text ist somit ein hybrides Gebilde, ein Kopftheater für Leser, die zu konjekturalen Erfassungsakten aufgefordert sind und dabei beständig mit dem Spielleiter der Veranstaltung interagieren, der das Geschehen moderiert und kommentiert. Bei dieser Vermittlungsstruktur ist eine reflexive Einstellung kaum zu vermeiden – zumal die performative Regel der kointentionalen Inszenierung noch im Prologus höchst ironisch behandelt und – im doppelten Sinn des Wortes – gebrochen wird: Nachdem der Verfasser das interaktive Regelwerk der Baierischen Kreuzerkomödie erläutert hat, erlaubt er sich einen Spaß mit seinem Publikum, indem er die Leser zu einer perspektivischen Mimesis veranlasst, bei der sie auf sich selbst zurückgeworfen werden. Berichtet wird, wie der Erzähler und sein Bediensteter die Einwohner der beiden Nachbargemeinden Veldenz und Queerbach in einer Scheune versammelt haben, in der die Bauern in der Erwartung, dass ihre Nachbarn eine Komödie aufführen werden, zunächst durch einen Vorhang voneinander getrennt bleiben. Nachdem der Vorhang gefallen ist, sitzen sich die Veldenzer und Queerbacher zugleich als Zuschauer und als ––––––– 17

Vgl. den Kommentar zu Bd. 1–3, II/4,419.

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dramatis personae gegenüber und wollen einander zum Besten haben. Das ist vor allem deshalb kurios, weil niemand von ihnen auf die Idee kommt, selbst das Objekt der Belustigung zu sein. Also muss den stupiden Subjekten die Moral der Geschichte ins Stammbuch geschrieben werden: »[...] ieder Mensch halte wechselseitig den andern für den Akteur der Komödie und sich für den kunstrichterlichen Zuschauer darin: denn ieder irret so nur halb« (II/2,535). Im Klartext bedeutet dies für die Vollzugsform der Lektüre, die sich aus der performativen Regel der Diskursformation ergibt, dass Jean Paul die Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit, die sein Text auf der Ebene der dargestellten Handlung modelliert, so eingerichtet hat, dass sich der Interpret, der ihren Witz versteht, nur selbstkritisch verhalten und sich sowohl in der Rolle des Kunstrichters als auch in der des Narren wiedererkennen muss. Allein darin kann er nicht irren, dass er in ein Spiegelkabinett geraten ist, das mit dem Unsinn der Universalhistorie auch den Widersinn seines eigenen Tuns und Lassens reflektiert. Die konkrete Szene, in der sich die Veldenzer und Queerbacher Bauern unverständig gegenüber sitzen, lebt also vom Kontrast zur eingangs angesprochenen gelehrten Welt, der sich die Leser der Baierischen Kreuzerkomödie zurechnen sollen, und damit von der Erkenntnis, dass die performative Regel der interaktiven Diskursformation, die Jean Paul ins Virtuelle verschoben hat, nur dann vollständig befolgt und aktualisiert wird, wenn die Leser sich zugleich mit dem Part des Ko-Autors und dem Gegenstand der Satire identifizieren. Einerseits wird die Rezeptionshaltung also aufgespalten zwischen der imaginären Rolle des Theaterbesuchers und dem Part des Textinterpreten; andererseits muss der Leser beständig bedenken, dass der Autor auf einer Bühne mit doppeltem Boden agiert. In diesem Sinne lenkt der Prologus die gemeinsame Aufmerksamkeit der Leser auf den Umstand, dass der Text die Sprach- und Rollenspiele, von denen er handelt, tatsächlich re-präsentiert. Stets ist die szenische Präsentation an die Vergegenwärtigung der Aktstruktur gebunden, die sich aus der reflexiven Handhabung der performativen Regel ergibt; unentwegt schlüpft der Autor in Masken, indem er sie als Larven ausgibt und dergestalt depotenziert. Das gilt auch für die zweite Szene im ersten Akt der Baierischen Kreuzerkömödie, für Die Rede worin der Teufel auf unserer Maskerade hinlänglich dargethan, daß er gar nicht existiere.

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Der reduplikative Text Dass Jean Paul den Auftritt des Teufels, dem er eine »aufgewekte Katechismuspredigt« von seiner eigenen »Nichtexistenz« in den Mund legt (II/2,561), schon im Titel der Szene in den Kontext »unserer Maskerade« rückt, passt in den gegebenen Verständnisrahmen. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, wenn der Redakteur den Auftritt des Leibhaftigen mit der Bemerkung rechtfertigt, es gelte, »[...] der Welt einmal durch Thatsachen zu beweisen, wie weit die Aufklärung schon ist« (II/2,560) – nicht einmal der Satan kann sich seiner selbst noch sicher sein. Daher macht es im Zeitalter des Unglaubens, zu dem die Epoche der Aufklärung in der Baierischen Kreuzerkomödie mutiert, auch keinen Sinn, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Vielmehr richtet sich die Satire an die »Karaktermasken« (II/2,561) im Publikum, die sich für ausgesprochen vernünftig halten, insbesondere an die Kantianer, deren »Messias« (II/2,563) im Text als »Antichrist der Metaphysik« (ebd.) angerufen wird, weil er angeblich nicht nur den Schreckgespenstern des Glaubens, sondern überhaupt aller Dämonologie – und folglich auch aller Theologie – den Garaus gemacht habe. Der eigentliche Witz der seltsamen Maskerade besteht also nicht so sehr darin, dass der Teufel seine eigene Existenz zu einem Medieneffekt erklärt, hätten ihn selbst doch erst die Bücher, die er unter fremden Namen publiziert habe, davon überzeugt, dass es ihn gäbe (vgl. II/2,562f.). Eher schon kommt man der Pointe der Inszenierung auf die Spur, wenn man sich die kontrafaktische Rede der Kantianer und damit die Kontrafaktur ihrer Teufelsleugnung ansieht. Diese Sicht der Dinge wird im Text folgendermaßen re-präsentiert: [...] ein Kantianer, der den Teufel läugnen wollte, müsste lateinisch reden und auf oder unter dem Katheder so schliessen: ›wenn der Satan mein Opponens sein wolte wie ich nicht hoffe: so wäre sein Körper auch kein parastatischer: so würde der böse Feind doch allemal sich als einen so guten empirischen Realisten zeigen, daß er wüste und sagte, ein Körper sei blos eine Modifikazion der Sinnlichkeit oder eine Vorstellung von der ausserhalb und ienseits der Vorstellung nichts zu finden ist und vom unbekannten X, das dem Phänomen seines Leibes unterliegt, von diesem Je ne sais quoi, dieser unsichtbaren Sonnenfinsternis, diesem heimlichen Zeugungstheil des Scheins weis der Teufel nicht mehr als vom Nichts selbst. [...]‹ Der Graduierte hat ganz Recht; ich würde mich aber über unsere Glaubensgenossenschaft noch mehr freuen, wenn er hätte anmerken wollen, daß ich ja niemals sein Opponens gewesen, sondern hier nur ein Selbstgespräch gemacht, worin ich und er unmöglich anders denn als fingierte Wesen auftreten konnten und ich verfechte offenbar hier im Redoutensaal gerade die Meinung der Kantianer selbst (II/2,564f.),

sagt, wohlgemerkt, der Teufel. Dass die Anhänger Kants en passant als »Glaubensgenossenschaft« bezeichnet werden, die dem Teufel aus der Seele

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sprechen, ist nur ein satirischer Seitenhieb auf ihre Überzeugung, dass der Mensch keine Vorstellung von den Dingen, wie sie an sich sein mögen, besitzt, da er sich von ihnen ja nur im Rahmen seiner Anschauungsformen und Begriffe ein Bild machen kann. Mitgedacht ist dabei der Verdacht, es könnte ein Kurzschluss sein, aus der intersubjektiven Verständigung darüber, dass der Teufel ein Produkt der Einbildungskraft sei, zu folgern, dass es objektiv nichts Böses gäbe. Eben weil der Gegenstand der Metaphysik seit Kants Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) nicht mehr das Übersinnliche, sondern die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit ist, Sinnlichkeit und Verstand auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Art und Weise zu vermitteln, stellt die Leugnung von Gott und Teufel für Kant eine Metabasis, also einen Gedankensprung dar, den die Vernunft unterbinden muss. Soviel zur Ehrenrettung des Philosophen. Von Jacobi beeinflusst18 sah Jean Paul jedoch offenbar die Gefahr, dass Kants Metaphysik eine nihilistische Mentalität erzeugen könnte. Eben diese Befürchtung bestimmt ja auch Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei, die den ernsthaften Zwischenakt der Baierischen Kreuzerkomödie bildet. Im Augenblick ist dieser Aspekt jedoch von nachgeordneter Bedeutung. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jene Szene, in der aus dem Teufel der Kantianer spricht: Wenn der Autor Jean Paul in seinem satirischen Diskurs die Rolle einer »Spitzenmaske« (II/2,561) im Redoutensaal spielt, die angeblich eine Predigt des Leibhaftigen vernommen, aufgezeichnet und mitgeteilt hat, in der sich sein Gewährsmann unter Berufung auf die Protagonisten der Aufklärung als körperlos und nichtig ausgibt, provoziert er natürlich Zweifel an der vermeintlichen Selbstgewissheit der idealistischen Philosophie. Damit reiht sich diese Szene der Baierischen Kreuzerkomödie scheinbar nahtlos ein in die anderen, gleichermaßen paradoxen Teufelswiderlegungen, die sich in Jean Pauls Jugendsatiren finden.19 Vergleicht man die einzelnen Teufelswiderlegungen genauer, so zeigt sich ein allmählicher Wandel ihrer Performanz: Die Unpartheiische Beleuchtung und Abfertigung der vorzüglichen Einwürfe womit Ihro Hochwürden meine auf der neulichen Maskerade geäusserte Meinung von der Unwahrscheinlichkeit meiner Existenz zum zweitenmale haben umstossen wollen enthält zwar bereits die szenische Grundidee der Maskerade, folgt hinsichtlich der ––––––– 18

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Zu Jacobis Einfluss auf Jean Paul vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Vom enzyklopädischen Satiriker zum empfindsamen Romancier. Jean Pauls frühe Entwicklung. In: II/4,263–292, insb. S.287f. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, München 1975, S.23.

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Themenentfaltung jedoch dem Regelwerk der gelehrten, als Widerlegung verfassten Abhandlung. Die Leser werden über die Erscheinungsweisen der Teufel unterrichtet (II/1,928ff.), mit dem Gleichnis vom Bienenkorb aufgeklärt über die Art ihrer Einwirkung auf die menschliche Seele (II/1,937ff.) und dann umständlich mit Argumenten gegen die Auffassung versorgt, die der Priester vertreten hat (II/1,970ff.). Sein Sermon wird im Rahmen der Widerlegung als in sich abgeschlossener Diskurs zitiert (II/1,932–936), also gerade nicht, wie später in der Kreuzerkomödie, als zweistimmige Äußerung inszeniert, in der sich Rede und Gegenrede überlagern.20 Die unvergessliche Entlarvung des Teufels, die nach dieser Abfertigung und vor der zweiten Szene der Kreuzerkomödie entstand, stellt gleichsam einen Zwischenschritt der Dramatisierung dar. Hier wird die Rollenprosa durch einen Besuch des Satans beim Satiriker motiviert (II/2,187) – eine Form der Heimsuchung, die schließlich zur Entpuppung des Teufels führt, der beinahe wie ein ordentlicher leibhaftiger Mensch aussieht (II/2,191). Hinzu kommt die Selbstentlarvung des inszenierten Diskurses, teilt der Satirker doch mit, man verdächtige ihn, die Erzählung vom Teufel selbst erdacht zu haben (vgl. II/2,192). Erst in der Kreuzerkomödie kann man aber wirklich von einer Szene reden, bei der sowohl die situativen Umstände der Maskerade als auch die parodistischen Züge von Rede und Gegenrede als Re-Präsentation in Erscheinung treten. Dieser Text verfährt nicht einfach nur deshalb reduplikativ, weil der Autor Gefallen an der Larve des Teufels oder daran hat, sich Kant gegenüber als advocatus diaboli aufzuspielen. Der Witz des in sich verschachtelten Sprachspiels besteht vielmehr darin, dass es den Grundzug der Re-Präsentation der performativen Regel unterwirft und so in die Reflexion treibt. Stützen lässt sich diese Behauptung unter anderem durch die Metakritik der aufgeklärten Semiotik, die Michel Foucault in seinem Buch Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses, 1966) betrieben hat. Foucault möchte zeigen, dass die Aufklärung mit der Vorstellung gebrochen habe, dass es zwischen res und verbum eine Entsprechung geben müsse, wenn das Wort als Zeichen der Sache dienen soll. Die Passage, in der er auf die neue diskursive Formation des Denkens und Wissens zu sprechen kommt, will ich im Wortlaut wiedergeben, weil sie – ähnlich wie die Passage aus der Baierischen ––––––– 20

Mit dem Strukturprinzip der hybriden Äußerung, in der sich wenigstens zwei (kontroverse) Stimmen überlagern, stellt sich Jean Paul einerseits in die Tradition der Parodie; andererseits treibt er die Satire damit in die Richtung, in der sich, Michail M. Bachtin zufolge, der moderne, dialogisch verfasste, zur Polyphonie neigende Roman entfaltet. Vgl. Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman, In: M.M.B.: Die Ästhetik des Wortes, hrsg. u. eingel. von Rainer Grübel. Aus dem Russ. übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M. 1979, S.154– 300, insb. S.195.

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Kreuzerkomödie, die ich zuvor wiedergegeben habe – ein Zitat einschließt. Es heißt nämlich in Die Ordnung der Dinge: Am Anfang des siebzehnten Jahrhundert, in jener Periode, die man zu Recht oder zu Unrecht das Barock genannt hat, hört das Denken auf, sich in dem Element der Ähnlichkeit zu bewegen. Die Ähnlichkeit ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern eher die Gelegenheit des Irrtums, die Gefahr, der man sich aussetzt, wenn man den schlecht beleuchteten Ort der Konfusion nicht prüft. In den ersten Zeilen der Regulae sagt Descartes: ›Sooft die Menschen irgendeine Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen bemerken, pflegen sie von beiden, mögen diese selbst in gewisser Hinsicht voneinander verschieden sein, das auszusagen, was sie nur bei einem als wahr gefunden haben.‹ Das Zeitalter des Ähnlichen ist im Begriff, sich abzuschließen.21

Descartes und andere, nicht zuletzt Kant, bewirken eine Trennung der Sachen und der Wörter, die in gewisser Weise ja auch Dinge sind und daher, wie die Sachen selbst, Gegenstände einer Auseinandersetzung, einer Zeichenhandlung werden können. Auf diesen Standpunkt hat sich auch Jean Paul, spätestens in § 49 der Vorschule der Ästhetik, gestellt. Dort erklärt er nämlich: »So wie es kein absolutes Zeichen gibt – denn jedes ist auch eine Sache –, so gibt es im Endlichen keine absolute Sache, sondern jede bedeutet und bezeichnet [...]« (I/5,182f.) Diese merkwürdige Verdoppelung sowohl der Sachen als auch der Wörter, die einmal als Zeichen und einmal als Bezugsgegenstände der Zeichen in Erscheinung treten können, ergibt sich zwingend daraus, dass nun, im Zeitalter der Aufklärung, alles auf die Erkenntnis und damit auf Ideen bezogen wird. So lautet die Definition des Zeichens, die Foucault der Logik von Port-Royal entnimmt: »Wenn man einen bestimmten Gegenstand nur so betrachtet, als repräsentiere er einen anderen, ist die Idee, die man davon hat, die Idee eines Zeichens, und jener erste Gegenstand heißt Zeichen.«22 Sobald also ein Gegenstand für einen anderen steht, wird er selbst nicht als Ding in seiner Materalität, sondern als Zeichen in seiner Funktionalität aufgefasst. Das gilt nicht nur für Worte, sondern für alle Sachen, die als Zeichen eingesetzt werden. Ihre sinnliche Präsenz geht auf in der Re-Präsentation, der sie dienen, sofern – das ist der Clou dabei – ihre Wahrnehmung von dem Bewusstsein ihrer Zeichenfunktion bestimmt wird. Wenn man aber, wie Kant, indem er das cartesische ›Cogito ergo sum‹ paraphrasiert, sagt, dass das Bewusstsein alle meine Vorstellungen begleiten muss, gilt, dass der Akt ––––––– 21

22

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenshaften. Aus dem Franz. von Ulrich Köppen. 8.Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S.83. Zitiert nach ebd., S.98f.

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der Re-Präsentation stets als Akt präsent sein muss, um seine semiotische Funktion erfüllen zu können. Mit anderen Worten: Wenn ich nicht begreife, dass dieser Gegenstand als Zeichen eingesetzt und verstanden werden soll, vertritt und vermittelt er auch nichts. Die Verknüpfung eines bestimmten Gegenstandes der Wahrnehmung mit einer bestimmten Vorstellung, die nur entsteht, wenn man den Gegenstand als Zeichen auffasst (Apperzeption), setzt also nach Foucault voraus, [...] daß das Zeichen eine gespaltene und reduplizierte Repräsentation ist. Eine Vorstellung (idée) kann das Zeichen einer anderen nicht nur deshalb sein, weil sich zwischen ihnen eine Verbindung der Repräsentation ergeben hat, sondern weil diese Repräsentation sich selbst im Innern der Idee, die repräsentiert, repräsentieren kann [...].23

Folgerichtig kann nicht nur im Prinzip eine Sache jede andere vertreten, sondern auch eine jede Vorstellung zum Zeichen für eine andere werden und Vorstellungsreihen auslösen, die sich wie eine Gedankenflucht immer weiter von den Gegenständen im eigentlichen Sinn des Wortes entfernen, ins Endlose streben oder ein Netzwerk von Begriffen bilden, die sich wechselseitig stützen. »Der Sinn wird im vollständigen Tableau der Zeichen gegeben sein.«24 Dieses vollständige Tableau, so scheint es, ist das Limit aller Zeichenhandlungen, die dem Entwurf von Kants Kategorientafel folgen. Ob man dabei, wie Kant, nach Erkenntnissen a priori fahndet oder, wie Peirce, annimmt, dass die Zeichenhandlungen ›in the long run‹ nur wahre Schlussfolgerungen zulassen, ist eine für alle Epistemologie fundamentale Frage. Für die Poetologie des Verfassers der Baierischen Kreuzerkomödie entscheidend ist hingegen die Prozedur der Re-Präsentation, die im Zitat offensichtlich wird. Denn wenn jeder Satz eine Re-Präsentation darstellt, ist jeder Diskurs, in dem Sätze zitiert werden, eine Demonstration dieser Prozedur, eine Inszenierung der Re-Präsentation anhand der Spaltung und Verdoppelung von Zeichen. Aufgespalten sind sie zwischen den verschiedenen Urhebern der ineinander verschachtelten Aussagen; verdoppelt sind sie im Hinblick auf die Affirmation der Aussage, die im Zitat getroffen wird. Koppelt man diese Reduplikation nun an das Sprachspiel der satirischen Rede, die ja in vielen Fällen mit der Gedankenfigur der Inversion einhergeht, kommt es entweder zur Negation der Affirmation oder – falls schon das Zitat nicht affirmativ ist – zur Negation der Negation. Ein Teufel, der kein Leibhaftiger, sondern eben nur eine Sprachlarve ist, kann sich selbst zwar widersprechen, aber keinen Beweis seiner Nicht-Existenz liefern. Entweder beglaubigt er ein ––––––– 23 24

Foucault, Ordnung der Dinge [Anm.21], S.99. Ebd., S.101.

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Zitat, das ihn als sprechendes Subjekt negiert, wodurch die Repräsentation in einen performativen Widerspruch gerät, oder der Sachverhalt stellt sich so dar, dass der Teufel als fingiertes Wesen in einem fiktiven Selbstgespräch auftritt und daher als Instanz der Affirmation irgendeiner wahren Existenz von vornherein ausscheidet. Man sieht: Das Regelwerk der Satire, das man mit Foucault als eine interne Prozedur der Diskursformation auffassen kann,25 und Verfahren wie das ironische Lob, die Hyperbel und die Kontrafaktur einschließt, führt im Wechselspiel mit der kointentionalen Inszenierung des Sprach- und Rollenspiels dazu, dass die externe Prozedur der Diskursformation, die sich aus dem Regelwerk der Aufklärung, insbesondere der Re-Präsentation ergibt, gleichsam in Anführungszeichen gesetzt wird. Indem der reduplikative Text das semiotische Prinzip der Re-Präsentation am Teufel, d.h. an einem Wesen exemplifiziert, das für die Aufklärung keine Präsenz in der empirischen Realität besitzt, schürt der Text den Verdacht, dass dieses Prinzip ohne fundamentum in re, also selbst bloß ein Glaubensartikel ist. Folgerichtig kann man den vermeintlichen Unterschied von Physik und Metaphysik, Anthropologie und Dämonologie, fiktionaler und faktualer Rede auch ignorieren und behaupten, dass der Maskenball, für den sich die Damen schminken und verlarven, um ungehemmt tanzen und womöglich noch ganz andere Sache treiben zu können, auch ohne den so genannten »Gottseibeiuns« (II/2,573) eine »Hexensynode« (II/2,572) sei. Die satirische Szene, in der ›the devil in disguise‹ agiert, hat also eine doppelte Stoßrichtung: Sie richtet sich zum einen gegen eine reifikatorische Lesart der kantianischen Metaphysik, die aus dem Umstand, dass der Mensch das Ding an sich nicht erkennen kann, ableiten will, dass es tatsächlich gar nichts gibt, was seine Vorstellung übersteigt; sie richtet sich zum anderen gegen die öffentliche Unmoral im Redoutensaal und fällt damit, was für den jungen Jean Paul recht typisch ist, hinter die Moral der Aufklärung zurück, von deren Logik der Verfasser, durchaus gewitzt, Gebrauch macht. Der denkbare Einwand, dass die performative Hervorkehrung der Re-Präsentation, die das Zeichen zugleich spaltet und verdoppelt, rein zufällig sei und man insofern gar nicht von einem reduplikativen Text sprechen könne, der intentional verfasst sei, verfängt meiner Ansicht einfach deshalb nicht, weil es ein Grundzug von Jean Pauls literarischem Werk ist, die Aufmerksamkeit der Leser praktisch in jeder Passage, die sich dafür auch nur ansatzweise eignet, auf den Umstand zu lenken, dass die schriftlich niedergelegte Erzähl––––––– 25

Vgl. zur Unterscheidung von internen und externen Prozeduren der Diskursformation: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Franz. von Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a.M. 1991, S.17.

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rede eine Re-Präsentation mündlicher Kommunikation oder szenischer Darbietung sei. De facto lässt Jean Paul weder in seinen Novellen noch in seinen Romanen, ja nicht einmal im komischen Anhang zum Titan, vor allem nicht im Clavis Fichtiana die Gelegenheit aus, den Leser mit der Nase darauf zu stoßen, dass sich im Text verschiedene, mündlich, schriftlich oder theatralisch vermittelte Szenen überlagern. Echte oder falsche Zitate lassen den Diskurs jeweils als Resultat einer Lektüre erscheinen, in deren Verlauf ein fremder Text gegen den Strich gelesen und die eigene Narration als Sonderform der Re-Präsentation vergegenwärtigt wird. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass der Erzähler einerseits mit der Fiktionalität seiner Geschichte kokettiert, andererseits jedoch per Metalepse in die Welt der Figuren hineinspringt, sich also aufspaltet zwischen einer intra- und extradiegetischen Vermittlungsinstanz und dergestalt verdoppelt. Offenkundig angelegt ist dies in der kointenionalen Inszenierung der Baierischen Kreuzerkömödie als eines Textes, der im Kopftheater der Leser gemäß einer performativen Regel zur Aufführung gelangt, die das imaginierte Publikum nicht nur zum intellektuellen Nachvollzug, sondern vor allem zur selbstkritischen Reflexion verpflichtet. Wer nicht zu den begriffsstutzigen Bauern aus Veldenz und Queerbach gehören möchte, wer den Schrecken vor einer Welt ohne Gott und Teufel teilt, den Jean Paul in der zweiten Szene des ersten Aktes und, komplementär dazu, im ernsthaften Zwischenakt ausmalt, wird keine Mühe haben, auch die anderen Szenen als ironische Übertreibungen zur Infragestellung der aufgeklärten Mentalität zu entziffern – etwa die Anzeige der Einrichtung eines so genannten Prügel-Bureaus, mit der die Baierische Kreuzerkomödie beginnt. Hier richtet sich die Satire, vordergründig betrachtet, gegen »den algemeinen Verfal des Prügelns in manchen deutschen Kreisen« (II/2,546), durch den die Menschen das Gefühl für die allgemeine Sprache der körperlichen Empfindungen verlieren. »Leute, die einander prügeln, reden miteinander über dies und das – haben eine Entrevüe und einiges Pathos – sagen einander ihre Meinungen und ihre vielen Gründe dafür [...]« (II/2,547f.), – so wie der Moselaner und der Niedersachse, die sich – bezeichnenderweise mit Kant – auseinandersetzen, indem sie nicht nur den eigenen, sondern vor allem den Kopf des Gesprächspartners schütteln (vgl. II/2,555f.). Indem der Text für die Einrichtung eines allgemeinen Prügel-Bureaus wirbt, in dem »Linguisten« (II/2,547) ausschließlich mit dem »Sprachrohr« (II/2,548) zu Werke gehen, das sich nicht an den Verstand, sondern an den »Erdglobus« (= Hintern) der Zöglinge wendet (vgl. II/2,550), verschafft sich der Autor einen Prätext, um die alte Tradition der Ständesatire mit aktuellen Bezügen auszustatten. Denn trotz aller Aufklärung gibt es in der Welt praktisch »kein wichtiges Amt ohne

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Stok« (II/2,549), heiße er nun »Krumstab«, »Zepter« oder »Kommandostab« (ebd.). Adel und Klerus, Militär- und Zivilapparat setzen stets auf jene handfesten Argumente, die vor allem Eindruck auf die Haut und die körperliche Empfindung des Menschen machen. Aufklärerisch ist an dieser kommunikativen Praxis höchstens das Streben nach Perfektion, das allerdings wiederum nur technisch verstanden wird und zur Erfindung einer »Ohrfeigenmaschine« führt, »deren Schlagwerk der Ohrfinger eines Prinzen von 2½ Jahren in Bewegung bringen kann« (II/2,555). Anstatt also das selbstkritische Denken zu befördern, schreibt das Prügel-Bureau mit der Ständeordnung auch die repressive Politik des so genannten, vermeintlich aufgeklärten Despotismus fort. Lenkt man die Aufmerksamkeit nun ab von der gewalttätigen Szene und hin zur Ordnung des Diskurses, so fällt auf, dass er einen wiederum performativen Gebrauch von der zeitgenössischen Semiotik macht: Der witzige Einfall, die Rückständigkeit der zeitgenössischen Politik und Pädagogik anhand einer maßlos übertriebenen, ja unhaltbaren Affirmation von Gewalt auf die Spitze zu treiben, entspricht in ihrer Grundtendenz dem ironischen Verfahren der Satire, bestimmte Verhaltensmuster in eine Kippfigur zu verwandeln und ihren angeblichen Sinn als Unsinn oder Aberwitz zu enttarnen. Damit wird jedoch nur die Makrostruktur des Textes, seine Genreform, erfasst. In seiner Mikrostruktur spiegelt sich eine andere Regel der Diskursformation. Gemeint ist nicht das im Titel der ersten Szene genannte Formular des Avertissements, das übrigens ausdrücklich als »abgeschriebenes«, also als re-präsentiert und redupliziert ausgegeben wird (II/2,546). Gemeint ist vielmehr die gleichsam enzyklopädische Ordnung des Diskurses, in dem das Wort ›Prügel‹ als Generallemma fungiert, und der dadurch vorankommt, dass Satz für Satz und Absatz für Absatz Komposita und Derivate zu diesem Stichwort gebildet bzw. Synomyma benutzt werden, an die sich mehr oder weniger weitläufige Assoziationsketten anschließen lassen. Der Text läuft also – darin wirklich ein ›dis-cursus‹ im etymologischen Sinn des Wortes – hin und her zwischen Begriffen und bildlichen Ausdrücken, zwischen phraseologischen und neologischen Wortbildungen wie »der alleinseligmachende Stok« (II/2,550) etc., um sein Thema zu entfalten. Als gelte es, eine Realenyzklopädie des Prügelns durch alle denkbaren Fälle hindurch zu deklinieren und die Flektierbarkeit des menschlichen Geistes durch Schläge und Hiebe aufzuzeigen, vermittelt der Text avant la lettre eine Anschauung davon, was die eigentlich poetische Kraft der Literatur ausmacht – die Fähigkeit nämlich, prinzipiell jede Wissensordnung in einen Diskurs zu überführen, der nicht mehr kategorial, sondern dramaturgisch

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funktioniert. Es ist daher durchaus nicht abwegig, die von Michel Foucault inspirierten Vorstellungen, die Roland Barthes 1977 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France entwickelt hat, auf Jean Paul und seine Baierische Kreuzerkomödie zu beziehen. Barthes sieht in der Literatur drei Kräfte am Werk: mathesis, mimesis und semiosis. Zunächst kann man sagen, dass die Literatur sehr viel Wissen transportiert bzw. archiviert.26 »Indessen, und darin ist sie wahrhaft enzyklopädisch, bringt sie das Wissen zum Kreisen.«27 Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Literatur in den Zwischenräumen des Wissens operiert,28 an den Rändern der Disziplinen und an den Grenzen der Logik. Das hängt zum anderen aber auch mit der performativen Regel zusammen, der die Sprachspiele der Poeten folgen. Barthes drückt es so aus: Weil die Literatur die Rede in Szene setzt, statt sie nur zu benutzen, bringt sie das Wissen in das Räderwerk der endlosen Reflexivität: durch die Schreibweise hindurch reflektiert das Wissen unablässig über das Wissen, entsprechend einem Diskurs, der nicht mehr epistemologisch, sondern dramatisch ist.29

Ich füge hinzu, dass es bei der kointentionalen Inszenierung insbesondere darum geht, mittels der Sprache Bilder zu erzeugen, die den stillschweigend vorausgesetzten Verständnisrahmen oder sogar das Epistem, in das dieser Rahmen eingebettet ist, sprengen. Subversiv ist die bildliche Rede also, weil sie die begriffliche Erfassung der Welt und damit das Regelwerk all jener Sprachspiele unterläuft, die auf eine Unterwerfung (Rektion) der Dinge und des Menschen unter die Gewalt eines Diskurses abzielen, der klassifikatorisch oder taxonomisch, disziplinierend oder zensierend verfährt. Wo dies geschieht, wo mit den Zeichen auch die Menschen an ihrer Entfaltung gehindert werden, wird die Metapher vom Sprachspiel unsinnig. Es gibt dann, sozusagen, nur noch Regeln, aber eben keinen Witz mehr. Zu bedenken ist, dass diese Gefahr nicht nur außersprachliche Gründe wie den aufgeklärten Despotismus hat. Nicht weniger bedenklich ist die Not, die sich aus der Unmöglichkeit ergibt, in einer eindimensionalen Ordnung wie der Rede die Mannigfaltigkeit und Vieldeutigkeit der Wirklichkeit abzubilden. Nachahmung ist daher ein höchst ambivalenter Begriff. Er bezeichnet ein Verhalten, ohne das es keine Literatur, keine Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit und keine perspektivische Mimesis geben kann. Er bezeichnet ––––––– 26

27 28 29

Vgl. Roland Barthes, Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Gehalten am 7. Januar 1977. Übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt a.M. 1978, S.25 Ebd., S.27. Vgl. ebd. Ebd., S.29.

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aber auch die der Sprache immanente Tendenz, die Wirklichkeit, die doch dynamisch ist, in die starren Verständnisrahmen der Substantive zu pressen und so zu verdinglichen, was nicht Sache, sondern Ereignis ist. Der Logos, zu dem sowohl der menschliche Verstand als auch die Sprache gehören, neigt, wie Barthes im Anschluss an Foucault und Nietzsche betont, zur Rektion, weil er auch das, was sich der kategorialen Ordnung des Diskurses entzieht, unter Begriffe subsumieren möchte. Nicht selten attestiert ihm dabei jene Form der Dialektik, die alle Gegensätze aufhebt. Dem steht die Poetik entgegen. Man kann sagen, dass die dritte Kraft der Literatur, ihre eigentlich semiotische Kraft, darin besteht, die Zeichen eher zu spielen als sie zu zerstören, das heißt, sie in eine Sprachmaschinerie zu bringen, deren Sicherheitsrasten und Sperrbügel aufgebrochen sind, kurz, im Schoße der unterwürfigen Sprache selbst eine regelrechte Heteronymie der Dinge zu schaffen.30

Schaut man sich unter diesem Aspekt noch einmal die erste Szene der Baierischen Kreuzerkomödie an, fällt auf, dass hier tatsächlich eine Sprachmaschinerie am Werk ist, die das Handlungs- und Bedeutungsfeld des ›Prügelns‹ mit der Konsequenz und Insistenz eines Automaten durchläuft. Gemessen an den Prinzipien der Vernunft, sind die Sicherheitsrasten und Sperrbügel aufgebrochen, die dem Wahnsinn Einhalt gebieten könnte. Man sieht dies auch daran, wie das Avertissement zum Dekret, die Werbung zur Verordnung wird. Wenn schon nicht unbedingt die gesamte Sprache, so stellt doch der Diskurs, den der Entrepreneur des Prügel-Bureaus führt, wie von Barthes kritisiert, »eine verallgemeinerte Rektion« dar.31 Jean Paul hat es jedoch verstanden, diesen Diskurs so einzurichten, dass das Rigide und Inhumane an der Rede-, Denk- und Handlungsweise des Prügel-Unternehmers kenntlich wird. Indem er den Wahnsinn auf die Spitze und ad absurdum treibt, provoziert er Umkehrschlüsse. Es ist schlechthin widersinnig, Soldaten halb tot zu schlagen, um ihr Leben zu erhalten; es kann nicht gut und richtig sein, »daß der gemeine Soldat durch Krumschliessen, Blutspeien und Schwindel, durch Stok und Degen Schwindsucht, Leistenbrüche p. inokuliert« wird (II/2,557). Worauf es ankommt, ist also die autopoietische Dynamik des Textes, der sich gleichsam selbst die Stichworte für bestimmte Aufzählungen und Selbstwiderlegungen liefert, wenn man die imaginierte Gewalt einerseits in Bezug zur Realität des aufgeklärten Despotismus und andererseits in Bezug zu den Idealen der Aufklärung setzt. Freilich setzt der reduplikative Text, der dergestalt eine regelrechte Heteronymie der Dinge schafft, einen umfassend gelehrten und semiologisch bzw. epistemologisch gebildeten Verfasser vor––––––– 30 31

Ebd., S.41. Ebd., S.17f.

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aus. Und damit komme ich zum letzten Teil meiner Ausführungen und zurück auf den Titel dieses Beitrags: Das enzyklopädische Ich Wer einen Menschen als ›wandelndes Konversationslexikon‹ bezeichnet, hat in der Regel ein zwiespältiges Kompliment gemacht. Sein Adressat kann sich zwar, wie die Leser der Baierischen Kreuzerkomödie, zur gelehrten Welt zählen, muss aber gerade unter dieser Voraussetzung selbstkritisch bedenken, ob er von seinem umfangreichen Wissen den rechten Gebrauch macht. Denn letztlich wollen Menschen nicht nur objektiv über dies oder das Auskunft erteilen, sondern als Subjekte gefragt sein, wollen sie nicht nur unpersönlich Konversation treiben, sondern sich mit ihrer Persönlichkeit einbringen in die Interaktion. Ein Lexikon wird konsultiert, aber nicht wirklich integriert und hat, genau genommen, auch kein authentisches Ich – was immer das sein könnte. Es gehört allerdings zu den Erkenntnissen der modernen Semiotik, dass die Teilnahme und Mitwirkung an sozialen, politischen und kulturellen Zeichenhandlungen eine so genannte ›enzyklopädische Kompetenz‹ erfordert, ein Wissen darum, wie es in der Welt zugeht und wie die Dinge miteinander zusammenhängen.32 Zu dieser enzyklopädischen Kompetenz gehört es nach Auffassung der relationalen Semantik, dass man nach Möglichkeit jede neue Diskurssituation durch den Rekurs auf eine andere, altbekannte aufschlüsseln oder wenigstens in ihrer Eigenart profilieren kann.33 Es wundert daher nicht, dass die enzyklopädische Kompetenz an der Schnittstelle von Ausdrucksund Erinnerungsvermögen entsteht, dass sie die individuelle Performanz der Zeichenhandlung an das kollektive Gedächtnis koppelt und eine interdisziplinäre Betrachtung erfordert, die Erkenntnisse der Kognitions- und der Kulturwissenschaft, der Semiotik und Mnemotik, der Philologie und Psychologie zusammenführt. Sieht man die Sache philosophisch, so gehört zur enzyklopädischen Kompetenz unbedingt die Reflexion ihrer Kontingenz hinzu. Einerseits nämlich setzt die begriffliche Erfassung des Wissens, die ein Universal- oder Konversationslexikon leistet, die Annahme voraus, dass die Welt lesbar – und damit ––––––– 32

33

Vgl. Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 1977, S.268. Vgl. Jon Barwise/John Perry, Situationen und Einstellungen. Grundlagen der Situationssemantik, Berlin, New York 1987, S.5–8 et passim.

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irgendwie auch erzählbar – ist; anderseits weiß jeder aufgeklärte Zeitgenosse, dass diese Lesbarkeit und Erzählbarkeit ein Konstrukt ist. Geprägt wurde der Begriff der Enzyklopädie nicht etwa, wie man vermuten könnte, in der Antike, sondern in der Renaissance. Ausschlaggebend war dabei der Gedanke, dass man den Umkreis des Wissens zwar abschreiten, dabei aber nie vollständig erfassen kann. Nicht nur nimmt das Wissen mit jedem neuen Eintrag zu, vielmehr muss es laufend umgeschrieben werden im Lichte hinzukommender Erkenntnisse, so dass sich Anfang und Ende des enzyklopädischen Unternehmens im Endlosen verlieren.34 Umso formaler ist die Regel der Diskursformation, die eine Enzyklopädie bestimmt. Denn die Anordnung der Wissensbestände in alphabetischer Reihenfolge überlässt es dem Leser, die Querbezüge zwischen den Lemmata zu entdecken. Dieser performativen Regel liegt das Bewusstsein der Kontingenz zugrunde. Jeder denkbare Querbezug steht vor dem Hintergrund alternativer Verbindungen, keine Relation ist vor der anderen ausgezeichnet als besonders relevant oder permanent wichtig. Das produktive Wechselspiel zwischen der alphabetischen Diskursformation, die im Zeichen der Kontingenz steht, und der enzyklopädischen Kompetenz, die einer pragmatischen Orientierung bedarf, wirft nun aber ein interessantes Schlaglicht auf das zwischen allen möglichen Wissensgebieten hin und her wandelnde Konversationslexikon, als das Jean Paul seinen Lesern in der »Essigfabrik« seiner satirischen Jugendwerke entgegentritt. Das erste Lebenszeichen dieses enzyklopädischen Ichs findet sich bereits im ersten Satz der Schulrede Über den Nutzen und Schaden der Erfindung neuer Wahrheiten: Der Mensch strebt unaufhörlich, die Ideensphäre seines Geistes zu erweitern; alle seine Begierden und Leidenschaften sind Äusserungen dieses Grundtriebs; iede Unternehmung ist eine Art von Aufgabe, deren Auflösung ihn interessirt; und alle verschiedenen Lebensarten sind ebenso viele Wissenschaften, die sich endlich all auf die Erkennt[ni]sfähigkeit seines Geistes beziehen. (II/1,22)

Mit dieser programmatischen Äußerung bekennt sich der angehende Schriftsteller zu einer intellektuellen Form der Welterfassung, die zwei Voraussetzungen hat: dass sich die Welt in Wissensbestände einteilen lässt und dass die Sammlung dieser Bestände ein Bestreben ist, das dem leidenschaftlichen Erkenntnistrieb des Menschen entspricht. Diese Verschränkung von Anthropologie und Enzyklopädie findet sich immer wieder in den Jugendschriften Jean Pauls. Sie resultiert zu einem nicht geringen Teil aus seiner zunehmen––––––– 34

Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977, S.3.

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den Beschäftigung mit den Ideen von Leibniz und Platner. Sie lässt aber auch schon sehr früh ein Bewusstsein für den Textcharakter der enzyklopädischen Form der Welterfassung erkennen. Gemeint ist damit weniger der Umstand, dass Nachschlagewerke Bücher sind, wie sie Jean Paul in der Bibliothek Erhard Friedrich Vogels findet. Gemeint ist vor allem die Überzeugung vom relationalen Zusammenhang aller für wahr gehaltenen Erkenntnisse, die für jede enzyklopädische Unternehmung grundlegend ist. Sie kommt ebenfalls sehr früh, in der Untersuchung Von der Harmonie zwischen unsern wahren und irrigen Säzzen zum Ausdruck, wenn der Kandidat Richter bemerkt: Alle Wahrheiten stehen in einer unauflöslichen Verbindung mit einander. Läugnest du eine: so läugnest du tausende zugleich, so veränderst du alle im Reiche der Wahrheiten. Dies ist nie bezweifelt worden. Aber ist alles Wahrheit im Menschen – alles Harmonie derselben? (II/1,39)

Der erste Teil der Bemerkung reflektiert auf den systemischen Charakter des Wissens, der die enzyklopädische Welterfassung zu einem unendlichen Projekt macht, das Stichwort für Stichwort vorankommt, sich dabei aber auch immer neu disponiert. Der zweite Teil der Bemerkung deutet an, warum diese enzyklopädische Welterfassung bei Jean Paul satirische Züge annimmt. Da er der Überzeugung ist, dass zumindest zwei Gründe für die disharmonische Koexistenz von Wahrheit und Unwahrheit im Menschen sprechen, hängt alles von der Scheidekunst des Witzes ab, der das irrtümlich für richtig Gehaltene als falsch entlarvt. Der Umfang der »Essigfabrik« entspricht dem Umfang des Wissens, das der Satiriker kritisch mustern und gegebenenfalls als Aberglauben entlarven muss; allmählich ergibt sich dabei jedoch – wenn auch nicht immer konsequent und irreversibel – eine gewisse Akzentverlagerung von der Registratur der Irrtümer, die es bloßzustellen gilt, zu ihrer Re-Präsentation im Rahmen eines inszenierten Diskurses, der in ironische Anführungszeichen setzt, was den Lesern fragwürdig erscheinen soll, z.B. die Vernünftigkeit eines Prügel-Bureaus. In immer neuen Sprachmasken tritt dem Leser dank dieser Inszenierung im Jugendwerk ein Autor entgegen, dessen Persönlichkeit kaum zu fassen ist. Offenkundig handelt es sich um einen äußert belesenen, gewitzten Kopf, der überall Querbezüge, Abstrustitäten und Absurditäten entdeckt. Da sich dieser Kopf jedoch beständig hinter Masken verbirgt und Sprach- oder Rollenspiele betreibt, bleiben seine individuellen Züge seltsam konturlos. Das enzyklopädische Ich ist eine diffuse Angelegenheit: So sehr es über eine umfassende Gelehrsamkeit verfügt, in der sich die (partielle) Erlesbarkeit der Welt spiegelt, so sehr bleibt es einer Performanz verhaftet, die weder ausgesprochen sozial und politisch noch besonders pragmatisch ist. Der junge Richter be-

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treibt unentwegt Konversation gemäß eines Diskurses, der nicht mehr epistemologisch, aber auch noch nicht wirklich dramatisch ist, der hier und dort zwar zu Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit vorstößt, insgesamt aber doch, wie zuletzt die Baierische Kreuzerkomödie, im Fragmentarischen steckenbleibt. So rasch wie die Gegenstände wechseln die Rollen, Figuren und Masken, so »embryonal«35 wie das zwischen Frühjahr 1789 und Herbst 1790 verfasste Manuskript des satirischen Lusttextspiels bleibt das enzyklopädische Ich. Erst Archenholz bringt den jungen Richter mit seiner Kritik an der Kreuzerkomödie im Februar 1790 auf den poetischen Trichter: »Wäre dieser Aufwand an Witz und Laune in Romanform gebracht, so bin ich gewiß, die Buchhändler würden sich danach reißen. Warum in aller Welt thun Sie das nicht mir ihren Producten?«36 Ja, warum eigentlich nicht? Die Frage wirkt nach und führt mit Verzögerungseffekt zur Wiedergeburt des enzyklopädischen Ich als Humorist. Diese schöne, von der Jean Paul-Forschung gerne nacherzählte Legende, ist gewiss nicht völlig falsch; man sollte bei der Verpuppung des Satirikers nur bedenken, was er bereits kann und beherrscht: vor allem die enzyklopädische Kompetenz und, was vielleicht genau so wichtig ist, die performative Regel der kointentionalen Inszenierung des literarischen Textes als in sich gespaltene und verdoppelte Re-Präsentation. Das ist nicht wenig und kaum zu überschätzen im Hinblick auf die Vermittlung von Witz und bildlicher Rede, von Sentimentalität und Metaphysik, Poetologie und Anthropologie bei dem zum empfindsamen Romanschriftsteller geläuterten Jean Paul. Ich meine also, dass es einen Bedingungszusammenhang zwischen den Jugendsatiren und dem Romanwerk gibt und dass gerade die Baierische Kreuzerkomödie lebensgeschichtlich wie ideengeschichtlich als ein Schwellentext des Übergangs verstanden werden muss. Ihren biographischen Kontext bildet eine existentielle Krise des enzyklopädischen Ich, das in mannigfaltiger Gestalt mit dem Tod konfrontiert wird; ihren kulturhistorischen Kontext bildet die Metakritik der Aufklärung, die Herder, Hamann und Jacobi in Auseinandersetzung mit der Reizfigur der Kreuzerkomödie, mit Kant, betreiben. Die, wenn man so will, mäeutische Funktion der Satire ist daher nicht zu unterschätzen. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat es so formuliert: »Die kritische Potenz dieser Kunstform, ihre Möglichkeit zur Negation, machte es

––––––– 35 36

Vgl. Schmidt-Biggemann, Vom enzyklopädischen Satiriker [Anm.18], S.271. Zitiert ebd., S.282.

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zugleich denkbar, daß die Aufklärung insgesamt zur Disposition gestellt wurde.«37 Das ist die eine Seite. Die andere kommt in den Blick, wenn man erkennt, welches Dispositiv sich Jean Paul mit und in seinen Jugendsatiren verschafft hatte: Es ist ein, wie von Foucault beschrieben, durchaus »heterogenes Ensemble«,38 das Diskursformate und Spielregeln, Reflexionsmomente und Wissensbestände, vor allem aber die forcierte Einbildungskraft einschließt und für durchaus verschiedene Zwecke eingesetzt werden kann: für die Zwecke der Satire, aber eben auch schon für die kointentionale Inszenierung der Re-Präsentation; für die ironische Teufelswiderlegung und für den Experimentalnihilismus, die als Glaubensversicherung betrieben werden. Folgerichtig tauchen diese Elemente später immer wieder auf in Jean Pauls Texten – und zwar, wie man einräumen muss, keineswegs als Fremdkörper, als anachronistische Einsprengsel. Das Dispositiv der Jugendsatiren ist auch dann am Werk, als Jean Paul schon lange keine Satiren mehr verfasst oder sie, wie im Leben Fibels, in den Dienst der Transfiguration stellt. Von daher macht es Sinn, die Genealogie, die in der erwähnten KünstlerLegende steckt, einmal gegen den Strich, von hinten nach vorne zu lesen: Um in seinem Aufsatz Über die Magie der Einbildungskraft behaupten zu können, die metamorphotische Einbildungskraft gehe mit der Wahrnehmung der Verschiedenheit des räumlichen und zeitlichen Verhältnisses gleicher Bilder einher (vgl. I/4,219), musste Jean Paul sich nicht nur Ernst Platners Bestimmung des Witzes als eines Vermögens, »verborgene und feine Aehnlichkeiten und Beziehungen der Ideen schnell zu bemerken«,39 zu eigen gemacht haben. Er musste dem Vorstellungsvermögen des Menschen auch Leibniz’ Kraftbegriff vindizieren und die damit verbundene Eigendynamik der Phantasie, also ihre metamorphotische Wirkung, als segensreich erlebt haben. Als segensreich hatte sich die Einbildungskraft für Jean Paul erwiesen, als es um die Selbstvergewisserung des eigenen Ichs angesichts von Tod, Negation und Nihilismus ging. Während er an der Baierischen Kreuzerkomödie schrieb, verlor der Autor seinen Bruder Heinrich und seinen Freund Hermann. Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuschauern in der Kirche, daß kein Got sei, die im Juli 1790 verfasst wurde, entstand erst nach diesen beiden Schicksalsschlägen, kurz bevor Jean Paul am 15. November des glei––––––– 37 38

39

Ebd., S.274. Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S.119. Anthropologie § 801, zit. nach Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ›philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989, S.49.

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chen Jahres, dem angeblich wichtigsten Abend seines Lebens, die traumhafte Vergegenwärtigung seines eigenen Todes vor Augen stand. Ob er die Kreuzerkomödie zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben hatte oder erst dann fallen ließ – die exakte Chronologie der Ereignisse ist hier wohl weniger entscheidend als der psychologische Zusammenhang. Im Ergebnis führen die Todeserfahrungen zu einer Transfiguration des enzyklopädischen Ichs dergestalt, dass aus der Reflexion auf die Endlichkeit allen menschlichen Wissens die Projektion eines Vorscheins der Unendlichkeit wird, die alles innerweltliche Wissen übersteigt und vielleicht doch nur die Verklärung jener Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit unter den Menschen ist, nach der sich Jean Paul nach dem Verlust seiner wichtigsten Bezugspersonen sehnt. »Die Arme des Menschen strecken sich nach der Unendlichkeit aus« (I/4,224f.), heißt es im Anhang zum Quintus Fixlein – eine Erzählung, in der Jean Paul seine Todeserfahrungen, einschließlich des auf ihnen fußenden Aufsatzes Was der Tod ist, der performativen Regel unterwirft und im Text, ironisch gebrochen, redupliziert. »Folglich muß alle Poesie idealisieren: die Teile müssen wirklich, aber das Ganze idealisch sein.« (I/4,227) Für den ersten Teil dieser Forderung war die Arbeit in der »Essigfabrik« insofern eine gute Vorbereitung, als alle wirklichen Teile zur Realenzyklopädie gehören; um dem zweiten Teil dieser Forderung, der poetischen Vorspiegelung der Unendlichkeit, zu genügen und die Gefahr des Nihilismus zu bannen, musste Jean Paul die satirische Negation hinter sich lassen und einen wahrhaft affirmativen Diskurs führen. Die Grammatiker von Port-Royal hatten am Anfang der Aufklärung behauptet, der Sinn des Wortes ›sein‹ bestehe in der Affirmation. Ohne die Behauptung dass etwas sei, könne es keinen grammatikalisch intakten Satz und keinen echten Diskurs geben.40 So ohne Weiteres lässt sich freilich nicht bejahen, was jenseits der satirischen Schreibweise und der enzyklopädischen Kompetenz des Menschen liegt. Für sich und seine Leser hat Jean Paul einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden, indem er gegen die Angst vor dem eigenen Tod und dem geliebter Menschen wie vor dem totalen Nichts die Einbildungskraft mobilisiert, die sich in der Reflexion als Ich-Stärke erweist. Endlos ist das Schreiben unter dieser Voraussetzung weniger, weil man die Welt mit Worten nicht erschöpfen kann, sondern weil man im Schreibprozess, da er stets ein Selbsterlebensprozess ist, immer wieder von neuem die Geburt des eigenen Schöpfer-Ichs feiern darf, die mit einem witzigen Einfall beginnt und sich im Medium der bildlichen Rede entwickelt. Bereits Kurt Wölfel hatte darauf hingewiesen, dass das Schreiber-Ich Jean Pauls die umfassende Integrationsfigur seiner Texte sei, und über den Beitrag ––––––– 40

Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge [Anm.21], S.133ff.

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der Satire und der Traumdichtung zu seiner Genese nachgedacht.41 Von Schmidt-Biggemann wiederum stammt die Überlegung, dass Jean Paul erst durch das biographische Erzählschema des Romans in die Lage versetzt wurde, seine witzigen Einfälle an empfindsame Figuren zu binden und damit an ein personales Medium der sentimentalen oder zum Humor geläuterten Empfindsamkeit.42 Die entscheidende Erkenntnis jedoch, die den Übergang von der Moralsatire zum Roman, in dem die Traumdichtung Platz findet, möglich macht, stammt aus der Entstehungszeit der Baierischen Kreuzerkomödie: »Es giebt für jedes Subjekt keine andere Wahrheit als die gefühlte.«43 Tatsächlich kann man diese Erkenntnis ausgerechnet der kruden Beschreibung des Prügel-Bureaus entnehmen, in der es kurz und knapp heißt: »[...] das Gefühl ist der wichtigste Diener und Dolmetscher der algemeinen Sprache, die die größten Philosophen darum vergeblich zu erfinden getrachtet, weil die Natur sie schon längst erfunden hat.« (II/2,547) Während das Bezugsystem für Wittgenstein in der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise besteht, hat es Jean Paul in der gemeinsamen Empfindungsart der Menschen gefunden. Die Form der Kommunikation, die geeignet ist, nicht nur eine Sprach-, sondern auch eine Empfindungsgemeinschaft zu begründen, muss allerdings wesentlich stärker, als es der oft ätzende, enzyklopädische Diskurs der Satire erlaubt, szenisch organisiert sein. Jene Szene jedoch, in der sich die gemeinsame Aufmerksamkeit aller Menschen reflexiv auf die sie alle verbindende Empfindungsart konzentriert, ist die Szene, in der nicht der Teufel, sondern der Tod auftritt. Von daher kann man die letzten Sätze des Prologus als eine Programmschrift in nuce verstehen: In ihnen steckt der Keim zu jener gleichermaßen romantischen wie ironisch gebrochenen Form der Erhabenheit, die Jean Paul in seinen Romanen anstrebt: Denn wenn ich einen Prologus endige oder ein ganzes Buch: so denk’ ich daran, ich werde noch viel wichtigere Dinge zu endigen haben – und den Menschen ist es lieb, wenn die Nacht nach seinem müden Alter, gestirnt ist und die Dünste vom Tage des Lebens niedergeschlagen sind und am erkalteten heitern Horizont sich die Abendröthe almählig vom Norden herumzieht und sie bei Nord-Osten zur neuen Morgenröthe wird. (II/2,543)

––––––– 41 42 43

Vgl. Kurt Wölfel, Jean Paul-Studien. Frankfurt a.M. 1989, S.37. Vgl. Schmidt-Biggemann, Vom enzyklopädischen Satiriker [Anm.18], S.284. Ebd.

MAXIMILIAN BERGENGRUEN

POL UND GEGENPOL EINES MAGNETEN Zwei Studien1 zu Jean Pauls Konzept der Doppelautorschaft in Siebenkäs, Flegeljahren und Komet

I. Der gespaltene Protagonist im Komet Einleitung: Die ›in zwei Körper eingepfarrte Seele‹ Viktor, der Protagonist in Jean Pauls Roman Hesperus ist bekanntlich ein zweigeteilter Mensch: Verfechter einer idealistischen Philosophie und Arzt mit Blick auf den Körper des Menschen. Das bringt ihn in einen gewissen Zwiespalt. So spricht er sich einerseits vehement gegen die Theorie der »Abhängigkeit« der Seele vom Körper (I/1,1104) aus, andererseits muss er als Arzt an seiner Geliebten Klothilde (und an sich selbst) beobachten, wie stark und unangenehm der physische – und in zweiter Instanz auch der soziale – Körper auf die Seele einwirken kann. Unabhängigkeit oder Abhängigkeit der Seele vom Körper: An was soll Viktor glauben? Er selbst versucht den Widerspruch zu lösen, indem er in einem »Aufsatz« auf Platners Theorie vom Körper als erweitertem Seelenorgan verweist, das der eigentlichen Seele »Empfindungen« gibt (I/1,1101). Diese Empfindungen können nun, wiewohl daraus keine vollständige Abhängigkeit resultiert, durchaus unangenehm sein. Der hier skizzierte theoretische Spannungsbogen hält dem metaphysischen Druck stand – zumindest in diesem Roman bzw. in dieser Digression. Doch Jean Paul scheint deutlich geworden zu sein, dass Viktors an sich selbst demonstrierte Personalunion von »humoristische[r]« und »empfindsame[r]« ––––––– 1

Die, wie man mit Blick auf das Thema sagen könnte, zwei Pole dieses Aufsatzes gehen auf zwei von mir gehaltene Vorträge zurück – anlässlich der Bayreuther Jahresversammlung der Jean-Paul-Gesellschaft im Frühjahr und der Basler Satire-Tagung (»Pfiffe im Kopf großbrüten«) im Frühsommer –, sind aber inhaltlich zusammenhängend: Die zweite Studie stellt die Elaboration eines Themas dar, das in der ersten nur angeschnitten werden kann: die verblüffende, mehrfach erfolgte Autorschaftzuschreibung der frühen Satirensammlungen an die Figuren der deutschen oder bürgerlichen Romane.

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Maximilian Bergengruen

Seele (I/1,590) eine Position darstellt, die hart an der Grenze zum Widerspruch steht.2 Nicht zuletzt aus diesem Grund entwirft er in der Folge ein neues RomanSzenario mit einer neuen Figurenkonstellation. Im nunmehr bürgerlichen oder, um mit Jean Paul selbst zu sprechen, »deutschen« und nicht mehr Fürsten- (oder »italienischen«) Roman (I/5,253f.)3 treten zur Entlastung dieser figuralen Spannung zwei Protagonisten auf, ein empfindsamer und ein satirischer: Leibgeber und Siebenkäs aus gleichnamigem Roman von 1796/97 sowie Vult und Walt aus den Flegeljahren (1804/5). Am Siebenkäs lässt sich die neue Arbeitsteilung besonders gut ablesen: Leibgeber ist, anders als die Hintergrundfiguren Doktor Fenk (Unsichtbare Loge; 1793) bzw. Knef (Hesperus; 1795), kein studierter Mediziner mehr, aber er hat sich »Hallers Physiologie« (I/2,500) im Selbststudium erarbeitet. Diese profunde Kenntnis des menschlichen Körpers ermöglicht ihm, die empfindsamen Phantasien seines zwillingsähnlichen Freundes Siebenkäs milde zu korrigieren: Wenn dieser sich zu sehr in die Vorstellung versteigt, dass er und Natalie als ätherische Wesen jenseits einer körperlichen Welt zuhause seien, verweist er darauf, dass die beiden – wie alle Menschen – primär an Fortpflanzung, Nahrung und körperliche Ausscheidung gebunden bleiben. Leibgeber wird so, nicht zuletzt durch seinen Rollentausch mit Siebenkäs, theoretisch und praktisch der Leib-Geber für seinen sich bisweilen ätherisch denkenden Freund Siebenkäs.4 Diese theoretische und lebenspraktische Balance von schöner Seele und groteskem Körper wird vom Erzähler auf folgenden Begriff gebracht: Er nennt die beiden Protagonisten einen »Fürstenbund zweier seltsamen Seelen«. Später konkretisiert er diese Apostrophierung noch einmal, wenn er davon spricht, dass die »Ähnlichkeiten« zwischen ihnen »sie zu einer in zwei Körper eingepfarrten Seele machten« (I/2,39). Eine Seele, gespalten und verpflanzt in zwei ähnliche Körper: Das ist die Formulierung, die den Versuch auf den Begriff bringt, den Widerspruch von Empfindsamkeit und satirischem Humor anhand zweier Protagonisten auszuagieren; sozusagen als figurale Ausfaltung dessen, was Viktor im Hesperus noch mit sich selbst ausmachen musste. ––––––– 2

3

4

Vgl. hierzu Maximilian Bergengruen, Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, S.95ff. Vgl. hierzu Bernhard Böschenstein, Jean Pauls Romankonzeption, in: Jean Paul, hrsg. von Uwe Schweikert. Darmstadt 1974, S.330–352, hier: S.331ff., sowie Götz Müller, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983, S.190ff. Vgl. hierzu Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.101ff.

Pol und Gegenpol eines Magneten

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Dieses neue Konzept scheint in gewissem Sinne die freundschaftliche Variante einer Theorie darzustellen, die Jean Paul schon in seinen Satiren durchgespielt hat. In den Grönländischen Prozessen schreibt er: So wie der Teufel in dem Körper des Studenten, den er getödet hatte, auf Befehl des Magikers Agrippa einige Zeit die Stelle der Sele vertrat, und mit den fremden Füssen einen Tag spazieren gieng; eben so schenkt unsre Ironie der Empfindsamkeit, die sie hingerichtet, verlängertes Leben, und redet die tode Sprache der weinerlichen Makulatur (II/1,557).

Hier sind es der Teufel und der Student, die die Rolle des, zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht fürstlichen, Bundes darstellen. Der Teufel und der studentische Körper sind weder unabhängig noch vollständig voneinander getrennt. Diese Semi-Distanz erlaubt es der Satire, für die der Teufel steht, die Empfindsamkeit, für die der Student steht, mitsamt ihrem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele aufs Trefflichste zu ironisieren. Soweit die frühen Satiren. Auch Leibgeber ist nun ein kleiner Teufel (vgl. hierzu die zweite Studie in diesem Aufsatz), aber die aggressive Note, welche die Satire besaß, als sie sich über die »tode Sprache der weinerlichen Makulatur« lustig machte, ist gewichen. Leibgeber ist zwar immer noch »der Vater der Lügen«, also ein materialistischer Teufel; der dazugehörige »Humor« (II/2,189f.) aber richtet sich nur noch in Form einer behutsamen Korrektur gegen seinen Freund Siebenkäs. Eruieren wir nun die literarischen und epistemischen Wurzeln dieser für Jean Pauls Poetik zentralen Gedankenfigur einer in aller Freundschaft gespaltenen Seele. Dass es sich hierbei um ein ursprünglich psychologisches Modell handelt, wird spätestens deutlich, wenn Siebenkäs und Leibgeber als »Doppeltgänger« (I/2,66f.) tituliert werden. Doppeltgänger – man fasst diesen Begriff bei Jean Paul gerne im heutigen Sinne auf, also als Beschreibung zweier Menschen, die sich äußerlich gleichen und daher von dritten miteinander verwechselt werden. Das 18. und frühe 19. Jahrhundert hat jedoch vor allem die Dimension des »geistige[n] Doppeltgänger[s]« (I/2,824) im Blick, also die psychische, ja psychopathologische Innenansicht einer solchen Verwechslung. Es handelt sich bei einem oder mehreren Doppeltgängern dementsprechend um »Leute, die sich selber sehen« (I/2,67) oder genauer: um »eine Person, von verbrannter Einbildungskraft, welche wähnt, daß sie doppelt zu sehen sei, oder zu einer und derselben Zeit an zwei verschiedenen Orten zugleich sei«.5 ––––––– 5

Wörterbuch der Deutschen Sprache, hrsg. von Johann Heinrich Campe. Hildesheim, New York 1969 (=Nachdr. der Ausgabe Braunschweig 1807), Bd.I, S.732.

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Was Jean Paul im Siebenkäs mit dem Konzept des Doppeltgängers literarisch zu fassen versucht, wird wenige Jahre später psychiatrisch präzisiert, nämlich durch die Theorie der Persönlichkeitsspaltung.6 In Johann Christian Reils Rhapsodieen von 1803, dem wahrscheinlich frühesten medizinischen Fachbuch zu diesem Thema, werden zwei Formen geistiger Dissoziation diskutiert: erstens eine innerpsychische, in welcher die eigene »Persönlichkeit [...] gleichsam verdoppelt« wird.7 Das ist ungefähr das, was wir heute unter einer Multiplen Persönlichkeit verstehen. Reil kennt aber noch eine zweite Form der Verdoppelung – und die ist für den Zusammenhang des ›geistigen Doppeltgängers‹ zentral. Nämlich eine solche, bei der ein Mensch sein Ich oder einen Teil seines Ichs in einem fremden, außerhalb seiner selbst existierenden Menschen wieder zu finden glaubt: »unser Ich mit einer fremden Person verwechseln«,8 nennt Reil diese spezifische Form von psychischer Dissoziation. Der Ideengeber für Reils Konzept der Persönlichkeitsspaltung ist der Magnetismus, den der Hallenser Mediziner gehirnphysiologisch zu reformulieren und therapeutisch nutzbar zu machen versucht.9 Franz Anton Mesmer und seine Nachfolger sind in den 80er und 90er Jahren durch verschiedene Experimente zu dem Ergebnis gekommen, dass manche, vielleicht sogar alle der von ihnen behandelten nervenleidenden Patienten/Patientinnen zwei Persönlichkeiten aufweisen: eine zum Zeitpunkt eines Nerven-Anfalls bzw. einer -Krise sowie deren magnetischer Wiederholung – und eine andere, ›normale‹ jenseits dieser Attacken.10 Eberhard Gmelin schreibt z.B. über eine junge Frau aus Stuttgart, der eigentlich außer Schwäbisch keine weitere Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen: »Sie spricht im Anfall mit einer außer demselben ihr unmöglichen und ungewöhnlichen Fertigkeit, Eleganz und Delicatesse franzö-

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Vgl. hierzu Maximilian Bergengruen, 1807: Die Erfindung der Psychoanalyse durch Johann Christian Reil, in: Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856 (FS für Günter Oesterle), hrsg. von Roland Borgards et al. Würzburg 2006, S.233– 240. Johann Christian Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttung. Aachen 2001 (= Nachdr. der Ausgabe Halle 1803), S.69. Ebd., S.72. Vgl. hierzu Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn. Berlin 1997, S.161ff. Vgl. hierzu Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, übers. von Gudrun Theusner-Stampa. 2.Aufl. Bern 1996, S.75ff.

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sisch«.11 Außerdem hat sie in der Krise »ganz die Manieren einer gebornen Französin«,12 während sie sonst davon nichts weiß und wissen will. Französin in der Krise, Schwäbin im normalen Leben: An der Sprache und der damit verbundenen Haltung lässt sich – im Kontext des Magnetismus – die Spaltung der Persönlichkeit am besten exemplifizieren. Das Krisen- oder magnetische Ich und die Person jenseits davon sind deswegen voneinander gespalten, weil sie über vollkommen andere Bewusstseinsinhalte und mentale Fähigkeiten verfügen.13 Ursprünglich kommt der Topos von der Spaltung der Persönlichkeit, gerade einer solchen, die sich in verschiedenen Sprachen manifestiert, aus der Hexenverfolgung, genauer gesagt, aus dem protestantisch gefärbten Diskurs der Verteidigung der angeblichen Zauberer und Hexen. Johann Weyer, der (zumindest diskursiv) wirkmächtigste Gegner der Hexenverfolgung, berichtet in seinem diesbezüglichen Hauptwerk aus dem 16. Jahrhundert von einer Frau, »so besessen war / vnd mancherley sprach redete«;14 Sprachen wohlgemerkt, die ihr außerhalb der Besessenheit nicht zur Verfügung standen. »Besessen« ist diese Frau natürlich von niemand anderem als dem Teufel, freilich nicht in der Form, dass er oder ein Helfershelfer in ihr steckte und mit ihr spazieren ginge, sondern dass er von außerhalb ihre Phantasien und durch diese ihre Bewusstseinsinhalte manipuliert.15 Weyers Anliegen ist es, die angeblichen Hexen in der ersten großen Verfolgungswelle in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts16 vor dem Scheiterhaufen zu bewahren; seine Argumentation ist also von der Prozesslogik her zu verstehen: Die Frauen sind, so der Subtext seiner Ausführungen, von dem Vorwurf der Teufelsbuhlerei freizusprechen, da sie mit dem Teufel – auch wenn sie das unter Folter bekennen – weder getanzt, noch geschlafen haben können. Zwar gibt es den Teufel, so die entscheidende Volte Weyer, aber ––––––– 11 12

13

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15

16

Eberhard Gmelin, Materialien für die Anthropologie. Tübingen 1791, Bd.I, S.7. Carl Alexander Ferdinand Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel. 2.Aufl. Berlin 1815, S.152. Zu Jean Pauls ausführlichen Gmelin-Exzerpten ab 1788, vgl. Müller, Jean Pauls Ästhetik [Anm.3], S.47ff. Johann Weyer, De praestigiis demonum. Amsterdam 1967 (=Nachdr. der Ausgabe Amsterv dam 1578), S.149 . Vgl. hierzu und zum Folgenden Maximilian Bergengruen, Nachfolge Christi, Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2005, S.246ff.; Maximilian Bergengruen, Genius malignus. Descartes, Augustinus und die frühneuzeitliche Dämonologie, in: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, hrsg. von Carlos Spoerhase et al. Berlin 2009, S.87–108, hier: S.98ff. Vgl. hierzu Wolfgang Behringer, Hexen und Hexenprozesse in Deutschland. 4.Aufl. München 2000, S.130ff.

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eben nicht als leibhaftige Person, sondern nur als gedankliches Prinzip. Und dieses gedankliche Prinzip setzt seinen psychisch vorbelasteten Opfern – es handelt sich in den meisten Fällen um »Melancholicos«17 – lediglich falsche Vorspiegelungen in den Kopf: Praestigiae. So heißt auch Weyers Buch: De praestigiae daemonum – ›Von den Gaukelbildern der Daemonen‹. Letztlich stellen Weyers Ausführungen eine spezifische Interpretation von Augustinus’ Dämonen-Theorie dar. Er bezieht sich bei seinen Ausführungen hauptsächlich auf die in De civitate dei 18,18 formulierte Theorie, dass die bösen Engel, wenn sie schon nicht die Formen der Menschen und der Tiere verändern (»non [...] crediderim [...] posse converti«), dann doch wenigstens die Einbildungskraft des Menschen so manipulieren können, dass in dessen Kopf ein Blendwerk (»praestigiae«) entstehe18 – seinerseits ein Rekurs auf Plotins Theorie der »ψευδη˜ νοήματα«. 19 Weyers Ansatz ist also eine zeitgenössisch aktualisierte neuplatonische Theorie, die dem Teufel körperliche Anwesenheit abspricht, dafür aber eine Waffe gewährt, die vielleicht viel gefährlicher ist: die Fähigkeit, die Phantasie seiner Opfer zu beeinflussen. Zurück zu Jean Paul, der anscheinend die Genese der Theorie der magnetischen Persönlichkeitsspaltung aus der augustinischen Position in der Hexendebatte kennt oder zumindest erahnt und beide historischen Stufen der Theoriebildung ineinander setzt. Es ist nämlich in seinen Augen der, freilich satirische, Teufel, der sich der Phantasie seiner Opfer bemächtigt und ihnen fremde Sprachen und Gedanken eingibt und sie so zu einer zweiten Persönlichkeit mutieren lässt. Und damit sind wir wieder bei der Metapher vom Teufel als dem satirischen Materialisten, der in den Köpfen und Texten der Empfindsamen spazieren geht, damit ihre Gedanken abändert und – das ist jetzt allerdings Jean Pauls alleiniger Zusatz – somit deren implizite Selbstparodie freilegt.20 Und wir sind bei der Metapher von den Doppelgängern als zwei, ursprünglich verbundenen, Seelenteilen in zwei Körpern. Beides gehört für Jean Paul deswegen zusammen, da es gerade die enge Verbundenheit der zwei Persönlichkeitsteile ist, die die teuflisch-satirische Korrektur der Empfindsamkeit ermöglicht.

––––––– 17 18

19

20

Weyer, De Praestigiis [Anm.14], S.42v–43r. Augustinus von Hippo, Der Gottesstaat – De civitate dei (lt.-dt.), hrsg. und übers. von Carl Johann Perl, 2 Bde. Paderborn 1979, Bd.II, S.324–328. Enn. III.5, 7:71. Ich zitiere nach der Ausgabe: Plotin, Schriften (gr.-dt.), übers. von Richard Harder, hrsg. von Rudolf Beutler u. Willy Theiler, 12 Bde. Hamburg 1956ff. Vgl. hierzu Maximilian Berengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.25ff.; 212ff. u.ö.

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Der doppelte Protagonist im Komet: ›seinem Pole, wie einem Magneten, als ein Gegenpol eingeboren und eingeschmolzen‹ Ich möchte nun untersuchen, welche Veränderung das skizzierte Konzept eines doppelten, teuflisch oder psychisch gespaltenen, Protagonisten in Jean Pauls letztem Roman, dem Komet, erfährt. Dieser Text bietet sich insofern an, als er sowohl die protestantische Theorie des Teufels (als Manipulator der Phantasien seiner Opfer) als auch den Magnetismus explizit thematisiert und damit eine doppelte Reflexion der Poetik der gesamten bürgerlichen oder deutschen Romane leistet.21 Freilich ruft der Komet nicht nur das deutsche oder bürgerliche Szenario (aus Siebenkäs und Flegeljahren) mit den beiden aneinander gebundenen Protagonisten auf, sondern auch das des italienischen oder Fürsten-Romans, der nur einen Helden kennt: den späteren Thronfolger. Dieses letzte Konzept wird freilich nur in einer parodistischen Weise entfaltet: Denn Nikolaus Marggraf hält sich ja lediglich aufgrund einer Fixen Idee seines Ziehvaters (die mittlerweile seine eigene geworden ist) für einen Thronfolger. Der Komet ist Fragment geblieben, gibt also keinen Aufschluss darüber, wie bürgerliche und fürstliche Romanstruktur zueinander finden können. Beschrieben wird lediglich, wie Nikolaus es schafft, über seine alchemischen Techniken22 Diamanten herzustellen, damit zu unermesslichem Reichtum gelangt und so seinen Traum vom Fürstenstaat – zumindest vom Fürstenstaat auf Reisen – erfüllen kann; mit dem Reisemarschall Peter Worble, dem Zuchthausprediger Frohauf Süptitz und dem Kandidaten Richter im Gefolge. Wer sind nun im Komet die in Spaltung verbundenen Protagonisten? Den humoristischen Part übernimmt Peter Worble, den empfindsamen oder phantastischen der eingebildete Fürstensohn Nikolaus Marggraf. Letzterer hat, im Gegensatz zu Siebenkäs, nicht nur eine ausschweifende, sondern eine ungezügelte, ja unzügelbare Phantasie und neigt daher zur Narrheit. Das Problem bei Nikolaus liegt, wie der Erzähler präzisierend hinzufügt, darin, dass seine »Phantasiekraft« so stark ist, dass sie das Subjekt als ihren Träger auszulöschen droht. Benanntes Vermögen setzt »sich nicht, wie die des Dichters, an ––––––– 21

22

Jean Paul hat sich, wie der 20. Band der Ironien (Eintrag von ca. 1812) und die ihm vorgängigen Exzerpte [IIc-43-1812-] erweisen, im Vorlauf des Komet ausführlich über den neuesten Stand des Magnetismus informiert. Dabei notiert er sich noch einmal das bei Kluge und Gmelin erwähnte Beispiel der Frau, die im Anfall »französ.« bzw. »französisch« spricht. Ich danke Birgit Sick und Christian Schwaderer für einen Einblick in den entstehenden Band II/10 der Historisch-Kritischen Jean Paul-Ausgabe. Vgl. hierzu Jürgen Brummack, Natürliche Magie, Magnetismus, Alchemie. Über Jean Pauls ›Komet‹, in: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, hrsg. von Nicola Kaminski et al. Tübingen 2002, S.129–160, hier: S.141ff.

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die Stelle der fremden Seele, sondern er [Marggraf] setzte, wie ein Schauspieler, die fremde an die Stelle der seinigen und entsann sich dann von der eignen kein Wort mehr« (I/6,590). Dass sich Nikolaus für Lavater und ähnliche Berühmtheiten hält, bringt ihn auch in den Augen des Erzählers eindeutig in den Bereich der Psychopathologie: Man halte mich hier um des Himmels willen mit keinem Vorwurf auf, daß mein Held nach solchen Beweisen ein Narr sei – ich gedenke wohl noch stärkere zu liefern – und also ganz frisch aus Brands Narrenschiffe aussteige; denn dies ist ja eben bei einer so langen komischen Geschichte mein Gewinn (I/6,590f.).

Interessanterweise haben sich trotz dieser Verschiebung in die Psychopathologie Worbles Aufgaben gegenüber Marggraf seit den Tagen von Leibgeber und Siebenkäs kaum geändert. Denn auch wenn Nikolaus’ Phantasie krankhafte Züge aufweist, so bleibt Worbles Funktion die der sanften Korrektur – nur eben unter Berücksichtigung dieses Wahnsinns. Man denke z.B. an seinen Versuch, Marggrafs Interesse an einer Bekanntschaft mit den fürstlichen Bewohnern der Residenz Lukas-Stadt zu verhindern oder eben nicht zu verhindern, sondern lediglich sanft zu korrigieren: So wurde denn ein vollkommener Paß ausgewirkt und eingekauft, worin man höhern Orts alle Behörden ersuchte, den Apotheker Nikolaus Marggraf aus Rom, welchen Herr Doktor Peter Worble als sein Arzt und Aufseher zur Herstellung seiner geschwächten Verstandes-Kräfte auf Reisen durch Deutschland herumführe, ungehindert pass- und repassieren zu lassen (I/6,898f.).

Eine sehr subtile Technik der Korrektur: Einerseits lässt es Worble schwarz auf weiß drucken, dass sein Jugendfreund verrückt ist. Andererseits bewirkt diese Bloßstellung nach außen, dass Nikolaus selbst die Bloßstellung erspart bleibt und er in seiner phantastischen Vorstellung, ein Fürstensohn zu sein, weiterleben kann. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Protagonisten – so wie wir es aus dem Siebenkäs kennen – hat sich also insoweit verändert, als die Verbindung zwar grundsätzlich beibehalten wird, der empfindsame Part jedoch kein Ernst zu nehmendes Eigengewicht mehr besitzt, mithin der komische Part allein die Regie übernimmt und das Wort in der Öffentlichkeit führt. Interessanterweise taucht nun aber auch im Komet eine Formulierung auf, die an die oben vorgestellte Spaltungsmetapher aus dem Siebenkäs erinnert, indem sie die Verbunden-, ja Verwachsenheit der beiden Protagonisten und zugleich ihre konträre Lebenseinstellung und Schreibhaltung markiert: »War nicht Peter«, so der Erzähler, »sein bester und tollster Freund, und war nicht

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dieser ihm als seinem Pole, wie einem Magneten, als ein Gegenpol eingeboren und eingeschmolzen?« (I/6,647). Die Ähnlichkeit gegenüber der Siebenkäs-Formulierung ist auffallend: Auch in diesem Falle werden die beiden Protagonisten als unterschiedlich, ja als charakterlich gegensätzlich beschrieben. Zugleich wird aber behauptet, dass sie trotz oder sogar vielleicht wegen dieser Differenz keine eigenständigen Wesen seien, sondern nur im Verbund funktionieren, ja recht eigentlich eine Person darstellten. Auffällig ist aber auch eine neue Tendenz in der Metaphorik: Statt einer rein anthropologischen Erklärung wie im Siebenkäs (zwei Seelenteile, verschiedene Körper) wird nun zusätzlich das epistemologische Potenzial des Magneten zur Erläuterung des Freundschaftsverhältnisses herangezogen: Durch die Pol-Metapher wird Unterschiedlichkeit wie Verbundenheit der beiden Protagonisten noch einmal wirkungsvoll unterstrichen. Zugleich spielt der Ausdruck natürlich auch auf die magnetischen Fähigkeiten von Peter Worble an – und auf seine teuflischen. Der Teufel ist nämlich auch ein Magnetiseur, zumindest glaubt das Frohauf Süptitz. Ganz in der protestantischen Tradition von Augustinus und Weyer behauptet der Zuchthausprediger nämlich, dass der Teufel nur geistig wirke: ›Traue man mir aber nie zu [...] als lieh’ ich dem Beelzebub körperliche Kräfte, etwa zum Bewegen von Körpern, Maschinen, Büchern und dergleichen. [...] Sondern ich lasse nur zu, daß dieser Fliegengott [...] doch durch seine organische Hülle (jeder Geist muß eine umhaben) sich mit jeder Menschenseele in einen magnetischen Bezug setzen und diese dann, wie ein Magnetiseur die Hellseherin, seine Gedanken kann denken lassen und dadurch alles durchsetzen [...]‹ (I/6,1008f.).

Eine solche Attribution würde sein Diskussionspartner Worble durchaus unterschreiben. Auch er hat nämlich – in eigener Sache – das teuflische Konzept der Beeinflussung der Phantasie unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Psychotechniken neu definiert: Teufel, der er ist, geht er nicht mehr im Körper des Menschen an Stelle seiner Seele spazieren, er beeinflusst die Phantasie seiner Opfer auch nicht mehr nur kraft seiner geistigen Überlegenheit, wie dies das 16. Jahrhundert wollte, vielmehr bedient er sich nun einer spezifischen Technik, um seine Umwelt denken, fühlen und sehen zu lassen, was er will: des Magnetismus. Nun drängt sich die Vermutung auf, dass die hier rekonstruierte magnetisch-teuflische Struktur auch für die zwei Pole Nikolaus Marggraf und Peter Worble gilt. Eine solche Annahme ist nicht ganz widerstandsfrei, da die Kraft des Magneten und des Magnetiseurs eigentlich in die Ferne zielt: »Wie der Magnet auch auf das ihn nicht unmittelbar berührende Eisen seine Anzie-

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hungskraft ausübt [...], so vermag auch der Mensch [...] in die Entfernung zu wirken auf einen Gegenstand, dem er durch innigen Rapport, wenn auch nicht dem Raume nach, nahe ist«, heißt es z.B. in einem zeitgenössischen Magnetismus-Lehrbuch.23 Bei Nikolaus und Worble ist jedoch zuvörderst ein innerkörperliches magnetisches Verhältnis angesprochen. Im ›Kluge‹, einem anderen magnetischen Lehrbuch der Zeit, heißt es: Mesmer behauptete [...], der ganze menschliche Körper stelle einen Magnet dar, dessen Aequator in der Cardia befindlich wäre, dessen Axe durch das Rückenmark gehe, und dessen beide Pole (Kopf und Füsse) nach dem Zenith und Natur gerichtet wären.24

Diese Vorstellung lässt sich widerstandsfrei auf die beiden Protagonisten applizieren: In ihrer Verschiedenheit stellen sie die grundsätzlichen Differenzen, die in jedem menschlichen Körper anzutreffen sind, noch einmal aus. Da sie aber, anders als es bei Mesmer gedacht wird, in zwei Körper geteilt sind, ist, entsprechend der ersten Erklärung, nicht auszuschließen, dass der eine Körper im wörtlichen wie übertragenen Sinne auf den anderen magnetisch einwirkt. Zwei Magnetiseure: der Erzähler Legationrat Richter und Worble Eine nähere Untersuchung der Thematisierung des Magnetismus im Komet scheint allein deswegen lohnenswert, da die hier verhandelten Theorien einen Reflex auf eine jüngere Debatte im Bereich des Magnetismus darstellen, nämlich auf die Frage, ob die magnetische Beeinflussung eines Patienten durch den Magnetiseur manuell – also durch Manipulation im eigentlichen Sinne des Wortes (d.h. durch Handauflegen oder andere physische Berührungen) – oder rein geistig erfolgen könne bzw. müsse. Auf diese letzte, also rein-geistige, Theorie rekurriert der Erzähler mit dem Einschub eines Briefwechsels zwischen sich – dem Legationrat Dr. Jean Paul Fr. Richter25 – und dem Polizeidirektor Saalpater. Gegenstand der Diskussion ist die »Traumbildnerei«, also das Vermögen, bei anderen Menschen ohne ––––––– 23

24 25

Johann Carl Passavant, Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und das Hellsehen. Frankfurt a.M. 1821, S.186. Jean Paul zieht dieses Lehrbuch für den dritten Teil des Komet heran (vgl. hierzu die Angaben des Herausgebers in I/6,1289). Kluge, Versuch einer Darstellung [Anm.12], S.77. Zur fiktiven Autobiographik Jean Pauls, vgl. Gerhard Sauder, ›Komet‹(en)-Autorschaft, in: JJPG 38 (2003), S.14–29.

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Anwesenheit und Berührung Träume, Tag- wie Nachtträume, zu erzeugen (I/6,698). Diese Fähigkeit, so schreibt Saalpater an den Legationrat, besitzen in besonderem Maße die »fünf magnetische[n] Studenten aus Berlin« (I/6,701), die ihre Mitmenschen, auch die Polizei, der diese »träumerische[n] Umtriebe« verdächtig vorkommt (I/6,702; ein Seitenhieb auf die preußische Demagogenverfolgung), alles träumen lassen könnten, was sie wollten. Der Polizeidirektor ist natürlich sehr besorgt wegen dieser Angelegenheit, anders der Legationrat, der den politischen Schaden gering, den literarischen Nutzen hingegen hoch einschätzt: »Möcht’ ich doch selber zu den Traumbündlern gehören, aber nur in der Dichtkunst, diesem ersten und letzten Traumgeberorden« (I/6,710). Ganz ähnlich hatte er sich schon in seinem ersten Brief geäußert: Dort betont er, »daß die Traumbildnerei gerade wie die Schriftstellerei sich auch zu guten herrlichen Zwecken (ich möchte mir schmeicheln, in der einen und in der andern Beispiele gegeben zu haben) verwenden läßt« (I/6,698). Der Erzähler bezieht sich, wie er selbst in einer Fußnote präzisiert, mit seinen Exempeln von der Traumbildnerei auf eine Veröffentlichung im »Eschenmeyrschen Archiv« für den Thierischen Magnetismus (I/6,691), aus dem er, wie sich leicht zeigen lässt, mehr oder weniger wörtlich zitiert.26 Dieser spezielle Diskurs lässt sich jedoch auf eine viel allgemeinere Wendung in der Magnetismus-Debatte zurückführen: die bei Kluge ausführlich diskutierte barbarinsche oder puységursche Wende. Kluge unterscheidet nämlich zwischen der »Mesmer’sche[n] Schule«, einer »zweite[n] Schule«, die auf »eine[n] gewissen Ritter[] Barbarin« zurückgeht, und einer »dritte[n] Schule [...] unter der Direction des Marquis von Puységur«. Mesmer habe, so Kluge »nur physisch durch starkes Berühren mit den Händen oder mittelst metallener und gläserner Conductors« gearbeitet, »wobei man gewöhnlich Stirn gegen Stirn und Fuss gegen Fuss setzte«. Die ––––––– 26

In dem von Carl August von Eschenmayer herausgegebenen Archiv für den Thierischen Magnetismus, und zwar genau in dem von Jean Paul angegebenen »Band 6, St. 2. 1820. S.135ff.« (I/6,689), berichtet »Reg. Assessor und Ober-Wegeinspector« H.M. Wesermann von Versuchen, die er und befreundete Mediziner im Bereich der »willkührliche[n] Traumbildung«, genauer: des »Fernsehen[s] im natürlichen Schlafe«, angestellt haben. Einen dieser Versuche zitiert Jean Paul ohne größere inhaltliche Abweichung: »So setzte der einem Doktor B., der von ihm eine Probe dieser Traum-Einimpfung begehrte, in der Ferne einer Achtelmeile eine nächtliche Schlägerei in den schlafenden Kopf, und dieser träumte sie wirklich« (ebd.). Im Original heißt es: »Vierter Versuch in einer Entfernung von 1/8 Meile. / Herr Doctor B. verlangte einen Versuch zu seiner Ueberzeugung, worauf ich ihm eine vorgefallene nächtliche Schlägerei auf der Straße vorstellte, die er zu seiner großen Verwunderung im Traume auch gesehen hatte«.

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Schule, die auf Barbarin zurückgeht, sei demgegenüber »rein psychisch« vorgegangen, ohne jegliche »magnetische[] Vorrichtungen«. Puységur und seine Schule schließlich hätten beide Behandlungsmethoden miteinander »vereinigt[]«. Entfernt wurden die unangenehmen Gerätschaften, die Mesmer angeblich verwendet hat. Die Berührung der Patienten erfolgte nur noch »mit den Händen« oder eben auch – wie bei Barbarin – »in einiger Entfernung von ihm«, dann ebenfalls durch »Willen und Glauben« des Magnetiseurs.27 Die hier thematisierte psychische Wende im Magnetismus nach Barbarin – also die Beeinflussung des Geistes des Patienten oder der Clairvoyante nur durch Willen und Glauben – interessierte schon E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung Der Magnetiseur aus den Fantasiestücken in Callot’s Manier von 1814/15 – und notwendigerweise Jean Paul selbst, der für diese Erzählsammlung bekanntlich das Vorwort schrieb und dem dabei sicherlich die poetologische Adaptation des Magnetismus aufgefallen ist (zumal er selbst ausführlich zitiert wird).28 In dieser Tradition stehend, schätzt der Erzähler des Komet die psychische Wende im Magnetismus als literarisch höchst interessant ein: Er konstatiert, dass der Magnetismus so auf ein Reich übergreift, das bislang der Poesie oblag: die Beeinflussung von Phantasie durch Phantasie. Gleichzeitig scheint sich aber für die Literatur so die Möglichkeit zu ergeben, das eigene Terrain, technisch neu gerüstet, noch genauer bewirtschaften zu können. Doch diese Position ist nicht der letzte Stand der Dinge im Roman. Ihr Vertreter ist wie gesagt der Erzähler, Legationrat Richter, der bei näherem Hinsehen eine durchaus ambivalente Haltung einnimmt. In der Vorrede behauptet er, ein reiner Satiriker zu sein bzw. sein zu wollen: Er nennt den Komet sein »letztes komisches Werk«, und zwar ein ausschließlich komisches: In der Tat wollt’ ich mich einmal recht gehen und fliegen lassen, ästhetische und unschuldige Keckheiten nach Keckheiten begehen, ein ganzes komisches Füllhorn ausschütteln, ja mit ihm wie mit einem Satyrhörnchen zustoßen, nicht viele Ausschweifungen im Buche machen und einschwärzen, sondern der ganze Roman sollte nur eine einzige sein (I/6,569).

Das in den vorherigen Romanen Jean Pauls bestehende Gleichgewicht aus empfindsamem Haupttext und satirischer Abschweifung soll hier im Komet also zum ersten Mal, so die Behauptung, aufgehoben werden, der Text also ––––––– 27 28

Kluge, Versuch einer Darstellung [Anm.12], S.54f. Vgl. hierzu Götz Müller, Die Literarisierung des Mesmerismus in Jean Pauls Roman ›Der Komet‹, in: G.M., Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze. Würzburg 1996, S.45–58, hier: S.57f.

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nur Digression und damit nur Satire sein. Das klingt, als ob nicht nur der empfindsame Part des Protagonisten, sondern auch des Erzählers29 zugunsten des humoristischen abgewertet bzw. ausgeschaltet worden sei. Gleichzeitig liefert der Roman einige Hinweise, die es erlauben, an des Legationrats Behauptung des Rein-Satirischen einige Fragezeichen anzubringen. Eines davon ist seine Identität mit dem »Kandidat[en] Richter aus Hof im Voigtlande« (I/6,833). Dieser Kandidat Richter wird noch zu Beginn der Reise als der »treffliche Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren« eingeführt (zu diesem Thema, s. die zweite Studie); eine Autorschaftsbehauptung, die der Erzähler auch für sich selbst reklamiert, indem er sich mit dem Kandidaten identifiziert: »Meine Leser werden erstaunen, der Kandidat war demnach niemand anders als – ich selber, der ich hier sitze und schreibe« (I/6,833). Nun könnte man denken, der Rekurs auf die frühe Satirensammlung sei ein erneuter Ausweis der rein-satirischen Schreibweise des Erzählers. Dem ist aber nicht so. Der Kandidat Richter hat sich nämlich von der ursprünglichen rein-satirischen Schreibart der Teufelspapiere wegbewegt, was wiederum Worble als der Hüter dieser Tradition, sofort bemerkt. Der Kandidat notiert sich: Der feine Vogel [gemeint ist Worble] will wohl, scheint es, durch seine Nachahmung meiner Teufels-Papiere-Manier mich bestechen und fangen; er weiß aber wenig, daß ich Scherz und Ernst stets absondere und besonders den guten Fürsten recht ernsthaft lieb habe (I/6,882).

Auch Worble hat »den guten Fürsten [...] lieb«, aber nicht »recht ernsthaft«, das ist der Unterschied zwischen den beiden Begleitern von Marggraf. Demnach gibt es zwei Arten der »Teufels-Papiere-Manier«: die rein-satirische von Peter Worble und die, wiewohl satireaffine, eher empfindsame des Kandidaten Richter, der jetzt nur noch ernsthafte Texte schreibt. Man denke in diesem Zusammenhang an seine »Leichenrede auf die Jubelmagd Regina Tanzberger in Lukas-Stadt« (I/6,1022), die zwar höchst virtuos verfasst ist, aber keine satirischen Züge (mehr) besitzt. Und zu dieser satireaffinen, aber letztlich empfindsamen Haltung bekennt sich, wenn auch verdeckt, der Erzähler, allen satirischen Beteuerungen zum Trotz, wenn er sich mit dem Kandidaten identifiziert. In diesen Zusammenhang gehört auch das Bekenntnis des Legationrats Richter zur psychischen Wende in der Magnetismusforschung. Denn damit ––––––– 29

Vgl. zu diesem Verhältnis allgemein: Monika Schmitz-Emans, Jean Pauls Schriftsteller. Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen, in: JJPG 43 (2008), S.137–169.

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setzt er sich in einen Widerspruch zu Worble, für den es sich sozusagen von selbst versteht, dass er als Nachfolger der Mediziner Fenk, Knef und Katzenberger, von Leibgeber-Schoppe und Vult, dass also er als ein kynisch orientierter Materialist30 mit dem von ausgewiesenen »Spiritualisten«31 diskutierten Prinzip »rein psychisch wirkender« Kräfte32 nichts, aber auch gar nichts zu tun haben kann bzw. darf. Und in der Tat: Worble ist, wie Leibgeber, ein Mann des Leibes, der sich in keinster Weise der Kostverachtung in Sachen Erotik schuldig macht. Im historisch-dichten Nebel, der an einem Tag in Lukas-Stadt herrscht, hat er, wie der Erzähler bemerkt, »viele Schöne seiner Arme wert gehalten« – insbesondere »Jeannette«, die weibliche Namensverwandte des Erzählers. Dass er mit ihr »das Seil der Liebe« (I/6,948) spinnt, bittet der Erzähler folgendermaßen zu entschuldigen: Das Ganze bestand offenbar nur darin, daß er seiner Gattin nicht ganz treu war, sondern nur halb, ein Viertel, ein Achtel, und so in die ›Brüche‹ juristisch zu sprechen, hinunter. Er verglich mehrmal seine Ehe und die beiden Eheringe [...] mit den beiden Ringen des Saturns, und die Ehe mit dem Saturnus selber, der anfangs ein goldnes Zeitalter verlieh, dann aber das Zeichen des Bleies wurde (I/6,948f.).

Und neben den angenehmen Seiten der Fortpflanzung verachtet Worble auch das Essen nicht. Ja, an diesem Gegenstand agiert er den Widerspruch zwischen materialistischem und spiritualistischem Prinzip – und zwar gerade im Bereich des Magnetismus – exemplarisch aus. Die Rede ist von seinem ureigenen Wiener Kongress; auch dies natürlich ein Seitenhieb auf das Metternich-Zeitalter.33 Diesen Kongress bestreitet Worble als Meister seiner Zunft. Der Legationrat Richter behauptet in einer vorgreifenden Digression: Künftig wird man noch genug davon lesen, daß dieser Peter Worble der stärkste Magnetiseur war, welchen nur die Geschichte aufführen kann nach einem Puysegur, der sogar einen widerspenstigen lachenden Postillion von weitem zur Ruhe brachte, oder nach einem Pölitz in Dresden, der an einer Tafel bloß durch Handauflegen auf die Achsel auf der Eßstelle einschläferte. Worble freilich war gar noch darüber hinaus; er übersprang und überflog alle Grade der Einschläferung so

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33

Vgl. hierzu Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.12ff.; 89ff. Kluge [Anm.12], S.54. E.T.A. Hoffmann, Der Magnetiseur, in: E.T.A.H., Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt a.M. 1985ff., Bd.II/1, S.195. Zur Polysemantik des ›Wiener Kongresses‹ im Komet, vgl. auch Cosima Luth, ›AufeßSystem‹. Jean Pauls kannibalistische Poetik im ›Komet‹, in: JJPG 40 (2005), S.59–88, hier: S.73.

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mächtig, daß er sogleich bei dem Erwachen anfing, nämlich bei dem Hellsehen (I/6,606).

Was verbirgt sich hinter diesen verheißungsvollen Worten? Der Reisemarschall lädt einige illustre Gäste in das Hotel ›Stadt Wien‹, schläfert sie magnetisch ein – und beginnt damit, ein erlesenes Mahl, das ihm jetzt aufgetragen wird, zu essen; als einziger wohlgemerkt. Durch seine »herrliche Magnetkraft« (I/6,607) und durch das »sympathetische Mitgefühl« der »Geschmacksnerven« der magnetisch eingeschläferten Gäste (I/6,609) ist es ihm möglich, den Geschmack der Speisen (so wie er ihn auf der Zunge spürt) auf seine eingeschläferten, aber hellsehenden Tischgenossen zu übertragen, so dass diese versichern, »sie hätten zum ersten Male eine so feine Suppe geschmeckt« oder andere Köstlichkeiten (I/6,608) – und dies bis zum bitteren Ende bzw. zum süßen Dessert. Eine magnetische Übertragung über die Geschmacksnerven anzunehmen, ist, nebenbei gesagt, keine Erfindung Jean Pauls. Im ›Passavant‹ ist z.B. zu lesen, dass die Hellsehenden auch die »Sinnesapperceptionen«34 des Magnetiseurs mitfühlen könnten. Als Grund wird angegeben, dass »Geschmacksnerve« und »Geruchsnerve« so etwas wie die »vorgezogenen Geschwister der Nervenverzweigungen« darstellten und daher »auf ganz besondere Art Kunde von vielen Dingen, wovon die anderen Nerven nie etwas erfahren«, erhalten können.35 Von Gmelin wird weiterhin berichtet, dass er »Pfeffer, Salz, Wein und andere Dinge in den Mund« nahm – »und die Somnambulen schmeckten es jedesmal«.36 Worble handelt also ganz diskursgetreu. Was aber ist der eigentliche Zweck dieses zweiten und entscheidenden Wiener Kongresses? In erster Linie handelt es sich natürlich um eine bravouröse Demonstration der magnetischen Fähigkeiten seines Veranstalters. Aber Worble wäre nicht der eben beschriebene materialistische Satiriker, wenn er dabei dem psychischen Prinzip huldigen würde. Vielmehr zieht es ihn zurück zu dem von Mesmer und teilweise auch Puységur gepflegten Prinzip der physischen Manipulation. Denn die Übertragung des Geschmacks über die entsprechenden Nerven ist bei Worble eine durch und durch körperliche Angelegenheit: Die Teilnehmer »faßten sich alle (so wollt’ ers still als Magnetiseur) wie Brüder an den Händen an« (I/6,607; Herv. d. Verf.). Ein deutlicher Reflex auf die oben skizzierte Debatte des Magnetismus: Statt – wie der erzählende Legationrat Richter – auf den neuesten Zug in der Magnetismus-Debatte aufzuspringen und nur noch auf die rein-geistige Be––––––– 34 35 36

Passavant [Anm.23], S.178. Ebd., S.105. Ebd., S.179.

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einflussung der Patienten durch den Magnetiseur zu setzen, geht Worble den Weg zurück zur guten alten physischen Manipulation: Nur auf diese Art und Weise, so sein anthropologisches und damit auch poetisches Kalkül, kann der Magnetismus zu einer Demonstration des Materialismus am Leitfaden des Leibes herangezogen werden. Der Wiener Kongress verweist jedoch noch in einem anderen Zusammenhang auf die Sonderrolle des menschlichen Körpers. An dessen Ende hat nämlich nur ein Mensch den Anforderungen seines Magens Genüge tun können: der Satiriker Worble selbst. Seine Tischgenossen hingegen haben, trotz oder vielmehr wegen ihrer magnetischen Sympathie, höllischen Appetit. Es geht ihnen wie den Teilnehmern an Platons Symposion, von denen man auch sagte, »daß die Gäste darauf immer besondern Hunger verspürt« (I/6,611). Und diese Sonderrolle des Magens wird ihnen nach der Séance, nach ihrem Aufwachen nur zu deutlich bewusst. Was bleibt, stiftet der Stoffwechsel. Marggraf und der Wahnsinn der Welt Soweit Worble, der seiner Rolle treu geblieben ist: Trotz der Aneignung neuester teuflischer Psychotechniken bleibt er der Materialist der frühen Satiren. Welche Rolle hat nun aber Marggraf, wenn er einerseits, ganz wie im Siebenkäs, nach wie vor den einen (empfundenen) Teil des Fürstenbundes einer in sich gespaltenen Seele darstellt, in Wahrnehmung dieser Funktion jedoch andererseits aufgrund seines attestierten Wahnsinns des öffentlichen Worts enthoben wurde? Die Antwort auf die Frage kann nur auf zwei Ebenen gegeben werden: Erstens lässt sich festhalten, dass Marggrafs Wahnsinn – entsprechend Jean Pauls poetologischer Konzeption von den frühen Satiren bis zur Vorschule der Ästhetik – nicht als individuelles Malum gezeigt wird, sondern als Exempel für den kollektiven Wahnsinn; entsprechend der bekannten Stelle aus der Vorschule: »Es gibt für ihn [den Humor] keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt« (I/5,125). So drückt es auch der Legationrat Richter aus: Er betont zwar, wie oben erwähnt, dass sein Held »so toll ist wie nicht jeder«. Diese außergewöhnliche Tollheit betont er jedoch nur, um die allgemeine umso schärfer zeichnen zu können: »Narrheiten hat, so wie Eingeweidewürmer, jeder vernünftige Mensch, und niemand ist dadurch vom andern verschieden; nur ein langer unaufhörlicher Bandwurm des Kopfes, so wie einer des Unterleibs, unterscheidet die Personen« (I/6,591).

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Die Differenz von Tollheit oder Narrheit gegenüber der psychischen Normalität ist also kein qualitativer Sprung, sondern lediglich eine Frage der Quantität: Jeder hat seinen Wurm des Irrsinns in sich; es ist nur die Länge, die entscheidet, ob man ihn bereits einen manifesten Wahnsinn nennen kann und darf. Um es mit einem Werbeslogan aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auszudrücken: »Sind wir nicht alle ein bisschen Bluna?« Konkret wirkt sich diese ›Erkenntnis‹ im Roman so aus, dass Nikolaus’ Einbildung, ein Fürst zu sein, sich ebenfalls nur quantitativ (aber nicht qualitativ) von dem unterscheidet, was sich jeder Fürst einbilden muss, wenn er seiner Funktion als Regent gerecht werden möchte. Angesichts von Worbles Pass, der seinen Freund als Patienten ausweist, ruft der Erzähler nämlich aus: Gleichwohl übrigens, wenn ich hier den Paß wieder überlaufe, den ich eben zum Abschreiben vor mir ausgebreitet, und nun darin den trauenden Nikolaus nicht als Regenten, sondern als Patienten Worbles finden muß, kann ich mich doch nicht enthalten auszurufen: ›Ach ihr armen umsponnenen Fürsten! – Wahrlich ihr täuscht selten so stark und so oft, als ihr getäuscht werdet, und Mißtrauen ist euch nach so vielen Erfahrungen ordentlich mehr anzuraten als Vertrauen, so gar sehr und oft wird, wie ich nur zu gut sehe, euere Thronspitze in der Ferne von lauter Luftspiegelungen umzogen [...]‹ (I/6,899).

Diese Aussage knüpft an die Fürstenkritik im Titan an (der Hofstaat als »Menächmen« des Fürsten [I/3,168]), besitzt jedoch noch weitere Implikationen: Fürst zu sein, also seinen empirischen Körper mystisch auf das ganze Reich ausgeweitet zu sehen (um Kantorovics Rekonstruktion der Theorie der zwei Körper des Königs aufzurufen),37 ist mindestens eine so große Täuschung, als zu glauben, dass man ein noch nicht entdecktes Fürstenkind sei, und sich sein kommendes Reich nach der Maßgabe seiner jetzigen individuellen Verhältnisse auszumalen. Die Spaltung des verhinderten Hilfsautors Marggraf: Der Kandidat Richter und Süptitz als Hilfshilfsautoren Überlegungen wie die eben erwähnte werten zwar die Position Nikolaus Marggrafs in seinem Verhältnis zur Welt auf, nicht aber in dem zu Worble, der sich wie gesagt durch die Behauptung, dass sein Freund wahnsinnig sei, die einzig öffentlichkeitswirksame Position sichert. Dies ist insofern von entscheidender Wichtigkeit, als im Siebenkäs – und in abgeschwächtem Maße auch noch in den Flegeljahren – beide Protagonis––––––– 37

Ernst H. Kantorowicz, The King’s two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton 1997, S.193ff.

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ten gleichermaßen die Rolle des Hilfserzählers des Romans, in dem sie vorkamen, einnahmen: Mit Hinweis auf Siebenkäs’ empfindsame Briefe und Leibgebers satirische Auslassungen behauptete der Roman sozusagen von sich selbst, dass er von niemand anderem geschrieben worden sei als von seinen Protagonisten. Der ›General-Autor‹38 oder Erzähler dieses Romans fungierte lediglich als die Stelle, an der alle Stimmen des Romans gebündelt und wieder als eine – freilich in sich gedoppelte – Schreibform ausgegeben wurden. An diesem Prinzip der kollektiven Zuarbeit zum Erzählprozess hat sich, wie leicht zu sehen, im Komet nichts geändert: Wie das letzte Zitat deutlich macht, schreibt der Legationrat als Verfasser des Romans auch in diesem Falle nur eine bereits erbrachte poetische Basis-Leistung Worbles aus: »Wenn ich hier den Paß wieder überlaufe, den ich eben zum Abschreiben vor mir ausgebreitet« (s.o.). Wenn sich nun aber – wie im Komet – das Gefüge im Verhältnis der Protagonisten dergestalt verschoben hat, dass nunmehr nur noch einer das offizielle Rederecht führt, während der andere unter Pathologie-Verdacht steht, dann hätte in diesem Roman die empfindsame oder phantastische literarische Position im Romanganzen keine Stimme mehr. Somit wäre der Legationrat, wie er ja auch selbst – freilich etwas zu eifrig – behauptet, wirklich nur ein satirischer Erzähler, der vom satirischen Akteur Worble und dessen Weltsicht vollständig abhängig ist. Dieser These steht, ich habe es oben erwähnt, die emphatische Bekräftigung der Identität des Erzählers mit dem zur Empfindsamkeit tendierenden Kandidaten Richter und das Bekenntnis zur spiritualistischen Traumbildnerei gegenüber – beides im Widerspruch zu Peter Worble, der gegen den empfindsamen Schwenk des Kandidaten auf die wahre ›Teufels-Papiere-Manier‹ und gegen die rein-psychische Traumbildnerei des Erzählers auf die physische Manipulation und damit den körperlichen Kontakt in der magnetischen Kommunikation setzt. Meine These ist dementsprechend, dass auch Jean Pauls letzter Roman am Modell der empfindsam-komischen Doppelung – beim Protagonisten wie beim Erzähler oder ›Generalautor‹ – festhält. Auch im Komet gibt es demzufolge eine ernsthafte, empfindsame oder phantastische Schreibweise, die sich die Waage mit der satirischen hält, allerdings auf eine subtilere Weise als z.B. noch im Siebenkäs; ähnlich subtil, möchte man hinzufügen, wie es in ––––––– 38

Vgl. hierzu Burkhardt Lindner, Jean Paul. Scheiternde Aufklärung und Autorrolle. Darmstadt 1976, S.139ff. (zur Generalautorschaft allgemein); S.203ff. (zum Komet), sowie, daran anschließend, Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.66ff.

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ernsthaften, dezidiert antihumoristischen Romanen wie dem Titan für die komische Schreibweise nötig war.39 Genauer gesagt hat sich die empfindsame Schreibweise durch Diffusion getarnt. Damit ist besagt, dass diese Position zwar beim Narren Marggraf nicht mehr als ernstzunehmend anzutreffen ist, sich aber, wenn man so will, noch einmal in zwei weitere Teile gespalten hat, nämlich in die Hilfsautoren des verhinderten Hilfsautors Marggraf. Die Rede ist vom bereits erwähnten Kandidaten Richter und dem Zuchthausprediger Frohauf Süptitz – beide nicht von ungefähr im engsten Beraterstab des eingebildeten Fürsten und außerdem literarisch höchst aktiv. Ich möchte also behaupten, dass sich im Komet die Persönlichkeitsspaltung des Protagonisten in eine ernsthafte und eine komische Figur aufgrund der Indisponibilität des ernsthaften oder empfindsamen Parts in einer Art Reentry noch einmal wiederholt hat: Der Kandidat Richter und Frohauf Süptitz stehen beide für eine ernsthafte und empfindsamkeitsnahe Handlungs- und Schreibweise, die der Worbles entgegengesetzt ist. Die Summe dieser empfindsamen, phantasiebetonten Schreibweisen würde cum grano salis das abdecken, was auch schon für den empfindsamen, aber komikaffinen Siebenkäs (oder den empfindsamen Teil von Viktor aus dem Hesperus) galt. Die These von der wiederholten Spaltung wird plausibel, wenn man die Differenzen zwischen dem Kandidaten und Süptitz ins Auge fasst: Ersterer ist, wie gesagt, Autor der frühen Satiren Jean Pauls, hat sich aber in Abgrenzung zu Worble zu einem zwar satireaffinen, aber letztlich ernsthaften Empfindsamen gewandelt. Und aufgrund dieser, wenn auch mittlerweile nurmehr entfernten, Verwandtschaft in Jean Pauls Roman-Kosmos stellt der Kandidat lediglich vereinzelt die Zielschreibe für Worbles Spott dar. Es herrscht eher ein Konkurrenz-Verhältnis um die richtige ›Teufel-Papiere-Manier‹ vor. Anders Süptitz, der, ganz im Gegenteil dazu, im Mittelpunkt von Worbles teuflisch-satirischen Attacken steht. Man denke nur an die Ereignisse, die dieser seiner Frau halb schreibt, halb beichtet. Süptitz hat bekanntlich (ich habe es oben erwähnt) ein »ordentliches Lehrgebäude« des »Teufel[s]« entworfen. Dieses System ist durchaus pro domo angelegt: Der Zuchthausprediger glaubt nämlich, dass »der Teufel« speziell »gegen mich gestimmt« ist. Und zu diesen »lustige[n] Streiche[n]« (I/6,1008f.) gehört z.B. (da ist das Thema wieder), dass sich der Teufel seiner Phantasie bemächtigt. Der Geistliche weiß nämlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu sa––––––– 39

Im Titan ist es Albano, der seinen Freund, den Satiriker Schoppe, für verrückt erklärt und diesem damit das öffentliche Wort entzieht. Vgl. hierzu Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.204f.

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gen, dass »der Teufel ordentlich meinem frömmsten Wachen und Wandel zum Trotze mich im Schlaf Niederliegenden in die sündlichsten Träume hieneinschleppt« so dass er denn »im Schlaf die unsittlichsten Reden ausstoße[n]« muss (I/6,1010). Würde der Zuchthausprediger alleine schlafen, dann würde dies – seine Gattin ist ja zuhause geblieben – nicht weiter auffallen. Leider muss Süptitz jedoch sein Zimmer mit Worble teilen. Und dieser »satirische Mensch« liegt nur durch eine »spanische Wand« von ihm getrennt im Nachbarbett. Ab einem gewissen Punkt kann der geplagte Prediger gar nicht mehr unterscheiden, ob es Worble ist, der ihm – durch seine zwar unsichtbare, aber nicht zu leugnende Existenz hinter der spanischen Wand – diese und andere Gedanken eingibt, oder der Teufel selbst. Alles, was Süptitz macht, da er Worble hinter der Wand vermutet, stellt ihn in das »lächerliche Licht« (I/6,1018), das er so sehr scheut wie der Teufel das Weihwasser. Es mag also – so das Resultat der Überlegungen des Zuchthauspredigers – um den wirklichen Teufel bestellt sein, wie es wolle. Der worblesche Teufel hinter der spanischen Wand hat es nur darauf abgesehen, die ernsthafte Lebens- und eben auch Schreibweise Süptitz zu stören, z.B. wenn dieser an Briefen an seine Frau sitzt und in diesen eine fremde, »teuflische Handschrift« bemerkt (I/6,1014). Worble zieht also alle Register einer klassischteuflischen oder parodischen Satire und hält dadurch den in den Satiren und früheren Romanen hergestellten Kontakt mit der »tode[n] Sprache der weinerlichen Makulatur« (s.o.). Daraus erhellt, dass nicht nur der Kandidat Richter, sondern auch Süptitz, freilich auf eine ganz andere Art und Weise, in einem literarischen Wettkampf- und Konkurrenzverhältnis zu Worble als ihrem satirischen Opponenten steht. Diese beiden Autoren schreiben demzufolge anstelle Marggrafs den ihm verwehrten ernsthaften oder empfindsamen Strang des Romans weiter. Worbles Spaltung Jeder Menschen- und Autorentyp, so lässt sich das Gesagte zusammenfassen, hat in Jean Pauls poetisch-poetologischem Kosmos zwei Pole, einen ernsthaft-empfindsamen und einen komisch-satirischen: Viktor konnte diese Pole noch in einer Person vereinigen; Siebenkäs und Leibgeber haben sie auf zwei, Süptitz und der Kandidat einerseits und Worble andererseits bereits auf drei Positionen verteilt. Und auch auf der komischen Seite findet ihrerseits noch einmal ein Re-entry statt. Zwar muss Worble – anders als Nikolaus Marggraf – in der Öffentlichkeit nicht verstummen, trotzdem stellt der Ro-

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man eine zweite Position bereit, in der der Reisemarschall das abspalten kann, was er selbst nicht mehr sein möchte; ein Vorgang, der Leibgeber/Schoppe im Titan noch nicht möglich war, was, wie man vermuten kann, schließlich zu dessen vollständigem Verschwinden führte. Während Worble den Kandidaten Richter kritisch beäugt, weil er ihm, trotz unterschiedlicher Positionen, sehr nahe ist, während er sich milde an seinem Freund Marggraf und derb an seinem Gegner Süptitz abarbeitet, konzentriert sich – und das ist der Hilfsautor des Hilfsautors auf komischer Seite – der Ledermensch mit ganzer Kraft nur auf Nikolaus Marggraf. Man kann sagen, dass der Ledermensch auf satirisch-komischer Seite das darstellt, was der eingebildete Fürst auf ernsthafter Seite ist: Er ist verrückt. Wenn man so will, handelt es sich bei dem Paar Ledermensch/Marggraf um eine späte Variation der um 1800 für Jean Paul zentralen, von Jacobi geborgten, Gedankenfigur, dass Idealismus und Materialismus in ihren Extremen gleich seien, da sie eindimensional oder solipsistisch40 agieren, also Gott und die menschliche Alterität leugnen, mithin nur noch sich selbst kennen (seinerzeit ein Grund, warum der Materialist Schoppe zum idealistischen Fichteaner werden konnte).41 Dass beide Solipsisten sind, wird im Roman deutlich gesagt. Für Nikolaus wurde das schon erläutert; man denke nur an die Behauptung des Erzählers, dass Marggraf fremde Seelen anstelle der eigenen setze. Etwas ganz Ähnliches kann auch der Ledermensch über sich berichten: Auf meiner Studierstube war ich alles Böse durch Denken – Mordbrenner – Giftmischer – Gottleugner – ertretender Herrscher über alle Länder und alle Geister – Ehebrecher – innerer Schauspieler von Satansrollen und am meisten von Wahnwitzigen, in welche ich mich hineindachte, oft mit Gefühlen, nicht herauszukönnen (I/6,1003).

Im Wahnsinn des Solipsismus treffen sich also – unbeschadet ihrer sonstigen Differenzen – der empfindsame Phantast Marggraf und der materialistische Sohn von »Vater Beelzebub« (I/6,1004). Diese Ähnlichkeit setzt sich nun interessanterweise durch das weitere System der Figuren fort – nämlich bei den Menschen, die glauben, die beiden Wahnsinnigen therapieren zu können.

––––––– 40

41

Vgl. hierzu Monika Schmitz-Emans, »Der Komet« als ästhetische Programmschrift. Poetologische Konzepte, Aporien und ein Sündenbock, in: JJPG 35/36 (2000/01), S.59–92, S.67ff. Ähnlich auch Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995, S.147, mit Bezug auf Uwe Schweikert, Jean Pauls ›Komet‹. Selbstparodie der Kunst. Stuttgart 1971, S.70. Vgl. hierzu Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.121ff., S.200ff.

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Im Roman wird betont, dass es sich beim Ledermenschen um einen »ganzen Narren«, bei Marggraf hingegen um einen »halben« handelt, dass man jedoch, wenn man den einen behandelt, auch in den anderen »einzufließen« in der Lage sei (I/6,999). Nikolaus und der Ledermensch haben nämlich, zumindest in den Augen ihrer Umwelt, die gleiche Krankheit. Süptitz diagnostiziert beim Ledermenschen ganz klar »eine fixe Idee«, die sich aus der Lektüre der »Mittelaltersagen vom ewigen Juden« speist (I/6,972). Gleiches gilt für Nikolaus’ Vorstellung von der fürstlichen Abstammung. Auch hier spricht der Zuchthausprediger von einer, in diesem Falle freilich »wahre[n]«, »fixen Idee« (I/6,820). Das ist ganz im Sinne der zeitgenössischen Psychiatrie gesprochen: Der Fixe Wahnsinn besteht allgemein, wie Johann Christian Reil in den Rhapsodieen von 1803 ausführt, erstens »in einer partiellen Verkehrtheit des Vorstellungsvermögens«,42 zweitens darin, wie Johann Christian Hoffbauer sekundiert, dass es sich um eine »herrschende Vorstellung« handelt.43 Die »Dynamik der Theile des Seelenorgans ist« also deswegen »verstimmt«, weil sich die wahnhaften Ideen mit den gesunden »assoziiren« und diese dominieren.44 Diese Diagnose trifft auf Nikolaus wie den Ledermenschen gleichermaßen zu: Die in den Augen der Umwelt wahnhafte Vorstellung, vom Teufel als dem »Fürst der Welt« (I/6,969) bzw. einem weltlichen Fürsten abzustammen, hat sich über den gesamten psychischen Apparat der beiden Epigonen gelegt und beherrscht diesen vollständig. Doch nicht nur die Diagnosen, auch die Therapien gleichen sich: In beiden Fällen – diesen Gedanken hatte Jean Paul das erste Mal beim Wahnsinn Albanos ausprobiert45 – wird davon ausgegangen, dass man den Kranken die Fixe Idee nicht ausreden dürfe, sondern vielmehr auf deren Vorstellungen eingehen müsse, um sie vorsichtig zurechtzubiegen. So sagt es Süptitz von Nikolaus, wenn er dafür plädiert, dass man (wir befinden uns am Anfang des Romans) »ihn reisen und gewähren lassen« müsse; »denn wörtlicher Widerstand, wie hier in Rom am ersten zu befürchten sei, presse und höhle die fixe Idee nur noch tiefer und fester in sein Gehirn« (I/6,821). Die gleiche Vorgehensweise schlägt Süptitz auch für den Ledermenschen vor. Er führt aus, dass »die Haupt-Fluchtröhre, die man in solchen Gefahren sich vor Tollen, als Jäger zu reden, graben« müsse, die sei, »daß man nach ––––––– 42 43

44 45

Reil [Anm.7], S.306f. Johann Christian Hoffbauer, Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände, Bd.III: Über den Wahnsinn und die übrigen Arten der Verrückung, nebst Ideen über die psychische Heilung derselben. Halle 1807, S.236. Reil [Anm.7], S.319. Vgl. hierzu Bergengruen, Schöne Seelen [Anm.2], S.170ff.

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ihrer eignen Idee spricht und handelt, als habe man selber ihre Tollheit« (I/6,969). Auch beim Ledermenschen soll also die Fixe Idee aufgenommen und behutsam in ihr Gegenteil verkehrt werden. Süptitz’ Vorschläge stellen eine weitere Anleihe an die Rhapsodieen Reils dar, der ebenfalls dafür plädiert, sich an den Wahnsinn des Kranken anzupassen anstatt die Fixe Idee mit vernünftigen Gründen zu widerlegen: »Meistens ist es besser, den Grillen des Kranken nicht zu widersprechen, sondern seinen Erzählungen Glauben beizumessen. Die projektirten Heilmittel finden sonst keinen Kredit«.46 Die Folge dieser psychischen Kurmethode ist freilich, dass man als Therapeut nicht nur so handelt, als ob man »selber ihre Tollheit« habe, sondern dass sich Arzt und Patient, je länger diese Therapie dauert, aneinander angleichen. Dies gilt insbesondere für Süptitz, bei dem der Leser das Gefühl nicht loswerden kann, als ob er seinerseits von zwei Fixen Ideen getrieben würde, dem Glauben an eine natürliche Erklärung des Verhaltens von Ledermensch und Nikolaus (also Reils Theorie der Fixen Idee) und dem Glauben an das Übernatürliche, also sein System des Teufels. Aber auch bei Worble zeigt sich eine Art Annäherung an den Patienten Kain. Im Gegensatz zu seinem Gegner Süpitz versucht der Reisemarschall den ewigen Juden, wenn nicht zu heilen, dann doch zu beruhigen – und zwar in seinem Falle durch magnetischen Einsatz, selbstredend nur auf der Basis von digitaler Manipulation, also körperlicher Berührung: Kain47 schläft ein, als ihn Worble »am Hinterkopfe mit zusammengelegten Fingern wie mit einem Feuerbüschel berührt und blitzartig getroffen« hat. Worble hat also seinen ›Patienten‹ »mit all seinen magnetischen Fingerhebeln aus dem Wachen in den Schlaf umzulegen gestrebt« (I/6,1002). Durch diesen körperlich-magnetischen Einsatz lockt Worble im Ledermenschen eine zweite psychische Entität – die oben erwähnte Krisenpersönlichkeit – hervor: »Aber alle wurden bestürzt über eine fremde, liebliche, herzliche Stimme, welche jetzo verborgen zu ihnen sprach« (I/6,1003). Und diese unbekannte Stimme – die zwar nicht französisch, aber, deutlich unterschieden von der anderen, hell und lieblich spricht – kann nun Auskunft geben über die Genese der Krankheit, also den vorhin bereits erwähnten Solipsismus. Kains diagnostische Fähigkeiten sind ebenfalls streng nach Lehrbuch: Der magnetische oder, wie er von Mesmer selbst genannt wird, »kritische[] Schlaf[]« ist ein Zustand der höchsten Selbsterkenntnis. Auch hier hat zwar ––––––– 46 47

Reil, Rhapsodien [Anm.7], S.340. Zu den gnostischen Wurzeln dieser Figur, vgl. Müller, Literarisierung [Anm.28], S.51ff.

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eine »Mittheilung des Willens« von Seiten des Arztes auf den Patienten statt. Zugleich aber profitiert der Magnetiseur, sozusagen im symmetrischen Gegenzug, vom Wissen des Clairvoyant. Im kritischen Zustand sieht nämlich der »Somnambulist«, so Mesmer, mittels des »innern Sinn[s]« seine »Krankheiten ein und unterscheidet die Substanzen, welche zu seiner Erhaltung und Gesundheit dienen«.48 In Jean Pauls Augen verfügt der oder die Clairvoyant(e) aus diesem Grunde sogar über mehr Macht als der Magnetiseur selbst: »Hellseherin weiß die Gedanken des Arztes, nicht umgekehrt«, heißt es im 20. Band der Ironien.49 Auf den Komet übertragen, bedeutet das: Wie an der von Süptitz angewandten reilschen Heilmethode von Nikolaus und Ledermensch deutlich wird, dass der angeblich vernünftige Therapeut am Wahnsinn seines Patienten notwendig partizipiert, so entlarvt sich schließlich auch Worble selbst, wenn er den Ledermenschen in einen kritischen oder magnetischen Zustand versetzt. Die von Kain ausgesprochenen Gedanken über die solipsistische Krankheit müssen nämlich, entsprechend Jean Pauls Verständnis von magnetischer Kommunikation, nicht unbedingt seine eigenen sein, sondern könnten durchaus auch von Worble stammen.50 Auch in diesem Falle ist der Therapeut also seinem Schützling näher, als ihm lieb sein kann. An dem hier rekonstruierten vierfachen Arzt-Patienten- bzw. Verwandtschaftsverhältnis lässt sich ablesen, dass es in der Genealogie von Jean Pauls Roman-Kosmos auf beiden Seiten, d.h. der Protagonisten- wie der Erzählerinstanz, eine zweifache Spaltung gegeben hat: Die empfindsame Seite hat sich in einen lächerlichen Protestanten wie Süptitz und einen tendenziell unangreifbaren Kandidaten wie Richter gespalten. Die satirische Seite, also Worble, triumphiert nur deswegen, weil sie – mit dem Ledermenschen – ihre dunkle, solipsistische Seite abstoßen konnte;51 ein Vorgang, der in der magnetischen Manipulation freilich noch einmal verräterisch sichtbar wird. Auch in Jean Pauls letztem Roman gilt also, dass es zwei Größen gibt – die empfindsam-phantastische schöne Seele und den satirischen grotesken Körper –, die, allen figuralen Spaltungsversuchen zum trotz, ihr Leben lang aneinander gekettet bleiben und einen immerwährenden Kampf auszufechten ––––––– 48

49 50

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Franz Anton Mesmer, Ueber meine Entdeckungen, übers. von Dr. Fritze. Jena 1800, S.41, 58f., 63, 66. Vgl. den Nachweis in (Anm.21). Auch dieser Gedanke hat Jean Paulsche Tradition. Schon im Titan erkennt Schoppe, dass man, wenn man die ganze Welt als Narren bezeichnen möchte, wie der Stachelschweinmann beim Tierhändler Brook (I/3,228), bei sich selbst anfangen muss. Vgl. hierzu M.B., Schöne Seelen [Anm.2], S.207. Vgl. Schmitz-Emans, Der Komet als ästhetische Programmschrift [Anm.40], S.79ff.

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haben. Eben jenen Kampf, der überhaupt alle Romane Jean Pauls ausmacht, die aufgrund der notorischen »Unlust« ihres Autors »zu fabulieren«52 von nichts anderem handeln als von den Gegebenheiten des eigenen Zustandekommens.

II. Wer schrieb Jean Pauls Satiren? Auktoriale Reflexionen in Siebenkäs und Flegeljahren Einleitung: Viele Autoren für Jean Pauls Satirensammlungen Diese zweite Studie schließt an einen Gedanken der ersten an, der dort nicht weiter verfolgt werden konnte: die Autorschaftszuschreibung von Jean Pauls Satirensammlung Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) an eine Figur aus dem Komet, den Kandidaten Richter (s. S.57ff.), und den Erzähler, den Legationrat, der mit dem Kandidaten identisch zu sein behauptet. Richter ist jedoch mitnichten der einzige Kandidat, der die Teufelspapiere bzw. die Grönländischen Prozesse (1783) verfasst zu haben den Anspruch erhebt. Vielmehr lässt sich durch die gesamten bürgerlichen Romane – so die These dieser zweiten Studie – eine Spur von Autorschaftsbehauptungen in Bezug auf die frühen Satiren verfolgen, die in die Höhle der poetischen Selbstreflexion führt. Das hier skizzierte Spiel mit der Autorschaft der frühen Satiren bietet sich, wie man hinzufügen muss, insofern an, als diese anonym bzw., wie im Falle der Teufelspapiere, unter einem nur im, aber nicht auf dem Buch verzeichneten Pseudonym (»I.P.F. Hasus«; II/2,122)53 erschienen sind. Da Leerstellen wie diese immer die Imagination des Lesers anregen, stellen die frühen Veröffentlichungen eine gute Ausgangsbasis für auktoriale Spekulationen dar. Die beiden genannten Satirensammlungen werden allerdings bei der analeptischen Suche nach ihrem Verfasser nicht vollkommen symmetrisch behandelt. Während für die Teufelspapiere neben dem erwähnten Kandidaten Richter aus dem Komet auch Siebenkäs aus dem gleichnamigen Roman ver––––––– 52

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Kurt Wölfel, Die Unlust zu fabulieren. Über Jean Pauls Romanfabel, besonders im ›Titan‹, in: Jean-Paul-Studien. Frankfurt a.M. 1989, S.51–71. Hasus wird im Original (Anon. [d.i. Johann Paul Friedrich Richter], Auswahl aus des Teufels Papieren. Nebst einem nötigen Aviso vom Juden Mendel, Gera 1789) auf der letzten unpaginierten Seite der Vorrede genannt, die vor dem Inhaltsverzeichnis angeordnet ist. Als weiterer Mitautor ist natürlich »Habermann« (ebd., S.21) zu berücksichtigen.

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antwortlich zeichnet,54 kann für die Grönländischen Prozesse nur der Satiriker Vult aus den Flegeljahren als Autor notiert werden. Dieser Umstand wird auch nur an einer einzigen Stelle im Roman erwähnt. Es ist eine Art Stegreifrede, in der Vult seinem Bruder Walt die genannte Publikation, ja man könnte fast sagen, gesteht: »Ich habe nämlich auf meinen Flötenreisen ein satirisches Werk in den Druck gegeben als Manuskript, die grönländischen Prozesse in zwei Bänden anno 1783 bei Voß und Sohn in Berlin« (I/2,666). Die korrekte bibliographische Angabe lässt keinen Zweifel zu: Es handelt sich um genau die Publikation, die bis jetzt lediglich Johann Paul Friedrich Richter zugeschrieben wurde. Obwohl Walt beim ersten Hören seinem Bruder spontan seine Reverenz erweist – »Ich erstaune ganz« –, kann Vult den Misserfolg des Unternehmens nicht verhehlen: Gepaart mit einer längeren Publikums- bzw. RezensentenBeschimpfung im Stile des alten Katzenberger (alles »Sünder«), bekennt er dem Bruder: »Ich würde dich inzwischen ohne Grund mit Lügen besetzen, wenn ich dir verkündigen wollte, die Bekanntmachung dieser Bände hätte etwan mich oder die Sachen selber im geringsten bekannt gemacht« (alle I/2,666). Das Geständnis, bereits ein literarisches Werk verfasst zu haben, ist im doppelten Sinne strategisch. Vult möchte zusammen mit seinem Bruder Walt einen »Doppel-Roman« (I/2,667) mit dem Titel »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) schreiben (nach kurzem Flirt mit dem Titel »Flegeljahre«; I/2,669) – und in diesem literarischen Machwerk soll der weichherzige und phantasiebegabte Walt den empfindsamen Part, Vult jedoch den satirischkomischen übernehmen: »Ich lache darin, du weinst dabei [...] – du bist der Evangelist, ich das Vieh dahinter – jeder hebt den anderen – alle Parteien werden befriedigt« (I/2,667). Oder anders ausgedrückt: »Ich respektiere alles, was zum Magen gehört, diese Montgolfiere des Menschen-Zentaurs; der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus« (I/2,670). Mit der Erwähnung einer bereits getätigten satirischen Publikation glaubt sich Vult für die angestrebte humoristische Rolle im Schreibprojekt – ähnlich wie Walt mit seinen Polymetern oder dem Prosatext »Glück eines schwedischen Pfarrers« (I/2,598) für die empfindsame – zur Genüge qualifiziert zu haben. ––––––– 54

Dieses selbstreflexive Moment in Jean Pauls Œuvre ist bisweilen mit Verwunderung bemerkt (z.B. Andrea Ring, Jenseits von Kuhschnappel. Individualität und Religion in Jean Pauls ›Siebenkäs‹. Eine systemtheoretische Analyse. Würzburg 2005, S.126), niemals aber genauer untersucht worden.

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Zugleich macht Vult jedoch deutlich, dass er eine Scharte auszuwetzen hat: Die Ungerechtigkeit der vollständigen Ignoranz, die seiner früh veröffentlichten Satirensammlung zuteil wurde, soll durch den erneuten Rückgriff auf die dort angewandten Techniken, nun aber in Verbindung mit einem zweiten Autor und dessen empfindsamer Schreibweise, ausgeglichen werden. Beiden Überlegungen liegt ein Kontinuitätsgedanke zugrunde: Vult behauptet mit seinem Publikationsgeständnis, der materialistisch-satirische Schriftsteller geblieben zu sein, der er – seit der Abfassung der Grönländischen Prozesse – immer schon war. Neu ist nur das Arrangement eines Doppelromans. Ansonsten gilt: Einmal Satiriker, immer Satiriker. Doch diese Gleichung stimmt nicht immer, zumindest nicht im Hinblick auf Jean Pauls zweite Satirensammlung: Die Auswahl aus des Teufels Papieren. Wie schon – in der ersten Studie – für den Kandidaten Richter gezeigt wurde (und für Siebenkäs noch zu zeigen sein wird), handelt es sich bei deren ›Autoren‹ vielmehr um Figuren, die justament während oder kurz nach der Abfassung der Sammlung vom satirischen Erzähler zum, freilich satireaffinen, empfindsamen Erzähler mutieren. Siebenkäs als Autor der Teufelspapiere Am ausführlichsten wird die hier thematisierte retrospektive Autorschaftszuschreibung für die Teufelspapiere im Siebenkäs entfaltet. Es gibt eine ganze Menge an Gründen, warum dessen Protagonist die Satiresammlung geschrieben haben könnte. Der erste Grund ist materieller Natur: Der Advokat hat bekanntlich ein Geldproblem und hofft über die Schriftstellerei einen »Ehrensold« (I/2,154) bzw. ein »Brotkorb mit Fruchtkörbchen« zu erlangen – so lautet zumindest seine eigene Erklärung.55 Und daher beschließt er, die bzw., wie der Erzähler listig formuliert, »eine Auswahl aus des Teufels Papieren zu schreiben«. Wie im Falle von Vults Autorschaftszuschreibung bei den Grönländischen Prozesse wird auch diese Behauptung bibliographisch konkretisiert: »Das Buch kam 1789 in der Beckmannschen Buchhandlung in Gera [...] heraus« (I/2,81; Herv. d. Verf.). Am selben Ort und zur selben Zeit also wie die Teufelspapiere Jean Pauls. Dass man mit Büchern wirklich Geld verdienen könne, versteht Siebenkäs’ Frau Lenette nicht, weil sie die Materialität des Buches höher als seinen geistigen Inhalt schätzt und glaubt, »dem Setzer gehöre fast mehr als dem ––––––– 55

Elsbeth Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische GeschlechterWerkstatt. Freiburg i.Br. 1999, S.244ff., kann hingegen zeigen, dass Siebenkäs nicht schreibt, weil er verarmt, sondern verarmt, weil er schreibt.

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Schreiber« (I/2,82). Kein Zufall also, dass Siebenkäs in seinen teuflischen Satiren vordringlich zum Angriff auf Frauen wie Lenette bläst, insbesondere wenn sie die »Demarkationslinie« (I/2,99) zwischen Stube und Arbeitszimmer nicht einhalten und den Autor durch die lautstarke »Höllenpein« (I/2,157) der Hausarbeit – und zwar immer gerade dann, wenn der »an des Teufels Papieren schrieb« bzw. schreiben wollte – völlig »irre im Denken« (I/2,154) werden lassen. Heraus kommen dabei die »schwersten und bittersten Satiren gegen die Weiber«, die, wie der Erzähler präzisierend hinzufügt, »gutgemeinte Biographie einer neuen, angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich erfunden und geheiratet« im Original der »Teufels Papiere S. 427« (I/2,336).56 Oder das »Extrablättchen über das Reden der Weiber« (I/2,186), dem ebenfalls im Roman (in diesem Falle fälschlicherweise) die originäre Abstammung aus den Teufelspapieren bescheinigt wird (I/2,189). Oder die »dritte[] Satire von den fünf Ungeheuern und ihren Behältnissen, wovon ich mich anfangs nähren wollen’ (in der gedruckten Ausgabe S. 46)« (I/2,157).57 Für all diese Texte gilt, dass »Lenette« auf sie deutlich »eingewirkt« hat (I/2,336). Das ist also der zweite Grund für Siebenkäs, die Teufelspapiere zu schreiben: Wer den Schaden einer Frau wie Lenette hat, sollte, bevor es andere tun, selbst für den Spott der dazugehörigen Satiren sorgen. Genau an diesem Punkt, also dem satirischen Abarbeiten am weiblichen Geschlecht, bleibt die teuflisch-papierne Arbeit Siebenkäs’ dann aber auch stecken. In dem Augenblick, da Firmian sich Bayreuth und damit auch Natalie zuwendet, muss er keine komische Kompensation seines unglücklichen Ehezustandes mehr leisten – und unterlässt dies dann auch. Kurz vor seiner Reise nach Bayreuth gesteht Siebenkäs seinem Freund Leibgeber brieflich, dass er von seiner »Auswahl aus des Teufels Papieren« nur die Passagen »(inclus.) bis zur Satire über die Weiber«, nicht jedoch alle darüber hinausgehenden Passagen, »ins Reine« geschrieben (I/2,352) habe. Beim Rest handelt es sich im Übrigen mitnichten um vollständige ausformulierte Texte, die lediglich auf eine letzte Abschrift warten würden: Siebenkäs schloss, schreibt der Erzähler, diesen Umstand präzisierend, »sein Abendblatt (wie er sein Tagebuch nannte, weil er abends daran schrieb), um dasselbe und seine Teufels-Papiere – so weit sie fertig waren – [...] nach Baireuth in Leibgebers treueste Hände zu bringen« (I/2,351). »Soweit sie fertig waren« – die Satiren sind also noch nicht abgeschlossen, während Siebenkäs an das Abendblatt »letzte Hand« angelegt hat (I/2,352). Dennoch ermächtigt er seine Nach––––––– 56 57

Die Seitenangabe ist korrekt. Die Seitenangabe ist korrekt.

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welt (er selbst glaubt ja bald zu sterben), die beiden Texte – soweit sie eben jeweils sind – »drucken zu lassen« bzw. »zum Druck [zu] befördern« (I/2,352). Wie steht nun Leibgeber, an den die Publikationsaufforderung natürlich gerichtet ist, zu Siebenkäs’ satirischen Schreibversuchen, die ihm per Post zugehen? Er ist, wie nicht anders zu erwarten, von den Teufelspapieren, trotz ihrer Unvollständigkeit, stehend begeistert und spart nicht mit lobenden Adjektiven: »göttlich«, »himmlisch« etc. Vor allem aber zeigt er sich darüber verwundert, wie Siebenkäs in einem »Kleinstädtchen« wie Kuhschnappel zu Satiren dieser »Kunstfreiheit und Reinheit« hat emporsteigen können (I/2,368). Leibgeber lobt die Satirensammlung natürlich auch deswegen so ausführlich, damit die Kritik am Abendblatt, welches ihm Siebenkäs mit der gleichen Post geschickt hat, umso deutlicher hervorscheint. Es leuchtet ein, dass er für diesen Text, in dem sich Siebenkäs weniger als satirischer denn als spiritualistisch-empfindsamer Autor mit Hang zum Glauben an Seele und Unsterblichkeit zu erkennen gibt,58 nicht viel übrig hat: »Dein Abendblatt enthält schon mehr von Krankheitmaterie« (ebd.). »Krankheitmaterie« – Leibgeber bezieht sich mit diesem Begriff auf Siebenkäs’ Begleitbrief zu erwähnter postalischer Sendung. Dort hatte sich der Absender nämlich der Krankheit der »Empfindelei« bezichtigt. Das Problem an dieser Malaise sei, so Siebenkäs weiter, dass es gegen sie kein Heilmittel gäbe: Aus dem »satirische[n] Glaubersalz«, das er dagegen einnehme, ziehe er keinen »merklichen Vorteil« (I/2,353). Siebenkäs glaubt bzw. glaubte also, dass das Abfassen der satirischen Teufelspapiere eine Kur gegen seine melancholisch-empfindsame Einstellung sei, also die Vorstellung, dass sein Leben bald vorbei, sein Leib bald verfliegen werde etc. Diese Kur hat offensichtlich nicht gewirkt, wobei Siebenkäs es offen lässt, ob dies an der Schwere der Krankheit oder an der gewählten Therapieform lag. Der Erzähler sieht – darauf wird zurückzukommen sein – die Ursache/Wirkungs-Relation im Übrigen genau umgekehrt. Er diagnostiziert bei Siebenkäs einen »schriftstellerischen Taumel« bei der Abfassung der »Auswahl aus den Papieren des Teufels«. »Dadurch«, also durch »unmäßige Freigebigkeit gegen die gelehrte Welt«, schrieb sich Siebenkäs, so der Erzähler, erst das »Übel an den Hals« (I/2,304). Es waren also, seiner Meinung zufolge, die Satiren – und nur sie –, die Siebenkäs so empfindlich krank gemacht haben. Ohne es wahrscheinlich zu wollen (oder wollen zu scheinen) kommt der Erzähler damit mit Leibgeber überein. Dieser hatte ja nicht geschrieben, dass nur das Abendblatt Krankheitmaterie, sondern dass das Abendblatt »mehr ––––––– 58

Zu dieser Debatte vgl. auch Ring, Jenseits [Anm.54], S.131f.

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[...] Krankheitmaterie« als die Teufelpapiere beinhalte. Auch aus Leibgebers Perspektive steckt also in Siebenkäs’ Teufelspapieren – der Ausdruck ist ja schon analytisch gegeben – eine »materia peccans« (I/1,301). Warum Leibgeber die Teufelspapiere höher schätzt als das Abendblatt, liegt auf der Hand: Er selbst schreibt auch Satiren – und zwar solche, die denen Siebenkäs’ um ein Haar gleichen. Das jedenfalls behauptet wiederum Natalie, die, obwohl wie Siebenkäs zur Empfindsamkeit neigend, ebenfalls satirisch schreiben und satirisch Geschriebenes goutieren kann. Daher hat Leibgeber sie auch bereits mit den Teufelspapieren versorgt, sozusagen als postalischen Vorboten für ihren Autor: Beide fanden Natalie oben im offenen Tempelchen mit einigen Papieren in der Hand. ›Hier bring’ ich‹, sagte Leibgeber, ›unsern Verfasser der Auswahl aus des Teufels Papieren – die Sie ja gerade, wie ich sehe, lesen – und stell’ ihn hier vor.‹ – Nach einem flüchtigen Erröten über ihre Verwechslung Firmians mit Leibgeber in Fantaisie sagte sie recht freundlich zu Siebenkäs: ›Es fehlt nicht viel, Hr. Advokat, so verwechsle ich Sie wieder, und zwar geistlicherweise mit Ihrem Freunde; Ihre Satiren klingen oft ganz wie seine; nur die ernsthaften Anhänge, die ich eben lese und die mir recht gefallen, schien er mir nicht gemacht zu haben.‹ (I/2,375f.)

Beschrieben wird in diesem Zitat Nataliens zweifache Verwechslung der zwillingsähnlichen Freunde Siebenkäs und Leibgeber: physiognomisch und von der Physiognomie der Schreibweise her. So wie Leibgeber sich fast nur durch sein Hinken von Siebenkäs unterscheidet, so gibt es, symmetrisch gedacht, auch einen Pferdefuß in Siebenkäs’ Schriften, der eine Differenz gegenüber den Texten seines Freundes deutlich macht, nämlich die »ernsthaften Anhänge« in den Teufelspapieren. Für den Fall, dass dem Leser nicht klar sein sollte, was damit gemeint ist, konkretisiert der Erzähler Johann Paul Friedr. Richter, dass es sich dabei um die »Poetisch-philosophische[n] Kapitel in der [...] Auswahl« (I/2,376) handelt.59 Der Hinweis Nataliens auf die Anhänge der Teufelspapiere ist aussagekräftig, weil dadurch deutlich wird, wieso Firmian als der Autor einer mehrheitlich kynisch-materialistisch argumentierenden und satirisch geschriebenen Textsammlung zugleich in der Lage ist, das Abendblatt – also einen durchweg spiritualistisch-empfindsamen – Text zu verfassen. Die philosophischen Anhänge, die ihrerseits spiritualistisch argumentieren und einen empfindsamen Schreibgestus zum Ausdruck bringen, haben also eine Art Brückenfunktion zwischen den beiden Textsorten inne. Neben und in den mehrheitlich satirischen Teufelspapieren scheint sich also bei Siebenkäs eine neue ––––––– 59

Gemeint ist z.B. der »Ernsthafte[] Anhang, / In den ich gegen das Ende einen poetischen gemischt habe« (II/2,371) oder der »Ernsthafte[] Anhang / Ueber die Tugend« (II/2,242).

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Denk- und Schreibweise anzukündigen, die zur ursprünglichen in Konkurrenz tritt, aber publikatorisch noch (und neben bei gesagt: bald wieder) mit ihr koexistieren kann. Der Erzähler behauptet sogar, dass sich das Empfindsame in Siebenkäs’ Schreibweise, zumindest für Kenner wie ihn, sozusagen unter der satirischen Oberfläche der Teufelspapiere erahnen ließe. Hinter dem »Extrablättchen über das Reden der Weiber« (I/2,186) rückt genannter Erzähler nämlich eine Fußnote ein und behauptet, dass zwar die ganze »›Auswahl aus des Teufels Papieren‹ [...] in jenem Tone geschrieben« sei wie die zitierte Satire. Dies sei jedoch lediglich einer poetischen Regel geschuldet, die, ungeachtet der individuellen auktorialen Einstellung, eingehalten werden musste: »Die ScheinHärte desselben, die sich gegen ganze Stände und Geschlechter richtet, war bloß die ästhetische Bedingung einer rein durchgeführten Satire« (I/2,189). Diesen Gedanken beschwört der Erzähler immer wieder: Es ärgert mich, wenn ichs dem Leser nicht beibringen kann, daß der Advokat diesen bittern Brief ohne die geringste Bitterkeit der Seele hinschrieb. [...] Ich berufe mich auf seine Auswahl aus den Papieren des Teufels, deren satirische Giftblasen und Giftstacheln nur in seinem Dintenfasse und in seiner Schreibfeder, d.h. in seinem Kopfe, aber nicht in seinem Herzen waren (I/2,115).

Die Entwicklung der empfindsamen Schreibweise findet also nicht nur neben, sondern auch in den satirischen Texten statt. Anscheinend, behauptet jedenfalls der Erzähler, verspürt Siebenkäs bei der Abfassung rein-satirischer Texte das Gefühl einer gewissen Inkongruenz des Geschriebenen zu seiner eigentlichen Einstellung, die eine solche »Härte« eigentlich nicht kennt. Diese Inkongruenz – Giftblasen in der »Schreibfeder«, nicht aber im »Herzen« – mag eine grundsätzliche Eigenschaft des gesamten Jean Paulschen SatireKonzeptes sein. Fest steht jedoch, dass Firmian als der Autor der Teufelspapiere aus diesem Inkongruenzgefühl die notwendige Konsequenz zieht und im Abendblatt über die Satire als Schreib- und Denkweise hinausgeht, um zu einer authentischeren Form der Selbstmitteilung zu gelangen. Der Erzähler als zweiter Siebenkäs Das jedenfalls ist die Meinung des Erzählers des Siebenkäs. Man sollte nämlich nicht vergessen, dass er es war, der seinem Protagonisten die Autorschaft der Teufelspapiere zugeschrieben hatte – und zwar mit den entschuldigenden Argumenten ›Er war jung und brauchte das Geld‹ bzw. ›Er hatte eine Frau, die nichts anderes verdiente‹. Es war weiterhin der Erzähler, der die satirische Schreibweise als primär technisch und damit nicht authentisch abgewer-

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tet hatte. Und es war schließlich der Erzähler, der Siebenkäs’ – in den Teufelspapieren beginnende – Entwicklung hin zur spiritualistischen Philosophie und empfindsamen Schreibweise als geradezu notwendig gekennzeichnet hatte. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Dieser Erzähler behauptet nämlich von sich ganz genau das Gleiche. Sein empfindsamer Protagonist ist – in diesem Zusammenhang – nicht anderes als die beredte und beschriebene Reflexionsfigur seiner eigenen philosophisch-literarischen Entwicklung und jetzigen Position. Diese Gleichsetzung beginnt damit, dass der Erzähler Siebenkäs’ Entschluss, die Teufelspapiere zu schreiben, mit seinem eigenen literarischen Text, nämlich dem vorliegenden Roman gleichen Namens, in Verbindung bringt. Sein Protagonist versuche, so der Kommentar, gerade »das zu machen, was ich hier mache«, nämlich ein Buch, »obwohl ein satirisches« (I/2,81). »Obwohl ein satirisches« – der Erzähler analogisiert also seine und Siebenkäs’ Schreibtätigkeit; allerdings behauptet er von seinem Protagonisten, dass der sich noch auf einer anderen Entwicklungsstufe befindet. Siebenkäs schreibt – noch – satirische Texte. Das hat der Erzähler nämlich früher auch getan. Angesichts des vorhin erwähnten Lobes Leibgebers, dass Siebenkäs trotz der kleinstädtischen Atmosphäre in Kuhschnappel eine hohe »Kunstfreiheit und Reinheit« der Satiren erreicht habe, fügt der Erzähler, das Lob unterstützend, hinzu: Und in der Tat hab’ ich wohl selber, wenn ich die Auswahl aus des Teufels Papieren las, zuweilen gesagt: ich hätte nicht einmal in Hof im Voigtland, wo ich sonst manches scherzend geschrieben, dergleichen machen können (I/2, 368).

Zieht man die kokette Untertreibung der eigenen Leistungen ab, bleibt eine Gleichsetzung übrig: Siebenkäs und der Erzähler schrieben Satiren – und zwar nicht nur weil sie jung waren und das Geld brauchten (und eine Frau an ihrer Seite hatten, die nichts anderes verdiente), sondern obwohl oder vielleicht ja auch weil sie sich in klein- und kleinstbürgerlicher Enge befanden. Aber natürlich war die Satire nicht nur für Siebenkäs, sondern auch für den Erzähler der falsche Weg aus den genannten beengenden Verhältnissen. Seine vorhin erwähnte Diagnose, dass für Siebenkäs das satirische Schreiben nicht die Kur, sondern vielmehr die Krankheit bzw. die Ursache für seine Krankheit war, bezieht der Erzähler nämlich gleichermaßen auf sich. Durch seine satirische Arbeit, fährt er fort, »schrieb« sich Siebenkäs »ein Übel an den Hals, das der gegenwärtige Verfasser wahrscheinlich auf keine andre Art geholt« hat (I/2,304). In einer Fußnote präzisiert sich der Erzähler noch einmal und nennt seinen Helden und sich die ersten und einzigen Träger dieser

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genuin literarischen Krankheit: Sie leiden nämlich am »Siebenkäsischen oder J. Pauls-Schlagfluß« (I/2,305). Und somit gilt für ihn, den Erzähler, in Bezug auf die Teufelspapiere, was bereits für Vult und die Grönländischen Prozesse gesagt wurde: In Sachen Satiren ist noch eine Scharte auszuwetzen. Auch Johann Paul Friedr. Richter hat nämlich ebenfalls nicht vergessen, dass seine Teufelspapiere nur als »Makulatur«, nicht jedoch als gedruckte Exemplare im Verkauf »reißend abgegangen[]« sind (I/2,376). Daher sieht er auch den Siebenkäs (wie Vult den »Hoppelpoppel«) als Versuch an, diese schmerzliche Niederlage wieder wett zu machen. Nur hat er eine andere Konsequenz aus der Vergangenheit gezogen als Vult. Statt sich als Satiriker hinter der Empfindsamkeit eines Walt zu verstecken, vertritt er offen ein rein-empfindsames Konzept und reflektiert an der Figur des Siebenkäs, wie er dieses aus der Satire entwickelt hat bzw. notwendigerweise entwickeln musste. Daraus erhellt, dass der Erzähler über die retrospektive Interpretation der Satiren so etwas wie eine Deutungshoheit über den Siebenkäs – und letztlich über alle bürgerlichen Romane – beansprucht: Wenn in den Teufelspapieren eine unumgängliche Überwindung des technisch-satirischen Schreibweise hin zur authentisch-empfindsamen erfolgte, dann gilt dies a fortiori für den Siebenkäs, der ja in der skizzierten Entwicklung noch weiter fortgeschritten ist: Die empfindsame Schreibweise hat also, entsprechend dieser Position, im Jean Paulschen Doppelroman das Prä, die satirische wird hingegen als genetischer Rest abqualifiziert. Streit ums Erbe: Die richtige ›Teufels-Papiere-Manier‹ Ich habe in der ersten Studie ausgeführt (s. S.57ff.), dass Worble als VollblutSatiriker und der Kandidat Richter als Ex-Satiriker und jetziger Empfindsamer trotz hoher wechselseitiger Affinität eine Art Wettkampf um das Erbe der Teufelspapiere, die richtige »Teufels-Papiere-Manier«, aufführen. Die Frage, die sich nun stellt, ist die, ob Leibgeber – aus dem Siebenkäs – ebenfalls auf eine originale, also rein-satirische, »Teufels-Papiere-Manier« besteht. In diesem Falle würde er sich damit in eine direkte Opposition zu seinem Freund Siebenkäs und vor allem zu dem sich als empfindsam charakterisierenden Siebenkäs-Erzähler Johann Paul Friedr. Richter setzen. Ich denke, es gibt für diese Vermutung einen entscheidenden Hinweis – und das ist die zweite Hälfte der Teufelspapiere. Wie vorhin ausgeführt, betont der Roman ausdrücklich, dass Siebenkäs nur die erste Hälfte in Reinschrift gebracht und die zweite Hälfte noch nicht »fertig« gestellt habe (s.o.).

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Da der Siebenkäs-Erzähler wiederum zu Protokoll gibt, dass der Band – und zwar als ganzes – bereits vor Jahren herausgekommen ist, stellt sich nun die Frage, wer die zweite Hälfte geschrieben hat. Oder genauer: Ob Leibgeber, bevor er die Papiere zum Druck gegeben hat, bei der Abschrift der ins Unreine geschriebenen Passagen (die damit gegen den Willen seines Freundes Siebenkäs erfolgte) die empfindsame Handschrift seines Freundes, die unter der satirischen durchschaute, wiederum satirisch eingefärbt hat. Eine solche Lesart wird plausibel, wenn man berücksichtigt, dass bei genaueren Hinsehen nicht einmal klar ist, wer die erste Hälfte geschrieben hat, da die beiden Autoren zwei Mal Namen und Identität getauscht haben. Dieses Verwirrspiel wirkt sich auch auf die Teufelspapiere und ihr intrikates Auktorialitätsproblem aus. Deutlich wird dies spätestens, wenn Siebenkäs »seine Auswahl aus des Teufels Papieren« dem Grafen von Vaduz vorlegt und betont, dass er sie gemacht hat. Er fügt, für sich selbst, hinzu: »›Ich täusch’ ihn damit nicht im geringsten,‹ dacht’ er, ›ob er sie gleich Leibgebern zuschreibt; denn ich heiße jetzo eben nicht anders.‹« (I/2,546) Die hier behauptete Unkenntlichkeit des Autors in Bezug auf die Teufelspapiere – ist es der empfindsame Siebenkäs, der ehemals Leibgeber hieß und jetzt wieder so heißt, oder ist es der Satiriker Leibgeber, der ehemals Siebenkäs hieß und in diesem/dessen Namen die angeblich zur Empfindsamkeit tendieren Satiren fertigstellt – wird ja bereits in der Satirensammlung selbst vorbereitet. Man denke an das »Nöthige Aviso vom Juden Mendel«, in dem der Teufel als ein Zweit-Autor ausgewiesen wird, der ernsthafte und empfindsame Texte blitzschnell in ihr Gegenteil zu verkehren weiß: Aber der Teufel ist zu Nachts in den guten Körper meines Schuldners wie in eine Schreibmaschine gefahren und ist während die Seele im Himmel die besten Sachen und ihre eigne Lebensbeschreibung abfaste, mit dem Körper oft bis der Nachtwächter abdankte aufgesessen [...] und hat im Namen und mit der Hand des Verstorbnen Sachen hingeschrieben, die nun natürlich aus der Presse kommen und in denen er spashafterweise alle Menschen und einige Teufel und sich selbst angreift und rauft (II/2,113f.).60

Auf die teuflische Doppel- und Zweitautorschaft verweist ja auch der Titel: Auswahl aus des Teufels Papieren. Wer ist bei einem solchen Text eigentlich der Autor? Der Teufel, um dessen Papiere es sich handelt, derjenige, der die Auswahl getroffen hat, oder gar ein Dritter, der die Papiere geschrieben hat, ––––––– 60

Vgl. hierzu auch Burkhardt Lindner, Jean Paul als J.P.F. Hasus. Verinnerlichung der Aufklärungssatire und auktoriale Selbstdarstellung im Frühwerk, in: Jean Paul, hrsg. von Uwe Schweikert. Darmstadt 1974, S.411–450, S.418f.

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die dem Teufel gehören und die jemand anderes herausgeben hat? Wenn es – was am wahrscheinlichsten ist – in der ursprünglichen Satirensammlung der Teufel war, dann ist es im Siebenkäs-Szenario natürlich Leibgeber, von dem ja im Text gesagt wird, dass er sich, physiognomisch gesehen, nur durch eine einzige Eigenschaft von Siebenkäs unterscheidet. Er zieht ein Bein hinter sich her und stellt damit einen »hinkenden Teufel« (I/2,544) dar. Wer schrieb Jean Pauls Satiren? Daraus erhellt, dass die Frage, wer Jean Pauls Satiren, insbesondere die Teufelspapiere schrieb, in den bürgerlichen Romanen letztlich in der Schwebe gehalten wird, da es Hinweise auf zwei Autoren bzw. Autorenkollektive gibt. Waren es die zur Empfindsamkeit tendierenden Herren Siebenkäs, Walt und Kandidat Richter? Das behauptet der empfindsame Erzählertyp, wie er z.B. im Siebenkäs zu finden ist. Und damit beansprucht er, wie gesagt, eine empfindsame Interpretationshoheit über die gesamten bürgerlichen Romane qua Genese-Argument. Oder waren es die Satiriker Leibgeber, Vult und Worble, die letzte Hand an die Manuskripte der Teufelspapiere (der Grönländischen Prozesse sowieso) gelegt haben? Sie hätten sich – würde dies zutreffen – allerdings nicht damit begnügt, die empfindsamen Elemente des Textes zu eliminieren, das wäre viel zu einfach. Vielmehr hätten sie es darauf angelegt, die als empfindsam behauptete Entwicklung in der Jean Paulschen Schreibweise auszuführen bzw. von empfindsamen Figuren wie dem Siebenkäs-Erzähler ausführen zu lassen, um diese dann, in einem zweiten Schritt, satirisch zu unterlaufen. Ein Satiriker macht sich nämlich über nichts lieber lustig als über Menschen, die behaupten, der Satire auf ernsthafte Weise entkommen zu sein. Und auch hier gilt, dass die Interpretation der Satiren qua GeneseArgument zugleich eine Hoheitsbehauptung für die Interpretation der Romane darstellt. Denn wenn die Satiren eine Genese schildern, die die bürgerlichen Romane prägt – und diese Genese nur scheinbar die empfindsame Überwindung der Satire beschreibt, in Wirklichkeit jedoch die Empfindsamkeitsbehauptung als satirische Strategie ausweist, dann gilt dies eben auch für die Romane. Da mag der Siebenkäs-Erzähler Johann Paul Friedr. Richter noch so sehr die empfindsame Seite seines Erzählens herausheben: Nie kann er sicher sein, dass nicht auch ein Leibgeber neben, nach oder statt ihm am Stehpult steht und den entstehenden Text mit ein paar wenigen Federstrichen in sein satirisches Gegenteil verkehrt.

SONJA BÖNI

»GEDANKEN MIT TAUSEND SCHIMMERECKEN.« Ikonische Reflexionen in Jean Pauls satirischen Wort-Irrgärten

In der satirischen Skizze Über die Schriftstellerei. Ein Opusculum posthumum führt das Autor-Ich an, Dichter müssten – wann immer ihnen ihr »dichterisches Feuer« abhanden komme – ihrer Phantasie mit künstlichen Reizungen auf die Sprünge helfen. Der Wein beispielsweise sei ein Meister darin, temporär gelähmte Schöpferkräfte zu reaktivieren, um dadurch des Poeten Feder zu befähigen, so »manchen gereimten Unsin« auszuspucken (II/1,381). Im Dichterkopf spiele sich dabei Folgendes ab: [A]us allen Winkeln des Gehirns kriechen verborgene Einfälle hervor, jede Ähnlichkeit, jede die Stammutter einer Familie von Metaphern, samlet ihre unähnlichen Kinder um sich, und gleich einer wandernden Mäusefamilie, hängt sich ein Bild an den Schwanz des andern; – alle Saiten des hohlen Kopfes tönen zu einem gleichzeitigen Misklang, das Gedächtnis wirft seine gestohlnen Schäze aus, und wie Heu durch die Nässe, erhizt sich der zusammengeraubte Haufen von verwelkten Blumen durch das Getränke. Nur auf diese Weise kann der Parnas mit einem Bedlam weteifern, nur durch das Einsaugen einer solchen Lauge kann der Unsin zu einer pindarischen Höhe aufschiessen. (Ebd.)

Damit – so scheint mir – ist die Leseerfahrung, die jeden Rezipienten bei der Lektüre Jean Paulscher Satiren ereilt, treffend umrissen: Aus dem Gedächtnis geworfene, sich zu einem Missklang vereinende Ideen entäußern sich in monströsen, sperrigen Satzstrukturen. Diese »Worturwälder und Assoziationswildnisse« 1 sind das Resultat von Jean Pauls Auseinandersetzung mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen, die er aufgreift, um sie in satirische Modellgeschichten, in satirische Bilderwelten zu übersetzen. Dabei gehen die Bilder nicht darin auf, Illustrationen von Wissen zu sein – ihnen liegt vielmehr ein eigener Bestimmungsraum zugrunde, in welchem sie wissenschaftlich errungene Erkenntnisse aus deren wissenschaftsgeschichtlichem Kontext lösen und sie ikonisch weiterdenken. Ich werde am Beispiel der Satire Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und ––––––– 1

Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter: Eine Biographie. 6.Aufl. Frankfurt a.M. 2004, S.66.

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geheirathet (II/2,393–422) Jean Pauls Auseinandersetzung mit Descartes’ Theorie des Substanzendualismus sowie der Frage nach dem commercium mentis et corporis, die sich daraus ergibt, nachspüren. Nach einer kurzen Skizzierung des Commercium-Problems sowie Descartes’ Lösungsvorschlag für dasselbe arbeite ich vor allem anhand eines exemplarischen CloseReadings Jean Pauls spezifischen, poetologisch-ikonischen Umgang mit der Debatte heraus. Commercium-Debatte – Descartes’ Antwort Mit seiner Begründung der dualistischen Metaphysik teilt René Descartes die Welt in ausschliesslich zwei Arten von Substanzen ein: in die res cogitans (der Geist/die Seele/der Verstand) und die res extensa (die Materie/der Körper). Ihm zufolge stellen die beiden Substanzen dabei zwei gegensätzliche und inkommensurable Realitäten dar, zwischen denen es keine Gemeinsamkeit gibt: Die res cogitans wird als eine rein geistige Substanz ohne Ausdehnung vorstellig; die res extensa dagegen als eine ausgedehnte Substanz ohne Vergeistigung.2 Erwies sich diese radikale Trennung von Geist und Materie ––––––– 2

Descartes entflicht die in der alten Physiologie postulierte Einheit von Leben und Seele, indem er Materie als Bewegung und Gestalt kleinster Partikel beschreibt. Diese – und nicht die ›facultates animae‹, welche man bis ins 17. Jh. hinein dafür verantwortlich machte, Lebensvorgänge nicht nur zu steuern, sondern allererst in Gang zu setzen –, zeichneten für sämtliche charakteristische Eigenschaften aller Erscheinungen der Natur verantwortlich. Descartes bricht mit der Lehre, es sei eine Seele notwendig, einen Leib zu beleben. So führt er beispielsweise in Über den Menschen an: »[Man] bedenke, daß die Funktionen in dieser Maschine alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen. Daher ist es in keiner Weise erforderlich, hier für diese (die Maschine) eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Bewegungs- und Lebensprinzip anzunehmen als ihr Blut und ihre Spiritus, die durch die Hitze des Feuers bewegt werden, das dauernd in ihrem Herzen brennt und das keine andere Natur besitzt als alle Feuer, die sich in unbeseelten Körpern befinden« (René Descartes, Über den Menschen (1632) sowie Beschreibung des menschlichen Körpers (1648), übers. von Karl E. Rothschuh. Heidelberg 1969, S.136). Indem Descartes den Ablauf menschlicher Körperfunktionen folglich mechanisch erklärt, setzt er den Körper in dessen Funktionsweise anorganischen Naturerscheinungen gleich. Wie alle Materie stellt der menschliche Körper, diese »Maschine der Glieder« (René Descartes, Meditationen, übers. von Andreas Schmidt. Göttingen 2004, S.75), eine res extensa, ein ausgedehntes Ding, dar (ebd., S.269). Die Seele dagegen, die es von der materiellen Substanz ganz und gar zu unterscheiden gilt, habe »von Natur keinen Teil an der Ausdehnung oder den Dimensionen oder den anderen Eigenschaften der Materie, woraus der Körper besteht« (René Descartes, Über die Leidenschaften der Seele, übers. von Artur Buchenau. 3. Aufl. Leipzig 1911, S.17). Das sie auszeichnende Merkmal ist das Denken, »das heißt Geist, Seele, Verstand oder Vernunft« (Descartes, Meditationen [Anm.2], S.77).

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vor allem für die Naturwissenschaftler als äußerst produktiv, da sie die Materie nun als Entität frei von psychischen Qualitäten oder geistigen Werten behandeln konnten, sehen sie sich zusammen mit den Philosophen vor das Problem gestellt, den Menschen als offensichtliche leib-seelische Einheit erklären zu müssen. Es stellt sich nämlich die Frage nach dem commercium mentis et corporis, die Frage, inwiefern Körper und Geist in dem ens mixtum Mensch miteinander interferieren. Wie ist es möglich, dass der Mensch – bei postulierter völliger Trennung von Materie und Geist – den Zustand seiner res extensa, seines Körpers, modifizieren kann, wann immer seine res cogitans, sein Geist, dies will? Descartes selbst geht von einem physischen Ort im menschlichen Körper aus, an dem der Kontakt zwischen Körper und Geist realisiert und damit der Austausch von Informationen zwischen ihnen gewährleistet wird. Diese Schnittstelle lokalisiert er in einer kleinen Drüse, der Zirbeldrüse, die sich im mittleren hinteren Teil der Gehirnsubstanz befindet. Als einziges Organ des Gehirns findet sich diese Drüse nur einmal – alle anderen Hirnstrukturen sind paarweise vorhanden und spiegelbildlich auf der rechten und linken Hirnhälfte verteilt. Das Gehirn selbst stellt sich Descartes in Gestalt einer Höhle vor, die mit einer flüssigen Materie gefüllt und nach außen hin von der Hirnrinde begrenzt ist. Ins Rückenmark eingelassen interpretiert die Zirbeldrüse nun, indem sie in winzigen Schwingungen frei oszilliert, Sinnesinformationen, anhand derer sie den Gliedern entsprechende Befehle erteilt. Der Geist interagiert mit dem Körper über einen Informationsaustauschprozess zwischen der Drüse und der Hirnrinde. ›Physiologisches Denken‹ ereignet sich, wenn die von der Zirbeldrüse aufgenommenen Eindrücke an die Nervenenden in der Hirnrinde übertragen werden.3 Holzfrau: Commercium In Jean Pauls Einfältiger Biographie schwärmt ein Autor-Ich von seiner angenehmen und guten Ehefrau – die es vor allem deshalb für angenehm und gut befindet, da es sie selbst gemacht hat: Die Frau besteht nämlich »aus bloßem Holz« (II/2,394), aus purer Materie. Um auch anderen Männern die Möglichkeit zu bieten, in den Besitz einer solch außergewöhnlich liebreizenden Frau zu gelangen, teilt es ihnen mit, wie es sie hergestellt hat. Zum Rumpf derselben diente ihm ein faules Stück Holz einer alten Mosesfigur. ––––––– 3

Descartes, Über die Leidenschaften der Seele [Anm.2], S.17–19; Descartes, Über den Menschen [Anm.2], S.57, 100–105, 112–118.

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Deren morschen Kopf habe es aber nicht mit übernommen, da »der Kopf einer Dame ein wesentlicher Theil derselben und eben so wol der Sitz ihrer [...] Seele sei« (II/2,395). So habe es seiner Frau einen Haubenkopf auf ihren Rumpf gesetzt, »der eine glückliche Physiognomie [hatte] und damit einigen Witz, ein wenig Nachdenken und andere Seelengaben [versprach]« (ebd.). Offensichtlich – soviel geht aus diesen einleitenden Anleitungsworten zur Herstellung einer angenehmen Ehefrau hervor – befindet es das Autor-Ich für wichtig nahe zu legen, dass seine Frau – obwohl aus morschem Holz bestehend4 –, ein Wesen aus Körper und Geist, also ein ens mixtum (ein Mensch) sei. Es misst der Auswahl ihres Kopfes deswegen einen so hohen Stellenwert bei, da dieser als Sitz ihrer Seele gilt. Damit spielt das Autor-Ich auf die Zirbeldrüse an und gibt zu erkennen, dass es sowohl mit der CommerciumDebatte wie auch mit Descartes’ Versuch, den Menschen als leib-seelische Einheit zu begründen, vertraut ist. Gleichwohl erachtet es die Ansicht, die Seele befinde sich im Kopf der Frauen, offenbar keineswegs für die alleingültige, wenn es im Folgesatz die Möglichkeit, der Sitz der Seele befinde sich in deren Bauch, für ebenso plausibel erklärt: [...] [Da] ich selbst in einem Buche aus der hiesigen Lesegesellschaft klare Beweise gelesen, daß der Kopf einer Dame ein wesentlicher Theil derselben und eben so wol der Sitz [...] ihrer Seele sei, – wiewol mans wieder aufgiebt, wenn man den H. Zechini zuletzt lieset, dem der Beweis leicht war, daß die Seele eines Fötus und seiner Mutter gar an Einem Orte sässen, so wie sein Körper – (ebd.).

Dass das Ich in seiner Meinung, wie ein commercium mentis et corporis zu denken und für seine Frau zu erlangen sei, durchaus nicht gefestigt ist, beweist schließlich auch seine Wahl des Haubenkopfes, für den es sich erst entschieden hat, nachdem es den sprechenden hölzernen Kopf des Backo nicht zu erwerben vermochte; sich nun aber vollkommen damit zufrieden gibt, dass die physiognomischen Strukturen des Haubenkopfes dessen Seelengaben (also die Fähigkeit zu sprechen, zu denken etc.) wenigstens erahnen lassen.

––––––– 4

Inwiefern die Tatsache, dass die Ehefrau aus Holz besteht, nicht unwesentlich zu sein scheint in Bezug auf die Art und Weise, wie sich die Einfältige Biographie mit der CommerciumDebatte auseinandersetzt, ist in Anm.9, S.90f. angedeutet.

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Holzfrau: res extensa Nach einer derartigen Etablierung des Commercium-Themas lässt das AutorIch aber keine Erörterung desselben folgen, sondern geht dazu über, seitenlang exklusiv vom Körper seiner Frau zu sprechen; womit es – statt deren leib-seelische Einheit zu ergründen – den Substanzendualismus, der (wie oben ausgeführt) von einer rigorosen Trennung von Körper und Geist ausgeht, stark macht.5 Befremdlich mutet außerdem an, dass es von allen Vorteilen, die es im Verlaufe der Satire erwähnt und als Gründe angibt, warum seine Holzfrau jeder lebendigen Frau vorzuziehen sei, die meisten von deren körperlichen Beschaffenheit herleitet. Neben der für die Frau zweifelhaft rühmlichen Tatsache, dass der Ehemann offenbar ihre Physis über ihren Intellekt stellt, muss den Leser außerdem stutzig machen, dass sich das Ich über die physischen Eigenschaften, die es zu loben vorgibt, de facto lustig macht. Angeblich die Schönheit seiner Gattin preisend, gesteht es frei heraus, bei deren Herstellung aus Geldmangel Waren zweiter Klasse verwendet zu haben. Obschon ihm folglich nach umfangreicher Lektüre der besten Poeten bekannt ist, wie die Körperteile einer Dame beschaffen sein müssen, um als schön zu gelten, verfährt das Ich mit den übrigen Gliedern, wie es mit dem Haubenkopf verfahren ist: Statt seiner Gattin beispielsweise goldene Haare anzusetzen, steckt es ihr lediglich goldene Haarnadeln ins Haar; anstatt Augen aus Achat oder Elfenbein erhält sie lediglich ein blau sowie ein schwarz eingefärbtes Silberauge (beide: II/2,396). Des Weiteren setzt es ihr nur schlechte Backenzähne ein (angeblich diejenigen, die der heiligen Apollonia der Legende zufolge im 3. Jh. ausgeschlagen wurden); verwendet für die Vorderzähne aber immerhin gebleichten Rindsknochen, da sie es sind, auf die die Rezensenten zuerst blickten (II/2,397). Mit der Bemerkung, es sei überzeugt, der Leser stelle sich seine Gattin schöner vor, als es sie beschrieben habe, sodass sich »ihr Bild [...] in seiner Phantasie ein wenig schöner als oben aus[nehme], und [...] sich vielleicht von der Gestalt einer lebendigen Pariserin, die eben aufgestanden noch nicht Toilette gemacht, eben nicht so weit mehr [entferne]« (II/2,398), rundet das Ich die fragwürdig anerkennende Schilderung des Aussehens seiner Frau ab – jedoch nicht, ohne sich sogleich in derselben Manier über die Vorteile, die eine hölzerne Gattin ihren Ehemännern beschert, auszulassen – nämlich: Eine Holzfrau koste ihren Gatten ––––––– 5

Mit seinem Vorgehen widerspiegelt das Autor-Ich Descartes Argumentationspraxis in Über den Menschen, in dem Letzterer festhält, es sei erforderlich, dass er »zuerst den Körper für sich und danach auch die Seele ebenso für sich beschreibe« (Descartes, Über den Menschen [Anm.2], S.43).

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erstens weit weniger als eine lebendige Frau, da sie – in Ermangelung eines Magens – nichts esse, und dadurch beständig dieselben Kleider zu tragen vermöge (II/2,399). Zweitens gelinge es ihr, ihren Mund unaufhörlich offen zu halten und freundlich zu lächeln; was bei lebendigen Damen Muskelkrämpfe verhinderten (II/2,397). Außerdem hielten ihre einmal aufgetragenen respektive an ihr angebrachten Reize (also Schminke und Schmuck) (beinahe) ein Leben lang und müssten nicht jeden Morgen erneuert werden (II/2,402). Holzfrau: res cogitans Nachdem es sich derart ausführlich der res extensa seiner Gattin gewidmet hat, greift das Ich unvermittelt die eingangs angesprochene CommerciumDebatte wieder auf, indem es dazu übergeht, die Existenz einer res cogitans im Körper seiner Holzfrau zu beweisen. Wenig überraschend fallen seine begründenden Ausführungen jedoch ebenso fadenscheinig, widersprüchlich und ihr (angebliches) Ziel verfehlend aus, wie dies zuvor mit denjenigen die vermeintlichen Vorzüge die Physis seiner Gattin betreffend der Fall gewesen ist. Ein Beispiel: Der Königsweg zum Beweis, dass in seiner Frau ein vernünftiger Geist wohne, führt für das Autor-Ich über die Identischsetzung derselben mit lebendigen Damen. Gelinge es ihm zu belegen, dass diese eine Seele haben, so sei es ein Leichtes, dasselbe für seine Frau zu folgern. Als erstes vergleicht es sodann die lebendigen Damen mit Blumen: Wenn jene wohlriechende Pomade wie diese Honig und Duft, und jene Puder wie diese Blütenstaub an ihrem Kopfe haben, so sei aufgrund dieser äußerlichen Analogie auch eine innere abzuleiten und in gleicher Weise Bonnets Postulat, »Blumen hätten vielleicht eine Seele« (II/2,406), auf die Damen mit zu übertragen. Wenn man weiter mit Helmont (einem flämischen Universalwissenschaftler, der als Naturforscher, Arzt und Chemiker tätig war) annähme, die Seelen seien bloße Lichter, und man zu Beginn seiner Ausführungen erfahren hat, wie der morsche Holzkopf der Mosesfigur gestrahlt und geleuchtet habe, so könne man schwerlich bestreiten, dass sich im hölzernen Körper seiner Frau eine Seele befinde. Wenn man außerdem Platons Aussage Glauben schenke, männliche Seelen [würden] zur Strafe in weibliche Körper gesenkt [...]; wenn aber ferner die lebendige [sic] Schönen, wie man oben annehmen wollte, ganz und gar keine Seele [beherbergten]: so steht die große Frage auf, wohin sollen sie denn verbannt sein? Wenns nicht in die Haubenköpfe und Puppen d.i. in die von mir er-

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fundnen und dem andern Geschlecht doch in der Gestalt am nächsten kommenden Weiber ist. (II/2,409)

Derart durchschaubar-unglaubwürdige Argumente, die das Vorhandensein einer Seele im Leib seiner Frau belegen sollen, schmälert das Ich umso mehr, wenn es anführt, es habe diese ohne nachzudenken (II/2,407, 408) vorgebracht. Zudem widerspricht es sich während seiner vermeintlichen Beweisführung, wenn es im Verlauf der Satire beispielsweise befindet, »das Gehirn eines Haubenkopfes [sei] jeder Seele fast zu hart« (II/2,408), nachdem es eingangs dargelegt hatte, gerade die Physiognomie des Haubenkopfes würde die Existenz einer Seele in seinem Innern praktisch beweisen (II/2,395). Desgleichen wenn es Rückschlüsse von lebendigen Damen auf seine hölzerne Gattin zulässt, sofern sie sein Argument stützen, jedoch verneint, wenn sie diesem widersprechen (II/2,406, 408). Und schließlich, wenn es seine seitenlangen Ausführungen faktisch für hinfällig erklärt, indem es festhält, dass – obwohl man dies in seiner täglichen Erfahrung beobachte – im Grunde niemand wisse, »[wie] [...] eine [Seele] hineinkömmt, ob [...] nun [in] eine unbelebte Dame [...] oder nur [in] ein belebtes Kind« (II/2,408), und man folglich auch von ihm keine Erklärung hierfür erwarten könne. Seiner selbst gestellten Aufgabe, das Vorhandensein einer Seele in seiner Gattin zu beweisen, weicht das Autor-Ich denn auch dahingehend aus, als dass es zum Beweis für die Existenz einer Seele Lavaters Erkenntnisse aus dessen Physiognomischen Fragmenten6 vorschiebt: Um die Existenz eines Inneren in einem Äußeren zu beweisen, die nicht bewiesen werden kann, bietet es sich wohl an, vom Äußeren auf das Vorhandensein des Inneren bloß ––––––– 6

Von der Seele der Holzfrau heißt es, ihre Kräfte seien »nicht ohne ihre gewisse Zeichen und Devisen auf dem Gesichte, das der Anschlagzettel der innern Geschicklichkeiten ist« (II/2,409). Demzufolge verheiße der »Haubenkopf[, der] vielleicht eine mehr zurückgehende als gerundete Stirn [hat,] [...] nicht so wol Verstand als beträchtliche Imaginazion« (ebd.). Außerdem liest das Autor-Ich aus der Physiognomik der Hände seiner Holzfrau »nützliche Anlagen zur Dichtkunst« (II/2,410) heraus und beabsichtigt deshalb, »die Ausgabe ihrer Werke mit einer Silhouette ihrer Hand [anzufangen]« (II/2,413). – Derart referiert die Einfältige Biographie Lavaters Ausführungen in dessen Physiognomischen Fragmenten, in denen dieser anführt, die Physiognomik als »die Fertigkeit durch das Aeusserliche eines Menschen sein Innres zu erkennen;« und die Physiognomie als »alle unmittelbaren Aeusserungen des Menschen [zu begreifen]. [...] Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntnis der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung« (Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Eine Auswahl, hrsg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, S.21f.). Im Kapitel Von der Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit hält er fest: »Was in der Seele vorgeht, hat seinen Ausdruck auf dem Angesichte« (ebd., S.49). Was die »Silhouette« oder den »Schattenriss[]« betrifft, so glaubt Lavater von ihnen »auf den ganzen Charakter, die würklichen, die möglichen Leidenschaften [der Menschen] schließen [zu können]« (ebd., S.157).

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zu schließen. Unter dem Deckmantel der Physiognomie werden dabei die zeitgenössischen Erklärungsversuche zum Commercium-Problem anzitiert, so beispielsweise der Okkasionalismus, wenn es heißt: »geringe Aenderungen in der Physiognomie meiner Frau [...] [ziehen] [...] darauf folgende[] Aenderungen in der Seele [nach sich]« (II/2,410);7 oder der influxus physicus – mit Georg Ernst Stahl als Einfluss des Geistes auf den Körper (also quasi als influxus mentalis) gedacht –, wenn es heißt: »der menschliche Körper ist [...] nichts als [...] ein Gespinst der darin übernachtenden Seele« (II/2,407) oder »die Seele [...] [hat] ihre eigne Haut [fast] nicht erkannt« (II/2,400).8 Und auch Leibniz’ prästabilierte Harmonie findet implizite Erwähnung, wenn der Text den prophezeiten Zustand des Gestorbenseins der hölzernen Ehefrau mit dem Bild »einer stillstehenden Uhr« (II/2,421) vergleicht.9 ––––––– 7

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Die Okkasionalisten erklären sich den leib-seelichen Zusammenhang, indem sie annehmen, »dass psychische und physische Vorgänge einander deshalb zugeordnet seien, weil Gott aus Anlass (occasio) der einen die jeweils anderen hervorrufe« (Geschichte der Philosophie, Bd.7: Die Philosophie der Neuzeit 1. Von Francis Bacon bis Spinoza, hrsg. von Wolfgang Röd. München 1999, S.126). Wann immer sich gewisse materielle Vorgänge ereignen, lasse Gott gewisse geistige Vorgänge eintreten, »und zwar nicht willkürlich, sondern in streng gesetzmäßiger Weise, da er auf Grund seiner absoluten Vollkommenheit stets in gleicher Weise wirken muss« (ebd., S.127). Die Influxionisten versuchen ein Paradoxon zu denken: Sie gehen als Lösung des Commercium-Problems von einem körperlichen Einfluss auf die Seele aus (der sich, anders als bei den Okkasionalisten, natürlich und nicht als Folge göttlichen Beistandes vollzieht), ohne dabei Descartes’ Theorie des Leib-Seele-Dualismus fallen zu lassen. Sie postulieren folglich ein ›Etwas‹, das materiell und geistig zugleich sein soll; ein ›Etwas‹, von dem die Erfahrung zwar beweist, dass es existiert, das aber eigentlich undenkbar ist. Zwei Beispiele: Platner beschreibt in seiner Eilften Lehre. Von der Wirkung des Koerpers in die Seele den Nervensaft als solch eine materiell-immaterielle Vermittlungsstelle zwischen Körper und Geist (Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Leipzig 1772, S.90–95); Schiller nennt die »Kraft [...], die zwischen den Geist und die Materie tritt und beede verbindet[, die] Kraft, die von der Materie verändert werden und die den Geist verändern kann[:] [...] Mittelkraft« (Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Peter-André Alt u.a. Bd.5: Erzählungen und theoretische Schriften, hrsg. von Wolfgang Riedel. München, Wien 2004, S.253). – Georg Ernst Stahl nun denkt die gegenseitige Beeinflussung der beiden Substanzen von der Seele ausgehend – quasi als influxus mentalis. In seiner Disputation formuliert er diesen Gedanken folgendermaßen: »Die Seele baut sich den Körper, ernährt ihn und handelt in allem in und mit ihm auf ein bestimmtes Ziel hin, wenn sie zuweilen auch von diesem Ziel abirrt« (Georg Ernst Stahl, Über den mannigfaltigen Einfluss von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper (u.a. Texte), übers. u. hrsg. von B.J. Gottlieb. Leipzig 1961, S.37). Neben dem Okkasionalismus und dem influxus physicus ist Leibniz’ Konzept der prästabilierten Harmonie das bekannteste Lösungsmodell der Commercium-Debatte. Leibniz erklärte den Parallelismus zwischen der res cogitans und der res extensa in dem ens mixtum Mensch, indem er annahm, Seele und Körper seien von Gott so eingerichtet, dass die Vorgänge in beiden Substanzen einander genau entsprechen (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. von C.I. Gerhardt. Bd.2. Hildesheim, Zürich, New York 2008, S.70). Im Postskript der Eclaircissement du nouveau systeme de la communication des substances,

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Am Augenfälligsten unterläuft das Autor-Ich aber seine scheinbare Absicht, Belege für die Beseeltheit seiner Gattin zu nennen, indem es Qualitäten derselben anführt, die allesamt – ex negativo versteht sich – diejenigen Argumente anzitieren, die Descartes zum Beweis für die Existenz einer res cogitans vorgebracht hat. Das Ich sucht also die Beseeltheit seiner Gattin dadurch zu beweisen, dass es ihr gerade diejenigen Eigenschaften abspricht, die Descartes als Argument für die Existenz einer Seele im Menschen vorbringt. Hat dieser im Discours de la Méthode dessen Fähigkeit zu sprechen, seine Fähigkeit intelligent zu handeln sowie die Tatsache, dass keine noch so weit entwickelte Maschine ihn vollständig zu ersetzen vermöge, zu diesen einschlägigen Merkmalen bestimmt,10 wird das Autor-Ich nicht müde, die Eigenschaften seiner Holzfrau mit denjenigen von Tieren (die zu der Zeit für vernunftlose Maschinen gehalten wurden) zu vergleichen,11 sowie zu verkünden, sie sei stumm und unvernünftig.12 –––––––

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pour servir de reponse à ce qui en est dit dans le Journal du 12 Septembre 1695 veranschaulicht er den Zusammenhang zwischen den beiden Substanzen anhand des Uhrengleichnisses: Die prästabilierte Harmonie sei deshalb möglich, da Gott in einem vorgängigen, einmaligen Eingriff Körper und Seele, die sich Leibniz als jeweils eine Uhr vorstellt, derart aufeinander abgestimmt habe, dass sie nunmehr parallel laufen (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. von C.I. Gerhardt. Bd.4. Hildesheim, Zürich, New York 2008, S.498f.). Interessanterweise befindet sich unter den anfänglich drei Varianten, wie man sich Leibniz zufolge den (parallelen) Gang dieser Uhren vorstellen könne, auch diejenige einer mechanischen (hölzernen!) Kopplung. Die beiden Uhren, die an ein und demselben Stück Holz aufgehängt seien (»Il avoit suspendu deux pendules à une même piece de bois«), kommunizieren über ein durch ihr regelmässiges Schlagen ausgelöstes holzartiges Zittern (»les battemens continuels des pendules avoient communiqué des tremblemens semblables aux particules du bois«). Wann immer sie unregelmässig zu schlagen drohen, oder man ihr Schlagen absichtlich stört, geschieht es wie durch ein Wunder, dass sie wieder parallel zu schlagen beginnen (»mais ces tremblemens ne pouvant subsister dans leur ordre, et sans s’entr’empecher, [...] il arrivoit par une espece de merveille que lorsqu’on avoit même troublé leur battement tout exprès, elles retournoient à battre ensemble« (alle: ebd., S.498)). Die Tatsache, dass die Holzstück-Lösung auf Kosten der prästabiliert-harmonischen Möglichkeit ausscheidet, dass Leibniz also ein über hölzerne Partikel harmonisiertes Commercium für nicht möglich befindet (ebd., S.499), mag einer der Gründe sein, warum die Frau in der Einfältigen Biographie, von der das Autor-Ich ja vergeblich zu beweisen sucht, sie sei ein ens mixtum, aus Holz besteht. René Descartes, Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. von Lüder Gäbe. Hamburg 1960, S.45f. Die Physis seiner Frau zu beschreiben, zieht das Autor-Ich Gleichnisse heran, in denen Walrosse (II/2,397), Insekten (II/2,400), Kröten (II/2,401), Pfauen (II/2,405), Schnecken (II/2,407), Fische (II/2,417), ein Bienenschwarm (II/2,419) oder Bücherläuse (II/2,422) vorkommen. – Die Auffassung, die Wesenheit von Tieren unterscheide sich nicht von der Gestalt und Funktionsweise von Maschinen, vertritt Descartes beispielsweise in Von der Methode: »Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unter-

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Kurzum: Die Erörterung der Commercium-Frage in der Einfältigen Biographie hat offensichtlich gar nicht den Anspruch, Argumente darzulegen, die den Diskurs einer Lösung näher brächten. Die Satire scheint vielmehr geradezu darauf angelegt zu sein, in ihrer Beweisführung zu scheitern. Wenn also die Einfältige Biographie keinen schlüssigen Argumentationsgang schildern will, das Autor-Ich aber zugleich unermüdlich ein Argument nach dem anderen vorbringt, welche Absicht verfolgt der Text dann? Bildlogik Dies zu eruieren gehe ich in der Folge auf eine etwas längere Textstelle näher ein. In ihr bringt das Autor-Ich einen der unzähligen ›Beweise‹ dafür an, dass die Holzfrau eine Seele, und damit Verstand besitzt – sie liest sich folgendermaßen: Mich wundert nichts mehr als daß neulich ein gewisser Schulrecktor ein lateinisches Michaelisprograma gegen mich und meine dichtende Figur abgeschossen, worin er beweisen will, ein Wesen von Holz, wie meine Gattin sicher sei, wäre ganz und gar nicht im Stande, einen Vers hervorzutreiben, der verdiente, daß ihn das ganze gesittetere Publikum durchliefe. Dieser Mann, der einem Wesen, das doch existirt, aus keiner Ursache den Namen eines anmuthigen Poeten abschlägt, als weil es nicht von Fleisch ist sondern von Holz, muß von ienen alten Theologen etwas an sich haben, die die Eva keinen Menschen nennen wollten, blos weil sie nicht wie Adam aus Erde sondern aus einer harten Rippe gestaltet worden. Es ist unmöglich, daß er folgendes vor der Schreibung seines Programes übersonnen: wenn der blinde Blacklock (nach dem Berichte des Monboddo) herrliche Schilderungen der sichtbaren Gegenstände erschaffen konnte, ohne nur einen wegen seiner angebornen Blindheit gesehen zu haben: soll es meiner Gattin schwerer sein, bessere oder doch ähnliche poetische Abzeichnungen von Gegenständen der Sinne, der Empfindung und des Denkens zu entwerfen, ohne diese Gegenstände durch eigene Erfahrung zu kennen? – Alle Dichter nennt man figürliche Adler, weil sie hoch fliegen, wenn nun Regiomontan aus Holz recht gut einen Adler schnizte, der fliegen konnte: getreuet sich wol der H. Recktor von der Unmöglichkeit einen kurzen Beweis zu führen, aus Holz auch einen Adler im metaphorischen Sinne zu-

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schied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere« (Descartes, Von der Methode [Anm.10], S.45f). Um je ein Beispiel anzuführen: »[So] kann meiner Frau eine Stumheit gar nicht fehlen, von der ich ihre Schamhaftigkeit der Zunge hauptsächlich erwarte; [...] dabei gibt eine glückliche Stumheit auch andern Fehlern nicht Raum, nicht der weiblichen Medisance, nicht der witzelnden Geschwätzigkeit, nicht den abgedroschenen und auswendig gelernten hundertiährigen Schmeicheleien, nicht den Kleinigkeiten-Erörterungen« (II/2,417). – »[Denn] obgleich wol zwanzig hisige Weiber [...] versichern, sie würde, wenn sie [...] nicht meistentheils von Holz wäre, zuverlässig anders sein [...]: so sehen doch polizirte Völker ein, dass meine Frau es auch nicht weiter treiben kann, da sie keine Vernunft hat« (II/2,394).

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sammenzusetzen, der blos im figürlichen Sinne ein wenig hoch zu fliegen vermag? (II/2,413f.)

Um das Argument vollumfänglich zu erfassen, welches das Ich anbringt, die Vernunftbegabtheit seiner Gattin und damit deren dichterisches Talent zu begründen, hat man als Leser dessen einzelne Schattierungen aus komplexen, ineinander verschachtelten Textbausteinen regelrecht herauszuschälen. Die Erwiderung des Autor-Ichs auf die Anschuldigung, seine hölzerne Frau sei unfähig zu dichten, ist erstmal streng parallel organisiert: Der Ankläger, ein Schulrektor, aberkenne seiner Gattin den Dichterstatus, weil sie aus Holz und nicht aus Fleisch und Blut bestehe. Diese Argumentation sei ebenso unsachlich, wie diejenige jener Theologen, die Eva für keinen Menschen hielten, da sie aus einer harten Rippe und nicht aus Erde gemacht worden sei. Außerdem müsste der Rektor doch einsehen, dass wenn ein Blinder sichtbare Gegenstände zu schildern in der Lage sei, seine Gattin, obwohl alle ihre Sinne stumpf seien, sinnlich erfahrbare Gegenstände poetisch nachzuzeichnen vermöge. Und überhaupt – nun zieht das Ich ausgehend von zwei Prämissen eine als Negation und als Frage formulierte Schlussfolgerung – also: Und überhaupt, wenn es erstens legitim sei, Dichter metaphorisch als Adler zu bezeichnen, »weil sie hoch fliegen« (wenn es also gestattet ist, auf den König der rhetorischen Höhenflüge den Namen des Königs der Lüfte zu übertragen); und wenn es zweitens möglich sei, einen Holzadler herzustellen, der fliegt; so werde es der Rektor doch wohl nicht wagen, es für unmöglich zu erklären, dass man eine Holzkonstruktion herstellen könne (womit er unmissverständlich seine hölzerne Frau meint), die man im metaphorischen Sinne ›Adler‹ nennte, und von der man – wiederum lediglich metaphorisch gesprochen – behauptete, sie vermöge hoch zu fliegen?! Denn damit sei erwiesen, dass seine Holzfrau – ebenso wie die Dichter – in metaphorischem Sinne Adler genannt werden könne; und also erwiesen, dass sie Geistesgaben besitze. Solche ›Beweispassagen‹ reihen sich in der Einfältigen Biographie unzählige aneinander. Sie alle stellen sich als sprachlich mindestens so vertrackt heraus, wie diejenige, auf die ich gerade näher eingegangen bin. Bei vielen muss zusätzlich dazu auch noch der Bezug zu ihrem angeblichen Thema allererst hergestellt werden: In Reden über die platonische Liebe, modische Kleider oder übers Wetter leuchtet nämlich keineswegs unmittelbar ein, inwiefern die betreffenden Stellen die Behauptung, die hölzerne Gattin habe eine Seele, stützen.13 ––––––– 13

Siehe dazu auch die Schlussbemerkungen S.98 inklusive Anm.22.

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An all diesen Beispielen wird deutlich: Das Ich will weniger durch eine schlüssige Beweisführung, als vielmehr durch Witz, Sprachmächtigkeit und Assoziationsreichtum gefallen. Zugleich sperrt sich der Text aber sowohl gegen eine unmittelbare Visualisierung als auch gegen eine narratologische Sinnrekonstruktion. Die Sätze in der Einfältigen Biographie sind derart dicht formuliert und durchkonstruiert, dass der Leser bei der Erstlektüre über die witzigen Vergleiche und satirischen Schnörkel nicht zu lachen vermag, da sich ihm die Wortwitze nicht spontan als Formen von Komik offenbaren. Damit Bilder – die sich üblicherweise im Textfluss unmittelbar einstellen und dem Leser das Gefühl geben, mit dem Text fortzuschreiten, den Text zu verstehen –, überhaupt imaginativ visuell werden können, bedarf es intensiver Entschlüsselungsarbeit. Besteht ein Text aus einer Aneinanderreihung solcher Einzelsequenzen, die ihre Fühler in alle Richtungen ausstrecken – antithetisch weitergeführt, metaphorisch erweitert oder einander chiastisch gegenübergestellt werden –, sucht man in ihm eine stringente, kohärente Handlungsentwicklung vergebens. Die Szenen wollen sich nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Im Gegenteil, mit jedem divergierenden Ereignis scheint die Handlung von Neuem einzusetzen, scheint die Erzählung immer neu vom Nullpunkt auszugehen. Absurderweise verbleiben diese Sequenzen, welche von ihrer komischen Inszenierung leben, als einzelne nur kurzzeitig bildhaft präsent und sind trotzdem das, was einem nach der Lektüre der Satire bleibt. Das Fortschreiten in der Einfältigen Biographie kommt damit einem Hüpfen von Einfall zu Einfall gleich. Die Bilder gehen ineinander über, jedes das Sprungbrett des nächsten und zugleich – in den meisten Fällen – das schwarze Loch für seinen Vorgänger. Der Text scheint also nicht von Handlungselement zu Handlungselement, sondern von Bild zu Bild voranzuschreiten. So besehen ist es wohl treffender von einer Bildlogik denn von einer Handlungslogik zu sprechen. In dieser Bildlogik verkommen die wissenschaftlich vorgebrachten Argumente jedoch zur Nebensache, werden zu bloßen Auslösern für gelehrt-witzige Ideenkreationen degradiert. Sie werden nicht sachlich erörtert oder wissenschaftlich diskutiert, sondern satirisch verzerrt und ad absurdum geführt. Indem der Satiriker Jean Paul sie nämlich aus ihrem wissenschaftshistorischen Kontext löst, eignet er sie sich als isolierte, neutrale Denkobjekte an, die er in anderen, assoziativ kreierten Kontexten zu platzieren und derart als Quell neuer Konnotationen ikonisch weiter zu denken vermag. In einem solchen Erzählen, in dem Handlungsverläufe durch kurzzeitig präsente Bilder ersetzt werden, spielt sich das Geschehen auf der paradigmatischen Textebene ab. Das Fortschreiten von Handlungs-

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element zu Handlungselement weicht einem Auf-der-Stelle-Treten in der Handlungszeit, einem An-Ort-und-Stelle-von-Bild-zu-Bild-Springen. In der Einfältigen Biographie kommt das Stillstehen im Argumentationsgang dahingehend zum Ausdruck, dass die Satire thematisch in sich verharrt: Zwar werden die Assoziationen rund um den Haupttopos immer mehr an der Zahl, doch kommen sie nicht über ein neuerliches Paraphrasieren desselben hinaus. Sie kreisen stets um dasselbe Thema, doch addieren sie sich nicht zu einem Gedankenkomplex auf, da sie dem Leser als einzelne in der Masse der Anführungen sofort wieder entgleiten. Dies vor allem deswegen, weil es für diesen nicht unmittelbar einsichtig ist, inwiefern die einzelnen Vergleiche und Paraphrasen die Behauptung, die Holzfrau habe eine Seele, stützen; weswegen er den Bezug zum zentralen Anliegen des Autor-Ichs (wie oben gesehen) für jeden angeführten ›Beleg‹ immer wieder neu leisten muss. Die bislang erfolgte Analyse zeigt: Die einzeln aufgerufenen Bilder sind in sich instabil, da sie fortwährend partiell erweitert oder überblendet werden. Mit der Dauer des Assoziationsfortgangs wird Bild um Bild fortlaufend durch nachfolgende Bilder ersetzt. Die Substitution derselben vollzieht sich in der Einfältigen Biographie dabei als Prozess der Wiederholung. Das Autor-Ich evoziert aufeinander folgende Bilder, die sich, indem sie in der ihnen jeweils eigenen Weise alle vom selben sprechen, gegenseitig vergessen machen. Dies, indem die aufgerufenen Wort- respektive Inhaltsparaphrasen nur lose mit dem Vorhergehenden verbunden und immer schon in neue semantische Kontexte gestellt sind. Poetologisch gesprochen vollzieht der Text eine Praxis des Vergessens auf der Basis der Verwirrung, indem er fortlaufend immer andersartig aufruft, wovon er spricht. Auf der textuellen Ebene wird damit praktiziert, was Umberto Eco in seinem Aufsatz An ›Ars Oblivionalis?‹ Forget it!14 als einzig mögliche Strategie, Vergessen zu evozieren, umschreibt. Textuelle Bildpraxis des Vergessens Eco führt aus, dass es eine Kunst des Vergessens – ganz im Gegensatz zu ihrem ›kontradiktorischen Analogon‹ – an sich nicht geben kann. Während die Kunst des Erinnerns, die Gedächtniskunst, uns in die Lage versetzt, uns mittels spezifischer Techniken vorgängig gelernte Inhalte willentlich zu vergegenwärtigen, vermögen wir das Vergessen nicht künstlich zu erzeugen oder willkürlich abzurufen.15 Denn einen willentlichen Akt des Vergessens zu ––––––– 14 15

Umberto Eco, An Ars Oblivionalis? Forget It! In: PMLA 103/3 (1988), S.254–261. Ebd., S.254.

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proklamieren, bedeutet, das Vergessen wie das Erinnern zu handhaben, ihm folglich Methode sowie ein erlernbares Verfahren zu unterstellen. Erinnern und Vergessen würden also als in ihrer Prozessualität analoge, in ihrem Resultat aber gegenläufige Gedächtnisvorgänge begriffen; den Mnemotechniken würde eine Technik des Vergessens gegenüber gestellt. In Bezugnahme auf die »Kunst des Erinnerns«16 der antiken Rhetorik definiert Eco das Erinnern als prinzipiell semiotisches Verfahren. Um die natürliche Gedächtnisleistung zu verbessern, entwickelten die antiken Rhetoren eine Art Bildersprache: Das, woran sie sich erinnern wollten (meist der Inhalt einer Rede), übersetzten sie in Bilder. Diese platzierten sie in einem imaginären Gebäude an ganz bestimmten Stellen. Sie verbanden Bilder und Orte also derart, dass sich ein Orientierungsmuster, »ein Magazin von Bildern«17 ergab. Wann immer die Rhetoren den memorierten Inhalt abrufen wollten, schritten sie im Geiste durch das Gebäude und nahmen so die Bilder in der gewünschten Reihenfolge wieder auf. Orte verwiesen also auf Bilder, die ihrerseits wiederum auf die zu memorierenden Inhalte verwiesen. Denkt man nun das Vergessen als strukturelles Analogon des Erinnerns, definiert man es wie dieses als semiotischen Akt und damit als mentales Verfahren, das Abwesenheiten zu Anwesenheit verhilft. Mit anderen Worten, man setzt das »ich will mich an ›A‹ erinnern« dem »ich will ›A‹ vergessen« gleich. Die mentale Intention »ich vergesse jetzt!« muss aber scheitern, da ein solch intentionales Vergessen ein Erinnern immer schon impliziert. Die Tatsache also, dass es im Wesen semiotischer Prozesse liegt, dem, wofür sie stehen, Präsenz zu verleihen, verbietet es uns, das Vergessen als einem solchen Prozess analog Funktionierendes zu denken: [Every] assertion [...] posits the entities that it names; it renders them present in the universe of discourse with semiotic force, even if only as the entity of a possible world. [...] And if intentions are not material facts, they are at least, in some fashion, psychic facts, or they can be postulated as such. This means that every expression determined by a semiotic sign function sets into play a mental response as soon as it is produced, thus making it impossible to use an expression to make its own content disappear. If the arts of memory are semiotics, it is not possible to construct arts of forgetting on their model, because a semiotics is by definition a mechanism that presents something to the mind and therefore a mechanism for producing intentional acts.18

––––––– 16

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Meike Remscheid, Zwischen Erinnern und Vergessen. Ein Versuch über das Gedächtnis in Leben und Dichtung. Bochum 1999, S.24. Ebd., S.24 Eco [Anm.14], S.259.

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Als kontradiktorisches Erinnern wird das Vergessen seiner grundlegenden Funktion, zu vergessen, also nie gerecht werden können. Von der Idee einer Technik, einer Kunst des Vergessens müssen wir uns verabschieden. Eco wird auf seiner Suche nach »principles of a technique and of a rhetorical art [...] that would permit one to forget in a matter of seconds what one knew«19 zwar nicht fündig, doch formuliert er Strategien, die ein Vergessen initiieren, indem sie Erinnerungen an einen Sachverhalt trüben. Wird der Prozess des Verweisens – wie in der Einfältigen Biographie – derart gesteigert, dass man die einzelnen Aussagen nur mehr mühsam oder auch nicht mehr auseinander zu halten vermag, verwechselt man deren Inhalte, man vergisst sie. Eco formuliert dies so: Thus, it is possible to forget on account [...] of excess, just as, though it is not possible to destroy the meaning of an assertion pronounced aloud, it is possible to pronounce another assertion in the same moment, so that the two assertions are superimposed. [...] One forgets not by cancellation but by superimposition, not by producing absence but by multiplying presences.20

Damit beschreibt er Jean Pauls Verfahren in der Einfältigen Biographie: Indem dieser derart viele Umschreibungen beinahe synonymen Inhalts aneinander reiht, überlagern sich deren Aussagen, sodass sie der Leser, verwirrt ob ihrer nur partiellen Differenziertheit, vergisst. Der Haupttopos des Textes – der Beweis für die Beseeltheit der Holzfrau – ist zwar omnipräsent, doch vermag man sich der Gründe, welche in unzähligen Beispielen ausgeführt sind, nicht im Einzelnen zu erinnern. Diese Praxis, einem jeden Bild – momenthaft – alle Aufmerksamkeit und Energie zu widmen, es jedoch umgehend durchzustreichen, nachdem es exponiert wurde, um das nächste emphatisch und mit ungeminderter Emsigkeit auszuarbeiten, zeugt von Jean Pauls poetischer Lust, in seinen Texten einen sprachlich-witzigen, erstaunlichen, brillanten Höhepunkt auf den nächsten folgen zu lassen. Der Reiz scheint darin zu bestehen, sich mit jedem neuen Versuch an provokativem Einfallsreichtum zu überbieten – jede Kreation so intensiv wie möglich leuchten zu lassen, bevor sie (unvermeidlicherweise) beigesetzt wird. Fazit Obwohl Jean Paul also deutlich markiert, in welchem wissenschaftstheoretischen Feld er seine Satire platziert wissen will – so thematisiert er die Com––––––– 19 20

Ebd., S.254. Ebd., S.259f.

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mercium-Debatte in der Einfältigen Biographie (wie oben ausgeführt) gleich zu Beginn, indem er implizit auf die Zirbeldrüse verweist und im Verlauf seiner Rede die zu der Zeit diskutierten Lösungsvorschläge wie den Okkasionalismus, den influxus physicus oder Leibniz’ prästabilierte Harmonie in seine satirischen Redewallungen einbindet –, thematisiert er die jeweils diskutierten Theoreme nicht, um sie auf ihre hypothetische Relevanz zu prüfen und zugleich seine eigenen Thesen mittels differenzierender Analysen kenntlich zu machen. Es fällt jedoch auf, dass ein Grossteil der Elemente seiner Beweisführung auf eigenartig bedachte Weise die zur Debatte stehenden Argumente anzitieren. Die ausgearbeiteten Gedankenblitze greifen nämlich die Beweisführungen derjenigen wissenschaftlichen Diskussionen, um welche die Satire hauptsächlich kreist, pedantisch genau und umfassend auf.21 Jean Pauls assoziative Aneinanderreihung witziger Einfälle scheint in ihrer Anlage folglich nicht rein willkürlich, sondern in ihrer Willkürlichkeit kontrolliert zu sein. Der Haupttopos der Satire zieht sich durch den gesamten Text, wird sozusagen als Referenz-Stamm der vorgebrachten Ideenreihen vorstellig, sodass man sich den Aufbau Jean Paulscher Gleichnisketten baumartig vorstellen kann: Die Stamm-Geistesblitze basieren explizit oder implizit auf den wissenschaftshistorischen Erörterungen; in diesen werden die gelehrten Ausführungen ad absurdum geführt; wobei sie zugleich weiteren gelehrt-witzigen Gedankengebilden zum Ausgangspunkt dienen. Bei Letzteren verflüchtigt sich der Bezug zum Haupttopos immer mehr; ihr Anschluss an das vorhergehende Bild gestaltet sich umso assoziativer, je weiter aussen auf den Ästen des Gleichnis-Baumes sie sich befinden. In einem satirischen Einfall, der am Ende einer solchen Digressionskette zu stehen kommt, sucht man die Leib-Seele-Thematik vergebens; in ihm sind der kreativen Imagination keine Grenzen gesetzt, sodass der satirische Witz beispielsweise die Hofleute und deren Moralvorstellungen zum Gegenstand seines Reflektierens nimmt.22 ––––––– 21

22

Siehe meine Ausführungen auf S.8, die aufzeigen, wie detailliert in der Einfältigen Biographie Descartes’ Argumentationsgang aus Von der Methode aufgegriffen und zugleich parodiert wird. Gleiches gilt es erstens für Descartes’ Theorie des Substanzendualismus, die den Ausgangspunkt der Satire bildet, zweitens für das sich aufgrund dieser dualistischen Metaphysik ergebende Leib-Seele-Problem sowie drittens für die in diesem Zusammenhang zeitgenössisch diskutierten Lösungsmodelle festzuhalten (s. S.90f. sowie Anm.7, 8 und 9). Im folgenden Beispiel – das ich ebenfalls der Einfältigen Biographie entnommen habe – stiftet das Autor-Ich einen Prinzen zu unsittlichem Verhalten an, indem er ihm rät, sich im Zuge des Fortpflanzungsgedankens mit seinen Untertanen zu kopulieren, sollte sich unter seinesgleichen die Gelegenheit hierfür nicht bieten. Leitende Vorbilder sollen dem Prinzen Lerchen und Johanniswürmchen sein, deren (vom Ich subjektiv ausgelegten) Verhaltensweisen ihm zur Nachahmung empfohlen werden: »Ich bin sonst nicht tugendhafter als es an einem Hofe nöthig ist; und ich kann sagen, daß ich gar keine Moral habe. Z.B. will ich [...] nur

Ikonische Reflexionen in Jean Pauls satirischen Wort-Irrgärten

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Anhand seiner eben vorgeführten Digressionstechnik macht Jean Paul unmissverständlich deutlich, wie detailliert er mit den wissenschaftstheoretischen Werken seiner Zeit vertraut ist. Doch nimmt er die darin vorgebrachten Theoreme (wie gezeigt) nicht zum Anlass, seine eigene Position zu beziehen. In der Einfältigen Biographie beispielsweise gibt das Autor-Ich erstens vor, Gründe für die Beseeltheit seiner Gattin anzuführen, beschreibt diese mittels Tiergleichnissen jedoch zugleich implizit als vernunftlose Maschine; es spricht ihr zweitens diejenigen Fähigkeiten ab, die Descartes als Beweise für die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele vorbringt, womit es drittens zwar dessen Begründung des Substanzendualismus (dass also Materie ausgedehnte Substanz ohne Vergeistigung sei) bestätigt, nicht aber aufzeigt, was es ununterbrochen zu zeigen vorschützt; nämlich, inwiefern seine Holzfrau eine leib-seelische Einheit zu nennen sei. Die Commercium-Debatte dient ihm folglich lediglich zum Vorwand, unter dem Deckmantel gelehrter Belesenheit satirische Bilderwelten zu erschaffen. In diesen leuchten die Bilder jeweils blitzhaft auf, den Leser in ihrer faszinierenden, komplexen und witzigen Einzigartigkeit an sich zu fesseln, nur um ihn nach ihrem momenthaften Erscheinen von sich zu stoßen und an die nächste Funken sprühende Imagination weiter zu reichen. Die einzelnen Bilder fallen in dieser Bilderflut – sogleich nachdem sie imaginativ visuell geworden sind – dem Vergessen anheim. Ein derartiger Gedankenfluss, während dem ausgehend vom letztgenannten Geistesblitz nie auf den folgenden geschlossen werden kann, kennt keine Stoppregel, weswegen das Ende der Satire gewaltsam herbeigeführt werden muss: Nachdem es seine Gattin folglich nacheinander als »stillstehende [...] Uhr« (II/2,421) bezeichnet; deren Groß- wie Kleinhirn als von Holzwürmern zerfressene beschrieben sowie eingestanden hat, es selbst und seine Frau hätten zwar »zwei lange Leiber [aber] [...] doch nur seine Seele in beiden besessen« (II/2,422; Herv. d. Verf.), bemerkt das Ich, das »Leben [seiner Gattin suche] [...] wie dieser [sein] Aufsatz mit weiten Schritten sein Ende« (II/2,421). ––––––– anführen, daß ich, als ich am ** Hofe noch beliebter Prinzenhofmeister war, ganz und gar kein Bedenken trug, meinem Prinzen zu entdecken, daß die nicht geräumige Spitze des Thrones eine große Familie nicht wol fasse, und daß der Apanagengelder dann mehr würden als es den besten Kammeralisten lieb wäre: ich fragte ihn, ob er denn nicht, da kein Mensch mehr das Gelübbe der Enthaltsamkeit zu halten begehrte, vorher vom Gipfel des Thrones auf dessen breitere und niedrigere Stufen herunterspringen wollte, und daselbst nicht sowol seine Ebenbilder, als seine Unterthanen mit wahrer Lust zu vermehren und zurückzulassen; und ob er nicht die edle Lerche sich hierin ganz zum Muster nehmen möchte, deren Flug und Gesang in der Höhe, deren Nest aber in einer schmuzigen Furche ist, oder auch blos das Johanniswürmgen, das auf seinen Flügeln zum Kothe gerunterflattert, woran sein ungeflügeltes Weibgen angeleimet sitzt« (II/2,420).

CHRISTIAN SCHWADERER

JEAN PAULS QUELLMASCHINERIE Der satirische Nachlass aus textgenetischer Sicht

»Ich danke nur Gott, daß ich das nicht zu lesen brauche, was nach meinem Tod herauskommt.« (Jean Paul, Satiren und Ironien, Bd.21–[137]/112)

Jean Pauls Satiren, ihre Herkunft, ihr Zustandekommen und schließlich ihre Diversität sind Thema dieses Beitrags. Hierbei werden v.a. Parallelen zu seinen Bildkonzeptionen aufgezeigt und des Weiteren ein Einblick in Jean Pauls »Essigfabrik« gegeben, wie er bis dato noch nicht möglich war. Weite Teile des Nachlasses sind nach wie vor unveröffentlicht. Was Jean Paul »ein ganzes horazisches Jahrneun« lang am Esstisch der Mutter geschrieben hat, liegt nur in Bruchstücken vor. An der Universität Würzburg wird seit geraumer Zeit der satirische Nachlass – die Sammlung Satiren und Ironien (Faszikel XIIa/b) – von der Herausgeberin Birgit Sick und mir bearbeitet.1 Dies umfasst v.a. die Bände 14 bis 21, die im Zeitraum von 1789 bis November 1818 entstanden sind und 1832 Einträge auf 544 Manuskriptseiten versammeln. Die Bände sind Teil des insgesamt 1688 Manuskriptseiten umfassenden Konvoluts, dessen erster Band aus den frühen 80er Jahren stammt und dessen 21ster und letzter auf das Jahr 1803 datiert ist. Jean Paul hat an allen Bänden bis über zwei Jahrzehnte hinweg kontinuierlich fortgeschrieben. Langfristig ist geplant, auch die Bände 1–13 im Rahmen der WürzburgerOnline-Publikationen zugänglich zu machen. Jean Paul selbst wollte »Das meiste« aus den »satirischen Entwürfen« in einer von ihm herausgegebenen komischen Wochenschrift namens Der Apotheker unterbringen, wie er unter Punkt 69 in den Studien-Heften des Komet notiert.2 In einem unalphabetischen Register (Fasz. VIIIb/15) hatte er die Einträge bereits unter diversen ––––––– 1

2

Vgl. zuletzt Birgit Sick, ›Beigeleimte‹ Vorgeburten. Über eine Publikationsstrategie Jean Pauls, in: Autoren und Redaktoren als Editoren. Sonderdruck aus Beihefte zu editio 29. Tübingen 2008, S.226–239. Jean Paul, Stud. Hefte Komet/Apoth. W 5, S.515.

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Rubriken wie z.B. »Gegen Leser« mit Angabe einer Überschrift, Seiten- und Bandzahl geordnet.3 Der erste Textband mit den Satire-Bänden 14–18 erscheint noch in diesem Jahr, der zweite mit den Satire-Bänden 19–21 und der von mir als Dissertationsschrift erarbeitete textgenetische Kommentarband voraussichtlich 2010 (SW II/10). Genetisch bedeutet hier: die Dokumentation von Jean Pauls Schreibprozess und -verfahren aus der Quelle in die Exzerpthefte über die Satiren und Ironien hinein ins Romanwerk. Der Kommentar zu Eintrag [433]/164 im 19. Band der Satiren und Ironien In manch. Haushalt. siehts aus wie im Sak worin ein Vatermörd. ersäuft wurde, ein Hund Hahn, Affe, Schlange darin 5. 3./9

präsentiert sich wie folgt: [433]/164 Verwendet in JEAN PAUL: TITAN / KOMISCHER ANHANG / ZWEITES BÄNDCHEN / LUFTSCHIFFER GIANNOZZO / ZWÖLFTE FAHRT (I/3,995) Letztlich hospitiert’ ich auch bei vier St.Görgnerinnen, Professorinnen; schon das akademische Gericht, das sie über die St.Görgner Lehrstühle hielten, konnte mich überzeugen, daß eine Universität – wenigstens in Rücksicht ihres friedlichen kollegialischen Lebens – dem Sacke nicht ungleich sei, worin man sonst einen Vatermörder ertränkte, und in welchem ein Hahn, eine Schlange, ein Hund und ein Affe (oder in dessen Ermangelung eine Katze) noch außer dem Mörder als Amtsbrüder beisammen hauseten. Verweis 5. 3./9.] Jean Paul, Exzerpte [IIa-09-1785-1786-0040] Beim Ertränken mit Hund, Hahn, Schlange und Affen, wird der leztere durch eine Kaze ersezet. Jean Paul, Exzerpte [IIa-09-1785-1786-0069] Stat der Schlange wird wenn sie fehlet, eine gemalte in den Sak des Vatersmörders gestekt. Iedes von dis. Thieren komt in ein besonderes Säkgen. p. 393. Quelle: Heil, Christian Jacob: ludex et defensor in processu inquisitionis seu tractatus criminalis...Lipsiae 1738, Lib. I, p. 393:

––––––– 3

Ralf Goebel, Der handschriftliche Nachlass Jean Pauls und die Jean-Paul-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz. Teil 1: Faszikel I bis XV. Unter Mitarbeit von Ralf Breslau. Wiesbaden 2002, S.72.

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Betrachten wir zunächst Jean Pauls Eintrag, wobei die Nummer in eckigen Klammern der fortlaufenden Zählung der Edition entspricht: »5. 3./9« ist ein Exzerptverweis des Autors, der sich meistens auf die Angabe einer Seitenund Bandzahl beschränkt. Der Kommentar zeigt erstens die Verwendung im Giannozzo auf. Momentan kann der Leser mittels einer Pfadangabe, die sich an die Gliederung der Werke durch Jean Paul hält, die entsprechende Stelle in jeder Textausgabe finden. Grundsätzlich soll der Text der Erstausgabe wiedergegeben werden, zum einen weil dieser in den bisherigen Ausgaben nicht immer zu lesen war, was die neue Werkausgabe der Würzburger JeanPaul-Edition unter der Herausgeberschaft von Helmut Pfotenhauer zumindest für den Hesperus, den Siebenkäs und die Vorschule der Ästhetik ändern wird, zum anderen kann so ersehen werden, ob die Bausteine aus den Satiren und Ironien schon in der Erstausgabe oder erstmalig bei folgenden Auflagen verwendet wurden. Der Unterschied des Eintrags zum Romantext besteht darin, dass Jean Paul den Schauplatz verändert, den er mit dem Sack vergleicht: der Haushalt wird zur Universität. Die Tiere werden den Professorinnen gleichgesetzt, womit auch dem Begriff des Vatermörders im universitären Kontext eine neue, erweiterte Bedeutung zukommt.4 Während das erste Exzerpt auf Seite 3 des 9. Exzerptbandes der Reihe Geschichte (Fasz. IIa) aus dem Jahre 1785/86 im Vergleich zum Text keinen Mehrwert an Information liefert, erfahren wir durch das Exzerpt auf Seite 5 von der Möglichkeit die Schlange durch »eine gemalte« zu ersetzen und dass jedes Tier in einem separaten Säckchen untergebracht wird. Diese nicht unwichtigen Details werden aber von Jean Paul in der weiteren Verarbeitung ignoriert, da sie natürlich nicht stimmig in das Bild vom spannungsgeladenen Zusammensein auf engstem Raum zu integrieren sind. Allerdings liefert das zweite Exzerpt einen Hinweis auf die Quelle der Exzerpte, in der der interessierte Leser von den ikonographischen Zuschreibungen erfährt, die mit den Tieren verbunden werden – Informationen, die Jean Paul nicht in den Exzerptheften festhielt. Ein Kommentar, der seinen Fokus auf die Genese des Textes richtet, bietet sich an, ja ist der einzig adäquate, weisen doch die Satiren und Ironien wie kein zweites Textkonvolut Verflechtungen zu anderen Werken Jean Pauls auf und bewahren singulär diese Zusammenhänge etwa durch die expliziten Exzerptverweise. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Band 18 beruhen über 90 % der Einträge auf einem oder mehreren Exzerpten – bis hin zu der extremen Häufung in Band 20, Eintrag 58, in dem bei elf Zeilen jeder Zeile ––––––– 4

Mit Dank an den Diskussionsbeitrag von Elsbeth Dangel-Pelloquin.

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ein Exzerptverweis zugeordnet ist. Bis zu 20 % der Einträge werden im veröffentlichten Werk »Benutzt« wie Jean Paul selbst formuliert und durch Streichungen der jeweiligen Passagen im Manuskript anzeigt.5 Dabei konstituieren mehrere Einträge aus unterschiedlichen Bänden zuweilen einen gemeinsamen Absatz im Roman oder sind die Grundlage eines Kapitels, Extrablättchens oder Zwischenstücks. Meist weitgehend unverändert, bei größeren Stücken allenfalls erweitert oder der Syntax angepasst, behalten die Einträge ihre ursprüngliche Form. Nahezu alle Romane sind von Teilen der Satiren und Ironien durchsetzt. Diese Bausteine werden also in ihrem Lauf durch die Produktionskette der Textwerkstatt erstens aus der wissenschaftlichen Literatur gefiltert, zweitens in die geeigneten Exzerpthefte sortiert, drittens in den Satire-Bänden angereichert, bis sie letztendlich wie Erbsen zum Quellen gebracht im Romanwerk aufgehen und dort ihre satirische Kraft entfalten. Das Thema der Bildlichkeit lässt einen selbst dazu neigen, in Bildern zu sprechen, womit ich mich auch langsam der Fragestellung nach der Bildlichkeit der Satiren annähern möchte. Vorweg noch zwei grundlegende Aussagen zur Charakteristik der Sammlung. Die Bände, die alle mit dem Überbegriff »Satiren« von Jean Paul bezeichnet sind, unterteilen sich in Ironie- und Launebände, wobei die Letzteren ungerade, die Ironiebände gerade beziffert sind. Im Repositoriumsregister (Fasz. X/21), das Jean Pauls Ablagesystematik für dessen Arbeitshefte festhält, finden sich dementsprechend separiert die Rubriken »Ironiebände« und »Launebände«. Inhaltlich unterscheiden sie sich v.a. dadurch, dass die Launebände – gemäß auch der Definition in der Vorschule der Ästhetik – subjektiver, d.h. persönlicher geraten sind.6 Hier finden sich Reflexionen über das eigene Schreiben, Aufzeichnungen über die Familie, über körperliche und geistige Befindlichkeiten, Äußerungen über befreundete und verfeindete Autoren und Kritiker, Ideen zu und Monologe von Romanfiguren und auch bei weitem die meisten verwendeten Einträge im veröffentlichten Werk. Dagegen wird der Reichtum der Exzerpthefte in den Ironiebänden in ungleich größerem Maße ausgeschöpft, die in einem ernsten, gelehrten Ton gehalten weniger auf Verwertbarkeit, sondern mehr auf Literarizität und Eigenständigkeit bedacht sind, als das bei den Launebänden der Fall ist (z.B. finden sich prozentual gesehen bis zu neunmal mehr Verweise, vergleicht man den Ironieband 18 mit dem Launeband 21). Aus dem Allerlei der Einträge erahnt man die Herkunft von Jean Pauls Satire-Begriff, den er in den Exzerpten festgehalten hat – die Definition des humanistischen Gelehrten Isaac Casaubon: »Satire vom lateinischen Wort ––––––– 5 6

Jean Paul, Satiren und Ironien, Bd.6 (1786), S.1. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 37.

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Satura, eine Schrift die ein Quodlibet, vielerlei Dinge enthielt; daher lanx satura eine Schüssel mit vielerlei Früchten. Flögel.«7 Mit Flögel meint Jean Paul hier Karl Friedrich Flögel, den Verfasser der reichlich exzerpierten Geschichte der komischen Literatur, in vier Teilen 1784–87 erschienen. Die Einfälle, Bemerkungen, Gedankenspiele und Szenen zu jedwedem Thema stehen in den Satire-Heften in der Tat so bunt beieinander, wie wir das auch von den aufgereihten Bilderketten aus Jean Pauls veröffentlichten satirischen Werken Grönländische Prozesse und Auswahl aus des Teufels Papieren kennen. Es ist ein Mythos der Jean Paul-Forschung, dass ein solches Chaos bereits in den Exzerptheften aufzufinden ist, die vergleichsweise geordnet und strukturiert das Gelesene bewahren. Zunächst haben wir dort die Einteilung in Themenhefte: Neue belletristische Schriften, Geschichte, Geographie, Natur, Philosophie. Dann natürlich die Einordnung unter einem Buchtitel, einer Quelle, da meistens mehrere Exzerpte aus einem Werk hintereinander folgen und per se ein gemeinsames Thema haben. Selbst die Register der Exzerpte sammeln noch unter Stichworten, nur in den Satireheften veranschaulichen die Einträge schwarz auf weiß die Ideenassoziation des Autors. Neben Gedanken zum Adel steht eine Abhandlung über das richtige Mischen von Tinte, danach Äußerungen zu verschiedenen rechtlichen Grundsätzen, über Mode etc. Bisweilen werden die Einträge abrupt abgebrochen – ein anderes Sujet kam dem Autor in den Sinn, was sogleich ausgeführt werden musste – um dann Seiten später, nachdem Jean Paul über Dutzend heterogene Dinge räsoniert hat, wie selbstverständlich wieder aufgenommen zu werden. Die physiologischen Grundlagen für dieses Prozedere der Aneinanderschaltung verschiedenster Themen hat sich Jean Paul bereits sehr früh bei dem englischen Philosophen David Hartley und seinem Werk Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflicht, und Erwartungen angelesen.8 Hierin werden u.a. die physiologischen Vorgänge im Gehirn bei der Assoziation von Gedanken beschrieben.9 Unter der Überschrift »Von den Assoziazionen« notiert sich Jean Paul zunächst Grundlegendes zu den Gedankenschwingungen im Gehirn,10 die »gleichzeitig assoziirt« sich ausbreiten und ––––––– 7 8

9

10

Jean Paul, Exzerpte [IIb-17-1789-0310]. David Hartley: Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflicht, und Erwartungen. Aus dem Engl. übers. und mit Anm. und Zusäzzen begleitet von A.I. Pistorius. Erster Band. Rostok und Leipzig, bei Iohann Christian Koppe, 1772. Ich verdanke Helmut Pfotenhauer diesen Hinweis. Vgl. hierzu zuletzt auch Anette Horn, »Eine neue Vorstellungswelt herzustellen ...« Aufsätze zu Jean Paul. Bamberg 2008. Jean Paul, Frühe Exzerpte, Bd.09 (1780), Fasz. Ib, S.13–15.

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dabei auch das jeweils andere Hirnareal affizieren und allmählich »modifiziren« – ein Phänomen, das wir beim unvermittelt erfolgenden Wechsel von einem literarischen Bild zum Nächsten beobachten können, wodurch beide mit Konnotationen beladen werden, die vorher nicht präsent waren.11 Die Menge der möglichen Assoziationen ist schier unbegrenzt, freilich fasern diese aber aus, je weiter sie getrieben werden, was die zunehmende Ermüdung des Lesers bei der Lektüre der satirischen Sammlungen erklären mag: So wie einfache Ideen durch die Assoziazion in zusammengesezte verwandelt werden, so werden die zusammengesezten durch eben dieselbe wieder zu (decomplex) Ganzen, deren Bestandtheile zusammengesezt sind. Aber hier verhindern die Mannigfaltigkeiten der Assoziation, die sich mit den grössern Zusammensezzungen vermehren, daß die Vereinigung zwischen den Bestandtheilen eines Ganzen, das aus zusammengesezten Theilen erwachsen ist, so genau wird, als zwischen den einfachen Theilen eines Ganzen von der ersten Gattung. Und hiermit ist's analogisch, daß in den Sprachen die Buchstaben der Wörter genauer an einader hangen, als die Wörter der Sentenzen beides im Sprechen und Schreiben. (S.23)

Das ästhetische Argument für die Mannigfaltigkeit seiner Bilder fand Jean Paul in der Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller von Friedrich Just Riedel (Jena bei Christian Henrich Kuno. 1767) – in ausführlicher Abschrift in den Frühen Exzerpten, Bd.04 (1779), Fasz. Ia, S.52f. nachzulesen unter der Überschrift »Von Einförmigkeit und Mannichfaltigkeit«: Unsere Sinnen haften nicht lange an einem Gegenstande, dessen Theile entweder mit dem Ganzen, oder unter sich gleichartig, oder alzueinfach sind, um eine anhaltende sinliche Belustigung zu würken. Hingegen wird durch den Fortgang von einem Obiekte zu einem andern, welches eine mit der vorigen abstechende Idee hervorbringt, das Gefühl einer angenehmen Abwechselung erzeuget, was von der Schönheit nicht kan getrennet werden.

Als ältester literarisch-assoziativer Vorgänger dürfte der von Jean Paul reichlich exzerpierte römische Autor Marcus Terentius Varro (116 v.Chr. bis 27 n.Chr.) gelten, bei dem Jörg Schönert als das Spezifische »die witzigdesillusionierende Verknüpfung von Heterogenem« hervorhebt.12 Für die deutsche satirische Tradition muss wider Erwarten Gottlieb Wilhelm Rabener erwähnt werden, von dem sich Jean Paul so bemüht distanzierte, der aber ––––––– 11

12

Ein beliebiges Beispiel aus Grönländische Prozesse: »Die Schmeichelei gleicht dem Feigenbaume, dessen Saft giftig ist, obgleich die Feige süß, oder den Vampyren, die das Blut aus dem Schlafenden herauslecken und dem Opfer ihrer Zunge noch kühle Lüftchen zuwehen, um es in seinem Schlummer zu erhalten.« (SW I/1,114) Jörg Schönert, Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1969, S.34.

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dennoch der Erste war, der zur Einkleidung der Satire in Gelehrsamkeit riet13 – ein Ansinnen, das Jean Paul wie kein Zweiter dank seiner Exzerpte erfüllen konnte, wovon die überschäumenden Bilder beredtes Zeugnis geben. Neben den abfälligen Äußerungen Jean Pauls über Rabener in der Vorschule sei der schönen Bildlichkeit wegen als Beispiel der sublimen Ablehnung Schoppes Brief an Albano im 122. Zykel des Titan erwähnt. Nachdem Schoppe die satirische Autorschaft nach dem Muster Rabeners vom Bibliothekar empfohlen wurde, winkt dieser ab und zwar mit einem Bild, das allein schon genügt, um seinen Stil von dem Rabeners zu unterscheiden: »Noch schwing’ ich meinen Satyr-Schweif ungebunden und lustig und etwan gegen eine gelegentliche Bremse; wird mir aber ein Buch darangebunden, wie in Polen an den Kuh-Schwanz eine Wiege, so rüttelt das Tier die Wiege der Leser und gibt Lust, der Schwanz aber wird ein Knecht.« »Zu solchen Bildern« (sagte der Bibliothekar) »wäre allerdings die gebildete Welt durch keinen Rabener oder Voltaire gewöhnt, und ich erkenne nun selber die Satire nicht für ihr Fach.« (I/3,696.)

Zu Voltaire später – zunächst ein Wort zum Entstehungsvorgang der Satiren und Ironien selbst. Kurzum handelt es sich um Übertragungen (wie auch im Kommentarbeispiel deutlich wird).14 Die herkömmliche Grundfigur der Ironie besteht darin, »dass eine bestimmte Aussage in eine andere, eine umfassendere Perspektive gerückt und dadurch relativiert oder gar dementiert wird«15 bzw., wie so oft bei Jean Paul, lächerlich gemacht oder ad absurdum geführt wird. Ein Aspekt aus einer Wissenschaft wird in eine andere verlegt, ein Gesetz aus vergangener Zeit auf seine möglichen Auswirkungen in der heutigen überprüft, bestimmte Facetten einer Sache werden zugunsten anderer ausgeblendet oder durch neue überblendet (dementsprechend verglich Christian Otto, Jean Pauls Freund und erster Lektor, in einem Brief vom 2. März 1796 dessen satirische Handlungsabläufe mit dem »von Person zu Person springenden Weltlauf oder dem Wechsel einer Laterna magika«; SW IV/2,150). Das Verfahren der Übertragung, der uneigentlichen Verwendung ist auch das der Metapher, des Gleichnisses, der Allegorie oder zusammengefasst das der Bildlichkeit.16 Jean Paul trennt diese Begriffe nicht deutlich,17 orientiert sich ––––––– 13 14

15 16

Ebd., S.68f. Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. München 1975, S.30: »Die Interpretation der Jugendsatiren müßte die Arbeitsweise Richters klären, der einen ›Stoff‹ als Metapher, Motiv oder Begriff in der Komplexität seiner Bildung durch seinen Kontext übernahm und ihn in seinen Satiren kritisch einsetzte, damit den Kontext veränderte.« Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007, S.62. Vgl. hierzu Wolfgang Riedel, Die Macht der Metapher. Zur Modernität von Jean Pauls Ästhetik, in: JJPG 34 (1999), S.56–94.

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aber an den konventionellen Definitionen seines frühen Lehrers Ernst Platner. In dessen Anthropologie für Ärzte und Weltweise, die Jean Paul in den Teufelspapieren erwähnt, unterscheidet Platner zwischen dem Gleichnis (eine Gegeneinanderstellung des Ähnlichen und des Gegenbildes in lebhafter Weise) und der Vorstellung eines Bildes mit Weglassung des Abgebildeten, das entweder Allegorie ist, falls das Bild wirklich ein Gegenstand des Gesichts oder Fabel, sofern es eine Erzählung oder eine Metapher, sofern es ein Ausdruck ist. Baumeister aller seiner Bilder ist freilich der Witz – die »Bemerkung verborgener und entfernter Aehnlichkeiten«.18 In seinem ersten von ihm zur Publikation für würdig empfundenen Aufsatz Etwas über den Menschen zeigt sich Jean Paul fasziniert von der Tatsache, dass der Mensch »die Fähigkeit besitzt, das Unvereinbare zu vereinigen« (II/1,185). Diese Erkenntnis ist der frühe Dreh- und Angelpunkt seiner Bildkreationen, die Wurzel seiner bildlichen Schöpfungskraft. Dass es ihm dabei um die Wahrheit des Bildes nicht geht, zumal diese in den Wissenschaften ohnehin nur Meinung sei – Wahrheit könne allenfalls empfunden werden –, sondern um das Bild an sich, möchte ich anhand eines weiteren Textes aus dem satirischen Nachlass vor Augen führen (Satiren und Ironien, Bd.6 aus dem Jahre 1786, Eintrag [36]/31):

[36]/31 Ich habe sonst19 verschiedene Fabeln gemacht, zu denen ich, weil sonst nichts mehr gegen mich20 verfangen wolte, zulezt meine Zuflucht nahm und21 ich stellete mir darin meine Thorheit, die Wahrheit nach dem Wize zu formen und zu ründen, mit eben so wahren als lächerl.22 Farben vor Augen; allein da ich endlich sah, daß ich nicht zu bessern stand, so lies [ich] solche unnüze Versuche fahren. Seitdem thue ich mir keinen Zwang mehr an, wenn ich ein Gleichnis habe und die Wahrheit nicht hineinpasst; ich thue soviel von der Wahrheit ab, bis sie sich hineinschikt. So ist es z. B. der Wahrheit gemässer, daß ich die Geselschaften23 der iungen Prinzen nüzlich nenne; allein da mir das Gleichnis eingefallen p., so mach’ ich mir keine Bedenken, gerade das zu sagen, was der Wahrheit widerstreitet. Ferner würd’ ich manche Personen nicht so sehr gelobt haben, wenn nicht das Gleichnis es verlangt hätte; sie müss. sich dah. für ihr Lob nicht bei ihren guten Eigenschaften, sond.\9\

––––––– 17

18 19 20 21 22 23

Vgl. hierzu Hans Esselborn, Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaften in den Schriften Jean Pauls. Tübingen 1989, S.131–195. Zitiert nach Horn [Anm.9], S.19. sonst] davor gestr. gestern gegen mich] nachtr. und] davor gestr. , um mich lächerl.] aus lächerl. als wahren Geselschaften] davor gestr. Prinzen

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bei dem Gleichnisse bedanken. Selbst das, was ich iezt vom Einflusse der Gleichniss. auf meine Wahrheit gesagt habe, ist im Grunde nicht wahr und ich sagte nur, daß ich meine Schilderungen der Personen nach dem wizigen Vorrathe zuschnitte, um sagen zu können, daß ich dem Bildhauer gleiche, der seine Gebilde in dies. od. iener Stellung zeigt, ie nachdem es die Gestalt des Marmorbloks erlaubt.

Zum Abschluss dokumentiert noch ein ausgewählter Eintrag zu unserem Thema Jean Pauls Auseinandersetzung mit seinen literarischen Vorbildern. In einem Brief an Pfarrer Vogel in Rehau vom November 1781 teilt er mit, er lese jetzt »wizzige, beredte, bilderreiche« Schriften. »Der Wiz eines Voltaires« habe ihn u.a. Französisch lernen lassen (SW III/1,34). Bevor er sich also die Engländer Swift, Pope und Young als Muster nahm, schulte Jean Paul sein kritisches Verständnis von gelungenen Bildern am französischen Beispiel. Näheres hierzu erfährt man im dritten Eintrag des ersten SatireBandes, der zeitgleich entstanden ist: III. Von Voltaire. Die Bilder und Gleichnisse, welche Volt. in seiner Henriade anbringt, sind zu gemein und zu bekant, und zu24 wenig häufig. Die Ausfürung des Gleichnisses im 4 Gs. V. 44 ist schön; aber das Gleichnis ist bekant. Denselben Feler hat Virgil. Die französ. Einbildungskraft scheint überhaupt zur Schöpfung der Bilder nicht ser geneigt und geschikt zu sein. Und dieses ist kein geringer Beweis von ihrer Schwäche. Der Engländer häuft Bilder auf Bilder, und hier ist der Deutsche mer Nachamer des Engl. als des Franzos. – Es ist merkwürdig, daß man in Epopeen weniger neue25 Vergleichungen antrift als in komischen Gedichten, daß es mer wizzige und lächerliche als grosse giebt. Diese Armut auf der einen, und dies. Reichtum auf der anderen Seite scheint sich auf die Leichtigkeit zu gründen, womit sich das Grosse dem Auge darbietet, und auf die Schwierigkeit, die die Bemerkung des Kleinen verhindert, und vielleicht auch auf die ungleich grössere Anzal kleiner als gross. Gegenstände in der Welt. – Voltaires Wiz besteht meistens in der Vergleichung unänlicher Teile derselben Sache; andre vergleichen meistens unänliche Sachen miteinander. Daher der Reiz von dem Wizze ienes Mannes; daher das philosophische Ansehen desselben; daher die Unerschöpflichkeit desselben. Im Kandide und in s.[einen] Briefen26 leuchtet dies. am meisten hervor. – R.[ichter] –

––––––– 24

zu] davor gestr. oft neue] nachtr. 26 und bis Briefen] nachtr. 25

WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN

JEAN PAUL ALS SATIRISCHER PHILOSOPH

In der vorliegenden Skizze geht es um den jungen Jean Paul, nicht um den Verfasser der Clavis Fichtiana und auch nicht um den des Giannozzo; obwohl beide Stücke wesentlich von den Ideen der Jugendschriften zehren. Es soll noch einmal1 knapp und umrisshaft Jean Pauls Entwicklung vom gelehrten Eklektiker zum empfindsamen metaphysischen Existentialisten nachgezeichnet werden. Anspruch auf irgendwelche neueren literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse erheben diese Zeilen nicht. Der junge Jean Paul macht die Veränderung des Begriffs der Philosophie und die Veränderung des Philosophenstatus mit, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzogen hat. Er beginnt rhetorisch-ciceronianisch als eklektischer Philosoph, freilich als einer, dessen Wissen nicht auf politische oder ökonomische Praxis abzielt. Jean Pauls Eklektik ist vielmehr von akademischer Gelehrsamkeit; sie hat den polyhistorischen Charakter, der beispielsweise die Literär-Wissenschaft Christoph August Heumanns oder die Theologie und Philologie Johann Franz Buddes kennzeichnet. In Bezug auf die schöne Literatur ist der junge Friedrich Richter am ehesten mit dem frühen Christian Thomasius und dessen Monatsgesprächen vergleichbar. Zugleich übernimmt er die Grundgedanken der Natürlichen Theologie, wie sie Gottfried Wilhelm Leibniz in der Theodizee vertrat, und verbindet sie mit empfindsamen Momenten, die gleichermaßen von Laurence Sterne und von Friedrich Gottlieb Klopstock stammen. Diese Topoi metaphysischer Empfindsamkeit, die er auch in der Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis findet, stellt er entschieden der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und Immanuel Hermann Fichtes gegenüber.

––––––– 1

Ich habe mich vor vielen Jahren in meiner Dissertation (Maschine und Teufel. Jean Pauls Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte. Freiburg, München 1975) zu diesem Thema geäußert und das Basler Roundtablegespräch im Juni 2009 zum Anlass genommen, meine Thesen unter neuen Rahmenbedingungen zu diskutieren.

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I. Ciceronianische gelehrt-rhetorische Philosophie Die umfassende Gelehrsamkeit ist ein humanistisch-rhetorisches Ideal. Sie stammt aus der ciceronianischen Tradition und wurde in der Frühen Neuzeit vor allem von Erasmus von Rotterdam ausgebaut und im Schul- und Universitätsunterricht etabliert. Die beiden wichtigsten Werke, die diesen Typus einer Verbindung von Rhetorik und Philosophie ausmachten, sind Erasmus’ Adagia (1505) und sein Rhetoriklehrbuch De duplici Copia Verborum (1512).2 In den Adagia sammelte Erasmus rhetorisch-philosophische Topoi. Von Auflage zu Auflage wurde diese Sammlung größer, so dass von der dritten, von ihm neu bearbeiteten Fassung an, also ab 1520, eine Serie alphabetischer Register vorhanden ist: nach Anfängen der Loci, nach »Loci secundum congruentium et pugnatium materiarum,« nach Hauptbegriffen,3 und in 77 Spalten nach Beispielen, die zu diesen Loci passen und die nach diesen Loci geordnet sind.4 Den Gebrauch dieser Loci erläutert er noch einmal im Prooemium: Sie sind schmückend, nützlich, einsichtsvoll.5 Es ist nicht ganz klar, wie weit die Loci das Argument selbst bestimmen, ob sie nur decorum oder eben auch argumentum sind. Genau hier wird die Frage nach der Übernahme der ciceronianischen Topik bei Erasmus wichtig. Dies hat er in De duplici copia verborum et rerum (1512), dem wichtigsten Schulbuch der rhetorischen Tradition des 16. Jahrhunderts, behandelt.6 Erasmus rhetorisiert hier die Frage danach, was ein Argument ist. Im zweiten Teil des Werkes, wo es um die copia rerum, um die Entfaltung des begrifflichen Reichtums geht, führt Erasmus eine dreistufige Argumentationssicherheit an: credibile (glaubhaft), propensius (wahrscheinlich) und non repugnans (nicht unmöglich). Argumentationssicherheit stellt sich ein, wenn die Invention ––––––– 2

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Wilhelm Schmidt-Biggemann, Sinnfülle, Einsicht, System. Bemerkungen zur topischen Arbeitsweise im Humanismus, in: Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 18.–20. April 1996, hrsg. von Jan Schröder. Stuttgart 1998, S.27–46. »Index locorum secundum seriem literarum quo facilius lector, id quod quaerit, inveniat« (Desiderius Erasmus, Adagia. Basel 1520, Register unpag.). Ebd.: »Index chiliadum iuxta locos et materias, ut tum forte venerunt in mentem. In quo sciat lector rationem habitam, contrariorum, similiu, & affinium. Veluti paupertas contraria est diuitijs, & ijs affinis munerum corruptela. Hoc admonendum putaui, quo quis uolet ijs uti prouerbijs, hanc eandem secutus rationem facilius quod quaerit, inueniat. Quando si quis sibi uolet alios locos, uel plures, uel exactiores fingere, uiam indicauimus in secunda de Copia commentario. Tum quamadmodum idem adagium ad uarios sensus accommodare possit, ostendimus in huius opoeris initio, cum utendi ratione explicauimus.« (Register unpag.) Ebd., S.7–10. Die folgenden Erwägungen finden sich in meinem Aufsatz Sinnfülle, Einsicht, System [Anm.2].

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gründlich ist. Die Berücksichtigung der Umstände einer Sache (circumstantiae) liefert die größte Fülle von Attributen dieser Sache; deshalb bilden die circumstantiae für Erasmus die wichtigste Inventionskategorie. Dieser Locus ist bei der produktiven Phantasie im Prozess der Entfaltung des Sinns von Begriffen unentbehrlich; weshalb er vor allem in juristischen Rekonstruktionen von Situationen und zur Erzeugung von Beispielen zum Tragen kommt. Um seinen zentralen Topos circumstantiae zu substantiieren, führt Erasmus zwei Listen auf: eine für Personen und eine für Sachen. Personen werden umfassend bestimmt nach »genus, natio, patria, sexus, aetas, educatio, habitus corporis, fortuna, conditio, animi natura, studia, affectatio, antefacta, antedicta, commotio, consilium, nomen«. Sachen werden beschrieben nach »causa, locus, tempus, occasio, antecedentia rem, adiuncta, consequentia, facultas, instrumentum, modus«.7 Die Erkenntnisse, die anhand dieser topischen Listen gewonnen werden können, werden in Beispiele umgesetzt, die rhetorisch eingesetzt und erzählt werden. Das funktioniert so: Wie in einem rhetorischen Kollektaneenbuch, in dem man literarische und andere Muster aufgeschrieben hat, werden die Erfahrungen des Gedächtnisses durchmustert. So stehen dann Beispiele für Rede und Konversation zur Verfügung. Sie funktionieren stets aufgrund von Analogie. Wer Beispiele hat, braucht keine logischen Subsumptionen oder Deduktionen, denn diese sind nach Erasmus Überzeugung für die Rhetorik unpassend. Für den Beweis und auch für die Fülle nützt am meisten die Kraft der Beispiele, die die Griechen paradeigmata nennen. Sie sind ähnlich oder unähnlich oder entgegengesetzt nach Art und Weise, Zeit und Ort und anderen Umständen, wie oben dargelegt. Diese Gruppe wird durch Geschichten, Fabeln, Sprichwörter, Urteile, Parabeln und Sammlungen, sowie durch Bilder und Analogien vervollständigt.8

Es wird deutlich: Im Humanismus hat die Topik die Aufgabe, Erkenntnisse in Fülle zu liefern. Das gilt für die copia verborum bei Erasmus, und das gilt – wenngleich mit Abwandlungen – auch für die Jurisprudenz und die Philosophie. Die Topik dient in den literae nicht so sehr der Sicherung der Argumen––––––– 7

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Desiderius Erasmus, Opera omnia, hrsg. von S. Dresden, L.-E. Halkin u.a. Bd.I,6: De copia verbo rum ac rerum, hrsg. von Betty I. Knott. Amsterdam, New York, Oxford u.a. 1988, S.230. »Plurimum autem valet ad probationem, atque adeo ad copiam, exemplorum vis, quae Graeci paradeigmata vocant. Ea adhibentur aut vt similia, aut dissimilia, aut contraria; rursum aut vt maiora, aut vt minora, aut vt paria. Dissimilitudo et inaequalitas constat genere, modo, tempore, loco, caeterisque ferme circunstantiis quas supra recensuimus. Hoc autem genus complectitur et fabulam, et apologum, prouerbium, iudicia, parabolam seu collationem, imaginem, et analogiam« (ebd., S.232).

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tation als vielmehr der Klärung der Sache sowie der Vermehrung von Beispielen. In der Jurisprudenz und in der Metaphysik besteht ihre Aufgabe darin, durch die Vielfalt von Prädikaten eine Sache so vollständig wie möglich zu beschreiben und durch die Fülle der Erkenntnisse sichere Einsichten zu präsentieren. Topik dient in jedem Fall dazu, eine Fülle von Beispielen und Argumenten für analoge Situationen zur Verfügung zu stellen; diese Fülle kann rhetorisch und philosophisch verwendet werden. Betrachtet man die Hauptverfahrensweisen des topischen Geschäfts mit Cicero als inventio und iudicium, dann waren es vornehmlich Inventionsaufgaben, die die Topik zu erfüllen hatte. Wie oben erwähnt war die Funktionsweise der Invention in der ciceronianischen Topik und Rhetorik mit derjenigen eines Kollektaneenbuches vergleichbar: Man schrieb das Interessante auf, ging es es für seinen Zweck je neu durch und formte aus den Kollektaneen Argumente. Das war die rhetorisch-topische Verwaltung der gelernten und erinnerten Geschichte. Die Wissensinventarisierung in den unterschiedlichen Disziplinen erfolgte mit Hilfe eines Registers: Die Kernbegriffe wurden zusammengestellt und standen für vielfältige Benutzung zur Verfügung; nach den Kern- und Registraturbegriffen konnte die Fülle des Wissens verwaltet werden. In diesem rhetorischen Sinne war die Topik Memorialwissenschaft und Memorialverwaltung – sie war die Bedingung der eklektischen Philosophie, die aus der Fülle des Wissens das Zweckmäßige (für welchen Zweck auch immer) auswählte. Die Phantasie, die das Gedächtnis aktualisierte, setzte enzyklopädisches Wissen voraus, und applizierte es auf neue, erfundene und erfahrene Situationen. Diese topisch-rhetorische Tradition bildete das Grundmuster der gelehrten Poesie und der polyhistorischen Gelehrsamkeit bis ins 18. Jahrhundert. Noch die Allgemeine Deutsche Bibliothek Nicolais, die Jean Pauls latitudinarischer Pfarrer Erhard Friedrich Vogel abonniert hatte und seinem bedeutendsten Schüler zur Verfügung stellte, diente als Arsenal für Jean Pauls Exzerptenenzyklopädik, die noch immer ganz ciceronianisch war. Sie war in ihrer Anlage nicht der Schule Christian Wolffs verpflichtet, sondern eher der eklektischen Schule von Christian Thomasius, zu der Johann Franz Budde die Lehrbücher, sein Schwiegersohn Johann Georg Walch ein sehr erfolgreiches Philosophisches Lexikon und Jakob Brucker die maßstabsetzende Philosophiegeschichte verfasst hatten. Zu dieser Tradition wurde auch Nicolai mit seiner Allgemeinen Deutschen Bibliothek gerechnet; als ciceronianischen, jämmerlich eklektischen Philosophen haben ihn Fichte und Humboldt in einer fingierten Todesanzeige geschmäht, als sie ihre eigene Transzendentalphilosophie gegen die Eklektik profilieren wollten.9

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II. Satire Auf die literaturwissenschaftliche Debatte zur Theorie und Geschichte der Satire möchte ich hier nicht eingehen.10 Ich gebe hier nur einige historische Beispiele, wieder aus der humanistischen, bis in die Aufklärung reichenden Tradition. Sie sind wohl exemplarisch für den Satirentypus, den der junge Jean Paul bedient, bleiben aber doch nur rhapsodisch. Das Musterstück im Humanismus stammt erneut von Erasmus: Im Lob der Torheit (1511) verkündet diese als Allegorie im Narrenkleid ihren eigenen Ruhm. Es zeigt sich hier, dass die Satire mit der Diskrepanz von Selbst- und Fremdwahrnehmung arbeitet. Jean Pauls Beispiel wird später das Leben des Schulmeisterlein Wuz (1790) sein, das sich seine eigene philosophische Weltliteratur schreibt. Das Schulmeisterlein Wuz kann im Übrigen auch als Selbstparodie des exzerpierenden jungen Friedrich Richter gelesen werden, dem das Geld fehlt, sich Bücher zu kaufen, der aber auf die Buchgelehrsamkeit des ciceronianisch-eklektischen Philosophen angewiesen ist. In ähnlicher Weise ist der Leser auch bei Voltaire klüger als der Text, den er liest, wenn er sich denn den Candide zu Gemüte führt: Dieser plappert naiv das Lob der besten Welt aller möglichen, obwohl sein Schicksal diese Philosophie Lügen straft. Bereits die Namen »Candide« und »Pangloss«, (der »Süße« und der »Universalsprachler«) sind allegorisch zu lesen – sie stehen für dulce et decorum und für die characteristica universalis. Schaut man beim jungen Jean Paul freilich genauer hin, so stellt man fest, dass er keine satirischen Romane schreibt, und sich auch nicht zur Obszönität, wie sie sich beispielsweise in Denis Diderots Bijoux indiscrèts zeigt, traut. Die Satiren des theologischen Kandidaten Friedrich Richter sind moralistische Kurz-Stückchen, ohne Handlung, mit Intellektual-Witz; und sie bedienen die Definition von Witz, dessen Tätigkeit darin besteht, »entfernte Ähnlichkeiten zu entdecken«.11 Ihnen fehlt die humorige Behaglichkeit von Sternes Tristram Shandy; sie haben vielmehr einiges von Jonathan Swifts Bitterkeit. Diese Bitterkeit wird von einer erasmianisch-gelehrten Beispielfreudig––––––– 9

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Wilhelm Schmidt-Biggemann, Nicolai oder vom Altern der Wahrheit, in: Friedrich Nicolai. Essays zum 250. Geburtstag, hrsg. von Bernhard Fabian. Berlin 1983, S.198–256. Auch in: W.Sch.-B., Theodizee und Tatsachen: Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Stuttgart 1988, S.223–288, bes. S.264–274. An dieser Stelle sei auf die immer noch einschlägige Monographie von Ulrich Gaier sowie die darin diskutierte Literatur verwiesen: Ulrich Gaier, Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart. Tübingen 1967. Vgl. aktuell auch den Artikel Satire in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd.III, hrsg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S.355–360. Vgl. in der Vorschule der Ästhetik: I/5,169.

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keit gesänftigt. Es handelt sich um rhetorisch-rationale, kurze und witzige Registersatiren, die Richter mit Hilfe des in den Exzerptbüchern gesammelten Materials anfertigt,12 und deren Witz in Serien von Aphorismen kulminiert. In dem Stückchen Verschiedene Perückenstöcke geht er beispielsweise offensichtlich alle Geschichten durch, die er sich unter Frisur oder Perücke oder Haare notiert hatte: Als ich aber einmal einen Fürsten sah, der seine Krone in den häufigen Augenblikken, wo er sich mit leichterem Haupte an den Busen des Vergnügens legen wolte, abnahm und sie an den hölzernen oder eisernen Kopf seines Günstlings hieng, der ihn schon durch eine frühe Bekantschaft vor dem Krönungstage angewöhnet hatte, sich ihm mit unbedektem Haupte zu zeigen: so sagte ich so laut, daß ich es hörte: ein Günstling ist nicht sowohl der Perükken- als der Kronenstok eines vortreflichen Fürsten. (II/2,12)

So ähnlich geht Richter bei den Haubenstöcken der Frauen, dem Müzenstock des Staatshuts von Venedig oder dem Schlafmützenstock vor. Ein analoges Beispiel in Bezug auf den moralischen Topos des versteinerten Herzens findet sich in der Feilbietung eines menschlichen Naturalienkabinets, wo die Liste den Kuriosa einer barocken Sammlung entspricht. Diese Exzerpte hat Richter später in Dr. Katzenbergers Badereise verwendet: Versteinerte Stücke vom Menschen sind so rar als welche von einem andern Planetenbewohner: denn was die afrikanische Stadt Bidolo und die Menschen, Bäume, Häuser und Thiere darin betrift, die alle nach der Erzählung eines gewissen Happelius (siehe Lessers Lithotheologie) 1634 ganz und gar versteinert worden, desgleichen den Kardinal Richelieu der eines petrifizirten Knabens davon habhaft worden: so kömmt uns, H. Lesser und mir, diese ganze Erzählung so verdächtig vor, daß ich mir sie in einem ausführlichen und deswegen ausdrücklich geschriebenen Oktavbändgen fast ganz umzuwerfen getrauete, wenn ich nicht schon so alt wäre. Es ist daher ausserordentlich viel, daß ich mich im Besitze eines versteinerten Herzens sehe, das der Paraschist aus dem Leibe des Königs nach seinem Tode holte. (II/2,387)

Fortgesetzt wird diese Stelle mit einer Analogiesetzung der Körperflüssigkeiten Harn und Blut, in denen das Auftreten eines Steins für durchaus möglich befunden wird, und weiter geführt wird sie in Ausschweifungen, die anhand des Registereintrags »Eisen« zustande gekommen sind. Die eiserne Stirn des Advokaten sowie die eiserne Hand Götz von Berlichingens leiten wiederum über zu Bemerkungen über braminische Nasen sowie schließlich zu Reliquien der zur Salzsäule erstarrten Frau des Loth. Allemal handelt es sich um satirische Kunst-Stückchen, die in einem gelehrten Witz kulminieren und ––––––– 12

Christian Schwaderer zeigt in seinem Beitrag in diesem Band sehr schön auf, wie Jean Paul aus einer ersten Notiz über Exzerpte und Registereinträge Satirentext generiert.

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enden. Falls einem die Stellen ein Lachen zu entlocken vermögen, und man nicht in ein Enttäuschungsloch fällt, lacht man mit einer gewissen politisierten Bitterkeit innerhalb der Gelehrsamkeit über dieselbe. III. Die Unterwanderung der eklektischen Philosophie durch empfindsam-existentielle Metaphysik Jean Pauls Satirenform und die eklektische Gelehrtenphilosophie sind eng miteinander verknüpft. Die Satire setzt die Gelehrsamkeit voraus, und die Gelehrsamkeit tendiert zur Selbstironie: Seit Erasmus gibt es die Tendenz, die Gelehrsamkeit in ihrer Bücherexistenz ins Lächerliche zu ziehen. Allerdings bleibt diese gegenseitige Bezogenheit zahm und ungefährlich; die Kategorien Gelehrsamkeit und Satire stellen einander nie in den kategorialen Grundkonzepten in Frage. Das ändert sich mit der Empfindsamkeit. Die sehnsuchtsvolle Freud- und Leidensseligkeit, die die Liebe und den Tod erfühlt, hat eine Tendenz zum Existentiellen. Der Begriff ›existentiell‹ existiert zwar noch nicht, doch zielt dieser Terminus, der die fragile Harmonie des Augenblicks beschreibt, in der sich Liebende befinden, genau darauf ab. Die Empfindsamkeit ist zerbrechlich, sie ist augenblickshaft, bittersüß und uneindeutig: So hat Sterne sie mit gelassener, sanfter, wohlwollender Ironie in der Sentimental Journey zuerst dargestellt. Phasen empfindsamen Daseins sind flüchtig, sie enden in Verzicht wie bei Rousseaus Nouvelle Héloise oder tragisch – diese Verschärfung der empfindsamen Existenzbedrohung war eine der Ursachen für den Erfolg von Goethes Werther. Die Darstellungsform der Empfindsamkeit ist der Briefroman; hier offenbart sich die gefühlige Seele. Das zeigt: Empfindsamkeit entzieht sich der Philosophie; sie redet mit Gefühl, aber nicht über das Gefühl. Empfindsamkeit will die klare Begrifflichkeit der Philosophie, welche eine Herrschaft ausüben würde, vermeiden. In diesem Sinne hat die Empfindsamkeit klare Gegenpositionen: Sie meidet zunächst jeden Rationalismus. So wendet sie sich gleichermaßen gegen die ›kalte‹ Philosophie des Wolffianismus wie auch gegen die Transzendentalphilosophie. Empfindsame Seelen wenden sich darüber hinaus leise leidend, aber voller Abscheu gegen die altmodische, rhetorisch verbuchte Gelehrtenphilosophie, die fremde Erfahrungen wie eigene behandelt. Allerdings werden mit der neuen, labil sehnsuchtsvollen Seelenverfassung keineswegs die alten erbaulichen Errungenschaften des metaphysischen Rationalismus über Bord geworfen. Im Gegenteil: Die Sicherheit der persönlichen Identität, die Hoffnung auf Unsterblichkeit, die Existenz Gottes und die Harmonie der Schöpfung bilden die Voraussetzungen, die die Empfindsamkeit in den Rah-

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men der Leibnizschen Theodizee einfassen. Gerade darin, dass auch diese metaphysischen Positionen noch in Frage gestellt werden, liegt die Radikalität von Goethes Werther. IV. Die Liebe und der Tod Der junge Jean Paul – damals hieß er noch Johann Paul Friedrich Richter – hat diese Wendung von der Gelehrtenphilosophie zur Empfindsamkeit in dem ihm eigenen Konservatismus mitgemacht: Er hat weder auf die Gelehrsamkeit noch völlig auf die Satiren verzichtet, sondern blieb immer auch der Gelehrtenrepublik verpflichtet. Aber am Ende schrieb er empfindsame Romane mit satirischen Einlagen, die (wie das schon zitierte Schulmeisterlein Wuz) entweder das arme Gelehrtendasein persiflieren oder die Welt immer noch nach dem Maßstab der Theodizee von hoch oben in der ständigen Verfehlung des Bestmöglichen kritisieren (so der Giannozzo). Neben der Veränderung, die im Schreiben sichtbar wird, gibt es auch Berichte über die ans Komische grenzende Wende von der gelehrten Bitterkeit zur empfindsamen Harmoniesucht, die das Leben Richters verändert. Es wird von Jean Pauls ›Tutti-Liebe‹ berichtet, einer Liebe freilich, die sich im Zwischenraum von imaginärer und nahezu ätherisch-körperloser Empfindung ereignet. Amöne Herold, die spätere Frau von Jean Pauls Jugendfreund Christian Otto, berichtet folgende Szene: Oft, wenn wir uns in der Dämmerstunde um ihn versammelt und er sich und uns mit seinen Phantasien auf dem Klaviere in solche wehmüthige Stimmung gebracht, daß uns die Thränen über das Gesicht liefen und er vor Rührung nicht weiter spielen konnte: brach er schnell ab, setzte sich zu uns und sprach von seiner Zukunft ... (II/4, S.272f.)

Es ist der Versuch, die Praxis des Gefühls, wie sie in Rousseaus Nouvelle Héloise vorgezeichnet war, nachzuvollziehen – eine in ihrer Naivität wiederum anrührende Szene, die zeigt, wie Gefühl und Lektüre sich gegenseitig bestimmen. Es ist eine buchbestimmte Propagandaszene für echte, weitgehend buchfreie, aus dem eigenen Inneren kommende Empfindungen. Aber der junge Richter wäre nicht der Philosoph, der er war, wenn er diese Situation nicht auch theoretisch verarbeitet hätte. In einem Briefwechsel mit seinem Freund Völkel erprobt er die Definition der Liebe als »Gefallen an fremder Vollkommenheit« philosophisch-rational: [Ist] das Gefallen an fremder Vollkommenheit (Liebe) Eigennuz? ... Was wollen oder missen wir am Ende denn für eine Uneigennüzigkeit? – die, daß ich den andern ganz wie mein Ich liebe, mit der nämlichen Heftigkeit, ohne alle Beziehung

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auf dasselbe liebe? dan wäre sein Ich ia gar meines und es bliebe kein Unterschied, die Liebe wäre verpflanzt, nicht veredelt und ich hätte blos die Ichs getauscht. Das Uneigennüzige besteht vielmehr eben darin, daß meine Natur fähig ist, vom Anblick einer fremden so gerührt zu werden und von ihrer Vollkommenheit solche Eindrücke oder Nachahmungen zu bekommen. Wie gesagt begehr’ ich des andern Glükseligkeit ganz ohne Antheil der meinigen: so hab’ ich ja seinen Trieb, und sein Eigennuz ist nur aus seinem Ich in meines gezogen. (II/2,664)

Es ist schwer zu sagen, ob Richter von seiner theoretischen Lösung des Verhältnisses von Selbst- und Fremdliebe am Ende überzeugt war – wahrscheinlich eher nicht –, aber er konnte es eben nicht lassen, seine Gefühle auch philosophisch nachzukonstruieren. Wo es um das Gefühl ging, ging es ums Ich, ums Selbstgefühl. Hier spielte die Frage nach der Individualität, nach dem Tod und der Unsterblichkeit eine philosophische und zugleich sentimentale Schlüsselrolle. Die Fragen nach dem Tod lassen sich in der abendländischen Tradition an keiner Stelle von der Terminologie der Erbauungsliteratur trennen – das gilt auch für Jean Paul. Dieser übernimmt die erbauliche Dimension von Schöpfung und Tod wesentlich in der Terminologie und Stimmung aus Klopstocks Lyrik. Er kostet die Todes-Empfindsamkeit, die er aus Klopstocks Die frühen Gräber kennt, sentimental aus, wenn er in dem Rührstück Das Leben nach dem Tode vom »strömenden Blick unaussprechlicher Liebe« schwärmt (II/2,688); zugleich zerphilosophiert er dieses Gefühl präzise in einem Traktat für und wider die Unsterblichkeit: in Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewustseins (II/2,776–798). Der Topos des Todes und der Unsterblichkeit hat Jean Paul umgetrieben – er findet sich noch einmal, freilich satirisch gebändigt, entemotionalisiert und entexistentialisiert in Meine lebendige Begrabung (II/2,713–724). Allemal geht es um das Ich, das zwischen transzendentalem Subjekt und selbstempfindlicher Herzinnigkeit oszilliert. Und diese Empfindsamkeit will sich Jean Paul nicht wegphilosophieren lassen. V. Anti-Transzendentalphilosophie, erbaulich Die entscheidende philosophische Wende gegen die Transzendentalphilosophie wurde beim jungen Richter durch Friedrich Heinrich Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn (1785/89) veranlasst. Der philosophische Satiriker, der dieses Buch nur mit einigen Schwierigkeiten von seinem Mentor Erhard Friedrich Vogel geliehen bekam,13 las den Briefwechsel Jacobis mit Mendelssohn sowie Jacobis Kant-Kritiken ––––––– 13

Schmidt-Biggemann, Maschine und Teufel [Anm.1], S.269.

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nicht in Bezug auf dessen sehr einflussreiche Kritik der widerspruchsvollen kantischen Konzeption des Dings an sich (Kritik der reinen Vernunft), sondern aus der Perspektive des Natürlichen Theologen, der seine Hauptstücke – die Existenz Gottes, die Möglichkeit der Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele – in Frage gestellt sah. Die existentielle Frage von Tod und Unsterblichkeit hatte Richter lange umgetrieben; die Frage nach der Existenz Gottes, deren rationale Beweismöglichkeit Kant abstritt, wurde für Jean Paul zum Schibboleth in seinem Verhältnis zur Transzendentalphilosophie zunächst Kants und später Fichtes. Ohne die Existenz Gottes und die persönliche Unsterblichkeit, die von der rationalen Theologie garantiert worden waren, sah Richter den Sinn der menschlichen Existenz14 in Frage gestellt. Wenn die Rationalität diese metaphysischen Bedürfnisse nicht befriedigen konnte, dann diskreditierte das in seinen Augen die Leistungsfähigkeit der Transzendentalphilosophie, nicht die Gegenstände der Natürlichen Theologie. Mit Hamann und Jacobi glaubte Richter, das Gefühl müsse und könne die Defizite der Rationalität kompensieren. Wenn die Frage nach Gott und der Unsterblichkeit gefühlsbetont traktiert wird, ist es unvermeidlich, dass die Topoi der Erbauungsliteratur bedient werden. Das geschieht bei Richter um 1790 in auffälliger Weise: Er beschäftigt sich – was er nachher nie mehr tun wird – erbaulich-einfühlsam mit dem leidenden Erlöser-Christus. Die Topik eines empfindsamen, fast pietistischdogmengläubigen Christentums, die ihn nie wirklich interessiert hat, bekommt unter dem Druck der kantianisch-kritischen Theologie eine ganz neue Valenz. Seht ihn blutend am Kreuz; zwar durchlöchern Nägel seine zarten Hände, eben die Hände, die so viel Wohlthaten ausgetheilt, die so viel Thränen abgewischet; zwar durchbohren Dornen sein Haupt, das soviele belehrte, indem er Nacht und Tag neue Wahrheit ausan; zwar stehen auf seiner Brust die blutenden Schwielen, in der

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Der Terminus ›Sinn des Lebens‹ findet sich, soweit ich sehe, noch nicht bei Jean Paul, sondern ist eine Formulierung Nietzsches in Der Antichrist. Stellvertretend für die Abschnitte 37–50 sei hier exemplarisch der Beginn des 43. Abschnittes zitiert: »Wenn man das Schwergewicht des Lebens n i c h t in’s Leben, sondern in’s »Jenseits« verlegt – i n ’ s N i c h t s –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte, – Alles, was wohlthätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Misstrauen. S o zu leben, daß es keinen S i n n mehr hat, zu leben, d a s wird jetzt zum ›Sinn‹ des Lebens ...« (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd.6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. Berlin, New York 1988, S.217). Zum Begriff ›Sinn des Lebens‹ vgl. auch den Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd.9, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt, Basel 1995, S.815–824.

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ein so gutes Herz schlägt, und an der sein Jünger lag; zwar stecken Nägel in seinen Füssen, die oft giengen und in Dornen traten um andern zu helfen. Aber schaut seine verwundete zerfleischte Hülle nicht an, sondern sehet in sein Herz hinein, was sind für Gedanken da? O wo giebt es etwas sanfteres, der grosse blaue Himmel um ihn ist nicht so schön wie der kleine Himmel in seinem Herz – alle Tugenden schlafen friedlich drinnen, in seinem Herz ist Got; wie wein wallendes Blumenfeld steht sein Leiben vor [ihm]; lauter gute Thaten, die zu Engeln geworden (und aus ieder guten That wird ein Engel der dich beschüzt) und wenn er endlich auf zur Sonne sieht, so winkt sie seiner Seele daß sie den gemarterten Leib verlasse und hinauf fliege ins höhere Leben, ins bessere Leben, wo Licht und Unschuld und Got und Fromme wohnen. Endlich senkt er sein TodtenHaupt und seine fromme Seele fliegt in Gottes Arme. (II/2,799f.)

Das charakteristischste Stück dieser Metaphysikkrise, in dem die Motive der erbaulichen Gräber- und Todesliteratur vereinigt sind, ist Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Got sei, die später in die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, das kein Gott sei umbenannt und als »Blumenstück« (Jean Pauls Version der philosophischen Erbauungsliteratur) in den Siebenkäs eingebaut wurde. Shakespeare steht beim Satiriker Richter ganz emblematisch für Hamlet, der mit dem Totenschädel vor Augen über Sein und Nichtsein philosophiert. Der den Verlust Gottes beklagende tote Christus ist die personifizierte erbauliche philosophische Negation der Logos-Christologie, die mit Vanitas-Topoi ohne transzendenten Trost auf den leeren Kosmos verweist. Die Diagnose lautet: Die Transzendentalphilosophie hat Gott getötet. Jean Pauls kosmische Topik beerbt die Natürliche Theologie, die kaum ein Autor des deutschen 18. Jahrhunderts mit einer solchen Intensität gepriesen hat wie Klopstock. Richter beerbt dieses Pathos, indem er den Verlust des kosmischen Sinns beklagt. Dieser Sinnverlust wird bei ihm durch tröstliche Erbaulichkeit kompensiert: » – Ich hör’ nur mich und hinter mir wird vernichtet. In dieser weiten Leichengruft der Natur ist alles allein wie das Nichts und vor diesem Ur-Orkan, der auf dem Chaos kräuselt und redet, wird jedes Wesen einsam getragen oder einsam verschart. Aber warum werden wir noch getragen? warum ist noch etwas? Wer hält den Zufal ab – als wieder der Zufal –, daß er nicht den Sonnenfunken austrit und durch das Sternen-Schneegestöber schreitet und Sonne um Sonne auswehet, wie vor dem eilenden Wanderer Thautropfen um Thautropfen ausblinken? Und du, armer, gaukelnder Mensch, dessen Leben der Seufzer der Natur oder das Echo dieses Seufzers ist – dessen Todtenasche die sichtbare abgekrazte Spiegelfolie ist, die einen Lebendigen vorlog und schuf – dessen Sein ein Holspiegel ist, der ein wackelndes eingewölktes Ding in die Luft hinstelte: schaue hinunter in den Abgrund, über welchem die Todesaschenwolken des Untergegangenen ziehen und denke noch in deinem Zerstieben: ich bin! Und träume noch von deinem entzweifallen-

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den Herzen: es liebte! ... Seht ihr denn nicht, ihr Todten, das stillestehende Aschenhäufgen auf dem Altar, ich meine das vom verfaulten Jesus Christus ...« Mit einem schreklichen Schlage schien der Glockenhammer, der sich unendlich über uns ausbreitete, die zwölfte Stunde zu schlagen und er zerquetschte die Kirche und die Todten: und ich erwachte und war froh, daß ich Got anbeten konte. Seine Sonne aber schien röther durch die Blüthen und der Mond stieg über das östliche Abendroth und die ganze Natur ertönte friedlich wie eine ferne Abendglocke (II/2,591f.).

KATHARINE WEDER

ZUM »RAPPORT« VON MUSIK UND MESMERISMUS BEI JEAN PAUL UND E.T.A. HOFFMANN

Jürgen Barkhoff hat diskursive Überschneidungen zwischen Musik als »romantischster aller Künste« (E.T.A. Hoffmann) und Mesmerismus als »romantischster aller Wissenschaften« (Nicholas Saul) untersucht.1 Die an Magneten beobachteten Kräfte der Attraktion und Abstoßung werden im Lehrsystem des »thierischen Magnetismus« oder – nach seinem ›Entdecker‹ Franz Anton Mesmer – so genannten Mesmerismus für universal wirksam erklärt und therapeutisch erprobt: Magnetische Wechselwirkungen und Wahlverwandtschaften gelten nicht nur für die anorganische, sondern besonders auch für die organische Natur und betreffen Körper wie Psyche des Menschen. Ursächlich dafür ist nach Mesmers Auffassung ein Fluidum, welches das Weltall durchströmt, innere und äußere Natur, Einzelwesen und Kosmos verbindet und alles Geschaffene in »magnetischen Rapport« setzt, wie der entsprechende Fachbegriff lautet. Hier soll das Medium der Literatur nach den Besonderheiten des »Rapports« von Musik und Mesmerismus befragt werden. Zur Sprache kommen in einschlägigen Elementen parallele, aber auch produktiv gegeneinander abgrenzbare literarische Fallbeispiele Jean Pauls (I) und E.T.A. Hoffmanns (II), bevor ich in einem letzten Schritt das den Texten zu Grunde liegende Kunstkonzept (III) thematisiere. I In Jean Pauls Roman Titan (1800–1803) heißt es über die Wirkung des Spiels der Glasharmonika-Künstlerin Liane auf den Grafen Albano von Cesara: ––––––– 1

Und zwar am Beispiel der Glasharmonika. Vgl. Jürgen Barkhoff, Töne und Ströme. Zu Technik und Ästhetik der Glasharmonika im Mesmerismus und bei E.T.A. Hoffmann, in: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850, hrsg. von Britta Herrmann und Barbara Thums. Würzburg 2003 (=Stiftung für Romantikforschung 17), S.165–191, hier: S.166f. mit Verweis auf Saul, der Hoffmanns berühmte Bestimmung weiterführt; s. auch Katharine Weder, Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus. Göttingen 2008, S.213–228.

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Katharine Weder

Mit immer engern Kreisen faßten ihn die magnetischen Wirbel der Töne und der Liebe an. – Und nun da das Ziehen der Harmonika wie das Wasserziehen der stechenden Sonne sein Herz aufleckte – und da die Blitze der Leidenschaft über sein ganzes Leben fuhren und das Gebirge der Zukunft und die Höhlen der Vergangenheit beleuchteten und da er sein ganzes Dasein in einen Augenblick zusammenfaßte: so sah er einige Tropfen aus Lianens gesenkten Augen quellen, und sie blickte heiter auf, um sie fallen zu lassen – da riß Albano die Hand aus den Tönen und rief mit dem herzzerschneidenden Ton seiner Sehnsucht: »O Gott, Liane!« – (I/3,327f.)

Musik und Liebe werden hier insofern parallelisiert, als beides, die Töne und die Liebe, gemäß der prädikativen Grundstruktur der Metapher magnetische Wirbel sind. Dem zeittypischen Diskurs entsprechend interagieren erstens Musik und Magnetismus und zweitens Liebe und Magnetismus, wobei in unserem Zusammenhang vor allem Ersteres von Interesse ist. Um 1800 schließt der Begriff des Magnetismus häufig den – ja gerade in Analogie zum physikalischen Magnetismus konzipierten – Mesmerismus ein.2 Die Vorstellung der Töne als magnetischer Wirbel erinnert einerseits an die mechanistisch-materialistische Wirbelhypothese des Descartes,3 andererseits evozieren Wirbel etwa auch Wasserstrudel und damit jene Dynamik der Ströme, Energie- und Stoffzirkulationen, die als ein für das 18. Jahrhundert und noch für die Zeit um 1800 konstitutives Organisationsmodell des Wissens nachgewiesen wurde. Es prägt nicht nur den musikästhetischen Diskurs, sondern an ihm hat auch der Mesmerismus teil, indem das magnetische Agens als Fluidum galt.4 Der Vergleich mit dem »Wasserziehen der stechenden Sonne« im obigen Zitat, die melodischen Töne, die der Spielerin »entfließen« (I/3,308), der Klang, der in der Luft »vertropft« (ebd.), sowie die »Tropfen« (I/3,315), welche die Musik den Herzen der Zuhörer entzieht, verdeutlichen die Vorstellung der Töne als Ströme bei Jean Paul. Aussagekräftig ist überdies die Wirkung, die Lianes Spiel auf Albano hat: die Intensität von Albanos Erleben, »da die Blitze der Leidenschaft über sein ganzes Leben fuhren und das Gebirge der Zukunft und die Höhlen der Vergangenheit beleuchteten und da er sein ganzes Dasein in einen Augenblick ––––––– 2

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Zu Jean Pauls Kenntnis des Mesmerismus vgl. Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995, S.137–160. Manfred Durner, Francesco Moiso, Jörg Jantzen, Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800. Stuttgart 1994 (=Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, Ergänzungsband zu Werke Bd.5–9), S.165–171. Jürgen Barkhoff, Inszenierung – Narration – his story. Zur Wissenspoetik im Mesmerismus und in E.T.A. Hoffmanns Das Sanctus, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann. Würzburg 2004 (=Stiftung für Romantikforschung 26), S.91–122, hier S.92 mit Verweis auf die Studien von Albrecht Koschorke und Joseph Vogl.

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zusammenfasste«, erinnert an die gesteigerte oder jedenfalls veränderte Wahrnehmung und prophetische Fähigkeit von Magnetisierten im höchsten Grad der sechs magnetischen Stufen,5 die Carl Alexander Ferdinand Kluge in seinem 1811 publizierten Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel bestimmt – einem rasch zum Standardwerk erhobenen Kompendium aus mesmeristischen Experimenten und Schriften.6 Die Partizipation an größeren Wirkungszusammenhängen, die solche Transgressionen verheißen, hat als Kehrseite Ich-Verlust und Selbstentäußerung. Oft signalisiert eine eigentümliche Roboterisierung und Automatisierung das Wirken der magnetischen Zwingkraft. Dies lenkt den Blick auf eingeschränkte Willensfreiheit und Fremdbestimmtheit und auf die damit verbundene Gefährdung des Ich. Diese prekäre Seite deutet sich in der gewaltsamen Intensität an, mit der der Klang Albanos »Herz aufleckte« und in der jähen Reaktion, in der Albano Lianes Hand ergreift und damit ihr Spiel beendet, allerdings wohl auch, weil die Sehnsucht, die es weckt, zu intensiv ist. Auf den Mesmerismus beziehen lässt sich im Weiteren die Glasharmonika,7 Mesmers in seinen Therapien favorisiertes Instrument, das er »selbst meisterhaft spielete«.8 Nachdem Benjamin Franklin es 1761 in London entwickelt hat, wurde es zu einem außerordentlich modischen und umstrittenen Instrument.9 Halbkugelförmige, auf einer Achse rotierende Glasschalen werden mit wasserbefeuchteten Fingerspitzen zum Klingen gebracht.10 Bei Mes––––––– 5

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Kluges Systematisierung wird zusammengefasst unter dem Stichwort »Magnetismus, thierischer oder animalischer, auch Lebensmagnetismus genannt« in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. 2., ganz umgearb. Aufl. Bd.6. Leipzig, Altenburg 1815 (=Brockhaus-Enzyklopädie), S.42–46, hier: S.45: »Im sechsten Grade des magnetischen Zustandes (der allgemeinen Klarheit, Ecstase oder Desorganisation) tritt der Kranke wieder aus sich heraus, und in eine höhere Verbindung mit der gesammten Natur. Das, was vorher bloß innere Selbstbeschauung war, verbreitet sich nun über das Nahe und Entfernte, wird weder durch Raum noch durch Zeit mehr beschränkt. Mit einer ungewöhnlichen Deutlichkeit durchblickt er das Verborgne in der Vergangenheit und das in seinem Keime noch liegende Zukünftige.« Der große Wirkungs- und Verbreitungsgrad, den Kluges Kompendium schon bei Abfassung des Brockhaus-Artikels hatte bzw. der ihm noch bevorstand, ergibt sich daraus, dass es bis 1818 drei Auflagen erreichte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zum paradigmatischen Charakter von Kluges Werk für die Magnetismus-Diskussion in der Romantik vgl. Barkhoff, Magnetische Fiktionen [Anm.2], S.93–98. Die Charakterisierung als »gläsernes Heiligenhaus der Tonmuse« (I/3,307) beweist, dass es sich um eine Glas- und keine Tastenharmonika handelt. Christoph Wilhelm Hufeland, Mesmer und sein Magnetismus, anonym publiziert in: Der Teutsche Merkur, Oktober 1784, S.60–90, hier: S.82. Darauf spielt Jean Paul in der Aufzählung von Franklins Leistungen für die Menschheit an, »nämlich Gewitterableiter, Harmonika und Freiheit« (I/2,524). Franklin hat die in den 1750er Jahren Aufsehen erregenden musical glasses des Iren Richard Pockrich weiterentwickelt, indem sein Instrument sowohl über Pedale als auch über

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mer selbst finden sich allerdings nur dürftige theoretische Äußerungen zur Musik in seinen Therapien, die für sich genommen wenig erklären. Bedeutsamer sind der naturphilosophisch-naturwissenschaftliche und (nerven-) physiologische Begründungskontext, auf die sich Musik – insbesondere das Glasharmonikaspiel – und Mesmerismus gleichermaßen beziehen lassen. Im Folgenden vollziehe ich eine heuristische Trennung in der Darstellung, auch wenn die entsprechenden Argumente selbstverständlich diskursiv miteinander verzahnt sind. Der naturphilosophische Begründungskontext, in den Glasharmonikaspiel wie Mesmerismus eingebettet sind, deutet sich bei Jean Paul mehrfach an. Etwa heißt es, nach der Rezeptions- nun mit Blick auf die Produktionsseite von Kunst, Liane habe »die Töne wie Nachtigallen aus ihren Händen fliegen« (I/3,327) lassen. Mit der Betonung der Hände verweist Jean Paul auf das Spezifikum der Klangerzeugung auf diesem Instrument, die unmittelbar durch die wasserbenetzten Finger geschah, wie auch der Magnetiseur das Fluidum vor allem aus seinen Fingerspitzen strömen ließ. Die Klänge selbst werden bezeichnenderweise mit dem Naturgesang von Nachtigallen verglichen. Die Auffassung vom Harmonikaspiel als Einstimmen in den lieblichen Gesang der Nachtigallen und damit in die Naturmusik, die Vorstellung von der Naturnähe der Glasharmonika, die – neben der ebenfalls prototypischen Äolsharfe – eine sympathetische Kommunikation mit dem Kosmos ermöglicht,11 wird im Titan deutlicher in einer späteren Briefäußerung Lianes an Albano: »O, ich wollte, die Nachtigallen sängen noch, jetzt könnt’ ich mit ihnen singen; deine Äolsharfe, meine Harmonika wünscht’ ich in meiner Hand.« (I/3,378)12 Die Saiten der Äolsharfe, die über zwei Stege auf einem –––––––

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Schwungräder angetrieben werden konnte. Die Glasglocken wurden der Größe nach ineinander geschoben; dabei war der ganze Glasglockenkegel horizontal gelagert. Zehn Töne in einem Umfang von vorerst zweieinhalb, später bis zu vier Oktaven konnten gleichzeitig gespielt werden. Vgl. Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. 2., neubearb. Ausgabe hrsg. von Ludwig Finscher. 20 Bde. Kassel u.a. 1994ff., hier: Bd.3, Sp.1403f. Zur zeitlich genau eingrenzbaren Popularität der Glasharmonika vgl. Barkhoff, Töne und Ströme [Anm.1], S.169. Zum vieldeutigen Sympathiebegriff vgl. ebd., S.172. Die Harmonikatöne als Naturmusik klingen auch an, wenn vom »Mondschein der Töne« die Rede ist und es heißt: »der Zephyr des Klanges, die Harmonika, flog wehend über die Garten-Blüten – und die Töne wiegten sich auf den dünnen Lilien des aufwachsenden Wassers, und die Silberlilien zersprangen oben vor Lust und Sonne in flammige Blüten – und drüben ruhte die Mutter Sonne lächelnd in einer Aue und sah groß und zärtlich ihre Menschen an.« (I/1,308). Die dem Singen einer Nachtigall vergleichbare Lieblichkeit der Glasharmonikaklänge beobachtet 1798 etwa auch der Wiener Mathematikprofessor Franz Konrad Bartl bei einer Künstlerin: »Unter ihren Fingern reift der Ton zu seiner vollen schönen Zeitigung, und stirbt so lieblich hin, wie Nachtigallenton, der mitternachts in einer schönen Gegend ver-

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langen, schmalen Resonanzkasten (oft mit Schalllöchern) aufgespannt sind, werden durch Einwirkung eines Luftstroms zur Resonanz und somit zum Klingen gebracht; die Naturkraft des Windes wird also in besonderer Weise genutzt. Im Roman Hesperus mag bezeichnenderweise der astronomische, zum Kosmos hinstrebende Lehrer Emanuel die »abgehauchten Töne« (I/1,679) der Äolsharfe, die zudem ausdrücklich denjenigen »einer Harmonika« (I/1,677) verglichen werden. Dabei wissen nur wenige Eingeweihte, »wie weit die Harmonie der äußern Natur mit unserer reicht, und wie sehr das ganze All nur eine Äolsharfe ist, mit längern und kürzern Saiten, mit langsamern und schnellern Bebungen vor einem göttlichen Hauche ruhend« (I/1,680). Indem vom konkreten Einzelinstrument ausgehend der ganze Kosmos als eine Äolsharfe gesehen wird, klingt neben der alt überlieferten Mikrokosmos-Makrokosmos-Entsprechung die Vorstellung der All-Sympathie an, wobei das Naturgeheimnis metaphysisch gefasst wird. Der in die kosmischen Ströme eingebundene Mensch schwingt harmonisch mit und wird gar transzendiert, indem sich in ihm etwas Höheres artikuliert; etwa in Jean Pauls Diktum der »Harmonikaglocken im Menschen, die der höhern Welt nachtönen« (I/4,114) oder im Hesperus im Unvermögen der Hauptfigur Viktor, Äußeres von Innerem zu unterscheiden – »das sprachlose Herz sog schwellend die Töne in sich und hielt die äußern für innere« (I/1,777). Aus entsprechenden Konzepten schöpft auch der Mesmerismus. Eine bedeutsame Differenz fällt gleichwohl ins Auge: Mesmer hätte von einer sympathetischen Naturkraft gesprochen statt vom göttlichen Hauch, der durch die kosmische Äolsharfe zieht.13 Explizit taucht der Magnetismus im Hesperus bezogen auf eine andere Imponderabilie, das Licht, auf – in Emanuels Empfindung, als er sich mit geschlossenen Augen den lichten Gebilden seiner Phantasie hingibt: Im von den Himmelskörpern Sonne oder Mond erzeugten, durch die geschlossenen Lider gedämpften »Lichtbad sog der höhere Lichtmagnet in ihm Himmellicht aus Erdenlicht« (I/1,680). Wiederum rekurriert Jean Paul auf die als Lehre traditionsreiche Entsprechung zwischen dem Makrokosmos und –––––––

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hallt.« Zit. nach Peter Sterki, Klingende Gläser. Die Bedeutung idiophoner Friktionsinstrumente mit axial rotierenden Gläsern, dargestellt an der Glas- und Tastenharmonika. Bern, Berlin 2000, S.109. Ebenso wird in Hoffmanns Rat Krespel die Stimme von dessen Tochter Antonie mit »Nachtigallwirbeln« (HSW 4,46 Z.14f.) bzw. mit dem »Schmettern der Nachtigall« (HSW 4,60 Z.16f.) verglichen. Zur Zitierweise vgl. unten Anm.23. Allgemein zur Tendenz einer Substitution von ›Geist‹ durch ›Kraft‹ vgl. Ernst Benz, Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1971 (=Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 12), insbes. S.5–14.

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dem als Mikrokosmos gefassten Menschen, wobei sich in der als höher charakterisierten inneren Instanz erneut eine Transzendierung des Menschen andeutet. Bezeichnend für den erläuterten naturphilosophisch-metaphysischen Begründungskontext von Musik und Mesmerismus ist auch die folgende Beschreibung Lianes während ihres Glasharmonikaspiels: Nun deckten die großen Augenlider unbeweglich die süßen Blicke zu und gaben ihr wie ein Schlaf den Schein der Abwesenheit – sie schien eine weiße Maiblume auf winterlichem Boden, die das Blütenglöckchen senkt – sie war eine sterbende Heilige in der Andacht der Harmonie, die sie mehr hörte als machte – nur die rote Lippe nahm sie als einen feurigen Widerschein des Lebens, als eine letzte Rose mit, die den eilenden Engel schmückt – o konnt’ er dieses Beten der Tonkunst stören mit seinem Wort? – (I/3,327)

Die eigentümliche Entrückung ›wie schlafend‹, die scheinbare ›Abwesenheit‹ dieser ›sterbenden Heiligen‹, die Transzendierung dieses aus dem Diesseits ›eilenden Engels‹, der die harmonischen Klänge ›mehr hörte als machte‹ verweist dabei auf ein Kunstverständnis, in dem das medial-rezeptive Moment gegenüber dem autonom-schöpferischen akzentuiert ist. In Liane wirkt eine externe (die magnetische) Kraft, sie ist weniger autonome Schöpferin als rezeptives Medium.14 Glasharmonika wie Äolsharfe bringen überdies das – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend populäre – Resonanzmodell ins Spiel, das in den Ton-, Nerven- und Seelenschwingungen eine Kette von Entsprechungen sieht.15 An dieser Schnittstelle wird ersichtlich, wie der naturphilosophische mit dem (nerven-)physiologischen Diskurs verzahnt ist. Beide wurden dabei bereits als Begründungszusammenhänge identifiziert, aus denen sich diskursive Überschneidungen zwischen Musik und Mesmerismus ergeben. Auf das Resonanzmodell rekurriert etwa der Musiker, Komponist und Literat Michel Paul Guy de Chabanon 1781: Empfindlichkeit der Nerven. Wer weiß [...], ob auf diese Eigenschaft des Körpers sich nicht die Erregung des leidenschaftlichen Gefühls gründet? Der Mensch, man

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Mit einer derartigen Parallelisierung von Kunst und Magnetismus schließt Jean Paul an eine Ansicht an, die sich bezeichnenderweise verbreitet bei romantischen Naturphilosophen findet, etwa bei Gotthilf Heinrich Schubert, Franz von Baader und Johann Carl Passavant. Vgl. Weder [Anm.1], S.263–267. Dazu Caroline Welsh, Die Physiologie der Einbildungskraft um 1800. Zum Verhältnis zwischen Physiologie und Autonomieästhetik bei Tieck und Novalis, in: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, hrsg. von Maximilian Bergengruen u.a. Würzburg 2001 (=Stiftung für Romantikforschung 16), S.113–134 sowie C.W., »Töne sind Tasten höherer Sayten in uns«. Denkfiguren des Übergangs zwischen Körper und Seele, in: Romantische Wissenspoetik [Anm.4], S.73–89.

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glaube mir, ist ein musikalisches Instrument; seine Nerven sind den Saiten der musikalischen Instrumente gleichgestimmt; sie vibrieren, wenn jene klingen.16

Chabanon begründet die stark affektive Wirkkraft der Musik mit der sensiblen Beschaffenheit der Nerven, indem bestimmte, den musikalischen Relationen entsprechende Empfindungen erzeugt werden. Bezeichnend ist eine Verschiebung, die an der Instrumentenmetaphorik deutlich wird: Der Akzent wird nicht mehr darauf gelegt, dass – wie etwa bei Schiller – Körper und Seele mit zwei gleichgestimmten Saiteninstrumenten verglichen werden, die wechselseitig mitschwingen, sondern darauf, dass der Mensch (als durch die Nerven vermittelte leib-seelische Ganzheit) mit nur einem Instrument verglichen wird, das mitschwingt und auf dem deshalb gespielt werden kann.17 Die Möglichkeit der Einwirkung von außen birgt als Gefahr die Manipulierbarkeit der Seelenbewegungen, indem die Seele notwendig in Schwingungen versetzt wird, wenn die mittels der Töne hervorgerufenen Nervenschwingungen in harmonischer Proportion sind. Wie Barkhoff ausführt, ist im nervenphysiologischen Kontext interessant, dass der außerordentliche Effekt der Glasharmonikaklänge auf die Seelenregungen der Zuhörer im zeitgenössischen Diskurs auch konkret mit der Spielweise begründet wurde: Der Harmonikavirtuose berührt die Glasschalen mit seinen Fingerspitzen unmittelbar und erzeugt so den Ton. Auf diese Weise, so nahmen Zeitgenossen an, können die Affekte des Spielers direkt auf die Schwingungen übertragen werden, die von den rotierenden Schalen ausgehen. Dies wird insofern noch plausibler, als die nasse Haut als besonders durchlässig für Nervenschwingungen galt. Die Analogie zum Mesmerismus ist augenfällig: Wie auch dort das magnetische Fluidum insbesondere den Fingerspitzen des Magnetisierenden entströmte, so konnte der Glasharmonikaspieler seine Nervenerschütterungen und Seelenregungen über die Schallwellen den Zuhörern mitteilen und ihre Nerven sympathetisch mitschwingen lassen.18 Die Auffassung einer äußerst nervenaffizierenden Wirkung der Töne ist ein im Musikdiskurs traditionsreiches medizinisches Argument, das etwa aus dem Zitat von Chabanon ersichtlich wird. In der zeitgenössischen Kontroverse, die sich spezifisch am Glasharmonikaspiel entzündete, nämlich ob dieses schädlich oder heilend sei, wird oft der nervenphysiologische Begründungs––––––– 16

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In Hillers deutscher Übersetzung, zit. nach Christine Lubkoll, Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg i.Br. 1995 (=Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae 32), S.74. Vgl. mit Quellenbelegen Welsh, Physiologie [Anm.15], S.119. Vgl. mit Quellenbelegen Barkhoff, Töne und Ströme [Anm.1], S.172f.

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kontext herangezogen.19 In Jean Pauls Titan haben die Glasharmonikaklänge zumindest auf Albanos Schwester Rabette eine gesundheitsschädigende Wirkung – sie »gehörte unter die Menschen, welche dieses tönende Beben sogar physisch zernagt« (I/3,308). Zwar werden die Nerven nicht ausdrücklich genannt, der Bezug auf das Resonanzmodell, das eben in den Ton-, Nervenund Seelenschwingungen eine Kette von Entsprechungen sieht, wird aber daran deutlich, dass zunächst von physischem Zernagen die Rede ist, anschließend scheinbar übergangslos von der starken Affektwirkung, wenn Rabette von »Schmerzen« – wenngleich »süßen« – ergriffen wird und »ihr rüstiges Herz wie von heißen Strudeln gefasset, umgedreht und durchgebrannt« fühlt (I/3,309). Das Resonanzmodell klingt ebenfalls an, wenn im Hesperus »die zweite Harmonika, die Viole d’Amour« kennzeichnet,20 dass ihre »Sphären-Akkorde«, ihre Klänge »das Herz des Menschen mit unbekannten Kräften in Tränen zersplittern, wie hohe Töne Gläser zersprengen« (I/1,777). Denn das Weinen als Ausdruck einer Seelenregung scheint von den Tönen unmittelbar erzeugt, was wiederum durch die Annahme von einander entsprechenden Ton-, Nerven- und Seelenschwingungen plausibel wird. Der Aspekt der Klänge als Schwingungserscheinung wird durch den Vergleich mit berstenden Gläsern unterstrichen, der auf dem physikalisch erforschbaren Phänomen basiert, dass ein Körper durch einen anderen in Schwingung versetzt werden, ja aufgrund zu starker Erschütterung sogar zerspringen kann.21 ––––––– 19 20

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Dazu ebd., S.175f. Der Ton des im 18. Jahrhundert außerordentlich modischen Saiteninstruments der Viole d’amour galt als der Harmonika ähnlich. Vgl. etwa den entsprechenden Artikel in: Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit. Bd.6. Amsterdam 1809 (=Brockhaus-Enzyklopädie), S.331. In einer zeitgenössischen Quelle: »Endlich ist noch anzumerken, daß es Menschen gegeben hat, und noch giebt, welche durch ihr Geschrei machen können, daß Gläser zerspringen, ohne sie dabei anzurühren. Sie schreien nämlich bloß in dem Tone, den die Gläser von sich geben, wenn man sie sanft schlägt, oder auch um eine Oktave höher hinein, da dann dergleichen Gläser zu tönen anfangen, und nach und nach aber immer stärker und stärker tönen, bis endlich die Erschütterung zu stark wird, als daß die Theilchen des Glases ihren Zusammenhang nicht verlieren sollen. Auch ist es eine bekannte Sache, daß ein Flügel alle Töne von sich selbst sanft angiebt, wenn man daneben auf einem andern spielet. Wie dieses alles zugehe, ist ebenfalls leicht zu erachten; denn die luftigen Schallwellen stoßen ja nicht nur an unsere Ohren, sondern auch an alle andere in der Nähe befindliche Körper, um sie zu erschüttern, und erschüttern sie auch wirklich, wenn diese gehörige Spannung oder Elasticität besitzen.« Ernst Christian Wünsch, Kosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß. Bd.2: Von den Eigenschaften der irdischen Körper und von den Naturbegebenheiten auf Erden. 2. Aufl. Leipzig 1794 (EA 1779), S.463f.

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II Die Verquickung von Kunst mit Mesmerismusmotiven prägt auch zwei – in einschlägigen Elementen parallele – Musikerzählungen E.T.A. Hoffmanns: Rat Krespel (1818) und Don Juan (1812).22 Im Rat Krespel werden Musik und Mesmerismus ausdrücklich verknüpft, als die Titelfigur erläutert, wie sie das Spiel auf jener Geige empfindet, die als einzige vom gewohnheitsmäßigen Zerlegen verschont bleibt. So kennzeichnet Krespel sie gegenüber dem Ich-Erzähler als »ein sehr merkwürdiges, wunderbares Stück eines unbekannten Meisters, wahrscheinlich aus Tartini’s Zeiten«,23 mit der es Folgendes auf sich habe: Ganz überzeugt bin ich, daß in der innern Struktur etwas besonderes liegt, und daß, wenn ich sie zerlegte, sich mir ein Geheimnis erschließen würde, dem ich längst nachspürte, aber – lachen Sie mich nur aus wenn Sie wollen – dies tote Ding, dem ich selbst doch nur erst Leben und Laut gebe, spricht oft aus sich selbst zu mir auf wunderliche Weise, und es war mir, da ich zum ersten Male darauf spielte, als wär’ ich nur der Magnetiseur, der die Somnambule zu erregen vermag, daß sie selbsttätig ihre innere Anschauung in Worten verkündet. (HSW 4,48 Z.14–17)

Das Verhältnis zu dieser speziellen Geige wird als magnetischer Rapport dargestellt, wobei der Magnetiseur der Somnambulen gewissermaßen untergeordnet wird:24 Der Geiger Krespel ist hier bloß Anreger und Ausführender; bedeutsamer ist das Instrument, die Geige, die, erst einmal angestrichen, gleich einer Somnambulen in Selbsttätigkeit ein inneres Geheimnis preisgibt, dem in den mesmeristischen Fallgeschichten oft eine besondere Wahrhaftigkeit zugeschrieben wird, zu der im bewussten Zustand der Zugang allerdings verwehrt ist. Dahinter steht das Modell des Somnambulismus als eines Artikulationsmodus, der etwas sonst Verschüttetes, Inneres ans Licht bringen kann, wobei je nach Deutungsmuster des Somnambulismus zwischen den Polen von Immanenz und Transzendenz die Wahrheit des Nicht-Bewussten ––––––– 22

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Zu Entsprechungen der beiden Erzählungen vgl. Barbara Neymeyr, Musikalische Mysterien. Romantische Entgrenzung und Präfiguration der Décadence in E.T.A. Hoffmanns Rat Krespel, in: E.T.A. HoffmannJb 11 (2003), S.73–103, hier: S.87 und 97. Hoffmanns Werke werden zitiert nach E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke. Frankfurt a.M. 1985–2004 (=Bibliothek deutscher Klassiker). Stellennachweise aus dieser Ausgabe folgen in Klammern unmittelbar nach dem Zitat mit der Sigle HSW sowie mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe, hier: HSW 4,48 Z.6–8. Vgl. dazu Gabriele Brandstetter, Die Stimme und das Instrument. Mesmerismus als Poetik in E.T.A. Hoffmanns »Rat Krespel«, in: Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen. Konzeption, Rezeption, Dokumentation, hrsg. von G.B. Laaber 1988 (=Thurnauer Schriften zum Musiktheater 9), S.15–38, hier: S.21.

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oder das Fragment eines Höheren, Göttlichen artikulierbar wird.25 Insofern ist die Somnambule ›selbsttätig‹ und durch diese Artikulationsfähigkeit im Magnetrapport mächtiger als der Magnetiseur. Erst später, als Krespel dem IchErzähler »die Geschichte seines Lebens« (HSW 4,56 Z.14f.) und auch dieser Geige erzählt, erfahren wir genauer, unter welchen Umständen Krespel »zum ersten Male darauf spielte« (HSW 4,48 Z.14f.). Nachdem Antonie bereits den Verzicht auf Ausübung des für sie als lebensgefährlich diagnostizierten eigenen Gesangs entschieden hat und nun ihrem Vater »alte Geigen aus einander legen« (HSW 4,62 Z.31) hilft, ist sie – durch ihr sympathetisches Verhältnis zu dieser speziellen Geige26 – zumindest mitbeteiligt, dass er eine Ausnahme macht: Als der Rat jene wunderbare Geige [...] gekauft hatte und zerlegen wollte, blickte ihn Antonie sehr wehmütig an, und sprach leise bittend: ›Auch diese?‹ – Der Rat wußte selbst nicht, welche unbekannte Macht ihn nötigte, die Geige unzerschnitten zu lassen, und darauf zu spielen. Kaum hatte er die ersten Töne angestrichen, als Antonie laut und freudig rief: ›Ach das bin ich ja – ich singe ja wieder.‹ Wirklich hatten die silberhellen Glockentöne des Instruments etwas ganz eigenes wundervolles, sie schienen in der menschlichen Brust erzeugt. Krespel wurde bis in das Innerste gerührt, er spielte wohl herrlicher als jemals, und wenn er in kühnen Gängen mit voller Kraft, mit tiefem Ausdruck auf und niederstieg, dann schlug Antonie die Hände zusammen, und rief entzückt: ›Ach das habe ich gut gemacht! das habe ich gut gemacht!‹ (HSW 4,63 Z.3–18)

Der Selbsttätigkeit der Somnambulen in Krespels Aussage entspricht die durch Wiederholung betonte Äußerung Antonies, das habe sie gut gemacht. Zudem wird die Klangquelle der Geigentöne mit einem menschlichen Organ verglichen, wenn es heißt, »sie schienen in der menschlichen Brust erzeugt«. In umgekehrter Entgrenzungsbewegung gleicht Antonies Stimme »oft dem Hauch der Äolsharfe, oft dem Schmettern der Nachtigall«, ja ihre Singtöne »schienen nicht Raum haben zu können in der menschlichen Brust« (HSW 4,60 Z.16–18). Das Modell einer universellen Einheit von belebter und unbelebter Natur wird evoziert, auf das sich die Mesmeristen ebenfalls berufen ––––––– 25

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Vgl. dazu Harald Neumeyer, Magnetische Fälle um 1800. Experimenten-Schriften-Kultur zur Produktion eines Unbewußten, in: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hrsg. von Marcus Krause und Nicolas Pethes. Würzburg 2005 (=Studien zur Kulturpoetik 4), S.251–285, hier insbes. S.264–270. Dieses zeigt auch das Zerbersten der Geige bei Antonies Tod (wie Krespel erzählt): »›Als sie starb, zerbrach mit dröhnendem Krachen der Stimmstock in jener Geige, und der Resonanzboden riß sich auseinander. Die Getreue konnte nur mit ihr, in ihr leben; sie liegt bei ihr im Sarge, sie ist mit ihr begraben worden.‹« (HSW 4,53 Z.15–19) Das Modell der Sympathetik nimmt in der Rahmenerzählung Lothars Aussage von Antonies »Sympathie mit jenem altertümlichen Instrument Krespels« (HSW 4,65 Z.9f.) wieder auf.

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und das auf den naturphilosophischen Begründungskontext verweist. Die Künstlerin Antonie entspricht über die erläuterte Identifikation mit der Geige einer Somnambulen. Ursache und Wesen des hier Verhandelten bleiben allerdings unaufgeklärt – Krespel weiß nicht, »welche unbekannte Macht« ihn vom Zerlegen der Geige abhält. Das sympathetische Verhältnis zwischen der Geige und Antonies Stimme ist, wie Barbara Neymeyr herausgearbeitet hat, »die Voraussetzung für die von Vater und Tochter zufällig entdeckte, auf mesmerischer Entgrenzung basierende ›Substitutionstherapie‹«.27 Allerdings geschieht die Therapie um den prekären Preis von Antonies Selbstentfremdung als Künstlerin und Erotisch-Liebende (gegenüber einem Machtgewinn Krespels) und kann ihren frühen Tod lediglich aufschieben.28 Bei Jean Paul hatten wir bereits gesehen, wie Kunst – darin dem Mesmerismus parallel – eine veränderte, ja erweiterte Wahrnehmung und Erfahrung ermöglicht.29 Von Hoffmann wird dies gestaltet in Krespels »Zustand«, in den er gerät, bevor er Antonie tot auffindet, und der ihm »unbegreiflich« ist (HSW 4,63 Z.34). Die Starre, in der Krespel »sich nicht zu regen und zu rühren« (HSW 4,63 Z.28) in der Lage ist, die plötzlich präsente »blendende Klarheit« (HSW 4,63 Z.37) und die teilweise sich einstellende Empfindung »nie gefühlter Wonne« (HSW 4,63 Z.36) entsprechen dem nach Kluge im dritten magnetischen Grad eintretenden »Zustand der völligen Erstarrung«30 des Körpers und dem im höheren magnetischen Grad »der allgemeinen Klarheit«31 sich einstellenden »Gefühl des höchsten Wohlbefindens«.32 Hoffmanntypisch wird allerdings durch die als-ob-Rhetorik – die Episode einleitend heißt es: »war es [...] dem Rat so, als höre er ...« (HSW 4,63 Z.23f.) – und durchs Changieren der Aussageweise zwischen Indikativ und Konjunktiv im ––––––– 27

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Interessant dazu Neymeyr [Anm.22], S.87f. Dass die Therapie zunächst gelingt, indem der Gegensatz von Kunst und Leben kurzzeitig überwunden werden kann, belegt folgendes Zitat: »Oft sprach sie [Antonie] zum Rat: ›Ich möchte wohl etwas singen, Vater!‹ Dann nahm Krespel die Geige von der Wand, und spielte Antoniens schönste Lieder, sie war recht aus dem Herzen froh« (HSW 4,63 Z.19–22). Dazu ebd. S.93f. Neymeyr erläutert, wie Krespel seinen Versuch, Antonies frühen Tod zu suspendieren, nachträglich als Hybris wertet, indem er sich anmaßte, Schicksal zu spielen (vgl. die merkwürdige Stelle: »aber es geschieht nur alles deshalb, weil ich mir vor einiger Zeit einen Schlafrock anfertigte, in dem ich aussehen wollte wie das Schicksal oder wie Gott!« HSW 4,54 Z.8–11), und verbindet dies mit einer kritischen Perspektive auf mesmeristische Machtansprüche. Die romantischen Naturphilosophen sahen besonders in Ekstase und Vision ein bedeutsames Moment, das Magnetismus und Kunst gemeinsam haben. Für Quellennachweise vgl. Weder [Anm.1], S.263–267. Conversations-Lexicon [Anm.5], S.43. Ebd., S.45. Ebd., S.46. Die etwa für Schubert typische transzendente Fundierung fehlt allerdings.

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Vagen gelassen,33 ob die ganze Szene Krespels subjektiver Einbildung entspringt oder ob es sich um ein intersubjektives Phänomen handelt, indem Krespel visionär Antonies musikalisch-erotische Ekstase, die sie »in einer Nacht« (HSW 4,63 Z.23) und daher wohl im Traum mit ihrem Bräutigam B. erfährt, erschauen könnte,34 geschuldet dem Rapport zwischen Vater und Tochter, sie beide Künstler und magnetisch Affizierte zugleich. Dieselbe Alternative zwischen Subjektivität und Intersubjektivität wurde auch in Bezug auf die umstrittenen Phänomene des Somnambulismus diskutiert. Real ist immerhin das Resultat: Antonies Tod35 – entsprechend der verbreiteten Annahme, solche ekstatischen Phänomene träten besonders in Todesnähe auf.36 Mit Antonies Tod scheint schließlich auf eine Seite auszuschlagen, was als Gegensatz zwischen perfekter, aber lebensgefährlicher37 Kunst und bürgerlichem Spießertum (bzw. als Alternative zwischen erotischem Liebesverhältnis zum Bräutigam B... und verwandtschaftlicher Liebe zum Vater) die ganze Erzählung durchzieht. In auffälliger struktureller Parallele gerät gegen Ende der Musikerzählung Don Juan der Ich-Erzähler, ein Komponist und ›reisender Enthusiast‹,38 in einen visionären Zustand,39 der eine Begegnung wiederholt oder genauer variiert, die der Komponist mit der Interpretin Donna Anna am Abend während der Aufführung von Mozarts Oper Don Giovanni hatte: Als Signal für die Anwesenheit einer Frau hinter sich glaubt er zwar mehrmals »einen zarten, warmen Hauch gefühlt, das Knistern eines seidenen Gewandes gehört zu haben« (HSW 2/1,87 Z.14f.), aber »ganz versunken in die poetische Welt« ––––––– 33 34

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Vgl. die ganze Schlussepisode (HSW 4,63 Z.23–64 Z.11) von Theodors Erzählung. Auf ein übersinnliches Erlebnis deutet das Fortdauern von Gesang und Spiel hin, »ohne daß Antonie sichtbar sang oder B... das Fortepiano berührte« (HSW 4,64 Z.3f.). Übereinstimmend Neymeyr [Anm.22], S.88. »Der Rat fiel nun in eine Art dumpfer Ohnmacht, in der das Bild mit den Tönen versank. Als er erwachte, war ihm noch jene fürchterliche Angst aus dem Traume geblieben. Er sprang in Antoniens Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefaltet, auf dem Sopha, als schliefe sie, und träume von Himmelswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot. – « (HSW 4,64 Z.4–11). Für Nachweise vgl. Weder [Anm.1], S.44–58, zu Schubert, einem unter Hoffmanns gesicherten Informanten für magnetische Theorien, insbes. S.54f. Nach Jean Paul geschehen solche Erscheinungen gar »immer in der Sterbestunde« (II/2,918). Allerdings gibt es auch Textsignale, welche die Diagnose von Antonies Krankheit zum Tod in Zweifel ziehen, vielmehr schreibe Krespel selbst seiner Tochter diese Diagnose zu. Dazu Brandstetter [Anm.24], S.26f. Barkhoff, Inszenierung [Anm.4], S.60 weist darauf hin, die Bezeichnung ›Enthusiast‹ sei eine bei Hoffmann »häufige Chiffre für gleichzeitige Kunstbegeisterung und Magnetismusbegabung«. Präziser hat er (statt einer Vision) eine Audition, wenn er glaubt »Anna’s Stimme zu hören« (HSW 2/1,96 Z.26), vgl. die ganze Episode HSW 2/1,96 Z.18–37.

Zum »Rapport« von Musik und Mesmerismus

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(HSW 2/1,87 Z.17f.) des ersten Aktes schenkt er dem zunächst keine Beachtung. Groß ist aber sein Erstaunen, als er nach dem Fallen des Vorhangs »Donna Anna, ganz in dem Kostüme, wie ich sie eben auf dem Theater gesehen« (HSW 2/1,87 Z.21f.) erkennt. Ihre Augen fixieren ihn darauf intensiv »und jeder daraus leuchtende Blitz goß einen Glutstrom in [s]ein Inneres, von dem alle Pulse stärker schlugen und alle Fibern erzuckten« (HSW 2/1,87 Z.37–88, Z.3), so dass er »in der Nähe des wunderbaren Weibes in eine Art Somnambulism« (HSW 2/1,88 Z.9f.) gerät. Zwar hatte ihn schon der erste Akt »entzückt, aber nach dem wunderbaren Ereignis« (HSW 2/1,89 Z.11f.) der – nach der symptomatischen Strömungsmetaphorik, dem erhöhten Puls und den zuckenden Nervenfibern40 zu schließen – magnetischen Rapportherstellung steigert sich sein Kunsterleben bis zur erweiterten Wahrnehmung und veränderten Erkenntnis: Es war, als ginge eine lang verheißene Erfüllung der schönsten Träume aus einer andern Welt wirklich in das Leben ein; als würden die geheimsten Ahnungen der entzückten Seele in Tönen fest gebannt und müßten sich zur wunderbarsten Erkenntnis seltsamlich gestalten. – In Donna Anna’s Szene fühlte ich mich von einem sanften, warmen Hauch, der über mich hinwegglitt, in trunkener Wollust erbeben; unwillkürlich schlossen sich meine Augen und ein glühender Kuß schien auf meinen Lippen zu brennen: aber der Kuß war ein, wie von ewig dürstender Sehnsucht lang ausgehaltener Ton. (HSW 2/1,89 Z.13–23)

Auf dem Gipfel des Kunsterlebnisses signalisiert ein eingebildeter Kuss, der eigentlich eine Fermate war, dass Enthusiast und Künstlerin im Medium der Musik sowie im magnetischen Rapport vereinigt sind.41 Darin ist der Som––––––– 40

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Die nervenaffizierende Wirkung, ein dem Mesmerismus- und dem Musikdiskurs gemeinsamer Topos, wiederholt sich im Folgenden: »Nicht erwehren kann ich mich des heimlichen Schauers, aber wohltätig durchbebt er meine Nerven. – « (HSW 2/1,92 Z.1f.). Im Extremfall der magnetischen Schließung sind wie beim berühmten Liebespaar Eduard und Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften (1809) »nicht zwei Menschen« mehr zu unterscheiden, sondern »nur Ein Mensch im bewußtlosen vollkommnen Behagen« (Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, hrsg. von Friedmar Apel u.a. Bd.8: Werther, Wahlverwandtschaften, hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994 (=Bibliothek deutscher Klassiker 109), S.516). Ähnlich empfindet Donna Anna ihre Verschmelzung und ihr vollkommenes Einverständnis mit dem reisenden Enthusiasten: »Aber du – du verstehst mich: denn ich weiß, daß auch dir das wunderbare, romantische Reich aufgegangen, wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen!‹ – « (HSW 2/1,88 Z.31–33) und weiter: »›Ging nicht der zauberische Wahnsinn ewig sehnender Liebe in der Rolle der *** in deiner neuesten Oper aus deinem Innern hervor? – Ich habe dich verstanden: dein Gemüt hat sich im Gesange mir aufgeschlossen! – Ja, (hier nannte sie meinen Vornamen) ich habe dich gesungen, so wie deine Melodien ich sind.‹« (HSW 2/1,88 Z.36–89 Z.4). Entsprechend wurde der magnetische Rapport definiert als eine »Art von Lebens- und Empfindungsgemeinschaft [...], vermöge deren der Wille des Magnetiseurs auf die organischen und geistigen Funktionen des Somnambulen einen bezwingenden Einfluß erhalten soll, während dem letztern gleichzeitig die See-

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nambule »ohne Willen«,42 was sich im unwillkürlichen Schließen der Augen andeutet. Als der Ich-Erzähler »Donna Anna unbezweifelt« (HSW 2/1,88 Z.3) erkennt, grübelt er freilich nicht weiter darüber nach, »wie sie auf dem Theater und in [s]einer Loge habe zugleich sein können« (HSW 2/1,88 Z.4f.). Insbesondere für die romantische Magnetismus-Rezeption ist aber kennzeichnend, dass bei zum Teil altüberlieferten Berichten von Personen, die an zwei Orten gleichzeitig sichtbar waren, eine Interpretation nach magnetischen Mustern in Betracht kam. Mit Modellen, die sich etwa schon 1808 beim Spätpietisten Johann Heinrich Jung, genannt Stilling oder auch bei den französischen Mesmeristen finden,43 erklärt der Frankfurter Arzt Johann Carl Passavant noch 1837 das »Erscheinen ferner Personen«: Entweder setzt der in einem extatischen Zustande sich Befindende die Person, an die er mit Intensität denkt, in eine Art von Somnambulismus, in welchem diese den magisch auf sie Wirkenden wahrnimmt, oder der Extatische erscheint dem in Rapport gesetzten mittelst des die Form seines Leibes an sich tragenden Nervenäthers. Im ersten Falle sähe der, welcher ein solches Gesicht hat, den wirklichen materiellen Leib des Andern, wie Hellsehende überhaupt ferne Gegenstände erkennen; im zweiten Falle sähe er jenen Aetherleib, welcher die Gestalt des äußeren Leibes an sich trüge [...].44

Beide Erklärungen – Psychologisierung oder erweiterte Nervenphysiologie – basieren auf einer magnetischen Rapportherstellung: Sei es, dass die eine Person »in einer Art von Somnambulismus« den fernen leibhaftigen Körper der andern ekstatischen Person telepathisch erschaut, oder sei es, dass der vom Körper entbundene Nervenäther zum gestaltgleichen Scheinleib materialisiert dem Rapportpartner erscheint. Wenn Hoffmann präzisiert, ein »elektrischer Hauch« (HSW 2/1,96 Z.18) habe den Enthusiasten in seinem exaltierten Zustand nach der Aufführung erfasst, so deutet dies auf den Kontext des Mesmerismus hin, waren Elektrizität und Magnetismus doch in der Epoche der Imponderabilien eng verbunden. Zu verweisen ist auf den naturwissenschaftlichen Begründungskontext, auf den Musik und Mesmerismus sich beziehen lassen und der die naturphi–––––––

42 43 44

lenzustände des Magnetiseurs direkt zum Bewußtsein kommen sollen.« Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 5., gänzlich neubearb. Aufl. Bd.11. Leipzig, Wien 1897, Stichwort »Magnetische Kuren«, S.743f., hier: S.744. Eberhard Gmelin, Ueber Thierischen Magnetismus. Zweytes Stück. Tübingen 1787, S.157. Dazu Weder [Anm.1], S.44–49. Johann Carl Passavant, Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und das Hellsehen. 2., umgearb. Aufl. Frankfurt a.M. 1837. In der Erstausgabe von 1821 war diese Stelle noch nicht enthalten.

Zum »Rapport« von Musik und Mesmerismus

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losophische Argumentation wissensgeschichtlich gesehen modernisiert. Im Kontext der Imponderabiliendebatte, die auch für Mesmers Theorie einen bedeutsamen Bezugspunkt darstellt, wird das Verhältnis von Schall und Elektrizität (dem avanciertesten Forschungsfeld in der Naturlehre des 18. Jahrhunderts) diskutiert. Damit kommen hörbare Tonschwingungen als physikalische Kraft in Betracht. Besonders Musikklänge als Phänomen regelmäßiger periodischer Wellen können wirksam Energie übertragen. Licht, Ton und Elektrizität werden als Manifestationen einer einzigen Kraft diskutiert, da alle drei Schwingungsphänomene darstellen und sich möglicherweise lediglich in der Frequenz ihres Oszillierens unterscheiden.45 Die Analogie von Klang und Imponderabilien wird in Hoffmanns Don Juan noch an anderer Stelle ins Bild gesetzt: »Durch den Sturm der Instrumente leuchten, wie glühende Blitze, die aus ätherischem Metall gegossenen Töne! –« (HSW 2/1,84 Z.37–85, Z.2). Auf den erläuterten nervenphysiologischen Begründungskontext, in den Musik wie Mesmerismus eingebettet waren, deuten die »Nervenzufälle« (HSW 2/1,97 Z.11; Z.13) hin, die Donna Anna »in der Szene im zweiten Akt« (HSW 2/1,97 Z.10) ereilt haben. Bekannt wird dies allerdings erst im Epilog, dem Mittagsgespräch zwischen dem Ich-Erzähler und drei typologischen Figuren.46 Die Anfälle ereigneten sich, so muss rückblickend erschlossen werden, auf dem Höhepunkt, den der Ich-Erzähler als erotische Verschmelzung erlebt.47 Strukturell parallel zum Rat Krespel ist im Weiteren entsprechend der Verquickung von Musik, Eros und Tod48 der Tod der Künstlerin – Donna Anna stirbt genau zum Zeitpunkt von Theodors TranszendenzErlebnis.49 Nochmals ist darauf hinzuweisen, dass dieses Phänomen auch in mesmeristischen Begründungszusammenhängen auftaucht. Bei Jean Paul hat ––––––– 45 46

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Für Quellennachweise vgl. Weder [Anm.1], S.219f. Erzähler und Leser erhalten vom »Mulatten-Gesicht« folgende ergänzende Informationen: »Die Rolle der Donna Anna griff sie immer ordentlich an! – Gestern war sie vollends gar wie besessen. Den ganzen Zwischenakt hindurch soll sie in Ohnmacht gelegen haben, und in der Szene im zweiten Akt hatte sie gar Nervenzufälle – « (HSW 2/1,97 Z.6–11). Die ›Ohnmacht im Zwischenakt‹, als das erste Gespräch bzw. die Rapportherstellung mit dem reisenden Enthusiasten stattfand, entspricht dabei der Beschreibung in magnetischen Fallgeschichten, Personen seien ›wie tot‹ danieder gelegen. Für Quellennachweise vgl. Weder [Anm.1], S.173. Darüber hinaus weisen die ›Nervenzufälle‹ eher auf die zweite Möglichkeit der diskutierten Alternative hin, dass Donna Anna, Künstlerin und magnetisch Ekstatische zugleich, dem Erzähler als gestaltgleicher Ätherleib erschienen ist. Neymeyr [Anm.22], S.100–103 bezieht diesen Motivkomplex auf spätere DécadenceKonzepte etwa bei Thomas Mann. »Es schlägt zwei Uhr!« (HSW 2/1,96 Z.18) Bei besagtem Mittagsgespräch erfährt Theodor dann, Donna Anna sei »heute Morgen Punkt zwei Uhr gestorben« (HSW 2/1,97 Z.18f.).

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sich die potenziell lebensgefährliche Kunst auf Produktionsseite an Liane sowie auf Rezeptionsseite an Rabette gezeigt. III Der »Rapport« von Musik und Mesmerismus wurde an den betrachteten literarischen Fallbeispielen herausgestellt. Was ist nun aber daraus für das in ihnen vertretene Kunstkonzept abzuleiten? Wenn der Ton ebenso wie das magnetische Agens als Strom gefasst wird, durch den der Mensch in die kosmische Harmonie – so die charakteristische Musikmetapher – eingehen kann, so macht diese Koppelung von Musik und Mesmerismus die naturphilosophische Anbindung von Kunst in tendenzieller Gegenposition zur frühromantischen Autonomieästhetik deutlich. Dabei ist symptomatisch, dass die Künstlerinnen sowie der Geiger Krespel viel eher als autonome Schöpfer rezeptive Medien sind, in denen eine externe Kraft wirkt. Dies trifft etwa auf Liane zu, die ihr Glasharmonikaspiel ›mehr hörte als machte‹. Nur vermeintlich autonom musiziert auch Krespel; die Geige vielmehr ›spricht oft aus sich selbst‹ zu ihm gleich einer Somnambulen, die ›selbsttätig‹ ihr Inneres artikuliert. Das sympathetische Verhältnis zwischen der Geige und Antonie, das eine universelle Einheit von belebter und unbelebter Natur markiert, macht die naturphilosophische Anbindung auch von Antonies Kunst deutlich, trotz aller Selbsttätigkeit, die sich, wie gesehen, auf die spezifische Artikulationsfähigkeit des somnambulen Ich bezieht. Die Texte zeigen als Kehrseite dieser entgrenzenden Integration in die AllSympathie durchaus eine Gefährdung für das Subjekt, reicht doch die Kunst, die mit dem Mesmerismus parallelisiert wird, bei den Künstlerinnen von der Ekstase in buchstäblichem Sinn bis zur (im Fall Antonies und Donna Annas: tödlichen) Selbstentäußerung. Die betrachteten Texte rekurrieren im Weiteren auf den nervenphysiologischen Begründungskontext, in den Musik wie Mesmerismus eingebettet sind, auf die Musik als physikalisch erforschbares Schwingungsphänomen sowie auf die Auffassung einer Entsprechung der Ton-, Nerven- und Seelenschwingungen. Einerseits scheint damit eine ideale Kommunikation durch Kunst ermöglicht zu werden, indem der Künstler – insbesondere der Glasharmonikavirtuose aufgrund der spezifischen Spielweise auf diesem Instrument – seine Seelenregungen in sein Spiel legen und den Zuhörer in sympathetisches Mitschwingen versetzen kann. Auch hier verschweigen die Texte allerdings die Kehrseite nicht, die in der gesundheitsschädigenden Wirkung, in der Überintensität der ausgelösten Seelenschwingungen – etwa wenn Rabettes

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›rüstiges Herz wie von heißen Strudeln gefasset, umgedreht und durchgebrannt‹ wird – und dem manipulativen Potenzial von Kunst bestehen kann. Der Aspekt der Manipulierbarkeit von außen konturiert sich an der erläuterten Verschiebung der Instrumentenmetaphorik: Der Mensch (als durch die Nerven vermittelte leib-seelische Ganzheit) wird neu mit bloß einem Instrument verglichen, das mitschwingt und auf dem daher gespielt werden kann. Schließlich hat sich in den betrachteten Texten gezeigt, dass die mit Mesmerismusmotiven gekoppelte Musik (insbesondere bei den männlichen Kunstrezipienten) Zustände erweiterter oder jedenfalls veränderter Wahrnehmung, Prophetien, telepathische Visionen und Auditionen hervorzurufen vermag. Aufzugreifen ist eine wissensgeschichtlich bedeutsame Verschiebung in den Erklärungsmodellen, die über einen relativ langen Zeitraum hinweg stattfindet und sich anhand der Stationen der Sympathielehre, des Mesmerismus, des Somnambulismus, der Hypnose, der Suggestionstherapie und der Psychoanalyse nachweisen lässt. Es ist – systematisch gesehen – die Verschiebung von außen nach innen, vom Wirken dämonischer, magischer oder fluidaler Kräfte zur Zwingkraft des individuellen Nicht-Bewussten.50 Der Mesmerismus lässt sich in diesem weiten Horizont betrachten; den einen Fluchtpunkt bildet dabei die sympathetisch-naturmagische Spekulation der Frühen Neuzeit, den anderen die moderne Psychologie Freuds. Mehr als Jean Paul hält E.T.A. Hoffmann ambivalent, ob die außerordentlichen Zustände sich der All-Sympathie mit gar visionären Einblicken ins metaphysisch gefasste Naturgeheimnis verdanken oder vielmehr jenem Phänomen, das man später mit Suggestion bezeichnen wird, rückführbar also auf allein innerpsychische Kräfte, auf die Vorstellungs- und Einbildungskraft des Subjekts.51 Klarer als für Jean Paul gilt für Hoffmann: Die Kunst als einziges Medium einer potenziellen Transzendenzerfahrung wird zugleich den Verdacht nie ––––––– 50

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Vgl. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, ins Deutsche übertr. von Gudrun Theusner-Stampa. Bern, Stuttgart, Wien 1973 (engl. Erstausgabe 1970). Dann oft in deutlicher Abgrenzung zum Mesmerismus. Vgl. Heinz Schott, Die Suggestion und ihre medizinhistorische Bedeutung, in: Bausteine zur Medizingeschichte, hrsg. von Eduard Seidler und H.S. Heinrich Schipperges zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1984 (=Sudhoffs Archiv, Beiheft 24), S.111–121, hier: S.115. Zur Nachgeschichte vgl. Stefan Andriopoulos, Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos. München 2000; Walter Bongartz, Das Erbe des Mesmerismus: Die Hypnose, in: Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Wissenschaft, Scharlatanerie, Poesie, hrsg. von Gereon Wolters. Konstanz 1988 (=Konstanzer Bibliothek 12), S.41–54. Heinz Schott, Mesmers Heilungskonzept und seine Nachwirkungen in der Medizin, in: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Beiträge zum internationalen wissenschaftlichen Symposion anlässlich des 250. Geburtstages von Mesmer, 10.–13. Mai 1984 in Meersburg, hrsg. von H.S. Stuttgart 1985, S.233–252; Heinz Schott, Die »Strahlen« des Unbewußten – von Mesmer zu Freud, in: Freiburger Universitätsblätter, H.93, Oktober 1986, S.35–54.

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los, es handle sich bei den ungewöhnlichen Zuständen möglicherweise um Projektion, um rein subjektive Spiegelungen. Exemplarisch hat sich dies im Rat Krespel an jenem Geschehen gezeigt, bevor Krespel seine Tochter tot auffindet, wobei die Vagheit sprachlich durch die als-ob-Rhetorik und durch das Wechseln der Aussageweise zwischen Indikativ und Konjunktiv ausgestaltet ist. Ebenso findet sich im Don Juan das relativierende Als-ob (»Es war, als ginge ...« HSW 2/1,89 Z.13), das die erweiterte Wahrnehmung und veränderte Erkenntnis des Enthusiasten auf dem Gipfel des Kunsterlebens ein Stück weit zurücknimmt. Kennzeichnend für das Kunstkonzept in den betrachteten Texten bleibt, dass durch die Zusammenführung von Kunst mit Mesmerismusmotiven außerästhetische Begründungskontexte an die Kunst herangetragen werden, ganz gleich, ob nun Naturmagie, Nervenphysiologie, Physik oder Psychologie das entsprechende Bezugssystem bildet. Etwa an der Geige, die in sympathetischem Verhältnis zu Antonie steht, die als einzige Krespels Zerlegen entgeht, die im Moment ihres Todes zerbirst und mit ihr begraben wird und die sich so – wie auch der Hergang von Antonies Tod selbst – aller weiteren Aufklärung entzieht,52 wird allerdings zugleich deutlich: Das Rätsel ums Wesen der Kunst bleibt letztlich unaufgelöst. Die mesmeristischen Motive, die so eigentümlich zwischen dem allzu Natürlichen und dem Übernatürlichen oszillieren, sind dabei zur Darstellung verweigerter Eindeutigkeiten besonders geeignet.

––––––– 52

Krespels rätselhafte Aussage nach Antonies Tod »Sie ist dahin, und das Geheimnis gelöst!« (HSW 4,56 Z.8f.) meint denn auch, dass sich das Geheimnis »aufgelöst, verflüchtigt und jedem weiteren Zugriff entzogen hat«, wie Neymeyr [Anm.22], S.88 mit Recht betont.

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LEITBILDWECHSEL Das Jean Paul-Bild bei Georg Gottfried Gervinus

Das harsche Verdikt, das Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen – in der ersten Auflage in fünf Bänden 1835 bis 1842 erschienen, in der vierten, noch ganz von ihm selbst bearbeiteten Auflage als Geschichte der deutschen Dichtung 1853 – über Jean Paul verhängt (»Wer ein gewisses Alter überschritten hat, wer von einer Lektüre seinem Verstande Rechenschaft geben will, den wird Jean Pauls Schreibart in kürzester Zeit anwidern«1), prägte dessen Wirkungsgeschichte zumindest in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jhs. – nicht in der Rezeption durch seine Leserschaft – über weite Strecken.2 Peter Sprengel beruft sich in seiner Dokumentation dieser Wirkungsgeschichte eingangs auf Gervinus und zitiert ihn indirekt mit der These, »man könne nur Lobredner oder Tadler Jean Pauls sein, ein Mittleres sei bei diesem Autor nicht möglich.«3 So sagt Gervinus das allerdings nicht genau; die bewußte Passage lautet vielmehr: »Es ist aber gar kein denkbarer Fall, daß ein Tadler Jean Pauls zu seinem Lobredner werde, sein Lobredner wird im natürlichen Gange der Dinge zuletzt zum Tadler.«4 Der Historiker hält es also durchaus für möglich, daß ein und dieselbe Person Jean Paul lobt und tadelt, jedoch nicht zur gleichen Zeit und ausschließlich in dieser, nicht in umgekehrter zeitlicher Folge. Denn genau diese Kurve hat sein eigenes Bild von Jean Paul beschrieben. Zweimal markiert dieser Autor einen Wendepunkt in der Biographie und geistigen Entwicklung von Gervinus – eine Phase darin beherrscht er völlig. ––––––– 1

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Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, Bd.5, 1.Aufl. Leipzig 1842, S.212. Vgl. Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland, hrsg. von Peter Sprengel. München 1980, S.LV, LXIII. So auch Engelhard Weigle, Zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls, in: JJPG 15 (1980), S.154–171; ähnlich Georg Wilhelm Meister, Vielgeschmäht und hochgepriesen. Jean Paul im Urteil der Literaturgeschichte, in: Hesperus. Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft, Nr.26 (Okt. 1963), S.27. Sprengel [Anm.2], S.XV. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.213.

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Nicht nur in seiner Literaturgeschichte, sondern bis hin zu den späten historischen Schriften ist dieser Einfluß wirksam; der Name Jean Paul steht immer wieder prototypisch für eine geistige Haltung, eine innere Einstellung, die einmal seine eigene war. Es ist bezeichnend, daß Gervinus’ Autobiographie – 1860 in der Absicht geschrieben, eine Geschichte seines Werdegangs zu geben, die erst nach seinem und dem Tod seiner Frau (1893) veröffentlicht werden sollte5 – nur bis ins Jahr 1835 reicht: zu diesem Zeitpunkt ist die Entwicklung der Vorstellungswelt (des Dreißigjährigen!) abgeschlossen, die Wertmaßstäbe haben sich verfestigt, der Blickwinkel ist fixiert; was danach kommt, ergibt sich zwingend aus dem bis dahin geformten Weltbild. In dem Lebensbericht von 1860 spielt die zweifache Neuorientierung, die mit der Figur Jean Pauls verbunden ist, eine entscheidende Rolle – gesehen allerdings aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts. Dagegen steht das Bekenntnis meines Lebens vom Mai 18276 noch ganz unter dem Eindruck der gerade erst erlebten inneren Wende. Der kurze Abriß verdankt seine Entstehung eben dieser »Revolution«, die in ihm vorgegangen war. Es empfiehlt sich, hier einen kurzen Blick auf die Veränderungen in den äußeren Lebensumständen von Gervinus in den Jahren von etwa 1819 bis 1830 zu werfen, denn Jean Paul steht im Zentrum dieser Veränderungen. Gervinus hatte 1819 – gleich nach der Konfirmation – die Schule verlassen und war als Lehrling in eine Bonner Buchhandlung eingetreten – in der Hoffnung, sich hier weiterhin seinen poetischen Schwärmereien hingeben zu können. Der prosaische Betrieb dort stieß ihn jedoch ab (»Muse und Muße ward mit Gewalt verjagt«),7 Gervinus nahm einen neuen Anlauf und trat eine Lehrstelle in einem Tuchgeschäft in Darmstadt an. Hier blieb ihm genügend Freizeit; zusammen mit seinem um mehrere Jahre älteren Freund Friedrich Maximilian Hessemer (1800–1866) versenkte er sich immer tiefer in die Traumwelt der Poesie, flüchtete aus der unbefriedigenden Wirklichkeit in die Welt der literarischen Gestalten, der beide mit allen Mitteln Realität zu verleihen suchten. So versetzten sie sich in die Figuren der Zwillingsbrüder Walt und Vult aus Jean Pauls Flegeljahren; wie diesen, so sollte ihnen die Phantasie über die Beschränktheit ihrer realen Lebensverhältnisse hinweghelfen.8 ––––––– 5 6

7 8

G.G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893. Bisher nur gedruckt als Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1872, Nr.60, S.893–95, hrsg. von Georg Ludwig Kriegk. Auszugsweise auch bei Wilhelm Diehl, Zur Geschichte von G.G. Gervinus’ ›Bekehrung‹ im Jahre 1826, in: Deutsche Revue 40 (1915), 4.Bd., S.69–77. Diehl [Anm.6], S.75. Vgl. Georg Gottfried Gervinus 1805–1871. Gelehrter – Politiker – Publizist, bearb. von Frank Engehausen u.a., Heidelberg 2005 (=Archiv und Museen der Universität Heidelberg. Schriften 9), S.87.

Das Jean Paul-Bild bei Georg Gottfried Gervinus

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1825 endeten Gervinus’ »Lehrjahre in der Kaufmannschaft«, nach kurzer Vorbereitungszeit holte er die Reifeprüfung nach und immatrikulierte sich in Gießen, wo er Vorlesungen in Ästhetik, neueren Sprachen, Philologie und Geschichte hörte. In Gießen traf er mit einem gleichaltrigen Schulkameraden – Georg Ludwig Kriegk (1805–1878) – zusammen, der vor dem Abschluß seines Studiums stand. Auf seinen Rat geht der Wechsel von Gießen nach Heidelberg zurück, den Gervinus nach zwei Semestern vornahm (1826). Dort gewann der Historiker Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) zunehmend Einfluß auf seine weitere geistige Entwicklung. Im Herbst 1827 beendete er seine Studien, es folgten etwa 1½ Jahre Hauslehrertätigkeit, bevor er sich 1830 (maßgeblich gefördert durch ein positives Gutachten von Schlosser)9 als Privatdozent der Geschichte in Heidelberg habilitierte. In seiner autobiographischen Skizze von 1827 stellt Gervinus die Bedeutung der Lektüre Homers in seiner Schulzeit heraus (»dem Alten dank ich's heute, daß er mir unter allen ungeheuren Verirrungen einen Sinn für’s Große erhalten hat«10). Dabei dürfte allerdings schon damals eine nachträglich konstruierte Geradlinigkeit eine Rolle gespielt haben, um der in dieser Zeit einsetzenden Abwendung von dem Leitbild Jean Paul ein frühes und ›solideres‹ Fundament zu verleihen. 1860 nennt er sein damaliges Interesse an Homer »materialistisch«:11 der habe ihm Stoff für Spiele, für Zeichnungen, für kindliche Heldenträume gegeben. Nach dem Schulabgang erhielt das Lesen für Gervinus eine etwas andere Funktion: »ich las, um zu lesen, um meine innere Leere auszufüllen, um meine Mißstimmung zu betäuben, um der Prosa um mich her ein Gegengewicht zu halten«.12 In dem Jugendfreund Hessemer und in dem literarischen Idol Jean Paul fand er nun die Stützen, an die er sich halten konnte: »der erste brachte meine Poesie zu Ehren, ja zu Druck, der andere hob den völlig gesunkenen Menschen in mir völlig empor«.13 Theatralischer und aus größerem Abstand schreibt er 1860: »ich ward von Homer zu dem erklärten Gegner des klassischen Altertums, zu Jean Paul, verschlagen«14 – durch die Wahl des Verbs schon andeutend, daß es sich nur um einen (vorübergehenden) Irrweg handelte. Ohne Zweifel setzt Gervinus hier die Assoziation zu Werthers Brief vom 12. Oktober 1772 bewußt ein (»Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche ––––––– 9 10 11 12 13 14

Ebd., S.88ff. Diehl [Anm.6], S.74; ähnlich später Gervinus Leben [Anm.5], S.38. Ebd., S.37. Ebd., S.70. Diehl [Anm.6], S.75. Gervinus Leben [Anm.5], S.70

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mich führt!«)15 Er hebt sich aber zugleich in der Formulierung in bezeichnender Weise von dem Zitat ab: Bei Werther betont die grammatikalische AktivForm erst recht das Willenlose, das Sich-Überlassen: das Objekt der poetischen Neigung wird selbst zum handelnden Subjekt. Dagegen steht in Gervinus’ Rückschau das Ich immer noch im Vordergrund: zwar geschieht etwas mit ihm, aber erkennbar gegen seinen Willen. Die Haltung des Biographen von 1860 ist abgehobener, reflektierter, aber auch grundsätzlicher und darum historisch weniger ›wahr‹. Hinter der Betrachtung seiner Entwicklung steht er, der Entwickelte, in dessen Rückblick jeder Nebenstrang des geradlinigen Weges sogleich als Ab- oder Irrweg erkennbar wird. Der Zweiundzwanzigjährige ist noch nicht fähig – kann es nicht sein –, einen ganzen Abschnitt – den gerade erst verlassenen – als ›Verirrung‹ abzutun. So bleibt 1827 die Wertung beider Leitbilder jener Phase im Tenor noch positiv: Mögen die beiden immer Schuld haben an einer neuen Versenkung in poetische Träume ..., dennoch danke ich ihnen ewig das Bessere und Größere, daß sie mich zum Menschen bildeten, der bald in seinem Charakter feststand und mit diesem auch nachher den rechten Weg zur geistigen Ausbildung finden mußte.16

In Gervinus’ Briefen an Kriegk finden sich noch nach dem Tod Jean Pauls (1825) geradezu enthusiastische Äußerungen über ihn: »Bei ihm nur muß man Lebensweisheit lernen und bei ihm den Wert unsres Seins fühlen lernen«.17 In der Erinnerung sucht Gervinus den Zeitpunkt seiner Lösung von Jean Paul dann aber möglichst weit zurück zu verlegen. Seine Abkehr erscheint ganz als bewußte Tat des Ich, das sich befreit hat: »Ich nahm jetzt andere Höhen in Aussicht als die der hohen Menschen Jean Pauls und rief den Freund [Hessemer] von ihm zurück zu den Alten, dort seinen Geschmack und seine sittlichen Begriffe mit mir umzubilden«.18 Der Übergang – in Gervinus’ Sicht eigentlich eine Rückkehr – von Jean Paul zu Homer und Shakespeare, der zugleich die Abwendung von der Poesie und die Hinwendung zur Geschichte (Schlosser!) markiert,19 korrespondiert in Gervinus’ Freundeskreis damit, daß der Einfluß Hessemers zurückgeht, während sich gleichzeitig der Kriegks verstärkt. Diese innere und äußere Wende vollzieht sich jedoch keineswegs so bruchlos und harmonisch, wie sie ––––––– 15 16 17 18 19

Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.6, 1.Aufl. 1951, S.82. Diehl [Anm.6], S.75. Alfred Stern, Jugendbriefe von Gervinus, in: Preußische Jahrbücher 197 (1924), S.255. Gervinus Leben [Anm.5], S.126. Vgl. Jonathan F. Wagner, Germany’s 19th Century Cassandra. The Liberal Federalist Georg Gottfried Gervinus. Bern u.a. 1995, S.183 (=American University Studies, Series IX History 175)

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sich in der Biographie von 1860 darstellt. Es war weit eher die »schnelle, aber kräftige und lang vorbereitete Revolution«,20 als die sie 1827 noch geschildert wird – vorbereitet durch die veränderten Lebensumstände, die ihm nicht mehr die Zeit ließen zu »verschwommener Lektüre«,21 begünstigt durch die starke Wirkung, die sein akademischer Lehrer Schlosser auf ihn ausübte, letzten Endes ausgelöst aber vor allem durch einen sehr ernsten Brief Kriegks vom 28.7.1826, der seine Eitelkeit, seine hochfliegenden Träume von einer Berufung zur Poesie kritisierte, und den damit im Zusammenhang stehenden eigenen Entschluß, ein Tagebuch zu führen und sich darin ohne jede Beschönigung Rechenschaft vor sich selbst abzulegen. Die kurze Autobiographie von 1827 war für Kriegk (dem er sie zusandte) der Beweis dafür, daß Gervinus sich gewandelt hatte. Wenn dieser 1860 schreibt: »Ich wünschte, daß wir [Hessemer und er] die belletristische Näscherei mit ernster Wissenschaft vertauschten; daß unsere Freundschaft ein stoischeres Prinzip an der Stelle des bisherigen weichlich epikureischen durchdringe«,22 so ist das Ausdruck der Projektion erst später verfestigter Kategorien in die Umbruchsituation von 1825/26. Gervinus verleugnet nicht, daß es in seinem Leben eine Epoche gegeben hat, in der Jean Paul sein hohes Vorbild war. Diese Phase schwärmerischer Begeisterung endete aber mit seiner Verlegung auf das Studium der Geschichte 1826. Die Lösung von dem einstigen Idol ist ihm nicht leicht gefallen, zumal sie mit der nachhaltigen Entfremdung von seinem engsten Jugendfreund einherging. Auch später – bei der Abfassung seiner Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen – bestreitet Gervinus nie die Sprachgewalt des Dichters, er erkennt an, seine Figuren seien lebendig und in sich geschlossen und er verstehe es, den Leser in seinen Bann zu ziehen – aber gerade darin sieht er nun die Gefahr. Jean Paul erscheint ihm als der mächtige Verführer, seine Anziehungskraft ist verderblich, weil hinter ihr nicht die ›richtige‹ Haltung steht. Er bietet Schutz vor der Wirklichkeit, nicht Hilfe zur Bewährung in ihr, er verlockt dazu, »das Leben in der Dichtung vorwegzunehmen« (eine Wendung, mit der Gervinus gern eine wirklichkeitsfremde Position angreift, der die Poesie Selbstzweck ist),23 er kommt einer »leidenden, gedrückten, schwermütigen Seelenstimmung«24 entgegen, statt aus ihr aufzustö––––––– 20 21 22 23

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Diehl [Anm.6], S.76. Gervinus Leben [Anm.5], S.72. Ebd. S.112. Gervinus Leben [Anm.5], S.66; vgl. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.212f. Gervinus Leben [Anm.5], S.70.

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ren, er leistet der Versenkung in das eigene Gedankenleben Vorschub, statt zur Tat aufzurufen, »er hat keinen Sinn für Tatsachen«.25 In einem Zitat aus dem Titan sieht Gervinus »die selbstausgesprochene Verdammnis der ganzen Lebens- und Schriftstellerrichtung Jean Pauls«: »Nur Taten geben dem Leben Stärke, nur Maß ihm Reiz«.26 In dem Jahr seiner »inneren Revolution«, aber noch vor dem Mahnbrief Kriegks ist diese Wertschätzung der Tat vor dem Gedanken und der Phantasie bei Gervinus zur festen Überzeugung geworden: »das Handeln ist des Lebens ganzer Zweck«.27 Er fühlt sich nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, andere vor diesem ›Irrweg‹ zu warnen28 und erhebt die Kurve seiner eigenen Beziehung zu Jean Paul wie selbstverständlich zur einzig ›normalen‹ Entwicklung: die Schwärmerei für diesen Charakter »durchgehender Juvenilität«29 (ein Etikett, das aus Gervinus’ Literaturgeschichte noch in eine Reihe späterer Arbeiten Eingang gefunden hat)30 sei ein der Jugend natürliches Phänomen, das dem Erwachsenen nicht länger angemessen sei. In einem Brief von 1862 bekennt er sich ausdrücklich dazu, aus persönlich-privaten Erfahrungen politisch-allgemeine Folgerungen zu ziehen: [...] es muß wohl sein, daß ich da, wo ich mich nun einmal im Gegensatze fühlte, diesen zu schroff und zu unnachgiebig [geltend?] gemacht habe. Dieß allerdings liegt in meinem Wesen und würde, wenn es ein Fehler ist, einmal billiger beurtheilt werden, wenn man aus meiner Lebensgeschichte, die ich freilich selbst schreiben müßte, die ersten Wurzeln dieser seltsamen Erscheinung kennen lernte. Ich könnte ausführlich erzählen, daß derselbe harte Gegensatz, der mich mit der jungen Literatur zerwarf, mich in meinem 21–22 Jahre, auf der Schwelle in das geistige Leben, von meinem besten Freunde jener Zeit [Hessemer] innerlich für immer trennte, [...]; und [...] daß derselbe Gegensatz vorher schon mich mit mir selbst, mit einer anfangs eingeschlagenen romantisch nebelnden Richtung, eben so bitter zerworfen hatte; – daß ich dann dieser inneren Revolution Alles zu danken hatte, was dann etwa aus mir geworden ist, das machte mich dann allerdings so positiv und sicher zuerst gegen den Freund, der jene Richtung mit mir getheilt, mich hineingerissen hatte, und dann gegen das junge Deutschland, das mich wohl ohne

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Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.211. Gervinus Leben [Anm.5], S.72f. Stern [Anm.17], S.259. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.211ff. und Gervinus Leben [Anm.5], S.71. Vgl. auch Rolf-Peter Carl, Prinzipien der Literaturbetrachtung bei Georg Gottfried Gervinus. Bonn 1969, S.90 (=Literatur und Wirklichkeit 4). Carl [Anm.28], S.166. Vgl. Sprengel [Anm.2], S.LV und Meister [Anm.2], S.27.

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diese schroffe Widersetzung gern als seinen Freund in seinen Schoos aufgenommen hätte.31

Unter solchen Prämissen ist die unvoreingenommene Beurteilung eines Schriftstellers und seines Werkes natürlich nicht möglich. Aber darum oder um eine ästhetische Würdigung ging es Gervinus auch gar nicht – weder bei Jean Paul, noch bei irgendeinem anderen Autor. Jeder wird erst einmal daraufhin befragt, ob er als Leitbild für den – insbesondere jugendlichen – Leser taugen kann.32 Und dabei unterscheidet Gervinus auch nicht groß zwischen der literarischen Gestalt und ihrem Schöpfer. So verkörpert der ›Wüstling‹ Roquairol aus Jean Pauls Titan für ihn exakt den Typus einer Lebenshaltung, die er in der zeitgenössischen jungdeutschen Bewegung verbreitet sieht und vor allem in Ludwig Börne und Heinrich Heine angreift: Verwöhnt und überreizt mit Genüssen und Kenntnissen in der Jugend, von überreizter Phantasie, war er [Roquairol] frühe ein Abgebrannter des Lebens, voll Ekel, Hochmuth, Unglauben und Widerspruch. Wahrheiten und Empfindungen anticipirte er! Alle Zustände der Menschheit, alle Bewegungen der Liebe und Freundschaft durchging er früher im Gedichte als im Leben.[ ...] Dieß ist in der That ein schreckendes Gemälde von den ausgearteten Wirkungen, die von der Dichtung dann ausgehen müssen, wenn sie allein und einzig die Erzieherin der Seele und die Quelle unserer Bildung ausmacht.33

Das in Deutschland ausbleibende Echo auf die Julirevolution 1830 in Frankreich und die nach dem Hambacher Fest 1832 verstärkt einsetzende Reaktion bestärkten Gervinus in der Überzeugung, daß von einer bloß literarischgeistigen Aktivität keine durchgreifende Änderung der politischen Verhältnisse im eigenen Land zu erwarten war. In den Jungdeutschen, allen voran in Börne, sah er den unheilvollen Einfluß Jean Pauls Gestalt gewinnen. Das »seltsame Unkraut der weltbürgerlichen Politik«, deren Theorien in Jean Paul »zu einer wunderlichen Höhe« gestiegen seien, wuchere hier fort, seine utopische Erwartung einer unausweichlich kommenden Universalrepublik sei begierig aufgenommen worden.34 Das aber war nicht die Art politischer Betätigung, die Gervinus ersehnte und befördern wollte, dieser planlosen, phantastischen Betriebsamkeit stand er verständnislos gegenüber: »Energie fließt ––––––– 31

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An David Friedrich Strauß, 10.11.1862 (Nachlaß; Heidelberger Handschrift 2550. Herv. i. Orig.). Carl [Anm.28], S.90. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.250f. Die ersten Sätze sind frei aus Jean Pauls Titan zitiert (mit Herv. v. Gervinus); vgl. Jean Paul, Titan. SW I/8,312ff. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.380; vgl. Gervinus, Über Börne’s Briefe aus Paris (1835), in: G.G. Gervinus, Gesammelte kleine historische Schriften. Karlsruhe 1838, S.393.

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nur aus Grundsätzen, aus soliden Grundsätzen, die vor der Möglichkeit, vor dem Rechte, dem Gewissen und Verstande bestehen«.35 In immer neuen Variationen formuliert Gervinus sein Credo, das nahezu sämtliche Wertungen, nicht nur in der Literaturgeschichte, bestimmt: Vorbildlich und lesenswert ist, was zum Handeln anspornt, ungesund und verderblich dagegen alles, was – in der Literatur wie in der Wissenschaft – eine Wirkungsabsicht nach außen nicht erkennen läßt.36 Dieses Verdikt begründet die Ablehnung der Spätromantik und die Verurteilung der Jungdeutschen ebenso wie die Geringschätzung Jean Pauls. Auf der anderen Seite rühmt er Persönlichkeiten wie Shakespeare und den Philosophen und Staatsmann Francis Bacon (1561–1626), die »auch in ihren ideellsten und abstraktesten Darstellungen auf eine Bereitung für das Leben hinarbeiten, wie es ist, für das Leben, um das es in den Werken der Politik ausschließlich gilt«.37 1835 erscheint der erste Band seiner Literaturgeschichte im Druck, 1842 der fünfte und letzte, der die Zeit Von Göthes [sic] Jugend bis zur Zeit der Befreiungskriege behandelt. Dessen Schlußsätze bringen Gervinus’ ganzes Programm und Ziel noch einmal auf den Punkt: [...] wir wollen nicht glauben, daß diese Nation in Kunst, Religion und Wissenschaft das Größte vermocht habe, und im Staate gar nichts vermöge [...] Der Wettkampf der Kunst ist vollendet; jetzt sollten wir uns das andere Ziel stecken, das noch kein Schütze bei uns getroffen hat, ob uns auch da Apollon den Ruhm gewährt, den er uns dort nicht versagte.38

Schon bald nach Beginn der mehrjährigen Arbeit an der Literaturgeschichte, ab 1836, kommen Gervinus Zweifel, ob er mit diesem Werk tatsächlich die erhoffte politisch-pädagogische Wirkung erzielen könne. Kaum ist sie abgeschlossen, wählt er »den natürlichsten Übergang von Literatur zu Politik«,39 indem er sich Leben und Werk eines Mannes widmet, der ihm jetzt zum neuen Leitbild wird: er begleitet die Herausgabe von Johann Georg Forsters Sämtlichen Schriften durch dessen Tochter mit einer 78-seitigen Charakteristik des Naturforschers und Weltreisenden, den er bereits im 5. Band der Literaturgeschichte als einen der »klassischsten Schriftsteller unserer Sprache« (!) gepriesen hatte.40 Das allein machte ihn für Gervinus allerdings noch ––––––– 35 36

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Über Börne’s Briefe [Anm.34], S.407. Vgl. dazu den Essay Johann Georg Forster (1843); in: G.G. Gervinus, Schriften zur Literatur, hrsg. von Gotthard Erler. Berlin 1962, S.317–403, hier S.329. So in der Vorrede zu Shakespeare (4 Bde., 1849–50); hier zitiert nach: Gervinus, Schriften zur Literatur [Anm.36], S.408. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.735. Brief an Wilhelm Beseler, 17.2.1842 (Nachlaß; Heidelberger Handschrift 2544). Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], S.389.

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nicht vorbildlich. Er reiht Forster vielmehr in eine Linie Hutten – Luther – Lessing ein: Gestalten, die aus seiner Sicht ihre Zeit weitergeführt haben, die ihr voraus waren, jedoch nur so weit, daß sie als anspornende Vorbilder wirken konnten. Mit dieser Linienkonstruktion steht Gervinus nicht allein, sie findet sich auch bei Zeitgenossen wie Theodor Mundt, Heinrich Laube, Theodor Rohmer, Robert Prutz und anderen,41 neu dagegen ist deren Weiterführung in Forster (1754–1794), der ihm berufen schien, »einen Schritt weiterzugehen und, der künftigen Zeit vordeutend, ein neues Ziel zu stecken«.42 In Forster sah er nun alles, was er an Jean Paul vermißte: einen männlichen Charakter mit festen Grundsätzen, eine auf das Leben und die Bewährung in ihm, also die Tat, ausgerichtete Lebenshaltung, kurz: eine praktischpolitische Natur, ein Muster an Energie und Tatkraft.43 An der Seite solcher »Stoiker« wie Lessing und Forster sah Gervinus auch sich selbst; in ihnen fand er seine Überzeugung verkörpert, »daß der Mensch da ist, um zu wirken und um seine Kräfte zu regen, daß er [...] frei strebt und Hemmungen antrifft, die ihm Schmerz bereiten, dessen Ueberwindung dann wieder Frucht und Lohn seiner Mühe ist«,44 daß er »nicht zum Genusse geschaffen ist, sondern zur Energie [...] zum Wirken, zum Erwerben, nicht zum Besitze«.45 Vor der Folie solcher praktischer, »einheitlicher Charaktere«46 konnte ein Jean Paul für ihn schlechterdings nicht bestehen.

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Vgl. dazu Arno Wildhaber, Das Bild der Reformation in der jungdeutschen Epoche, Phil. Diss. Bern 1935, ebd. 1936, S.107ff. und 116. Gervinus, Johann Georg Forster [Anm.36], S.400. Ebd., S.400ff. Geschichte der poetischen National-Literatur [Anm.1], Bd.4, 1.Aufl. Leipzig 1840, S.302. Ebd., Bd.5, S.307; vgl. auch Gervinus, Johann Georg Forster [Anm.36], S.29 und 32f. sowie Gervinus Leben [Anm.5], S.112. Gervinus, Johann Georg Forster [Anm.36], S.5, 29, 66f. und 74.

GABRIELE DÜRBECK

ZUR MONSTROSITÄT DES KINDES Altes und neues Wissen in Goethes Wahlverwandtschaften

1. Alte und neue Wissensformen Die Wahlverwandtschaften, die von einigen Romantikern wie Schelling, Achim von Arnim oder Solger hoch geschätzt wurden,1 aber auch bei vielen Zeitgenossen »Unbehagen«2 provozierten, gelten als das »undurchdringlichste und vielleicht vieldeutigste Buch« Goethes.3 Zahlreiche mythologische, christliche, philosophische, naturwissenschaftliche, alchimistische und mesmeristische Bezüge und Anspielungen haben denkbar divergierende Deutungen hervorgerufen. Während die einen den Roman als »Ausdruck einer mythischen Denkform«4 sehen und die mythischen Sinnebenen detailliert rekonstruieren,5 betonen die anderen die »Desorganisation symbolischer Ordnungen«6 und die »Poetik der Kontingenz«, die sowohl auf der Ebene der Figuren und deren Deutungskonzepte als auch auf der Ebene der Erzählinstanz vorherrsche.7 Wieder andere sprechen von einem »dialektischen Spiel zwischen Hermetik und Hermeneutik«8 oder analysieren die durchgehend zweideutige Darstellungsweise von »realistischer Vorderwelt und mythischer ––––––– 1

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Vgl. Die Wahlverwandtschaften im Urteil Goethes und seiner Zeitgenossen, in: Goethes Werke, Bd.6: Romane und Novellen I. Textkritisch durchges. von Erich Trunz. 14., überarb. Aufl. München 1996 [=Hamburger Ausgabe, fortan zitiert als HA], S.639–671. Norbert Bolz, Die Wahlverwandtschaften, in: Goethe-Handbuch, Bd.3, hrsg. von Bernd Witte. Stuttgart 1997, S.152–186, hier S.152. Vgl. das Nachwort zur Hamburger Ausgabe [Anm.1], HA, Bd.6, S.672, 673. Bernhard Buschendorf, Goethes mythische Denkform. Zur Ikonographie der »Wahlverwandtschaften«. Frankfurt a.M. 1986, S.9. Dies lässt sich auch am zyklischen Verlauf des dargestellten Geschehens zeigen, vgl. dazu Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften. Würzburg 2004 (=Epistemata 489). Stellvertretend für viele sei der Aufsatz von Waltraut Wiethölter, Legenden: Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften, in: DVjs 56 (1982), S.1–64) genannt, in dem sie v.a. die drei zentralen Bereiche Alchimie, Narzissmythos und Marienleben rekonstruiert. Vgl. auch den Kommentar zur Jubiläumsausgabe in Goethes Werke. Bd.3: Faust I und II, Die Wahlverwandtschaften, hrsg. von W. Wiethölter und Albrecht Schöne. Frankfurt a.M., Leipzig 1998, S.893–940; diese Ausgabe wird fortan zitiert unter der Sigle W mit Seitenzahl. David E. Wellbery, »Die Wahlverwandtschaften« (1809), in: Goethes Erzählwerk, hrsg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1985, S.291–318, hier 219. Gabriele Brandstetter, Poetik der Kontingenz. Zu Goethes Wahlverwandtschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 39 (1995), S.130–145. Bolz [Anm.2], S.156.

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Hinterwelt«.9 Diese Mehrdeutigkeit schlägt sich auch in den Genrezuordnungen nieder. Die Rede ist vom Schicksalsroman, in dem dämonische oder mythische Kräfte walten; vom Gesellschaftsroman als »Signatur seines Zeitalters«,10 der die revolutionäre Umbruchsituation um 1800 und die Auflösung klarer moralischer Orientierungen reflektiere; vom Ehe- und Liebesroman, der die Komplexität des Individuums und die verschiedenen Masken des erotischen Begehrens unter die Lupe nehme; oder vom Transzendentalroman, der den Modellcharakter der Dichtung reflektiere. Diese unterschiedlichen Perspektiven markieren die Vielfalt der Themen und Bezüge der Wahlverwandtschaften, in denen die Protagonisten in einem spannungsvollen Verhältnis von Naturnotwendigkeit und Vernunftfreiheit, Gesetz und Willkür, Unbewusstem und Rationalität dargestellt werden. Die Erzähltechnik der Wahlverwandtschaften beinhaltet nicht nur Mittel der »Spiegelung, Symmetrie, paarweisen Verdoppelung und Wiederholung«,11 sondern auch »synkretistische Verknüpfungen« unterschiedlichster Diskurse und Traditionslinien, die eine enorme »Sinnvervielfältigung« erzeugen.12 Zudem ist der Roman vom »Gestus der Verrätselung und des Verschweigens« bestimmt.13 Dies gilt insbesondere für den Plot des zunächst als Novelle angelegten Romans. In der Vierecksbeziehung zwischen den Eheleuten Charlotte und Eduard, sowie dem Hauptmann, einem Jugendfreund Eduards, und Ottilie, der Nichte Charlottes, die sich wechselseitig wahlverwandtschaftlich anziehen, findet zwar kein realer Ehebruch statt, das Kind der Eheleute trägt aber seltsamer Weise die Züge der beiden außerehelich Geliebten. Die auszuführende These ist, dass in dem unerhörten Ereignis altes und neues Wissen folgenreich enggeführt sind und nur die Art der Verknüpfung der Wissensformen Aufschluss über das »offenbare Geheimnis«14 geben kann. Unter neuen Wissensformen verstehe ich spezialisierte Diskurse auf der Grundlage empirischen Wissens und der Annahme einer Gestaltbarkeit der Welt, von Rationalität, Selbstbestimmung, Willensfreiheit und Vernunftmoral. Das alte Wissen hingegen ist geprägt von Geheimlehren, einem magi––––––– 9

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Matías Martínez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996 (=Palaestra 298), S.37–89, hier: S.40. Bolz [Anm.2], S.153 u. 155. Bolz [Anm.2.], S.158. Wiethölter/Schöne [Anm.5], W 904. Jürgen Barkhoff, Tag- und Nachtweiten des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe, in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hrsg. von Peter Matussek. München 1998, S.75–100 u. 484f., hier: S.75f., 86f.; Bolz ([Anm.2], S.156) spricht von der »Neigung zur Selbstverrätselung«. Goethe an Carl Friedrich Zelter, Brief vom 1. Juni 1809.

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schen Zugang zur Welt, der Vorstellung von fließenden Übergängen von Geist und Materie, der Annahme unmittelbarer Wirksamkeit geistiger Kräften auf die materielle Welt und der Identität von Symbol und Wirklichkeit. Auffallend ist, dass das zeitgenössische, neue Wissen im Roman laufend expliziert wird, während die Handlung aber so konstruiert ist, dass sie nur im Rückgriff auf das alte Wissen, das in die Handlung eingelassen ist, plausibel wird. Das neue Wissen wird im Roman in zahlreichen Diskursen vorgeführt und praktisch umgesetzt. Beispiele für zeitgenössische Diskurse sind sowohl Chemie und Naturwissenschaften als auch Gartenkunst und Architektur sowie gesellige Kunst der Tableaux vivants und die nazarenische Malerei.15 Dass Chemie um 1800 als »Modewissenschaft oder kulturelle Leitdisziplin«16 galt, reflektiert der Roman. Zahlreiche Bezüge zu den damals neuesten chemischen Theorien der ›einfachen‹ und ›doppelten Wahlverwandtschaft‹ sowie der Prinzipien der Kohäsion sind nachweisbar.17 Auch die Protagonisten zeigen sich darüber »bestens informiert«.18 Das titelgebende chemische Gleichnis wird im vierten Kapitel des Romans diskursiv vom Hauptmann eingeführt19 und an einem Experiment demonstriert, in dem zunächst drei, dann vier Elemente in wechselseitige Reaktion eine neue Überkreuzverbindung eingehen. Sieht man in dem chemischen Gleichnis allerdings die »Grundformel der Alchimisten«,20 stellt dies einen Bezug zur abendländischen Tradition von Sympathie- und Geheimlehren und damit zum alten Wissen her. Der im Roman gleichfalls präsente Mesmerismus oder animali-

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Vgl. dazu die Beiträge in dem Konferenzband: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes »Wahlverwandtschaften«, hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg i.Br. 2003 (=Rombach-Wissenschaften Reihe Litterae 96 [109]). Dietrich v. Engelhardt, Der chemie- und medizinhistorische Hintergrund von Goethes Wahlverwandtschaften (1809), in: Erzählen und Wissen [Anm.15], S.279–306, hier S.295. Wiethölter/Schöne [Anm.5], W 902. Vgl. Christoph Hoffmann, Zeitalter der Revolutionen. Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels, in: DVjs 67 (1993), S.417–450; vgl. auch v. Engelhardt [Anm.16], S.287f.; Jeremy Adler, »Eine fast magische Anziehungskraft«, Goethes »Wahlverwandtschaften und die Chemie seiner Zeit«. München 1987. Wiethölter/Schöne [Anm.5], W 902. »[...] diese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, diese Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz, wirklich darstellen kann; wo vier, bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen, glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort Wahlverwandtschaften vollkommen gerechtfertigt.« (W 435f.) So Wiethölter/Schöne [Anm.5], W 903.

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sche Magnetismus,21 in dem Elemente der hermetischen Tradition mit der zeitgenössischen Naturphilosophie verbunden sind, zählt zum neuen Wissen, in dem aber okkultes Wissen aktualisiert wird. Wissenschaftshistorisch betrachtet stellt der Mesmerismus ein Übergangsphänomen dar. Das alte Wissen bezieht sich, so eine weitere These, darüber hinaus auf die ImaginatioLehre, die bis zur Medizin der Antike zurückverfolgbar ist. Sie besagt, dass die Einbildungskraft der Mutter für die Hervorbringung von Monstern oder Missgeburten verantwortlich sei, wobei Monster einerseits als Wunderzeichen, andererseits als Unheilsboten gedeutet wurden. Auffallend im Roman ist die Ambivalenz der Reaktionen auf das durch maternale bzw. elterliche Imagination geprägte Kind, sie ist aber bislang in der Forschung kaum beachtet worden. Die Brisanz der chemischen Gleichnisrede besteht darin, dass das »Vereinigen gleichsam übers Kreuz« (W 435) auf die vier Protagonisten übertragen wird und ihre geheimen Wünsche vorzuprägen scheint. Als die Eheleute unter den Vorzeichen der wechselseitigen Anziehung der Nicht-Zusammengehörigen ein Kind zeugen, ist ihre Einbildungskraft am Werke: »Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander« (W 475). Als das Kind des imaginären Ehebruchs jedoch nicht seinen Eltern ähnelt, sondern den bei der Zeugung vorgestellten Geliebten – es trägt die Gesichtszüge des Hauptmanns und hat die schwarzen Augen Ottilies –, reagieren die Protagonisten mit Verwunderung, Erschrecken und »geheime[m] Grausen« (W 596). Charlotte und ihr Geliebter zwingen sich zur Entsagung. Sie widersetzen sich also der scheinbaren Naturnotwendigkeit und behaupten ihre Willensfreiheit.22 Sie vertreten damit die Seite von Rationalität und neuem Wissen. Eduard hingegen steht zwischen altem und neuem Wissen. Einerseits gestaltet er mit seiner Frau den Landsitz und die Gartenanlagen entgegen der väterlichen Tradition mit der ›erfindenden Einbildungskraft‹ ästhetisch neu, andererseits ist er es, der das Aussehen seines Kindes mit Rückgriff auf altes Wissen entschlüsselt. Als er, aus dem Krieg zurückgekehrt, sein Kind zum

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Vgl. dazu am ausführlichsten Michael Holtermann, »Thierischer Magnetismus« in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S.163–197, und Barkhoff [Anm.13]; Martínez [Anm.9], S.57–73. So Peter Michelsen, Wie frei ist der Mensch? Über Notwendigkeit und Freiheit in Goethes »Wahlverwandtschaften«, in: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S.139–160, hier: S.151f.

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ersten Mal in den Armen Ottilies sieht, spricht er ausdrücklich vom »doppelten Ehebruch« durch Phantasie (W 592)23 und löst damit die Katastrophe aus. In der bisherigen Forschung ist der Plot der Handlung entweder spekulativ-psychologisch, empirisch, hermetisch-alchemistisch oder magnetistisch erklärt worden, aber jeder der Erklärungsansätze lässt Lücken oder enthält Widersprüche. Auch Goethes eigene Erklärung der neutestamentlichen Lehre des Ehebruchs im Herzen,24 die er in der ironischen Rolle eines ›Bußpredigers‹ anbietet, ist nicht hinreichend. Im Folgenden soll gezeigt, welche Rolle alte und neue Wissensformen für die Erklärung des Plots spielen, welcher Stellenwert ihnen in der Romanhandlung zukommt und was sich daraus für die Bewertung dieses Wissens folgern lässt. Im Unterschied zu mythologischen, chemischen, alchemistischen und sympathetisch-magnetistischen Traditionslinien in den Wahlverwandtschaften ist die Imaginatio-Lehre bislang nicht in vollem Umfang – sondern nur in ihrer Ausprägung als ›Lehre‹ vom Versehen der Schwangeren25 – für die Deutung des Romanplots herangezogen worden. Da die seit der antiken Medizin tradierte Imaginatio-Lehre wesentlich zur Klärung der ambivalenten Reaktionen auf die doppelten Ähnlichkeit des Kindes Ottos beiträgt, wird sie im folgenden Kapitel ausführlicher dargestellt. 2. Die Imaginatio-Lehre und die ambivalente Deutung von Monstrosität ›Monster‹ ist die Bezeichnung sowohl für Ungeheuer als auch für Missgestalt oder Missgeburt. Der Furcht vor Monstern steht die ästhetische Lust an ihnen, etwa in Märchen oder Horrorfilmen, gegenüber. Fabeltiere und Mischwesen bevölkern nicht nur die Vorstellungswelt der antiken Mythologie, sondern verschiedenster Kulturen. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Reiseliteratur Europas hat Monster und fremdartige Wesen als Bewohner an den Ost- und Südrändern der bekannten Welt lokalisiert. In der Geschichte von Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Literatur stellten Monster eine produktive Herausforderung dar, sie mussten in die von ihnen unterminierten wissenschaftlichen Ordnungsvorstellungen integriert werden, wenn sie nicht zur Bestärkung fürstlicher Macht eingesetzt wurden.26 In der ästhetischen Darstellung von Monstern werden Grenzen kultureller Räume und Ordnun––––––– 23

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Friedrich Jacobi spricht vom »doppelten Ehebruch durch Phantasie«, über den er sich empört. Vgl. Jacobi an Köppen, Brief vom 12. Januar 1810, HA [Anm.1], S.663. Goethe an Joseph Stanislaus Zauper, Brief vom 7. September 1821, in: HA [Anm.1], S.642. Vgl. Martínez [Anm.9], S.71. Vgl. Lorraine Daston und Katharine Park, Wonders and the Orders of Nature. Cambridge/MA, London 1998.

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gen verhandelt, es geht um Grenzphänomene der Wahrnehmung und des Menschlichen überhaupt.27 Seit der Antike sind Umgang und Deutung mit Missgeburten und menschlichen Monstren durch Ambivalenz bestimmt. Das ist bereits an den verschiedenen Bezeichnungen für Missbildung ablesbar. So bedeutet der griechische Begriff τέρας (téras) sowohl Schreckbild, Ungeheuer als auch Vorzeichen, Wahrzeichen, Wunder. Der lateinische Begriff monstrum leitet sich von moneo oder monitum her und bezeichnet die naturwidrige Erscheinung, die als Mahnzeichen der Götter nach Deutung verlangt. Weitere Begriffe wie prodigium und portentum28 verweisen auf die nämliche Ambivalenz zwischen Wunderzeichen und Ungeheuer. Goethe, der sich mit Monstrositäten in der Botanik beschäftigte und solche sammelte, bedient sich in den Nachträgen zu seiner Metamorphose der Pflanze der genannten Begriffe mit positiver Konnotation. Zum Abnormen in der Natur schreibt er: Die Natur überschreitet die Gränze, die sie sich selbst gesetzt hat, aber sie erreicht dadurch eine andere Vollkommenheit, deßwegen wir wohlthun uns hier so spät als möglich negativer Ausdrücke zu bedienen. Die Alten sagten TÉRAS, prodigium, monstrum, ein Wunderzeichen, bedeutungsvoll, aller Aufmerksamkeit werth.29

Dieses Erklärungsmuster lässt sich auch auf das Kind Otto beziehen. Es ist monströs zu nennen, weil es nicht seinen leiblichen Eltern ähnlich sieht.30 Es überschreitet eine Grenze, ist »bedeutungsvoll« und ambivalent in seiner Wirkung. Denn zum einen sieht »man« in ihm ein »wunderbares, ja ein Wunderkind« (W 583), zum anderen löst sein Anblick bei den Protagonisten Verwunderung und Erschrecken aus. Die antike Medizin hielt zur Erklärung der Nicht-Ähnlichkeit des Nachkommens neben physiologischen Modellen31 auch die Imaginatio-Lehre be––––––– 27

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Vgl. dazu die Sammelbände MenschenFormen. Visualisierungen des Humanen in der Neuzeit, hrsg. von Susanne Scholz und Felix Holtschoppen. Frankfurt a.M. 2007; Monster. Zur ästhetischen Verfasstheit eines Grenzbewohners, hrsg. von Roland Borgards u.a. Würzburg 2009. »Prodigium« heißt sowohl »Wunderzeichen« als auch »eine hervorgetretene, meist Unglück bedeutende Erscheinung« und »portentum« sowohl Vorzeichen, Wunderzeichen, als auch abenteuerliche Erdichtung, Missgeburt, Ungeheuer. Vgl. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, ausgearbeitet von Karl Ernst Georges, 2 Bde. Leipzig 1880. Johann Wolfgang von Goethe, Morphologie. Weimarer Ausgabe (=WA), Abt. II/6, S.174. Alfred Gilbert Steer (Goethes Elective Affinities. Heidelberg 1990) wendet den Begriff der Monstrosität hingegen auf die Figur Ottilie an, die er als Heilige, als Wunderzeichen deutet, zit. nach Bolz [Anm.2], S.181. In der antiken Medizin herrschten zwei konkurrierende embryologische Modelle vor, zum einen die präformistisch ausgerichtete Pangenesislehre, zum anderen die Epigenese, welche von der Aristoteles-Schule verfochten wurde. In der Pangenesislehre, eine Zweisamentheorie, wonach sowohl der väterliche als auch der mütterliche Samen die Frucht hervorbringen, entscheidet die Mischung der Samenanteile darüber, welches Körperteil des entstehenden Wesens dem Vater und welches der Mutter ähnlich sieht. Missbildungen werden entweder als

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reit. Sie beinhaltet die Auffassung, dass Schwangere das Aussehen ihrer werdenden Kinder dadurch positiv beeinflussen könnten, dass sie im Augenblick der Empfängnis schöne Statuen ansähen und der visuelle Eindruck sich mittels ihrer Einbildungskraft in die menschliche Frucht wie Wachs eindrücke. Der älteste Beleg stammt aus den Fragmenten Περι Φυσεως / Über die Natur des Vorsokratikers Empedokles. Darin heißt es: die »Kinder [werden] entsprechend der Einbildungskraft der Frau während der Empfängnis gestaltet; oft nämlich begehren Frauen Männerstatuen und Bilder und gebären diesen ähnliche [Kinder]«.32 Aus dieser Auffassung, die auch als KallipädieLehre bezeichnet wird – von καλός (kalós), schön, gut, und Ð παĩς (ho pais), das Kind, also das schöne Kind33 – versuchte man praktischen Nutzen zu ziehen. Mehrfach ist eine ›alte Geschichte‹ belegt, die davon handelt, dass »ein häßlicher Potentat mit dem Wunsch nach einem schönen Nachkommen seine Frau beim Verkehr auf eine besonders schöne Statue blicken läßt«.34 Sie sollte nicht nur zu einem schönen, sondern auch zu einem männlichen Kind verhelfen. Die medizinhistorische Forschung hat gezeigt, dass die große Verbreitung der Imaginatio-Lehre auch darin begründet ist, dass sie die Mutter oder die Eltern von individueller Schuld freisprechen konnte. So wird von Medizinern der Frühen Neuzeit, etwa von Ambroise Paré oder Giovanni Baptista Codronchi, ein Fall angeführt, der angeblich aus dem hippokratischen Schriften entnommen und über den hl. Hieronymus weitertradiert worden ist: Eine weiße Prinzessin, Gattin eines weißen Mannes, die ein schwarzes Kind zur Welt brachte, wurde deshalb vom Ehebruch freigesprochen, weil das Kind als Wirkung der intensiven Betrachtung des Bildnisses eines Schwarzen während –––––––

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Resultat elterlicher Anomalien oder als Folge von Samenüberschuss, Samenmangel und Störung der Samenbewegung erklärt. Nach Aristoteles’ Theorie ist es der männliche Same, der die Bewegung der weiblichen Zeugungsanteile anstößt, die dann epigenetisch fortwirkt, um das neue Lebewesen hervorzubringen. Bereits die »Abweichung vom Idealfall der absoluten Identität mit dem männlichen Erzeuger« gilt »in gewisser Hinsicht« als Missbildung. Mangelnde Wärme oder frühzeitige Abkühlung, die den männlichen Samen schwäche oder hemme, war eine weitere Erklärung für die Entstehung von Monstrositäten. Ulrike Enke, [o.T.], in: Samuel Thomas Soemmerring, Schriften zur Embryologie und Teratologie, bearb. u. hrsg. von Ulrike Enke. Basel 2000 (=Soemmering Werke, Bd.11), S.22–24. Christian G. Bien: Erklärungen über die Entstehung von Mißbildungen im physiologischen und medizinischen Schrifttum der Antike. Stuttgart 1997 (=Sudhoffs Archiv, Beiheft 38), S.171, Anhang: Text 11. Dieses Epitheton ornans gebührt bemerkenswerter Weise der Romanfigur Ottilie, deren Handlungen nicht durch Willensfreiheit, sondern durch eine unbewusste, übersinnliche Kraft geleitet erscheinen. Martínez [Anm.9] deutet die Figur im Sinne des spekulativen Mesmerismus als Verweis auf das »goldene Zeitalter«, mithin auf einen »mythischen Urzustand der Mensch« (S.76–80); vgl. auch Barkhoff [Anm.13], S.95. Zu finden im Corpus Galenicum in der Schrift De theriaca ad Pisonem oder in Dionysios’ von Halikarnassos De imitatione. Vgl. Bien [Anm.32], S.83.

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der Schwangerschaft legitimiert wurde. Abgewandelt heißt es auch, es habe während der Empfängnis ein Schwarzer bei ihrem Bette gestanden.35 Hierbei wird auch auf den biblischen Fall von Labans gescheckten Schafen verwiesen. Naheliegend ist, dass die Gerichtsmedizin bei Zweifeln an der Elternschaft eines ihnen unähnlichen Kindes zugunsten der Eheleute entschied, um die Familie zu erhalten, wie Fälle vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert belegen.36 Die Auffassung einer Beeinflussbarkeit von Aussehen und Geschlecht der Frucht durch die Einbildungskraft der Mutter hat sich in der Medizin des Mittelalters37 und der Frühen Neuzeit fortgesetzt – gleichwohl meist unter umgekehrten Vorzeichen.38 Sie ist bekannt als die Lehre vom Versehen, die zur Erklärung von Missgeburten und Muttermalen diente. Danach könne die Einbildungskraft der Schwangeren durch einen Schreck oder andere starke Affekte ursächlich eine monströse Bildung der Frucht oder Muttermale herbeiführen. Die Lehre vom Versehen, die auch in anderen Kulturkreisen anzutreffen ist, war vor allem im Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts allgegenwärtig, wurde aber durch die im Aufklärungszeitalter aufkommenden neuen embryologischen Modelle der Epigenesis und die zunehmende Verwissenschaftlichung der Medizin entkräftet.39 Unter anderem wurde experimentell festgestellt, dass Blutkreislauf und Nervensystem von Mutter und Kind getrennt sind und darum eine Einwirkungsmöglichkeit der Einbildungskraft in anatomischer Hinsicht auszuschließen ist.40 Durch Spezialsammlungen von Monstrositäten und deren systematischem Vergleich versuchten der Medizi––––––– 35

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Im frühneuzeitlichen medizinischen Schrifttum wird auch ein zweites Beispiel wiederholt angeführt: die Geburt eines Mädchens mit Haaren am ganzen Körper. Es wird auf das Bildnis des mit Fell bedeckten hl. Johannes zurückgeführt, das die Mutter während der Schwangerschaft intensiv betrachtet habe. Vgl. Esther Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung. Bern u.a. 1983, S.255–257. Vgl. Fischer-Homberger [Anm.35], S.259–260. Ein Beispiel für die positive Wirkung der sinnlichen Einbildungskraft liefert das um 1350 verfasste Buch der Natur Konrads von Megenberg, worin er der schwangeren Frau rät, »durch den aktiven Einsatz der visuellen Anreize und ihrer Imagination zur gelungenen Ausbildung ihrer Frucht beizutragen«, und zwar besonders in den ersten Wochen, wenn die Frucht sich erst bildet. Vgl. Enke [Anm.31], S.26. Für einen negativen Einfluss der Einbildungskraft der Schwangeren auf das Kind ist in der antiken Medizin ein einziges Beispiel überliefert, und zwar aus der Schrift Gynaecia von Soran, einem Zeitgenossen Galens. Darin wird die affenartige Gestalt eines Kindes dadurch erklärt, dass die Mutter während der Vereinigung einen Affen angesehen habe. Vgl. Bien [Anm.32], S.80. Daniela Watzke, Embryologische Konzepte zur Entstehung von Missbildungen im 18. Jahrhundert, in: Imagination und Sexualität Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen Neuzeit, hrsg. von Stefanie Zaun u.a. Frankfurt a.M. 2004 (=Analecta Romanica 71), S.119–136. So erwies der Göttinger Mediziner Johann Georg Röderer durch Einspritzen von Terpentin, Quecksilber und Wachs in den Nabel die Getrenntheit der Kreisläufe, eine Entdeckung, die in erster Linie William Hunter zugeschrieben wird. Vgl. Watzke [Anm.39].

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ner Johann Friedrich Blumenbach und der Anatom und Embryologe Samuel Thomas Soemmerring mögliche Gesetzmäßigkeiten zu erweisen. Statt nur kurioser Einzelfall oder Kabinettsstück zu sein, erlangten Monster dadurch den Erkenntniswert eines Bausteins innerhalb der Embryologie.41 Bemerkenswert ist, dass bereits der Physiologe Caspar Friedrich Wolff durch eine »Ästhetisierung des Entwicklungsgedankens« die Epigenesis attraktiver zu machen strebte und sogar den Monstern Schönheit zubilligte.42 Dass die Idee einer imaginären Einwirkung der Schwangeren auf ihre Frucht dennoch im kulturellen Gedächtnis weiterexistierte,43 können verschiedene Quellen belegen. In Henry Fieldings Joseph Andrews (1742) trägt das Baby Joseph ein Muttermal in der Form einer Erdbeere auf der Brust, welche ihm seine Mutter vererbt habe.44 In Tobias Smolletts Peregrine Pickle (1751) ist es das Mal einer Ananas, womit der Rücken des Protagonisten bei seiner Geburt gezeichnet ist, weil seine Mutter während der Schwangerschaft eine solche von zeitgenössischen Ärzten als schädlich angesehene exotische Frucht gegessen hat.45 Ein weiterer Beleg findet sich in Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775–78), ein Werk, dessen Entstehen ––––––– 41

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Vgl. Michael Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens, in: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, hrsg. von Michael Hagner. Göttingen 1995, S.73–107. Hagner [Anm.41], S.93 Im Volks- und Aberglauben sowie in parapsychologischen Kreisen existiert sie auch heute noch. Vgl. Art. »Muttermal«, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1987). ND [der Ausgabe Berlin, Leipzig 1927–1942] Berlin, New York, Bd.6 [1935], Sp.703–705. Zur parapsychologischen Auffassung von Versehen, die viele der erwähnten Beispiele aus der antiken und frühneuzeitlichen Medizin als Belege funktionalisiert, vgl. etwa http://www.sphinxsuche.de/lexpara/versehen.htm (gesehen am 12.07.2009). Als Subtext von Fieldings Roman dient Heliodors spätantiker Abenteuer- und Liebesroman Äthiopische Geschichten (ca. 232/3 und 250 entst.), der in der Renaissance wiederentdeckt und von Johannes Zschorn 1559 erstmals auch ins Deutsche übersetzt, in der Romanliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts vielfach rezipiert wurde. Die Protagonistin Charikleia, nach vielen Wendungen schließlich mit ihrem Liebhaber Theagenes zusammengeführt und gerettet, entpuppt sich als äthiopische Prinzessin. Ihre weiße Hautfarbe sowie ihre Schönheit hat die Tochter des schwarzhäutigen Herrscherpaars von Äthiopien von Charikleias Mutter erhalten, da diese während des Beischlafs die Statue einer weißen Göttin anblickte. – Für diesen und weitere Hinweise danke ich Bernhard Lang (Paderborn), der in seinem neuen Buch Joseph in Egypt. A Cultural Icon form Grotius to Goethe (New Haven, London 2009) u.a. die Rezeption in Fieldings Joseph Andrews rekonstruiert. Smollett nimmt Bezug auf seinen Kollegen William Smellie und auf die zwischen den englischen Ärzten James Auguste Blondel und Daniel Turner in den späten 1720er Jahren erbittert geführte Debatte über die Wirkung der Einbildungskraft der Mutter auf die Leibesfrucht. Turners Annahme eines schädlichen maternalen Einflusses, für die er in seinem Hauptwerk De morbis cutaneis (1714) Gewährsmänner von Hippokrates über Plinius, Augustinus und Avicenna bis zu Paracelsus und van Helmont anführt, hat Blondel als ›vulgar error‹ abgewiesen. Vgl. Philip K. Wilson, ›Out of Sight, Out of Mind?‹ The Daniel Turner-James Blondel Dispute over the Power of the Maternal Imagination, in: Annals of Science 49 (1992), S.63– 85. Vgl. allgemein auch Franz K. Stanzel, Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination. Wien 2008.

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Goethe mitverfolgt hat. Darin gibt es einen Abschnitt zu den »Wirkungen der Einbildungskraft auf die menschliche Bildung«, in dem es heißt: Es ist gewiss, dass »der Mutter Einbildungskraft auf die Physiognomie des Kindes wirken könne«.46 Während Lavater das Versehen als »unleugbare Realität«47 darstellt, formuliert Lessing in seinem Laokoon (1766) vorsichtiger: »Bei uns scheinet sich die zarte Einbildungskraft der Mütter nur in Ungeheuern zu äußern«.48 Dagegen verarbeitete Jean Paul in seinem Roman Dr. Katzenbergers Badereise (1809), der im selben Jahr wie Goethes Wahlverwandtschaften erschien, den Umgang mit Missbildungen satirisch. Katzenbergers Sammeleifer ausgefallener Missgeburten macht selbst vor der eigenen Familie keinen Halt. Seiner wohlgestalteten Tochter erklärt er, er habe während der Schwangerschaft seiner Frau nicht vermieden, »Tanzbären, Affen und kleine Schrecken« von ihr fernzuhalten, hätte sie doch »mit einem monströsen Ehesegen« »im schlimmsten Falle [s]ein Kabinett um ein Stück bereichert«.49 Die satirische Invektive gegen Lavater, der im nächsten Satz sogar explizit genannt wird, belegt die Präsenz der Versehenslehre im kulturellen Gedächtnis um 1800. Die »doppelte Ähnlichkeit« (W 583) des Kindes Otto mit Ottilie und dem Hauptmann kann in mehrfacher Weise als Bezugnahme auf die ImaginatioLehre angesehen werden. Erstens ist die Wirkung der Einbildungskraft nicht auf die ersten Wochen oder die gesamte Schwangerschaft bezogen, wie dies in der Regel bei der negativ konnotierten Versehenslehre angenommen wird, sondern auf den Zeitpunkt der Vereinigung der Eheleute. Zweitens gilt das Kind im Sinne der antiken Kallipädieauffassung als schön, es heißt: »Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, höchst erfreulich dem Anblick« (ebd.) – eine Aussage, die der Allgemeinheit in den Mund gelegt wird. Auch Mittler, der allerdings zunächst über die Ähnlichkeit des Kindes mit dem Hauptmann stutzt, scheint dessen Deutung als Wunderzeichen zu teilen, wenn er bei der Taufe das Kind sogar mit dem »Heiland« vergleicht.50 Den––––––– 46

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Johann Kaspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4. Versuch. Leipzig, Winterthur 1775–78, S.69. Vgl. dazu Wolfgang Promies, Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. Frankfurt a.M. 1987 (1.Aufl. München 1966), S.222f. Dieselbe Überzeugung teilte der Tübinger Medizin- und Philosophieprofessor Carl August von Eschenmayer, der das Archiv für den thierischen Magnetismus (1814–1823/24) mitbegründete, vgl. Martínez [Anm.9], S.71. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: G.E.L., Werke, Bd.VI, München 1974, S.19. Dr. Katzebergers Badereise, in: I/6,87–309, hier S.129. Mittler zitiert Simeons Worte beim Anblick des Jesuskindes aus Lukas 2,25–36: »Herr lass deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland gesehen« (W 563).

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noch birgt es eine ambivalente Bedeutung. Während Mittlers Ansprache stirbt der alte Geistliche, so dass das Kind zugleich Unheilsbote ist. Zudem weist es auf Ottilies Tod voraus, von der schon zu diesem Zeitpunkt mitgeteilt wird: »das Leben ihrer Seele war getötet« (W 564). Der einzige, der erkennbar über das hier angeführte alte Wissen verfügt, ist Eduard. Als er nach seiner Rückkunft aus dem Krieg das Kind zum ersten Mal in den Armen der jungen Ottilie erblickt, ruft er aus: Großer Gott! [...] wenn ich Ursache hätte an meiner Frau, meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.

Ottilie entgegnet hierauf: »Nicht doch! alle Welt sagt, es gleiche mir.« Als das Kind daraufhin die Augen öffnet, ruft Eduard Ottilie zu: Du bists! [...] deine Augen sind’s. Ach! aber laß mich nur in die deinigen schaun. Laß mich einen Schleier werfen über die unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab. [...] Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehebruch erzeugt! (W 592)

Eduard entschlüsselt das Aussehen des Kindes also im Sinne der ImaginatioLehre und spricht von einem »doppelten Ehebruch«. Er steht demnach unter dem Einfluss des alten Wissens. Das heißt, für ihn ist der Ehebruch durch Phantasie ein realer, den er als »Fehler«, ja »Verbrechen« (ebd.) bezeichnet. Doch ziehen Eduard und Ottilie vollkommen konträre Schlussfolgerungen aus diesem Wissen. Eduard deutet das Kind als Beweis seiner Liebe zu ihr und meint das »Verbrechen [...] nur in ihren Armen abbüßen« (ebd.) zu können. Darin ist das Motiv erkennbar, dass er sein Kind legitimieren will. Er nimmt also die Zerstörung der Ehe in Kauf. Für Ottilie hingegen ist das Wissen um ihre passive Verstrickung in den Ehebruch moralisch unerträglich. Sie entzieht sich der Welt durch ihre »heilige Anorexie« und leistet Buße.51 Vor dem Hintergrund der Imaginatio-Lehre und Goethes Verwendung des Begriffs Monstrum lässt sich annehmen, dass sie das Kind als Mahnzeichen Gottes sieht. Später, in ihrem somnambulen Zustand sagt sie: »auf schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin« (W 599). Diesen Grund führt sie an für ihren Entschluss: »Eduardens werd’ ich nie« (ebd.).52 ––––––– 51

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Martínez [Anm.9], S.79. Dadurch befriedige sie »ein archaisches Bedürfnis nach moralischer Symmetrie« (ebd., S.82). Diese sittliche Klarsicht lässt sich in der Terminologie des Magnetismus als clairvoyance bezeichnen. Sie ist nicht durch Abwägung und philosophisches Raisonnement gewonnen, sondern in einem unbewussten Zustand; dieser ist aber weder generalisierbar noch diskursiv zugänglich.

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Wenn Eduard von einem »doppelten Ehebruch« spricht, nimmt er an, dass auch der Vater durch seine Einbildungskraft das Kind prägen könne. Die Imaginatio-Lehre leistet demnach keine hinreichende Erklärung für die doppelte Ähnlichkeit des Kindes, sondern muss durch weitere Bezüge untermauert werden. 3. Bisherige Deutungen des Entstehens und Aussehens des Kindes Mehrere prominente Deutungsansätze zu Zeugung und Aussehen des Kindes lassen sich unterscheiden: Werner Schwan sieht das Kind als »homunculus eigener Art«,53 das eine reine Projektion, ein Gedankenprodukt der kreuzweisen Verbindung sei. Deshalb sei es auch von vornherein dem Tode geweiht.54 Elisabeth Herrmann bezeichnet das Kind als »Personifikation von abwegigen Wünschen und Projektionen«.55 Entgegen solchen spekulativ-psychologischen Erklärungen versucht Stuart Atkins das Aussehen des Kindes auf realistischer Basis zu erklären. Die Ähnlichkeit der Augen des Kindes mit denen Ottilies führt er auf verwandtschaftliche Bande zurück, denn Ottilie ist die Nichte Charlottes. Die Ähnlichkeit zur Gestalt des Hauptmanns erklärt er dadurch, dass Eduard und der Hauptmann einem ›bedeutenden Haus‹ angehörten, in dem Familien häufig untereinander geheiratet hätten.56 Ungeklärt bleibt hier jedoch, warum der Anblick des Kindes Schrecken auslöst. Waltraud Wiethölters Deutung bringt dagegen die alchimistische Lehre in Anschlag. Vor diesem Hintergrund stelle sich der doppelte Ehebruch als »coniunctio« oder »chymische Hochzeit« dar, bei der die Vereinigung von Gegenbildern zu einer neuen Einheit, dem »opus magnum«, vollendet werde (W 903). Aus dem ›Vereinigen übers Kreuz‹ gehe eine »quinta essentia« (ebd.) hervor, die sich auch in der Namen- und Buchstabenmagie niederschlage.57 Das Kind sehe damit dem Gold, dem ›Stein des Weisen‹, »wenigstens zum Verwechseln ähnlich« (W 904), wie es vorsichtig heißt. Wenn sie im Weiteren davon spricht, das Kind verkörpere »den magischen Schlüssel ––––––– 53 54

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Werner Schwan, Das nicht erreichte Soziale. München 1983, S.21. Diesem Ansatz zuzuordnen ist die moralisch konnotierte Ansicht Beda Allemanns, der das Kind als »Fehltritt der Imagination« bezeichnet hat: Goethes »Wahlverwandtschaften« als Transzendentalroman, in: Studien zur Goethezeit. Festschrift für Erich Trunz, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Eberhard Mannack. Heidelberg 1981, S.9–32, hier S.20. Elisabeth Hermann, Die Todesproblematik in Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«. Berlin 1998 (=Philologische Studien und Quellen 147), S.245 u. S.151. Stuart Atkins, »Die Wahlverwandtschaften«. Novel of German Classicism, in: German Quarterly 53 (1980), S.1–45, hier S.35. Vgl. Heinz Schlaffer, Namen und Buchstaben, in: Goethes »Wahlverwandtschaften«, hrsg. von Norbert Bolz. Hildesheim 1981, S.211–229, und Bolz [Anm.2], S.166f.

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zum Glück, nach dem die erlösungsbedürftige Welt so sehr verlange« (ebd.), ist jedoch einzuwenden, dass das Kind keineswegs nur ein Glücksbringer ist, sondern mehrfach auf den Tod vorausweist; es ist also zugleich Unheilsbote.58 Allerdings räumt Wiethölter ein, dass das Kind Otto »Indiz und Resultat einer zutiefst zweideutigen Lektüre« sei (ebd.). Denn im Lauf der Lektüre würden die Paradigmen vertauscht, indem an Stelle der zeitgenössischen Chemie alchimistisch-hermetische Traditionen träten. Die Autorin relativiert zudem ihre eigene Deutung, indem sie nicht nur Unübersichtlichkeit und Synkretismus jener Traditionen, sondern auch die »Überdeterminierung bestimmter Bilder und Erzählsequenzen« (ebd.) herausstellt. Ein letzter Deutungsansatz des Aussehens des Kindes stellt ebenfalls einen Bezug zur hermetischen Tradition her, aber im Sinne des Magnetismus. Michael Holtermann und Jürgen Barkhoff nennen als mögliche Gewährsleute van Helmont und Agrippa von Nettesheim, bei denen die Auffassung vom »magisch-sympathetische[n] Ein-bilden einer Impression in den Foetus« zu finden sei.59 Goethe habe diese Auffassung entweder direkt von den Hermetikern60 oder vermittelt über die Naturphilosophen zu Beginn des 19. Jahrhunderts rezipiert. Tatsächlich hat sich Goethe in der Entstehungszeit des Romans intensiv mit hermetischen Lehren, mit Magnetismus und Siderismus, dem Erz- und Wasserfühlen, beschäftigt. Er hegte lebhaftes Interesse an allen Phänomenen, die am Übergang zwischen Geist und Materie, zwischen unbelebter und belebter Natur stehen. Ausgehend von den Studien Galvanis, Alexander von Humboldts und dem Schellingschüler Johann Wilhelm Ritter führte Goethe schon 1797 Experimente zum Erweis von Elektromagnetismus durch, hielt 1805 und 1806 Vorträge zum Galvanismus und Magnetismus vor der Weimarer Mittwochsgesellschaft und stellte 1807, angeregt durch Schelling und Schubert, eigene Pendelversuche in seinem Haus an, bei denen auch der Philosoph Hegel anwesend war.61 Dies war das neue Wissen der Zeit, mit dem sich Goethe als experimentell orientierter Naturforscher befasste. Gleichwohl lässt sich Goethes Verhältnis zum Magnetismus »nicht eindeu––––––– 58

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Heinz Schlaffer [Anm.57] hat auf eine Parallele zu Mittler qua Hermesfigur als »Glücksbringer« und »Totengeleiter« hingewiesen (S.219). Obwohl Schlaffer in alchimistischer Hinsicht ebenfalls vom »Stein des Weisen« (S.218) spricht, stellt er die Ironie heraus, da das künstlich Erzeugte nicht am Leben zu erhalten sei. Holtermann [Anm.21], S.182; Barkhoff [Anm.13], S.93. Unmittelbar vor Abfassung der Wahlverwandtschaften hat Goethe sein Wissen der Hermetiker aufgefrischt: »Nach Tische Picus von Mirandola, Agrippa von Nettesheim und Cabbalistische Lehrer.« (WA, Abt.III/4, S.18) Holtermann [Anm.21], S.176.

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tig« bestimmen.62 Zwar hat er »die Realität magnetischer Phänomene anerkannt«63 und fand Ritters Siderismus menschlich betrachtet »höchst interessant«,64 doch finden sich in Goethes Briefen über die Jahre hinweg distanzierte Bemerkungen gegenüber mesmeristischen und übersinnlichen Phänomenen. Während Holtermann die »dezente Distanz« betont,65 sieht Barkhoff bei Goethe im Alter eine größere Akzeptanz »gegenüber dem Wunderbaren«.66 Immerhin kann nachgewiesen werden, dass die Figur Ottilie »maßgeblich durch Phänomene des Magnetismus und Somnambulismus charakterisiert«67 ist (fernmagnetischer Rapport mit Eduard, wechselseitiger Kopfschmerz, Übernahme der Handschrift des Geliebten, Kohlefühligkeit, Wahrträumen, Hellsehen, kataleptische Starre nach dem Kindstod, Tod als Übergang in eine höhere Ordnung).68 Inwiefern kann nun der Magnetismus das monströse Aussehen des Kindes erklären? Holtermann geht davon aus, dass Goethe unter anderem die Artikel zum Magnetismus als Lehre von der Sympathie und Antipathie69 des Arztes Karl Eduard Schelling, dem Bruder des Philosophen, in der Entstehungszeit der Wahlverwandtschaften gelesen habe.70 Dort erläutert Schelling das Phänomen einer »passiv gesezten Sympathie« und führt aus, dass »[...] der Vater [...] die plastische Kraft der Mutter« veranlasse, »den Foetus mehr oder minder nach seinem Bild auszuprägen«.71 Bemerkenswert ist, dass er die als gewöhnlich bezeichnete Auffassung des alleinigen Einflusses der mütterlichen Einbildungskraft ausdrücklich ablehnt.72 Schelling führt also das Aussehen des Kindes auf ein sympathetisches Verhältnis zurück, sieht aber die Hauptverantwortlichkeit beim männlichen Erzeuger. Wenn dieser Bezug zum zeitgenössischen Magnetismus auch nicht die doppelte Ähnlichkeit Ottos zu ––––––– 62 63 64 65

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Martínez [Anm.9], S.63. Ebd., S.64. Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi, Brief vom 31. März 1808. Holtermann [Anm.21], S.186. Obwohl v. Engelhardt [Anm.16] von Goethes »Nähe zur metaphysischen Naturphilosophie und romantischen Naturforschung« (S.280) spricht, meint er zugleich, Goethe habe den »Nachtseiten der Naturwissenschaft« und »mesmeristischen Neigungen [...] wenig abgewinnen« können (S.282). Barkhoff [Anm.13], S.86. Holtermann [Anm.21], S.167. Martínez [Anm.9], S.78–80; Barkhoff [Anm.13], S.90f. Diese Bezeichnung des Magnetismus als »Sympathie und Antipathie« ist auch im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts zu finden. Vgl. Johann Hübner, Curieuses und Reales NaturKunst-Berg-Gewerck- und Handlungs-Lexicon. Neue Aufl., verb. von Georg Heinrich Zinck[en]. Leipzig 1746. Holtermann [Anm.21], S.180f. Karl Eduard Schelling, Ideen und Erfahrungen über den thierischen Magnetismus, in: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft, Bd.II, H.1 (1806), S.3–46, hier: S.14. Ebd., S.15.

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beiden imaginierten Personen erklären kann, liefert er doch einen wesentlichen Baustein für die Erklärung der ›vererbten‹ schwarzen Augen Ottilies. Was leisten also die verschiedenen Deutungsansätze? Das Aussehen des Kindes wird entweder als ›homunculus‹ gesehen oder auf biologische Vererbungs- und Inzuchtverhältnisse zurückgeführt, es wird als ›Stein des Weisen‹ im Sinne der Alchimie gedeutet, dem eine glücksbringende Funktion zukomme, oder es wird als Produkt einer ›passiven Sympathie‹ im Sinne des Magnetismus erklärt. Das heißt die beiden letzten Deutungsansätze verweisen auf das alte Wissen in der Tradition hermetischer Sympathielehren, während die ersteren Deutungen entweder spekulativ sind, oder psychologisieren oder eine ad-hoc-Rationalisierung vornehmen. Was bei all diesen Ansätzen jedoch ausgespart bleibt, sind die durch das Aussehen ausgelösten ambivalenten Reaktionen von Bewunderung und Erschrecken, deren Ursache bis zu Eduards Enthüllung verborgen bleibt. Die aufgezeigten Erklärungslücken können jedoch geschlossen werden, wenn man annimmt, dass Goethe unter anderem auf die Imaginatio-Lehre rekurriert. Diese Lehre kann auch die – nach damaligen Wirklichkeitsverständnis73 – reale Existenz des Kindes erweisen, während dies in der Deutung eines ›homunculus‹ zweifelhaft bleibt. Da in der Imaginatio-Lehre aber nicht vom imaginären Einfluss beider Geschlechter die Rede ist, lässt sich weiterhin annehmen, dass sie mit der von K.E. Schelling wiederbelebten hermetisch-magischen Sympathielehre verknüpft ist. Dass eine solche sympathetische Einwirkung wechselseitig stattfindet, wird durch die Verbindung mit dem chemischen Gleichnis, dem »Vereinigen gleichsam übers Kreuz«, erhellt. Darüber hinaus stellt Goethe, wie bereits erwähnt, nachträglich den Bezug zu einem Satz aus der Bergpredigt her, den er als »sehr einfache[n] Text dieses weitläufigen Büchleins«74 bezeichnet: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« (Mt 5,28) Auch wenn bei solchen Lektürehinweisen generell Vorsicht geboten ist, trägt zumindest eine der Figuren die Konsequenzen für dieses Sakrileg. Ottilie, »das bleiche himmlische Kind« (W 617), stirbt, kurz nachdem sie Mittlers Kommentar des sechsten Gebots vernimmt. Wenn man annimmt, dass die neutestamentliche Lehre des Ehebruchs im Herzen als Idee einer Veranschaulichung bedarf, ist diese durch das monströse Aussehen des Kindes gegeben. ––––––– 73

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Wenn man den älteren Begriff der Imaginatio zugrundelegt, bezieht sich dieser nicht etwa auf Irrreales, Wahngebilde oder Projektionen von heimlichen oder unerfüllbaren Wünschen, sondern bezeichnet »etwas sehr Reales«. Vgl. Fischer-Homberger [Anm.35], S.108, mit Bezug auf Mediziner wie Paracelsus, Donatus, van Helmont oder Fienus. Goethe an Joseph Stanislaus Zauper, Brief vom 7. September 1821.

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Demnach kann gefolgert werden, dass der Plot ein Kreuzungspunkt von altem und neuem Wissen ist. Dabei verhalten sich die verschiedenen Wissensformen komplementär zueinander. Das heißt, keine von ihnen kann den Plot allein erklären. Einschränkend ist anzumerken, dass der chemische Diskurs, der für das neue Wissen steht, nur in metaphorischer Anwendung zur Geltung kommt. Die ebenfalls verfügbaren neuen embryologischen Modelle, die eine derartige imaginäre Beeinflussung des Fötus ausschließen, werden im Roman nicht erwogen. Was geschieht nun mit diesem alten Wissen? Die Entschlüsselung des monströsen Aussehens, die Eduard im Sinne der Imaginatio-Lehre vornimmt, ist folgenreich. Denn in dem Augenblick, als Ottilie das Kind als lebendiges Zeichen des imaginären Ehebruchs erkennt, hat es seine Funktion erfüllt. Es hat Ottilie die Augen geöffnet, es kann sterben. Der Tod wird vom Erzähler als »Unfall« (W 595) mit Ottilie als »Werkzeug des wunderbaren Zufalls« (W 597) dargestellt. Damit wird er als kontingenter Vorfall motiviert. Die Protagonisten mit Ausnahme Mittlers75 hingegen deuten ihn mit einer Schicksalssemantik. So fühlt sich Charlotte durch ihr Zögern, in eine Scheidung einzuwilligen, schuldig an dem Tod des Kindes und sagt resigniert: »Es gibt gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.« Ähnlich betrachtet der Hauptmann den Tod als notwendiges »Opfer [...] zu ihrem allseitigen Glück« (ebd.). Auch Eduard sieht den Unfall als »Fügung« an, »wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre« (W 598). Doch »alle drei täuschen sich in ihrer Erwartung«.76 Das allseitige Glück wird nicht hergestellt. Versteht man den Roman so, dass die Figuren für bestimmte Wissensformen stehen, ergibt sich eine weitere Interpretation des Umstandes, dass Ottilie sterben muss und den ihr sympathetisch verbundenen Geliebten zur Nachtseite hinübernimmt: Das alte Wissen muss sterben.77 4. Resümee Im Roman wird altes und neues Wissen genutzt. Während das neue Wissen laufend expliziert wird, ist das alte Wissen in die Handlung und Figurencharakteristik eingelassen. Es gehört zu dem mehr oder weniger ›versteckten‹ ––––––– 75

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Für Mittler ist der Tod ein »Unfall«, welcher die von ihm erhoffte »Wiedervereinigung der Eheleute höchst unwahrscheinlich« mache (W 604). Martínez [Anm.9], S.47. Ähnlich folgert Holtermann [Anm.21, S.196]: »Ottilie hat keinen Bestand in der modernen Welt des Romans«.

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Subtext des Romans. Im Plot kreuzen sich neues und altes Wissen – das neue Wissen in Gestalt vom chemischer Gleichnisrede und magnetistischer Sympathielehre, das alte Wissen in Form von Imaginatio-Lehre und neutestamentlicher Ethik. Zur Erklärung des Plots verhalten sich altes und neues Wissen komplementär, d.h., kein Ansatz kann das Geschehen allein erklären. Goethe selbst nennt die Wahlverwandtschaften ein »offenbares Geheimnis«. Das Aussprechen des Geheimnisses führt die Katastrophe herbei – drei Tote. Eine offene Frage bleibt, ob der Keim der Katastrophe darin liegt, dass a) die Figuren unter dem Bann dieses alten Wissens bleiben (Aberglauben), b) dass die Figuren dieses alte Wissen nicht richtig meistern oder c) dass das alte Wissen ausgesprochen wird.78 Bestimmte Phänomene, wie die doppelte Ähnlichkeit des Kindes mit den beiden Geliebten, lassen sich mit dem neuen Wissen nicht erklären. Der Roman ist so konstruiert, dass die Figuren, welche über das neue Wissen verfügen, das alte nicht verstehen können. Trotzdem ist das alte Wissen heimlich präsent, aber nicht diskursiv vermittelt. Zentrale Geschehnisse verweisen auf eine magische Ordnung. Das alte Wissen übt noch seinen Einfluss aus, die von ihm bestimmten Protagonisten müssen sterben. Das Fortwirken des alten Wissens und der magischen Weltordnung werden allerdings nicht ausgeschlossen. Der Erzähler, der sich durchgehend eine ironische Distanz zum Geschehen bewahrt, beschreibt die Gräber der beiden Verstorbenen in der Kapelle mit einem Satz, der den Roman beschließt: »So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte [...], und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.« (W 623) In den Wahlverwandtschaften bleibt der Streit zwischen der empirischen Welt mit ihrem Bezug zum neuen Wissen und der magisch-mythischen Welt mit ihrem Bezug zum alten Wissen unentschieden. Das belegt nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte mit ihren zahlreichen Deutungen des Romans. Dass diese Unentschiedenheit bereits dem Plot selbst eignet, wird dann plausibel, wenn neben chemischem Gleichnis und Magnetismus die Imaginatio-Lehre in Betracht gezogen wird.

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Goethe sieht den Magneten als Symbol der Einheit des Naturganzen im Zeichen polarer Differenz, wobei er sich sowohl auf die experimentelle Naturwissenschaft als auch auf das alte Wissen bezieht. Den Magneten bezeichnet er als »Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben; dadurch wird es denn auch ein Symbol für alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen.« (HA XII,367, vgl. Riemer, 21.10.1805), zit. nach Barkhoff [Anm.13], S.87.

MONIKA SCHMITZ-EMANS

JEAN PAULS SCHRIFTSTELLER Ein werkbiographisches Lexikon in Fortsetzungen. Schriftsteller im Siebenkäs (1796/1818) – und ihre Rückkehr in den Palingenesien (1798)

1. Der Siebenkäs als Roman über Schriftstellerei und Literatur Aufs engste verknüpft Jean Paul im Siebenkäs die beiden Themen, die ihn zeitlebens am meisten beschäftigen: das Themenfeld Literatur und Schreiben und das Problem der leib-seelischen Doppelnatur des Menschen. Siebenkäs’ Seele wohne in seinen Papieren, so heißt es einmal ausdrücklich (I/2,351), und als ein solches Seelenbehältnis schickt er seine Manuskripte in einem Moment der Todesahnungen an seinen Doppelgänger (ebd.). Die Kontrastierung von Leib, Seele und Geist liegt der einleitend vorgenommenen Differenzierung zwischen »Kauf-«, »Lese-« und »Kunst-Publikum« zugrunde, dem Porträt der Leserschaft also (I/2,17). Die Figuren des Romans werden vor allem über ihre Beziehung zu Texten porträtiert – von mehreren Männern und einer Frau der Feder bis hin zur illiteraten Lenette, welche ahnungslos die »Buchmacherei« (wie sie die Arbeit ihres Mannes bezeichnet) im »Buchbinder« personifiziert sieht (I/2,163) und von ihrem Hausfreund Stiefel darüber belehrt werden muß, es sei schwerer, ein Buch zu schreiben als es zu setzen (I/2,181).1 Für den Helden ist es zudem charakteristisch, daß er eigene Erfahrungen mit Lektüren abzugleichen pflegt.2 Durch das Arrangement seines Scheintods und dem neuerlichen Namenstausch mit seinem Doppelgänger wird sein Leben selbst zu einer ›romanhaft‹-phantastischen Inszenierung. Daß der Scheintod Siebenkäs den ––––––– 1

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Daß Lenette die Tochter eines Ratskopisten ist, erscheint als Hinweis darauf, daß ihr jeder produktive Bezug zur Schrift fehlt. Als Erzeugerin von Geräuschen und Teilnehmerin an nachbarlichem Geschwätz repräsentiert sie die Sphäre der Mündlichkeit. Seine Entschlossenheit zum Scheintod nährt sich u.a. daraus, daß dieser seine Liebe zu Natalie in eine Analogie zu literarischen Liebesgeschichten rücken läßt: Als »Abgeschiedener« wird er eine Natalie lieben, die für ihn der Vergangenheit, nämlich seinem früheren Leben, angehört, »und er tat frei die Frage an sich, ob er nicht diese in die Vergangenheit gerückte Natalie so gut und feurig lieben dürfe als irgend eine längst in eine noch fernere Vergangenheit geflogene, die Heloise eines Abälards oder eines St. Preux oder eines Dichters Laura oder Werthers Lotte [...]« (I/2,448).

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Weg in ein neues, der Poesie gewidmetes und an der Seite einer Dichterin gelebtes Leben öffnen sollte (dieses aber vielleicht auch nur scheinbar), erinnert an die Bestimmung der Vorschule, derzufolge die Poesie die »einzige zweite Welt in der hiesigen« ist (I/5,30). Der Themenkomplex literarischer Produktionsbedingungen wird aus verschiedenen Perspektiven entfaltet. Kontroverse Konzepte solcher Produktion kollidieren: Siebenkäs möchte sich zwar aus den Widrigkeiten des Alltagslebens in seine Schriftstellerei retten, aber seine Empfindlichkeit gegenüber der als Ensemble von Störungen wahrgenommenen Außenwelt spricht für einen nachhaltigen Einfluß physisch-sinnlicher Faktoren aller Art auf die Literatur; jeder störende Besenstrich hinterläßt seinen Befürchtungen zufolge Spuren in seinem Text. Naiv wirkt es demgegenüber, wenn Stiefel die Vorstellung einer völligen Versenkung des Schreibenden in sein Projekt vertritt: »blind und taub« seien die großen Autoren »gegen alles [...], was nicht in die fünf innern geistigen Sinnen fiel«, gleich Blindgeborenen, die »im Traume herrlich sehen« (I/2,182); der belesene Stiefel erinnert an die Unempfindlichkeit dichterischer und philosophischer Genies gegenüber den Stürmen des Lebens, dem »Zipperlein«, Feuersbrünsten und dem Tod der eigenen Frau (ebd.). Freilich, so konzediert er dem geräuschempfindlichen Siebenkäs, sei zur Anfachung des schriftstellerischen Feuers zunächst »Windstille« erforderlich, und so wohnten denn Gelehrte in Paris grundsätzlich nicht neben Stätten geräuschvoller Arbeit (ebd.). Literarische Texte entstehen, so die am Fall Siebenkäs allen Überzeichnungen zum Trotz vermittelte These, in engstem Austausch mit der empirischen Wirklichkeit, einem Austausch, der keineswegs allein auf intellektueller Ebene stattfindet, sondern mit erheblichen Folgen auch auf somatischer. Lange Passagen des Romans gelten – den Kapitelüberschriften gemäß – Themen wie »Besen und Borstwisch als Passionswerkzeuge« oder »Nuntiaturstreitigkeiten über Lichtschneuzen« (I/2,152). Schier unerschöpflich ist der Einfallsreichtum an Beschwerden des Lärm-Hypochonders Siebenkäs, der glaubt, mit seinem Buchprojekt zusammen »verkrüppeln« zu müssen, wenn er die »Höllenpein« der Fegegeräusche Lenettes noch länger anhören muß (ebd.).3 Als Scharnierstelle zwischen Empirie und poetischer Ideenproduktion erweist sich einmal mehr die Imagination. Denn selbst leiseste häusliche ––––––– 3

Die »Passion« des Schriftstellers Siebenkäs wird unter vielfältigen Anspielungen auf die Passion Christi dargestellt. Vgl. dazu Gerhard Schulz, Jean Pauls ›Siebenkäs‹, in: Aspekte der Goethezeit, hrsg. von Stanley A. Corngold, Michael Curschmann und Theodore J. Ziolkowski. Göttingen 1977, S.215–239, hier: S.227f., sowie Elsbeth Dangel-Pelloquin, Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt. Freiburg i.Br. 1999, S.240f.

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Arbeiten stören Siebenkäs, da er sich die unvernehmbaren Begleitgeräusche auf zwanghafte Weise vorstellen muß – ja er muß sich alles denken, was Lenette jenseits der Wahrnehmbarkeitsschwelle treibt, »und der verdammte lange Wichs- und Besengedanke setzet sich an die Stelle der besten andern Gedanken, die ich hätte zu Papier bringen können« (I/2,158). Das Schreiben von Büchern wird einerseits auf somatischer, atmosphärischer und ökonomischer Ebene von äußeren Rahmenbedingungen beeinflußt, wirkt andererseits aber auch auf diese zurück. Nicht nur die auf den Autor eindringenden Sinnesreize gehören zu der Außenwelt, die in enger (wechselseitiger) Beziehung zum literarischen Arbeitsprozeß steht, sondern auch die ökonomischen Produktionsbedingungen.4 Siebenkäs rechnet seine literarische Arbeit immer wieder in Gulden, Groschen und Pfennige um (vgl. etwa I/2,189). Seine Texte werden zeilen- oder bogenweise honoriert und stellen, wie er betont, Äquivalente zu Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Ge- und Verbrauchs dar; ein beschriebener Papierbogen hat den Gegenwert eines Kalbskopfs (I/2,82), anderthalb Druckbogen den eines Paars Stiefelsohlen (I/2,189), Tinte soll sich in Silber verwandeln (ebd.), ja sogar in Goldfäden (I/2,161).5 Eine Fortsetzung und Steigerung der in den früheren Romanen entwickelten Ansätze stellt der Siebenkäs auch durch seine Personenkonstellation dar. Schon in jenen hatten die Figuren (unter ihnen »Jean Paul«) in komplexen antagonistischen oder Komplementär-Beziehungen gestanden. Mit Siebenkäs und Leibgeber treten ein satirisches und ein zur Empfindsamkeit tendierendes Schriftsteller-Ich auseinander, wie sie bei Viktor im Hesperus noch eine Personalunion gebildet hatten.6 ––––––– 4

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Diskutiert wurde, ob der Siebenkäs als Darstellung realer historischer Strukturen zu lesen sei oder aber als metaphorisches Spiel, das auf eine »Verflüssigung« von die Vorstellungswelt prägenden starren Anschauungen abziele (vgl. zum einen: Jochen Golz, Alltag und Öffentlichkeit in Jean Pauls ›Siebenkäs‹, in: JJPG 26/27 (1991/92), S.169–182, hier: S.173, zum anderen: Wolfdietrich Rasch, Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen. München 1961, S.40). Aus beiden Perspektiven erscheint die Abhängigkeit der literarischen Produktion von sozialen und materialen Rahmenbedingungen signifikant: im ersteren Fall im Sinne einer materialistisch geprägten Kunsttheorie, im letzteren als Beispiel für einen Metaphernkomplex, mit dem es um Determination in weiterem und übertragenem Sinn geht. Siebenkäs’ prahlerisch klingende Ankündigungen, er werde »einen beträchtlichen Ehrensold ins Haus [...] leiten« (I/2,154), zumindest »den Teufel der Armut in einiger Entfernung« halten und mit jeder geschriebenen Zeile entsprechendes Geld erwirtschaften, erscheinen ambig: Zum einen lassen sie auf prahlerische Hybris schließen (vgl. dazu Dangel-Pelloquin [Anm.3], S.245f.), zum anderen könnten sie (selbst-)ironisch-spielerische Assimilationen an den Vorstellungs- und Wertehorizont Lenettes sein. Vgl. dazu den Beitrag von Maximilian Bergengruen in diesem Band. Bergengruen erinnert auch daran, daß Leibgeber insofern seinen Namen zu Recht trägt, als er auf der Bindung von Phantasie und Empfindung an somatische Bedingungen insistiert.

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2. Autoren im Siebenkäs EIN ANONYMER BÄNKELSÄNGER – Der Auftritt eines Bänkelsängers, der die Geschichte eines »greulichen Mordes« vorträgt und mit seinem »RhapsodenStab« auf einen großen Bilderbogen deutet, rührt (→) Siebenkäs auf eine nur wenigern Lesern begreifliche Weise – erinnert der Vortrag des »traurige[n] Mordstück[s]« den Armenadvokaten doch an den Fall einer von ihm verteidigten Kindsmörderin, der ebenfalls vor dem »Rabenstein« spielt (I/2,107). Und er erwirbt zwei Exemplare der an sich trivialen Ballade, um sie abends anteilnehmend zu lesen (ebd.). VON BLAISE

– Um sich das von ihm verwaltete Vermögen des Helden anzueignen, ersinnt der Heimlicher von Blaise einen üblen Trick: Er beansprucht es mit der wider besseres Wissen gelieferten Begründung für sich, (→) Leibgeber (der erst nach einem Namenstausch (→) Siebenkäs heißt) habe sich so lange nicht gemeldet, daß er für tot zu erklären sei. Von Blaises juristischgewundener Stil macht sinnfällig, wie Gesetze verdreht werden können, um Unrecht zu tun. Siebenkäs entdeckt zudem, daß ein weiteres Schreiben von Blaises, in welchem dieser einst den Namenstausch und damit seine Identität anerkannt hat, nicht mehr lesbar ist. Denn zur Ausfertigung des Dokuments wurde eine unsichtbar werdende Tinte verwendet. Via negationis verdeutlicht der Trick das Vertrauenspotenzial dauerhafter Schriftzüge – und gibt dem Erzähler Anlaß zu einer Digression über Tintensorten (I/2,57). Leibgeber beantwortet von Blaises mit präparierter Tinte begangene Gemeinheit passend: durch einen Schmähspruch an der Wand, der den Schurken öffentlich bloßstellt, aber nachträglich und unversehens unter dem Einfluß der Wärme des Ofens unsichtbar wird (I/2,65). Der satirische Text, in dem die durch die Form des Ofens plastisch dargestellte Gerechtigkeitsgöttin sich von dem Heimlicher distanziert, deckt das Unrecht auf, das dieser heimlich begangen hat.

LANDSCHREIBER BÖRSTEL – Landschreiber Börstel schreibt auf, was andere ihm diktieren; in seiner ausgemergelten und insofern quasi substanzlosen Gestalt wird die Differenz zwischen bloßem Schreibertum und Autorschaft sinnfällig. Im Dienst der Kuhschnappelischen Stadtverwaltung unter dem korrupten (→) Heimlicher von Blaise ist er zu einer »welken eingedorrten Schnecke, mit einem runden, scheuen, horchenden Knopfplatten-Angesicht voll Hunger, Angst und Aufmerksamkeit« geschrumpft. Mancher glaubt, sein Fleisch sei auf die Knochen nur »wie die neue schwedische Steinpappe [...] aufgeschmiert« (I/2,503), und Börstels Diktion ist ebenso leblos und dürr wie

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sein Körper, wenn er die Testiersitzung bei (→) Siebenkäs eröffnet: »›Was solle [...] Denenselben heute niederschreiben?‹ [...]« (ebd.). Dem satirischen Testament Siebenkäs’ als Schreib-Werkzeug zu dienen, wagt Börstel nicht. Er siegelt, wie (→) Leibgeber anmerkt, das Testament dadurch, daß er fliehend aus dem Fenster heraus auf einen Abfallhaufen springt und dort seinen Körperabdruck hinterläßt (I/2,507). EIN BUCHBINDER UND SEIN SOHN – Ein ernsthafter Buchbinder, der sich über seinen leichtlebigen Sohn ständig ärgert, möchte mit diesem nicht mehr sprechen, kann aber auch nicht auf die Kommunikation mit ihm verzichten. So schreibt er Zettel, die seine Frau überbringen muß; sein Sohn geht auf die Regelung ein, und man bedient sich schließlich auch beim Sitzen am selben Tisch dieser »Pennypost« von mit zwei Fingern hin- und hergeschobenen Papierchen (I/2,334f.). Diese ersetzen zugleich mit der Rede auch die Mimik, mit den »Gaumen-, Zahn- und Zungen-« auch die »Augenbuchstaben«, welche ihrerseits doch auch nur ein »verwirrter Schriftkasten voll Perlschrift« sind (I/2,334). SEPTIMUS FIXLEIN – Unter dem Namen »Septimus Fixlein« hat Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) im Mai 1796 an Jean Paul geschrieben, ihm seine Anerkennung ausgesprochen und ihn finanziell unterstützt. Jean Paul nimmt das Erscheinen des Siebenkäs zum Anlaß, diesem ein »Intelligenzblatt der Blumenstücke« anzufügen, in welchem er den ihm persönlich noch nicht bekannten Leser, Briefschreiber und Förderer bei seinem KunstNamen nennt und ihn darum bittet, das Inkognito zu lüften und ihm zu schreiben. (Aus dem sich hieraus ergebenden Briefverkehr entspinnt sich eine enge Freundschaft.) Beim Erscheinen der Neuauflage druckt Jean Paul den Brief an Septimus Fixlein wieder ab, verrät dessen Identität und gedenkt des liebenswürdigen Dichters in Freundschaft (I/2,444). JEAN PAUL FRIEDR. RICHTER – Ums Erzählen sowie allgemeiner um die Kommunikationsbedingungen zwischen Autoren und Publikum geht es in der Vorrede zur ersten Auflage, die auf 1795 datiert und von »Jean Paul Friedr. Richter« gezeichnet ist (I/2,15) und die als »Miniroman« gelesen werden kann.7 Am Weihnachtsabend kehrt der Verfasser der Vorrede von Berliner Verlagsgeschäften nach Scheerau zurück und sucht den amusischen Kaufmann Jakob Oehrmann auf, dem er Geschäftsbriefe zu überbringen hat. Beim Warten denkt er über Kauf-, Lese- und Kunstpublikum als drei verschiedene ––––––– 7

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Rezipientengruppen nach. Ins Haus Oehrmanns kommt der Autor wegen Jakobs Tochter Johanne Pauline, die Gedrucktes (wie Weihnachtsalmanache) zwar verkaufen, aber nicht lesen darf, obwohl sie gern seine gesammelten Werke läse. Der Heilige Abend soll dazu genutzt werden, ihr gleich zwei Bücher, deren Lektüre der Vater verbietet, zu erzählen.8 Zuvor muß Oehrmann in den Schlaf geredet werden9 – durch langweilige theoretische und ästhetische Fragen, wie immer, wenn der Kaufmann Posttag hat (I/2,19).10 Bei der Weihnachtsabends-Sitzung stehen zunächst die »45 Hundposttage«, also der Hesperus, auf dem Erzählprogramm; der Roman muß »fast in ebensoviel [also 45] Minuten ausgezogen«, also drastisch reduziert werden. Das Erzählen bespiegelt sich hier (abgestimmt auf den für den neuen Roman prägenden Motivkomplex um Tod und Auferstehung) als ein buchstäblicher Kampf gegen die Zeit und damit gegen die Endlichkeit.11 Nach dem Erwachen des Hausherrn wird der Gast auf den Silvesterabend eingeladen, an dem er weitererzählt, und zwar den Siebenkäs;12 Oehrmann ist anläßlich eines Vortrags über das Kaufpublikum schnell eingeschlafen. Zwischen mündlichem und schriftlichem Erzählen ergibt sich insgesamt ein komplexes Komplementaritätsverhältnis.13 Zwei Bücher werden nachträglich zur Vorlage einer mündlichen Erzählung, die ihrerseits mit der Vorrede ––––––– 8 9

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Vgl. dazu die ausführliche Analyse bei Dangel-Pelloquin [Anm.3], S.175ff. Vgl. dazu Elvira Steppacher, Rednerpein und Mordgelüst. Neues zur Vorrede des ›Siebenkäs‹, in: Critica Poeticae. Festschrift für Hans Geulen, hrsg. von Andreas Gößling und Stefan Nienhaus. Würzburg 1992, S.159–170, hier: S.167. Johanne Pauline besitzt Eigenschaften einer idealen Leserin (vgl. auch Dangel-Pelloquin [Anm.3], S.176; auf ihre Komplementarität zum Autor deutet ja bereits ihr Vorname hin) – und der Vorredner modelliert in ihr das Publikum, das er sich wünscht (worin sich allerdings selbst-ironisch die Ahnung andeutet, daß der ideale Rezipient eben doch nur als Gegenstand literarischer Imagination zu haben ist): Sie verbindet Ernsthaftigkeit und Schalkhaftigkeit – und sie läßt sich rühren. Dangel-Pelloquin versteht die Beziehung Jean Paul/Johanne Pauline als die gelungene Version einer typisch Jean Paulschen Mann-Frau-Beziehung: als Beziehung von »Autor und Tochter« (ebd., S.183), wie sie anderweitig aber scheitert. Um den Vater möglichst schnell einschlafen zu lassen, bringt der Vorredner das Gespräch auf seine letzten beiden Romane und trägt über diese Ideen vor, von denen er hofft, sie seien langweilig genug. Als Oehrmanns Einschlafen auf sich warten läßt, legt die ungeduldige Tochter aus dem Setzkasten zum Wäschestempeln die Buchstaben des Wortes »erzahlen« (sic) in die Hand des Gastes, um ihn zum Vortrag des Hesperus aufzufordern (I/2,23). Daß es ein Weihnachtsabend ist, an dem die Erzählung ihren Ausgang nimmt, läßt diese nicht nur als Inbegriff eines Geschenks erscheinen, sondern schreibt ihr zudem eine prominente Stellung im Kirchenjahr zu. Die Fortsetzung der Selbst-Nacherzählung in der Silvesternacht rückt das poetische Werk dann auch an den Anfang säkularer Zeitrechnung. Im Roman selbst werden Reden und Schreiben anläßlich der Dauerverstimmungen zwischen Siebenkäs und Lenette mehrfach gegeneinander ausgespielt; zwischen den Ehegatten bricht ein Schweigen aus, das Siebenkäs resigniert ins Positive wendet, indem er das Sprechen als für seine Schreibarbeit abträglich interpretiert (I/2,333). Er wolle nicht mehr mit ihr sprechen, so erklärt er Lenette schließlich, um warm genug gegenüber seinem Schreiben und kühl genug ihr gegenüber zu bleiben (I/2,334). (Daß es ein Ehegattenstreit ist, der Sprechen und Schreiben auseinandertreibt, gibt zu denken.)

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zum Gegenstand neuerlicher Beschreibung wird. Daß im Nacherzählen eines solchen Erzählvorgangs auf dem Papier die Versuchung liegt, sich selbst ad infinitum zu wiederholen, hebt der Vorredner explizit hervor: Lächerlich wäre es, wie er meint, wenn er das, was im anschließenden Buch ohnehin folge, als Inhalt der Erzählung für Johanne Pauline in der Vorrede noch einmal abdrucken würde. Die Lösung: Jean Paul läßt den Roman selbst erst einmal beginnen – und setzt am Ende des ersten Bändchens dann seinen Bericht über den Erzählabend fort. Auch wenn er seinen Roman selbst also nicht als Bestandteil des Berichts über die Erzählung des Romans wiederholt, sympathisiert er vermutlich mit dem Modell der Endlosschleife des Erzählens, da dessen Unabschließbarkeit doch eine programmatische Antwort auf die Endlichkeit aller Dinge wäre. Auf das vierte Kapitel von Bd.1 folgt das »Ende der Vorrede und des ersten Bändchens« (I/2,132). Hier erfährt man, wie die lebendige »TaschenLeihbibliothek«, die der Autor für Johanne Pauline sein möchte (I/2,133), vom mißtrauischen Vater unterbrochen wird; dieser hat sich nur schlafend gestellt und der Nacherzählung des Romans gerade so lange zugehört, wie der wirkliche Leser bislang gekommen ist (immerhin vier Kapitel weit), um nun jeden weiteren Vortrag zu verbieten. Jean Paul muß sich von Johanne Pauline verabschieden und kann ihr nur wünschen, die »Bücher« möchten ihr künftig den »Büchermacher« ersetzen (I/2,137). In der Neujahrsnacht 1794/95 blickt er in die Weite des Himmels, der Berge und der Zukunft und spricht vom »hellen Bewußtsein des Ichs« als Bedingung der Freiheit und des Gleichmuts »gegen den Andrang der Welt« (I/2,139).14 »Jean Paul« inszeniert als Erzählerinstanz ein Spiel mit seiner eigenen Rolle, arrangiert gleichsam Doppelgängerkonstellationen mit sich selbst – und zwar sowohl innerhalb des Romans als auch unter Anspielung auf den »Jean Paul« der früheren Romane.15 Im Siebenkäs besteht keine eindeutige Identität zwischen dem Vorredner (als dem Verfasser des Paratextes zur Helden-Biographie) und dem romaninternen Erzähler; die Erzählerfigur differenziert sich stärker aus als zuvor, präsentiert sich allerdings auch nicht klar ––––––– 14

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En passant wird eine Analogie zwischen dem Ich und den Büchern hervorgehoben: Die Beziehung zum eigenen Ich und die zu Büchern changiert zwischen beobachtender Distanz und empfindender Nähe; wer Bücher über das Ich oder über das Bücherherstellen liest, sollte sich dessen erinnern, daß sein Gegenstand selbst präsent ist – ein Anlaß, den Leser zu fragen, ob ihm klar ist, daß er sich selbst in Gesellschaft eines Buches und seines Ichs befindet (I/2,139). Als Fürstensohn Jean Paul, Bruder des Prinzen, der im Hesperus Kato der Ältere genannt wird, und Freud Viktors verfaßt Jean Paul einen Brief innerhalb des »ersten Fruchtstücks«. Er berichtet hier von einer mit Freunden unternommenen Wanderung und rührenden Landschaftserfahrungen am Rhein (I/2,433–440).

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als zwei verschiedene Personen.16 Da die Beziehung zwischen dem Vorredner, dem Roman-Erzähler und dem realen Autor Jean Paul hinsichtlich der Frage nach Identität (bzw. Personalunion) oder Nichtidentität absichtsvoll ambiguisiert erscheint, läßt sich auch die Frage nach der Erzählerinstanz der beigefügten »Blumenstücke« nicht eindeutig beantworten, also der Rede des toten Christus, die explizit als »Dichtung« (I/2,270) ausgewiesen ist (in der Erstfassung 1796 vor dem eigentlichen Roman plaziert),17 sowie des »Traum[s] im Traume«.18 Das Spiel mit der eigenen Autor-Identität setzt sich im Entwurf hypothetischer Schreibprojekte fort. In der »Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen« bedauert der Vorredner die Pflicht, allen Vorreden ein Buch anzuhängen, und wünscht sich in die Lage eines privatisierenden Gelehrten hinein, dem man bereits fertige Bücher zuschickt, auf daß er sie mit Vorreden versehe (I/2,145). Er kündigt ein Buch »voll bloßer präexistierender Vorreden« an, das als Angebot an die Schriftsteller gedacht sei; diese könnten aus dem zu publizierenden Angebot diejenige Vorrede auswählen, die ihnen am meisten zusage. Anschließend will der Vorredner seine Vorreden gesammelt veröffentlichen. Um eine Probe seiner Künste zu geben, schaltet er ein Stück aus seinem Angebot ein, das er aber zugleich einem anderen Verfasser zuzuschreiben scheint; will er doch nach eigenen Angaben die Suggestion erzeugen, »als hätte mit ihr [der Vorrede] der berühmte Verfasser mein Buch auf Ersuchen versehen, welches noch dazu auch wirklich so ist« (I/2,146). Der »berühmte Verfasser« und Vorredner wird als der »Verfasser des Hesperus« vorgestellt, ist also ein zeitlich verschobenes Alter ego des Vorredners, und tritt tatsächlich mit einer »Vorrede vom Verfasser des Hesperus« in Erscheinung.19 Dieser »Verfasser des Hesperus« versichert den Verfasser der »Blu––––––– 16

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Paul Heinemann allerdings möchte beide unterschieden wissen, wofür ebenfalls gute Gründe sprechen. Als »reale und fiktive Autoren«, die im Roman auftreten, nennt er (a) den Biographen und Verfasser des Siebenkäs, (b) Siebenkäs selbst, (c) Leibgeber sowie (d) »den Redigierenden des gesamten Buchs, der ›Jean Paul‹ heißt, Verfasser des ›Hesperus‹ und der ›Levana‹, also der Romane Jean Pauls ist, und den ›Titan‹, den Leibgeber geschrieben haben soll, als künftiges Buch ankündigt«, ferner (e) »Jean Paul als Autor des Ganzen«. Heinemann entnimmt die Kernbestandteile dieser Liste Marianne Kestings Aufsatz: Ich-Projektion und Erzählerschachtelung. Zur Selbstreflexion der dichterischen Imagination. (In: Germanischromanische Monatsschrift 1 (1991), S.27–45) und ergänzt sie. Zu Entstehung, intertextuellen Beziehungen und Stellung der Rede im Kontext des Siebenkäs vgl. Götz Müller, Jean Pauls ›Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei‹, in: G.M., Jean Paul im Kontext. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1996, S.104–124. Bevor die Rede über die Abwesenheit Gottes dem toten Christus in den Mund gelegt wurde, hatte Jean Paul an den toten Shakespeare als Prediger auf dem Friedhof der Welt gedacht. Diese Vorrede des Hesperus-Verfassers (I/2,146–151), die mit »Jean Paul Fr. Richter« gezeichnet ist wie auch die an sie wieder anschließende rahmende »Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen« enthält eine Gruppe von sogenannten »Heischesätzen« (Postu-

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menstücke«, den er (unter Berufung auf ein Alterserrechnungsverfahren Voltaires) als hoffnungsvollen jungen Mann von fünf Jahren bezeichnet, seines Beifalls (I/2,149) und kündigt ein künftiges Werk desselben Verfassers an, das »Der Titan« heißen wird; in einer Anmerkung bestätigt der Verfasser der »Blumenstücke« diesen Titel. Schließlich schlägt der »Verfasser des Hesperus« dem Leser an der Schwelle zum zweiten Bändchen der »Blumenstücke« mit einem an (→) Lawrence Sterne erinnernden Einfall vor, zunächst das erste Bändchen noch einmal zu lesen, sei doch »ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, auch nicht würdig, daß mans einmal lieset« (I/2,151).20 Damit wird dem Leser der Eintritt in eine Endlosschleife nahegelegt, wie sie sich der Erzähler der Vorrede versagt hatte (s.o.). Der als Romanerzähler wirkende Jean Paul (der nicht klar mit dem Vorredner identifiziert werden kann, aber wie dieser auf den Roman als sein Projekt Bezug nimmt) ist mit (→) Siebenkäs befreundet und konsultiert ihn vor der Publikation des Buchs. Dessen Titelheld wird den Roman »noch früher in die Hand bekommen als selber der Setzer« (I/2,287), wohl um ihn kritisch durchzusehen. Dieser Erzähler Jean Paul scheint selbst früher Satiren verfaßt zu haben (allerdings nicht die »Teufels-Papiere«, die ja Siebenkäs schreibt). Aber er vergleicht die Arbeiten des Freundes mit den eigenen, attestiert jenen künstlerischen Rang, obwohl die an einem Ort wie Kuhschnappel entstanden sind, und meint, er selbst habe »nicht einmal in Hof im Voigtland, wo ich sonst manches scherzend geschrieben, dergleichen machen können« (I/2,368). DR. JEAN PAUL FRIEDRICH RICHTER – Während die 1795er Vorrede (zur ersten Auflage) von einer mündlichen Erzählung berichtet, geht es in der Neuauflage vor allem um den Textcharakter des Werks.21 Der zweiten Auflage ist, datiert auf den September 1817, eine »Vorrede zur zweiten Auflage« vorangestellt, aus der hervorgeht, daß der nun als Dr. Jean Paul Friedrich Richter zeichnende Verfasser der Geschichte diese seit der ersten Auflage in einigen Punkten verändert hat. Als die größten Veränderungen betrachtet er –––––––

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laten), gefaßt in Gleichnisse, mit denen es zwar insgesamt um Schriftsteller, Leser und Wissen geht, ohne daß sie aber eine argumentatorisch stringente Sequenz bildeten. Eine Fußnote informiert den Leser darüber, daß der »obige Kettenschluß als solcher einen Zusammenhang haben müsse«, und darum seine einzelnen Glieder »durch bloße Worte und Übergänge« miteinander verbunden worden; sie alle seien, wie ein Bandwurm, jeweils für sich »ein eigner, privatisierender, idiopathischer Wurm« (I/2,147, Anm.1). Auf den 5. Juni datiert wie diese ›eingeschobene‹ Vorrede des Hesperus-Verfassers Jean Paul Fr. Richter ist auch der Rest der mit demselben Namen unterzeichneten Vorrede des Blumenstück-Verfassers (I/2,151). Zum Vergleich der ersten und zweiten Auflage vgl. Jean Pauls Siebenkäs, hrsg. von Klaus Pauler. München 1991.

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»die historischen«, die auf persönlichen Recherchen vor Ort beruhen. Hat er doch inzwischen Gelegenheit gehabt, Kuhschnappel zu besuchen und zu besichtigen, mit dem Protagonisten zu korrespondieren und dadurch etwas über »ungedruckte Familienbegebenheiten« zu erfahren. Von diesen war nur auf diesem Weg Kunde zu bekommen, »wenn man sie nicht geradezu erdichten wollte« (I/2,12). Zur Ausbeute der Recherchen gehören auch »neue Leibgeberiana« (ebd.). – Die Orthographie der zweiten Auflage wurde modifiziert, die dem Rechtschreibreformer anstößigen »Genitiv-End-S in den Samm- oder Gesamtwörtern« wurden getilgt, die Blumen- und die Fruchtstücke wurden umgestellt. An den »Blumenstücken« selbst geändert hat der Verfasser aber nichts (I/2,13). Die Vorbereitung der zweiten Ausgabe ist laut Vorrede in sehr konkretem Sinn eine Arbeit am Text gewesen. Mit ›buntem goldnem‹ Streusand hat der Romancier seine Schriftzüge »etwas unleserlich und höckerig gemacht« und den Sand bewußt nicht abgeschabt (sei es um des Goldes, sei es um der Höcker willen). Das Tilgen der Genitiv-End-S aus dem alten Text hat sich als ein »ungemein beschwerliche[s]« Ausfegen »von Buchstaben und Wörtern durch vier lange Bände hindurch« gestaltet (ebd.); orthographische Revisionen sind eben eine harte Mühsal. Analoges gilt für andere Überarbeitungen, die der Autor auch gern wahrgenommen wissen möchte, zumal da er fleißig am Text der ersten Auflage herumgestrichen hat. Da er weiß, daß es Mißvergnügen bereitet, differente Romanfassungen zu kollationieren, hat er in der Realschulbuchhandlung ein handschriftlich mit Tinte korrigiertes Exemplar der gedruckten ersten Ausgabe hinterlegt, das die Modifikationen, denen der Text unterzogen wurde, bezeugt: Die »mit Dintenschwärze verbesserte Druckerschwärze« läßt »alle durchgestrichetenen Stellen leicht auf einmal« überschaubar werden, »oft halbe und ganze totgemachte Seiten, so daß man erstaunt«. So erstaunlich wie der investierte Fleiß des Überarbeiters ist auch der Umstand, daß durch seine Maßnahme ein eigentlich unlesbar gewordener Text wieder lesbar wird; was aus der ersten Ausgabe gestrichen wurde, wird in jenem Buchhandlungs-Exemplar ja als Gestrichenes noch einmal sichtbar. Die Spannung zwischen dem ›Totmachen‹ ganzer Textabschnitte und ihrer neuerlichen Präsentation erinnert an die künstlich arrangierte ›Auferstehung‹ des scheintoten Siebenkäs; so gesehen besteht zwischen Erst- und Zweitausgabe ein ähnliches Verhältnis wie zwischen dem offiziell toten und dem auferstandenen (→) Siebenkäs.22 Im übrigen soll der kritische Leser »aus dem ––––––– 22

In jedem Fall müssen ›totgemachte‹ Seiten ja vorher gelebt haben, und in Erinnerung daran zollt der Textbearbeiter dem Gestrichenen metaphorisch sowie durch die Ausstellung des bearbeiteten Exemplars (eine Art Aufbahrung, um im Bildfeld zu bleiben) seinen Respekt.

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Ausstreichen des Gedruckten auf das frühere des Geschriebenen« schließen: Dem Arbeitsprozeß ist ja neben zuvor Gedrucktem auch Handschriftliches zum Opfer gefallen, all das nämlich, was nie den Weg vom Manuskript in den Druck fand. (Das wirkliche Buch erinnert durch diese Wendung an all die möglichen Bücher, die aus ihm hätten werden können, und versetzt sich insofern in den virtuellen Kontext eines Mega-Romans.) Kunstrichter, die nicht (wie die Berliner) nahe genug wohnen, um den Doppel-Roman in der Buchhandlung zu sehen, mögen sich, um der kollationierenden Lektüre zu entgehen, auf ein Abwiegen der beiden Ausgaben beschränken: Liegen diese in Gewürzkrämerschalen, so bringt die neue, den Streichungen zum Trotz, doch deutlich mehr auf die Waage (I/2,13f.).23 HOSEAS HEINRICH LEIBGEBER (EIGTL. FIRMIAN STANISLAUS (→) SIEBENKÄS) – Leibgeber, Freund, Doppelgänger und Namenstauschpartner des Titelhelden Siebenkäs, tritt als Verfasser verschiedener Texte auf. Als Pendant seines Doubles verkörpert er den Geist der Kritik, der Ironie, der Satire, wobei er den Widrigkeiten des Alltags distanzierter und freier gegenübersteht als jener.24 Leibgeber repräsentiert aber auch einen von Wahnsinn und Selbstzerstörung gefährdeten Humoristentypus; ein entsprechendes Ende wird er jenseits des Siebenkäs ja auch nehmen. Der Erzähler deutet auf die Schärfe des Leibgeberschen Humors schon hier hin und kommentiert sie mit einer gewissen Distanz, was auch die Form des Kommentars selbst prägt: Die zweite Auflage des Siebenkäs enthält das Zitat einer Bemerkung über Leibgebers in die »Blumenstücke«, also in den Roman, eingeflochtene »Hirtenbriefe« – eine Bemerkung, die angeblich Überlegungen des Erzählers anläßlich der ersten Ausgabe wiedergibt: Die meisten Leser würden sich seiner (damaligen) Mutmaßung nach wohl von Leibgebers Texten abgestoßen fühlen, weil sie mit dem Leibgeberschen Humor nichts anzufangen wüßten. Dem hätte man durch Verfälschung und Ersetzung seiner Originalbriefe durch »faßlichere« begegnen können, um allenfalls in einer zweiten Auflage die echten ––––––– 23

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Damit wir nicht vergessen, daß dem soeben gelesenen Buch eine erste Auflage voranging, erinnert eine Fußnote im ersten Kapitel an eine aus der ersten Fassung getilgte Stelle – die damit, daß sie zitiert wird, in die zweite Fassung doch wieder hineingerät – nicht ohne zugleich für »entbehrlich« erklärt zu werden (I/2,41, Anm.1). Zur Figur Leibgeber-Schoppe vgl. Kurt Wölfel, Schoppe. In: JJPG 2000/01, S.305–320; keine Figur stehe Jean Paul hinsichtlich der Geistesverwandtschaft näher als LeibgeberSchoppe, so Wölfel (S.305). Habe Jean Paul im Hesperus noch versucht, in die Figur des Viktor hineinzulegen, »was an divergierenden Denk-, Empfindungs- und Redeweisen im eigenen Kopf und Herzen versammelt war«, so kündige sich mit der Einführung Leibgebers als Pendant Siebenkäs’ die im Titan dann vollzogene Aufspaltung an (ebd.). – Zu Leibgeber ferner: Bernhard Böschenstein, Leibgeber und die Metapher der Hülle, in: Jean Paul. text + kritik-Sonderband. München 1970, S.44–48.

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Briefe nachzuschreiben – eine Maßnahme, die aber unterblieben sei und die sich angesichts der zunächst unterschätzten Leserschaft auch als unnötig erwiesen habe (I/2,545f.). Leibgeber ist im Roman vor allem Briefschreiber. Aus Baireuth schreibt er am 21.9.1785 an Siebenkäs, den er als seinen Bruder, Vetter, Oheim, Vater und Sohn anspricht – um sich selbst mit Stammvater Adam zu vergleichen, aus dem allmählich alle seine Verwandte hervorgegangen seien und an dessen Stelle er gern wäre, um alles aus sich selbst erstehen zu lassen. Auf die Leibgeber später (im Titan) zugeschriebene Clavis Fichtiana deutet hier schon das Gedankenspiel Leibgebers mit der Figur des biblischen Adam voraus. Der Briefsteller stellt sich unter Berufung auf Pufendorf das eigene Ich als Herrn der Welt, als »erste[n] und letzte[n] Universalmonarch[en]« vor (I/2,120) – und als einen Alleswisser. Dieser habe als Adam »im Stande der Unschuld« einst »alle Wissenschaften« beherrscht, »die Universal- wie die Gelehrtenhistorie, die verschiedenen peinlichen und andern Rechte und die alten toten Sprachen sowohl als auch die lebendigen«; er sei »gleichsam ein lebendiger Pindus und Pegasus« gewesen, »ein Taschen-Musensitz«, der in Mußestunden sein Allwissen aufgeschrieben habe, bevor er es später als Folge der Vertreibung aus dem Paradies vergaß. Der adamitische Zustand ist aus Leibgebers Perspektive also der einer enzyklopädischen Kenntnis aller Dinge, für die (nach dem Sündenfall und dem Vergessen) ersatzweise Bücher einstehen – als »die Exzerpten oder ein räsonierendes Verzeichnis meines vorigen Wissens« (ebd.). Das humoristische Gedankenexperiment um den alleswissenden und allesschreibenden Adam spielt mit dem Konzept der Autorschaft, wie es im ganzen Roman spielerisch zur Disposition gestellt wird. Zugleich rückt es bereits die idealistische Philosophie ins Licht verstiegener Verabsolutierungen des Ichs. Adam hält sich selbst für den Grund aller Dinge. Die Allmachtsphantasien des Adam (in dessen Rolle Leibgeber spricht) motivieren diesen dazu, sich mit einem »Sermon« an Eva zu wenden, um die Gründe zu erörtern, die für, und jene, die gegen eine Bevölkerung der Welt durch Fortpflanzung sprechen (I/2,121ff.). Leibgeber-Adams humoristische Ansprache entfaltet die Ausgangsidee des einen Ichs, in dem alles steckt: all seine Nachfahren, alles mögliche Wissen, alle möglichen Gegenstände des Wissens, alle gegensätzlichen Anlagen und Charakterzüge, welche sich in den Menschen jemals entfalten werden, jede Tugend, jedes Laster, jede Weisheit, jede Dummheit, jede Grausamkeit und jede Belustigung. Diese Antizipation der Leibgeberschen Weltproduktionsphantasien in der Clavis Fichtiana verdeutlicht, daß es auch mit diesem nicht allein um eine Satire gegen Fichte und den Idealismus geht, sondern zugleich um die Allmachts-

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träume eines Schriftstellers, der am liebsten eine ganze Welt schaffen und alles Wißbare wissen würde. Im zweiten Teil der Sermo beschreibt sich Leibgebers Adam vor allem als Verwandten großer Dichter und philosophischer Schriftsteller (I/2,126). (In einer Nachschrift zu diesem satirischphilosophischen Text berichtet Leibgeber von jüngsten Erlebnissen, insbesondere seiner Bekanntschaft mit (→) Natalie, und legt dem Brief zwei zu rezensierende Schulprogramme bei.) Aus Vaduz meldet Leibgeber sich mit einem vom 2. Februar 1786 datierten Brief, den der Erzähler vom Leser durchlesen läßt und der eine Einladung Siebenkäs’ nach Baireuth enthält, wo Leibgeber sich mit ihm treffen wird. Zentrales Thema des humoristischen Briefes ist der Ruhm, dem Leibgeber eine Absage erteilt, nachdem er, eigenem Geständnis nach, einst hoffe, etwas Bedeutendes zu werden, »wenn nicht ein großer Autor, doch wenigstens ein neunter Kurfürst« (I/2,345). Die vordergründige Absage an Unsterblichkeitshoffnungen gestaltet sich als absichtsvolle, wenn auch verklausulierte Bekräftigung des Wunsches, von der Welt auch über das Grab hinaus noch wahrgenommen zu werden25 – ein Wunsch, über den sich der Briefsteller insgeheim freilich insofern wieder lustig macht, als er sich selbst probehalber mit Seraphen vergleicht, »gegen die ich in keine Betrachtung komme, ausgenommen als ein Schaf« (I/2,348). Aus der Perspektive eines im Himmel sitzenden Geistes gebe es keinen Unterschied zwischen den Menschen, nicht zwischen Weisen und ihren Nachahmern, nicht zwischen den Irren verschiedener Ausprägung – so die ernüchternde Einsicht des die Welt verurteilenden Humoristen. Daß Leibgeber (wie Siebenkäs) auch Satiren schreibt, erfährt der Leser nur indirekt. Denn Natalie kennt offenbar Satiren von beiden Freunden, und als ihr der zunächst nur als Verfasser der »Teufels-Papiere« bekannte Siebenkäs vorgestellt wird, attestiert sie den satirischen Arbeiten Siebenkäs’ und Leibgebers eine analoge Ähnlichkeit wie deren Körpern; nur die »ernsthaften Anhänge« bei Siebenkäs finden bei Leibgeber kein Pendant (I/2,375f.).26 Beim gemeinsamen Aufenthalt mit Siebenkäs im Baireuther Raum nimmt Leibgeber einen Wirtshausaufenthalt wahr, um eine Tischrede zu halten ––––––– 25

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Die Thematisierung der Unsterblichkeitshoffnung hat bei Jean Paul stets zumindest latent eine poetologische Dimension, insofern sie sich metaphorisch auf den Wunsch nach poetischer Unsterblichkeit beziehen läßt. Zum Thema Nachleben des Dichters vgl. Helmut Pfotenhauer, Bilderfluch und Bilderflut. Zu Jean Pauls ›Hesperus‹, in: JJPG 31 (1996), S.9–21, hier: S.21 Laut Auskunft des Erzählers handelt es sich bei letzteren um die »Poetisch-philosophische[n] Kapitel in der Auswahl [aus des Teufels Papieren]« (I/2,376, Anm.1); vgl. dazu in Jean Pauls früher Satirensammlung den »Ernsthaften Anhang, in den ich gegen das Ende einen poetischen gemischt habe« (II/2,371) sowie den »Ersthaften Anhang ueber die Tugend« (II/2,242).

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(I/2,369–371): Sie handelt von den Umständen seiner Geburt und Taufe auf hoher See und den Schwierigkeiten eines Namenserwerbs. Als Redner tritt Leibgeber schließlich auch am offnen Grab des vorgeblich verstorbenen Siebenkäs auf – mit kurzen, aber prägnanten Reflexionen über die Alternative von Sterblichkeit und Unsterblichkeit (I/2,524f.).27 DOKTOR MERKEL – Garlieb Merkel (1769–1850), Publizist und Kritiker, Herausgeber der Zeitschrift »Der Freimüthige« und Verfasser der »Briefe an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Deutschland«, hat sich durch Attacken auf Goethe, Wieland und Jean Paul einen Namen gemacht. Der Erzähler will sich »vom Doktor Merkel ewig rezensieren lassen«, wenn er es mit seinen Digressionen übertreibt (I/2,307), betrachtet den Kritiker also als eine Art Purgativ. NATALIE – Die für eine Frau bemerkenswert kühne Natalie28 profiliert sich im Roman wiederholt als Briefschreiberin; in ihren Briefen spiegeln sich zugleich ihre Leiden und ihre Erhabenheit über die Widrigkeiten des Lebens. So bittet sie in der Phase ihrer Trennung von ihrem nichtswürdigen Verlobten (→) von Meyern in einem Brief an (→) Leibgeber diesen und (→) Siebenkäs um einen gemeinsamen Besuch in der Fantasie, wo sie sich ihren starken Empfindungen für Natur und Freundschaft hingeben will (I/2,398). Die Charakterstärke Natalies bestätigt sich, als sie an Leibgeber schreibt, nachdem sie vom Ort der gemeinsamen Freuden abgereist ist; tatsächlich ist der Brief eher an Siebenkäs gerichtet, der die endlich erfolgende Verlesung des Schreibens durch Leibgeber auch ungeduldig ersehnt und in den Zeilen des Abschiedsbriefs (der warme Grüße an ihn enthält) die ganze Person der Briefstellerin wiedererkennt (I/2,452f.).29 ––––––– 27

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Leibgebers Reden sind im Kontext der Reflexionen über Schriftstellerei vor allem dann mit zu berücksichtigen, wenn man wie Kurt Wölfel Leibgeber als »Aktant[en] innerhalb des umfassenden Schreibunternehmens seines Autors« sieht. »Die humoristischen Redehandlungen Leibgeber-Schoppes, durch die er als Figur sich wesentlich konstituiert, sind versetzte, d.h. an die Figur delegierte Schreibhandlungen des auktorialen Jean Paul, wobei das Verhältnis zwischen Autor und Figur sich darstellt wie das zwischen dem Teufel und dem von diesem instrumentalisierten Ko-Autor Hasus in den ›Teufelspapieren‹.« (Wölfel [Anm.24], S.312) Zu Natalie vgl. Dangel-Pelloquin [Anm.3], S.192–199. Dieses Schreiben gibt dem Erzähler Anlaß zum Nachdenken darüber, »daß immer und ewig eine Mosisdecke, ein Altargeländer, ein Gefängnisgitter, aus Körper und Erde gemacht, zwischen Seel’ und Seele gezogen ist«, wobei der Körper und der Brief dem Liebenden gleich gelten, da sie ja beide gleichermaßen Hüllen des verdeckten, entfernten Geliebten sind. »Wahrlich für die Seele ist jeder Körper, sogar der menschliche, nur die Reliquie eines unsichtbaren Geistes, und nicht etwa der Brief, den du küssest, auch die Hand, die ihn schrieb, ist wie der Mund, dessen Kuß dich mit der Nähe einer Vereinigung täuschet, nur das sichtbare [...] Zeichen, und die Täuschungen unterscheiden sich nur in ihrer Süßigkeit.« (I/2,452)

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Natalie ist Dichterin. Ein Brief, den sie nach Siebenkäs’ angeblichem Tod vermeintlich an Leibgeber, tatsächlich an Siebenkäs selbst sendet, drückt ihre Trauer über den angenommenen Tod des Freundes und ihre Einsamkeit angesichts der (erzwungenen) Zurückhaltung des angeblichen Leibgeber aus, der lange nichts von sich hat hören lassen. Diesem Brief liegt ein in englischer Sprache verfaßtes »schöne[s] Gedicht« bei, das der Erzähler in einer eigenen Übersetzung in seinen Bericht einrückt. Das als poetischer Monolog angelegte Prosagedicht heißt »Mein Neujahrswunsch an mich selber« und bezeugt einen erwartungs- und hoffnungslosen Blick der vereinsamten Dichterin in die Zukunft (I/2,550–552). Allegorische Bilder von Rosen und Dornen, von Nebeln und Tränen sowie Visionen einer Vereinigung getrennter Freunde im Jenseits prägen die Stimmungslage des Poems. Die Lektüre des Gedichtes, das den Zusammenhang zwischen der Trostlosigkeit Natalies und Siebenkäs’ vermeintlichem Tod, damit indirekt aber die Empfindungen der Dichterin für den Scheintoten (und Briefempfänger) ahnen läßt, versetzt Siebenkäs in einen Zustand der »innere[n] Sprachlosigkeit« und »Erstarrung« (I/2,552) und hält ihm die fast völlige Aussichtslosigkeit seiner Lage vor Augen, der allenfalls durch ein offenes Geständnis zu begegnen ist. ROSA EVERARD VON MEYERN – Als ein in fleischfarbene Seide gekleideter »vornehmer Herr« mit Schreibzeug tritt Rosa von Meyern in die erzählte Geschichte ein; Lenette fühlt sich von ihm, noch bevor sie ihn kennenlernt, ›aufgeschrieben‹ wie von einem »Fleischtaxator«, während er (wie er sagt) ihre Hand porträtiert (I/2,83).30 Rosa versucht, Lenette durch den Vortrag eigener Gedichte zu umgarnen, wozu der Erzähler anmerkt, bisher habe Rosa – »einer der größten Dichter in Kuhschnappel« (aber was heißt das schon?) – eher seine Gedichte bekannt gemacht als diese ihn (I/2,104). Als Poet ist der stutzerhaft-eitle und gewissenlose Schönling ein ebensolch gehirnloses Leichtgewicht wie als Person. Seine Machwerke sind unoriginell, ja plagiatorisch; mit einem ironischen Euphemismus würdigt der Erzähler sie als »echte Kinder des Gedächtnisses« (ebd.). In der Person von Meyerns verbinden sich zwei Figurentypen zur unsympathischen Mischung: der des »neumodischen Gecken« und der des vermeintlichen Genies. Daß man Rosa in Kuhschnappel als ein »Kraft-Genie« betrachtet, gibt Anlaß zu einem satirischen Hieb auf die »Genie-Seuche«: Diese gleiche der Elephantiasis, welche einer gelehrten ––––––– 30

Vgl. dazu Dangel-Pelloquin [Anm.3], S.174; Dangel-Pelloquin deutet die »Aufschreibe«Tätigkeit Rosas als satirisch verzerrte »Urszene aller künstlerischen Anstrengungen des Romans« und deckt auf, daß ein Moment der »selbstkritischen Reflexion« in dieser Episode liegt, die in komischer Zuspitzung demonstriert, wie problematisch es ist, sich von Frauen Bilder (oder Frauenbilder) zu machen (ebd.).

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Beschreibung zufolge »darin besteht, daß der Patient in Haaren, Ritzen, Farbe, Beulen der Haut und in allem völlig einem Elefanten ähnlich sieht, nur daß er seine Stärke nicht hat und in einem kalten Klima lebt« (I/2,104f.). – Rosa trägt Lenette zunächst eine »rührende Elegie« vor, in der »ein an der Liebe verfalbender Edler sich selber niedersang«, und er begleitet den Vortrag mit falschen Tränen, während er Lenettes Reaktionen beobachtet. Dem läßt er die ebenso rührselige Ballade über eine »unschuldige Kindsmörderin« folgen, die »mit einem weinenden Abschied vom geliebten ihrem Schwert entgegengeht« (I/2,105). Diese Ballade ist ein Werk, das (laut Erzähler) anders als die anderen »poetischen Kinder« des Dichters insofern »wahres poetisches Verdienst« besitzt, als sie in einem (freilich verschwiegenen Bezug) zu Biographischem steht, weshalb er »aus dem Herzen zu dem Herzen sprechen« kann (ebd.): Rosa selbst ist der Geliebte einer Kindsmörderin gewesen, die nun auf ihr Todesurteil wartet, und er schämt sich nicht, das intrikate Sujet poetisch für eine geplante neue Verführung zu nutzen. Als er der gerührten Lenette um den Hals fällt, ist diese allerdings mehr als irritiert. – Nicht nur diese Beziehung zu einer Frau liefert Rosa von Meyern poetischen Stoff. Fünf Jahre nach der Auflösung seiner Verlobung mit (→) Natalie verfaßt er einen (von der Allgemeinen deutschen Bibliothek gelobten) Roman, der das »Schisma« des ungleichen Paares darstellt. Als Verfasser eines Schlüsselromans ist er für den Erzähler auch poetisch disqualifiziert: »Ein geistiger Hämling wie Rosa kann nichts erzeugen, als was er erlebt, und seine poetischen Fötus sind nur seine Adoptiv-Kinder der Wirklichkeit« (I/2,400). Anders als die Jean Paulschen Erzähler imaginierter Biographien ist Rosa also ein ›poetischer Materialist‹; sein Typus entspricht dem Oefels in der Unsichtbaren Loge. DIE SCHMECKHERREN – In einem Vortrag an Lenettes Adresse erörtert Siebenkäs Charakter und Geschäft der Rezensenten, wie sie in schwäbischen, sächsischen und pommerschen Städten sitzen; er nennt sie (in Anspielung auf Fleisch- und Bierprüfer) »Autorenfleischtaxatores«, »Schmeckherren« oder »Geschmackherrn« (I/2,161). Weil sie selbst keine oder allenfalls schlechte Bücher schreiben, haben die Rezensenten Zeit genug, sich mit den Büchern anderer zu befassen; daß sie sich gerade mit schlechten aufgrund eigener Erfahrung gut auskennen, ist dabei hilfreich (ebd.). Ihr kritisches Geschäft bezieht sich – wie Siebenkäs erklärt – vor allem auf die Prüfung falscher Buchstaben, orthographischer Fehler, zu kurzer oder zu langer Gedankenstriche. Wo sie ›verdruckte‹ Stellen im Buch entdecken, reißen sie »mit ihren fingerlangen Nägeln [...] abscheuliche Schnittwunden und Löcher ins schöns-

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te Papier« (I/2,162), um daraufhin »einen fließpapiernen Zettel draußen im Reiche« zirkulieren zu lassen, auf dem sie den rezensierten Schriftsteller bloßstellen. Allerdings wissen sie auch zu loben, was ihnen gefällt, wiederum auf umlaufenden »Laufzetteln«, auf denen sie den geschätzten Autoren attestieren, wider Erwarten doch begabt zu sein und beim Studieren etwas gelernt zu haben (ebd.). FIRMIAN STANISLAUS SIEBENKÄS (EIGTL. (→) HOSEAS HEINRICH LEIBGEBER) – Der Protagonist Siebenkäs ist schon durch seinen Advokatenberuf ans Verfassen von Texten gewöhnt. So verfaßt er die Verteidigungsschrift für eine Kindsmörderin, von der er wenigstens die Folter abwenden will (I/2,83). Er betätigt sich zudem als freier Schriftsteller, und Jean Paul schreibt ihm ein eigenes Werk zu: Unter dem Druck finanzieller Not, aber auch aus Freude am Schreiben, verfaßt Siebenkäs die »Auswahl aus den Papieren des Teufels« – von denen eine Fußnote anmerkt, sie seien 1789 in Gera erschienen.31 (Dieselbe Satirensammlung wird dann im Komet als Werk des »Kandidaten Richter« ausgewiesen.32) Siebenkäs’ Entschluß, diese Satirensammlung zu schreiben, wird zum Anlaß, die Vorfreude eines Schriftstellers auf sein Projekt darzustellen. Der Autor verspricht sich schon vom ersten Bogen der »Teufels-Papiere« eine deutliche Verbesserung seiner Einkommensverhältnisse (I/2,82). Lenette meint, der Drucker werde ebenso gut bezahlt wie der Verfasser eines Werks. Die Arbeit an den Satiren wird zur Leidensgeschichte, weil Siebenkäs sich überarbeitet und in eine Krankheit hineinschreibt; »eine schnelle Pause des Atemzugs und Herzschlags, darauf ein ödes Entfliegen allen Lebensgeistes und dann ein stoßender Aufschuß des Blutes in der Gehirn« befallen ihn meist eben »vor seinem literarischen Spinn- und Spulrad« (I/2,304f.). In einer Anmerkung informiert der Erzähler uns darüber, daß ihn seit über 20 Jahren dieselben Leiden plagen, und daß die auf eine »Lähmung der Lungen-Nerven« hindeutenden Symptome auf einen drohenden »Lungenschlagfluß« hindeuten; er schlägt vor, die kürzlich entdeckte Krankheit »den Siebenkäsischen oder J. Pauls-Schlagfluß« zu nennen (I/2,305, Anm.). Die Darstellung der schriftstellerischen Arbeit des Helden bildet ein Kernstück des Romans; akzentuiert wird vor allem die Anfälligkeit des Schreibenden für lästige Ablenkungen, seine Abhängigkeit von den äußeren Rah––––––– 31

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Vgl. I/2,81. In einer Fußnote kommentiert und rechtfertigt der Erzähler diese Satiren, wobei er offen läßt, ob er dabei um ein Werk Siebenkäs’ oder eines des jungen J.P.F. Richter spricht: Ihre »Schein-Härte [...], die sich gegen ganze Stände und Geschlechter richtet«, sei »bloß die ästhetische Bedingung einer rein durchgeführten Satire« gewesen (I/2,189, Anm.1). Vgl. dazu den Beitrag von Maximilian Bergengruen in diesem Band. Die »Teufels-Papiere« waren unter dem Pseudonym »I.J.F. Hasus« erschienen (II/2,122), dessen Initialen auf J.P.F. Richter verweisen. Neben »Hasus« ist »Habermann« an den »Teufels-Papieren« beteiligt.

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menbedingungen der Arbeit – und damit die Rückbindung der literarischen Phantasie an Empirie und physische Befindlichkeit, des Ideenflugs an die sinnlich erfahrenen Realitäten. In Gegenwart seiner geräuschvoll im Haushalt werkelnden Ehefrau fühlt sich Siebenkäs wie im »Fegfeuer«, mit Lenette als »Bratenkoch« und seinem Schreibtisch als »Lerchenrost«. Jeder Tritt, jede Erschütterung tötet in ihm »immer ein oder zwei gute junge Gedanken«, so wie »Kanarienbrut und Seidenraupen« von Geräuschen ums Leben gebracht werden (I/2,154). Allerdings wäre es einseitig, nur von einer (störenden) Einwirkung der Außenwelt auf die literarische Arbeit zu sprechen. Siebenkäs’ Hypersensibilität hat an seinem Fegefeuer mindestens ebensogroßen Anteil wie Lenettes Verhalten. Und so werden die Arbeitsstunden des Satirenautors zu Stunden der Beobachtung und Kommentierung der eigenen Arbeitssituation, und sie liefern damit u.a. ein ins Groteske verzerrtes Beispiel für die Folgen radikalisierter Selbstreflexivität (wie einst schon die Selbstbeobachtungen des Erzählers in der Unsichtbaren Loge). Wirkt sich die Empfindlichkeit des Schriftstellers auf das Gedeihen seines Projekts einerseits negativ aus, so setzt sein subjektives Leiden in ihm andererseits auch einen Strom komischer, grotesker, satirischer Einfälle frei; wortreich kommentiert er seine Situation (I/2,156–158). Die zahlreichen zwischen konkret physischer Schreibsituation und Geschriebenem hergestellten Beziehungen erinnern an die Kurzschlüsse zwischen Physisch-Somatischem und Gedanklichem in den Jean Paulschen Satiren (an denen Siebenkäs ja auch gerade schreibt). In seinen Klagen klingt, wenn auch in komischer Überspitzung, die Vorstellung an, ein Autor schreibe für die ganze Welt und bewege diese durch seine Arbeit maßgeblich. Relativiert wird die in Firmian Siebenkäs personifizierte These von der physischen Determiniertheit des literarischen Schöpfungsprozesses vor allem dadurch, daß – auf eine für Jean Paul charakteristische ambiguisierende Weise – die eingebildeten physischen Determinanten offenbar die machtvollsten sind. Auch wirken literarisch vermittelte Ideen als entscheidende Katalysatoren der obsessiven Beschäftigung mit den physischen Bedingtheiten des Schreibens. An einem ehelichen »Nektar- und Ambrosia-Abend« bricht im Haus Siebenkäs ein so grotesker wie typischer Ehestreit aus, weil Siebenkäs’ Unduldsamkeit gegenüber Lenette aus deren Unähnlichkeit mit einer Schriftstellergattin rührt, von der er etwas gelesen hat – in der »rührende[n] Anekdote [...] wie dem jüngern Plinius die Gattin die Lampe fort gehalten, damit er bei dem Schreiben sähe« (I/2,171). Als entsprechend »herrlich« malt er es sich aus, wenn Lenette ihm während der Arbeit an den »TeufelsPapieren« das Licht schneuzt. Nur daß Lenette nach einem zunächst zufrie-

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denstellenden Anfang das Lichtputzen bald vernachlässigt – zumindest nach Meinung ihres ungeduldigen Ehemanns, der sie immer nachdrücklicher ermahnt. Die groteske, traurig-komische Episode ums Lichtputzen bespiegelt einmal mehr die spannungsvolle Beziehung zwischen literarischer Arbeit und deren konkreten, mannigfachen Kontingenzen unterliegende Rahmenbedingungen. Dabei ergibt sich ein vielschichtiges und seinerseits spannungsvolles Bild. Zum einen illustriert die Störung, welche die immer wieder unzulänglichen Lichtverhältnisse für Siebenkäs’ Arbeit bedeuten, die Abhängigkeit des poetischen Produktionsprozesses – und darüberhinaus die aller immateriellen Gegebenheiten – von materiell-physische Rahmenbedingungen. Sinnbild für diese Störung ist der immer wieder zu lange schwarze Docht, der aus der Kerzenflamme herausgeschnitten werden muß, damit das Licht hell genug erstrahlt. Zum anderen allerdings ist das blakende Licht für den Schriftsteller nur darum so anstößig, weil er unablässig an die zu erwartende Störung denkt; es ist als Phantom seiner Imaginationen störender denn als physische Gegebenheit. 33 Siebenkäs ist weniger der Gefangene seiner physischmateriellen Arbeitssituation als befangen in eigene Assoziationsketten und Zwangsvorstellungen (I/2,171). Schließlich kann aus der Distanz des Beobachters nicht einmal eindeutig von einer Einschränkung der poetischen Produktivität durch das Skandalon der zu schneuzenden Lichtquelle die Rede sein. Denn wenn Siebenkäs’ Arbeit an den »Teufels-Papieren« auch nicht so fort geht wie gewünscht, so wird jenes Ärgernis doch wider seinen Willen zu einer Quelle vielfältiger komisch-geistreicher Wortspiele, sei es daß vom »dummen Schwarz-Stummel« die Rede ist, von einem »schwarzen Brandpfahl«, einer »alten Epiktetslampe«, von »schwarzer Wäsche« etc., sei es daß die »Putzmacherin« (Lenette) an die »Lichtputze« geschickt oder lakonisch mit Kommandos wie »Schneuz’!«, »Lichte!«, »Köpfe!« oder »Kneip’ ab!« bedacht wird (I/2,172), sei es auch, daß Siebenkäs die Beleuchtungsfrage zum Anlaß nimmt, Variationen poetischer Lichtmetaphorik zu ersinnen, indem er vorgibt, im Dämmerlicht nur »dunkle Begriffe« und »Nachtgedanken« produzieren zu können (ebd.). Siebenkäs verdingt sich als Mitarbeiter an (→) Stiefels »Kuhschnappelischem Anzeiger« (I/2,84), für den er Schulschriften besprechen soll, was ihm

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Zudem läßt sich die von Siebenkäs angezettelte Auseinandersetzung um die Flamme als Metapher einer ersehnten, aber nicht gewährten Inspiration durch seine Frau als Muse deuten. Wie Dangel-Pelloquin ([Anm.3], S.284–291) darlegt, verweist der Streit der Eheleute um das Licht auf Siebenkäs’ scheiternde Versuche, Lenette als Inspirationsquelle seiner Arbeit einzusetzen.

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einige »Rezensier-Groschen« einbringt (ebd.).34 Er erhält von Stiefel diverse Rezensionsaufträge; sie gelten Schulprogrammen und einer lateinischen Übersetzung von Lessings Emilia Galotti (I/2,180). Als Rezensent steckt er, wie es heißt, den als Satiriker eingesetzten »Bienenstachel [...] in die Scheide«, um die Rezensierten nicht zu verletzen, überzeugt davon, daß unbedeutende Schriftsteller moralisch besser, bedeutende Schriftsteller schlechter sind als ihre Werke (I/2,306). Wenn er den schreibenden Dummköpfen mit Nachsicht begegnet, weil er ihre geistige Armut für unverschuldet hält, so pflichtet ihm der Erzähler ausdrücklich bei: An der Rezension eines schlechten Buchs könne sich der »moralisch in sich abgeründete[] Gelehrte[]« bewähren (I/2,307). Lobt Siebenkäs die lateinische Übersetzung der Emilia Galotti allerdings mit der Begründung, nun würde das Schauspiel endlich auch »Sprachgelehrten und Schulmännern« zugänglich, und setzt er hinzu, erstrebenswert seien lateinische Ausgaben aller deutschen »Originalwerke«, so liegt darin durchaus ein satirischer Hieb: auf Leser, die nur Lateinisches der Lektüre würdigen, und allgemeiner auf die Blindheit der Gelehrten für schöne Literatur. Die den Einfall ausspinnende Idee, es seien weitere Übersetzungen jener Werke zu erhoffen – »eine im Kurialstil für die Juristen«, eine »im planen prosaischen [Stil] für Meßkünstler« und eine »im Judendeutsch für das Judentum« (I/2,185) – nimmt sich ähnlich ironisch aus, nämlich als Rat zur Anpassung an den auf Erweiterung nicht angelegten Verständnishorizont des Publikums. Sein Talent aus humoristisch-satirischer Autor bezeugt Siebenkäs u.a. in einem Brief an (→) Rosa von Meyern, der Lenette nachstellt: Er bietet dem lästigen Rivalen in Erinnerung an einen alten Lehrer, der sich aus den Haaren seiner Schüler eine Perücke zusammengerauft hatte, eine analoge Behandlung an (I/2,114). Der ›bittere Brief‹ entsteht dabei angeblich »ohne die geringste Bitterkeit der Seele« (I/2,115), denn Siebenkäs hat sich durch seine Lektüren Butlers, Swifts und (→) Sternes so in eine satirische Laune hineingelesen, daß ihm das satirische Schreiben als solches bei der Arbeit stets wichtiger ist als dessen konkreter Anlaß oder die Wirkung seiner »Stacheln« auf das Objekt der Satire. Wenn der Erzähler berichtet, über dem »satirischen Kunstwerk« habe Siebenkäs jeweils dessen »Auslegung« vergessen und sei sogar einer etwaigen »Stachelrede auf sich selbst« mit Nachsicht begegnet (ebd.), so betont er damit, daß auch Satiren autonome, selbstzweckhafte Kunstwerke sein können und nicht nur anlaßbezogene zweckgerichtete Polemiken. Als Beleg nennt er die Auswahl aus den Papieren des Teufels, deren ––––––– 34

Allein des Verdiensts wegen rezensiert Siebenkäs, macht »wie andre Gebete« seine Rezensionen »nur in der Not«.

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»satirische Giftblasen und Giftstacheln« aus Siebenkäs’ Tintenfaß und Feder respektive aus seinem Kopf, nicht aus seinem Herzen gestammt hätten (ebd.). Ein Beispiel allerdings scheint auch diese Behauptung zu relativieren: Zu den Satiren aus der Sammlung der Teufelspapiere gehört auch die »gutgemeinte Biographie einer neuen, angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich erfunden und geheiratet«, und der Erzähler rückt den misogynen Text in eine Beziehung zu Siebenkäs’ Ehekrisen. Siebenkäs verbittet sich während der Arbeit daran (an »einer der schwersten und bittersten Satiren gegen die Weiber«) das Gespräch Lenettes mit einer Besucherin nachdrücklich (I/2,336). Eine Anmerkung des Erzählers bezieht die Satire explizit auf Lenette; diese möge »mit ihren Sonnenstichen« auf die »starke Säuere dieser Satire [...] wohl [...] zeitigend eingewirkt haben« (ebd., Anm.). Könnte man dies zunächst auch in dem Sinn verstehen, daß es um die Herleitung eines Phantasieprodukts (der Holzfrau) aus realen Erfahrungen (Lenettes Verhalten) geht, so wäre doch zu bedenken, daß ja auch Lenette ein Phantasieprodukt ist.35 Ein weiteres im Roman selbst abgedrucktes Probestück von Siebenkäs’ satirischer Produktivität ist das »Extrablättchen über das Reden der Weiber« (I/2,187), in dem die Zungenbewegungen der Frauen als ein wichtiger, dem Wind vergleichbarer Beitrag zur Bewegung der Atmosphäre beschrieben werden (ebd.). Zudem deutet der Satiriker das weibliche Sprechen als Indiz für die erfolgte Beendigung der Denktätigkeit, analog zur Warnglocke in Mühlen, die klingelt, wenn das Mahlen beendet ist (I/2,188).36 Eine weitere satirische Arbeit ist die »Satire von den fünf Ungeheuern und ihren Behältnissen«.37 Zu den von Siebenkäs verfaßten Texten gehören schließlich auch jene »kleine[n] Dekretalbriefe«, mittels welcher er nach Einstellung der mündlichen Ansprachen an Lenette seine Anweisungen gibt (I/2,335). Auf unvorhergesehene Fragen antwortet er mit maximal dreizeiligen Zetteln; Zettel mit sich täglich wiederholenden Anweisungen läßt er sich abends »durch ein stehendes Requisitorialschreiben zur Ersparung des Briefpapiers wiederge––––––– 35

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Nicht nur deshalb ist die zwischen Siebenkäs’ Frauen-Satire und Jean Pauls Satire vorgenommene Identifikation zweideutig. Jean Paul verschafft seinem frühen Text durch Zuschreibung an den Ehemann Siebenkäs ja auch eine Fundierung in biographischen Erfahrungen, welche er selbst, als er den Text schrieb, keineswegs besaß. Nur daß die Ehe des Siebenkäs ja wiederum eine literarische Ehe ist. Als Sprechmaschinen erscheinen die Frauen analog schon in der frühen Jean Paul-Satire »Unterthänigste Vorstellung unser, der sämtlichen Spieler und redenden Damen in Europa entgegen und wider die Einführung der kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen«. Bei der Satire, die Siebenkäs gerade unter der Feder hat, handelt es sich um die »Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheirathet«. Es handelt sich um einen Text, von dem sich Siebenkäs, wie er bemerkt, »anfangs nähren« wollte; der Hinweis auf diese frühe Satire schließt einen korrekten Verweis auf deren Seitenzahl in der gedruckten Ausgabe ein (I/2,157).

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ben.« (ebd.).38 So einfallsreich wie die verklausulierten und bilderreichen Kurznachrichten des Siebenkäs selbst sind die Namen, die der Erzähler für dieses Medium findet: »Kartaunenpapierchen«, »Amtsblättchen«, »Hirtenbriefchen«, »Nadelbrief« (I/2,336). Der satirische Siebenkäs besitzt ein empfindsames Pendant. »Es gibt eine lyrische Trunkenheit des Herzens, worin man keine Briefe schreiben sollte, weil nach 50 Jahren Leute darüber geraten könnten, denen das Herz und die Trunkenheit abgeht« (I/2,453): Mit dieser Mahnung leitet der Erzähler die Mitteilung eines Briefes ein, den Siebenkäs in ›lyrischer‹ Verfassung geschrieben hat: an (→) Natalie, die er nach eigener Überzeugung nicht mehr wiedersehen darf, und die er mit verhaltener Leidenschaft bittet, einen Vorschlag Leibgebers zu akzeptieren (der die Pensionskassenregelung betrifft; I/2,454). Siebenkäs führt ein Tagebuch, das er »Abendblatt« nennt, weil er es abends schreibt, und das er an Leibgeber schickt, weil er in diesen Aufzeichnungen die Materialisation seiner Seele sieht (I/2,351). Nach dem Scheitern seines Erbschaftsprozesses in zweiter Instanz wird das (im Roman zitierte) Abendblatt zum »Schwanengesang« (ebd.), fast gar zum »Martyrologium« (I/2,352). Leibgeber, dem es zugeschickt wird, erhält den Auftrag, von der »Auswahl aus des Teufels Papieren« nur drucken zu lassen, was bereits in Reinschrift vorliegt, satirische Partien des Tagebuchs selbst aber ungedruckt zu lassen (ebd.).39 (Die Satirensammlung ist demnach zum Zeitpunkt der Übersendung an Leibgeber noch nicht vollendet.) Ein etwaiger »Geschichtforscher«, der sich für den biographischen Hintergrund der Satiren interessiert, solle keine weiteren Einblicke in das traurige Leben erhalten, aus dem sie – noch dazu als »lustige Satiren« – hervorgegangen sind (I/2,352f.). (Der Roman selbst konterkariert dies.) Maximilian Bergengruens Befund zufolge markiert das »Abendblatt« den Punkt, an dem die »Satire als Schreib- und Denkweise« überwunden wird, »um zu einer authentischeren Form der Selbstmitteilung zu gelangen«.40 ––––––– 38

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Eine mit einer Schriftzeile geschmückte Krautsalatschüssel kommentiert diese Praxis; unter dem Salat sichtbar wird beim Essen der Vers: »Fried’ ernährt, Unfried’ verzehrt« (I/2,335). Der Auftrag an Leibgeber hat testamentarischen Charakter; Siebenkäs glaubt zu dieser Zeit, sein Tod sei nahe. Leibgeber schätzt die Satiren sehr, das empfindungsvoll-traurige »Abendblatt« dagegen weniger; er attestiert ihm, es enthalte »Krankheitsmaterie« (I/2,368). Vgl. dazu den Beitrag von Maximilian Bergengruen in diesem Band. Vgl. dazu den Beitrag von Bergengruen in diesem Band. Wie Bergengruen zeigt, können dann, wenn man das satirische Schreiben als einen schließlich zu überwindenden Zustand der Autorschaft betrachtet, Siebenkäs und der Romanerzähler als Repräsentanten unterschiedlicher Entwicklungsstufen gelten. Dem Erzähler zufolge macht Siebenkäs dasselbe wie er, ein Buch, »obwohl ein satirisches« (I/2,81). Das »obwohl« suggeriere einen Vorbehalt (gegenüber etwas, das nur eine vorläufige Stufe darstelle).

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Im Vorfeld seines Scheintodes trifft Siebenkäs ausführliche testamentarische Anordnungen. Seine »sämtlichen Schreibereien« soll Leibgeber bekommen, wie er mündlich verfügt (I/2,498). Sein Testament diktiert Siebenkäs dem (→) Landschreiber Börstel in die Feder und nimmt diesen Bestandteil seiner Scheintod-Inszenierung zum Anlaß eines Stroms satirischer Laune. Er droht (→) von Blaise, ihm als Gespenst zu erscheinen, wenn dieser die Erbschaft nicht aushändigt, verfügt auf höchst verklausulierte Weise, in Kuhschnappel möge man Holz verbrennen, um Holz zu sparen, die Obrigkeit möge ihre Einnahmen der Bevölkerung zuführen, und von Meyern und von Blaise mögen einander täglich prügeln (I/2,505f.). An dieser Stelle entzieht sich der Schreiber dem Auftrag durch Flucht aus dem Fenster (I/2,506), doch Zeugen und Testator unterzeichnen, was bereits geschrieben vorliegt. Die Autorschaft an der »Auswahl aus des Teufels Papieren« teilt Siebenkäs sich nicht nur mit Johann Paul Friedrich Richter, sondern auch mit seinem Doppelgänger, insofern Autorschaft an Autor-Namen geknüpft ist. Nachdem er mit Leibgeber ein zweites Mal den Namen getauscht hat und unter Leibgebers Namen in den Dienst des Grafen von Vaduz tritt, übergibt er diesem seine »Teufels-Papiere« und heimst das Lob des Grafen für die an Swift und Sterne geschulten Satiren mit einem »seligen Lächeln« ein – nicht aus Autoreneitelkeit, wie der Erzähler betont, sondern weil seiner Meinung nach das Lob Leibgeber zugute kommt, unter dessen Namen er ja auftritt (I/2,546f.). LAWRENCE STERNE – Der Schöpfer des Tristram Shandy und des Yorick ist ein Lieblingsautor (→) Siebenkäs’ und (→) Leibgebers. Von Sterne lernt der Satiriker Siebenkäs; Sternesche Figuren beschäftigen aber auch den empfindsamen Siebenkäs – so als er ein Freskobild betrachtet, das »Yorick neben der armen flötenden Maria und ihrer Ziege malte«, Ausstattungsstück eines prunkvollen Gemachs, wie denn »die Gemächer der Großen« oft »Bilderbibeln und ein Orbis pictus« sind (I/2,405). Während er sich dem empfindsamen Sterne zuwendet, liest Leibgeber gerade den Tristram (I/2,404). (→) Natalie teilt die Vorliebe beider Freunde »für gedruckte und ungedruckte Britinnen und Briten« (I/2,405). SCHULRAT STIEFEL – Der Schulrat Stiefel, Freund der Eheleute (→) Siebenkäs, wegen seiner pelzbesetzten Beinkleider auch der »Pelzstiefel« genannt und nach Siebenkäs’ Scheintod der zweite Gatte Lenettes, ist als Gelehrter ein Mann der Feder. Die der Bücherwelt fernstehende Lenette stattet er mit Ehetraktaten und Predigten aus. Er gibt den »Kuhschnappelischen Anzeiger und Götterboten und Beurteiler aller deutschen Programmen« heraus (I/2,84). Er

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selbst hat großen Respekt vor Rezensenten, mehr allerdings noch vor anonymen Rezensionen, weil er hinter diesen einen ganzen Chor von Stimmen mutmaßt, während namentlich gezeichnete Rezensionen doch nur die Urteile Einzelner sind. Als biederer (in manchem auch philiströser) Charakter »ein Lamm im gemeinen Leben«, wird er, sobald er selbst rezensiert, »auf dem Rezensier-Papier zu einem Wehrwolf«, wie andere sanfte Charaktere auch (ebd.). Stiefels pedantische Schulgelehrsamkeit paart sich mit Naivität – insbesondere mit naiver Verehrung für Siebenkäs, von dem er durch Lenette gehört hat, dieser schreibe ein dickes Buch. Der Schulrat hegt eine große Verehrung für Gelehrte, die aus seiner Sicht das Edelste sind, was Gott erschaffen hat; er malt sich den Gelehrten als umgeben von »zehnmal hunderttausend Menschen« aus, die »in allen Weltteilen gleichsam auf Schulbänken um ihn« sitzen und zu denen er spricht, um »Irrtümer« auszurotten, »Altertümer« durch Beschreibung in Erinnerung zu rufen, »die schwersten Systeme« zu widerlegen oder aber selbst zu entwerfen, und der als Schulmeister der Menschheit das Licht spendet, das selbst »durch massive Kronen«, die »dreifache Filzmütze des Papstes«, »Kapuzen und Lorbeerkränze« dringt (I/2,181). Ein einziges Dokument aus Stiefels Feder ist in den Roman eingefügt: der an (→) Leibgeber adressierten Brief, der jedoch Siebenkäs selbst erreicht, weil dieser nach seinem Scheintod als Leibgeber in Vaduz lebt. Stiefel teilt seine Verheiratung mit Lenette mit, nicht ohne damit Hinweise auf die unglücklich verlaufende erste Ehe seiner jetzigen Frau zu verbinden, die in Siebenkäs alte Wunden aufreißen. Als Herausgeber des Kuhschappelischen Gelehrtenblattes bietet Stiefel dem Adressaten an, die Stelle des vermeintlich Verstorbenen als Rezensent »in dem Götterboten deutscher Programme« zu übernehmen, sich also selbst zu ersetzen (I/2,555). DOKTOR VIKTOR (VIKTOR HORION ALIAS EYMANN) – Aus dem Hesperus kennt der Siebenkäs-Leser die Figur des »Doktor Viktor«, dessen »Brief an Kato den Älteren« (also an einen der Fürstensöhne aus dem Hesperus) »über die Verwandlung des Ichs ins Du, Er, Ihr und Sie – oder das Fest der Sanftmut am 20ten März« das erste »Fruchtstück« im Roman bildet. Datiert auf den 1. April 1795 zu Flachsenfingen, berichtet der Brief von einem unter Freunden gefeierten Fest zum Frühlingsanfang, an dem Kato leider nicht teilnehmen konnte, von einer nächtlichen Kahnfahrt, der Besteigung eines künstlichen Berges und von Gesprächen im geselligen Kreis über die Menschen und ihre Beziehungen zueinander. Diesem Freundeskreis (genannt werden u.a. Flamin und dessen Frau, ferner Figuren namens Melchior, Luna

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und Klotilde sowie ein Professor) hat auch der (im Hesperus als Bruder der Fürstensöhne identifizierte) Jean Paul angehört, den nun Viktor beschreibt und zitiert, so wie Jean Paul einst Viktor beschrieb und zitierte. Allerdings zitiert aber auch hier wiederum Jean Paul die Figur Viktor, woran eine Fußnote erinnert, die den Brief als Einschiebsel ausweist. (Im ganzen Brief, so die Annotation, gehe es im misanthropische und philanthropische Gefühle.) Kurz vor Beendigung des Briefes besucht Jean Paul den Briefsteller und verfaßt ein »Nachschreiben« (I/2,433). (3) Palingenesien – oder: Das schriftstellerische Wirken der Siebenkäs-Figuren über den Roman hinaus Die Verknüpfung verschiedener Ebenen von im Roman dargestellter Wirklichkeit gewinnen mit dem Siebenkäs an Komplexität, und sie setzt sich über die Buchgrenzen hinaus fort.41 Siebenkäs wie Leibgeber treten zudem auch jenseits des Siebenkäs-Romans wieder in Erscheinung. Fortgesetzt wird im Zusammenhang damit die wechselseitige Zuschreibung von Texten zwischen Jean Paul und seinen Figuren.42 Weiterhin als Schriftsteller wirkend, trägt Siebenkäs zum »Pestitzer Realblatt« bei. Im Titan tritt Leibgeber nach neuerlichem Namenswechsel als Humorist Schoppe auf, und auch Siebenkäs erscheint, um dem Helden Albano von seiner Beziehung zu Leibgeber erzählen.43 Er wundert sich über die Publikation von Leibgebers »Clavis« durch Jean Paul (I/3/803).44 Vor allem in den Palingenesien (»Wiedergeburten«) kommt es zur ›Auferstehung‹ Siebenkäs’ und Leibgebers. Im Sommer 1797 regte der Geraer ––––––– 41

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Wie Paul Heinemann zu Recht feststellt, erreicht hier »die Komplexität der Erzählschachtelung ihren vorläufigen Höhepunkt« (Paul Heinemann, Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001, S.329). Der Autor Jean Paul tritt – so Norbert Miller im Nachwort zu Abt.II der Werkausgabe – immer wieder aus sich heraus (II/4,35), wird sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung und Reflexion. Einerseits macht er dadurch, daß er sich so in ein beobachtendes und ein beobachtetes Ich aufspaltet und von solchen Aufspaltungen berichtet, auf sich aufmerksam, andererseits betreibt er eine konsequente Selbstenteignung als Autor. Vgl. Heinemann [Anm.41], S.325. Ferner: Wolfhart Henckmann, Einleitung, in: Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Nach d. Ausg. von Norbert Miller hrsg., textkrit. durchgeseh. und eingel. von W.H. Hamburg 1990 (=Philosophische Bibliothek 425), S.VII–IL. Daß er dem dortigen Erzähler Jean Paul vom zweimaligen Namenstausch mit Leibgeber berichtet, ist insofern bemerkenswert, als dieser demnach nicht der Siebenkäs-Erzähler sein kann, der davon doch wissen müßte. Der den Titan erzählende Jean Paul hat Leibgebers »Clavis« veröffentlicht, weil er sich seit der Arbeit am Siebenkäs für satirische Auseinandersetzungen mit dem Idealismus interessiert. Da Leibgeber viele seiner Arbeiten verbrannt hat, ist Siebenkäs erstaunt, daß der »Clavis«-Text erhalten geblieben ist (I/3/803).

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Buchhändler Wilhelm Heinsius Jean Paul zu einer Neubearbeitung der »Auswahl aus des Teufels Papieren« an, die dieser 1789 im Beckmannschen Verlagshaus ohne Erfolg publiziert hatte und an denen er nun wieder die Rechte besaß. Zwischen Ende Oktober 1797 und Dezember wurde ein erster Teil druckfertig gemacht; weitere Bearbeitungen zogen sich bis zum März 1798. (Geplant waren weitere Satiren-›Auferstehungen‹, zu denen es nicht kam.) Nachdem Jean Paul seine Satirensammlung kurz zuvor Siebenkäs zugeschrieben hat, knüpft er für eine Neuausgabe an diese Fiktion an. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß er mit seiner Figur Siebenkäs kooperieren muß. Die Neuausgabe der eigenen Satirensammlung wird entsprechend zum Anlaß, die Geschichte dieser Ausgabe als Geschichte der Freundschaft Jean Pauls mit Leibgeber und Siebenkäs zu erzählen. Die einzelnen Kapitel (»Reise-Anzeiger«) in »Jean Pauls Fata und Werke vor und in Nürnberg« (in den Palingenesien) werden eingeleitet durch einen auf den 23.3.1798 zu Leipzig datierten und von »Jean Paul Fr. Richter« gezeichneten »Offenen Brief an Leibgeber anstatt der Vorrede« (I/4/721ff.), aus dem hervorgeht, daß beide sich gut kennen und miteinander korrespondieren. Jean Paul Fr. Richter, der Leibgeber bei seinem Vornamen Heinrich nennt, beantwortet einen Brief Leibgebers, vertraut diese Antwort aber nicht einem normalen Briefumschlag an, sondern macht das eben erscheinende Buch selbst zu »dem Couvert oder der Brieftasche« seines Schreibens. Eine Fußnote erklärt warum: Der unstete Leibgeber ist so viel unterwegs, daß er keine verläßliche Adresse hat und es am wahrscheinlichsten erscheint, ihn in einem Buchladen zu erreichen. Obwohl der »Offene Brief« eigentlich ein persönlicher Brief ist, schließt er auch eine Reihe von Dingen mit ein, die der Autor »dem Publikum ohnehin in der Vorrede sagen würde«, wenn er denn eine schriebe (I/4/721). – Seine Entschuldigung gegenüber Leibgeber, daß sein Brief in Druckbuchstaben statt »mit Schreibelettern gesetzt worden«, nimmt Jean Paul zum Anlaß von Bemerkungen über die Unterschiede, Vorzüge und Einsatzmöglichkeiten der lateinischen und der deutschen Druckschrift, über unterschiedliche Lesbarkeitsgrade, die Differenzen zwischen Hand- und Druckschriften und die Schönheit einer von Schnörkeln befreiten gotischen Schrift (I/4/725). Der Briefsteller erwähnt im Brief an Leibgeber, daß er im Siebenkäs das Leben dieses gemeinsamen Freundes und die »Schöpfungsgeschichte« der Auswahl aus des Teufels Papieren der Öffentlichkeit bekannt gemacht habe (I/4/721) und daß als Folge davon die zunächst erfolglose Satirensammlung das Interesse des Publikums gefunden habe – vor allem in Hof, Kuhschnappel, Baireuth und Schraplau, also an Orten, auf die der Roman Bezug nimmt

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und wo man wegen der persönlichen Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Siebenkäs nun auch ein Interesse an dessen literarischen Kind hegt. Und J.P.F. Richter malt sich aus, wie die verstorbene Lenette nun ihre Meinung über die aus ihrer Sicht ökonomisch nutzlose Satirenschreiberei ändern würde, und wünscht rückblickend, der finanzielle Segen hätte sich noch zur Zeit der (an Armut scheiternden) Ehe der beiden eingestellt (I/4/722). – Er zitiert ferner aus einem Text Leibgebers mit satirischen Bemerkungen über die Deutschen, kommentiert diesen und erläutert seinen eigenen Gefallen am satirischen Genre. J.P.F. RICHTER ALS BEARBEITER DER »TEUFELS-PAPIERE« VON (→) SIEBENKÄS – Explizit nimmt der Titel Palingenesien auf die ›Wiedergeburt‹ von Texten Bezug: Berichtet wird von einer Kompilation, in die Siebenkässche Anteile eingegangen sind, bzw. einer Ko-Produktion mit Siebenkäs.45 (Eine ›Wiedergeburt‹ war ja auch bereits das Nacherzählen der eigenen Romane gewesen, von dem die erste Siebenkäs-Vorrede berichtet hatte.) Die Siebenkässchen »Teufels-Papiere« habe er – so J.P.F. Richter – mindestens so oft gelesen wie den Werther, habe sie »exzerpiert und auswendig gelernt, um bald einen Gedanken aus dem Bogen A, bald einen aus dem Bogen Ff anzubringen und einzupassen«, und er gesteht, ein »neues Schöpfungswerk« wäre ihm leichter geworden als dieses »Memorienwerk« (I/4/724). Er ist aber davon überzeugt, die Siebenkässchen Ideen so gut in seine eigenen Palingenesien eingeschweißt und mit Eigenem verlötet zu haben, daß selbst Siebenkäs die Nähte nicht finden wird. Und J.P.F. Richter lädt »einen guten Kritiker« dazu ein, den Rezensenten vorzuarbeiten und »in einem kurzen Traktate zwischen den Teufels-Papieren und den Palingenesien« Vergleiche anzustellen; er malt sich aus, wie dieser

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Damit greifen die Palingenesien eine Frage auf, die der Siebenkäs unbeantwortet gelassen hatte: nämlich wer, da Siebenkäs selbst doch seine Satirensammlung offenbar unvollendet an Leibgeber gesandt hatte (I/2/351f.), die Fertigstellung betrieben hat, da die Satiren doch laut Auskunft des Siebenkäs-Erzählers schon einige Jahre zuvor wirklich erschienen sind. Vgl. dazu auch den Beitrag von Maximilian Bergengruen in diesem Band. Bezogen auf den Siebenkäs-Roman allein, liegt die von Bergengruen entwickelte Hypothese nahe, Leibgeber habe selbst vor Drucklegung der Satiren eine Überarbeitung des Siebenkässchen Textes vorgenommen und dabei auch jene Texte einbezogen, die der Freund nicht »ins reine geschrieben« und zur Publikation vorgesehen hatte. – Die Palingenesien bieten demgegenüber eine andere Erklärung für die dem Druck vorangehende Vervollständigung der Teufelspapiere an: J.P.F.R. war der Bearbeiter. Bleibt der Vollständigkeit halber zu ergänzen, daß im Horizont des Siebenkäs selbst auch eine Weiterbearbeitung der Satiren durch Siebenkäs persönlich nicht ausgeschlossen ist. Dieser hat beim Grafen von Vaduz ja offenbar durchaus Textmaterial, daß er dem Grafen vorlegen kann (I/2,546), und dessen Lob könnte eine weitere Verfolgung des Satirenprojekts stimuliert haben.

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überall als vergleichender Anatom verführe, jede Abweichung und Variante treu aufsummierte, niemals rastete, bis er heraushätte warum ich jedesmal abgewichen, und dann die Welt mit der Ausbeute seines Nachgrabens und seiner Silbergruben bereicherte (ebd.).

Auch für »pädagogische Einladungskarten« und »gymnastische Programme« wären der rechte Ort, »Materien von solchem Belange« abzuhandeln. J.P.F.R. zitiert im zweiten Reise-Anzeiger eine längere Passage aus (→) Siebenkäs’ »Teufels-Papieren« zum Thema »Mens sana in corpore insano« (I/4,764f.), nicht ohne zum Vergleich mit der »ersten Edition« aufzufordern. Ein »Erster Reise-Anzeiger« in den Palingenesien, die von einer Reise des Erzählers und von seinen literarischen Arbeiten handeln, erfährt man Weiteres über die Rezeptionsgeschichte der »Teufels-Papiere« nach Erscheinen des Siebenkäs, das angefachte Interesse des Publikums an den Satiren und die Ursachen, warum J.P. selbst die Neuausgabe besorgt hat: Seit einiger Zeit als Inspektor in Vaduz tätig (und mittlerweile mit »Natalia« verheiratet; vgl. I/4,741), hatte Siebenkäs selbst keine Lust und Zeit gehabt, diese Ausgabe zu übernehmen (ebd.). J.P. suchte zusammen mit seiner Frau Hermina das Ehepaar Siebenkäs auf, um die Überarbeitung unter Hinzuziehung des Satirenverfassers vorzunehmen. Im wesentlichen sind Kürzungen vorzunehmen (I/4,742). Die Bearbeitung der »Teufels-Papiere« geht, wie J.P.F.R. zumindest behauptet, auf einer Reise am besten vonstatten (I/4,753). Der »Erste Reise-Anzeiger« enthält einen Brief an Siebenkäs, in dem der Verfasser dem Freund von seiner Liebe zu Hermine berichtet (I/4,744ff.), ferner eine »Nachschrift« über Verstimmungen und Tränen (I/4,750ff.) sowie als Beilage eine bearbeitete Satire, die Siebenkäs vor der Veröffentlichung begutachten soll (»Mein Protokoll und Nachtblatt der Schläfer«, I/4,755ff.) – in Eile abgeschickt, weil sie zusammen mit der zweiten Auflage von Siebenkäs’ »Teufels-Papieren« erscheinen soll, die von der Verlagsbuchhandlung schon für die Ostermesse angekündigt sind (I/4,755). Auf seiner weiteren Reise erreicht J.P.F.R. unter anderem ein Brief der daheimgebliebenen und über seine Reise betrübte Hermine, die von ihrer Freundin (→) Natalie spricht (I/4,799). Der »Erste Reise-Anzeiger« enthält einen Brief nebst »Nachschrift« des Erzählers Jean Paul an Siebenkäs (I/4,745); der Wanderer, der seinem Freund von einer Fußreise berichtet und daran Reflexionen und die Darstellung empfindsamer Dialoge knüpft, hat zuvor die Gegend besucht, in der sich 1644 die Pegnitzschäfer trafen (I/4,743). Auch schickt er eine eigene Satire – »Mein Protokoll und Nachtblatt der Schläfer« (I/4,755ff.) an Siebenkäs, offenbar um dessen Urteil zu hören.

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LEIBGEBER – Leibgeber hat dem »Offenen Brief« des Palingenesien-Verfassers zufolge brieflich eine Reihe satirischer Bemerkungen über die Deutschen gemacht und diese verspottet, während sein Briefpartner Jean Paul darauf drängt, die Deutschen möchten gegenüber anderen Nationen mehr Selbstbewußtsein zeigen (I/4,726). Nachdrücklicher als die brieflich geäußerte Kritik an den Deutschen ist allerdings die ausgefallen, die Leibgeber im Titan des Jean Paul vorbringt, so Jean Pauls Beobachtung (ebd.). Jean Paul antwortet in seinem »Offenen Brief« nicht nur auf diverse Bemerkungen des Freundes, sondern er verspricht, auch das von Leibgeber erstellte Druckfehlerverzeichnis zum Siebenkäs-Roman für neue Auflagen sinnvoll zu nutzen (I/4,727). Eine Passage des Leibgeberschen Briefs wird im »Offenen Brief« schließlich zitiert: Sie betrifft das politisch noch nicht zur Realität gewordene Freiheitsgefühl vieler Europäer (I/4,729). Schließlich richtet Jean Paul seinem Briefadressaten Leibgeber herzliche Grüße von (→) Siebenkäs und seiner Frau aus (I/4,730) und trägt im seinerseits Grüße an andere auf, darunter an den »Duodezimus Fixlein in Z-ch«, der aber nicht mit dem Quintus Fixlein verwechselt werden sollte. Wie bei den anderen Grußadressaten handelt es sich um einen realen Korrespondenten des realen Jean Paul: um Johann Kaspar Horner (1774–1834), der 1797 einen Brief an letzteren mit dem Namen Fixlein unterzeichnet hatte (vgl. I/4,1199). Künftige Briefe Leibgebers will Jean Paul statt nach Hof nach Leipzig geschickt bekommen, wo er mit dem Gedanken spielt, sich zu »habilitiere[n] als Bakkalaureand« (I/4,731). Von Leibgeber wird man künftig Weiteres hören; so wird er mit der Abfassung des Titan in Zusammenhang gebracht.46 Auch schließt er nach dem Absturz des Luftschiffers Gianozzo dessen Bericht ab. Den Autor Jean Paul kritisiert er mit Bemerkungen über »die Schreibart eines sehr beliebten und geschmacklosen Schriftstellers«, dessen Schwächen er zusammenstellt (I/3/697f.). SIEBENKÄS – Auf den von Jean Paul an (→) Leibgeber adressierten »Offenen Brief« folgt als zweite Einleitung in die Palingenesien die »Alte Vorrede von Siebenkäs selber« (I/4/732ff.), ein aus Kuhschnappel auf den August 1785 datieren Brief, den »Firmian Siebenkäs« als »zeitiger Armenadvokat« unterschreibt (I/4,739). Auch hier wird ein humoristischer Einfall entfaltet, der sich später in modifizierter Form bei Borges findet, wenn auch unter anderer Akzentuierung: Siebenkäs spricht als Anhänger der Lehre von der Seelenwanderung über Schriften, die er schon vor seiner Geburt – gemeint ist: vor ––––––– 46

Dazu Heinemann [Anm.41], S.330.

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seinem derzeitigen Leben – verfaßt haben will. Swift, (→) Sterne, Butler und Herder sind demnach Plagiatoren des Siebenkäs, der nach eigenen Angaben diesen in einem anderen Leben ihre Werke vorgedichtet hat (I/4,733,735). (Demnach wäre es völlig legitim, sich unter Verwendung von deren Werken zurückzuholen, was einem eigentlich selbst gehört.47 Und das kommt einer Lizenz für den sich seinerseits bei Siebenkäs bedienenden (→) J.P.F. Richter gleich.) Siebenkäs stellt im folgenden die Behauptung auf, er sei der einzige Autor auf der Welt – und der einzige Leser – und bezeichnet dies als Kantische (idealistische) Lehre: »[...] es ist überhaupt, kantisch davon zu sprechen, nicht mehr als einer möglich, und der bin ich selber.« (I/4,735) Der Teufel habe ihm mitten in den schönsten Phantasien über die Scharen künftiger Leser einen »kritischen Philosophen« zugeführt und dieser ihm »sein System wie ätzendes Sublimat« eingegeben, demzufolge es doch gar kein anderes Wesen gibt, welches als Leser in Frage käme: Er tat mir dar, der Raum und die Zeit und die Kategorien wären an und für sich oder für andere Wesen ganz und gar nichts, aber für Menschen alles, und wir erschüfen uns durch diese Denkformen die ganze Sinnenwelt (so daß wir sie sogleich darauf oder darunter empfänden). (Ebd.)

Wie in der Clavis Fichtiana läßt das idealistische System auch hier die Welt zur bloßen Vorstellung zusammenschrumpfen und den Vorstellenden zu ihrem einzigen Bewohner werden. Analogien bestehen auch zu Siebenkäs’ Phantasie vom Stammvater Adam (s.o.). In der Vorrede zu den »Teufels-Papieren« hat Siebenkäs, wie J.P.F.R. in einer Fußnote anmerkt, einen »Mitarbeiter seines Buchs« namens Wolfgang Habermann erwähnt, von dem die erste Satire »Habermanns große Tour und logischer Kursus durch die Welt« stammt; J.P.F.R. ist gerade im Begriff, diesen Text neu zu edieren, und weist Leibgeber als identisch mit Habermann aus (I/4,805f., Anm.).

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Analog dazu notiert Lichtenberg: »Jemand der einen Gedanken eines alten Schriftstellers plünderte könnte sich mit der Metempsychose entschuldigen, und sagen, beweist mir einmal, daß ich das nicht auch war der jenes« (Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies. München 1968. Erster Band: Sudelbücher, S.728, J 511).

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Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, IV. Abteilung, Bd.3.1: Briefe an Jean Paul, 1797–1799. Text mit 13 Abbildungen und Kommentar. Hrsg. von Angela Goldack und Monika Meier. Zus. 845 S. und Bd.3.2.: Briefe an Jean Paul, 1799–1800. Text mit 12 Abbildungen und Kommentar. Hrsg. von Markus Bernauer, Angela Gondeck und Petra Kabus. Zus. 905 S. Berlin: Akademie Verlag 2009. Seit 1992 wird in Berlin an der Edition der Briefe an Jean Paul gearbeitet. Mehr als 2200 Briefe von annähernd 400 Korrespondentinnen und Korrespondenten sollen in acht Bänden herausgegeben werden. Nur etwa ein Drittel dieser Briefe, deren größter Teil sich heute in der Biblioteka Jagiellonska, der Krakauer Universitätsbibliothek befindet, als Nachlaßkonvolut der Preußischen Staatsbibliothek im zweiten Weltkrieg ausgelagert, ist bislang durch Drucke bekannt. Viele von diesen waren in philologisch unzuverlässigen Ausgaben von Verwandten und Freunden erschienen. Viel also war und ist zu tun, um dieses nicht nur für das Verständnis von Jean Pauls Leben und Werk, sondern auch für die Kulturgeschichte um 1800 wichtige Textkorpus verläßlich zugänglich zu machen. Seit 1994 geschieht dies unter dem Dach der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2003 erschien der erste Band dieser neuen, der vierten Abteilung der Historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe, herausgegeben von Monika Meier, 2004 der zweite, herausgegeben von Dorothea Böck und Jörg Paulus. Ende 2006 dann, während der Arbeit an weiteren Bänden, lief die Förderung durch das Akademienprgramm aus. Es mußte ein neuer Geldgeber gefunden werden. Dies gelang schließlich, indem seit 2008 – vorerst für die Förderung der Bände 4 und 6 – die Oberfrankenstiftung gewonnen werden konnte. In der schwierigen Zwischenzeit entstanden die nun vorliegenden beiden Teilbände 3.1 und 3.2. Sie sind das Ergebnis eines Kraftaktes der nunmehrigen Hauptherausgeber Christian Begemann, Markus Bernauer und Norbert Miller sowie der Bandherausgeber Angela Goldack und Monika Meier sowie Markus Bernauer, Angela Goldack und Petra Kabus. Diese Bände, jeweils in einen Text- und einen Kommentarband aufgeteilt, umfassen den Zeitraum von November 1797 bis September 1800.

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Am 2. November 1797 trifft Jean Paul, aus Hof kommend, in seinem neuen Wohnort Leipzig ein. Er bleibt dort – mit einigen Unterbrechungen – bis Oktober 1798 und zieht dann nach Weimar um. Von Weimar aus geht es, im Mai und Juni 1800, zunächst vorübergehend, dann im Oktober 1800 für längere Zeit, nach Berlin. Es ist die Zeit, in der die Arbeit am Titan, an dessen ersten und zweiten Band, sowie an den ›Briefen und bevorstehendem Lebenslauf‹ und der Clavis Fichtiana im Mittelpunkt steht. Im November 1784 war der bettelarme Student und erfolglose Satiriker Friedrich Richter aus Leipzig geflohen, weil er seine Schulden nicht mehr begleichen konnte. Im April 1798 muß ein siebzehnjähriges Honoratiorentöchterchen, Charlotte Reim, seinen ganzen Mut zusammennehmen, um sich zu trauen, einen Brief »an den großen weltberühmten Mann« zu schreiben und ihm ihre Verehrung mitzuteilen (3.1, 77). Weltberühmt erscheint er zumindest in ihrer Perspektive. In Deutschland berühmt aber ist Jean Paul seit dem Erfolg seines Hesperus allemal. Die ihn früher verachteten oder ignorierten, buhlen nun um seine Gunst. Jean Paul ist nachgerade zu einem Mythos geworden, zu einem Gegenstand eines sowohl empfindsamen als auch intellektuellen Kults – die Briefe der Frauen, vom Backfisch bis zur preußischen Königin, der Dichter und Philosophen, von Gleim bis Herder und Jacobi, zeugen davon. Jean Paul war im Juni und Juli 1796 schon einmal zu Besuch in Weimar gewesen. Leipzig ist für ihn die Stadt des persönlichen Triumphes, Weimar aber das geistige Zentrum, in dem sich ein neuer Stern am literarischen Himmel beweisen muß. Jean Paul gewinnt Charlotte von Kalb für sich und das Ehepaar Herder, bald auch Wieland, Knebel, Böttiger. Schiller und Goethe indes sehen dem Treiben um ihn distanziert, wenngleich mit größtem Interesse zu. Nun, eineinhalb Jahre später, wird der nächste, längere Aufenthalt schon vorbereitet. Aus Weimar schreibt Caroline Herder Jean Paul nach Leipzig. Dies ist der erste Brief des Bandes (9. Nov. 1797, 3.1, 1f.). Er steckt – wenn auch ganz beiläufig und seltsam überspitzt – schon das Panorama der aktuellen Allianzen und Konfrontationen ab. Der Antichrist sei nun »im Schillerschen MusenAlmanach« erschienen; gemeint ist, wie man aus dem vorzüglichen Kommentar (408) erfährt, vor allem Goethe mit seinen ›heidnischen‹ Balladen Die Braut von Corinth und Der Gott und die Bajadere. Caroline rechnet Jean Paul wie selbstverständlich zu ihrer und ihres Mannes Fraktion, Goethe und Schiller zur Gegenpartei. Jean Paul bewahrt sich demgegenüber seine ästhetische Eigenständigkeit, die personalen Konstellationen jedoch sind vorab festgelegt. Auch ins benachbarte Jena geht Carolines Blick. Das Lyceum sei erschienen, Friedrich Schlegel habe darin einen Aufsatz über

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Lessing veröffentlicht. In diesem werde dem »Cynismus« als oberstem Prinzip gehuldigt. Gemeint ist eine neue, romantische Lesart Lessings, der zufolge das Fragmentarische, das Polemische, Parteiische und auch Zynische gegenüber dem aufgeklärten Postulat des Gerundeten und Gemäßigten hervorgehoben wird. Jean Paul geht darauf nicht ein. Aber die Auseinandersetzung mit Jena, mit Friedrich Schlegel und vor allem mit Fichte, wird in den nächsten Jahren mit bestimmend sein. Es ist höchst aufschlußreich, dies hier nun aus der Perspektive von Zeitzeugen, mehr als Meinung und Parteiung denn als Argument, gespiegelt zu sehen. Sucht man im Register nach den Namen von Goethe und Schiller, so findet man – fast – nichts: Einiges Wenige über sie, über den Wallenstein etwa, dessen Entstehung Jean Paul beigewohnt hat, oder über den Wilhelm Meister. Aber (fast) nichts von Ihnen. Nicht weil Jean Paul ihnen in dieser Zeit so nahe war, daß sich ein Schriftverkehr erübrigte – auch den räumlich Nächsten hat er, der Schriftbesessene, am liebsten geschrieben, wenn es etwas zu sagen gab. Nichts von Goethe und Schiller, mit einer Ausnahme. Datiert vom 9. März 1799 findet sich ein Billet Goethes an Jean Paul. Es ist kein Brief, keine Antwort auf Jean Pauls um Anerkennung werbende, beinahe flehentliche Briefe vom März 1794, als er ihm die Unsichtbare Loge zusandte, und vom Juni 1795, als der Hesperus folgte. Es ist ein Billet, eine verwaltungstechnische Verlautbarung: »Man wird Ihnen mit Vergnügen von der Herzogl. Bibliothek die Bücher, die Sie verlangen, abreichen. Goethe. Weimar, am 9. März 1799« (266). Dies ist das einzige Schreiben Goethes an Jean Paul überhaupt. Zugleich stellt es das kürzeste und schroffste der vorliegende Bände dar. Wiederum ist es der kluge Kommentar, der den Zusammenhang herstellt, der das demonstrativ Ausgesparte, das nicht Gesagte, beredt macht (706ff.). Goethe nämlich, so stellt sich heraus, ist alles andere als desinteressiert an Jean Paul. Der Hesperus wird nach der Zusendung 1795 sofort gelesen und an Schiller weitergereicht. Und auf Jean Pauls ersten Besuch in Weimar 1796 ist man gespannt. Aber es zeigt sich, daß die ästhetischen Unterschiede zu groß sind für eine persönliche Annäherung und daß sich der Eindringling in Weimar dem verfeindeten Herder zuwendet. Die Reduktion der schriftlichen Kommunikation auf eine dürre Verwaltungsmitteilung ist also ein Lakonismus, in dem Irritation und Enttäuschung mitschwingt. Goethes Billet ist zwar längst bekannt gewesen, aber erst hier, im Kontext der oft weitschweifigen Schwärmerei um Jean Paul, bekommt es ganz seine trockene, verschwiegene Aussagekraft. Die frühromantische Literatur und Philosophie ist für Jean Paul die noch größere Herausforderung. Denn in deren Absolutismus der Selbstreflexion

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und der Selbstbezüglichkeit erkennt er Tendenzen und Gefahren seines eigenen, sich ständig selbst zum Gegenstand machenden Schreibens wieder. Jean Paul versichert sich für diese Auseinandersetzung des Beistandes nicht nur Herders, sondern vor allem auch Friedrich Heinrich Jacobis. Deren Briefe an Jean Paul sind hier nun übersichtlich und gut kommentiert zusammengestellt. Jean Paul sucht Rückhalt bei den Kritikern der Ich-Verfallenheit modernen Künstlertums, man denke an Jacobis Allwill-Roman, und am Subjektivismus der Transzendentalphilosophie, die kein Anderes, keine Transzendenz mehr gelten lassen wolle. Jean Paul schreibt an Jacobi erstmals am 13.10.1798, Jacobi antwortet ihm enthusiastisch am 5. November desselben Jahres (3.1, 181f.). Er verspricht ihm Orientierung im Atheismus-Streit, der 1799 um Fichte in Jena entbrannt ist und diesem schließlich seine dortige Professur kostet. Fichte hatte in Niethammers Philosophischen Journal seinen Kollegen Friedrich Karl Forberg öffentlich verteidigt, der den Grund unseres Gottesglaubens aus der sittlichen Weltordnung und unserem moralischen Bedürfnis herleitete. Ein Beweis der Existenz eines persönlichen Gottes und seiner Offenbarung sei jedoch vernunftgemäß nicht möglich. Jacobi, der schon im Spinozismus-Streit der 80er Jahre gegen die Verflüchtigung Gottes in der Natur polemisiert hatte, wendet sich nun in einem offenen Brief ebenso vehement gegen dessen Verflüchtigung im Ich – allerdings nicht, um Fichtes Gegnern, dem gemeinen Haufen, wie er sagt, Recht zu geben, sondern um einer Wahrheit außerhalb unserer Vernunft und unseres Wissens ihren Platz zurückzugewinnen (vgl. den Brief vom 19.2.1799, 3.1, 243). Für Jean Paul ist das maßgebend. Seine Clavis Fichtiana, die nun entsteht, ist nichts anderes als eine satirische Überspitzung jener Fichteschen selbstbezüglichen Vernunft, die eine Entleerung von allen Gegenständen, von allem Draußen sei und deshalb in einem egologischen Wahnsinn enden müsse. Jacobi, gegenüber dem Gleichgesinnten zum vertraulichen »Du« übergehend, lobt den Verfasser im Brief vom 16. März 1800 überschwenglich. Vielleicht übersieht er dabei aber, wie sehr Jean Paul in diesen Extremen auch seinen eigenen Fall und den seiner, ihm ans Herz gewachsenen Figuren wie Schoppe, Leibgeber oder Roquairol verhandelt. Vielleicht sieht das Jacobi indes auch, vielleicht ist daraus seine Reserve gegenüber dem Titan zu erklären (»das Buch machte mir Mühe, Kummer und Sorge, es verstimmte mich gegen Dich.« 3.9.1800, 3.2, 382). Auch Herder ist skeptisch gegenüber der transzendentalphilosophischen Rückwendung der Erkenntnis auf sich selbst, auf den Modus des Erkennens. Er postuliert dem gegenüber immer wieder eine Erfahrung, die nicht durch die Erkenntnis konstituiert werde, sondern ihr vorgängig sei. In der in jener

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Zeit abgefaßten, gegen Kant als dem Ursprung allen modernen philosophischen Übels gerichteten Schrift Metakritik der Kritik der reinen Vernunft wird das ausgeführt. Jean Paul ist ihr erster Leser und Rezensent (vgl. Jean Pauls Brief vom 23.11.1798, HKA III.1, 117ff.). Es zeigt sich da, daß Jean Paul den Gegnern der neuen Philosophie nicht ohne weiteres Recht gibt, sondern durchaus auch ein tiefes, aus der Reflexion der eigenen Schaffensprozesse herrührendes Verständnis für deren Selbstbezüglichkeit des denkenden Subjekts und dessen wirklichkeitskonstituierende Potentiale hat. Er fordert Herder auf, diese neue Philosophie doch mehr aus ihr selbst heraus zu verstehen. Demnach sei Erfahrung den »Vernunfts-Synthesen« (119) nicht vorgegeben, vielmehr würden diese auf jene angewandt. Herder antwortet Jean Paul auf dessen ausführlichen Brief, wie wir jetzt im Kontext der Diskussionen dieser Monate sehen können, nur knapp und eher unwirsch (23. oder 24. November 1798, 3.1, 201). Es bleibt dabei: Es handle sich, schreibt er fast störrisch, um ein ›eckles Spiel‹ der Erkenntnis mit sich selbst, und man müsse »dem Onanismus der rein-unreinen Vernunft wehren«. Aufschlußreich auch die Briefe von den Freunden der Zeit. Während die Briefe von berühmten Autoren wie Herder oder Jacobi bereits in repräsentativen und philologisch anspruchsvollen Ausgaben vorlagen (Herder, Suphan, 1877ff. oder Jacobi: Gesamtausgabe der BAdW, 1981ff.), war hier bei der Textkonstitution, ähnlich wie bei den Briefen der Freundinnen, noch Pionierarbeit zu leisten. Zugrundegelegt werden, wie schon in den vorausgegangenen Bänden dieser Abteilung (vgl. IV.1, 314ff.), die Handschriften, die sorgfältig in der Originalorthographie wiedergegeben werden, bei Abkürzungen oder nötigen Zwischenbemerkungen durch kursivierte Ergänzungen der Herausgeber ebenso übersichtlich wie dezent angereichert. So bei den Briefen von Christian Otto, dem langjährigen Freund, dem häufig ersten Leser und Rezensenten (vgl. 3.1, 415f.), den Briefen von Paul Emile Thieriot, dem Altphilologen und Violinvirtuosen (vgl. ebd., 427f.), oder denen von Emanuel, später Osmund, dem Bayreuther Juden und Kaufmann (vgl. ebd., 445f.). Letzterer war für Fragen der jüdischen Religion ebenso zuständig, wie, zunehmend, für die Beschaffung von braunem Bier. Die ersten Spuren dieses Freundschaftsdienstes finden sich in diesen Jahren; die Briefe von Otto und Emanuel zeugen davon (Otto, 1.12.1799: »von Baireuth bis Hof kostet das Faß 20 g., u was es bis Weimar kostet, wirst Du erfahren haben. Das Bier hat Emanuel bezahlt u ich will bei ihm anfragen, was er ausgelegt hat. Das leere Faß müstest Du eigentlich zurükschikken; verkaufe es aber lieber dort entsezlich theuer«, 3.2, 100f.).

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Aus Thieriots Briefen kann man ersehen, wie im Freundeskreis mitunter Jean Pauls witzig-digressive Schreibweise nachgeahmt wurde, Jean Paul sich also über sein Werk hinaus – ob gewollt oder ungewollt – eine Art Schriftkosmos schuf. Ähnliches gilt übrigens für viele der empfindsamen Passagen in den Briefen der Freundinnen. Thieriot kann etwa in den Briefen vom April 1798 (3.1, 80ff.) vor lauter Anhängen und Ausschweifungen über das eigene Schreiben kaum mehr zu einem Ende kommen. »Immer fahren mir verdammte Parenthesen und Antithesen dazwischen« (88), heißt es in diesem Brief als Work in progress. Er nimmt sich in einer Abschweifung vor, weniger Abschweifungen zu machen, verfällt aber wieder in den alten Fehler, fügt Jus de tablette an wie im Quintus Fixlein (89) und frönt unausgesetzt der »Lieblingsschreibart« seines Freundes. Christian Ottos Briefe an Jean Paul werden seit dessen Umzug nach Leipzig, kühler, gelegentlich sogar vorwurfsvoll. Die Vertrautheit der HesperusZeit ist vorbei. Otto fürchtet, vom Freund vernachlässigt zu werden, fürchtet, daß dieser vom Ruhm »angegriffen« werde und daß »Rang und Stand« seines neuen Umgangs ihn blendeten (15.–23.11.1797, 3.1, 7f.). Die Kritik an den ihm nach wie vor zur ersten Durchsicht zugesandten Schriften Jean Pauls, im Frühjahr 1799 beispielsweise den ersten Band des Titan, wird herber. Otto bemängelt dessen Manier (21.4.1799, 3.1, 304f., 2.7.1799, 3.2, 4f.), dieses ständige sich selbstreflexiv in den Vordergrund Drängens des Autors. Das ist damals bereits der gängigste Vorwurf gegenüber Jean Pauls Stil. Als Gegenpol zum eher exzentrischen Thieriot kommt Otto hier mehr die Rolle des Durchschnittslesers, des Vertreters des Common sense zu. Jean Paul, der sonst meist auf Ottos Einwände eingegangen war, reagiert im folgenden eher unwillig (vgl. HKA III.3, 209f.). Die Verlobung Ottos mit der einst von Jean Paul verehrten Amöne Herold spielt bei dieser – vorübergehenden – Eintrübung des Verhältnisses ebenfalls eine Rolle. À la longue jedoch bleibt Otto Jean Pauls Vertrauter, hier ablesbar etwa an den Ratschlägen in Frauensachen oder denen des Juristen Otto, sich von den Verlegern, Matzdorf zu Beispiel, nicht hereinlegen zu lassen. Jean Paul hatte nämlich zunehmend Erfolg, was das Bogenhonorar anlangte – für den Titan, sein finanziell erfolgreichstes Buch, erhielt er von Matzdorf schließlich fünf Louis d’Or pro Bogen1 (ebensoviel wie Goethe für den Wilhelm Meister) – aber er vergaß, wie schon beim Hesperus, sich um die Auflagenhöhe zu kümmern, so daß es dem Verleger freistand, zusätzliche Exemplare ohne zusätzliche Vergütung zu drucken. ––––––– 1

Vgl. Ludwig Fertig, »Ein Kaufladen voll Manuskripte«. Jean Paul und seine Verleger, Frankfurt a.M. 1989, S.288ff.

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Ein Herzstück der vorliegenden Ausgabe sind aber vor allem die Briefe der Freundinnen. »Weiber die Menge« habe er hier, so schreibt Jean Paul renommistisch aus Berlin an Otto. (29.6.1800, HKA III.3, 345) Das hätte er mit demselben Recht oder besser Unrecht auch von den vorausgegangenen Jahren sagen können. Denn Jean Paul liebt es seit seiner Schwarzenbacher und Hofer Zeit Anfang der 90er Jahre, erotische Akademien (1790, vgl. HKA II.7, 21) und Simultan- und Tutti-Lieben (Hesperus, 11. Hundsposttag) zu inszenieren. In den Jahren 1797 bis 1800 erreicht das seinen Höhepunkt, um dann mit der Heirat von Karoline Mayer abrupt zu enden. Das sind keine Liebschaften mit irgendwelchen Verbindlichkeiten. Sexualität spielt dabei keine Rolle. Es geht für Jean Paul vielmehr um die Möglichkeit des Austausches schwärmerischer Briefe und gelegentlich, wie im Falle von Charlotte von Kalb, der Linda des Titan, auch um die Gewinnung von Versatzstücken für Romanfiguren. Schrift und Schriftverkehr ist die Devise. Die Frauen werden von Jean Paul dabei nicht gefragt, ja zurechtgewiesen, wenn sie aufbegehren. Fast alle gehen aus diesen Spielen, deren Regeln nur der Autor kennt, mit Verwundungen hervor. Hier, in diesen Briefen an Jean Paul, kommen die weiblichen Hoffnungen und die Enttäuschungen zur Sprache: Der Diskurs der Frauen, darunter einige der gebildetsten, auch der vornehmsten ihrer Zeit, als Reflex der empfindsamen Ästhetik eines Schriftstellers? Nicht nur. Denn es gibt bei diesen Frauen auch die Sprache der Ernüchterung, der Desillusion, des Einspruchs. Es existieren wohl nicht viele Konvolute, die wie diese Sammlung der Briefe von Frauen an Jean Paul, welche die Extreme der weiblichen Ausdrucksmöglichkeiten in dieser Epoche so sinnfällig machen. Nicht nur deshalb, aber allein schon deshalb, wegen dieser zum Teil bisher unveröffentlichten oder nicht zuverlässig veröffentlichten Briefe, ist die vorliegende, philologisch sorgfältige Ausgabe ein Gewinn und künftig unverzichtbar. Schon 1796 umwirbt Charlotte von Kalb Jean Paul und lockt ihn nach Weimar. Sie kann ihn nicht ganz für sich gewinnen, gibt aber die Hoffnung nicht auf. Im Dezember 1797, zu Beginn von Jean Pauls Leipziger Zeit, glaubt Sie, sich Sorgen machen zu müssen: »Werden Sie heirathen?«, fragt sie ängstlich (10.12., 3.1, 25). Charlotte hat von einer neuen Rivalin erfahren, einer von mehreren inzwischen:2 Emilie von Berlepsch. Jean Paul kennt diese geschiedene, fast acht Jahre ältere Frau seit Anfang Juli. Er war ihr zunächst in Hof, dann in Franzensbad begegnet. Tatsächlich wird er ihr im Januar 1798 das Eheversprechen geben, dieses aber Anfang März wieder zurück––––––– 2

Juliane von Krüdener wäre noch zu nennen. Der Höhepunkt der Beziehung zu ihr fällt in das Jahr 1796 (vgl. IV. 2)

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nehmen. Es ist nicht die einzige Verlobung und nicht die einzige Auflösung einer solchen. Immer, wenn er mit der Erwartung von Verbindlichkeit konfrontiert wird, sieht er die Ungebundenheit seines nur für die Literatur gelebten Autorlebens gefährdet. Emilie resigniert und reist nach Schottland, der nächsten komplizierten Beziehung entgegen. Charlotte von Kalb macht sich erneute Hoffnungen, insbesondere als Jean Paul im Herbst 1798 nach Weimar zieht. Aus diesen ersten Weimarer Monaten sind zahlreiche, meist exaltierte Briefe Charlottes an ihn erhalten. »Ich fange an zu zittern und Todeskälte umfaßt mich. Ich kann nichts thun, bis ich weiß, ob Sie den Abend kommen.« (Dezember 1798, 3.1, 210) »Ach komme, ich beschwöre Dich um meine Seligkeit, komme jetzo, [...]« (211) Charlotte ist bereit, sich von ihrem Mann zu trennen, um Jean Paul heiraten zu können. Er aber sagt, wie wir aus Jean Pauls Briefen an Christian Otto wissen, nein (HKA III.3, 139f.). Eine solche Bindung passe nicht zu seinen Träumen und Plänen. Immerhin aber seien die Erfahrungen mit dieser Frau wichtig für seinen Titan gewesen. Er nennt Charlotte seine »Titanide«. Bei aller Leidenschaft ist diese jedoch nicht blind und durchschaut das ästhetisierende Spiel. »Nenne mich nicht Titanide!« fordert sie (Januar 1799, 3.1, 239). Schon lange vorher hatte sie hellsichtig an Caroline Herder geschrieben: Glauben Sie nicht, daß Jean Paul leicht etwas Leidenschaftliches oder eine Neigung mit in seine Verbindungen oder persönlich individuellen Anteil nimmt. Wir sind ihm alle nur Ideen, und als Personen gehören wir zu den gleichgültigsten Dingen.3

Reich dokumentiert sind auch die Beziehungen zum Hilburghausener Hoffräulein Caroline von Feuchtersleben, der nächsten Verlobten Jean Pauls, und der schwärmerischen Französin Josephine von Sydow (»Si J’étois reine, l’auteur d’Hespérus, serait mon premier ministre«, 15.03.1799, 3.1, 271). Caroline war von ihrer Herzogin Charlotte, einer der vier Schwestern auf dem Thron, denen der erste Band des Titan gewidmet ist – die anderen sind Friederike zu Solms, Therese von Thurn und Taxis und Königin Luise von Preußen, alle ebenfalls mit Briefen an Jean Paul in den vorliegenden Bänden vertreten – ermuntert worden, an den berühmten Autor zu schreiben. Jean Paul antwortet ihr im Dezember 1798 gerührt (III.3, 135). Im Mai 1799 besucht er sie. Eine Verbindung wird angebahnt, eine erneute Verlobung eingegangen. Die Herzogin läßt Jean Paul im August den Titel eines Legationsrates verleihen, um ihm gegenüber Carolines Verwandtschaft Ansehen zu ver––––––– 3

Vgl. Eduard Berend (Hg.), Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen, Neuausgabe Weimar 2001, S.19.

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leihen. Er muß gegenüber dieser dünkelhaften Familie seine finanziellen Verhältnisse offenlegen, um seine Fähigkeit, Carolines Lebensunterhalt zu bestreiten, unter Beweis zu stellen (vgl. den Kommentar, 3.2, 636). Als alle Hindernisse beseitigt scheinen, treffen die Verlobten sich im Mai 1800 in Ilmenau, um die Verbindung zu besiegeln. Aber Jean Paul trennt sich abrupt von Caroline. Wohl weil sie sein Bedürfnis nach Unverbindlichkeit und Tutti-Liebe nicht versteht (»Doch eine Bitte hab’ ich an meinen Richter: Guter, zeige mir keine Briefe mehr von deinen übrigen Freundinnen«) (1.4.1800, 3.2, 248). Erst im September darauf findet Caroline ihre Sprache wieder. Sie schreibt an Jean Paul einen anrührend wehmütigen Brief – ohne Vorwürfe, aber reich an Gedanken über die Geschlechterrollen in dieser ihrer Welt: „Der Mann regirt die Zügel seines Geschiks, und wenn sie reißen oder gerißen werden: so hat er Kraft und Macht sie wieder zu knüpfen. Das arme, ohnmächtige Weib, kan, darf dis nicht – Geht des Mannes Pfad durch eine Wüste: – er hat doch freie Wahl, offene Wege vor sich – unser Gattenleben ist mit Mauern umschränkt wie unsre Wege, unsre Blicke in die Welt. Nur von oben leuchtet die Sonne auf uns herab, und wir sehen nichts als: Liebe und Tod – das eine erhalten wir selten, das andere – spät. / O Guter! noch bist du glüklich – bleib es lange – [...] (14. 9. 1800, 3.2, 385) Am 9. Juni 1800 lernt Jean Paul in Berlin Karoline Mayer kennen. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, gerade weil sie ihm einfacher erscheint als all die anderen Frauen, keine Heroine, keine Titanide, auch keine Schwärmerin, kein der »Pracht- und Fackeldisteln, die man genialische Weiber nennt«, wie er an Gleim schreibt. (16. Juni, III.3, 342) Jean Paul verlobt sich mit Karoline, diesmal verbindlich, und heiratet sie am 27. Mai 1801. Die ersten Briefe Karolines lassen den Leser jedoch zweifeln, ob nicht auch sie eine dieser überspannten Schwärmerinnen ist. Erst die nächsten Jahre beweisen, daß diese Beziehung die Alltagswirklichkeit verträgt. Zunächst aber himmelt sie den Autor buchstäblich an: Denken Sie Sich die untergegangene Sonne wie ihr Schein die kleinen Wolken röthet – so färbt uns der Stral Ihres Wesens, und mir ist als stralten wir selbst. In der That Ihre Erscheinung ist ein Seegen für uns alle [...].

Die Rede ist auch davon, daß »Ihre Gegenwart eine Art von religiöser Feyer verbreitete« (Juli 1800, 3.2, 351f.). Wenden wir uns zum Ende dieser Übersicht einem zunächst eher unscheinbaren Brief zu. Er ist gleichwohl der erschütterndste dieses riesigen Konvoluts. Er stammt von Jean Pauls Freund Friedrich Schlichtegroll, dem Archäologen und Altertumsforscher, späterem Generalsekretär der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Schlichtegroll schreibt Jean Paul, dem

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Paten seines kurz vorher geborenen Söhnchens Paul Emil, am 3. und 4. März 1798. Sein Herz sei ihm aufgegangen in der Märzsonne, als ob es schon Frühling wäre. Wie gut habe Gott für uns gesorgt, daß alles so wechsle im Leben. Nicht jedem habe das Schicksal bestimmt, alle Jahreszeiten des Lebens zu genießen. Aber auch der, der früher fort müsse, könne doch die Jahreszeiten eines Jahres genießen. Dann folgt eine Unterbrechung. Der Brief wird am nächsten Tag fortgesetzt: Das faßte ich nicht, als ich Ihnen gestern dieß Briefchen schrieb, u. einstweilen noch unversiegelt auf meinem Tische liegen ließ, daß ich heute noch hinzusetzen müßte, Ihr Pathe Paul sey uns durch einen schnellen Stickfluß 23 Wochen alt, wieder genommen. Er bestätigt das alte Sprichwort, daß die schönsten u. ruhigsten Kinder dem Himmel gehören, der sie früh wieder abfordert. Die erste unruhige u. sorgenvolle Stunde oder vielmehr Minute, die er seiner zärtlichen Mutter verursachte, war auch die Letzte dieses kleinen Genius des Himmels! Es ist das erste Leiden dieser Art, das mich trifft! (3.1, 52)

Jean Pauls kleinem Patenkind Paul war es also nicht vergönnt, die Jahreszeiten auch nur eines Jahres zu genießen. Das handschriftliche Original dieses Briefes war kürzlich in einer Ausstellung des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt zu sehen. Da erkennt man, daß sich die Handschrift des Vaters vom ersten Teil des Briefes zur Nachschrift am nächsten Tag hin völlig verändert hat. Sie ist aus den Fugen geraten. Sie verrät, was der Inhalt dieser Nachschrift eher zurückhält: Der Schreiber ist außer Fassung.4 Schade, daß der opulente Faksimile-Teil, der die beiden Textbände jeweils abschließt, die Chance nicht genutzt hat, auch dies noch sinnfällig zu machen. Sonst aber gibt es an der philologischen Einrichtung und der Ausstattung nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Man kann sich als Leser und JeanPaul-Forscher nur wünschen, daß die folgenden Bände zügig erscheinen und eventuelle weitere Finanzierungsengpässe im Interesse dieser großen Sache schnell überwunden werden.

––––––– 4

Vgl. den Katalog zur Ausstellung Der Brief – Ereignis & Objekt, hrsg. von Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter (Frankfurt a.M. 2009), hier der Artikel Handschrift von Stephan Kammer und Monika Meier, S.84f.

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Sascha Michel, Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano). Tübingen: Niemeyer Verlag 2006. 274 S. Die Wirkungen des Sterneschen Shandyism auf die deutsche Literatur sind seit der wegweisenden, erstmals 1962 erschienenen Studie Peter Michelsens5 Gegenstand zahlreicher Arbeiten gewesen. Ein Grund für die anhaltende Konjunktur dieses Forschungsinteresses dürfte sein, dass sich bei Sterne und einigen seiner prominenten Nachfolger ein spezifisch modernes Kontingenzbewusstsein und eine avantgardistische Meisterschaft der erzählenden Form wechselseitig ergänzen und vorantreiben. Ein solcher enger Nexus von Zufall und Form kennzeichnet auch die drei Romane, denen sich die 2006 erschienene Studie von Sascha Michel widmet: Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon, Jean Pauls Siebenkäs und Clemens Brentanos Godwi. Die Arbeit untersucht, wie diese Romane Kontingenz zugleich verarbeiten und narrativ modellieren. Michel sieht das innovative Potential seines Unternehmens darin, dass er erstmals die im Anschluss an Derrida so genannte »semiologische Kontingenz« (S.14) der Texte untersucht. Am historischen Gegenstand und ausgehend von der philosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts schließt Michel damit an aktuellere Thesen zur Spezifik moderner Lebensverhältnisse an, wie sie in jüngerer Vergangenheit von Blumenberg, Koselleck, Derrida, Rorty, Waldenfels oder Luhmann vorgetragen worden sind. Als ›semiologische‹ Kontingenz bezeichnet Michel, zugespitzt formuliert, die mit jeder Form von Zeichengebrauch gegebene Möglichkeit oder gar den Zwang, etwas zugleich so und doch auch ganz anders zu deuten – ein Mechanismus, der jede ›hermeneutische‹ oder ›strukturalistische‹ Vorstellung von einer vorgängigen Ordnung der Zeichen zerbrechlich werden lässt. Michel zufolge ist semiologische Kontingenz bereits im frühromantischen Konzept der Einbildungskraft beschrieben worden (S.48). Abgesetzt wird dieser Kontingenzbegriff von Vorstellungen einer »ontologische[n] Kontingenz« (S.14). Diese auf Merleau-Ponty zurückgehende Prägung bezeichnet dasjenige, was jeweils jenseits der Reichweite einzelner Ordnungskonstruktionen liegt und sie auch bedroht, sie aber in ihrem Geltungsbereich letztlich nicht beeinflusst. Zur Interpretation der drei Romane, die den größten Teil des Buches ausmacht, leitet Michel im Anschluss an diese begrifflichen Bestimmungen mit einem historischen Abriss zur Konjunktur des Kontingenzbegriffs um 1800 ––––––– 5

Peter Michelsen, Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. 2., durchges. Aufl. Göttingen 1972.

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über. Geboten wird eine solide und präzis gearbeitete Überblicksdarstellung. Es finden sich einschlägige Rekonstruktionen (vor-)idealistischer Subjektphilosophie von Descartes über Kant bis zur Frühromantik eines Friedrich Schlegel und Novalis sowie ein Abriss des (anti-)teleologischen Denkens von Leibniz bis hin zu Hume und zu seinen erzählerischen und erzähltheoretischen Ausformungen bei Blanckenburg, Tieck, Sterne und Moritz. Derart ausgerüstet sieht Michel in Wielands Agathon eine Pluralisierung der Ordnungs- und Darstellungsverfahren am Werk, durch welche das Geschehen vermittelt werde: Zwei einander zuwiderlaufende oder zumindest nicht ohne weiteres miteinander vereinbare Programme – ein Erzählen nach empiristischen Grundsätzen und ein teleologisch auf ein moralisches ›Beweisziel‹ ausgerichtetes Erzählen – würden im Roman parallel verfolgt. Der konstruktive Charakter des Erzählens werde dabei selbstreflexiv durch einen – teils durch die Narration, teils durch den Paratext und teils durch Digressionen gesteuerten – Entzug des erzählerischen Ursprungs inszeniert: Dem Leser wird suggeriert, die Darstellung gehe letztlich – vermittelt durch Zeitzeugenschaft und Tagebucheinträge – aus dem Geschehen selbst hervor; zugleich aber wird diese Rückbindung systematisch in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Die ironische Brechung des Schlusses in der ersten Fassung des Romans zieht Michel zufolge schließlich die Teleologie des Erzählens überhaupt in Zweifel, ohne dass doch das moralische Ziel dieser Teleologie aufgegeben werden könne. Insofern sei »das eigentliche Thema des Romans die ontologische Kontingenz der symbolischen Ordnungen und Vokabulare, auf die der Text im Vollzug seiner Narration zurückgreift, um sich selbst zu konstituieren« (S.86). Jean Pauls Siebenkäs wird demgegenüber attestiert, »mit der entfesselten tropologischen Inszenierung semiologischer Kontingenz« (S.128) weit über eine solche Konstellation hinauszugehen – trotz des grundsätzlichen Festhaltens an einem teleologischen Modell. Im Anschluss an einschlägige Forschungsergebnisse wird diese Inszenierung von Ordnung und Kontingenz mit der enzyklopädischen Schreibweise Jean Pauls und der durch sie bedingten Überdeterminierung figurativer Begriffsverknüpfungen in Verbindung gebracht: Die verketteten Vergleiche, die Jean Pauls Texte durchziehen, vervielfachen auf kaum kontrollierbare Weise die Deutungsmöglichkeit jedes einzelnen Begriffs. Michel zeigt, dass dieser Mechanismus auch auf der Ebene der übergeordneten narrativen Strukturen greift, insofern die Narration im Siebenkäs immer schon ihre eigene Allegorese in sich trägt. Diese Allegorese, die die Stationen des Romans, also Siebenkäs’ »Ehestand, Tod und Hochzeit« in Parallele zu »›Passion, Kreuzigung und Auferstehung‹, [...] ›Tren-

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nung, Initiation und Rückkehr‹« sowie zu »›Prosa und Poesie‹« (S.142) setzt, lädt das Geschehen nämlich ihrerseits mit einander widerstrebenden Deutungsstrukturen auf und provoziert insofern auch auf dieser Ebene das ZuTage-Treten semiologischer Kontingenz. Damit ist gezeigt, dass entgegen einer weit verbreiteten Forschungsmeinung sehr wohl auch die ›Geschichte‹ der Jean Paulschen Romane eine entscheidende Funktion hat: Gerade weil sich das Geschichtenerzählen (ähnlich wie bei Wieland) seines Ursprungs im ›wirklichen‹ Geschehen beraubt – Sinnbild hierfür ist der ordnungszerstörende Namenstausch von Leibgeber und Siebenkäs –, kann es der Inszenierung semiologischer Kontingenz dienlich gemacht werden. In die Bewegung des Ursprungsentzugs wird die Figur des Autor-Erzählers ›Jean Paul‹ einbezogen, denn anstatt dem Erzählen einen Ursprung zu bieten, vervielfältigt er seine Identität. So wird schließlich auch der Raum des Paratextes, der nach der Definition Genettes dem ›Autor und seinen Verbündeten‹ vorbehalten ist, Teil des internen ästhetischen Spiels. Letztlich gibt es hier, mit Derrida gesprochen, tatsächlich keinen hors-texte, und an die Stelle jener Religiosität, die Jean Paul erklärtermaßen verficht, tritt, so Michels Schlussfolgerung, die Apotheose des literarischen Textes selbst (S.165). Gegenüber dem Siebenkäs Jean Pauls vollzieht Brentanos Godwi – wenn man Michel zu folgen bereit ist – eine weitere Stufe der Überbietung. Bilde die ›Versöhnung‹ mit der Kontingenz des Daseins und der Zeichen bei Jean Paul noch immer ein wenn auch nur ironisch verfolgtes Ziel, so gehe es im Godwi nur mehr um eine »parodistische Aneinanderreihung von Versöhnungstopoi« (S.243). Bemerkenswert ist in diesem Teil der Analyse vor allem, dass Michel im Kontingenzbewusstsein dieses ›verwilderten‹ Romans, in seiner fröhlich inszenierten Ursprungslosigkeit und in seinem Spiel mit der semiologischen Kontingenz, einen melancholischen Subtext, ja eine regressive Tendenz ausmacht: In der additiven Reihung von Parodien äußere sich ein Wiederholungszwang – ein Nicht-Ablassen-Können von dem Versuch, doch noch einen Punkt zu finden, von dem aus die Kontingenz zeichenhafter Konstruktionen gebändigt werden könne. Die »progressive Universalpoesie« (F. Schlegel), an der der Text teilzuhaben versuche, entpuppe sich insofern zugleich als eminent regressive Bewegung (S.206). Jenseits des literaturhistorischen Dreischritts, den die Arbeit vollzieht und der in einem Ausblick um kurze Beobachtungen zur Literatur um 1900 erweitert wird, verfolgt Michel in seinen Ausführungen mehr oder weniger durchgängig auch ein literaturtheoretisches Interesse, das vor allem in der Rede von der ›Ursprungslosigkeit des Erzählens‹ angezeigt wird. Es geht ihm darum, der semiologischen Kontingenz jedes Erzählens systematisch auf den

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Grund zu gehen und die Möglichkeiten einer Inszenierung von Kontingenz nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der Ebene des récit aufzuzeigen. Dabei versucht er insbesondere, den Begriff der semiologischen Kontingenz zu »operationalisieren« (S.23). Um die Mittel zur Inszenierung von Kontingenz auf der Ebene des récit zu rekonstruieren und damit die gesuchte Operationalisierung zu gewährleisten, greift Michel auf die Ergebnisse der strukturalistischen Narratologie in der Nachfolge Genettes zurück, also auf die erzähltheoretische Beschreibung von Zeit, Stimme und Modus (insbesondere Fokalisierung) des Erzählens. Wichtig sind in dieser Perspektive vor allem Fokalisierungswechsel, Pausen des Erzählens (Digressionen), Stimmenwechsel und Achronien. Auch nicht-erzählerische Mittel wie die tropische Überdeterminierung der Darstellung geraten in den Blick. Immer wieder stößt die Analyse dabei auf Momente, in denen eine kontingente Unterbrechung auf der Ebene des récit nicht mehr erzählerisch, also etwa durch die Annahme einer übergeordneten, Kontrolle ausübenden Erzählinstanz, integriert werden kann. Eben diese Stellen werden als Belege für die Ursprungslosigkeit des Erzählens verbucht. Es ergibt sich nun allerdings der Verdacht, dass an eben dieser Stelle weniger eine Applikation als vielmehr eine Erweiterung des narratologischen Instrumentariums notwendig gewesen wäre. So fällt auf, dass Michel auf der einen Seite dem Strukturalismus vorwirft, kein Konzept semiologischer Kontingenz entwickeln zu können, er auf der anderen Seite aber in erster Linie selbst auf ein strukturalistisches Instrumentarium rekurriert, wenn es darum geht, die semiologische Kontingenz des Erzählens in den Blick zu nehmen. Hier besteht Klärungsbedarf – auch wenn unbestritten ein Patentrezept zur Lösung des Problems nicht bereitliegt. Wahrscheinlich wäre es der Analyse zugute gekommen, hätte sie auch jene Mechanismen systematisch zu beschreiben versucht, die das Erzählen, auch wenn sie aus einem Raum jenseits des Erzählerischen heraus wirken, in seinem Innersten bedingen und so gewissermaßen als ›Supplement‹ des Erzählens ausgewiesen werden können. So hätte sich in systematischer Perspektive zeigen lassen, dass in den untersuchten Romanen die Kontingenzinszenierungen auf der Ebene des récit häufig die Form paratextueller Spuren annehmen. Als paratextuell ließe sich dabei all jenes bezeichnen, was die Konstitution und Differenzierung linearer Textzusammenhänge – und damit auch die Unterscheidung zwischen Para- und Haupttexten – überhaupt erst ermöglicht, also etwa das Druckbild oder das Vorliegen von Texten in unterschiedlichen Handschriften. Alle von Michel bearbeiteten Texte legen narrativ oder paratextuell Spuren von ›fiktiven‹ Differenzierungen, ohne sie selbst

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in jedem Fall auch zur Erscheinung kommen zu lassen – etwa wenn der Leser des Agathon oder des Godwi schließen kann, es mit dem Text (mindestens) zweier unterschiedlicher Quellen zu tun zu haben, die im Druck aber nicht mehr auseinandergehalten werden können. Die Beschreibung von solchen Verschaltungen der narrativen und der paratextuellen Mechanismen der Romane hätte insofern über einen strukturalistischen Ansatz hinaus geführt, als das Paratextuelle eine Schwellenlage kennzeichnet, die auf jede Textkonstitution als Parergon im Sinne Derridas an jeder Stelle Einfluss ausübt. So hätte nicht nur die begrenzte Reichweite einer prinzipiell vorgängigen Text- oder Erzählordnung, also die ontologische Kontingenz der Literatur, sondern in der Tat die semiologische Kontingenz des Erzähltextes selbst systematisch beschrieben werden können. Till Dembeck (Mainz/Riga)

Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. 331 S. Der anzuzeigende Band hat die literarische Transformation von Lavaters Projekt einer Wissenschaft der Physiognomie des Menschen zum Gegenstand. Die Bedeutung der Physiognomik für den literarischen Diskurs um 1800 ist freilich kein ganz neues Thema in der Forschung. Stephan Pabsts Dissertation öffnet aber dabei den Blick auf das besondere Zusammenspiel von Bild und Text im physiognomischen Diskurs um 1800. So soll es in der Untersuchung erklärtermaßen „um die Physiognomik zwischen Lavater und Jean Paul bzw. E.T.A. Hoffmann im Verbund von Wissenschafts-, Bild- und Literaturgeschichte gehen“ (S.18). Der Titel des Bandes nimmt Bezug auf das bekannte Zitat aus dem zweiten Korinther-Brief des Paulus (2. Kor. 4,16), in dem der innere Mensch dem äußeren, körperlichen, gegenübergestellt wird. Der innere Mensch übernimmt im Kontext der Arbeit die Funktion eines Leitmotivs. Es ist die in Lavaters Konzeption des inneren Menschen liegende Aporie, die den Verfasser interessiert: die Verknüpfung von Heilsgeschichte und Wissenschaftlichkeit. Pabst will zeigen, wie sich Lavaters umstrittenes Projekt einer physiognomischen Wissenschaft zu einem Modell für die literarische Selbstreflexion entwickelt. Lavaters Ehrgeiz war es, den inneren Menschen lesbar zu machen. Die Problematik, die sich für ihn ergab, besteht darin, dass er ein metaphysisches Moment (den inneren Menschen) durch einen empirischen Ge-

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genstand (den menschlichen Körper) nachzuweisen versuchte. Der eigentlich unsichtbare Mensch soll durch Beobachtung des physischen Körpers sichtbar werden. Die Physiognomik setzt insofern die unmögliche Möglichkeit einer „Verdopplung des Leibes“ (S.54) voraus. In Anschluss an Kants und insbesondere Hegels Kritik an Lavaters zugleich wissenschaftlich ambitioniertem wie heilsgeschichtlich orientiertem Unterfangen kommt Pabst zu dem Schluss, dass dies nur durch die Konstruktion eines imaginären Körpers möglich ist. Der innere Mensch der Physiognomik bedarf also der Fiktion, um sichtbar und lesbar zu werden. Dies ist der Schritt, den Pabst vollzieht: er markiert die Physignomik-Kritik als Ausgangspunkt und Grundstein seiner weiteren Lektüren. Insofern geht es ihm genau genommen nicht um die literarische Umwertung der Physiognomik, sondern um die literarische Transformation der Physiognomik-Kritik. Die Wendung ins Literarische hat bereits, wie Pabst im ersten Kapitel einsichtig macht, die Kritik an Lavater vollzogen: Physiognomik ist selbst schon literarisch. Ein weiterer Kritikpunkt an Lavaters Physiognomik, mit dem sich Pabst im zweiten Kapitel auseinandersetzt, ist dessen Umgang mit Bildern. Für Lavater gelten Bilder „zum einen als natürliche Zeichen und zum anderen als objektive mentale Repräsentationen eines Gegenstandes“ (S.100). In diesem Sinn werden etwa „Hogarths Bilder als wissenschaftliche Dokumente“ (S.114) verwendet. Auch hier lässt sich eine Form der Literarisierung feststellen. Pabst spricht dabei im Anschluss an Lichtenberg von einer „Literarisierung der Physiognomik am Bild“ (S.155). Physiognomik wird dann weniger als wissenschaftliche Theorie lesbar, denn als literarisches Gebilde (und – wie man hinzufügen könnte – als Lektürepraxis). Es zeigt sich insofern nicht nur eine Nähe zwischen Physiognomik und Literatur, sondern auch eine Abhängigkeit physiognomischen Wissens von literarisch inszenierten TextBild-Relationen. Bereits in den ersten beiden Kapiteln wird deutlich, dass Wissen und Literatur sowie deren Genese in einem engen Bezugsverhältnis zueinander gesehen werden. Der Begriff der Fiktion wird sowohl auf den literarischen wie auf den wissenschaftlichen Diskurs angewendet (vgl. S.70f.). Obschon also eine gewisse Nähe zu Konzepten der Wissensgeschichte und der Poetologien des Wissens6 gegeben ist, wird nicht auf die hierfür einschlägige Forschungsliteratur Bezug genommen, was bei der grundsätzlichen Ausrichtung der Arbeit aber durchaus angebracht wäre. ––––––– 6

Vgl. den Sammelband von Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999.

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Im dritten Kapitel wird schließlich die „literarische Umwertung der Physiognomik“ unter die Lupe genommen. Die Lektüre der Texte von Jean Paul und E.T.A. Hoffmann führt die beiden Kritiken der Physiognomik zusammen. Bei Jean Paul diagnostiziert Pabst ein „‚Schwanken’ zwischen Lichtenbergscher Physiognomik-Kritik und Lavaterscher Physiognomik-Emphase“ (S.168). Den Grund für diese Unentschiedenheit sieht Pabst in dem „metaphysischen Voraussetzungsapparat“ (ebd.). In seiner Lektüre der Erklärung der Holzschnitte unter den zehen Geboten des Katechismus aus dem Kampaner Tal tritt zunächst die Physiognomik-Kritik deutlich hervor, die darin besteht, dass die Bilder in Anschluss an Lichtenbergs Hogarth-Kommentare als Bilder ausgelegt werden und nicht als natürliche Zeichen wie bei Lavater. Zudem vermag Pabst aufzuzeigen, wie in Jean Pauls fiktiver Bild-Erzählung die heilsgeschichtliche Dimension von Lavaters Konzept des inneren Menschen zu einer poetologischen Produktivkraft wird. Bei E.T.A. Hoffmann nimmt sich die literarische Umwertung der Physiognomik-Kritik etwas anders aus. Pabst bezeichnet Hoffmanns Verfahren als negative Physiognomik. Insbesondere anhand von Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster gelingt es Pabst zu zeigen, wie Hoffmann das physiognomische Modell in seine eigene Poetologie des Sehens überführt. Die von Hoffmann als ‚geübte Physiognomik’ bezeichnete Praktik des Vetters erweist sich dabei als ein Text-Bild-Spiel, das als selbstreflexives Moment der Erzählung die Physiognomik als Wissenschaft abgelöst hat. Die physiognomische Beobachtungsgabe wird im Zeichen der Hoffmannschen Literarisierung zudem mehr und mehr pathologisch. In Hoffmanns negativer Physiognomie artikuliert sich immer auch eine „physiognomische Krise“ (S.275), die aber in ihrer Negativität zugleich als Quelle literarischer Produktivität angesehen werden kann. Für die literaturwissenschaftliche Forschung zur Physiognomik markiert Pabsts Arbeit alles andere als eine Krise, sondern sie zeigt vielmehr Perspektiven für eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit der Poetik der Physiognomik auf. Pabst appliziert nicht einfach die physiognomische Theorie und ihre philosophische Kritik auf die literarischen Texte, sondern weist den Eigenwert der Texte Jean Pauls und Hoffmanns im physiognomischen Diskurs auf. Erweist sich dabei der akribische Nachvollzug von Physiognomikund Bild-Kritik um 1800 als ausgesprochen fruchtbar für die Lektürearbeit, so vermisst man beim Umgang mit der Konzeption des inneren Menschen eine genauere Auseinandersetzung mit dem philosophischen und theologischen Diskurshintergrund (Platon, Philo, Corpus Hermeticum) dieser äußerst einflussreichen Metapher, was mit Blick auf den geradezu paradigmatischen

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Titel des Bandes immerhin verwundert. Dieser Einwand schmälert aber nicht das Verdienst der Arbeit, das vor allem darin besteht, die Literarizität der Physiognomik und ihre Fruchtbarkeit für den literarischen Diskurs um 1800 herausgestellt zu haben. Peter Brandes (Bochum)

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER DES JAHRBUCHS

Christian A. Bachmann, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum Prof. Dr. Matthias Bauer, Universität Flensburg, Institut für Germanistik, Auf dem Campus 1, 24943 Flensburg Prof. Dr. Maximilian Bergengruen, Université de Genève, Département de langue et de littérature allemandes, 12, Bd des Philosophes, CH 1211 Genève 4 Sonja Böni, Flüelerstrasse 62b, CH-6460 Altdorf Dr. Peter Brandes, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum Dr. Rolf-Peter Carl, Am Dom 15, 24109 Melsdorf Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. Till Dembeck, Johannes Gutenberg-Universität, Deutsches Institut, Jakob Welder Weg 18 (Philosophicum), 55099 Mainz PD Dr. Gabriele Dürbeck, Leibniz Universität Hannover, Deutsches Seminar, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover Prof. em. Dr. Ulrich Gaier, Universität Konstanz, Sektion Geisteswissenschaften, Fachbereich Literaturwissenschaft, Germanistik, Universitätsstraße 10, 78464 Konstanz Prof. Dr. Helmut Pfotenhauer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie, Habelschwerdter Allee 30, 14195 Berlin

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Anschriften

Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 150, 44780 Bochum Christian Schwaderer, Universität Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Neuere Abteilung, Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition, Am Hubland, 97074 Würzburg Prof. Dr. Ralf Simon, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, Engelhof, CH-4051 Basel Dr. Katherine Weder, Rigistrasse 31, CH-8006 Zürich

Für ihr Mitwirken an den Korrekturarbeiten bedanken sich die Herausgeberinnen und Herausgeber sowie der Redakteur des Jahrbuchs herzlich bei Sonja Böni, Sylvia Kokot, Nicolas von Passavant und Simone Sauer.