Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXIII (1973) [1 ed.] 9783428430314, 9783428030316


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Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXIII (1973) [1 ed.]
 9783428430314, 9783428030316

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JAHRBUCH DER A L B E R T U S - U N I V E R S I T Ä T ZU

KÖNIGSBERG/PR.

BEGRÜNDET VON F R I E D R I C H

HOFFMANN

UND G Ö T Z V O N SELLE

BAND XXIII

1973

D U Ν C Κ E R & H U M ΒLΟΤ

·

BERLIN

J A H R B U C H

DER

ALBERTUS-UNIVERSITÄT ZU

KÖNIGSBERG/PR.

1973 Bd. X X I I I

Herausgeber: DER G Ö T T I N G E R

ARBEITSKREIS

Umschlag: W i l l i

Alle Rechte

Greiner,

Würzburg

vorbehalten

© 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41 Drude: Deutsche Zentraldruckerei A G , 1 Berlin 61 Der

Göttinger

Arbeitskreis:

Veröffentlichung

ISBN 3 428 030311

N r . 412

Johannes Schiller PHILOSOPHISCHE U N D THEOLOGISCHE ARGUMENTE Z U UNSTERBLICHKEIT U N D AUFERSTEHUNG, DARGESTELLT I M Z U S A M M E N H A N G M I T DEM WERK KANTS* Margarete Schwarz gewidmet I n der Lebenszeit Kants klingt eine Epoche aus, in welcher geistiges Leben wesentlich religiöses Leben war und die Theologie eine maßgebliche Stellung einnahm. Eine andere Epoche hat bereits begonnen, in welcher Philosophie neben Theologie selbständigen Rang gewinnt, um sie schließlich im neunzehnten Jahrhundert an Bedeutung für das Geistesleben weit zu überragen. I n dieser Übergangszeit nimmt die Philosophie zunächst Begriffe der Theologie auf und verarbeitet sie in ihrer eigenen Weise. Dieser Vorgang tritt am Werke Kants besonders deutlich zutage. Darauf deutet schon der Titel der bekannten Schrift Kants: „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793). Eine weitere Schrift mit dem Titel „Das Ende aller Dinge" erscheint 1794, im gleichen Jahr, in welchem Kants öffentliches Lehramt endete. Sie behandelt die Begriffe Ewigkeit, Aufhören aller Zeit, Jüngstes Gericht, Seligkeit und Verdammnis — also ausgesprochen religiöse Begriffe. Die entscheidende Einsdimelzung ursprünglich theologischer Begriffe in den philosophischen Gedankengang liegt jedodi vor in der „Kritik der praktischen Vernunft" (1787). Hier erfahren Tugend, Unsterblichkeit und Gott ihre Umsetzung in Postulate der praktischen Vernunft. Erinnern wir uns kurz an den Gedankengang, der dazu führt, daß in der Kritik der praktischen Vernunft die „Religion reichlich wiedergewinnt, was sie im theoretischen Gebiet in der Kritik der reinen Vernunft eingebüßt hat", wie man zu sagen pflegt: Den Trieben und Neigungen des empirischen Willens, die den Charakter der Unfreiheit an sich tragen, stellt Kant gegen* Bohnenrede, gehalten im Kreise der Gesellschaft der Freunde Kants aus Anlaß des 248. Geburtstages Kants am 22. 4. 1972.

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Johannes Schiller über den autonomen Willen der Vernunft, dem die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung und Selbstbestimmung eignet. Einzige Triebfeder dieses sittlichen Willens ist das moralisdie Gesetz selbst; einziger Beweggrund die Achtung vor diesem Gesetz; nicht die Spur eines Gedankens von Lohn oder Strafe darf hier mitsprechen. Spräche ein Gefühl der Lust oder Unlust mit, so käme Legalität, aber nicht Moralität zustande. Die praktische Vernunft sucht das höchste Gut und findet es in der Tugend. Tugend und Glückseligkeit entsprechen sich nicht notwendig und hängen überhaupt nicht als Ursache und Wirkung zusammen. Nicht in einer sinnlichen, sondern in einer intelligiblen Welt sind Tugend und Glückseligkeit adäquat. Tugend kann sich ihrer Vollendung, der Heiligkeit, nur in einem unendlichen Prozeß annähern. Dieser ist nur in einer unendlichen Fortdauer der persönlichen Existenz möglich. Damit ist Unsterblichkeit postuliert. Wie vollendete Tugend, so gehört auch zum höchsten Gut vollendete Glückseligkeit. Das postuliert das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der ganzen Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges enthält. Ein Wesen, das die gemeinsame Ursache der sinnlichen wie der sittlichen Welt ist, das unsere Gesinnung kennt und eine Intelligenz ist, die uns die Glückseligkeit zuteilt, ein solches Wesen ist Gott. Damit ist, wenn man so will, Religion gerettet kraft der Vernunft als praktischer Vernunft, die dodi als reine Vernunft den religiösen Bereich für prinzipiell unerreichbar erklären mußte. Die so gerettete Religion trägt, näher betrachtet, die Konturen des christlichen Glaubens. Genau besehen, trägt sie sogar die Konturen seiner lutherischen Ausprägung. Das tritt zutage in der schroffen Ablehnung jeder Verdienstlichkeit frommer Werke, jedes Gedankens an Lohn oder Strafe. Dabei ist bemerkenswert, daß sich in Kants Bücherverzeichnis von Luthers Werken nur der Kleine Katechismus findet. Übersehen läßt sich freilich nicht, daß hier alles mit dem Begriff des Menschen als eines freien, sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Menschen steht und fällt. Dieser freie Mensch bedarf „weder der Idee eines anderen Wesens über sich, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten"1). Der religiösen Vorstellungsweise wird also kein Einfluß 1) Immanuel Kants Werke, herausg. v. Ernst Cassirer, Bruno Cassirer, Bln. 1918, Bd. X I , S. 409.

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auf die eigentliche Begründung der Moralität eingeräumt. Wäre dieses der Fall, so wäre es nicht nur um den reinen Grundgedanken der Ethik, sondern auch um die Religion selbst geschehen — der „Dienst Gottes" würde in „Afterdienst" verkehrt. Gut kann unser Handeln nur heißen, wenn es sich rein auf das Prinzip der Autonomie gründet. Die Ableitung des sittlichen Gesetzes duldet ebensowenig eine sinnliche Stütze wie eine transzendente Ergänzung. Der Übergang der reinen Vernunftreligion in die reine Ethik ist gefordert, freilich in der Welt der sinnlichen Erscheinungen niemals vollzogen. Der Vereinigungspunkt von Vernunftreligion und Ethik liegt im Unendlichen. Er bezeichnet genau die Richtung, von der die religiöse Entwicklung nicht abweichen darf, will sie nicht ihr Ziel verfehlen. Sie wird zwar in ihrem empirischen Dasein notwendig zur Kirche, die, um mitteilbar zu sein, sinnlicher Zeichen bedarf und, um auf das Gemeinschaftsleben einzuwirken, der Ordnungen und Bindungen dieses Gemeinschaftslebens selbst. Aber sie muß den Maßstab der ethischen Vernunftreligion für sich anerkennen und damit freilich ihre eigene Auflösung und Uberwindung vorbereiten. I n seiner Schrift „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" werden die Glaubenslehren der christlichen Religion nach Art eines Beispiels abgehandelt. Kant läßt sie zwar in ihrem Bestand unangetastet, gibt ihnen jedoch eine Deutung, die seiner Denkweise entspricht. Die Vernunft — die sittliche Vernunft, wohlgemerkt — ist die oberste Autorität in Auslegung der Heiligen Schrift. Religiöse Begriffe wandeln ihre Bedeutung. „Erlösung" bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als eine Umschreibung des Freiheitsproblems. „So bleibt auch für die kantische Religionslehre die Freiheit zugleich das einzige Mysterium wie das einzige Erklärungsprinzip; sie erleuchtet den eigentlichen Sinn und das Ziel der Glaubenslehren, aber von ihr selbst gibt es — aus Gründen, die die kritische Ethik dargelegt hat — keine weitere theoretische »Erklärung' mehr" 2 ). Wir erhalten in „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" also weniger Aufschluß über Religion, als vielmehr über das Menschenbild Kants. Soweit Begriffe der Religion im Werke Kants Bedeutung behalten — Tugend, Unsterblichkeit, Gott — , sind sie in gleichem Maße zwar dem kritischen Einwand entzogen, aber auch abgeblaßt. Der Schutz, den sie nun als Postulate genießen, steht und fällt mit dem Menschenbild Kants. Er 2) Ernst Cassirer, a. a. Ο., S. 417.

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Johannes Schiller fällt dahin, sobald sich Biologie und Psychologie daran machen werden, den Menschen in ein Bündel von Trieben und Reflexen aufzulösen, so daß kein „eingepflanztes sittliches Gesetz" mehr Bürgschaft leistet, sei es für die Freiheit des Menschen, sei es für die Religion. Zwiespältig steht es auch mit der Schrift Kants: „Das Ende aller Dinge" 8 ). Zwar setzt dort Kant mit Ausführungen über Ewigkeit und Jüngsten Tag ein, doch geschieht das, wie mir scheint, mit einem leisen Beiklang von Kennerhaftigkeit, fast Ironie. Nicht übersehen läßt sich, daß der Schlußteil der nur wenige Seiten umfassenden Schrift das Thema in völlig andere Richtung wendet: Hier wird die Schrift zu einer kaum noch verhüllten Mahnung an die Adresse Friedrich Wilhelms des Zweiten, gerichtet gegen die unter ihm wirksame restaurative (Wöllnersche) Kirchenpolitik. D a wird ausgeführt, daß dem Christentum eine eigentümliche Liebenswürdigkeit eigne; werde irgendeine Art von Autorität — und wäre es die göttliche! — hinzugefügt, so sei doch „die Liebenswürdigkeit... verschwunden, denn es ist ein Widerspruch, jemanden zu gebieten, daß er etwas nicht allein tun, sondern es auch gern tun solle" 4 ). Auch hier trifft übrigens Kant in bemerkenswerter Weise einen Hauptpunkt der Lehre Luthers, nämlich die Unterscheidung zwischen „Halten" und „Erfüllen" des Gesetzes, wie sie am klarsten in dessen „Vorrede zum Römerbrief" ausgeführt wird: Jedes „Halten" des Gesetzes — so nützlich es übrigens auch für meinen Mitmenschen sein mag — verfehlt das, was Gottes Wille mit uns ist. Er will an uns „das göttliche Werk" tun, das „uns wandelt und neugebiert mit allen Kräften . . . , so daß wir ohne Furcht vor Strafe oder Liebe zum Lohn Gott lieben und dem Nächsten dienen", und das „freiwillig und fröhlichen Herzens." (Es mag darauf hingewiesen werden, daß Luthers Stichwort „Nächstendienst" sehr viel nüchterner ist als das gebräuchlichere Stichwort „Nächstenliebe", was das Urteil über vorhandene Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Kräfte des Menschen angeht.) Aber es darf bei diesem Anklang Kants an Luther nicht übersehen werden, daß für Kant alles Gewicht auf der „Reinheit" des Wirkens des freien Menschen liegt, und nicht auf der „Durchschlagskraft" des Wirkens jenes Einen, der uns unversehens in Jesus Christus begegnet. 3) Kants gesammelte Schriften, herausg. v. d. kgl. preuss. Akademie der Wissenschaften, Georg Reimer, Bln. 1912, V I I I , S. 325 ff. 4) Kants gesammelte Sdiriften, a. a. Ο. V I I I , S. 339.

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Folgerichtig klingt auch die Schrift Kants vom „Ende aller Dinge" nicht als Bekenntnis, sondern als Reflexion aus: Sollte es mit dem Christentum einmal dahin kommen, daß es aufhörte, liebenswürdig zu s e i n . . . „wenn es, statt seines sanften Geistes, mit gebieterischer Autorität bewaffnet würde, so m ü ß t e . . . eine Abneigung und Widersetzlichkeit gegen dasselbe die herrschende Denkart der Menschen w e r d e n . . . alsdann aber, weil das Christentum allgemeine Weltreligion zu sein zwar bestimmt, aber es zu werden von dem Schicksal nicht begünstigt sein würde, das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht eintreten" 5 ). Hier ist endgültig der Begriff vom „Ende aller Dinge" zur Ironie gewendet. Die Reaktion der preussisdien Regierung war ein vorwurfsvolles Handschreiben vom Oktober 1794, auf welches Kant mit würdiger Zurückhaltung antwortet, daß er sich „fernerhin aller öffentlichen Vorträge, die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesung als in Schriften gänzlich enthalten" werde 6 ). I m gleichen Jahre endet Kants öffentliche Lehrtätigkeit. Das siebzigste Lebensjahr ist vollendet; im achtzigsten — 1804 — stirbt er zu Königsberg, von wo aus sein Geist die Welt durchdrang und bewegte. Seine Sorge um das — in seinen Augen — „(verkehrte) Ende aller Dinge" — nämlich der christlichen Religion — war sicher aufrichtig. Inzwischen wurden noch ganz andere Gefährdungen der christlichen Kirche sichtbar, als sie sich damals in der preussischen Restauration abzeichneten. Jedoch scheint „Untergang" eine ständige Zustandsform der christlichen Kirche zu sein. Kant schien der christlichen Religion Schutz zu bieten, indem er ihr einen gewissen Wahrheitsgehalt zusprach. Erstaunlicherweise wird, nur ein halbes Jahrhundert später, gerade ein solcher Schutz nachdrücklich zurückgewiesen. 1846 schreibt ein gewisser „Johannes Climacus" in der „abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken" 7 ) : „Viel Sonderbares, viel Beklagenswertes, viel Empörendes ist über das Christentum gesagt worden; aber das Dümmste, was man jemals gesagt hat, ist, es sei bis zu einem gewissen Grade wahr. Viel Sonderbares, viel Beklagenswertes, viel Empörendes ist über die Begeisterung gesagt worden, aber das Dümmste, was man von ihr gesagt hat, ist, sie sei bis zu einem gewissen Grade wahr. Viel Sonderbares, viel Beklagenswertes, viel Empö5) Kants gesammelte Schriften, a. a. Ο. V I I I , S. 339. β) E. Cassirer, a. a. Ο. X I , S. 421. 7) Zitiert nach Diem, Kierkegaard in Auswahl, Fischer-Taschenb. 109, S. 105 f.

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Johannes Schiller rendes ist von der Liebe gesagt worden, aber das Dümmste, was man von ihr gesagt hat, ist, sie gelte bis zu einem gewissen Grade. U n d wenn nun ein Mensch sich durch solches Reden von Begeisterung und Liebe verraten und seine Dummheit offenbart hat, welche doch nicht in der Richtung mangelnden Verstandes zu suchen ist, da sie ihren Grund gerade darin hat, daß der Verstand zu groß wird, — im selben Sinne, wie eine Leberkrankheit ihren Grund darin hat, daß die Leber zu groß wird, . . . — dann bleibt doch ein Phänomen übrig, das ist das Christentum. H a t der begeisterte Blick es nicht vermocht, ihm zum Bruch mit dem Verstand zu verhelfen, hat die Liebe nicht vermocht, ihn aus der Knechtschaft zu reißen, dann laß ihn das Christentum betrachten. Mag er daran ein Ärgernis nehmen, er ist doch ein Mensch. Mag er daran verzweifeln, jemals selbst ein Christ zu werden, er ist dem vielleicht näher, als er glaubt. Mag er sich bis zu seinem letzten Blutstropfen bemühen, das Christentum ausrotten zu wollen, er ist doch ein Mensch, a b e r ist er imstande, auch hier zu sagen: Es ist bis zu einem gewissen Grade wahr! — dann ist er dumm. Vielleicht denkt jemand, es schauert mich, dies zu sagen; ich muß auf eine schreckliche Züchtigung durch den Spekulanten gefaßt sein. Keineswegs: Der Spekulant wird wohl hier wieder konsequent sein und sagen: ,Es ist bis zu einem gewissen Grade wahr, was der Mensch sagt, nur darf er nicht dabei stehen bleiben/ Es wäre ja auch sonderbar, wenn es meiner Wenigkeit gelingen würde, was noch nicht einmal dem Christentum gelang, den Spekulanten in Leidenschaft zu bringen." Die Ausführungen Kierkegaards leiten weiter zu dem Satz, es könne ja sein, daß das Christentum d i e Wahrheit sei. U n d d e r Wahrheit kann man sich nicht „spekulierend" nähern; von ihr kann man nur unversehens betroffen werden, wenn man nicht „über dem vielen Spekulieren vergessen hat, was Existieren heißt". Kierkegaard geht es darum, bei dieser Wahrheit stehenzubleiben — eine Haltung, die den „Spekulanten" natürlich aufs Äußerste befremden muß. Hätte Kierkegaard den Spekulanten im Jargon unserer Zeit reden lassen, so hätte jener gesagt: „Er muß progredieren, er muß progressiv sein!" W i r kennen das „Prinzip Progressivität", dem jedes „Stehenbleiben" verdächtig ist. Dabei wird übersehen, daß „Stehenbleiben" ein Äußerstes an Wagemut und Kühnheit darstellen kann, wenn es nämlich Standhaftigkeit bedeutet. Kant meinte, den Zeugnissen der christlichen Kirche ihren tiefsten Sinn abzugewinnen, wenn er sie als Hinführung zur reinen Sittlichkeit verstand.

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Vor der sittlichen Vernunft als oberste Autorität in Auslegung der Heiligen Schrift fanden ihre Aussagen nur beschränkt Gehör. Es sei nun erlaubt, ihre Aussagen insbesondere zur Frage der Auferstehung einmal für sich selbst sprechen zu lassen. Das soll — und muß sogar notwendig — in „einfältiger Form" geschehen. Auftrag eines Predigers der christlichen Kirche ist es ja ausdrücklich, nicht Erfinder neuer Gedanken, sondern Ansager eines Anrufes zu sein, der ihm anvertraut ist. Ich beschränke mich auf drei Stellen, die mir typisch erscheinen für das, was die Kirche von den „letzten Dingen" auszurichten hat. Es handelt sich um Lukas 20, also einen Evangelientext, um 1. Korinther 15 und um den Schluß des Glaubensbekenntnisses. Lukas 20, 27—40 „Da traten zu ihm etliche der Sadduzäer, welche dafür halten, es gebe kein Auferstehen, und fragten ihn und sprachen: Meister, Mose hat uns geschrieben (5. Mose 25, 5.6): ,Wenn jemandes Bruder stirbt, der eine Frau hat, und er stirbt kinderlos, so soll sein Bruder die Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken'. N u n waren sieben Brüder. Der erste nahm eine Frau und starb kinderlos. Und der zweite nahm sie, und der dritte, desgleichen alle sieben und hinterließen keine Kinder und starben. Zuletzt starb auch die Frau. N u n in der Auferstehung, wessen Frau wird sie sein unter ihnen? Denn alle sieben haben sie zur Frau gehabt. Und Jesus sprach zu ihnen: Die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien; welche aber gewürdigt werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder freien noch sich freien lassen. Denn sie können auch hinfort nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, weil sie Kinder sind der Auferstehung. Daß aber die Toten auferstehen, darauf hat auch Mose gedeutet bei dem Dornbusch, da er den Herrn heißt Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs (2. Mose 3,6). Gott aber ist nicht der Toten, sondern der Lebendigen Gott, denn sie leben ihm alle. D a antworteten etliche der Schriftgelehrten und sprachen: Meister, du hast recht gesagt. U n d sie wagten ihn hinfort nicht mehr zu fragen." I m Munde der Sadduzäer wird Auferstehung zum bloßen Stichwort — das kann böse enden: Linien des Lebens werden ins Unendliche verlängert. Das ergibt tragische Konflikte. Die Absicht ist, Auferstehung als undenkbar zu erweisen. Eine „althergebrachte" Auferstehungshoffnung kennt die

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Johannes Schiller Bibel nicht. Die Meinung der Sadduzäer ist modernen Auffassungen nahe, welche den Tod als endgültig tapfer bejahen und den Gedanken an ein Jenseits als bloße Vertröstung belächeln. Die Antwort, die Jesus ihnen gibt, spricht von einem Leben, dessen „gewürdigt werden", die auferstehen. Das spricht also nicht von einer Fortsetzung des Bisherigen, sondern vom Eintritt in einen neuen Lebensbereich. Das Leben in diesem neuen Bereich ist „den Engeln gleich". Bei dem Stichwort „Engel" ist daran zu erinnern, daß die Bibel von ihnen in Andeutungen spricht, die ihre schreckliche Macht stärker betonen, als unseren blassen Vorstellungen lieb sein kann. Es sind Wesen, die ganz aufgehen in dem, was Gott will. Die „jene Welt erlangen", sind „Kinder Gottes", das heißt, teilhaftig seiner Lebenskräfte und von ihnen durchdrungen. Hier ist also keine Fortsetzung menschlicher Zustände, keine Verwirklichung menschlicher Hoffnungen. Eine merkwürdige Schlußfolgerung taucht am Ende des Textes auf: Weil Gott die Namen der Väter nennt, darum leben die Väter. Auferstehung als Neues Leben hat also ausschließlich mit Jenem zu tun, der „den Namen nennt" — und nicht vergißt. Es handelt sich jedoch hier nicht um eine „Lehre" von Auferstehung, welche später durch die Auferstehung Jesu wie durch ein Argument glaubhaft bewiesen würde: Die Kirche l e h r t nicht die Auferstehung, sondern der Auferstandene ist das Fundament der Kirche. Seine lebendige Gegenwart ist und bleibt der Eingriff Gottes in diese Welt. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!" — (Mt. 28,20) das ist die ständige Gegenwart dieses Eingriffs. „Komm und folge mir nach", „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten" (Eph. 5, 14, ein altchristlicher Hymnus) — gehören als Anruf und Antwort zu diesem Eingriff. Auferstehen werden alle — aber dieses „aufwachen" und „sich erleuchten lassen" läßt schon hier Gottes „Gericht" täglich an uns heran und nimmt das „Jüngste Gericht" vorweg. Dieses tägliche Auferstehen, das sich schon hier vollzieht, ist also ein höchst persönlicher Vorgang, der bei dem einen geschieht, bei dem anderen aber nicht. Zugleich aber wurde von mir — wie es scheint, recht leichtfertig — doch gesagt: Auferstehen werden alle! Diesen Leichtsinn habe ich jedoch dem christlichen Glaubensbekenntnis nachgesprochen, das ausdrücklich die „Auferstehung des Fleisches" — also a l l e n Fleisches — bekennt.

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Ich weiß, daß wohlmeinende Leute schon seit anderthalb Jahrtausenden meinen, man sollte es endlich lassen, von „Auferstèhung des F l e i s c h e s " zu reden. Leib, Seele, Geist, Persönlidikeit — es gebe unwahrscheinlich viele bessere Worte, um dieses peinlichste und anstößigste aller Worte endlich zu ersetzen; dieses Wort, das es so ausgesprochen schwer macht, an ein „Leben nach dem Tode" zu glauben. Nun, eben dies ist auch seine Aufgabe: Es zu erschweren, an ein „Leben nach dem Tode" zu glauben! Nicht mehr und nicht weniger soll es bewirken. Ich sagte schon vorhin, daß die Sadduzäer an k e i n e Auferstehung der Toten glaubten. Das gleiche gilt für das ganze Alte Testament. Was schattenhaft anklingt: Totenbefragung Sauls bei der Hexe von Endor; eine Hadesvorstellung, nach der die Schatten der Toten „drunten sitzen, kraftlose Schatten ihrer Vergangenheit" (Jes. 14) — wird sorgfältig hintangehalten. Was die Vorstellungen eines Weiterlebens der Toten angeht, ist das Alte Testament gründlich „entmythologisiert", und das ist um so bemerkenswerter, als das Alte Testament in einer Umwelt lebt, für die ein „Leben nach dem Tode" uralte Überlieferung ist. Es ist ein Grundirrtum, zu glauben, die Bibel habe den Gedanken an ein „Weiterleben nach dem Tode" aufgebracht. Diese Überzeugung ist im Gegenteil so alt, daß ihr Aufkommen im Dunkel der menschlichen Frühzeit verschwindet. Die Zeugnisse für die Vorstellung von einem Weiterleben der Toten sind erdrückend: Begräbnisriten, Grabbeigaben, Gespensterfurcht, Ahnenkult, Wiederverkörperungsvorstellungen, der Hades der Griechen; schließlich die tiefsinnige griechische Auffassung, im Neuplatonismus ausgeformt, wonach der Leib, irdisch-niedrig, das Grab der Seele ist. Zerfällt er, so wird die aus dem himmlischen Lichte stammende Seele frei und kehrt zu ihrem Ursprung zurück. Fleisch — das ist das Niedere; Seele — das ist das Unsterbliche, Erhabene, Unvergängliche — ein Gedanke, der so hinreißend eingeht, daß er nicht nur in die Sprache der christlichen Kirche eingedrungen ist, sondern geradezu verdrängt hat, was christliche „Auferstehung" meint. Aber die Schranke, an welcher alle Gedanken an ein „Weiterleben nach dem Tode" zuschanden werden, ist das Wort „Fleisch" im Glaubensbekenntnis. „Fleisch" meint den g a n z e n Menschen — und benennt ihn damit mit dem Stichwort, das seine Vergänglichkeit aufdringlich einprägt: Fleisch zerfällt, vergeht, Erde zu Erde. D u bist Fleisch! — das

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Johannes Schiller heißt: D u vergehst! Fleisch — das durchstreicht allen Wahn eines Weiterlebens. Sinnlos sind Gräber und Pyramiden; sie bergen nur „Fleisch", sonst nichts. Auferstehung aber ist n i c h t Fortsetzung des Lebesn, sondern n e u e s Leben. Paulus — 1. Kor. 15 — prägt uns ausdrücklich ein, daß Auferstehung Christi auch Auferstehung der Toten bedeute. Er stellt sich sogar der präzisen Frage: Wie sieht die Auferstehung der Toten aus? Er verwendet freilich ein Bild, das wir heute gänzlich anders verstehen: „Möchte aber jemand sagen: W i e werden die Toten auferstehen? Und mit welcherlei Leib werden sie kommen? D u Narr, was du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. U n d was du säest, ist nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der anderen (Samenkörner) eines. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie e r will, und einem jeglichen von den Samen seinen eigenen L e i b . . . Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein,geistlicher' Leib." Dahinter steht also das Bild vom Samenkorn. W i l l man diesen Vergleich verstehen, dann muß man erst die antike Vorstellung wieder nennen, wonach „das Weizenkorn stirbt" — nämlich gänzlich in der Erde vergeht — und die Ähre steht durch ein Schöpfungswunder dort, wo nichts mehr blieb; so ist ein Korn zu H a l m und strahlender Ähre geworden. Für unsere Vorstellungen dagegen ist Keim und damit H a l m und Ähre bereits im Samenkorn angelegt. Paulus will aber gerade das Gegenteil zum Ausdruck bringen, nämlich daß zwischen dem „Vergehenden" und dem „Neuen" k e i n e Verbindung besteht. Deshalb fährt er dann fort: „Es wird gesät verweslich — und wird auferstehen unverweslich." Dieses Pauluswort gehört gewiß zu den bekanntesten Bibelworten. Bekannte Worte sind aber nicht immer verstandene — und nicht immer leicht verstehbare Worte. Ich habe mir für das, was Paulus aussagen wollte, ein anderes Bild, einen anderen Vergleich gesucht: Bilder, die ich mit Liebe malte, gingen in Schlesien zugrunde. U n d doch: Solange ich lebe, sind die Bilder noch gegenwärtig und ich kann sie von neuem zeichnen. Ich bin es, durch den sie leben, denn ich liebe sie und kann sie „wiedererwecken". So ist „Auferstehung" audi nicht „Fortsetzung", sondern „neues Leben" und hängt an dem E i n e m , der lebt und liebt, was er geschaffen hat.

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H i e r zeichnet uns sein Finger in den Sand. Vergänglich ist das Bild; aber der uns hier in den Sand zeichnete, der lebt. Und nach seinem Willen werden wir „neu" leben. U n d wir werden dann wissen, wer wir waren. Das steckt in dem Stichwort „Gericht" — nämlich „über Lebendige und Tote". Wir werden wissen, was wir an der „Zeichnung" verdarben, und wie sehr wir schon hier jeden Tag dieses „Fingers" bedurften, um das von ihm gewollte Bild wiederherzustellen. Wie tot sind die Toten? Das ist nicht unsere Frage. Das Evangelium wendet sie in die andere Frage: Wie lebendig sind eigentlich die Lebendigen? Diese Frage wird uns von einem gestellt, der mit seiner lebendigen Kraft den „Zirkel" aufbrechen will, in dem wir, jeder für sich, „incurvatus in se ipsum" leben, „eingekrümmt" in uns selbst — das ist Luther. „Eingekrümmt" in Eigenliebe und Eigendünkel — so sagt es Kant. Es nimmt der Größe Kants nichts, wenn idi vermute, daß auch das, was er als „Freiheit der sittlichen Vernunft" im Menschen „eingepflanzt" und von seinem Wesen untrennbar glaubte, lutherisches Erbe war, das Kant unbewußt weitertrug. Also ein bloßer „Überrest"? Mehr als „Überreste" pflegen wir kaum in unseren ungeschickten Händen zu behalten. Aber sogar diese „Überreste" behalten noch jene eigentümliche belebende Kraft und überdauern Verwirrungen und das ständig drohende „(falsdie) Ende aller Dinge", wie Kant es damals auf die christliche Religion zukommen sah. Von dieser merkwürdigen Kraft von „Überresten" und „Bruchstücken" des Christlichen hat Hans Frey er etwas gewußt. Er schreibt: „Die Substanz der abendländischen Wissenschaft ist das abendländische Christentum. Dieses wird in vielen Formen und Weisen säkularisiert, am großartigsten — und wenn man auf die weltgeschichtlichen Wirkungen sieht, am folgenreichsten — als freie, exakte, die ganze Welt methodisch durchforschende Wissenschaft. Daß jeder Span, der vom H o l z des Kreuzes abgespalten wird, ein Ganzes und Lebendiges ergibt, außerdem aber H o l z von diesem Stamme bleibt, das kann kein Beispiel überzeugender lehren, wie eben dieses"8). 8) Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, Dieterich 1948, I I , S. 799.

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Edmund Silberner, Jerusalem J O H A N N JACOBY I N D E N REAKTIONSJAHREN U N D DER N E U E N ÄRA* I . Reaktionsjahre 1. Leben ohne Politik Das Jahrzehnt der Reaktion, das der Revolution von 1848/49 folgte, war für Jacoby keine Periode des Stillstandes, aber eine Zeit politischer Inaktivität. Nachdem am 30. M a i 1849 in Preußen das Dreiklassenwahlrecht oktroyiert worden war, beschlossen die Vertreter der parlamentarischen Linken auf ihrer Köthener Konferenz vom 11. Juni 1849, an den Landtagswahlen nicht mehr teilzunehmen und ihre Anhänger zur Wahlenthaltung aufzufordern 1 ). Zwar war Jacoby bei der Konferenz nicht zugegen, doch zweifelte er nicht an der Richtigkeit des Beschlusses, den übrigens die Demokraten während der ganzen Reaktionszeit, d. h. bis Herbst 1858 befolgten. Auch andere führende Männer der preußischen Demokratie — wie Waldeck, Ziegler und Löwe-Calbe, um nur einige zu nennen — glaubten damals, auf jede öffentliche politische Tätigkeit verzichten zu müssen. Erst der Umschwung in Preußen, der italienische Krieg und die deutschnationale Bewegung gestatteten keine protestierende Zurückgezogenheit mehr und regten zu neuer Tätigkeit an 2 ). Jacoby ging in jenen Jahren der Reaktion gewissenhaft wie immer den Pflichten seiner ärztlichen Praxis nach, setzte seine Studien — namentlich auf philosophischem Gebiet — fort und hoffte auf bessere Zeiten. Er korrespondierte jetzt weniger als sonst, weil es nicht viel zu berichten gab * Der vorliegende Beitrag reiht sich meinen biographischen Aufsätzen über Jacoby an, die im „Archiv für Sozialgeschichte* 1969, Bd. 9, S. 5—112, 1970, Bd. 10, S. 153—259, und in der „International Review of Social History", 1969, Bd. 14, S. 353—411, erschienen sind. Die unveröffentlichten Briefe, aus denen ich hier zitiere, sind Bestandteil meiner Edition des Briefwechsels von Johann Jacoby. Das Manuskript des ersten Bandes (ZWISCHEN REFORM U N D REVOLUTION. Johann Jacoby. Briefwechsel 1816—1849) ist bereits dem Verleger zugegangen. Der zweite folgt in Bälde. Idi gebe dort für über tausend zumeist unveröffentlichte Briefe die genauen Fundorte an und statte audi meinen Dank all jenen ab, die mir Hinweise gewährt oder gar das Material zur Verfügung gestellt haben. 1) Vgl. Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, I , S. 15. 2) Jacoby an Heinrich Simon, 25. Oktober 1859, unveröff.

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Johann Jacoby in den Reaktionsjahren

und der neuen Ära

und weil die Zensur den Briefverkehr beengte. Trotz politischer Untätigkeit fehlte es nicht an polizeilichen Schikanen. I n der Frühe des 6. Juni 1850 fanden bei Jacoby und anderen bekannten Demokraten Hausdurchsuchungen statt. M a n forschte vergeblich nach Papieren und Korrespondenzen des Mitte April behördlich aufgelösten Königsberger Arbeitervereins 8 ). Wilhelm Caspary, Jacobys demokratischer Kollege von der Zweiten Kammer, der damals als Emigrant in Bern lebte, meinte dazu: „Also von 6 bis 9 Uhr hat man bei Ihnen nach Verschwörung, Konspiration, Hochverrat usw. gesucht und nichts gefunden! Die Toren! Warum schlagen sie Ihnen nicht gleich den großen Hirnschädel voneinander: da hätten sie ja gleich alles beisammen!"4) Etwa Mitte August 1850 wurde Jacoby in einer Sache gegen Franz Raveaux vor den Königsberger Untersuchungsrichter zitiert. M a n begehrte von Jacoby allerlei Auskünfte über Raveaux aus dessen „ Reichsregen tschafts"-Zeit in Stuttgart. Die Anklage gegen Raveaux lautete auf Hochverrat. Jacoby verweigerte in der Angelegenheit jede Auskunft und berief sich auf das auch in Preußen publizierte Gesetz von 1848, demzufolge jede gerichtliche Untersuchung gegen Abgeordnete unzulässig sei5). Die Polizei hielt es für nötig, Bilder von Jacoby, Waldeck, Blum, Walesrode und anderen zu konfiszieren, und zwar nicht nur in Bildläden und Wirtshäusern, sondern gelegentlich auch in Wohnstuben 6 ). Bei einer Durchsuchung des Reisegepäcks von Walesrode in Berlin im Hamburger Bahnhof rief ein Miniaturbild des Abbé Sieyès den Argwohn der Polizeibeamten wach, weil sie darin Jacoby zu erkennen wähnten. Als Walesrode versicherte, es sei nicht Jacoby, fragte man eifrig, wer denn dann. Walesrode erwiderte den Polizeibeamten, es sei ein französischer Geistlicher, von dem sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört hätten. Nach langem Uberlegen beließ man ihm schließlich das Bild 7 ). 3) „Die Verbrüderung. Korrespondenzblatt aller deutschen Arbeiter", Leipzig, Nr. 38 vom 22. Juni 1850, S. 194; Frolinde Baiser, Sozial-Demokratie 1848149—1863, Stuttgart 1962, S. 150, 274. 4) Wilhelm Caspary an Jacoby, 15. Juni 1850, unveröff. 5) österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Kartei des Informationsbüros. Auszug aus der „Wiener Zeitung" Nr. 203 vom 25. August 1850, S. 2556 f. (Königsberg, 19. August). 6) „Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben." Hrsg. von Adolf Kolatsdiek, Stuttgart, Bd. 1, 1850, S. 153 („Breslau, Ende Januar"); Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, I X , S. 214 (17. Mai 1852). 7) Varnhagen von Ense, ebenda, X I , S. 109 (Mitte Juni 1854). 2

Königsberg

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Edmund Silberner Jacobys Briefwechsel aus jener Zeit zeugt von der Verzweiflung und Misere seiner Freunde in der Emigration. Alexander Herzen in Paris, der ihn um Übermittlung einiger nichtpolitischer Briefe nach Moskau und um Hilfe bei illegalen Büchersendungen nach Rußland bat, sprach es offen aus: „Je suis rompu, fatigué, dégoûté — on peut beaucoup travailler, mais il faut avoir devant soi un but, une espérance, il faut avoir une foi quelconque" 8 )! Aus Bern berichtete Wilhelm Caspary über die Lage der deutschen Flüchtlinge in der Schweiz. Ein trauriger Zug ziehe jetzt durch die Emigration. Das Vaterland, dieses erhabene deutsche Vaterland, lasse seine armen Brüder ohne alle Hilfe, und was bleibe anderes übrig als die Neue Welt. Wie viele gute Kräfte gingen dadurch doch dem deutschen Volk verloren. H u n ger und N o t zwängen zur Auswanderung nach Amerika. Caspary bat um diskrete Unterstützung für sich und Karl Schramm 9), den Jacoby von der Berliner Nationalversammlung und der Zweiten Kammer her kannte. Franz Raveaux, gefährlich erkrankt und notleidend, klagte aus Nancy über Polizeischikanen; aussichtslos seien die Zustände in Frankreich und die politischen Parteien allesamt korrupt. Er hatte unlängst in Frankfurt am Main seine „Mitteilungen über die badische Revolution" veröffentlicht und wartete auf das Honorar. Die Schrift war jedoch sofort in Baden verboten worden, und der Verleger, der für ihr Bekanntwerden im übrigen Deutschland nicht sorgte, ließ Raveaux wissen, daß an Honorarzahlungen nicht zu denken sei. N u n bat der bedrängte Raveaux — kaum ein Jahr später gehörte er schon zu den Toten — seinen Freund Jacoby, in die gelesensten Blätter kleine Rezensionen einrücken zu lassen und einige Exemplare der Schrift bei Freunden und Bekannten privatim abzusetzen 10 ). Dem wohlhabenden Heinrich Simon, der im Juli 1849 in die Schweiz geflüchtet war, ging es dagegen ganz passabel, will sagen: so gut wie er es — entfernt von Deutschland — vernünftigerweise nur wünschen konnte. Es sei zweifelhaft, gestand er, ob er bei seiner Sensibilität in der Heimat nicht schon vom bloßen Zusehen langsam dahingestorben wäre. Auch Simon bat um Unterstützung, freilich nicht für sich selbst, sondern für Raveaux' Witwe und andere Unglücksgefährten 11). — Ein weiterer Hilferuf kam von Moritz Eisner aus Breslau: Julius Stein sei in einem Dienststrafverfahren seines Amtes entsetzt worden und befinde sich in allerdrückendster N o t ; 8) Alexander Herzen an Jacoby, 24. April 1850, in Herzen, Sobranie sotsdtinenij, 1961, X X I V , S. 34 f. ») Wilhelm Caspary an Jacoby, 16. Mai 1850; auch 23. August 1850, beides unveröff. 10) Franz Raveaux an Jacoby, 28. November 1850, unveröff. 11) Heinrich Simon an Jacoby, 23. März 1852, unveröff.

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Moskau

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man sollte audi in Königsberg und der Provinz Preußen etwas für ihn tun 1 2 ). Jacoby, der mit Eisner und Stein in der preußischen Nationalversammlung die äußerste Linke vertreten hatte, besorgte 65 Taler 1 3 ). „Es war mir leider nicht möglich", stellte er bedauernd fest, „eine größere Summe aufzubringen; Sie wissen, die Demokratie ist jetzt nicht mehr in Mode und Geldgeben bei den Deutschen nie sonderlich Mode gewesen. Mögen die Götter es ändern" 14 ). Adolf Kolatschek wandte sich an Jacoby mit einer rein publizistischen Bitte. Kolatschek war Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewesen und redigierte in den Jahren 1850/51 zuerst in Stuttgart, dann in Bremen die demokratische „Deutsche Monatsschrift". Bereits Ende 1849 hatte er Jacoby eingeladen, an diesem Organ mitzuarbeiten. I m darauffolgenden Herbst nun ersuchte er ihn um programmatische Ratschläge und Vermittlung geeigneter Korrespondenten 15 ). Jacoby, dessen Antwort verschollen ist, teilte der Monatsschrift kommentarlos ein bisher nicht veröffentlichtes Geheimdokument mit, das ein seltener Zufall in seine Hände gespielt hatte: Hardenbergs Instruktion vom 8. Januar 1820 an die Oberpräsidenten zur Handhabung der Zensur 16 ). Varnhagen von Ense meinte, die Instruktion lasse ganz und gar den Freisinn vermissen, der in Hardenberg ursprünglich gelebt habe; der Staatskanzler habe — unter dem Zwange der Reaktion stehend — das Machwerk irgendeines Schreibers blindlings unterschrieben 17). Dies war Jacobys einziger Beitrag für die „Deutsche Monatsschrift", die nach zweijährigem Bestehen den Verboten der größeren deutschen Regierungen erlag 18 ). Eine tiefdurchdachte Weltanschauung, starke Nerven, intensive angeborener Optimismus und nicht selten auch ein Wunschdenken ten Jacoby vor jener Verzweiflung, der so mancher Demokrat Reaktionszeit verfiel. Die Ereignisse der fünfziger Jahre zehrten weniger als an vielen seiner Zeitgenossen.

Arbeit, bewahrin der an ihm

12) Moritz Eisner an Jacoby, 14. Oktober 1854, unveröff. 13) Jacoby an Moritz Eisner, 8. März 1855, unveröff. 14) Ebenda.

15) Adolf Kolatschek an Jacoby, 26. Oktober 1850. 16

) „Eine Instruktion des Staatskanzlers v. Hardenberg, mitgeteilt von Dr. Johann Jacoby", „Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben", Jg. 1, 1850, Bd. 4, Heft 12, Dezember, S. 392—398. 17) Tagebücher , V I I I , S. 31 f. (21. Januar 1851). 18) Ludwig Simon, Aus dem Exil, Gießen 1855, I , S. 123.

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Edmund Silberner „Von Königsberg ist dermalen nichts zu berichten", schreibt er Anfang 1850 seiner Freundin Ottilie Meyerowitz. „Ruhe und Langeweile herrscht hier wie überall. I d i meinesteils führe ein durchaus häusliches Leben — ebenso einsam, wenn auch nicht halb so angenehm als am Genfersee. Wenn ich meine Patienten besucht (trotz der langen Abwesenheit sind fast alle treu geblieben), sammle ich in den Mußestunden die Erfahrungen der beiden letzten Jahre und bereite mich vor auf — ,den Tag, wo die heilige Ilios hinsinkt'! 19 )" Dieser Tag dünkte ihm nicht fern. Die Demokraten seien ein schwerfälliges, stumpfes Volk; so habe die Geschichte für ihren Freiheitsplan sich a n d e r e Helden auserkoren: die „wackeren" Gothaer, den „lanzenkundigen König", den hochkonservativen Ludwig von Gerlach. Die am 31. Januar 1850 revidierte Verfassung sei kaum geboren — und schon an der Wiege werde ihr das Grablied gesungen. Dahlmann sehe in ihr ein Kartenhaus, das beim ersten Windstoß zusammenstürzen müsse, und Gerlach begrüße sie als den Bankrott des Konstitutionalismus. Beide hätten recht. Denn Freiheit wie Absolutismus wohnten in den geschriebenen Paragraphen der Verfassung friedlich beieinander. „Dodi hart im Räume stoßen sich die Sachen." U n d eben daher sei die Verfassung zugleich durch und durch revolutionär 20 ). Während die Preußen solcherweise ihre konstitutionellen Kinderschuhe austräten, bereite sich in Frankreich schon ein neuer Revolutionsakt vor. Staat und Kirche hätten sich die blutigen Hände gereicht, um die „Gesellschaft" zu retten; das Volk aber wolle von dieser Rettung nichts wissen : in immer größerer Klarheit werde es sich des eigentlichen Zweckes aller seiner Revolutionen bewußt. Während früher in Frankreich alle Parteien — die freisinnigsten nicht ausgenommen — im Streben nach Zentralisierung der Macht übereingestimmt hätten, sei jetzt das unverkümmerte Recht des einzelnen Menschen die Losung. Unumschränkte Selbstregierung, keinerlei Autorität, keinerlei Staatsgewalt! „Dem Gewitter, das von dort heraufzieht, werden wahrlich weder die Fürsten noch die Hochgeborenen standhalten" 2 1 ). Jacoby war somit überzeugt, die Reaktion arbeite letzten Endes für die Demokratie. Voller Zuversicht schrieb er in diesem Sinne seinem Kollegen aus der Berliner Nationalversammlung, dem Elbinger Oberbürgermeister Adolf Phillipps: „Unsere H e u l e r lassen den Kopf gewaltig hängen, 1») Jacoby an Ottilie Meyerowitz, 13. Februar 1850, unveröff. 20) Ebenda. Zitat: Sdiiller, Wallensteins Tod, I I , 2. 21) Jacoby an Ottilie Meyerowitz, 13. Februar 1850, unveröff.

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sie fangen allmählich an einzusehen, daß die vielgepriesene Konterrevolution ihnen noch teurer zu stehen kommt als die Revolution. Wenn Gerlach und Manteuffel — der Himmel segne diese schwarzweißen Herren! — es noch einige Zeit so forttreiben, werden w i r uns recht bald in B e r l i n Wiedersehen" 22). Varnhagen von Ense notierte im Sommer 1851, Jacoby sei ungebrochen, zwar still, wie jeder Gleichgesinnte es jetzt sein müsse, aber sicher, daß der Sturm losgehen und womöglich die zuerst wecken werde, die gar nicht geahnt hätten, daß sie die ersten sein werden 23 ). U n d im Frühjahr 1852 heißt es bei Varnhagen abermals: „Vor allen ist Dr. Johann Jacoby voll Mut und Zuversicht" 24 ). Ein Polizeidokument des Jahres 1854 bezeugt, wie still Jacoby sich damals in politischer Hinsicht verhielt. Er hatte die Absicht, mit seiner Patientin Rosalie Friedmann, einer bekannten Königsberger Philanthropin, nach Berlin zu fahren, um als ihr Arzt und Freund einer Krebsoperation wegen mit dem namhaften Chirurgen Bernhard Langenbeck zu konferieren. Jacoby ersuchte deshalb das Berliner Polizeipräsidium, ihm eine Aufenthaltserlaubnis für die Hauptstadt zu erteilen. Ehe man von dort aus dem Antrag stattgab, erkundigte man sich in Königsberg über Jacobys politisches Verhalten. Der Königsberger Polizeipräsident erwiderte, Jacoby habe sich während der letzten Jahre „in politischer Beziehung nicht bemerkbar gemacht". D a aber während dieser Bewilligungsprozedur die Patientin ihre Pläne änderte, entfiel der Grund für die Reise, so daß Jacoby in Königsberg blieb 25 ). Jacobys geselliger Kreis bestand in den fünfziger Jahren aus alten und bewährten Freunden: dem Rentier und Stadtrat Simon Meyerowitz, den Ärzten Raphael Jakob Kosch, Gustav Dinter und Ferdinand Falkson, dem Physiker Professor Ludwig Moser und dem Publizisten Ludwig Walesrode, welch letzterer freilich wegen andauernder Polizeischikanen 1854 Königsberg verließ und nach Hamburg übersiedelte. Einem Polizeibericht zufolge soll Jacoby auch mit den als Demokraten bekannten Kaufleuten Moritz Wedel und Karl Funk verkehrt haben 26 ). Zwar finden wir in 22) Jacoby an Adolf Phillipps, 16. Februar 1850, unveröff. Schwarzweiß: Farben Preußens. 23) Tagebücher , V I I I , S. 294 (10. August 1851). 24) I X , S. 236 (31. Mai 1852). 25) Jacoby an von Hinckeldey, 3. und 18. August 1854; von Hinckeldey an Maurach, 7. August 1854; Maurach an von Hinckeldey, 8. August 1854; Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 36—42, Zitat Fol. 39. 26) Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 77 V I , Lit. J, Nr. 65, Fol. 135.

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Edmund Silberner Jacobys Nachlaß eine Einladung für den 15. April 1856 zu einem „Kränzchen" in seiner Wohnung, doch handelt es sich hier wohl um ein singuläres Ereignis, denn bei der damaligen scharfen Bespitzelung wären solche Treffen dem Polizeiauge nicht entgangen und hätten auch ihren Niederschlag in den Geheimakten gefunden. 2. Berlin, Schlangenbad, Zürich Das für die Jahre 1850 bis 1855 recht dünne Polizeidossier über Jacoby beginnt sidi zu füllen, als er im Frühjahr 1856 für eine sechsmonatige Bade- und Erholungsreise einen „ Ministerialpaß" beantragte nach den deutschen Bundesstaaten, Österreich, der Schweiz, Italien und Frankreich. Die hohe Polizei war, wie Jacoby nicht ohne Ironie bekundet, überaus gnädig, ja zuvorkommend gegen ihn; sie erteilte ihm sowohl einen vom österreichischen wie vom französischen Gesandten visierten Ministerialpaß als auch eine vierzehntägige Aufenthaltskarte für Berlin, obschon er nur um eine solche für acht Tage nachgesucht hatte 2 7 ). Gleichzeitig stellte der Polizeipräsident von Königsberg dem Herzoglich Nassauischen Amt in Langenschwalbach anheim, eventuell das Verhalten des Doktor Jacoby in Schlangenbad in geeigneter Weise beobachten zu lassen. Jacoby begab sich zunächst nach Berlin, wo er vom 13. bis 19. Juni 1856 verweilte. Er stieg bei seinem Vetter Eduard Waldeck, Breite Straße 5, ab. Nebst dem Gastgeber wetteiferten die Familie Meyerowitz, Adolf Stahr und andere Freunde in Gefälligkeiten für Jacoby, und da das Wetter sich als günstig erwies, genoß er das Herumbummeln außerordentlich. Vormittags fuhr er mit Eduard Waldeck aus, um die Stadt zu besichtigen, oder wurde von dem Arzt Gustav Siegmund, Herweghs Schwager, umhergeführt; er besuchte das große Krankenhaus Bethanien, das neue Museum, die Kunstwerkstätten, Buchläden und so manches mehr. Mittags kehrte er bei den Schwestern Meyerowitz oder in Schöneberg ein, wo der Gastgeber eine Sommerwohnung unterhielt; abends gab es angenehme Stunden ebenfalls in Schöneberg oder im Etablissement Kroll. Jacoby unternahm sogar eine Landpartie nach Treptow und eine Fahrt auf der Spree. Den Tribunalsrat Waldeck, den Kammergerichtsrat Gottheiner, den Juristen Otto Lewald und noch weitere Bekannte sah und sprach er während dieser Tage. Z u einem Treffen mit seinem Vetter und langjährigen politischen Freund Julius Waldeck kam es leider nicht; er hatte sich nach Baden-Baden 87) Ebenda, Fol. 118 ff.; Landeshauptardiiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 43 f., 52; Jacoby an seine Schwestern, 27. Juni 1856, unveröff.

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begeben und litt an einer schweren Krankheit, der er schon im folgenden Jahr erlag. A m 19. Juni reiste Jacoby in Richtung Schlangenbad weiter; Albert Dulk „sowie Klara und Ottilie Meyerowitz begleiteten ihn zum Bahnhof 28 ). Polizeileutnant Greiner, mit Jacobys „angemessener, unauffälliger Beobachtung" beauftragt, meldete nach dessen Abfahrt, Jacoby habe sich in Berlin „unverdächtig geführt" 2Ö ). I n einem anderen Bericht, höchstpersönlich vom Freiherrn von Zedlitz, dem Berliner Polizeipräsidenten, gezeichnet, heißt es, der genau überwachte Jacoby habe keine Veranlassung gegeben, darauf zu schließen, daß er in Berlin etwa geheime politische Zwecke verfolgt habe 30 ). Werfen wir in diesem Zusammenhang einen Blick auf jenes Jacoby-Porträt, das eine Polizeihand gerade damals entworfen hatte. Es stammt wohl von einem gebildeten „Literaragenten", der es verstand, Spinoza und die Gironde in seine Schilderung einzuflechten. Jacoby sei ein, behauptet er, so vorsichtiger, verschlossener, kluger und gewitzter Mann, dabei so mißtrauisch, von Natur schweigsam und lakonisch, daß die vulgäre Polizeibeobachtung ihm gegenüber nie etwas auszurichten vermocht habe. Fast asketisch in seinem Wesen, zerfallen durch körperliche Leiden und das Scheitern seiner bösen Hoffnungen, gehöre er zu den konsequenten, berechnenden und durchaus kalten Charakteren, wie sie — Gott sei Dank — die deutsche Bewegung nicht wieder hervorgebracht habe. Auch unter seinen Gegnern genieße er den Ruf eines ehrlichen Mannes, und das einzig Zweideutige in seiner Lebensgeschichte, sein Verhältnis zum russischen Generalkonsul von Adelson in Königsberg, habe sich dahin aufgeklärt, daß Familienverhältnisse diese Verbindung bewirkt hätten. Er sei ein bornierter Republikaner in girondistischer Färbung, ein puritanischer Geist im Sinne Spinozas, sozialistischen und kommunistischen Experimenten abhold, Feind des Königstums und der Könige aus Grundsatz, von unglaublicher Verachtung gegen die Geburtsaristokratie und die dünkelvolle Impertinenz der Bourgeoisie, höhnisch, kalt, planvoll und von erstaunlichem Einfluß auf alle, mit denen zu sprechen er es der Mühe wert halte. Als der bekannte Ladendorf 31 ) zu ihm nach Königsberg eine Mis28) Jacoby an seine Schwestern, 27. Juni 1856, unveröff. 2») Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 56 (19. Juni 1856). 30) Ebenda, Fol. 59 (26. Juni 1856). 31) Gemeint ist der demokratische Agitator August Ladendorf, 1848 Vorsitzender eines Volks Vereins in Berlin, später in ein von der Polizei provoziertes Komplott verwickelt und im November 1854 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.

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Edmund Silberner sionsreise gemacht habe, ihm die Pläne der Genossen mitgeteilt und ihn aufgefordert habe, ihren Reihen beizutreten, habe Jacoby kühl erwidert, er wolle davon nichts wissen; nicht die Revolution, sondern die Reaktion habe jetzt die Aufgabe übernommen, das Volk dem Bewußtsein seiner politischen Pflichten zuzuführen. Jacoby habe während der letzten Jahre scheinbar in tiefster Zurüdtgezogenheit in Königsberg gelebt, beschränkt auf spärlichen Umgang mit seinen Freunden Dinter und Kosch, und als die Polizei ihm einmal einen Besuch abgestattet, habe sie wohlgeordnet seine persönlichen Papiere, aber sonst auch nicht einen beschriebenen Zettel gefunden. Er habe Polizeiinspektor Wedecke gesagt, als dieser nach weiteren Papieren gefragt habe, er besäße keine. Nichtsdestoweniger könne auf das bestimmteste versichert werden, daß dieser Mann über alles, was seine Partei literarisch und politisch in Deutschland, Frankreich und England tue, auf geheimen Wegen ganz genau unterrichtet sei. Es sei eine Tatsache, daß beispielsweise seltene revolutionäre Piecen über Jacoby an Bekannte in der Provinz Preußen weitergingen. Die Verbindungen, die er zu seinen Freunden und Bundesgenossen in Süddeutschland und der Schweiz unterhalte, hätten trotz der Wachsamkeit der Polizei nie aufgehört: Reisende, Kaufleute, Gutsbesitzer, kaufmännische Adressen seien das Vehikel. I n Berlin verkehre er mit Adolf Stahr und Aaron Bernstein, dem Redakteur der „Volks-Zeitung" 32 ). Auf dem Weg nach Schlangenbad hielt sich Jacoby kurz in Eisenach auf, besichtigte die mit großer Pracht restaurierte Wartburg, deren er sich nodi von einer 1828 unternommenen Reise her erinnerte, und fuhr nach Frankfurt am Main weiter, wo er im berühmten Gasthof Zum Weidenbusch abstieg. Der Portier, der Wirt und das Hauspersonal begrüßten ihn als alten Bekannten aus dem Jahre 1848 und erwiesen ihm während des zweitägigen Aufenthaltes alle erdenkliche Freundlichkeit. Den größten Teil der Zeit verbrachte er im Haus des Arztes Adolf Schmidt, eines Studienfreundes von Königsberger Jugendtagen her; außerdem besuchte er den ihm von früher schon bekannten namhaften Bildhauer Eduard Schmidt von der Launitz. Dann ging er nach Wiesbaden. Jacoby traf mehrere Bekannte, hatte ein Konsilium mit dem Arzt der dort weilenden Frau Friedmann und machte Spaziergänge zu den Sehenswürdigkeiten des Kurorts. A m 24. Juni gelangte er nach Schlangenbad, um einen Monat hier zu bleiben. 82) Landeshauptardiiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 47 f. (17. Juni 1856).

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Der Ort, berichtet Jacoby, hat eine wunderschöne Lage in einem langgestreckten Talgrund, der von hohen, mit Laubwäldern dicht besetzten Bergen umschlossen ist. Für ein gut eingerichtetes Zimmer mit Balkon und schöner Aussicht hatte er täglich 18 Silbergroschen, für das Mittagessen ebensoviel und für das Frühstück 8 Silbergroschen zu zahlen. Die Bäder erhielt er als Arzt — wie in allen Kurorten Nassaus üblich — umsonst. Das Wetter war — zumindest in den ersten Tagen — sehr schlecht, was aber seine gute Laune nicht verdarb. „Ich habe es mir vorgenommen", schreibt er an seine Schwestern, „weder durch ungünstiges Wetter noch durch sonstige Unannehmlichkeiten mich in meinem Reisegenusse stören zu lassen. Mein Wahlspruch ist, sich durch alles a η regen, durch nichts a u f regen zu lassen! Und ich hoffe, die Ausübung dieser Kunst, in welcher der alte Goethe es bekanntlich zur Meisterschaft gebracht, wird auch mir nicht zu schwer werden" 33 ). Gleich nach seiner Ankunft in Schlangenbad erkannte er zu seiner Freude in dem dort angestellten Kurarzt Dr. Karl Bertrand einen alten Bekannten, mit dem er 1847 bei Itzstein in Hallgarten eine längere Zeit gemeinsam verbracht hatte. Bertrand wußte ihm viel von gemeinsamen Freunden und von Itzstein zu erzählen, den er während dessen letzter Krankheit behandelt hatte. Zudem bot er alles auf, um Jacoby das Badeleben so angenehm und heilsam wie möglich zu gestalten. Jacoby litt an einem Unterleibsübel und war hernach mit dem Erfolg der Kur sehr zufrieden. N o d i bevor er sie beendete, meldete er einem Freund: „Mein Übel ist beinah spurlos verschwunden, und überhaupt habe idi mich seit langem nicht so wohl gefühlt, wenigstens das behagliche Gefühl der Gesundheit nicht mit so klarem B e w u ß t s e i n genossen — als jetzt" 3 4 ). Von Schlangenbad ging Jacoby zur Nachkur in das benachbarte Schwalbach, wo es, wenn die Polizei ridi tig informiert war, „Zusammenkünfte demokratischer Koryphäen" gab, namentlich ein Zusammentreffen Jacobys mit Rodbertus 35 ). Leider läßt sich aufgrund der uns zugänglichen Quellen die Sache nicht weiter ver folgen. Anfang August finden wir Jacoby in der Schweiz, wo er wohl einige Wochen zubrachte. I n Zürich wohnte er bei seinem engen Freund, dem wohlhabenden Heinrich Simon. Fast gleichzeitig traf in Zürich das Ehepaar 33) Jacoby an seine Schwestern, 28. Juni 1856, unveröff. 34) Jacoby an Adolf Schmidt, 14. Juli 1856, unveröff. 35) Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 77 V I , Lit. J, Nr. 65, Fol. 130.

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Edmund Silberner Stahr ein 3 6 ), so daß es Jacoby vergönnt war, einige Zeit im Kreise seiner vertrautesten Freunde zu verleben. I n dieser Atmosphäre, erzählt er rückschauend, habe er sich selbst wiedergefunden und nach langem Stillesein wieder reden gelernt 37 ). Seine freundschaftlichen Beziehungen zu Fanny Lewald datierten aus viel früheren Tagen. Aber erst hier in der Schweiz erreichten sie jene Höhe, auf der sie dann noch viele Jahre ungetrübt fortdauerten. Die Lewald, der man nicht selten den Beinamen einer deutschen George Sand verlieh 38 ), nahm unter den deutschen Schriftstellerinnen ihrer Zeit wohl unbestritten die erste Stelle ein. Gemeinsame Herkunft, Verbundenheit mit der ostpreußischen Heimat, Bekenntnis zu Demokratie und Republik, Interesse an sozialen Reformen, waren der Boden, aus dem Fanny Lewaids und Jacobys Freundschaft erwuchs. „Der unvergleichliche Jacoby" 39 ) war in den Augen der Schriftstellerin einer der besten und wahrhaftigsten Menschen40). „Höher an Einsicht und Wissen", meinte sie, „größer an Charakter und an philosophischer Resignation, dankbarer für das Geringste und hingebender in seiner Liebe als er, kann man nicht sein" 41 ). Jacoby seinerseits verehrte die Lewald, schätzte sehr ihre Romane und Novellen und freute sich an ihrem Erfolg. Die hervorstechendsten Eigenschaften dieser Frau der Feder: die nüchterne, kühle, stark intellektuelle Schreibweise, die scharfe Beobachtung. und verständige Einsicht 42 ), haben gerade Jacoby fasziniert. Über Fanny Lewald erhielt Jacoby auch ein Freundschaftsband zu Adolf Stahr, ihrem Lebensgefährten. Unter Fachgelehrten erfreute sich der Philologe und Literarhistoriker Stahr keiner sonderlichen Anerkennung: er galt ihnen als Dilletant und nicht als Forscher. Es ging die Rede, Stahr sei überaus streitbar und ein allzu selbstbewußter Mann. Doch dies setzte ihn in Jacobys Augen nicht herab. Er schätzte ihn als Mensdien und fand immer wieder anerkennende Worte für dessen mannigfaltige Schriftstellerei. Es fehlte nicht an Zeitgenossen, die das Ehepaar Stahr gegenseitiger 3«) Heinrich Simon. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk. Hrsg. von Johann Jacoby, Berlin 1865, I I , S. 145. 37) Jacoby an Fanny Lewald, 22. März 1857, unveröff. 38) Marieluise Steinhauer, Fanny Lewald, die deutsche George Sand. Diss. Berlin 1937, S. 1. 3») Fanny Lewald an Alwin Stahr, 26. August 1860, Aus Adolf Stahrs Nachlaß, Oldenburg 1903, S. 245. 40) Fanny Lewald, Gefühltes und Gedachtes (1838—1888), Dresden/Leipzig 1900, S. 91. 41) Fanny Lewald an Alwin Stahr, 26. August 1860, a. a. O., S. 245. 42) Vgl. Marieluise Steinhauer, a. a. O., S. 75, 124.

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Selbstbewunderung bezichtigten. Gottfried Keller sprach spöttisch von einem „vierbeinigen zweigeschlechtlichen Tintentier". Jacoby indessen sah in dem Paar, was es offenbar wirklich war: eine harmonische Ehe literarisch tätiger Menschen, deren Eigenart und Fähigkeiten sich allseits ergänzten. Jacobys jahrzehntelange Freundschaft mit Stahr ist um so bemerkenswerter, als dieser — wenn nicht öffentlich, so dodi privat — ein Judenhasser war 4 3 ). Einem preußischen Polizeibericht zufolge, dessen Angaben sich leider nicht überprüfen lassen, soll Jacoby in der Schweiz folgende Emigranten besucht haben: von Rappard, der ein Institut für Mikroskopie in Wabern bei Bern leitete, Temme, der als Professor in Zürich wirkte, und den Militärschriftsteller Rüstow, der ehedem eine einflußreiche Rolle in der „ultrademokratischen" Partei Königsbergs gespielt hatte und in der Schweiz Jacobys „Hauptbegleiter" war 4 4 ). Aus einem Brief Albert Schotts an Ludwig Uhland erfahren wir, daß er auf der Rückreise von Italien in Zürich bei Heinrich Simon Jacoby und Georg Friedrich Kolb antraf, so daß vier Köpfe des Fünfzigerausschusses beisammen waren 44 "). Ob, wann und wo diese Zusammenkünfte mit noch weiteren Personen stattfanden, verraten die mageren Quellen nicht. N u r von dem Physiologen Jakob Moleschott, Professor an der Universität Zürich, liegt glücklicherweise ein eigenes Zeugnis vor. Tief beeindruckt schreibt er über seinen Besucher: „Da sah ich Johann Jacoby, den Königsberger, den man als den diamantenen Gegner der persönlichen Alleinherrschaft in Preußen bezeichnen könnte, eine der reinsten Gestalten, einen der folgerichtigsten Charaktere, welche die vierziger Jahre am Staatswerk gesehen hatten. M i t ihm war Adolf Stahr und Fanny Lewald" 4 5 ). Sie unterhielten sich unter anderem über philosophische Probleme, und Jacoby versprach Moleschott, Fichtes Äußerungen über das Verhältnis des Idealismus zum Materialismus zu exzer43) Zu diesem Absatz: Ludwig Geiger, „Fanny Lewald", „Frankfurter Zeitung" Nr. 83 vom 24. März 1911, 1. Morgenblatt; derselbe, Einleitung zu Aus Adolf Stuhrs Nachlaß, Oldenburg 1903, S. X X X (Stahrs Judenhaß); Karl Frenzel, „Fanny Lewald" in seinen Gesammelten Werken, Leipzig 1890, I, S. 148 ff.; Gottfried Keller, Gesammelte Briefe, Bern 1850—54, I I , S. 154 (6. März 1856). 44) Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 65. 44») Uhlands Briefwechsel, Stuttgart/Berlin 1916, I V , S. 177 (6. Dezember 1856). Uhland erklärte gegen Ende 1853 dem Schriftsteller Auerbach, er habe den preußischen Orden pour le mérite abgelehnt, weil er sich nicht von einem Fürsten habe auszeichnen lassen können, der seinen Freund Jacoby auf die Anklagebank gebracht habe, wo dieser dodi nur dasselbe getan wie er, Uhland. Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach, Frankfurt am Main 1884, I I , S. 304; vgl. auch Uhland an Alexander von Humboldt, 2. Dezember 1853, in Uhlands Briefwechsel, I V , S. 73 f. 45) Jakob Molesdiott, Für meine Freunde. Lebenserinnerungen, Gießen 1894, S. 293.

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Edmund Silberner pieren und zu übersenden. Er erfüllte sein Versprechen mit einem langen Brief, den er später auch im Druck erscheinen ließ 4 6 ). Kaum in Zürich eingetroffen, empfing Jacoby einen uns nur bruchstückhaft erhaltenen Brief von Georg Herwegh, der von Schmähungen gegen Heinrich Simon und dessen Freunde strotzte. I n der einzigen politischen Bemerkung des Briefes macht Herwegh die deutsche Nationalversammlung als „Euer Frankfurter Puppentheater" lächerlich. Bissig stellt er „vier Fragen an den alten Ostpreußen", die sich auf Heinrich Simon und vermutlich Alexander Herzen bezogen 47 ). Herzen und Herwegh waren eng befreundet. Infolge einer Liebesaffäre von Herwegh mit Herzens Frau im Jahre 1850 kam es zum Bruch der beiden. Natalie Herzen kehrte, von Herwegh enttäuscht, zu ihrem Mann zurück. Bald darauf starb sie im M a i 1852. Herzen beschuldigte nun Herwegh, seine Gattin ins Grab getrieben zu haben. Der Dichter erhob ähnliche Anklagen gegen den Russen. Ein Londoner Ehrengericht unter Mazzini verbot Herzen ein Duell mit Herwegh, da es letzteren für satisfaktionsunfähig hielt. Mazzini, Karl Vogt und mehrere andere brachen dieser Affäre wegen mit dem Dichter. Offensichtlich gehörte auch Heinrich Simon zu denen, die Herwegh verurteilten. Jacoby meinte, Herwegh werfe nun seine Korrespondenz mit Heinrich Simon und die Herzensche Angelegenheit durcheinander; beides sei dagegen zu scheiden. I n ersterer Sache lägen die Akten vollständig vor, und Jacoby erklärte Herwegh offen, daß er das Provozierende in dessen Verhalten gegenüber Heinrich Simon mißbillige. I n der zweiten Angelegenheit, deren Akten, wie Herwegh selbst sage, nicht vorgelegt werden dürften, habe er, Jacoby, kein Urteil gefällt, geschweige ihn im vorhinein verurteilt. Wer seinem Herzen nahegestanden, dem bleibe er treu, solange es ihm innerlich möglich sei. Auf anderer Reden, auf bloße Gerüchte lege er in einem solchen Falle wenig Wert; ungehört ihn zu verdammen, würde seinem innersten Gefühl widerstreiten. Was er, Jacoby, in Berlin — und zwar von Herwegh nahestehenden Personen — gehört, habe ihn seinetwegen zutiefst betrübt; dodi habe er sich jedes Urteil enthalten, bis er ihn selbst gesehen und gehört habe. Hier in Zürich aber finde er die Verhältnisse so geartet, daß ihm nur die Wahl bleibe, zwischen dem Dichter und Heinrich Simon, daß er notwendig ent40) Jacoby an Jakob Moleschott, 6. Februar 1857, „Die Wage" Nr. 32 vom 7. August 1874, S. 497—499. 47) Herwegh an Jacoby, 12. August 1856, Abschrift einiger Passagen, unveröff.

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weder die Beziehung zu jenem oder zu diesem aufgeben müsse. Er habe gewählt. Herwegh sei aber im Irrtum, wenn er diese Wahl als irgendein Urteil betrachte, das Jacoby in dessen Angelegenheit mit Herzen gefällt habe 48 ). Herweghs leidenschaftliche und, soviel wir wissen, bisher unveröffentlichte Antwort verdient, in extenso angeführt zu werden: „Du antwortest mir in Beziehung auf e i n e n Punkt, wie ich es von D i r erwartete; D u hältst es für Deiner u η würdig, da ein Urteil zu fällen, wo man keine Einsicht haben kann. Zu gleicher Zeit hältst D u den Mann, der sich ein solches Urteil erlaubt und m i c h ,provoziert* hat, Deiner ausschließlichen Freundschaft für w ü r d i g. Ich gebe Deiner Ehrlichkeit die Aufgabe mit auf den Weg, diesen Widerspruch zu lösen. Über Wahlverwandtschaften läßt sich nicht weiter diskutieren. L e i d tut es mir, daß D u den Menschen wählen mußtest, der als Verleumder nur ein Gegenstand meiner Verachtung, als politische Figur nur ein Gegenstand meiner Komik sein kann. Was die mir ,nahe'stehen sollenden Personen in Berlin betrifft — wer steht e i n e m nahe? Homo homini lupus. Adieu" 4 9 ). Von den Papieren der Herwegh-Simonschen Angelegenheit, die Jacoby damals vollständig vorlagen, ist uns kein einziges Stück überkommen, so daß wir uns nicht inhaltlich zu ihnen äußern können. Wie dem audi sei, der Bruch zwischen Jacoby und Herwegh wurde nie überwunden; ja, als zwei Jahrzehnte später Guido Weiß, der Redakteur des „Wage", Jacoby einen Aufruf für das Herwegh-Denkmal 5 0 ) zur Unterzeichnung zuschickte, trug dieser Bedenken und sandte das Blatt ununterschrieben zurück 51 ). Während der hier geschilderten Reise war Jacoby erwiesenermaßen in Süddeutschland und der Schweiz. Ob er noch ein weiteres jener Länder besuchte, für die sein Reisepaß ausgestellt war, ist nicht zu ermitteln. Wir wissen nur, daß er seine Rückreise nach Königsberg in Berlin unterbrach, wo er vom 11. bis 24. September abermals bei seinem Vetter Eduard Waldeck wohnte. Während der Mittagsstunden war er regelmäßig im Café Stehely im Kreise seiner Freunde zu sehen. Von bekannteren Gesinnungsge48) Jacoby an Herwegh, 14. August 1856, unveröff. Näheres über diese Angelegenheit bei E. H . Carr, The Romantic Exiles , London, 1949, S. 53—139. 49) Herwegh an Jacoby, 18. August 1856, unveröff. 50) Vgl. „Das Andenken Georg Herweghs", „Die Wage" Nr. 50 vom 10. Dezember 1875, S. 815 f. -51) Jacoby an Guido Weiß, 1. November 1875, unveröff.

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Edmund Silberner nossen, die ihn trafen, erwähnt ein Polizeiberidit den Tribunalsrat Waldeck sowie die Ärzte Tappert und Abarbanell. Die zwei letztgenannten erörterten mit Jacoby mehrfach den Stand der demokratischen Bewegung in Berlin 52 ). Derselbe Polizeibericht behauptet, Jacoby habe sich auch für die Gothaer Partei interessiert und sei bestrebt gewesen, sie als vorläufiges Mittel zu benutzen. Er stattete jedenfalls dem damals in Berlin weilenden Rudolf von Auerswald, mit dem er seit zwei Jahrzehnten befreundet war, eine Visite ab. Die Polizei wollte darüber hinaus wissen, daß Jacoby „die Kammeropposition für ein tüchtiges Stück mit zur einstigen Umgestaltung der Verhältnisse" halte und darum allenthalben seinen politischen Freunden den Rat erteile, sich der Kammeropposition anzuschließen und sie moralisch zu unterstützen 53 ). Ob dem tatsächlich so war, läßt sich infolge der schlechten Quellenlage kaum noch sagen. Jacoby suchte auch Franz Ziegler 54 ) und Varnhagen von Ense auf. Letzterer trug in seine T a g e b ü c h e r 5 5 ) ein: Jacoby „ist mit seiner Brunnenkur und Reise sehr zufrieden, auch mit der Stimmung, die er überall gefunden und die er als Siegesgewißheit der Freiheits- und Volkssache bezeichnet. Der tüchtige, ungebeugte Mann ist höchst ehrenwert". Solcher Optimismus, der auch der Aufmerksamkeit der Behörden nicht entging, frappierte den Innenminister von Westphalen derart, daß er es für erforderlich hielt, Jacobys Verhalten und Verkehr wieder stärker zu observieren. Er wies deshalb den Königsberger Polizeipräsidenten Maurach an, genaue Beobachtungen anzustellen und über die gemachten Wahrnehmungen baldigst einen Bericht einzusenden56). Maurach fand jedoch nicht viel heraus. Bei Jacobys verschlossenem Charakter, erwiderte er dem Innenminister, bei seiner Meidung fast aller gesellschaftlicher Zusammenkünfte und bei seinem auf wenige Demokraten begrenzten Umgang, habe sich nicht mit Sicherheit ermitteln lassen, wie er über die gegenwärtigen Zustände denke und welche Hoffnungen er hege. Er habe zwar gelegentlich geäußert, die gegenwärtige Generation sei zu einer demokratischen Verfassung nicht reif; und dann wieder, die Reaktion 52) Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 63, 67, 70. 53) Ebenda, Fol. 68 (25. September 1856). 54) Ebenda.

55) X I I I , S. 162 (23. September 1856). 56) Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 77 V I , Lit. J, Nr. 65, Fol. 134 (4. Oktober 1856).

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ebne der Demokratie den Weg; es bleibe jedoch mehr als zweifelhaft, ob diese Äußerungen seine wahre Gesinnung repräsentierten, denn es scheine ihm sehr daran gelegen, seine Ansichten über Gegenwart und Zukunft zu verbergen und die Behörden irrezuleiten. Wenn man die Unverbesserlichkeit und die Zähigkeit der demokratischen Führer in Erwägung ziehe, so könne man nicht glauben, daß Jacoby, der hervorragendste unter ihnen, die Sache der Demokratie bis zum Heranwachsen einer anderen Generation verloren geben sollte; im Gegenteil, so meinte der Polizeipräsident, Jacoby schmeichle sich der Hoffnung, es werde in nicht zu ferner Zeit den Demokraten gelingen, ihre verwerflichen Grundsätze zur Geltung zu bringen. Maurach versicherte dem Innenminister, er werde fortfahren, „mit allem Eifer den Jacoby zu observieren", und unter Umständen nicht anstehen, gegen ihn einzuschreiten und eventuell ihn den Gerichten zur Bestrafung zu überweisen 57 ). Vom freudlosen Königsberger Alltag in jenen Reaktionsjahren erfahren wir nur aus Jacobys mehr oder weniger zufälligen Äußerungen. So schrieb er im Frühjahr 1857 an Fanny Lewald: „Mein hiesiges Leben — verstände ich selbst so gut zu schildern wie Sie — es gäbe ein unerquickliches Bild. Daß ich gesund und kräftig, daß ich selbstgenügsam mich zu bescheiden weiß, ist das einzig Gute. Alles sonst gehört zu den Dingen, von denen besser zu schweigen als zu reden. Königsberg und die Ostbahn sollen Euch durch die Klage des Freundes nicht noch mehr verleidet werden" 5 8 ). Jacoby unterbrach sein gleichförmiges Leben im Jahre 1857 abermals durch eine Sommerreise, über die wir nur mangelhaft unterrichtet sind. Mitte Juli hielt er sich einige Tage bei Eduard Waldeck in Berlin auf, fuhr dann zunächst nach Dresden, wo ihn Varnhagen von Ense auf der Brühischen Terrasse unerwartet traf, und begab sich sodann zu einer mehrwöchigen Kur wieder nach Schlangenbad. Während seines Berliner Aufenthalts verkehrte er fast nur im familiären Kreis seines Gastgebers Dr. med. Waldeck; in politischer Beziehung merkte die Polizei seinem Verhalten nichts Verdächtiges an. Sie meinte, er wolle nach der Kur die kaiserlich-österreichischen Staaten besuchen, konnte aber nichts Bestimmtes darüber feststellen 59). 57) Ebenda. Fol. 135 (22. Oktober 1856). 58) Jacoby an Fanny Lewald, 22. März 1857, unveröff. 59) Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Rep. 77 V I , Lit. J, Nr. 65, Fol. 137; Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 71—74; „Volks-Zeitung" Nr. 166 vom 19. Juli 1857; Karl August Varnhagen von Ense, Tagebücher, X I V , S. 16 (19. Juli 1857).

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Edmund Silberner Die Badekur scheint seine Gesundheit nicht gefestigt zu haben, denn er kränkelte viel im Winter 1857/58 6 0 ). 3. Philosophische Studien Jacoby nutzte die Ruhe und Muße der langen Reaktionsjahre zu breit angelegten philosophischen Studien. Der „eingefleischte Bücherwurm" β1 ) — wie er sich selbst nannte — las in jener Periode besonders viel und sammelte Materialien zu einer großen philosophischen Arbeit, die eigentlich sein Lebenswerk werden sollte. Es war eine recht ambitiöse Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Er hatte vor, physiologisch die Entwicklung der Sinnesund Hirntätigkeit, oder mit anderen Worten: das Gesetz des Denkprozesses zu ergründen. Ferner wollte er geschichtlich dartun, daß in dieser Erkenntnis nicht bloß das wichtigste Element für die Bahn des Kulturganges, sondern das gesuchte Gravitationsgesetz des geistigen Kosmos schlechthin gegeben sei. Endlich beabsichtigte er, publizistisch der Demokratie klarzumachen, daß das aufgefundene Gesetz die praktische Grundlage aller ihrer künftigen Bestrebungen bilde. A n Fanny Lewald und Adolf Stahr, denen er diesen Plan anvertraute, schrieb er 0 2 ): „Sie sehen, die Aufgabe ist so groß, daß die Anmaßung eines Lösungsversuchs nur allein i n d e m G e l i n g e n ihre Entschuldigung findet. Daher ist diese Mitteilung auch für n i e m a n d als f ü r E u c h b e i d e ! " Einige Abschnitte lagen bereits 1853 fertig vor; sechs Jahre später schien die Arbeit ein gutes Stück weitergebracht: der theoretische Teil „Sinn und Verstand oder das aus der Nervenphysik sich ergebende Entwicklungsgesetz unseres Empfindens, Denkens und Handelns" war beinahe vollendet, und der praktische Teil „Die Erfüllung unserer Zeit" oder der Nachweis jenes Gesetzes in der Geschichte und Folgerungen für die Zukunft waren wenigstens so weit gediehen, daß Land in Sicht kam. Zu den Vorarbeiten rechnete er so ziemlich alles, was er erfuhr, beobachtete oder las, besonders förderlich aber schien ihm das Studium der George Groteschen History of Greece (London 1846—1856; deutsch Leipzig 1850 bis 1857, 6 Bde.). I n den Jahren 1857 und 1858 fertigte er sich einen sehr umfangreichen Auszug daraus. Nächst Grote beschäftigten ihn vorzugsweise noch Eduard Roths Geschichte unserer abendländischen Philosophie 60) Jacoby an Fanny Lewald, 23. März 1858, unveröff. 61) Jacoby an Heinrich Simon, 25. Oktober 1859, unveröff. 62) 22. März 1857, unveröff.

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(Mannheim 1846—1858, 2 Bde.) und Ferdinand Lassalles Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos (Berlin 1858, 2 Bde.). Beide Werke lieferten für seinen Zweck reichlichen Stoff und manch unerwarteten faktischen Beleg. I n Rudolf Hayms Hegel und seine Zeit (Berlin 1857) fand er — trotz einer etwas schiefen Auffassung der Hegeischen Lehre — im einzelnen viel Interessantes und Neues 63 ). I m Februar 1862 meldete Jacoby Fanny Lewald weitere Fortschritte; Henry Thomas Buckle habe ihm trefflich zu verwertendes Material geboten 64 ). Wiederholt las Jacoby längere Stücke der Arbeit seinem Freund Ferdinand Falkson vor 6 5 ), war jedoch nicht gesonnen, Teile der Schrift noch vor deren Abschluß drucken zu lassen. Vergeblich bat ihn deshalb Walesrode: „Du arbeitest fleißig an Deinem mir wohlbekannten Werke, häufst Gedankenschätze auf Gedankenschätze, warum sollte es D i r schwer werden, großmütig der Welt, die dessen sehr bedarf, im voraus von Deinem Reichtume mitzuteilen?" 66 ). Aber trotz des angehäuften Materials und der Mahnungen der Freunde 67 ) kam es nicht zum Abschluß der Arbeit. Das Ziel war für die begrenzte Kraft eines Individuums zu weit gesteckt, um überhaupt erreichbar zu sein. So blieb die Arbeit, was sie bleiben mußte: ein Torso. Erst kurz vor seinem Tod entschloß Jacoby sich, einige Bruchstücke des Werkes als Einzelabhandlungen — möglicherweise leicht überarbeitet — in der von seinem Freunde Guido Weiß herausgegebenen „Wage" mitzuteilen 68 ). Leider ist die Handschrift der ganzen Arbeit seit langem verschollen, weshalb sich nicht feststellen läßt, welche Teile unveröffentlicht blieben. Jacoby selbst sorgte sich nicht sonderlich um die Beendigung des Werkes. Fanny Lewald beruhigte er im Jahre 1865: „Wenn es notwendig ist, daß durch mich meine philosophische Arbeit fertig wird, so werde ich sie machen. β3) Jacoby an Heinrich Simon, 25. Oktober 1859, unveröff.; Jacoby an die Dychsdte Buchhandlung in Leipzig, 20. November 1876, unveröff. β4) Jacoby an Fanny Lewald, 11. Februar 1862, unveröff. Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königsberg (1840—1848). Memoirenblätter. Breslau 1888, S. 55. ®β) Ludwig Walesrode an Jacoby, im Dezember 1856, unveröff. Simon Meyerowitz an Jacoby, 29. Juli 1856, unveröff.; Adolf Stahr an Jacoby, 9. Dezember 1861, unveröff. ββ) Jacoby, „Kirche und Staat*, „Zum Kulturkampf", „Das Rechtdenken", „Materialismus und Idealismus*, erstmalig 1874—1876 in der „Wage" erschienen; Wiederabdruck: Nachträge zu Dr. Johann Jacobys gesammelten Schriften und Reden, enthaltend die seit 1872 veröffentlichten Aufsätze und Reden, Hamburg: Otto Meissner 1877 (fortan als Nachträge zitiert), S. 10—24, 32—95, 101—191. 3

Königsberg

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Edmund Silberner Ist sie überhaupt notwendig für die Weltordnung, so wird sie jedenfalls gemacht werden, gleichviel ob durch mich oder einen anderen." 69 ) M i t der Wiederaufnahme philosophischer Studien begann Jacoby die Einseitigkeit des Materialismus wie die des Idealismus zu empfinden. Die von ihm veröffentlichten Resultate seines Denkens zeugen von einem bemerkenswerten Wandel: „Aus dem ehemaligen naturwissenschaftlichen Materialisten" wurde „ein metaphysischer Spinozist, aus dem mechanischen Hylozoisten ein philosophischer Monist." 7 0 ) Niemand habe, betont Jacoby, Idealismus und Materialismus schärfer und unparteiischer geschildert als Johann Gottlieb Fichte. Der große Philosoph habe die Ansicht vertreten, daß in spekulativer Hinsicht beide Systeme von gleichem Wert zu sein scheinen, beide nicht zusammenstehen können, aber auch keines gegen das andere etwas auszurichten vermag, weshalb man sich auch fürs eine oder andere nicht aus Vernunftgründen entscheiden könne. Die Entscheidung müsse eine willkürliche sein; sie werde durch Neigung und Interesse bestimmt. Der vernünftige Mensch werde sich für das eine oder das andere System erklären, je nachdem in ihm der Glaube an die Dinge oder der Glaube an das Ich (den Geist) vorherrsche. „Was für eine Philosophie man wähle", schlußfolgert Fichte, „hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist." 7 1 ) Fichte habe darin vollkommen Recht, meint Jacoby, daß er dem Idealismus und Materialismus in spekulativer Hinsicht gleichen Wert beilegt; Unrecht aber darin, daß er die absolute Unverträglichkeit beider Systeme behauptet, denn eine höhere Einheit beider Weltanschauungen sei vorhanden. Der vernünftige Mensch müsse nicht entweder Idealist oder Materialist sein. Die von Fichte aufgeworfene Frage: ob der Körper oder der Geist das Erste, Anfangende, Unabhängige sei; ob also der Materialismus zu erwählen sei oder der Idealismus — diese ganze Frage laufe auf einen leeren Wortstreit hinaus 72 ). I n Wirklichkeit fielen Körper und Geist notwendig in eins zusammen 73 ). 60) Fanny Lewald, Gefühltes und Gedachtes (1838—1888), Dresden/Leipzig 1900, S. 81 (23. Februar 1865). 70) Moritz Brasdi, Philosophie und Politik, Studien über Ferdinand Lassalle und Johann Jacoby, Leipzig [1889], S. 110. 71) Johann Gottlieb Fichte, „Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre", Sämtliche Werke, Berlin 1845, I , S. 434. 72) Jacoby, „Materialismus und Idealismus*, Nachträge, S. 104, 121 f.; ähnlich Jacoby an Jakob Moleschott, 6. Februar 1857, ebenda, S. 9. 73) Jacoby, „Materialismus und Idealismus", Nachträge, S. 117.

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„Die Einheit beruht darauf, daß sowohl Körper wie Geist wirklich existieren, beide aber in der Wirklichkeit nur ein und dasselbe sind. Es ist lediglich eine Folge unseres subjektiven Auffassens, daß wir zwischen Körper und Geist unterscheiden, d. h. daß wir ein- und dasselbe Ding bald als Körper, bald als Geist ansehen, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Namen bezeichnen. N u r die Einheit von Körper und Geist ist demnach wirklich vorhanden; die Trennung beider, der körperlose Geist und der geistlose Körper ist nichts weiter als Schein und Täuschung." 74 ) Dieser Ansicht, die weder Dualismus noch Materialismus sei, huldigt Jacoby. „Sie ist die allein naturwahre und hat seit Spinoza in der Philosophie immer mehr Geltung gewonnen." 75 ) Sie werde nicht stets nur der Sonderbesitz einzelner bevorzugter Menschen bleiben, denn sie sei dazu bestimmt, Allgemeingut aller zu werden. M i t Lessing, dem Verkünder des „neuen ewigen Evangeliums" übereinstimmend, erklärt Jacoby, es wäre eine Lästerung, den Fortschritt des ganzen Menschengeschlechts leugnen zu wollen. Ein Zeitalter werde kommen, in dem die Gattung wie die einzelnen dahin gelangt sein werden, die Tugend um ihrer selbst willen auszuüben, und in dem die gesellschaftliche Ordnung auch ohne Regierung bestehen werde. Die Einheit des Besonderen und des Allgemeinen, des Einzelnen und des Ganzen werde dann dem Bewußtsein eines jeden offenbar werden und in den Handlungen eines jeden deutlich in Erscheinung treten 76 ). Jacobys Religionsbegriff erinnert einerseits an Hegels Ansicht von der Religion als „Vorstellung der Wahrheit" und andererseits an Ludwig Feuerbachs Anthropomorphismus, 77 ) „Die Religion", sagt nämlich Jacoby, „ist eine in der Natur des Menschen begründete Geistestäuschung und ein Vorahnen der Wahrheit. Sie ist das Scheinwissen des noch auf niederer Kulturstufe stehenden Menschen: die irrtümliche, weil mangelhafte Auffassung des wirklichen, allseitigen Zusammenhangs der Dinge: der Wissenstraum von der unzerstörbaren Einheit des Weltganzen." 78 ) Indem der Mensch — unter dem Einfluß seiner Geistestäuschung — an eine Störung des Einklangs zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen glaube, zugleich aber sein Verstand und Gemüt sich gegen eine solche Störung sträubten, müsse notwendig in ihm das Verlangen nach Beseitigung 74) Ebenda, S. 102. 75) Ebenda. 7β) Jacoby, „Das Rechtdenken", Nachträge, S. 70 f. 77) Moritz Brasdi, a. a. O., S. 131. 78) Jacoby, „Zum Kulturkampf", Nachträge, S. 32. 3·

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Edmund Silberner dieses Zwiespaltes entstehen. Sein Kopf strebe nach einer vernünftigen Lösung des vermeintlichen Gegensatzes, und sein Herz sehne sich nach Wiedervereinigung mit dem Ganzen. Diesem seinem religiösen Bedürfnis zu genügen, erfinde er sich eine Gotteslehre und Gottesverehrung. D a beide das Werk seiner eigenen Einbildung seien, entsprächen sie natürlich seiner Bildungsstufe und dem Kreise seiner Vorstellungen, und da er beide für wahr halte, befriedigten sie ihm Herz und Hirn. Aber freilich gelte dies nur so lange, wie die Voraussetzungen gegeben seien. Nehme das Wissen, die Welt- und Selbsterkenntnis zu, so drängten sich dem Menschen Zweifel auf, müsse offenbar die bisherige Gotteslehre ihre beruhigende Kraft für ihn verlieren und der durch sie nur beschwichtigte Zwiespalt zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, dem Einzelnen und Ganzen aufs neue hervorbrechen. Es wiederhole sich dann — wenn auch auf höherer Entwicklungsstufe — der frühere Vorgang. Zunächst wohl versuche der Mensch durch Auslegung und Umgestaltung die überlieferte Lehre seinem neugewonnenen Standpunkt, seiner nunmehr erlangten Erkenntnis der Wirklichkeit anzupassen; gehe dies aber nicht mehr, so werfe er den alten Fetisch von sich, zertrümmere die falschen Götter, erkläre den früheren Glauben für Lügen- und Aberglauben und schaffe sich eine neue, seinem jetzigen Bildungsstand entsprechende und daher ihn befriedigende Gotteslehre. Ein weiterer Kulturfortschritt lasse auch diese wiederum als mangelhaft erkennen, und so arbeite sich der Mensch nach und nach durch alle erdenklichen, der Wahrheit sich immer mehr nähernde Hypothesen und Religionsformen hindurch, bis er endlich die richtige Lösung des Rätsels gefunden und somit die durch keinen neuen Wissensfortschritt zu zerstörende Befriedigung sich erworben habe. Die Lösung, die dem Menschen von außen, durch eine Offenbarung nicht habe gegeben werden können, die er sich selbst im Laufe der Geschichte habe mühsam erkämpfen müssen, bestehe in der richtigen Selbst- und Welterkenntnis des Menschen. Erst infolge des naturgemäßen und daher naturnotwendigen geschichtlichen Entwicklungsganges könne diese Erkenntnis reifen. Erst durch eine Reihenfolge sich abwechselnder Glaubenslehren und Religionsformen, mittels und vermöge aller vorangegangenen mangelhaften und deshalb nur zeitweise befriedigenden Lösungen des „Zwiespalts" zwischen Besonderem und Allgemeinem gelange der Mensch endlich zur Einsicht, „daß in Wirklichkeit ein soldier ,Zwiespalt 4 gar nicht besteht, daß ein Auseinanderfallen des Endlichen und Unendlichen unmöglich ist, daß eine Trennung (Abfall) des Teils vom Ganzen — außer in der Einbildung des Menschen — weder jemals stattgefunden hat noch überhaupt stattfinden kann t daß der Geist

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mit dem Körper, der Mensch mit der Natur, der einzelne mit der Gesamtheit in ungestörtem, unzerstörbarem Einklänge stehen, weil sie ein einiges untrennbares Ganze bilden" 79 ). Auf diese Weise werde der scheinbare, eingebildete Gegensatz überwunden, die religiöse Geistestäuschung als solche erkannt und das sogenannte religiöse Bedürfnis des Menschen aufhören, weil es in der Wirklichkeit seine volle Befriedigung gefunden habe. Nicht mehr in bloßen Phantasiegebilden, nicht mehr in einer erträumten anderen Welt werde er Trost und H a l t suchen; denn des Trostes bedürfe er nicht, und H a l t und Seelenfrieden biete ihm die richtige Auffassung der Natur und des wirklichen Lebens. A n die Stelle früherer religiöser Ahnungen und Wissensträume sei das wirkliche Wissen, an die Stelle des kirchlichen Aberglaubens die Erkenntnis des wahren naturnotwendigen Zusammenhänge der Dinge getreten. So müssen denn auch die unbestimmte Sehnsucht, das Verlangen nach Wiedervereinigung mit dem Ganzen (nach „Einsein mit Gott") dem Bewußtsein des nie gestörten Einklangs (dem „Schauen von Angesicht zu Angesicht") weichen. So müsse „der frühere Zwiespalt, das stete Schwanken zwischen Zweifel und Gefühlsseligkeit, zwischen Alltagstreiben und Sabbatandacht, zwischen irdischen und heiligen Regungen — dem gleichmäßigen, nidit mehr zu erschütternden Seelenfrieden, der denkenden, auf einer einheitlichen harmonischen Weltanschauung begründeten Versöhnung mit sich selbst, der aus Wissenszuversicht und Wissensseligkeit entspringenden Gemütsruhe und einer diesem Geisteszustände entsprechenden heiter-schönen Lebens{\ihruTi% Platz machen" 80 ). Dieser philosophische Glaube Jacobys — von dem man wohl sagen kann, daß er eine Substitutionsreligion ist — ermöglichte es ihm, mit sich selbst und mit „dem Ganzen" sich auszusöhnen, unerschütterlich für eine bessere Gesellschaftsordnung zu kämpfen und die ihm zahlreich beschiedenen W i derwärtigkeiten in einem Leben des Gleichmaßes zu meistern. Die Aufhebung des seines Erachtens nur vermeintlichen Gegensatzes zwischen Körper und Geist erschien ihm als hinreichende Basis für einen Seelenfrieden aller Menschen. Gegründetes Wissen und Wissensseligkeit waren ihm gleichbedeutend. Den Gedanken, daß ein Mensch an die Einheit von Körper und Geist glauben und trotzdem mit sich und der Welt zerfallen sein könne, reflektierte er nicht. 79) Ebenda, S. 34, Vgl. audi S. 32 f. 80) Ebenda, S. 35.

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Edmund Silberner Religion und Kirche sind nach Jacoby geschichtlich zu sehen und als Notbehelfe der noch ungebildeten, auf niederer Entwicklungsstufe sich befindenden Menschen zu erkennen, Notbehelfe, die diesen mit der Welt entzweiten Menschen nur einen tröstlichen Scheinersatz böten. Die Hauptbedeutung, der geschichtliche Wert der Kirche liege eben darin, daß sie — oft unbeabsichtigt — für niedere Kulturstufen ein mächtiges Förderungsmittel der Bildung, eine Vorschule und Vorbereitung zum Wissen sei. Diesen ihren Wert werde sie behalten, solange sie bestehe, solange ihre Aufgabe noch nicht vollendet sei. Als Selbsterziehungsanstalt des Menschengeschlechts habe sie keinen anderen Zweck, als sich für das Menschengeschlecht entbehrlich zu machen. Sicher sei die Zeit nicht fern, da die richtige — durch Erfahrung und Urteil berichtigte — Weltansicht zu einem Gemeingut aller geworden, die religiöse Selbsttäuschung dagegen, der Gottesaberglaube und die Theologie nur noch Antiquitäten und gleich der Alchimie und Astrologie dem Bereich der Geschichtsforschung anheimfallen würden 81 ). Jacoby hatte ehedem im Deismus die höchste, menschenwürdigste Religion gesehen und gemeint, daß das Judentum dem Deismus näher stünde als das Christentum; er hatte auch an das Allgemein werden des Deismus in der Zukunft geglaubt 82 ). Jetzt aber verneinte er ausnahmslos jede Religion, ohne sich deshalb zum Atheisten zu erklären: „Dem Atheismus", schrieb er seinem Freunde Meyerowitz, „stehe ich mindestens ebenso fern als dem Deismus" 83 ). Das von ihm vorgesehene Ende des Christentums, das er nunmehr für die „zumeist entwickelte Religion" hielt, bedeutete ihm das Ende der Religion überhaupt 84 ). Von der Selbstqual des inneren Zwiespalts erlöst, wieder versöhnt mit sich und der Wirklichkeit werde der Mensch — ohne religiöse und philosophische Gespensterscheu — sich unbefangen dem vollen Lebensgenuß hingeben 85 ). Der Kampf des Menschen gegen den Menschen, hervorgerufen durch den vermeintlichen Widerspruch der Interessen, werde jener Erkenntnis Platz machen, daß der einzelne und die Gesamtheit in vollem Einklang stehen, daß Gemeinschaft und gegenseitiger Beistand dem übereinstimmenden Interesse aller förderlicher sind als Feindschaft und gegenseitiges Ausbeuten. 81) Ebenda, S. 35—37. 82) Jacoby an Jakob Jacobson, 10. Juli 1832, „Der Jude", Bd. 1, 1916/17, S. 674. 83) Jacoby an Simon Meyerowitz, 24. August 1857, unveröff. 84) Jacoby, „Zum Kulturkampf", Nachträge, 85) Ebenda, S. 169.

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Hiermit sei freilich nicht nur der Kirche, sondern auch dem Staate der Boden entzogen. Wie die Kirche, so sei audi der Staat während der Periode scheinbarer Entzweiung notwendig, beide nur eine Vorschule des Menschengeschlechts, ohne anderen Zweck, als sich selbst entbehrlich zu machen 86 ). Staat und Kirche, einst die offenbaren Kulturanstalten der Menschheit, seien allmählich zu Zwangsmitteln geworden, durch welche die hinter der Bildung und Sitte ihrer Zeit Zurückgebliebenen die Vorangeschrittenen zu hemmen, sie zu sich herabzuziehen suchten. Allein Wahrheit und Recht seien unüberwindliche Mächte und die Geschichte die Selbsterziehung des Menschengeschlechts zur Geistes- und Willensfreiheit 87 ). Wer die wüsten, chaotischen Zustände der Gegenwart in ihrem Zusammengang erfasse, sehe darin zwar den bevorstehenden Untergang von Staat und Kirche, wisse aber auch, daß aus dem gärenden Chaos die neue Schöpfung, aus der mittelalterlichen, auf Zwang und Vorrecht begründeten Gesellschaft das Zeitalter der Freiheit und Sittlichkeit hervorgehen müsse88). Der sittliche Mensch bedürfe weder der tröstenden Hilfe des Priesters noch der schützenden Vormundschaft des weltlichen Herrschers. In sich, im eigenen Denken und Handeln, im freiwilligen Zusammenwirken mit seinesgleichen finde endlich der Mensch, was er vergeblich außer sich gesucht89). „Es beginnt die Periode der selbstbewußten Menschheitsgeschichte" 90). Die Erkenntnis, daß jeder Mensch durch sein Leben eine ihm eigentümlich zukommende Aufgabe für die naturgemäße Fortbildung des Ganzen zu lösen habe, führe nicht nur zu einer richtigen Auffassung des menschlichen Tuns und Treibens überhaupt, sondern auch zur Anerkennung und Achtung der Menschenwürde in jedem Individuum. Die Gleichberechtigung aller beruhe eben darauf, daß jedes Einzelleben mit seinem besonderen, spezifischen Charakter zur Harmonie des Ganzen gehöre, alle mithin ohne Ausnahme den gleichen Anspruch hätten, ihrem individuellen Charakter gemäß sich zu entwickeln und geltend zu machen. Ohne Beschränkung und Verkümmerung müsse der Persönlichkeit ihr volles Recht zuteil werden. Weder die Machtvollkommenheit des Fürsten nodi die des Volkes, sondern die Machtvollkommenheit jedes einzelnen Menschen, die individuelle Freiheit aller, sei die sittliche Grundlage der Gesellschaft 91). 86) Ebenda. 87) Ebenda, S. 176, 185. 88) Ebenda, S. 173. 89) Ebenda, S. 175, 178. 90) Ebenda, S. 191. 91) Ebenda, S. 153.

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Edmund Silberner Der alte Streit über die Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens ist Jacoby zufolge ein bedeutungsloses Wortgefecht. Beide Parteien hätten nicht zur vollen Wahrheit gelangen können, weil jede von ihnen nur eine Seite des Menschen berücksichtigt habe. Die Freiheitslehrer (die Indeterministen) hätten in ihrer Betrachtung getrennt, was in Wirklichkeit nie getrennt vorkomme: das Individuum von der Natur und Menschheit und im Individuum wiederum den Geist vom Körper, das Denken vom Empfinden, die Vernunft vom niederen sinnlichen Begehrungsvermögen; mittels dieser künstlichen Scheidung seien sie zu dem Resultat gelangt, daß das Tun und Lassen des Menschen von ihm selbst, von seinem freien Willen abhänge. Die Deterministen dagegen hätten zwar den Menschen aufgefaßt als ein einiges, von der Entwicklung der Natur und Menschheit bestimmtes, abhängiges Wesen, hätten aber übersehen, daß er zugleich — als selbständiger Teil des Ganzen, vermöge der ihm eigentümlichen Persönlichkeit — zum Bestehen und zur Entwicklung des Ganzen selbständig mitwirke. Erasmus in seiner Schrift „De libero arbitrio" (1524) und Luther in seiner Antwort „De servo arbitrio" hätten beide recht und unrecht zugleich. Ihr eignes Handeln diene als Beleg dafür. Beide Männer seien von den Lebensund Zeitverhältnissen, unter deren Einfluß sie standen, bestimmt worden — der eine für, der andere gegen die Freiheit des menschlichen Willens zu schreiben; sie hätten so gehandelt, weil sie — den einmal gegebenen Umständen nach — nicht anders hätten handeln können, also aus Notwendigkeit. Beide hätten aber zugleich aus innerer Neigung geschrieben, weil jeder von ihnen seiner aus besonderen Verhältnissen hervorgegangenen Eigentümlichkeit wegen nicht anders hätte schreiben mögen; sie hätten folglich aus freiem Willen und eigner Wahl gehandelt. Luther und Erasmus seien hier zugleich frei und unfrei gewesen; unfrei, weil sie voneinander und von den Verhältnissen ihrer Zeit abhingen — frei, weil jeder seinem eignen Charakter gemäß, d. h. selbständig auf den anderen wie auf seine Zeit einwirkte. Jede Tat des Menschen entspreche der Natur des Ganzen, dem er angehöre; sie entspreche aber ebensosehr seiner eignen Natur, die unter dem Einfluß des Ganzen sich eigentümlich ausgebildet habe. Jede einzelne Tat sei mithin ebensosehr dem Ganzen oder der Gesellschaft wie dem Handelnden selbst zuzurechnen. Werde eine Handlung in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte oder der allgemeinen Entwicklung der Dinge aufgefaßt, so sei sie notwendig zu nennen; werde sie dagegen nur in bezug auf den

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Handelnden, als Folge seiner besonderen Natur betrachtet, so sei sie frei zu nennen 92 ). „Wie kann aber ein und dieselbe Tat zugleich frei und notwendig, zugleich Folge und Natur des einzelnen und Folge der Natur des Ganzen sein? Soll hier kein Widerspruch liegen, so müßte überall zwischen der Natur des Ganzen und der des einzelnen volle, ungetrübte Übereinstimmung herrschen; es müsse jedermann aus innerer Neigung, in Folge seiner besonderen (individuellen) Natur und Entwicklung immer gerade nur das tun, was der Natur und Entwicklung des Ganzen angemessen und erforderlich; aus eigener Wahl, aus freiem Willen müßte jeder Mensch gerade den Weg einschlagen, der durch die Natur des Ganzen ihm vorgezeidonet und als notwendig bestimmt wird. Und dies ist allerdings der Fallì Der einzelne und das Ganze tun einander zu keiner Zeit auf keinerlei Weise Eintrag; beider Naturen, weit entfernt unvereinbare Gegensätze zu sein, bilden vielmehr zusammen einen so vollkommenen Einklang, daß in der Wirklichkeit zwischen ihnen nie audi nur der mindeste Zwiespalt besteht. Wie sollte es auch anders sein? Entwickelt sich doch die Natur jedes einzelnen Menschen — wenn auch unter verschiedenen, nur ihm eigentümlichen Verhältnissen — zugleich stets unter dem fortdauernden Einflüsse des Ganzen; und wird doch wiederum die Natur des Ganzen — mag man ein bestimmtes Zeitalter oder die Geschichte der Menschheit überhaupt ins Auge fassen — durch nichts anders gebildet als durch die Gesamtheit der verschiedenen Einzelnaturen" 9*). Grundsätzlich dieselben Anschauungen, die Jacoby in seinen soeben besprochenen Abhandlungen entwickelt, begegnen auch in dem Aufsatz „Hegel und die Nachgeborenen", den er — seine achtjährige publizistische Pause beendend — 1858 in Julius Rupps „Königsberger Sonntagspost" veröffentlichte. Es kam ihm ganz sonderbar vor, nach so langer Frist sich wieder einmal gedruckt zu sehen 94 ). Den Anlaß bildete das kurz zuvor erschienene Werk „Hegel und seine Zeit" von Rudolf Haym, in dem die Hegeische Lehre, ja die Philosophie schlechthin verworfen wurde. Jacoby bestreitet energisch, daß alle philosophische Theorie abgetan und nunmehr durch den Fortschritt der Welt und die lebendige Geschichte ersetzt sei. Was ihn in Harnisch brachte, war, wie Moritz Brasch mit Recht hervorhebt, daß der im Namen des sogenannten „gesunden Menschenverstandes" auf»2) Ebenda, S. 153 f. 83) Ebenda, S. 155. 94) Jacoby an Fanny Lewald, 23. August 1858, unveröff.

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Edmund Silberner tretende H a y m „seine polemischen Pfeile nicht nur mit dem Gefieder der spitzfindigsten Sophistik ausstattete, sondern sie noch dazu mit dem übelriechenden Gifte der Verleumdung und der Perfidie beschmierte" 95). Jacoby war überzeugt, daß Hegels Geschichtsauffassung jtrotz mancher reaktionärer Einzelzüge von einem demokratisch-progressistischen Geist durchweht sei. Hegel war ihm der — wenn auch nicht immer konsequente — Fortsetzer der pantheistischen Grundidee Spinozas. Auf diesen Punkt konzentrierte Jacoby seine Abwehr des Haymschen Angriffs 96 ). H a y m leugne das Vorhandensein philosophischer Ideen in der heutigen Welt, weil er nicht merke, daß sie bereits konkrete Gestalt angenommen und Macht gewonnen hätten. „Schmähen wir die Gegenwart nicht!", ruft Jacoby aus. „Das Schwerste liegt hinter uns: der Weg ist gebahnt, die Sehnsucht nach Umgestaltung der Dinge ist mächtig und allgemein. Wie verschieden auch die Form, in der diese Sehnsucht sich kundgibt, wie verwirrend bunt auch das Bild, das die Bestrebungen der Zeit darbieten, in diesem scheinbaren Durcheinander waltet still, aber unablässig wirkend ein einigender Gedanke: ein Ziel ist es, dem die Strömung in der Tiefe unausgesetzt zustrebt. Die Klärung der auf der Oberfläche gärenden Masse, die Versöhnung der streitenden Ideen und Interessen — die Erfüllung unserer Zeit wird nicht ausbleiben. Für den Sehenden lebt diese Zukunft schon in der Gegenwart — den Blinden wird der kommende Tag die Augen öffnen. Dann wird es auch Haym und seinesgleichen klarwerden, daß die Philosophie kein herabgekommenes, unnützes Luxusgesâiih war, dann wird man auch der Hegeischen Philosophie gerecht werden und anerkennen, daß — trotz aller seiner Irrtümer und Mängel — Hegel ein Erwecker unserer Zeit ist" 9 7 ). II. DIE NEUE ÄRA 1. Wiedereintritt in die Politik Als im Oktober 1857 Prinz Wilhelm seinen geistig erkrankten Bruder, den König Friedrich Wilhelm I V . , zu vertreten begann, zeichnete sich schon die Möglichkeit ab, daß das Reaktionssystem ein Ende fände. I m 95) Brasdi, a. a. O., S. 91. 96) Ebenda.

97) Jacoby, „Hegel und die Nachgeborenen" in der „Königsberger Sonntagspost für Religion, öffentliches Leben, Wissenschaft und Kunst* Nr. 31 vom 1. August 1858, S. 247. Wiederabdruck des Aufsatzes in Jacobys Gesammelten Schriften und Reden, Hamburg 1877, II, S. 87—95.

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November 1858 dann, einen Monat nach seiner Ernennung zum Prinzregenten, entließ er das reaktionäre Ministerium Manteuffel und berief ein neues Kabinett, das aus gemäßigt-liberalen Aristokraten zusammengesetzt war. Preußen, so hieß es in seiner Ansprache an das neue Kabinett, müsse in Deutschland moralische Eroberungen machen. Obgleich er betonte, von einem Bruch mit der Vergangenheit solle nicht die Rede sein, begrüßte man im bürgerlichen Lager — von den Altliberalen bis hin zu den Demokraten — den von ihm eingeschlagenen Kurs als den Anbruch einer „Neuen Ära" und erklärte sich bereit, das konstitutionelle Ministerium zu unterstützen. Schon die nächste Zukunft sollte zeigen, daß die überschwänglichen Hoffnungen vom Herbst 1858 unbegründet waren. Vorerst aber herrschte allgemeiner Jubel im Lande. Man rüstete sich zu den Abgeordnetenhauswahlen vom November 1858. Zum erstenmal seit Jahren gingen die Demokraten wieder zu den Urnen; gleichwohl verzichteten sie darauf, eigene Kandidaten aufzustellen. Das Losungswort sowohl der liberal-konstitutionellen wie der demokratischen Partei war: man dürfe die Regierung nicht drängen, man müsse sie unterstützen. Die Rechte erlitt bei den Wahlen eine vollständige Niederlage; die Liberalen errangen die absolute Mehrheit 1 ). Jacoby betrat aufs neue den politischen Kampfplatz. M i t Julius Rupp gehörte er zu den prominentesten Mitgliedern des demokratischen „Komitees für unabhängige Wahlen", das sich in Königsberg bildete. Bereits im Sommer 1858 erkundigte sich Rupp bei Jacoby, wie er zur Wahlbeteiligung stehe. Jacoby antwortete, daß, wenn er auch keine Wahl annehmen werde, er doch zur Teilnahme an der Wahl und an den zu veranstaltenden Wahlversammlungen bereit sei2). Das 22köpfige Komitee zählte mehrere langjährige Jacoby-Anhänger, so Karl Ludwig Bender, Martin Otto Ballo, Walter Leisler und den Arzt Robert Motherby. Von den Gegnern wurde es verschrien als „ein Komitee von Demokraten des reinsten Wassers, von Republikanern, Freigemeindlichen, Juden, Doktoren, Handwerkern" oder wie sonst die schmückenden Beiwörter lauteten 3 ). Das Komitee gab am 5. November 1858 sein Programm bekannt, das, wie wir von Karl Witt erfahren, aus Jacobys und Rupps Feder stammte 4 ). Das 1) Vgl. Heinrich August Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat, Tübingen 1964, S. 3 f.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1963, I I , S. 269 ff. 2) Julius Rupp an Heinrich Röckner, 16. August 1858, in Rupps literarischer Nachlaß, Königsberg 1892, I I I , S. 51. 3) Jacoby, Gesammelte Schriften und Reden, I I , S. 103. 4 ) Karl Witt an Leopold von Hoverbedc, 13. November 1858, in Sebastian Hensel, Karl Witt, ein Lehrer und Freund der Jugend, Berlin 1894, S. 111.

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Edmund Silberner Programm gelangte durch die Presse zu ziemlicher Publizität 6 ). Jacoby erläuterte es in zwei Reden, gehalten vor Königsberger Urwählern 6 ). Eingangs erklärte er es als ein erfreuliches Zeichen der Zeit, daß die demokratische Partei nach neunjähriger Passivität wieder ihre Tätigkeit aufnehme. Der Grund, weshalb sie die traurige Politik der Untätigkeit zu der ihren gemacht, sei allgemein bekannt. „Lassen Sie mich", merkte Jacoby nur an, „darüber mit Schweigen hinweggehen. Wir wollen die Vergangenheit der letzten Jahre als ernste Lehre, als unaufhörlich mahnende Warnung uns fest ins Gedächtnis prägen, nicht aber wollen wir durch solche Erinnerung uns zu dem Gefühle leidenschaftlicher Bitterkeit, zum selbstverblendenden Parteihaß gegen politische Gegner hinreißen lassen"7)! Alle Parteien hätten in der jüngsten Vergangenheit gefehlt. Ob die eine mehr als die andere, wer wolle das jetzt schon entscheiden. Die Partei sei die achtenswerteste, die am meisten aus der Vergangenheit lerne, die am deutlichsten ihre Fehler einsehe, am bereitesten sei, sie offen und ehrlich einzugestehen. Hauptsächlich zwei Vorwürfe bekämen die Demokraten von ihren Gegnern zu hören. Man bezichtige sie, die Demokraten des Jahres 1848/49, vielleicht mit Recht, ungestümen Handelns und unpolitischer Überstürzung. Woraus aber sei dieses Ungestüm, das sogenannte Uberstürzen entsprungen? Aus politischem Mißtrauen, das, wie die letzten neun Jahre genügsam bezeugen, vollberechtigt gewesen sei. Die Ursachen, die die Bewegung von 1848 hätten scheitern lassen, seien wahrlich tiefer zu sudien als in dem U n gestüm und der leidenschaftlichen Hast einzelner Demokraten. — Jacoby ging aber auf die eigentlichen Gründe nicht weiter ein. Ferner, sagte er, höre man die Widersacher der Demokratie allenthalben behaupten: die Demokraten seien politische Idealisten. Freilich lasse es sich nicht leugnen, daß es im Jahre 1848 einzelne Demokraten gegeben habe, die damals für Preußen eine andere als monarchische Regierungsform für möglich gehalten hätten. Sie seien im Irrtum gewesen und hätten ihren Irrtum bitter gebüßt. Seien aber diejenigen unter den Gegnern weniger Idealisten gewesen, die von einem Ministerium Manteuffel das Heil kon5) „National-Zeitung" Nr. 520 und Nr. 540 vom 6. und 19. November 1858; „VolksZeitung" Nr. 262 vom 7. November 1858; „Königsberger Sonntagspost" Nr. 45 vom 7. November 1858. β) Jacoby, Die Grundsätze der preußischen Demokratie. Zwei Reden gehalten in der Königsberger UrwählerverSammlung am 10. und 11. November 1858. Berlin: Franz Duncker 1859, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Jacobys Gesammelte Schriften und Reden I I , S. 96—108. 7) Ebenda, S. 96 f.

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stitutioneller Freiheit erwartet hatten? Seien etwa die weniger Idealisten, die für Preußen eine absolute Regierung, eine Junkerherrschaft oder ein reines Militär- und Polizeiregime auf die Dauer für möglich erachtet hätten? Vorbei sei die Zeit, da man die Demokratie habe als Popanz benutzen können, um ängstlichen Gemütern Furcht einzujagen. Jetzt gebe es „in der ganzen demokratischen Partei nicht einen einzigen, der für Preußen, wie es ist, eine andere als monarchische Staatsform zu wollen, geschweige zu erstreben sich nur im Traume einfallen läßt" 8 ). Das von dem „Komitee für unabhängige Wahlen" vorgelegte Programm stelle mehr als ein bloßes Wahlprogramm dar; es sei das vollständige, aufrichtige Programm für das künftige politische Wirken aller demokratisch gesinnten Preußen. Es enthalte vier Grundsätze: Ehrerbietung dem Könige, Achtung der Landesverfassung 9), Selbstverwaltung der Gemeinden und Gleichberechtigung aller Bürger. Das Programm wolle also nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine verfassungsmäßige Monarchie auf der echt demokratischen Grundlage der Selbstverwaltung und Gleichberechtigung. Aus den Grundsätzen ergebe sich, was fernerhin begehrt werde: Wiedereinführung des gleichen Wahlrechtes, Abschaffung jeder Bevorzugung in der Steuergesetzgebung, Revision der Presse- und Vereinsgesetze sowie Lehrund Religionsfreiheit. Diese Punkte seien als Wünsche und nicht als sofort zu erfüllende Forderungen anzusehen. Das Programm verzichte absichtlich darauf, die Regierung ungebührlich zu drängen; es enthalte kein Wort von einer festgesetzten Zeit oder gestellten Bedingung. Das neue Ministerium, betonte Jacoby, habe fürs erste vollauf zu tun, Verwaltung und Verwaltungsbeamte ins richtige konstitutionelle Geleise zu bringen. „Dazu bedarf es der kräftigen Unterstützung unserer Abgeordneten", rief Jacoby aus, „dazu bedarf es unserer aller Unterstützung, und die wollen wir ihm redlich und aufrichtig zuteil werden lassen. Sicherlich werden dann zur Zeit auch die im Programm ausgesprochenen einzelnen Wünsche in Erfüllung gehen. Nur, um über unsere Absicht keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, war es erforderlich, schon jetzt die Wünsche der demokratischen Partei bestimmt und insbesondere kundzutun" 1 0 ). S) Ebenda, S. 98. Gemeint ist die revidierte Verfassung von 1850. 10) Jacoby, ebenda, I I , S. 99 f.

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Edmund Silberner Daß Jacoby, zu diesem Zeitpunkt, als er zum erstenmal seit 1849 eine Beteiligung an den Landtagswahlen empfiehlt, sich so nachdrücklich auf den Rechtsboden der revidierten Verfassung von 1850 stellte, mußte auffallen. Viele seiner Zuhörer — und Leser! — hatten ja noch in Erinnerung, wie energisch er die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 bekämpft hatte. Jacoby zog hier die Lehre aus der Niederlage von 1849; gleichwohl war seine Bereitschaft, die konstitutionelle Regierung zu stützen, nicht vorbehaltlos. Als Gegenleistung der Staatsregierung erwarteten er und seine demokratischen Gesinnungsgenossen, „die gewissenhafte Handhabung der bestehenden Landesverfassung sowie die freisinnige Fortbildung derselben auf gesetzlichem Weg" 1 1 ). „Ehrerbietung dem Könige! Achtung der Landesverfassung!" Diese Worte, sagte Jacoby, seien an die Spitze des demokratischen Programms gestellt worden, im vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung — ein unzweideutiges Zeugnis, daß die Demokraten gewillt seien, innerhalb dieser von ihnen aufrichtig anerkannten Schranke zu wirken; daß es ihnen fernliege, unerreichbaren politischen Idealen nachzujagen; daß sie nichts anderes erstrebten, als auf dem bestimmt umgrenzten Boden der verfassungsmäßigen Monarchie das demokratische Prinzip zur Geltung zu bringen. Indem der Demokrat anerkenne, daß dem König Ehrerbietung entgegenzubringen sei, werde er doch nicht dem Grundsatz der Gleichberechtigung untreu. Er genüge hiermit nur einer durchaus gerechten, im Bedürfnis des preußischen Volkes wie in der Entwicklung des Vaterlandes begründeten Forderung. Ebenso stehe es mit der Achtung der Landesverfassung. Die geltende Staatsverfassung sei das geistige Erbe der Nationalversammlung von 1848: weder Oktroyieren noch Revidieren habe den Stempel ihres Ursprungs zu tilgen vermocht. Die Verfassungsbestimmungen über bürgerliche und religiöse Freiheit, über Selbstverwaltung und Gleichbesteuerung, über das Vereinsrecht und die anderen Grundrechte des preußischen Volkes seien klar und deutlich gefaßt. Sie seien eine Freiheitssaat, die unter der Mißregierung der abgetretenen Minister nicht habe gedeihen können, die aber unter verständigen Ratgebern der Krone zu herrlichen Früchten heranreifen werde. N u r eines redlichen Willens, einer gewissenhaften Ausführung bedürfe es, um das bestehende Gesetz zur Grundlage eines befriedigenden Rechtszustandes, eines kräftigen und gesunden Volkslebens zu machen. Zusammenfassend erklärte Jacoby: Demokrat sei jeder, der die Grundsätze der Selbstregierung und Gleichberechtigung bekenne und bestätige; preußi11) Ebenda, S. 99. Vgl. Winkler, a. a. O., S. 5.

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scher Demokrat sei, wer diese Grundsätze anerkenne und sie innerhalb der monarchisch-konstitutionellen Regierungsform auf dem von der preußischen Landesverfassung gebotenen Wege zu verwirklichen bestrebt sei. Hiermit sei zugleich der Unterschied zwischen der verfassungsmäßig-demokratischen Partei und den anderen politischen Parteien ausgesprochen. Während die kleine, bislang mächtige konservative Partei der Absolutisten und Feudalisten die konstitutionelle Staatsverfassung bekämpfe, habe der demokratische Abgeordnete für ihre gewissenhafte Handhabung und freisinnige Fortbildung in die Schranken zu treten. Der Partei der gemäßigtliberalen Gothaer gegenüber, die das Sonderinteresse der Geldaristokratie vertrete, für Standesrechte, Wahlzensur und andere künstliche Unterscheidungen schwärme, werde er das Gesamtinteresse des Staats, den Grundsatz der Gleichberechtigung aller aufrechterhalten 12). I n einer Wahlmännerversammlung vom 15. November 1859, der Jacoby präsidierte, legte er den Anwesenden dringend nahe, nur solchen Kandidaten ihre Stimme zu geben, die die Sache der demokratischen Partei zu vertreten geeignet seien: es komme jetzt darauf an, das Ministerium zu unterstützen, eine kräftige Unterstützung aber sei nur von demokratischen Deputierten zu erwarten 13 ). Jacoby gab sich die große Mühe, ein gemäßigtes, den Umständen entsprechendes Programm aufzustellen. Die Respektierung der damaligen preußischen Verfassung war in seinen Augen kein Verrat am demokratischen Ideal, denn er erkannte sie nur als Ausgangspunkt für eine stufenweise demokratische Umgestaltung des Landes an. Er sagte nichts Unwahres, wiewohl es übertrieben klingen mochte, wenn er in dem oben angeführten Passus versicherte, es sei seine innerste Uberzeugung, daß es jetzt keinen einzigen Demokraten gebe, „der für Preußen, wie es ist, u) eine andere als monarchische Staatsform zu wollen, geschweige zu erstreben sich nur im Traume einfallen" lasse. Der Akzent liegt hier auf „Preußen, wie es ist", was vielleicht nicht jedem deutlich war. So behauptete in den „Preußischen Jahrbüchern" ein Anonymus — es war wohl deren Redakteur Rudolf H a y m —, man müsse in der Tat wie Jacoby „die Naivität eines Kindes besitzen", um diese Überzeugung zu teilen 15 ). I n der Wendung 12) Jacoby, a. a. O., S. 104—108. 13) „Königsberger Hartungsche Zeitung" Nr. 269 vom 17. November 1858, S. 1647 Beilage. 14) Hervorhebung von mir. 15) „Preußische Jahrbücher", Jg. 1858, Bd. 2, S. 687.

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Edmund Silberner „Preußen, wie es ist" steckte ein Gutteil ausgefeilter Ironie, die der Anonymus nicht bemerkte oder zu bemerken nicht geneigt war. Jacoby verzichtete von vornherein auf eine Königsberger Kandidatur, weil er sich den Vorwurf ersparen wollte, persönlich an ihr interessiert zu sein 16 ). Die Partei stellte drei Kandidaten für das Abgeordnetenhaus auf: den Gutsbesitzer und vormaligen Oberlehrer Karl Ludwig Bender, den Lehrer Karl Witt und den Rechtsanwalt Friedrich Gustav Stolterfoth 17 ). Die Partei verfügte höchstens über den vierten Teil der Wahlmänner, und keiner ihrer Kandidaten drang durch 18 ). Es siegten die Gothaer. Das war vermutlich keine große Überraschung für Jacoby, dessen Aktivität nicht so sehr auf die Wahlen als vielmehr auf eine Neubildung der durch neunjährige Untätigkeit fast aufgelösten demokratischen Partei hinzielte 19 ). N u r zögernd und widerstrebend Schloß sich Jacoby der Wahlpropaganda an. Anfänglich versuchte er alles, um die Partei von der Wahlurne fernzuhalten. Er legte dar, daß die Lage der Demokraten eine treffliche sei, daß die Zeit des Handelns bald kommen werde, vorerst aber den Gothaern das Feld gehöre, die lediglich für die Demokraten arbeiteten, und zwar um so besser, je weniger sie durch die Mitwirkung der Demokraten ins Bockshorn gejagt würden. Doch das war in den Wind geredet! „Wählen" blieb nur mal die Losung. „Wollte ich", vertraute Jacoby Fanny Lewald an, „nicht vereinzelt dastehen — ein Feldherr ohne Armee, so muß te ich — wohl oder übel — mithalten. So machte ich denn nur die eine Bedingung, daß wir wenigstens mit offenem Visier und fliegender Fahne die Wahlstatt betreten" 20 ). Schon bald nach Jacobys erläuternden Reden zum Königsberger demokratischen Programm — dessen Entstehungsgeschichte wir hier nur kurz skizzieren konnten — fanden seine Besorgnisse ihre erste und im Laufe der Zeit ihre volle Rechtfertigung. A m 17. November 1858 wies der Innenminister von Flottwell in einer Zirkularverfügung alle Regierungspräsidenten und Landräte an, auf jedem gesetzlichen Weg überall den in den Wahlversammlungen geäußerten „irrtümlichen Meinungen und Ansprüchen" entgegenzutreten. Alte Verdächtigungen der Demokratie wurden wieder aufgel«) „Volks-Zeitung* Nr. 271 vom 18. November 1858 („Königsberg, 15. Nov.*). 17) „National-Zeitung* Nr. 532 und Nr. 535 vom 14. und 16. November 1858. 18) Augsburger „Allgemeine Zeitung* Nr. 332 vom 28. November 1858, S. 5356 ("Königsberg, 23. Nov.*). 10) Jacoby, Rede in der Königsberger Wahlmännerversammlung vom 15. November 1858; „Volks-Zeitung* Nr. 276 vom 24. November 1858 („Königsberg, 20. Nov.*). 20) Jacoby an Fanny Lewald, 24. November 1858, unveröff.

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wärmt. Das Breslauer Komitee für unabhängige Wahlen bedauerte öffentlich, daß es sich an den Wahlen beteiligt hatte. Tribunalsrat Waldeck, von Unruh, Schulze-Delitzsch und selbst Rodbertus verzichteten auf eigene Kandidaturen. „Bedarf es weiterer Zeugnisse? Gothaer — ,Leute mit glatten Köpfen' — sind die Helden des Tages. Gönnen wir ihnen den kurzen Siegesrausch; sie werden zeitig genug uns Reuegeld zahlen" 2 1 ! D a Jacoby bei den Landtags wählen des Jahres 1858 nicht generell, sondern nur hinsichtlich Königsbergs auf eine Kandidatur verzichtete, 22 ) dürfen wir annehmen, er habe mit der Möglichkeit gerechnet, daß ein anderer Wahlkreis ihn nominieren würde 2 3 ). Wenn dem so war, so irrte er. Jacoby hatte sich, wie Eduard Waldeck bemerkt, den Ruhm erworben, von der ganzen Linken des Jahres 1848 „die gefürchtete Vogelscheuche des Ruhe und Ordnung liebenden, sehr achtbaren Philistertums zu sein" 24 ); er hatte folglich keine Chance, gewählt zu werden. Als man in Berlin Wahlvorschläge machte, nannte ein Dr. Storch auch Jacoby. Der Vorschlag wurde mit 63 Handzeichen unterstützt. Das Wahlkomitee hattte pflichtgemäß bei allen vorgeschlagenen Kandidaten anzufragen, ob sie eventuell eine Wahl annehmen würden. Einige Tage später berichtete in einer abermaligen Versammlung der Vorsitzende, es sei an alle geschrieben worden, mit Ausnahme eines, worüber Rechtsanwalt Deycks als Mitglied des Wahlkomitees berichten werde. Deycks teilte draufhin mit, er habe dem Professor oder Doktor Jacoby nicht geschrieben, weil er nicht gewußt habe, wer gemeint sei, und frage deshalb nun, ob es sich um den Jacoby handele, der seinerzeit an einer Deputation der preußischen N a tionalversammlung nach Potsdam teilgenommen habe. Storch bejahte dies, worauf Deycks ihn ersuchte, seinen Vorschlag zurückzuziehen, da das Wahlkomitee angesichts des Verlaufs jener Deputation nicht glaube, die Kandidatur aufrechterhalten zu können. Storch erklärte, er werde es tun, wenn man ihn dazu zwinge. Der Vorsitzende erwiderte, daß von Zwang keine Rede sein könne, er, Storch, werde nur ersucht, den Vorschlag zurückzuziehen. Das geschah denn auch. „Kein einziger Mund", meldete Waldeck seinem Vetter Jacoby, „der zu den 63 erhobenen Armen gehörte, öffnete 21) Ebenda. Ähnlich Jacoby an Friedrich Zabel, 22. November 1858, unveröff., und Jacoby an Aaron Bernstein, 23. November 1858, unveröff. 22) „National-Zeitung" Nr. 539 vom 18. November 1858; „Volks-Zeitung* Nr. 271 vom 18. November 1858. 23) Vgl. Eduard Waldeck an Jacoby, 19. November 1858, unveröff., wo „die Möglichkeit der Annahme eines Mandats" seitens Jacoby erwähnt ist. 24) Eduard Waldeck an Jacoby, 24. November 1858, unveröff. 4

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Edmund Silberner sich, um das Ungerechte und Ordnungswidrige in diesem Verfahren zu r ü g e n . . . Übrigens versichert mich mein Berichterstatter, daß nichts Ungebührlidies oder Beleidigendes gegen Dich ausgesprochen wurde" 2 5 ). I m ersten Augenblick aufwallenden Zornes übergab Jacoby der „NationalZeitung" eine Erklärung gegen Deycks, in der er sich auf die Dankadresse berief, die Schulze-Delitzsch und andere Deputierte des linken Zentrums ihm für sein würdiges Auftreten gegenüber dem König an jenem denkwürdigen 2. November 1848 hatten zukommen lassen. Friedrich Zabel, der Redakteur des Blattes, war freilich der Meinung, die Erklärung könne der Sache, insbesondere dem in Berlin kandidierenden Schulze-Delitzsch nur schaden, und rückte sie deshalb nicht ein. Als Jacoby sich beruhigt hatte, billigte er Zabels Verhalten. Er behielt sich aber vor, nach beendeter Wahl auf die Angelegenheit, da sie von der Konstitutionellen angezettelt, in geeigneter Weise zurückzukommen. Das geschah jedoch, soviel wir wissen, nicht 26 ). Jacoby war Mitglied der Königsberger Kant-Gesellschaft, die den Geburtstag des Philosophen alljährlich mit einer Festansprache feierte 27 ). A m 22. April 1859 hielt er dort eine Rede über „Kant und Lessing", eine geistvolle Parallele, in der es ihm gelang, überraschende gemeinsame Züge der beiden Männer zu entdecken28). Den äußeren Anlaß zu dieser Rede hatte Adolf Stahrs kurz zuvor erschienene Lessing-Biographie abgegeben, ein Werk, das Jacoby fesselte und begeisterte 29). Stahr zufolge war Jacoby der erste, der die Geistesverwandtschaft von Kant und Lessing erörterte 30 ). Philosophieren aber war für Jacoby oft eine Gelegenheit zum Politisieren. I n seiner Rede deutet er die eigne Zeit als eine auf höherer Stufe stehende Aufklärungsperiode. Die Gegenwart sei unbefriedigt von einer Literatur, die dem Volke und dem öffentlichen Leben fernstehe, von einer Philosophie, die, was sie verheiße, nicht erfülle — sie kehre den Blick zurück auf die Vergangenheit und sehe in ihrem Kampfe für Geistes- und Tatfrei25) Eduard Waldeck an Jacoby, 24. November 1858, unveröff. Vgl. audi „Politische Korrespondenz, Berlin 10. Dezember" in den „Preußischen Jahrbikhern", Jg. 1858, Bd. 2, S. 684. 26) F.Zabel an Jacoby, 19. November 1858, unveröff.; Jacoby an F.Zabel, 22. November 1858, unveröff. 27) Zur Geschichte dieser Gesellschaft vgl. Rudolf Unger in Festgabe Philipp Strauch zum 80. Geburtstag, Halle 1932, S. 137—144. 28) Moritz Brasdi, Philosophie und Politik. Studien über Ferdinand Lassalle und Johann Jacoby, Leipzig [1889], S. 87. 29) Jacoby an Adolf Stahr, 28. Januar 1859. 30) Adolf Stahr, G. E. Lessing, 7. Aufl., Berlin 1873, I, S. 293.

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heit sich nach geeigneten Mitstreitern um. „Und wer kann dazu mehr geeignet, wer kann ihr da willkommener sein als Männer wie Kant und Lesstngf Daher jetzt die Rückkehr zu beiden. In unserer Zeit erst wird der hohe Wert ihrer Leistungen anerkannt, wird ihrem tatkräftigen, rücksichtslosen Streben nach Wahrheit und Freiheit volle Gerechtigkeit zuteil" 8 1 ). I m Herbst 1859 betätigte sich Jacoby im Königsberger Komitee zum hundertsten Geburtstag Friedrich Schillers und nahm an der Gründung einer Schiller-Stiftung teil 8 2 ). A m 7. November 1859 hielt er im Königsberger Handwerkerverein die Festrede über den Lieblingsdichter der deutschen Nationalbewegung 83 ). Er betrachtete Schiller nicht allein als Dichter, sondern auch als Freiheitskämpfer, als Propheten des deutschen Volkes und als Werkmeister der von ihm prophezeiten Zukunft. Schiller sei der Schutzgeist des deutschen Volkes, zürnend, mahnend und strafend, wenn die Deutschen in Geistesschlaffheit verfielen, ermutigend und begeisternd, wo immer deutscher Sinn sich zu regen beginne. Sooft in Deutschland das Streben nach Freiheit und Einheit erwache, erwache auch Schillers Gedächtnis im Volk; mit erneuter Liebe lerne es von seinem Dichter, blicke es auf zu ihm, dem Leitstern in Nacht und Not. „Wie aber", fragt Jacoby, „sollen wir ihn würdig feiern? Blicken Sie auf Schillers Leben, es gibt uns Antwort darauf: Nicht durch eitles Schaugepränge, gleißend schöne Reden, nicht durch Festzüge und Huldigungen — durch Taten lassen Sie uns ihn feiern, durch Taten würdig des großen Dichterpropheten unserers Volkes, des Kämpfers für Freiheit und Menschenwürde"* 4) ! So sehr Jacoby Stahrs bereits erwähnte Lessing-Biographie schätzte, fand er doch an dem von ihm gepriesenen Werk auch etwas auszusetzen: das Fehlen eines Kapitels über Lessing als Philosophen 85 ). Auch andere urteilsfähige Kritiker, zum Beispiel Friedrich Theodor Vischer, hatten diesen Mangel hervorgehoben. D a Stahr aber sich zu einem solchen Essay nicht 31) Jacoby, Kant und Lessing, Eine Parallele, Königsberg: Th. Theile (Ferd. Beyer) 1859). Wiederabdruck in seinen Gesammelten Schriften und Reden, I I , S. 109—123. Zitat: S. 123. 32) G. H . F. Nesselmann, Aktenmäßige Geschichte der Schiller-Feier und der Gründung einer Schiller-Stiftung in Königsberg, Königsberg 1860, S. 33; „National-Zeitung" Nr. 586 vom 16. Dezember 1859 Beiblatt und Nr. 39 vom 24. Januar 1860 Beiblatt; „Königsberger Hartungsdie Zeitung" Nr. 270 vom 17. November 1861 Beilage 1. 33) Jacoby, Schiller, der Dichter und Mann des Volks, Königsberg: Th. Theile (Ferd. Beyer) 1859. Wiederabdrudt in seinen Gesammelten Schriften und Reden, I I , S. 129—142. 34) Ebenda, S. 142. 35) Jacoby an Adolf Stahr, 28. Januar 1859, unveröff.



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Edmund Silberner berufen fühlte, bat er Jacoby, diesen statt seiner zu schreiben 36). Jacoby entsprach der Bitte, und die Abhandlung „Lessing der Philosoph" wurde der vielgelesenen Biographie von der zweiten Auflage an beigegeben. I n Dankbarkeit dafür widmete ihm Stahr das Werk. Keiner der Freunde hätte damals ahnen können, daß kurz nach ihrer beider Tod Fanny Lewald im Jahre 1877 die achte Auflage des Werkes „Seiner Durchlaucht dem Fürsten Bismarck" widmen würde. Jacobys Abhandlung wurde beibehalten, jedoch ohne die geringste Erwähnung seiner Verfassersdiaft. Der Essay erschien freilich auch als separate Drucksdirift 37 ). Jacoby weist in ihr Lessings Spinozismus nach. Für Lessing, so erklärt er, sei Spinoza weder ein Materialist, der nur die sinnenfällige Natur des Stoffs, noch ein Idealist, der nur des Geistes unsichtbare Kraft gelten lasse; weder ein Verteidiger einer atomistisdien zusammenhaltlosen Vielheit nodi ein Anwalt einer unterschiedslosen, alles Einzelleben verschlingenden Einheit. Spinoza sei ihm der geistesverwandte Wahrheitsforscher, der den einheitvollen Zusammenhang des Endlichen und Unendlichen — das Eine in dem Vielen ebenso wie das Viele in dem Einen — klar erkannt und der freien Welt ihren Gott wiedergegeben habe 38 ). Lessing habe den Einheitsgedanken Spinozas überall streng und folgerecht festgehalten. Spinoza habe Religions Vorurteile für die Quelle menschlicher Knechtschaft erklärt; vernünftige Gottesliebe, der Weltgemeinsinn werde die Menschen frei machen. Und ebenso habe Lessing gelehrt 89 ). Jacobys Würdigung des Verhältnisses von Lessing zu Spinoza ist „eine durchaus freie und selbständige, durch keine bisherige literargeschichtliche Auffassung veranlaßte und — wenn wir die Ansicht Jacobys an den Tatsachen, d. h. an den Werken beider Denker prüfen — eine durchaus zutreffende" 40 ). 2. Nationalverein. Handwerkerverein. Heinrich-Simon-Denkmal Die politischen Ereignisse des Jahres 1859 hatten die deutsch-nationale Bewegung wieder in Fluß gebracht. Der Ausbruch des italienisch-österreichischen Krieges und die augenscheinliche Bedrohung Deutschlands durch 36) Vgl. Ludwig Geiger, „Briefe von Johann Jacoby" in der „Frankfurter Zeitung" Nr. 235 vom 25. August 1903, S. 2. 37) Jacoby, Lessing der Philosoph, Berlin: J. Guttentag 1863. Wiederabdruck in seinen Gesammelten Schriften und Reden, I I , S. 145—191. 38) Jacoby, ebenda, I I , S. 178 f. 39) Ebenda, I I .

S. 191.

40) Moritz Brasch, a. a. O., S. 89.

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Frankreich löste eine Welle der nationalen Solidarität aus. Der Waffenstillstand von Villafranca zeigte von neuem die Ohnmacht des deutschen Bundes und die daraus folgenden Gefahren für die nationale Integrität und Sicherheit Deutschlands. Eine Versammlung deutscher Demokraten faßte unter Schulze-Delitzschs Führung am 17. Juli 1859 in Eisenach jenen Beschluß, der die Ersetzung des deutschen Bundestages durch eine Zentralregierung und die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung forderte. Ähnlich lautete die Resolution einer Gruppe deutscher Liberaler, die sich wenige Tage später in Hannover versammelte. Teilnehmer beider Versammlungen vereinigten sich sodann am 14. August 1859 in Eisenach und erließen eine Erklärung, die im wesentlichen mit der vom 17. Juli 1859 übereinstimmte. Von ihrer sofortigen Veröffentlichung nahm man jedoch Abstand, um abwesenden Gesinnungsgenossen auf dem Wege der Korrespondenz noch den Beitritt zu ermöglichen. Von Hans Viktor von Unruh und Franz Duncker aufgefordert, unterzeichnete Jacoby „mit freudiger Zustimmung" die Eisenacher Erklärung vom 14. August 41 ). Diese Erklärung, die Anfang September veröffentlicht wurde, forderte alle deutschen Vaterlandsfreunde — Demokraten sowohl wie Konstitutionelle — auf, die nationale Unabhängigkeit und Einheit höherzustellen als die Forderungen ihrer Parteien und für die Erreichung einer kräftigen deutschen Verfassung zusammenzuwirken. Die Initiatoren der Erklärung beriefen ferner für Mitte September 1859 eine Tagung nach Frankfurt am Main ein, die über die Bildung einer deutschen Nationalpartei beraten sollte. Die Tagung war von 150 Teilnehmern aus allen Teilen Deutschlands, vor allem aus Süddeutschland besucht. Die Meinungen gingen so weit auseinander, daß an ein neues Programm nicht zu denken war und man sich auf „ein ziemlich farbloses Statut" beschränkte 42). Über den Zweck des N a tionalvereins besagte dieses Statut lediglich, daß er mit allen gesetzlichen Mitteln die nationale Einigung und freiheitliche Entwicklung des Vaterlandes erstrebe. Die Leitung des Nationalvereins lag in den Händen eines zwölfköpfigen Ausschusses, der das Recht der Kooption besaß. Zu den bekanntesten Aus41) Unruh an Jacoby, 18. August 1859; Duncker an Jacoby, 24. August 1859; Jacoby an Duncker, 28. August 1859 (hier das Zitat); sämtlich unveröff. Text der Erklärung: „NationalZeitung" Nr. 408 vom 2. September 1859 und „Volks-Zeitung* Nr. 205 vom 3. September 1859. 42) Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen, Ein deutscher Leipzig 1910, I, S. 345. Vgl. audi I, 323 ff., S. 335 f.

liberaler

Politiker,

Stuttgart/

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Edmund Silberner Schußmitgliedern gehörten von Bennigsen, Schulze-Delitzsch und von Unruh. M i t Rücksicht auf die bestehenden Vereinsgesetze, die Verbindungen zwischen mehreren politischen Vereinen verboten, sah der in Coburg domizilierte Nationalverein davon ab, sich in Zweigvereine zu gliedern. Der Geschäftsführer des Nationalvereins bestellte die mit der Leitung der örtlichen Angelegenheiten beauftragten „Agenten". Die Mitglieder des Nationalvereins hielten zwar an ihren Wohnorten Versammlungen ab, taten es aber nie als selbständige Zweigvereine. „Das Ergebnis der Frankfurter Tagung", sagt Hermann Oncken, „war nicht sehr befriedigend. Die Einheit war von manchem prinzipiellen W i derspruch durchbrochen worden, so daß der ursprüngliche Kernpunkt der ganzen Aktion, die preußische Spitze, halb verhüllt werden mußte. N u n lag die Sache allerdings keineswegs so, wie die Gegner spotteten. Man hatte sich keineswegs aufgegeben, sondern die eigentlichen politischen Führer wie Bennigsen waren entschlossen, in der Sache festzubleiben, auch wenn sie in der Form vorläufig konzedierten. Vom ersten Anfang an läuft neben der exoterischen Geschichte des Nationalvereins eine esoterische, und die Spannung zwischen den beiden Reihen hörte selten auf" 4 3 ). Jacoby und Kosch, die ersten Königsberger Unterzeichner der Eisenacher Erklärung, beriefen für den 27. September 1859 in ihrer Vaterstadt eine Versammlung ein zur Besprechung der deutschen Frage und des darauf bezüglichen Eisenacher Programms vom 14. August. Kosch schilderte den Verlauf der deutschnationalen Bewegung, teilte der Versammlung den Programmwortlaut mit und stellte ihr anheim, es zu unterzeichnen. Jacoby kritisierte die Unentschlossenheit der preußischen Regierung, die sich genötigt glaube, allerlei „Rücksichten" auf die einmal bestehenden Vertragsverhältnisse zu nehmen. Niemand wolle die Gewissenhaftigkeit der preußischen Regierung, ihre Achtung vor fremden Rechten tadeln. Allein gerade um jener „Rücksichten" willen tue es um so mehr not, die Stimme des deutschen Volkes überall laut und entschieden vernehmen zu lassen, nicht etwa um die preußische Regierung ungebührlich zu drängen, wohl aber, um in dem allgemein ausgesprochenen Volkswillen ihr den Rechtstitel zu verleihen, den anderen Bundesregierungen gegenüber mit Entschiedenheit im Sinne der deutschen Einheit und Freiheit voranzugehen. I n den Statuten des Deutschen Nationalvereins, fuhr Jacoby fort, werde auf das Eisenacher Programm Bezug genommen, der Hauptpunkt desselben 43) Ebenda, I, S. 345 f.

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aber — die preußische Hegenomie — wenigstens nicht ausdrücklich hervorgehoben. Es sei dies ein Zugeständnis, das man den Süddeutschen glaubte machen zu dürfen, ein Zugeständnis mehr in Worten als der Sache nach. Denn möge Preußens Hegemonie in dem Vereinsstatut Aufnahme finden oder nicht, an der Sachlage werde dadurch nicht das geringste geändert. Dem Statut nach habe der Verein die Aufgabe, durch geistige Arbeit dahin zu wirken, daß Ziele und Mittel der deutschen Bewegung im Bewußtsein des Volkes immer klarer hervorträten. „Nun wohl, meine Herren, folgen audi wir dieser Aufforderung. Lassen Sie uns erklären, daß wir für unseren Teil an den Eisenacher Beschlüssen festhalten, daß wir das im Eisenacher Programm angegebene Mittel — Preußens Führerschaft unter Kontrolle eines deutschen Volksparlaments — zur Zeit für das einzig mögliche Mittel, für die einzig praktische Lösung der Einheitsfrage halten." Königsberg habe in politischer Beziehung früher den übrigen deutschen Städten voranzugehen gepflegt; diesmal sei es weit im Hintertreffen, sei es selbst hinter den kleinsten Städten der eigenen Provinz zurückgeblieben. Jacoby gab seinen Hörern zu verstehen, daß die Schuld für eine solche Verzögerung nicht bei der demokratischen Partei, sondern bei den Konstitutionellen liege, und forderte die Versammelten auf, sidi dem Eisenacher Programm anzuschließen. Für den Fall, daß ein Zusatz wünschenswert erscheinen sollte, schlug er folgenden Wortlaut vor: I m Ansdiluß an das Eisenacher Programm und mit Bezugnahme auf die Frankfurter Tagung des Nationalvereins erklären die Unterzeichneten, „daß bei den drohenden Gefahren der Zukunft eine einheitliche volkstümliche Verfassung dem deutschen Vaterlande nottue und daß dies Ziel unter den gegebenen Verhältnissen nur durch Schaffung einer starken Zentralgewalt in den Händen der preußischen Regierung und unter Kontrolle eines deutschen Volksparlaments zu erreichen ist". Die Versammlung billigte das Eisenacher Programm, lehnte aber den Jacobyschen Zusatz ab 4 4 ). Der National verein stieß in Königsberg nicht auf sonderliche Resonanz; noch im November 1860 zählte er dort nur zwölf Mitglieder oder „Apostel", wie Jacoby sie nannte 46 ). „Alles Reden und Schreiben", klagte er, „ist verlorene Mühe; wir stecken nun einmal bis über den Kopf im Sumpfe 44) Ausführlicher Bericht über die Versammlung in der „National-Zeitung" Nr. 462 vom 4. Oktober 1859 (dem „Königsberger Telegraphen" entnommen). 45) Jacoby an Unruh, 15. November 1860, unveröff.

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Edmund Silberner des Gothaismus. Der Prinzregent besser's — wenn er kann" 4 6 )! Fedor Streit, der Geschäftsführer des Nationalvereins in Coburg, ernannte den Rechtsprofessor Richard Eduard John zum Vereinsagenten für Königsberg, weil er zwischen den beiden alten Parteien, der demokratischen und der konstitutionellen, eine ganz neutrale Stellung einnahm. Streit hoffte, auf diese Weise die Verschmelzung beider Parteien zu einer großen Nationalpartei zu fördern. Jacoby hatte gegen die Ernennung nichts einzuwenden, denn er selbst wollte nicht an die Spitze der Agitation treten, um eben die Verbindung demokratischer und konstitutioneller Elemente in einem Verein nicht zu gefährden 47 ). Dementsprechend erklärte Jacoby in einer Versammlung vom 19. April 1861, es sei bedauerlich, daß Demokraten und Konstitutionelle immer noch in zwei feindliche Lager zerfielen, obwohl die einen wie die andern dodi die Fortbildung des konstitutionellen Lebens erstrebten. Warum könne nicht die Einigung gegen die gemeinsamen Feinde, gegen das Junkertum und das Bürokratentum erfolgen? Das rote Gespenst der Demokratie sei doch von der Reaktion schon so abgenutzt, daß es nicht ein Kind mehr erschrecken könne. Diesem Zwiespalt ein Ende zu machen, gebe es kein besseres Mittel als den Nationalverein — hier sei ein neutrales Gebiet, auf dem beide Parteien sich die Hände reichen könnten 48 ). Mehr als einhundert neue Beitrittserklärungen zum Nationalverein wurden während dieser Versammlung abgegeben49). Die Gesamtzahl der Mitglieder in Königsberg und in der Provinz Preußen muß dennoch klein geblieben sein, wie aus gelegentlichen Klagen hierüber hervorgeht 50 ). U m neue Anhänger zu werben, beschloß die Versammlung der Königsberger Mitglieder vom 3. M a i 1861, die „Wochenschrift des National Vereins" in den besuchtesten Leselokalen auszulegen, gesellige Zusammenkünfte zu veranstalten und öffentliche Vorträge über die nationale Frage zu halten 51 ). Der Erfolg scheint indes nicht groß gewesen zu sein 52 ). 46) Ebenda. 47) Fedor Streit an Jacoby, 19. April 1861, unveröff. 48) „National-Zeitung" Nr. 189 vom 24. April 1861 („Königsberg, 20. April"). 40) „Wochenschrift des National Vereins" Nr. 53 vom 3. Mai 1861, S. 440. 50) Ebenda, Nr. 69 vom 23. August 1861, S. 571; „Königsberger Sonntagspost" Nr. 31 vom 4. August 1861, S. 121. 51) „National-Zeitung" Nr. 213 vom 9. Mai 1861 („Königsberg, 5. Mai"). 52) Im April 1863 zählte der Nationalverein 226 Mitglieder in Königsberg. „Erläuterung zu der neuen Organisation des Agentenwesens des Nationalvereins", anonyme, von Fedor Streit verfaßte Broschüre, ohne Ort und Datum, S. 14. Exemplar in: Württembergisdu: Landesbibliothek, Stuttgart, Nachlaß Holder, Cod. hist. 2°. 880 X X X V , Nr. 100.

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Auf Veranlassung des Königsberger Polizeipräsidenten Maurach fand am 14. Juni 1861 vor dem Stadtgericht Königsberg eine Verhandlung gegen die bisherigen Leiter der Versammlungen der dortigen Nationalvereinsmitglieder statt. Es waren dies Bender, Hänel, John, Möller, Stadelmann und Witt. Die Anklage behauptete, es existiere ein selbständiger Königsberger Nationalverein, der — vom Deutschen Nationalverein verschieden — sich nur den Namen desselben beigelegt habe, um die Bestimmungen des Vereinsgesetzes zu umgehen; die Angeklagten aber seien die Vorsteher dieses Vereins. Als Verteidiger fungierte Justizrat Marenski. Mehrere Zeugen, darunter Jacoby, wurden eidlich vernommen. Die gerichtliche Verhandlung erbrachte, daß die Königsberger Mitglieder des Nationalvereins keinen besonderen Lokalverein bildeten, sondern lediglich Mitglieder des Deutschen Nationalvereins seien, der zu Coburg seinen Sitz habe. Sämtliche Angeklagte wurden deshalb von der Beschuldigung der Übertretung des Vereinsgesetzes freigesprochen. Den von der Staatsanwaltschaft gegen das freisprechende Urteil eingelegten Rekurs wies das ostpreußische Tribunal zurück 53 ). Die Königsberger Mitglieder des Nationalvereins konnten somit ihre Tätigkeit fortsetzen. Von Jacobys weiterem Wirken in ihren Reihen ist leider für die hier besprochene Periode nur wenig bekannt. Noch vor dem soeben genannten Freispruch bezweifelte er in einer Mitgliederversammlung vom 28. M a i 1861 die Zweckmäßigkeit des Maurachsdien Vorgehens. Durch ein solches Verfahren, bemerkte er, stehe Königsberg einzig da in der ganzen preußischen Monarchie. Es lasse sidi doch nur als abnorm bezeichnen, daß — während an anderen Orten die Mitglieder des Nationalvereins sich unbehelligt versammeln dürften, sooft es ihnen beliebe — die Königsberger Mitglieder dessentwegen polizeilichen und gerichtlichen Verfolgungen ausgesetzt seien. Habe man denn schon je von einem Lande gehört, wo an einem Orte etwas rechtswidrig sein könne, was an allen übrigen Orten des Staates erlaubt sei54)? Einige Wochen später, am 5. Juli 1861, sprach Jacoby über das preußische Herrenhaus als Fortschrittshindernis und setzte eine Resolution durch, die dessen Beseitigung beziehungsweise Umgestaltung für notwendig erklärte 65 ). 53) Ebenda, Nr. 276 und Nr. 304 vom 17. Juni und 3. Juli 1861; „Volks-Zeitung" Nr. 139 vom 18. Juni 1861; „Wochenschrift des Nationalvereins" Nr. 61 und Nr. 68 vom 28. Juni und 18. August 1861, S. 508 und 564. 54) „National-Zeitung" Nr. 249 vom 1. Juni 1861 („Königsberg, 29. Mai"). 55) „Königsberger Hartungsche Zeitung" Nr. 157 vom 9. Juli 1861, Beilage.

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Edmund Silberner Erwähnenswert ist ferner die Mitgliederversammlung vom 14. Februar 1862, die eine von Jacoby entworfene Adresse ans Abgeordnetenhaus votierte, es möge die preußische Regierung zu einer kräftigeren Stellungnahme in der deutschen Frage anspornen5®). Zur gleichen Zeit, da er für den Nationalverein tätig war, wirkte Jacoby auch im Königsberger Handwerkerverein, der sich am 19. September 1859 konstituierte. Jacoby war bereits an der Ausarbeitung der Vereinsstatuten beteiligt und wurde in den Vorstand gewählt. Der Verein wollte sich von Politik fernhalten und erstrebte nur die Verbreitung allgemeiner Bildung, guter Sitte und die Aufhebung der trennenden gesellschaftlichen Schranken. Wiewohl er sich tatsächlich stiller und stetiger Kulturarbeit widmete und im geselligen Teil seiner Zusammenkünfte ein Hinüberschweifen auf das Gebiet der Tagespolitik zu vermeiden suchte, war er doch weit davon entfernt, neutral und apolitisch z« sein. Er unterstützte in wertvoller Weise die progressiven Kräfte und war deshalb den Behörden bald ein Dorn im Auge. Es gehörten ihm übrigens nicht bloß Handwerker an; der Beitritt stand jedem offen, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte und vom Vorstand für geeignet empfunden wurde. Angehörige freier Berufe waren in ihm zahlreich vertreten. Ärzte, Lehrer und Kaufleute spielten im Vorstand eine führende Rolle. Der Verein, der mit etwa dreihundert Mitgliedern begonnen hatte, wuchs schnell. I m Oktober 1861 waren es deren 1400, darunter 341 Meister, 435 Gesellen, 26 Lehrlinge, 210 Kaufleute, 195 Handlungsgehilfen, 86 Ärzte, Literaten, Beamte, Studenten und 112 Männer anderer Berufe 57 ). Jacoby interessierte sich lebhaft für den Verein, in dem er einen Hauptpfeiler zur Wohlfahrt des Volkes erblickte. Er war einer seiner Begründer und einflußreichsten Mitglieder; dem Vorstand gehörte er bis zu seinem Lebensende an 5 8 ). Bei der Schiller-Feier, die der Verein im November 1859 veranstaltete, hielt er jene Festrede, auf die bereits oben hingewiesen wurde. Einige Monate später feierte der Verein den 100. Geburtstag des berühmten Schulmannes Gustav Friedrich Dinter. Jacoby ergriff das Wort und verlas Stücke aus zweien der schönsten und freisinnigsten Schulreden des „alten Dinter", in denen jener seine Grundsätze über das Verhältnis der Lehrer 56) „Wochenschrift des Nationalvereins" Nr. 97 vom 7. März 1862, S. 796. 57) „Volks-Zeitung* Nr. 216 und Nr. 252 vom 16. September und 28. Oktober 1859; „National-Zeitung" Nr. 444 und Nr. 453 vom 23. und 29. September 1859; „Königsberger Hartungsdie Zeitung" Nr. 232 vom 4. Oktober 1861 (Mitgliederzusammensetzung); „Königsberger Neue Zeitung" Nr. 242 vom 11. Oktober 1866. 58) „Königsberger Hartungsche Zeitung" Nr. 66 vom 17. März 1877, Beilage.

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zum Staate und über die Stellung der Schüler zu den Lehrern darlegte. Das Vorgelesene machte auf die schlichten Zuhörer des Handwerkervereins einen so mächtigen Eindruck, daß Jacoby einen Neudruck der zwei Reden für zeitgemäß hielt 5 9 ). Der Herausgeber, urteilte ein Rezensent, habe nicht nur in sehr glücklicher Weise die Erinnerung an Dinter aufgefrischt, sondern „auch unserer Zeit in den Worten des Mannes einen Spiegel vorgehalten, der sie freilich tief beschämen muß, aber ihr zugleich eine sehr ernste Lehre gibt" 6 0 ). Als Jacoby am 28. Juni 1860 in Berlin bei seinem Vetter Eduard Waldeck abstieg, erhielt Polizeirat Goldheim den Auftrag, ihn unauffällig beobachten zu lassen. Jacoby blieb nur kurze Zeit in der Hauptstadt, begab sich im Juli zur Kur nach Schlangenbad, kehrte aber in der zweiten Augusthälfte nach Berlin zurück und blieb dann etwa bis zum 9. September dort. Goldheim zufolge pflegte Jacoby engen Verkehr mit den führenden Mitgliedern der „deutschen Nationalpartei" Veit, Zabel und von Unruh. Er hielt eine mit großem Beifall aufgenommene Ansprache an den Berliner Handwerkerverein, hob dessen ausdauernde Wirksamkeit hervor, wies auf die gleiche Tätigkeit des Königsberger Handwerkervereins hin und empfahl Zusammenhalten und Fortwirken 6 1 ). Jacoby war gerade von Schlangenbad nach Berlin zurückgekehrt, als er erfuhr, daß sein enger Freund Heinrich Simon verschieden sei: der Tod hatte ihn, wohl infolge eines Schlaganfalls, am 16. August 1860 beim Baden im Schweizer Wallensee ereilt. Der Leichnam wurde nie gefunden. Die Unglücksnachricht erschütterte Jacoby zutiefst. Es hielt ihn nidit länger in Berlin, und er eilte für einige Tage zu den damals in Siebleben weilenden Stahrs. Jacoby wohnte in dem eine halbe Stunde entfernten Gotha, war aber von früh bis spät am Abend bei den Freunden. „So haben wir denn", schrieb Fanny Lewald, „gemeinsam um Heinrich getrauert und noch viel öfter seiner großen und schönen Eigenschaften gedacht. Es ist uns allen unfaßbar, daß wir nicht mehr sein prachtvolles Lachen hören, uns nicht mehr der schwungvollen Heiterkeit erfreuen sollen, die ihn audi in den schwersten Lebenslagen nicht verließ. Sein Leben war ein poetisches Kunst59) [Jacoby,] Eine Lehrstunde des alten Dinter, Königsberg: Th. Theile (Ferd. Beyer) I860, 15 S. Vgl. Jacoby an Fanny Lewald, 23. März 1860, unveröff. 60) „Königsberger Sonntagspost" Nr. 11 vom 10. März 1860, S. 87. 61) Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 30 C, Tit. 94, Lit. J, Nr. 70, Fol. 77—79; Ludwig Bamberger an Jacoby, 9. Juli 1860, unveröff.; Jacoby an Adolf Stahr, 7. September 1860, unveröff.

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Edmund Silberner werk, und wenn man den Ausdruck brauchen darf, er war ein Meister in der Kunst des würdigen und schönen Lebens" 62 ). Heinridi Simons Tod bedeutete für Jacoby einen schweren Verlust. U m keinen seiner dahingeschiedenen Freunde hat er so sehr getrauert wie um ihn. „Und mir ist", schrieb er, „als hätt ich in ihm mein eigenes Sterben erlebt* 6 8 ). Heinrich Simon war ihm sowohl ein teurer Freund als auch ein tapfrer Freiheitskämpfer, „der reinste und würdigste Repräsentant des politschen Aufschwungs der Jahre 1848 und 1849 α ® 4 ). 1844 war Simon als erster für die Unabhängigkeit des preußischen Richterstandes in die Schranken getreten; wenige Jahre darauf hatte er mit außerordentlichem Bürgermut dem preußischen Volk das Redit auf Repräsentativverfassung gewahrt; seine Wirksamkeit in der Deutschen Nationalversammlung hatte ihm nicht nur die Liebe der Gesinnungsgenossen, sondern auch die volle Achtung seiner politischen Gegner errungen; in der Verbannung noch gab sich seine warme Vaterlandsliebe kund 6 5 ). Dem deutschen Volk, meinte Jacoby, komme es daher zu, durch die Errichtung des Heinrich-Simon-Denkmals sich selbst zu ehren 66 ). M i t unglaublicher Energie begann Jacoby für die Errichtung des Denkmals zu agitieren. I n zahlreichen Aufrufen, Briefen und Mahnungen trieb er zur Sammlung der benötigten Fonds an. Es lag ihm dabei vor allem daran, der Angelegenheit den Charakter einer politischen Demonstration zu verleihen, mithin gerade ihre höhere, allgemeine Bedeutung ins rechte Licht zu rücken 67 ). Die Errichtung des Denkmals galt ihm zugleich als Ehrensache der deutschen Nation wie als laute Anerkennung der Revolution von 1848; er sah in ihr einen offenen Protest gegen die zehnjährige, jedem begeisterten Freiheitsstreben hohnsprechende Reaktion und eine Mahnung an das Volk, seine besten Männer, die im Exil dahindarbten, zu N u t z und Frommen der Nation zurückzurufen 68 ). Freilich hörte man sogar unter demokratischen Gesinnungsgenossen Einwände; die Notwendigkeit eines Denkmals sei eigentlich nicht gegeben: 62) Fanny Lewald an Alwin Stahr, 26. August 1860, in Aus Adolf Stahrs Nachlaß, Oldenburg 1903, S. 245. 63) Jacoby an Fanny Lewald und Adolf Stahr, 8. Oktober 1860, unveröff. 64) Jacoby an Max von Fordtenbeck, 22. November 1860, unveröff. 65) Jacoby in der „Königsberger Hartungsdien Zeitung" Nr. 254 vom 28. Oktober 1860. 66) Jakoby an Fanny Lewald, 1. September 1860, unveröff. 67) Jacoby an Aaron Bernstein, 5. Dezember 1860, unveröff. 68) Jacoby an Max von Forckenbedt, 22. November 1860, unveröff.

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Heinrich Simon sei weder ein populärer noch ein großer Mann gewesen; weniger die Masse des Volkes als vielmehr die gebildeten Demokraten, zumal die Beamten hätten ihn gekannt und geschätzt69). Aaron Bernstein, der Chefredakteur der „Volks-Zeitung", war bereit, alles was Jacoby ihm zusandte, zu drucken; die Denkmalssache aber zu einer Angelegenheit der Zeitung selbst zu machen, weigerte er sich 70 ). Doch Jacoby ließ sich nicht entmutigen. Er ruhte nicht eher, als bis die nötigen Gelder zusammengebracht waren und dem Dahingeschiedenen im Oktober 1862 ein prächtiges Denkmal an der Unglücksstätte beim Dorfe Murg im Kanton St. Gallen enthüllt werden konnte. Über die Einweihungsfeier, bei der auch Jacoby zugegen war, berichten wir an andrer Stelle. 3. „Mahnruf". Beitritt zur Fortschrittspartei Während jener Agitation für das Heinrich-Simon-Denkmal fragte Aaron Bernstein bei Jacoby an, ob er es für richtig erachte, daß die demokratische Partei vom Abgeordnetenhaus eine Untersuchung der Lage des Landes fordere. Bewährte Parteiführer — Jacoby, Waldeck, Unruh und Rodbertus an der Spitze — sollten die Petition unterzeichnen 71). Jacoby antwortete, einen freien Rechtsstaat in Preußen herzustellen, sei zweifellos die Aufgabe der Zeit; gleichwohl sei weder vom Ministerium AuerswaldSchwerin noch von den Schönrednern der Kammer eine Reform der Zustände zu erwarten. Vom Erlaß einer Petition könne man sich somit keinen sonderlichen Erfolg versprechen; dennoch sei eine derartige Kundgebung an der Zeit. Die demokratische Partei müsse sich frei und offen, kurz und bündig über die gegenwärtige Lage aussprechen, am besten in Form einer Petition an die Kammer. Wie sicher vorauszusehen, werde in der Vinckesdien Partei sich eine Fraktion bilden, die mit größerer Entschiedenheit den Ministern zu Leibe rücken werde. Dieser Fraktion müsse die Petition der Demokraten außerhalb der Kammer als Fingerzeig und moralischer H a l t dienen 72 .) Bernstein, der sich die Mitwirkung des Chefredakteurs Zeitung"

der

„National-

Friedrich Zabel gesichert hattte, ersuchte nun Jacoby, einen

Text zu redigieren. Er hätte einen formellen Antrag zu enthalten und unter anderem die Beseitigung des raktionären Beamtentums und Ministeree) 70) 71) 72)

Ludwig Simon an Jacoby, 30. Juni 1861, unveröff. Aaron Bernstein an Jacoby, 7. Dezember 1860, unveröff. Aaron Bernstein an Jacoby, 7. Dezember 1860, unveröff. Jacoby an Aaron Bernstein, 10. Dezember 1860, unveröff.

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Edmund Silberner Verantwortlichkeit zu fordern 7 8 ). Nachdem Jacoby das Schriftstück verfaßt und eingesandt hatte, 7 4 ) gelang es Bernstein jedoch nicht, die Zustimmung von Waldeck, Unruh und Rodberts zu erlangen, so daß die von ihm geplante Aktion im Sande verlief. Jacoby nahm dies zum Anlaß, den Text in eigener Verantwortung als einen „Mahnruf an die preußischen Vertreter" zu veröffentlichen. Er erschien im demokratischen „Königsberger Telegraphen" 75 ) ; auch die „Volks-Zeitung" und die „Vossische Zeitung" rückten den „Mahnruf" in ihre Spalten ein 7 6 ). Preußen, heißt es dort, sei in den zwei Jahren seit Beginn der Regentschaft seinem großen geschichtlichen Beruf um keinen Schritt nähergerückt. Die demokratische Partei fühle sich berechtigt und verpflichtet, an die Vertreter des Volkes einen ernsten Mahnruf zu richten. Die Staatsverwaltung sei haltlos, das Rechtsbewußtsein des Volkes verletzt; überall im Lande herrschen Mißtrauen, Zerwürfnis und tiefe Verstimmung. A n der Grenze Deutschlands aber stehe rachesinnend ein übermütiger Feind. Es nahe die Zeit, wo nur des Volkes einmütiges Handeln, die begeisterte Vaterlandsliebe zu helfen vermöge. Die Abgeordneten hätten die Pflicht, die Lage des Landes einer ernsten Prüfung zu unterziehen und, soweit dies in ihrer Macht stehe, öffentliche Zustände herbeizuführen, für deren Verteidigung — wenn erforderlich — der Bürger mit freudigem Opfermut in den Kampf ziehe. V o m Verhalten des Volkes, zunächst vom Verhalten seiner Vertreter hänge das Wohl des Staates ab. Preußen bleibe nur die W a h l : entweder auf jede politische Geltung zu verzichten oder den von der Geschichte ihm vorgezeichneten Beruf zu erfüllen; entweder sich selbst aufzugeben oder Deutschlands Bruderstämme in staatlicher Freiheit zu einen. „Möge Preußen unter Wilhelm I . das Rechte erwählen" 7 7 )! Wie vorauszusehen, kam es zu einer Spaltung in der Vinckeschen Partei. Eine Linksgruppe von zumeist aus Ostpreußen stammenden Abgeordneten unter Führung des Freiherrn Leopold von Hoverbeck konstituierte sich als eigene Fraktion. Diese Gruppe — das sogenannte „Junglitauen"



verhandelte sodann mit führenden Berliner Demokraten und Liberalen 73) Aaron Bernstein an Jacoby, 16. Dezember 1860, unveröff. 74) Jacoby an Aaron Bernstein, 22. Dezember 1860, unveröff. 75) Nr. 4 vom 12. Januar 1861; Wiederabdruck: Jacoby, Gesammelte Schriften I I , S. 142—144.

und Reden,

76) „Volks-Zeitung" Nr. 13 vom 16. Januar 1861; „Vossisdie Zeitung" Nr. 14 17. Januar 1861. 77) Jacoby, Gesammelte Schriften

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und Reden, I I , S. 144.

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über die Gründung einer neuen politischen Partei. I n den Verhandlungen, an denen sich von Hoverbeck, Schulze-Delitzsch, von Forckenbeck, von Unruh, Mommsen und Virchow beteiligten, gelangte am 6. Juni 1861 ein Wahlprogramm zur Annahme, das gleichzeitig als das Gründungsprogramm der Deutschen Fortschrittspartei gilt 7 8 ). Jacobys Beitrittserklärung erschien in der „National-Zeitung" vom 2. Juli 1861. Einleitend verkündet das Programm, daß Preußens Existenz und Größe von einer festen Einigung Deutschlands abhänge, die ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preußens und ohne eine gemeinsame Volksvertretung undenkbar sei. Für die innere Entwicklung Preußens verlangte das Programm eine feste liberale Regierung und eine konsequente Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaats. Es forderte deshalb Ministerverantwortlichkeit, Geschworenengerichte für politische und Pressevergehen, Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften, Trennung von Kirche und Staat, größte Sparsamkeit beim Militäretat, Aufrechterhaltung der Landwehr und zweijährige Dienstzeit. Alle diese Ziele ließen sich freilich nur erreichen, wenn ihnen eine durchgreifende Reform des Herrenhauses vorausgehe. Diese müsse daher als der Anfang aller Refor men mit Nachdruck angestrebt werden. Die neue Partei entstand im Geiste eines Kompromisses zwischen Demokratie und Liberalismus. Sie war von Beginn an erklärtermaßen eine Koalition von demokratischen und liberalen Elementen 79 ). So manche an sich hochwichtige Frage, etwa die des allgemeinen gleichen Wahlrechts, wurde im Programm nicht einmal erwähnt, weil man sonst zu keiner Einigung gelangt wäre 8 0 ). Dies war der Grund, weshalb mehr als ein alter Demokrat — beispielsweise Tribunalsrat Waldeck — das Programm nicht unterzeichnete. Es versteht sich von selbst, daß Jacobys eigene politische Desiderate viel weiter gingen als das Programm der Fortschrittspartei. Er stimmte aber „aus voller Uberzeugung" zu, 8 1 ) weil er sich offenbar von der Zusammenarbeit der Demokraten und Liberalen gute Erfolge versprach. Nachdem Jacoby sich bereit erklärt hatte, ein Mandat anzunehmen, wurde er vom Zentralwahlkomitee der Fortschrittspartei den Lokalwahlkomitees 78) Vgl. Hermann Schulze-Delitzsch, Schriften und Reden, Berlin 1911, I V , S. 46 (an Rudolf von Bennigsen. 6. Juni 1861). 79) Vgl. Ebenda. 80) Vgl. das Begleitschreiben zum Programm, abgedruckt in Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, S. 38 f. 81) Jacoby an Eduard Tempeltey, 10. Oktober 1861, unveröff.

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Edmund Silberner als Kandidat empfohlen. A n eine Wahl in Königsberg war nicht zu denken; immer noch überwogen dort die „Fortschrittsphilister" 82). Als man in einer Königsberger Wahlmännerversammlung den nicht anwesenden Jacoby vorschlug, wandte sein Freund Ferdinand Falkson ein, er sei überzeugt, Jacoby wünsche weder ein Mandat anzunehmen noch auf die Kandidatenliste gesetzt zu werden 83 ). Fanny Lewald und Adolf Stahr fragten Jacoby, weshalb er eigentlich die Wahl in Königsberg ablehne. „Meine Gegenfrage", erwiderte er, „lautet: Kennt Ihr die Königsberger Fortschrittsphilister so wenig? Ich habe abgelehnt, weil ich der Vaterstadt die Schande ersparen will, mich zum zweiten M a l durchfallen zu lassen84). Fanny nennt mich ,ein Panier'; richtiger wär's, mich eine , p o l i t i s c h e V o g e l s c h e u c h e * zu heißen. Trotz allem schönen Gerede von ,Parteiversöhnung' — auf m i r lastet nach wie vor der B a n n , und ich trage ihn mit stolzer Demut" 8 5 ). Der dritte und der vierte Berliner Wahlbezirk stellten zwar Jacoby als Kandidaten auf, die Aussichten einer Wahl waren aber äußerst gering. I m dritten Wahlbezirk hielten die „Fortschrittsphilister" fest an SchulzeDelitzsch. Vielleicht wäre Jacoby dort im Zuge der Nachwahlen ein Mandat erteilt worden. M a n hätte dazu Friedrich Adolf Diesterweg, dessen Wiederwahl so gut wie feststand, übergehen müssen. Doch Jacoby erklärte sich — selbst für den Fall, daß ein Gelingen sicher gewesen wäre — gegen einen solchen Plan; er wollte nicht mit Diesterweg konkurrieren 86 ). Die prononcierten Demokraten waren zwar der Ansicht, Schulze-Delitzsch solle bei mehrfacher Erwählung auf die Stelle für den dritten Berliner Wahlbezirk zugunsten Jacobys verzichten 87 ). Schulze-Delitzsch indes meinte, Jacoby habe bei einer Nachwahl im dritten Bezirk keine Chancen 88 ). Bernstein äußerte sich im gleichen Sinne 89 ). Aufschlußreich ist auch von Unruhs M i t teilung an Jacoby: „Viele Wahlmänner sagen, sie wollen jemand von Ihrer Farbe und Ihrem Charakter, der so stimmt, wie Sie stimmen würden, aber sie wollen den König durch Ihren N a m e n nicht verletzen. Sie müßten 82) Jacoby an Unruh, 23. November 1861, unveröff. 83) „Königsberger Hartungsdie Zeitung" Nr. 277 vom 26. November 1861, S. 1992; ähnlich ebenda, Nr. 284 vom 4. Dezember 1861, S. 2052. 84) Das erstemal hatte ihn die Vaterstadt bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung durchfallen lassen. 85) Jacoby an Adolf Stahr, 1. Dezember 1861, unveröff. 80) Unruh an Jacoby, 22. November 1861, unveröff.; Jacoby an Unruh, 23. November 1861, unveröff. 87) „Berliner Reform" Nr. 26 und Nr. 27 vom 29. November und 1. Dezember 1861. 88) Schulze-Delitzsdi an Jacoby, 27. November 1861, unveröff. 89) Aaron Bernstein an Jacoby, 30. November 1861, unveröff.

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sich also noch geschwindig taufen! lassen und einen anderen Namen annehmen" 90 ). Als Jarobys Kandidatur im vierten Berliner Wahlbezirk empfohlen wurde, forderte man ihn wie alle andern Kandidaten auf, sich umgehend vor den Wählern auszusprechen. Jacoby hielt es aber nicht für der Mühe wert, nach Berlin zu reisen. Er erwiderte, leider nicht vor der Wahlversammlung erscheinen zu können; sein politischer Standpunkt sei bekannt, und gerne würde er das Mandat des Wahlbezirks annehmen 91 ). I n der darauf folgenden Versammlung rief der Name Jacoby eine lange und lebhafte Debatte hervor. Grundsätzlich stimmte man einer Kandidatur zu und anerkannte allseitig Jacobys ganz besondere Tüchtigkeit. Den Einwand, er gehe politisch zu weit, wies man zurück. Gleichwohl glaubte man aus verschiedenen Gründen und namentlich, um eine Einigung mit den gemäßigteren Fortschrittsmännern leichter herbeiführen zu können, von Jacobys Kandidatur diesmal absehen zu müssen. Die Abstimmung über die Kandidatur wurde verschoben, da man noch immer hoffte, in den nächsten Tagen Jacoby persönlich zu hören 92 ). Nach wie vor hatte er aber keine Lust, nach Berlin zu kommen. Wilhelm Löwe, der ihm dazu riet, fragte er: „Soll ich mich etwa durch zierliche Rede um die Gunst der vielköpfigen Wahlmannschaft bewerben? Soll ich wie ein Student auf die Mensur treten, um midi aus dem Verruf herauszupaucken? Dazu darf und werde ich mich nicht verstehen" 93 )! U m so weniger als ihn selbst die entschiedensten Kandidatenreden, wie beispielsweise die von Virchow und Twesten, zutiefst enttäuschten94). Der gar zu konziliant veranlagte Redakteur der „Volks-Zeitung" Bernstein wandte sich an Jacoby mit der Bitte, öffentlich auf eine Wahl zu verzichten. Jacoby zweifelte nicht an Bernsteins Wohlgesonnenheit; doch dieser war sichtlich beunruhigt über die politischen Folgen, die Jacobys — übrigens problematische — Wahl hätte nach sich ziehen können. Die Gegenwart, so führte Bernstein aus, sei eine Zeit trauriger Transaktionen, wo man durch Schein und Umgehungen den Weg verhüllen müsse, den man zum Besseren einschlage. Jacoby würde in soldier Situation nur die notgedrungenen Illusionen stören oder in ehrlicher Transaktion ein Stück eigener heroischer Geschichte vernichten 95 ). Seine Wahl könne den Entschluß 90) Unruh an Jacoby, 3. Dezember 1861, unveröff. 91) „National-Zeitung" Nr. 558 vom 29. November 1861. 92) Ebenda, Nr. 562 vom 2. Dezember 1861. 93) Jacoby an Wilhelm Löwe, 4. Dezember 1861, unveröff. Dazu dieser an jenen, 1. und 11. Dezember 1861, unveröff. 94) Jacoby an Adolf Stahr, 1. Dezember 1861, unveröff. 95) Aaron Bernstein an Jacoby, 23. November 1861, unveröff. 5

Königsberg

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Edmund Silberner des Königs zum Bruch mit dem liberalen Regiment beschleunigen; das große Philistertum würde sie als eine Herausforderung dazu empfinden. U m eventuell gewählt zu werden, müßte er sich einer überaus großen Mäßigung befleißigen, die wie eine halbe Verleugnung seiner Grundsätze aussehen würde. I n der Kammer gebe es sowieso nichts Großes zu tun; bestünde sie sogar aus lauter Fortschrittsmännern, so würde sie erst recht zu Transaktionen Zuflucht nehmen. Ein entschiedenes Auftreten Jacobys in der Kammer hätte die Spaltung der Partei zur Folge, was jetzt nur der Reaktion zugute kommen würde. Das beste wäre also, für diesmal auf ein Mandat zu verzichten 96 ). Jacoby war grundsätzlich von der Richtigkeit der Bernsteinschen Auffassung überzeugt. A m Vorabend der Abgeordnetenhaus wählen vom 6. Dezember 1861 schrieb er ihm: „So tapfer die Herren Fortschrittsmänner gegen die konstitutionellen Schächer zu Felde ziehen, in der Hauptfrage werden sie es nicht besser machen. [ . . . ] D a freilich haben Sie recht — wer das Konzert nicht stören will, bleibt besser zu Hause" 9 7 ). Eine öffentliche Verzichtserklärung hielt er — zur Zeit wenigstens — für überflüssig. D a er keine Aussicht habe, in die Kammer zu kommen, werde man eine solche Erklärung nur als die Ausrede des Fuchses ansehen, dem die Trauben zu hoch hängen 98 ). Als aber zwei Wochen später der vierte Berliner Wahlbezirk Jacoby für die bevorstehenden Abgeordnetennachwahlen nominierte, lehnte er für diesmal die Kandidatur öffentlich ab 9 9 ). Die „Berliner Reform" meinte, dieser Verzicht zeuge davon, daß Jacoby „die nötige Lebensfrische und der Kampfesmut für die Gegenwart" abgingen 100 ). Die Erschlaffung, an der Königsberg leide, scheine auch Jacoby ergriffen zu haben: er habe kein Vertrauen in die nächste Zukunft 1 0 1 ). Königsbergs politisches Leben mag wirklich einen ermattenden Einfluß auf Jacoby ausgeübt haben. I n Berlin aber sah es nicht viel besser aus, weshalb es ihn dorthin gar nicht zog. Jacoby war gewiß kein Jüngling mehr; seine Zukunft aber zeigt, daß er kein gebrochener Mann war und daß es ihm weder an Lebensfrische noch an Kampfesmut mangelte. „Böte 90) Derselbe an denselben, 30. November 1861, unveröff. 97) Jacoby an Aaron Bernstein, 4. Dezember 1861, unveröff. 98) Ebenda. 99) Jacoby an Alexander Elster, 24. Dezember 1861, „National-Zeitung" Nr. 605 vom 29. Dezember 1861. 100) „Berliner Reform" Nr. 1 vom 1. Januar 1862. 101) Ebenda.

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sich nur die entfernteste Aussicht, wahrhaft Gutes zu wirken", beteuerte er, „keinen Augenblick wollte ich anstehen, nach Berlin zu kommen, und um eine Abgeordnetenstelle b i t t e n " 1 0 2 ) ! Die Wahlen vom 6. Dezember 1861 brachten der Kreuzzeitungspartei eine Niederlage und der Fortschrittspartei einen partiellen Sieg. Mitte Januar 1862 wurde der Landtag eröffnet. Wenn Jacoby die Kammermisere betrachtete, pries er sich glücklich, kein Abgeordneter zu sein, und doch trieb es ihn innerlich, ein derbes Wort dazwischenzurufen 103 ). Die politische Perspektive für die nächste Zeit erschien ihm jämmerlich. „Und hätten wir selbst das gesamte Fortschrittsphilistertum hinter uns, wir würden in der Kammer doch nichts gegen den bornierten Unteroffiziersgeist ausgerichtet haben. Selbst die Götter müßten in diesem Kampf unterliegen" 104 ). „Durch friedliche Reform wird die große Frage: ob Militärstaat, ob Rechtsstaat? nicht gelöst werden" 1 0 5 ). Der Kampf, der damals in Preußen entbrannte, war in Jacobys Augen mehr ein sozialer als politischer. Solange man nicht, wie in England und Frankreich, die großen und kleinen Junker, vor allem das Stück Junkertum, das noch im Volk selbst steckte, gründlich ausgefegt habe, war nach Jacoby an ein gesundes Staatsleben nicht zu denken. Hätten die Fortschrittsmänner dies eingesehen, so würden sie nicht die Zeit mit deutscher Frage, Schulregulativen, Wuchergesetzen und anderem Plunder vertrödelt, sondern frischweg den Antrag gestellt haben, das Herrenhaus abzuschaffen und im Falle einer Niederlage lieber das Mandat niedergelegt als noch länger die unwürdige Komödie des Sdieinkonstitutionalismus aufzuführen geholfen haben. Ein solcher Schritt, meinte Jacoby, würde wenigstens den Vorteil gehabt haben, jedermann die Lage klarzumachen. Zum Glück aber sei der Fortschritt des Menschengeschlechts nicht von der Weisheit der Staatsmänner und Gestzgeber abhängig. „Kommt nur das Volk zur richtigen Erkenntnis — und daß dies geschehe, dafür sorgen ja Manteuffel, Illaire und die anderen Souffleure der Krone — , wird es nur erst licht in den Köpfen der Menge, dann wird auch der sittliche Zorn, die zur Tat erforderliche Warme nicht ausbleiben. Großartige Reformen müssen vom Volke selbst gemacht werden; die Volksvertreter sind nur die Priester, die den Segen darüber sprechen" 106 ). 102) 103) 104) 105) 106) 5·

Jacoby Jacoby Jacoby Jacoby Jacoby

an an an an an

Fanny Lewald, 12. Dezember 1861, unveröff. dieselbe, 11. Februar 1862, unveröff. Hermann Büttner, 27. Dezember 1861, unveröff. Ludwig Simon, 8. Februar 1862, unveröff. Fanny Lewald, 11. Februar 1862, unveröff.

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Herbert G. Marzian: G R U N D L A G E N DES F R I E D E N S Zum 30. Jahrestag der Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 Die Unterzeichnung der »Joint Declaration by United Nations" am 1. bzw. 2. Januar 1942 1 ) in Washington durch Vertreter von 26 Staaten war eine Station in der Entwicklung sowohl der alliierten Kriegspolitik als audi der Vorstellungen von Nachkriegsregelungen. Aus dem Bedürfnis nach gegenseitiger Versicherung, alle Kräfte im Kampf gegen die Achsenmächte vereinen zu wollen, traten gemeinsame Erklärungen von Mächtegruppen neben das System bilateraler Verträge. Amerikanische Akten und eine englische Veröffentlichung erlauben einen guten Einblick in die Vorgeschichte und Auswirkungen jener Gruppe von Deklarationen, die in den Monaten vom Juni 1941 bis zum Januar 1942 zustande kamen, wobei die Atlantik-Charta wegen ihres ebenfalls allgemeinen Charakters in diese Reihe hineingehört. Absicht der heutigen Beschäftigung mit diesem Kapitel der alliierten Diskussion der Kriegsziele und Friedenspläne ist nicht der Versuch einer zusammenfassenden Darstellung, sondern die Vorlage einiger Beobachtungen und Bemerkungen. Die allgemeine und spezielle rechtliche Bedeutung dieser Deklarationen ist evident. Von ihnen ging und geht eine unmittelbare politische Wirkung aus. Aber schon die Tatsache, daß z . B . die Atlantik-Charta sehr bald nach ihrer Publizierung Bedenken und Auseinandersetzungen hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit und Anwendbarkeit in konkreten Fällen ausgesetzt war, vor allem was das Verhalten des sowjetischen Partners zumindest seit der St.-James-Erklärung vom 24. September 1941 2 ) anbelangte, regt zu der Frage an, welche Erfahrungen aus diesem historischen Vorgang gewonnen werden könnten, um künftig auf dem Felde der Koalitionspolitik und der 1) abgedruckt u. a.: Holborn, War an Peace Aims of the United Nations, September 1, 1939 — December 31, 1942. Boston 1943, S. 1 (künftig zitiert: Holborn). 2) Holborn , S. 3 cf. : Inter-Allied Meeting held in London at St. Jame's Palace on September 24, 1941. Report of Proceedings. London 1941. Cmd 6315. Misc. No. 3, S. 6—7.

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Grundlagen des Friedens West-Ost-Beziehungen

neue-alte Fehler und Selbsttäuschungen zu ver-

meiden. Ein frühes Interesse an solchen Joint Declarations hatte London, weil man zumindest in der Anfangsphase des Krieges befürchtete, Hitler könnte eine deutsche Hegemonialposition auf dem Kontinent doch durchsetzen, der dann Großbritannien alleine gegenüberstehen müßte. Es galt also, den unterworfenen Völkern die Hoffnung auf eine Befreiung zu erhalten, indem man die in der britischen Hauptstadt versammelten Exilregierungen sichtbar und demonstrativ als Partner in einer gemeinsamen Sache auftreten ließ. Bereits im November 1940 schlug deshalb London ein interalliiertes Treffen vor, das jedoch erst im Juni 1941 zustande kam. Die Regierungen Großbritanniens, einiger Commonwealth-Länder sowie von Belgien, Griechenland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Polen und Jugoslawien, ferner die provisorische Regierung der Tschechoslowakei und ein Vertreter General de Gaulies erklärten, daß man den Kampf gegen die deutsche oder italienische Aggression bis zum Sieg weiterführen würde, daß es keinen gesicherten Frieden und Wohlfahrt geben könne, solange freie Völker durch Gewalt und Drohung unter deutsche Herrschaft gezwungen würden, und daß die einzige wahre Grundlage für dauernden Frieden die freiwillige Zusammenarbeit der freien Völker in einer Welt sei, in der sie sich wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit erfreuen könnten. An dieser ersten Londoner interalliierten Erklärung vom 12. Juni 1941 fällt auf, daß sie in nur sehr vagen Formulierungen politische Zielrichtungen über das Kriegsende hinaus angibt, also konkrete Verabredungen vermeidet. Für diese Enthaltsamkeit sind drei Gründe maßgeblich gewesen, nämlich eine mit Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg begründete Abneigung, Bedingungen der Nachkriegsregelung im voraus eingehend festzulegen, zum anderen rechnete Churchill mit einem Kriegseintritt der USA, weshalb mit der Festlegung von Friedensbedingungen bis zu diesem Zeitpunkt gewartet werden sollte, drittens aber wollte London Verabredungen mit Exilregierungen vermeiden, um sich nicht das eigene politische Manövrierfeld verengen zu lassen, was sich insbesondere bei einem Eingehen auf die polnischen Anträge und Forderungen ergeben hätte. Solange Großbritannien der Hauptgegner der Achsenmächte war, konnte es seine dominierende Rolle als Alliierter der unterworfenen Staaten des Kontinents nutzen. So hatte es die Hände frei, als nur zehn Tage nach 3) Holborn, S. 3.

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Herbert G. Marxian jener Londoner Deklaration die Sowjetunion durch den Angriff Hitlers potentieller und bald auch vertraglicher Kriegspartner wurde. Man hat damals in London sichtlich aufgeatmet, als der 22. Juni 1941 dem Inselreich endlich einen Festlandsdegen bescherte. Allerdings mischten sich in diese Erleichterung bald Enttäuschungen und Besorgnis. Wohl sah man sich von der Sorge befreit, die Deutschen würden den unmittelbaren Angriff auf die Insel wagen, aber die Sowjets zeigten sich dem Ansturm der Wehrmacht — wenigstens vorerst — nicht gewachsen. I n Erinnerung an den überraschenden Frontwechsel Hitlers und Stalins im August 1939, also im Ribbentrop-Molotow-Vertrag, hielt man einen Friedensschluß zwischen Berlin und Moskau nicht für ausgeschlossen. Diese Sorge klang zwar ab, als die Wehrmacht bis zum Einbruch des Winters keinen Blitzsieg errungen, vielmehr von frischen russischen Kräften zur verlustreichen Aufgabe bereits gewonnener Gebiete gezwungen wurde. Aber nun schien wiederum die Gefahr eines deutsch-russischen Sonderfriedens gegeben, wenn nämlich die deutschen Invasionstruppen aus dem Territorium der Sowjetunion zurückgedrängt sein und die beiden Parteien den Schlagabtausch wegen Erschöpfung beenden würden. Deshalb unternahm London alle Anstrengungen, um den sowjetischen Kriegspartner kampffähig zu erhalten und koalitionstreu zu machen. Man ließ eine außerordentliche Bereitschaft zum Entgegenkommen erkennen, die zwar nicht in jeder Beziehung grenzenlos war, jedoch Moskau die Gelegenheit gab, nicht nur die eigene Schwächeperiode im diplomatischen Spiel als einen Trumpf einzusetzen, sondern darüber hinaus auch an Forderungen festzuhalten, mochten sie auch — wie das Bestehen auf der Zugehörigkeit der ostpolnischen Gebiete zur Union — im gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus unrealistisch sein. Gerade in dieser Territorialfrage war London zu keiner ablehnenden Haltung veranlaßt, denn es hatte Warschau bzw. der exilpolnischen Regierung niemals eine Grenzgarantie gegeben. Vielmehr zwang London die exilpolnische Regierung zum Abschluß eines Vertrages mit Moskau bereits am 30. Juli 1941, 4 ) in dem die Sowjetunion lediglich die Ungültigkeit der Territorialveränderungen infolge der deutsch-sowjetischen Verträge von 1939 zugestand, also sich keineswegs auf die Zusage einer Wiederherstellung der polnisch-sowjetischen Grenze von 1939 einließ. Faktisch war damit dieser Teil der Interessen des polnischen Verbündeten dem umworbenen sowjetischen Alliierten als Morgengabe zugestanden worden. Daß Stalin diese Gabe nicht nur abzubuchen entschlossen war, sondern sie 4) Documents on Polish-Soviet Relations 1939—1945. Vol. I., London 1961, S. 141.

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Grundlagen des Friedens auch als Bereitschaft deutete, darüber hinausgehende Territorialforderungen entgegenzunehmen, zeigte er sehr bald, nämlich in den Gesprächen mit dem britischen Außenminister Eden im Dezember 1941, auf die noch einzugehen sein wird. Es liegt auf der Hand, daß sich aus der pragmatischen Politik Churchills, der Entwicklung der Kriegslage auf dem Kontinent, der Rücksichtnahme auf den östlichen Alliierten und den erwarteten Alliierten U S A einschränkende Auswirkungen auf Überlegungen und Formulierungen irgendwelcher Kriegs- bzw. Friedensprogramme ergeben mußten. Die grundsätzliche britische Disposition für ein fallweises Verhalten auf diesem Sektor der Kriegspolitik, das ein Element der Stärke darstellen kann, mußte sich in dem Augenblick nachteilig auswirken, als Großbritannien nicht mehr wie früher der Finanzier eines Festlandsdegens sein konnte, sondern selber abhängig von dem potenteren Alliierten jenseits des Ozeans und dem eurasiatischen Raum als Stärkefaktor der Sowjetunion wurde. I n der Abneigung, konkrete Nachkriegsverpflichtungen einzugehen, waren sich London und Washington einig, insbesondere bestanden die Amerikaner auf einer solchen Übereinstimmung, was angesidits der machtpolitischen Relation zwischen diesen beiden Partnern praktisch bedeutete, daß die Verfügung über eine Nachkriegspolitik der freien H a n d von London auf Washington überging. I m Weißen Haus und State Department sah man die Chance für die endliche Erreichung des Weltfriedens sich abzeichnen. Diese Erwartung wurde durch ein außerordentliches Vertrauen in die Ordnung- und friedenstiftende Kraft demokratischer Prinzipien genährt, die man durch den britischen Alliierten nicht voll verwirklicht sah. Allerdings war die amerikanische Politik keineswegs nur von einem solchen Idealismus bestimmt. Er bot sich vielmehr gleichzeitig als eine Methode egoistischer Interessenpolitik an, da eine Vernichtung bzw. Auflösung kontinentaler Hegemonial- und kolonialer Herrschaftssysteme unter der Devise der Verwirklichung demokratischer Prinzipien überall auf der Welt das machtpolitische Schwergewicht der U S A uneingeschränkt wirksam werden lassen mußte. Wenn ζ. B. Roosevelt Mitte Juli 1941 Churchill aufforderte, keine Nachkriegsverpflichtungen über Gebiets-, Bevölkerungsund Wirtschaftsfragen einzugehen,5) so waren hier nicht nur die polnischen bzw. sowjetischen Forderungen gemeint, sondern z. .B auch Gespräche, welche London mit der niederländischen Regierung wegen der Sicherung des holländischen Kolonialbesitzes im Falle eines japanischen Angriffes s) Foreign Relations of the United States, 1941, Vol. I, S. 342 (künftig zitiert: FRUS).

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Herbert G. Marian führte. Roosevelt hat übrigens in diesem Schreiben an Churchill die Abhaltung von Plebisziten als Entscheidungsmittel für Territorialveränderungen skeptisch beurteilt. Diese bemerkenswerte Mischung von pragmatischen, idealistischen und eigennützigen Motiven bildete denn auch den Hintergrund für die Atlantikkonferenz, welche Roosevelt und Churchill vor der Küste von Neufundland im August 1941 abhielten. Die Amerikaner, welche selbst- und zielbewußt auftraten, behandelten die Engländer fast wie Bittsteller. So nahm z. B. der amerikanische Unterstaatssekretär Summer Welles seinen britischen Kollegen Sir Alexander Cadogan zu Beginn der Konferenz geradezu ins Verhör über die Londoner Verpflichtungen 6 ). Sir Alexander erklärte, daß die Abkommen der britischen Regierung mit den Polen und den Tschechen lediglich eine Unterstützung der Wiedererrichtung der Unabhängigkeit und Integrität dieser Länder, jedodi keine Entscheidung hinsichtlich ihrer territorialen Gestalt einschlössen. Dabei verfügte das State Department seit Ende 1939 über einen beratenden Ausschuß für Friedensprobleme, der Denkschriften auch über Gebietsveränderungen in Europa ausarbeitete 7). Wenn man die Entstehung der Charta vom 14. August 1941 anhand der Akten vom britischen Fünf-Punkte-Entwurf über die amerikanische Redaktion bis zum endgültigen Acht-Punkte-Text verfolgt, dann ergibt sich die vielleicht überraschende Feststellung, daß die Charta nur scheinbar ein Dokument der Übereinstimmung und Einmütigkeit der angelsächsischen Mächte war 8 ). Obwohl sie praktisch nichts anderes als Formulierungen der politischen Prinzipien und des Demokratieverständnisses des Westens enthält, was auch tatsächlich ihre dauernde Bedeutung begründet, kann sie nicht als eine Vereinbarung über Grundsätze und Zielsetzungen gemeinsamen Handelns in dem Sinne verstanden werden, daß die Partner nun alle Anstrengungen darauf richteten, ihr Grundsatzprogramm der Verwirklichung entgegenzuführen. Die Charta diente vornehmlich außen- und innenpolitisch zur Imagepflege der westlichen Koalition — in dieser Beziehung waren sich die Partner einig — , aber sonst blieb sie in Verbindung mit dem Motto, erst müsse der Krieg gewonnen werden, nicht nur eine bloße Verheißung, sondern sie hemmte oder unterband sogar eine auf die Beachtung ihrer Prinzipien drän·) 7) of 8)

FRUS, 1941, Vol. I, S. 352. ef. Postwar Foreighn Policy Preparation 1939—1945. Washington 1949. Department State, Publication 3580, General Foreign Policy Series 15. FRUS, 1941. Vol. I.

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Grundlagen des Friedens gende Politik, wie sie insbesondere in den Gebietsfragen Mittel- und Ostmitteleuropas notwendig gewesen wäre. Zwar hat Washington unter Berufung auf die Charta Großbritannien im Frühjahr 1942 davon abgehalten, in seinen Vertragsverhandlungen mit der Sowjetunion auf deren Forderung nach Anerkennung von erheblidien Gebietswünschen einzugehen, aber gleichzeitig wurden intern nicht nur Gebietsveränderungen diskutiert, die unter Mißachtung insbesondere des Punktes 2 der Charta, welcher die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung vorschreibt, vorgenommen werden sollten, sondern die exilpolnische Regierung z . B . wurde auf ihre Bitte um Unterstützung gegen die Moskauer Annexionswünsche mit der Formel beschieden, daß ein Engagement nicht möglich sei, jedoch eine direkte Verständigung zwischen den beiden Parteien gebilligt werden würde. Man proklamierte, aber schob die Lösung konkreter Aufgaben von sich weg. Wie sehr die Charta überdies nur dem Schein nach eine Übereinstimmung der Partner zum Ausdruck brachte, geht aus einer Denkschrift hervor, welche bald danach im Foreign Office angefertigt wurde 9 ). Sie geht die einzelnen Punkte durch und kommt dabei meist zu dem Ergebnis, daß sie für britische Interessen nachteilig, ohne wirkliche Deckung durch die Amerikaner, in deren Händen sogar gefährlich für eine Regelung der europäischen Fragen oder überhaupt ohne Aussicht auf Durchsetzung seien. Schon während der Atlantik-Konferenz, aber dann auch danach war insbesondere der Punkt 4 zwischen den angelsächsischen Regierungen umstritten, weil London einem völligen Abbau der Handelsschranken mit Rücksicht auf die Wirtschaftsgemeinschaft des Commonwealth nicht zustimmen konnte. Überhaupt hatte London nicht nur an der amerikanischen Interpretation der Charta erheblichen Anstoß zu nehmen, sondern es schränkte auch den Geltungsbereich der Erklärung sehr bald öffentlich ein. So stellte Churchill nur wenig mehr als drei Wochen später im Unterhaus fest, daß die Charta sich vor allem an die von den Deutschen unterworfenen europäischen Staaten ridite, während die britische Politik in Indien, Burma usw. von ihr unberührt bleibe 10 ). Dagegen wurde das Ansinnen des exilpolnischen Ministerpräsidenten Sikorski, eine eigene Interpretation oder einen öffentlichen Kommentar abzugeben, von Eden abgewiesen11). Sikorski wurde nur die Möglichkeit eröffnet, bei der im September geplanten zweiten Interalli9) Llewellyn Woodward: British Foreign Policy in the Second Wordl War. Vol. I I , London 1971, S. 204 f. (künftig zitiert Woodward). 10) am 9. 9.1941, Woodward, S. 207. H) am 15.9.1941, Woodward, S. 209.

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Herbert

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ierten Konferenz in London, auf der die kleineren Alliierten ihre Zustimmung zur Charta geben sollten, den Standpunkt seiner Regierung zu vertreten, worauf sich Polen dann bei einer Friedenskonferenz beziehen könne. Den Sowjets wurde dagegen die Abgabe einer Erklärung vor Beginn der Konferenzberatungen zugestanden, womit die Zustimmung Moskaus als nur unter einem generellen Vorbehalt erteilt zu werten war 1 2 ). Eine bedingungslose Verpflichtung der Konferenzteilnehmer wurde also nicht verlangt und kam nicht zustande, zumal die beiden angelsächsischen Mächte sich schon selber eine Reihe von Dispensionen erlaubt hatten. Eine weitere Diskrepanz zwischen Text der Charta und den Auffassungen sogar des Urhebers sei noch erwähnt. Roosevelt dachte bei dem Punkt 8, in dem die Errichtung eines weltweiten und ständigen Sicherheitssystems in Aussicht gestellt wird, nicht an eine gleichberechtigte Zusammenarbeit aller Staaten, sondern er wollte den drei Großmächten eine Vorrangstellung gesichert sehen, da sie nur allein in der Lage sein würden, die anstehenden Probleme zu regeln. Er konnte sich zwar auf die Erfahrungen mit dem Völkerbund berufen, der nur mühselig, wenn überhaupt, zu konstruktiver Arbeit fähig gewesen war, insbesondere hinsichtlich des Abrüstungsproblems, aber der Sowjetunion ebenfalls eine Vorrangstellung zuzubilligen, bedeutete doch praktisch eine offizielle Anerkennung und geradezu auch Ermunterung des Moskauer Hegemonialanspruches in Ostmittel- und Südosteuropa. „Unter der Voraussetzung, daß die praktische Anwendung dieser Prinzipien sich notwendigerweise den Umständen, Bedürfnissen und historischen Eigenheiten gewisser Länder anpassen wird, kann die Sowjetregierung feststellen, daß eine folgerichtige Anwendung dieser Prinzipien die entschiedenste Unterstützung durch die Regierung und die Völker der Sowjetunion finden wird", erklärte der sowjetische Botschafter Maisky auf jener zweiten Interalliierten Konferenz am 24. September 1941 im St.-JamesPalast in London 1 8 ). Das geschulte Ohr hört den deutlichen Vorbehalt heraus, der durch einen Blick in die Akten vollauf bestätigt wird. Maisky hatte schon im August dem britischen Außenminister erklärt, daß die Sowjetunion gewisse Teile der Charta anders gewünscht hätte, woraufhin er die Gelegenheit eingeräumt bekam, das besondere sowjetische Verständnis der atlantischen Prinzipien zu Protokoll zu geben 14 ). Daß es sich 12) Woodward, S. 209. 13) Holborn, S. 357. 14) am 26. 8. 1941, Woodward,

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S. 209.

Grundlagen des Friedens nicht um mehr oder minder große Nuancen handelte, sondern um eine tiefe Kluft zwischen westlichem und östlidiem Verständnis, erfuhr Eden bei seinen Verhandlungen mit Stalin im Dezember 1941 in Moskau. Denn Stalin respektierte keineswegs die angelsächsische Abneigung vor Abmachungen über Nachkriegsregelungen, vielmehr forderte er den Abschluß eines Geheimabkommens, in dem die Partner eine tiefgreifende Änderung der politischen Landkarte Europas, vor allem eine Befriedigung der sowjetischen Gebietswünsche, verabreden sollten 15 ). Stalins Programm für eine europäische Friedensregelung sah vor: Ostpreußen sollte an Polen, das Memelland mit Tilsit an die litauische Sowjetrepublik fallen. Die Tschechoslowakei sollte in den Grenzen von 1919 mit einem Gebietsgewinn auf Kosten Ungarns wiederhergestellt werden, Jugoslawien Küsteninseln und Städte aus italienischem Besitz erhalten, Albanien wieder unabhängig werden. Der Dodekanes sollte an die Türkei fallen, die türkisch-bulgarische Grenze zugunsten der Türkei verändert werden, auch Griechenland sollte in seinen Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt werden. Für den Fall, daß Frankreich nicht als Großmacht wiedererstehen sollte, wollte Stalin Großbritannien Militär- und Marinebasen an der französischen Küste, u. .a. in Boulogne und Dünkirchen, eingeräumt wissen. Belgien und die Niederlande sollten mit England eine Allianz eingehen, ferner diesem Partner Basen auf ihrem Boden zugestehen. Das Rheinland sollte von Preußen abgetrennt, Bayern unabhängig, Österreich wiederhergestellt werden. Gegen die Einrichtung von britischen Basen in Norwegen und Dänemark wollte Moskau keine Einwände erheben. I n Finnland und dem Baltikum sollte der sowjetische Gebietsstand von 1941 wiederhergestellt werden, gegenüber Polen sollte die sowjetische Grenze mit geringen Veränderungen der Curzon-Linie folgen, auch sollten Bessarabien und die Nordbukowina bei der Sowjetunion verbleiben, wofür ungarisches Gebiet an Rumänien fallen sollte. Außerdem forderte Stalin den Abschluß von Allianzen und Militärbasen mit bzw. in Finnland und Rumänien, auch Petsamo sollte an die UdSSR fallen 16 ). Eine Darstellung jener Dezember-Verhandlungen in Moskau ist im Rahmen unserer Betrachtung nicht nötig, nur soviel muß erwähnt werden, daß Eden eine Annahme der Forderungen Stalins unter Hinweis auf die ablehnende Haltung Amerikas und des eigenen Kabinetts verweigerte, jedoch 15) cf. Woodward, S. 220 ff. 16) Edens Bericht vom 5. 1. 1942 in Winston S. Churchill, The Second World War, Vol. I I I , S. 558. London 1950; Woodward, S. 222.

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Herbert G. Marxian ließ er sich auf eine das Für und Wider argumentierende Diskussion ein, schließlich sagte er einen Bericht zu. Stalin konnte seinen Vorstoß als keineswegs eindeutig abgewiesen bilanzieren, worin er sich hätte bestätigt sehen können, wenn ihm der Beschluß des Londoner Kabinetts vom 19. Dezember bekannt geworden wäre, der Stalins Forderungen jetzt ablehnte, gleichzeitig aber in Aussicht stellte, daß man ihnen auf der Friedenskonferenz nach dem Kriege teilweise nicht widersprechen werde 17 ). Auch die Denkschrift, welche Eden Ende Januar 1942 dem Kabinett vorlegte, empfahl Kompromißbereitschaft 18 ), welche dann in den Verhandlungen mit Moskau über einen Vertragsabschluß im Frühjahr 1942 soweit praktiziert wurde, daß Churchill den amerikanischen Präsidenten mit dem Argument zu einer Zustimmung drängte, die Prinzipien der Atlantik-Charta sollten nicht so ausgelegt werden, als ob sie Rußland die Grenzen verweigerten, welche es vor dem deutschen Angriff innegehabt habe 19 ). Roosevelt hat bekanntlich diesem Drängen nicht nachgegeben, aber seine Weigerung beruhte nicht auf prinzipiellen Gründen, sondern erfolgte um der Vermeidung eines kritischen Echos der öffentlichen Meinung willen. Denn er gab zu erkennen, daß er die Sowjetisierung der Baltischen Staaten hinzunehmen bereit sei, nur sollte der Bevölkerung die Möglichkeit der Auswanderung eröffnet werden; ferner erwog er eine Abtrennung Ostpreußens 20 ). Die Konsequenzen einer Aushöhlung und schließlich Mißachtung der Atlantik-Charta durch die Mächte hat der britische Historiker Sir Llewellyn Woodward wie folgt beschrieben: „Es ist leicht zu verstehen, warum die britische Regierung sich entschloß, sich nicht ausnahmslos an den Wortlaut der Atlantik-Charta zu halten. Nichtsdestoweniger bedeutete diese Entscheidung eine Aufgabe von Prinzipien; und vielleicht war es das bedeutsamste Element dieser Aufgabe — vom Gesichtspunkt des zukünftigen U m gangs mit der UdSSR — , daß es zumindest das Zugeständnis einschloß, daß der sowjetische Gebrauch demokratischer Begriffe zur Abdeckung von Akten zugelassen wurde, welche tatsächlich im Gegensatz zu Theorie und Praxis freier Staaten stehen." U n d weiter: „Die politischen Konsequenzen dieser Unterwerfung unter die Sowjetregierung waren und konnten im Frühling 1942 nicht voll erkannt werden, aber die von Mitte April bis Ende M a i dauernden Verhandlungen um den Abschluß des englisch-so17) Woodward,

S. 234.

18) Woodward

S. 237, (Denkschrift vom 28.1.1942).

10) Churchills Brief vom 7. 3. 1942, Woodward, 20) Woodward,

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S. 239, 243.

S. 239.

Grundlagen des Friedens wjetischen Vertrages zeigten, daß eine Unterwerfung unter russische Forderungen nicht von Konzessionen seitens der Russen, sondern — wie 1939 — von weiteren Forderungen gefolgt würde" 2 1 ). Während die Politik im Lager der Alliierten zwischen den Großmächten und gegenüber oder mit den kleineren Mächten in den alten Bahnen und mit den gewohnten Mitteln unverhüllter Machtpolitik getrieben wurde, bereitete man gleichzeitig eine neue Deklaration vor. Sie sollte noch einmal die im Kriege gegen die Achsenmächte verbündeten Nationen vereinen, diesmal auch unter Einschluß der U S A und Chinas, wobei die Zitierung der Atlantik-Charta als eine Art gemeinsamer Absichtserklärung in die Präambel verwiesen wurde, während der Hauptteil die Verpflichtung enthielt, den Krieg gegen die Achsenmächte unter Ausschöpfung aller militärischen und wirtschaftlichen Quellen zu führen sowie keinen separaten Waffenstillstand oder Frieden mit den Feinden abzuschließen. Damit war diese Erkärung mehr ein Kriegsbündnis als eine Festlegung auf Prinzipien der Friedensregelung. Die Akten über die Redaktion dieser neuen Erklärung während des Washingtoner Aufenthaltes von Churchill über die Jahreswende 1941/42 bestätigen den Bündnischarakter 22 ). Die echten oder vermeintlichen Bedürfnisse der Kriegführung bestimmten die Überlegungen. Der größte Teil der Konferenzen war auch militärischen Fragen gewidmet. Die Überlegungen, wie der Sieg errungen werden könne, wurden nicht auch daraufhin überprüft, inwieweit die erwogenen Schritte und gesetzten Ziele der Kriegführung die Aussichten auf eine befriedigende Friedensregelung erleichterten oder erschwerten. Das gesteckte Ziel des totalen Sieges zerriß das natürliche Ineinander von Kriegführung und Friedensplanung. Die Berufung auf die Atlantik-Charta wurde fast zu einer Floskel. Die Formulierungen der Präambel wurden nicht so sehr im Hinblick auf ihren prinzipiellen Aussagewert, sondern unter dem Gesichtspunkt vorgenommen, ob der sowjetische Partner zustimmen könne und damit ein kooperationsbereiter Kampfgenosse bleiben würde. Die Erfordernisse des Krieges modifizierten die Grundlagen des Friedens. Übrigens war die „Joint Declaration" keineswegs eine echte Gemeinschaftsdemonstration der Unterzeichnermächte, wie das Dokument selber vermuten läßt. Denn die Unterschriften für die Vereinigten Staaten, Großbritannien, die Sowjetunion und China wurden am 1. Januar 1942 im Büro des Präsidenten im Weißen Haus geleistet, während die Vertreter der übrigen N a si) Woodward, S. 245. 22) FRZJS, 1941, Vol. I I , 1942, Vol. I.

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Herbert G. Marxian tionen erst am folgenden Tage ins State Department zur Unterschrift gerufen wurden. Eine gleichberechtigte Behandlung der Unterzeichnermächte gab es also nicht. Der britische Vorschlag, weiteren Exilkomitees den späteren Zutritt zu ermöglichen, welche nicht den Status von Regierungen hatten, indem im Schlußsatz nicht nur von „nations", sondern auch von „authorities" gesprochen werde, fand keine Billigung. Immerhin gab das State Department am 5. Januar 1942 eine Presseerklärung heraus, mit der die Bereitschaft zur Entgegennahme von Zustimmungserklärungen durch „authorities" mitgeteilt wurde 2 3 ). Bezeichnenderweise machte der sowjetische Botschafter Litwinow einige Tage später im State Department eine Demarche und forderte unter beispielsweiser Nennung einer deutschen Exilgruppe, des lettischen Gesandten in Washington und des rumänischen N a tionalkomitees, welche sich um die Annahme ihrer Zustimmungserklärung bemüht hatten, daß eine Erlaubnis zur Unterzeichnung der Erklärung von einer vorhergehenden Billigung durch die vier Hauptsignatarmächte abhängig zu sein habe 24 ). Die Frühgeschichte der Vereinten Nationen unterschied sich also nicht von den Anfängen des Völkerbundes. Beide Ansätze zu einer Weltorganisation standen von vornherein im Schatten von Mächtegruppierungen, von denen die eine das Recht für sich in Anspruch nahm, nicht nur über die Grundlagen des Friedens, sondern auch darüber zu bestimmen, wem sie gewährt werden sollten. Statt das natürliche Schwergewicht der Welt- und werdenden Supermächte wirken zu lassen, bildete man einen Club der Privilegierten und stattete ihn mit Vorrechten aus. Dieser Club befand nicht nur über das Schicksal der kleineren Alliierten, insbesondere der von Deutschland okkupierten, sondern er verwies die Feindmächte ins politische Abseits, stempelte sie zu Parias. Indem diese letzteren beiden Gruppen praktisch ausgeschaltet wurden, konnten die Big Powers wie ein Gremium handeln, das über die künftige Aufteilung der Welt befindet. Roosevelt strebte diese Rolle an, Churchill zweifelte immer wieder an der politischen Klugheit eines solchen Vorgehens, Stalin nutzte die Aufnahme der Sowjetunion in dieses Schiedsrichterkollegium, um den größtmöglichsten Gewinn zu erzielen. Man kann nicht sagen, daß Stalin die Bundesgenossen über seine eigentlichen Absichten getäuscht habe. Als der britische Außenminister Eden im Dezember 1941 in Moskau war und Entwürfe für britisch-sowjetische Abmachungen vorlegt, wies sie Stalin als unzureichend zurück. Sie waren ihm zu vage 23) F RUS, 1942, Vol. I, 36 η. 24) FRUS, 1942, Vol. I, S. 31 f.

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Grundlagen des Friedens abgefaßt, während er Abmachungen mit konkreten Einzelheiten anstrebte. Stalin sagte unmißverständlidi zu Eden: „Eine Erklärung sehe ich als Algebra an, aber eine Übereinkunft ist praktische Arithmetik. Ich will nicht die Algebra herabsetzen, aber ich ziehe praktische Arithmetik vor, und ich glaube, daß unter den gegenwärtigen Umständen, wo sich Hitler jedermann gegenüber all der Verträge rühmt, die zu erreichen er fertigbekommen habe, es klüger sein würde, Verträge zu haben." Als der britische Außenminister die gewünschten Territorialabkommen ablehnte, erwiderte Stalin kühl: „Wenn unsere Kriegsziele unterschiedlich sind, dann wird es kein Bündnis geben." Obwohl diese Drohung in einer Situation ausgesprochen wurde, als die deutschen Armeen tief in Rußland standen, wirkte sie auf die angelsächsischen Mächte. Sie stellten angestrengte Überlegungen an, wie und wieweit man den sowjetischen Wünschen entgegenkommen könnte. Die Grundlagen des Friedens wurden bereits in ihrer Geburtsstunde zu einer bloßen Proklamation. 2δ) Woodward,

S. 223

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Joachim Freiherr von Braun G E M E I N S I N N ALS V O R A U S S E T Z U N G V O N FRIEDEN U N D FREIHEIT Zu Recht und Ethik der „neuen Ostpolitik" Es dürfte selbstverständlich sein, daß über Grundfragen unserer Arbeit nicht berichtet werden kann, ohne das gegenwärtige Geschehen im Blick zu behalten. Es sollte niemand verwundern oder gar zu Vorwürfen veranlassen, daß uns die anstehenden ostpolitischen Entscheidungen zutiefst bewegen. Die Ursachen dafür würde nur vordergründig erfassen, wer sich mit einem Blick auf unseren Aufgabenbereich begnügt. Gewiß hat sich der Arbeitskreis selbst die Aufgabe gesetzt, vornehmlich dem östlichen Deutschland zu dienen. Daran hat sich seit dem Beginn seiner Tätigkeit vor 26 Jahren nichts geändert. Heute — wie einst — sind wir überzeugt, eine Aufgabe gewählt zu haben, die nicht nur liebevolle Erinnerungen oder ehrwürdige Uberlieferungen mit wissenschaftlichen Mitteln pflegen will. Vielmehr meinen wir, daß sich an der Haltung zu Schlesien, Ostpreußen oder Pommern erweist, wieviel Lebenswillen unser Volk noch besitzt oder ob das Wort von den „Realitäten" bereits zu endgültiger Resignation führte. So stehen in unserer Arbeit das Bemühen um exakte Erkenntnis und deren Vermittlung neben dem Versuch, einer Selbstbesinnung zu dienen, die Deutschland und seiner Geschichte auch Eigenwert zuerkennt. Ein Versuch allerdings, der von einem Staatsdenken ausgeht, ohne das eine freiheitliche Ordnung kaum gesichert werden kann und das zugleich ein Erbe jenes Preußen ist, dem vor fast genau 25 Jahren seine Auflösung diktiert wurde. Diese Feststellung dürfte manchenorts für antiquiert gehalten werden, wie die Aussage von Ewig-Gestrigen klingen, umweht von „deutsch-nationalem Mief", so lautet wohl die abfällige Formel. Das kann uns nicht anfechten. Statt dessen sei an einem Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit veranschaulicht, wohin denn eine Betrachtungsweise führt, die den Staat nicht mehr als ein Gemeinwesen, als die Gemeinschaft aller seiner Bürger begreifen will. Sie ist eben nicht durch das Wort von der pluralistischen Gesellschaft zu ersetzen.

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Gemeinsinn als Voraussetzung

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Bei Erörterung der Ost-Verträge und zur Begründung ihrer VerfassungsKonformität spielt der Deutsdiland-Begriff eine entscheidende Rolle. Was eigentlich versteht das Grundgesetz unter dem Wort Deutschland? Bisher waren sich Politik, hödistrichterlidie Rechtsprechung und Wissenschaft in fast vollständiger Geschlossenheit einig, daß es sich um das Staatsgebiet in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 handelt. Trotzdem setzte sich seit langem schon ein politischer Sprachgebrauch durch, der zwischen Deutschland-Politik und Ost-Politik, zwischen Wiedervereinigung und Regelung der Ostgrenzen unterschied. Er mußte oder wollte vielleicht sogar die Vorstellung fördern: zwei getrennte außenpolitische Aufgaben seien zu erfüllen, von denen die eine nur Verfassungsgebot sei, die andere aber freiem Ermessen unterliege. Als ob Grenzen nichts mit dem Territorium und dieses nichts mit dem Staat oder seinen Menschen zu tun hätten. Es blieb nun einem Gelehrten vorbehalten, nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages (7. Dezember 1970) der Ansicht weniger Außenseiter offiziösen Charakter zu verleihen. Professor Erich Küchenhoff schrieb nämlich im „Bulletin" vom 8. Dezember 1970: Artikel 1 des Warschauer Vertrages treffe „gar nicht die Frage der Wiedervereinigung, also mit den Worten der Präambel: der Wahrung und Vollendung der Einheit Deutschlands, sondern die Frage der östlichen Grenze Deutschlands. Denn die ,Einheit Deutschlands', von deren Wahrung und Vollendung die Grundgesetz-Präambel spricht, ist nicht die Einheit eines abstrakten Gebietes, sondern die Einheit des deutschen V o l k e s . . . um die Einheit des deutschen Volkes kann es aber nur dort gehen, wo das deutsche Volk heute räumlich geschlossen siedelt.. ."*). Warum sich das konkrete Deutschland zu einem abstrakten Gebiet verflüchtigt haben soll, braucht hier nicht erfragt zu werden. Entscheidend ist, daß von dem Juristen Land durch Volk ersetzt wird. So kann Gesetzes-Auslegung ohne Sprachlogik getrieben werden, und eine Verfassung sogar ist nicht gefeit, entgegen ihrem Wortlaut politischen Thesen angepaßt zu werden. Die Grundgesetz-Norm verflüchtigt sich damit zu einer Zweckvorstellung, die freiem Ermessen unterliegen soll, trotzdem aber „mit dem Purpur der Verfassung bekleidet" bleibt. Die Vertragsgesetze brauchen also nicht mehr dadurch gerechtfertigt zu werden, daß sie dem Verfassungsgewollten, der Wiedervereinigung wenigstens näher führen. Es soll vielmehr genügen, daß 1) Hierzu: „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" Nr. 171 vom 8.12.1970, S. 1823. 6

Königsberg

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Freiherr

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die verfassungsmäßige Staatszielbestimmung willkürlich reduziert wird. Die Gewalttat Dritter tritt an die Stelle des eigenen Gesetzgebers 2)! Bemerkenswert allerdings ist, daß der Aufsatz Küchenhoffs nicht in den Band „Die Verträge" 3 ) übernommen wurde, den das Presse- und Informationsamt alsbald herausgab und in dem es sonst alle Texte aus dem „Bulletin" nachdruckte. Irrig wäre jedoch zu vermuten, daß damit jene GrundgesetzInterpretation fallengelassen worden wäre. Sie wurde vielmehr im Bundesrat erneut und in verschärfter Form wiederholt. Dort berichtete nämlich der Hamburger Senator Dr. Heinsen über die Beratungen des Rechtsausschusses und führte dabei unter anderem aus: „Man müsse... von der Lage ausgehen, die der Parlamentarische Rat nach der Kapitulation und nach der Unterstellung der Gebiete jenseits Oder und Neiße unter polnische Verwaltung vorgefunden habe. Danach und nach dem Wortlaut der Präambel könne ,Deutschland' nur personal verstanden werden: Das Wiedervereinigungsgebot betreffe diejenigen Teile Deutschlands, in denen das deutsche Volk noch geschlossen l e b t . . . " . U n d an anderer Stelle: „Nach der personalen Theorie bezieht sich diese Bestimmung (Art. I des Warschauer Vertrages) nicht auf ,Deutschland* im Sinne des Wiedervereinigungsgebotes" 4) . Damit war eine personale Deutschland-Theorie plötzlich aus unbeachteten Studierstuben auf die Ebene lebenswichtiger staatspolitischer Entscheidungen gehoben worden, und über den Zweck dieser Maßnahme dürften sich alle Vermutungen erübrigen. Akademische Theorien können eben leicht zur politischen Richtschnur gemacht werden, sobald nämlich die Wahrung rechtmäßiger Staatsinteressen nicht mehr als selbstverständliche und höchste Aufgabe außenpolitischen Handelns begriffen wird, die um der anvertrauten Menschen und eines gerechten Friedens willen zu erfüllen ist. Hier in einer anscheinend voraussetzungslosen staatlichen Außenpolitik, die sich mit den Gegebenheiten begnügt und Staatspflichten negiert — dürfte die Ursache dafür liegen, daß die Verfassungsmäßigkeit der Ost-Verträge öffentlich so breit erörtert wird. Sicherlich kommt dieser Frage höchster Rang zu, wenn Rechtsstaatlich2) Hierzu: Peter Lerdie, „Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum*. In: „Politische Studien", Nr. 202 März/April 1972, S. 113 ff. 3) „Die Verträge der Bundesrepublik Deutschland mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 und mit der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970*, vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. 4) „Bundesrat, Bericht über die 376. Sitzung", Bonn, den 9. Februar 1972, S. 403.

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kek bestehen soll. Die Frage gewinnt aber erst dann ihre gegenwärtige Ausschließlichkeit, wenn ein Konsensus über die Staatsinteressen nicht mehr besteht. Staatstreue Bürger sind dann nämlich gezwungen, letzte Zuflucht beim Grundgesetz zu suchen, dessen Väter noch die Wiederherstellung Deutschlands wollten und zum allgemeinen Gebot erhoben. Das Beispiel der „personalen Theorie" wurde nicht grundlos hervorgehoben. Es scheint mir erschreckend zu verdeutlichen, wohin ein vermeintlicher Pragmatismus führen kann. Denn jene Theorie zur Rechtfertigung des Warschauer Vertrages konnte von ihren Urhebern überhaupt nur entwickelt werden, nachdem sie sich mit der Massenvertreibung gleichberechtigter M i t bürger abgefunden hatten. N u r die Vertreibungen haben bewirkt, daß ostwärts der Oder das deutsche Volk nicht mehr ebenso geschlossen lebt wie in anderen Landesteilen. Soll trotzdem die Personal-Theorie als VertragsBasis gelten, so sind es tatsächlich die Vertreibungen, die eine politische Entscheidung gegen die betroffenen Bürger begründen. Die Frage wird daher zum müßigen Spiel mit Worten, ob denn die Gewalttat an ostdeutschen Mitbürgern oder ihr Schicksal unter fremder Verwaltung vertraglich legitimiert würden. Vielmehr soll der Rechtsbruch an Staatsbürgern bereits den Deutschland-Begriff geprägt haben, und die Legitimierung der Gewalttat erfolgt durch willkürliche Grundgesetz-Auslegung, beileibe nicht durch zwischenstaatlichen Vertrag, der eine „Realität" nur noch zu Papier bringt. Ein rechtswidriges Geschehen wurde also bloß noch zum historischen Vorgang, auf den sich Theorien und Entscheidungen gründen lassen. Das ist eine Betrachtungsweise, die jedermann in aller Welt belehren dürfte, wie rasch und sicher Gewalttat politischen Gewinn bringt, wenn sie nur rücksichtslos genug und gegen die Menschen eines Gemeinwesens begangen wurde, das seinen Staats- und Lebenswillen preisgab, das sich ein ungestörtes Dasein auf Kosten von Mitbürgern erhofft. Wahrhaft „kein Gramm Ethik" — um eine Formel Sombarts zu benutzen — dürfte hier zu finden sein, um so mehr aber die Gewißheit, daß noch viele Bürger in unserem Lande künftig um ihren Rechtsschutz bangen werden! I n der skizzierten Haltung spiegelt sich ein publizistisch seit Jahren aufgebautes Denken, das es einen „Ballast" nennt, wenn vom östlichen Deutschland die Rede ist. Dieser „Ballast" sei abzuwerfen; dann erst könne außenpolitische Bewegungsfreiheit gewonnen werden. Eine Bewegungsfreiheit offenbar, die als Selbstzweck gilt, mit einer Verantwortung für alle Bürger 6*

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ίοαώ 'ιγη Freiherr

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aber schlechterdings unvereinbar ist. Zwar lassen sich die von dieser politischen Haltung benachteiligten Menschen nicht verschweigen, sie sollen aber selber schweigen, und ihnen kann sogar „zugemutet" werden, ihr Schicksal als „Fügung" hinzunehmen, wie eine angeblich christliche Ethik zu postulieren weiß 5 ). I n der praktischen Politik nun lesen wir zwar die Mahnung des Bundeskanzlers, gerichtet an die U S A : „Eine von der Geschichte übertragene Rolle kann man ohne eigenen Schaden auch dann nicht abwerfen, wenn sie zeitweilig als eine Last empfunden wird" 5 1 1 ). Für unser Land und seine Bevölkerung soll jedoch jene These vom hinderlichen Ballast gültig bleiben. Sie tritt beispielsweise in folgender Formulierung auf: „Wer das Schiff der deutschen Einheit mit der Fracht der alten Grenzen belastet, der wird damit rechnen können, daß es seinen Hafen nie erreicht" 6 ). Zu diesem Satz braucht weder nach dem Inhalt des Wortes von „der deutschen Einheit" gefragt zu werden, noch bedarf es der Betonung, daß aus dem östlichen Deutschland, einem Viertel des Staatsgebietes, lediglich ein Grenzproblem wurde. Wesentlich ist in unserem Zusammenhang nur, daß auch hier von einer „Fracht" gesprochen wurde, die Kapitän und Mannschaft des bildhaft angesprochenen Schiffes nicht übernehmen wollen, obwohl es sich — um im Bilde zu bleiben — nicht um tote Last, sondern um schiffbrüchige Mitbürger handelt. Die gleiche Haltung klingt an, wenn davon gesprochen wurde, daß der Warschauer Vertrag „eine Last von den Gemütern vieler Menschen in der Bundesrepublik genommen" habe. Es kann aber auch heißen, daß der Vertragsabschluß „vor allem für die jungen Menschen in der Bundesrepublik von Bedeutung" sei; sie würden „von dem gespensterhaften Druck der Vergangenheit, die nicht ihre eigene Vergangenheit war, befreit" werden 7 ). Stets wird also von der Belastung gesprochen, deren man sich entledigen sollte. Verpflichtungen des Staates aber scheinen nicht mehr zu gelten. Sie δ) Hierzu: Vortrag von Prof. Dr. Ludwig Raiser in Warsdiau am 6.10. 1971, vervielfältigt. 5 a ) So Bundeskanzler Willy Brandt in der amerikanischen Zeitschrift „Foreign Äff airs", Aprilheft 1972. Zitiert nach „Bulletin" Nr. 48 vom 30.3. 72, S. 698. «) So Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Plenum des Bundesrates am 9. Februar 1972. Bundesrat, Bericht über die 376. Sitzung, S. 428. 7) So Herbert Wehner in Radio Warsdiau (deutsdi) am 13.2.1972, zitiert nach: »OstInformationen des Presse- und Informationsamtes" vom 15. 2. 1972, Dokumentation, S. 1.

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werden dem Traum geopfert, es ließe sich auch ohne bürgerlichen Gemeinsinn überleben. Die Haltung nennt man schließlich audi „die neue deutsche Außenpolitik der Toleranz", wobei dies oft schon mißbrauchte Wort wieder einmal in der Gefahr steht, ein wenig nach Gleichgültigkeit zu klingen. Dieser Eindruck wird durch die gleichzeitige Behauptung bestärkt, „daß durch die Verteufelung des (äußeren) Gegners die notwendigen inneren Reformen hintan gehalten werden sollten". Es bleibt also kaum etwas anderes als die Vermutung, daß „eine liberale Außenpolitik", deren Wesen ohnehin schwer zu begreifen ist, gerade gegenüber totalitären Nachbarn nicht auf die Erhaltung des Gemeinwesens und auf die Rechte seiner Bürger gerichtet ist. Statt dessen scheint der Wunsch bestimmend, die Außenpolitik dem Idealbild einer erstrebten Gesellschafts-£truktur dienstbar zu machen8). Es fällt schwer, darin noch eine nüchterne Staatspolitik zu erkennen, wie sie einem Lande aufgegeben sein dürfte, das mit seiner Einheit das Recht und die Freiheit seiner Bürger wiederherzustellen hat. So lange dies nicht erreicht wurde, kann das Prinzip außenpolitischer Liberalität — was es auch immer sein mag — nur die allgemein menschliche Neigung fördern: am eigenen Wohlstand Genüge zu finden, auf seinen Fortbestand zu hoffen, sich um Schicksal und Selbstbestimmung anderer Bürger aber nicht mehr zu kümmern. Dies ist um so beunruhigender, als es zu den hervorragendsten Leistungen liberalen Denkens gehört, die Selbstbestimmung der Völker zum allgemeinen politischen Prinzip erhoben zu haben; für die Bundesrepublik Deutschland wurde es sogar zum anerkannten Recht. Es war daher notwendig und selbstverständlich, daß alle ihre Regierungen bisher eben diese Selbstbestimmung für unverzichtbar erklärten, die nicht nur die Basis der innerstaatlichen Demokratie ist, sondern die Grundlage für den Bestand und damit für die Begrenzung des Gemeinwesens bilden soll. Dies Kriterium unserer staatlichen Existenz verleiht berechtigten Stolz und ein Selbstbewußtsein, das seines humanitären Ursprungs gewiß ist. Sorgen melden sich jedoch, wenn die verbale Achtung vor jenem demokratischen Grundrecht in Widerspruch zur praktischen Politik gerät. Oder sollte es kein Widerspruch sein, wenn den ostdeutschen Staatsbürgern, aber auch allen Deutschen lediglich bestätigt wird, daß Schlesien, Pommern oder 8) Hierzu: Walter Sdieel, in: »Die Freiburger Thesen der Liberalen*. Reinbek bei Hamburg, März 1972, S. 9 ff.

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Ostpreußen „nach dem Inkrafttreten des Warschauer Vertrages nicht mehr als Inland betrachtet werden"®)? Der Widerspruch wird nicht dadurch gemindert, daß hier ausdrücklich nur auf den Warschauer Vertrag abgehoben wurde, obwohl der Vertrag von Moskau die Grenzqualität der Linien an Oder und Werra fast gleichlautend betont. Sollte unabhängig davon Mitteldeutschland noch „als Inland" betrachtet werden, so müßte dies notwenigerweise auch für das nördliche Ostpreußen, den Raum von Königsberg gelten, der ebenfalls von den Abreden mit der Volksrepublik Polen nicht betroffen wurde. Entweder also sind Königsberg, Ost-Berlin oder Leipzig noch Teile Deutschlands, oder sie werden alle ebenso als Ausland betraditet, wie dies schon für Stettin, Allenstein, Breslau oder Oppeln der Fall ist. Jedenfalls aber sollen völkerrechtliche Veränderungen eintreten, ohne daß die unverzichtbare Selbstbestimmung der Deutschen zum Zuge kam. Veränderungen überdies, die erst bewirken, daß aus Gebietsansprüchen an Deutschland integrale Bestandteile der Sowjetunion und Polens werden. Erneut entsteht der Eindruck, daß wiederum die Massenvertreibungen zur unausgesprochenen Motivation wurden, um — ähnlich einstiger KabinettsPolitik — ohne Beteiligung der Bevölkerung über Territorien zu verfügen. Eigentlich sollte das Gegenteil der Fall sein! Gerade weil die Menschenrechte von Millionen Mitbürgern mißachtet wurden, ist ein Gemeinwesen, das seinen Namen verdient, gehalten, Annexionen zu widersprechen. Es geht eben in erster Linie um die Wiederherstellung menschlicher Rechte, aber nicht um Gebietsveränderungen, wie sie in der Geschichte oft erfolgten. Es kann daher nur einer unzureichenden Öffentlichkeitsarbeit angelastet werden, wenn eine italienische Zeitung die Dinge auf den Kopf stellt und in Zusammenhang mit dem Ringen um die Ost-Verträge von einem „Wiederaufleben kaum überwundener Annexionsbestrebungen" schreibt 10). Eigentlich sollte auch in Italien bekannt sein, daß nicht Deutschland seine eigenen Ostprovinzen zu annektieren gedenkt, sondern den völkerrechtswidrigen Erwerb Dritter zu hindern sucht. Erst künftig soll territoriale Rechtswahrung auch für uns zu einem vertragswidrigen „Gebietsanspruch" werden. I m Anschluß an diese Feststellung scheint mir eine Zwischenbemerkung, gewissermaßen in Paranthese, erforderlich: I n unserem Lande nämlich ist ») So Walter Scheel am 9. 2. 1972 vor dem Plenum des Bundesrates in: Bundesrat, Bericht über die 376. Sitzung, S. 410. 10) So „Politika", Florenz. Zitiert nach: „Frankfurter Rundschau" vom 22. 3. 1972, S. 2.

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zu gewärtigen, daß jene Überlegungen als „Formelkram" oder als „bloße Juristerei" abgetan werden, weil es um eigene Rechte geht. Diese polemischen Schlagworte aber, so meine ich, beweisen nicht nur ein gestörtes Verhältnis zum Recht, sie wurden sogar zum Mittel, ein angeborenes Rechtsbewußtsein verächtlich zu madien. Ein Abgrund trennt daher diese gängige Polemik von jenem „Kampf ums Recht", den Rudolf von Ihering vor hundert Jahren am 11. März 1872 in Wien forderte. Für den berühmten Gelehrten war die Verwirklichung des Rechtes durch den Staat „nichts anderes als ein unausgesetzter Kampf gegen die Gesetzlosigkeit". Die Haltung von Mensch oder Volk gegenüber einer Rechtskränkung galt Ihering noch als „der sicherste Prüfstein seines Charakters", und mit Schärfe wandte er sich gegen eine „Moral der Bequemlichkeit", gegen „Torheit und Verkehrtheit", ein gesundes Rechtsgefühl durch den „Geist der Feigheit und apathischen Erduldung des Unrechts" zu ersetzen. Ein Friede durch Recht im Gemeinwesen und zwischen den Staaten war Iherings Ziel. Auch er wußte jedoch um den Wert des Vergleichs und sogar um die Notwendigkeit zum Verzicht auf das Recht. Allerdings würde vergeblich suchen, wer von ihm die Befürwortung eines bequemen Friedens oder gar des Rechts-Opfers auf dem Altar einer „Mitmenschlichkeit" erwarten sollte, eines Opfers, das gegenwärtig zumeist von den anderen gefordert wird 1 0 *). Soweit die Paranthese. Sie möge zusätzlich verdeutlichen, wie sehr es gegenwärtig um die geistig-sittlichen Grundlagen einer Außenpolitik geht, die für die anvertrauten Menschen getrieben werden soll. Den Beweis dafür liefern noch manche weiterhin offenen Fragen, von denen die Staatsbürgerrechte und die Sorgepflicht des Staates ausgeklammert seien. Statt dessen sei auf die Eigentumsrechte kurz eingegangen, die sich plötzlich nicht mehr im Inland, sondern auf fremdem Staatsgebiet befinden sollen. Bisher jedenfalls waren diese Rechte von Deutschen in Deutschland unstrittig, und nicht nur die Präambel des Lastenausgleichs-Gesetzes hatte sie bestätigt. Immerhin wird den deutschen Bürgern amtlich versichert: „durch den Abschluß dieses Vertrages (Warschau) gehen keiner Person Rechte verloren, die ihr nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetzen zustehen". Denn die „Grenzfeststellung" von Artikel I des Warschauer Vertrages beträfe keine privaten Rechte, sie seien nicht Gegenstand der Ver10») „Der Kampf ums Recht. Hundert Jahre nach der berühmten Rede Rudolf von Iherings* von Werner Kägi, Zürich. In: „Neue Zürcher Zeitung" Nr. 164 vom 9. 4. 1972, S. 49 f.

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Handlungen gewesen und der Vertrag enthalte über sie „bewußt keine Bestimmung" 11 ). Diese Darstellung trägt zwar eine weit positivere Tönung als jene bekannte Formel: Es werde nichts preisgegeben, was nicht längst verspielt sei. Trotzdem bleiben Zweifel, ob denn ein Schweigen ausreicht, Rechte zu bewahren, die künftig im eigentumsfeindlichen Ausland gelegen sein sollen. Was wurde beispielsweise aus dem Herausgabe-Anspruch, der sicherlich nach deutschem Recht besteht? Was wurde zumindest aus der EntschädigungsForderung für rechtswidrig entzogenes Eigentum und wer ist Schuldner dieses Anspruchs? Einstweilen liegen dazu noch keine befriedigenden Antworten vor, und namentlich bleibt von Interesse, wie denn juristisch begründet werden könnte, daß ein Recht auf Herausgabe vorenthaltenen Eigentums fortbesteht. Kaum vorstellbar ist überdies, daß diese Rechte von der Bundesrepublik für ihre ostdeutschen Staatsangehörigen außenpolitisch in Warschau oder Moskau vertreten werden könnten. Wie wenig diese Befürchtung als bloße Vermutung abgetan werden darf, läßt sich an einem praktischen Vorgang aufzeigen, der sogar noch vor Ratifikation des Warschauer Vertrages liegt und trotzdem keine Intervention zur Folge hatte: A m 23. Juni 1971 erging das Gesetz der Volksrepublik Polen, durch das in den Verwaltungsgebieten über evangelisches Kirchengut zugunsten Dritter verfügt wurde, die es zueigen erhielten. A n einer Rechtswidrigkeit dieser Verfügung ist nach deutschem Recht und amtlichem Standpunkt ebensowenig zu zweifeln wie an dem Rechtsbruch, durch den 1945 bereits Kirchenvermögen als Feindesgut zu polnischem Staatseigentum erklärt wurde. Die Maßnahme von 1971 wurde jedoch im westlichen Deutschland widerspruchslos hingenommen, mochte sie noch so symptomatisch dafür sein, daß deutsches Eigentum für die polnische Staatsführung nicht existiert. Das Schweigen der Bundesrepublik ist festzustellen, Vorwürfe rechtfertigt es allerdings nicht. Denn die Amtskirchen — die evangelische Kirche in Deutschland und die evangelische Kirche der Union, Rechtsnachfolger der altpreußischen Union — konnten sich nicht entschließen, auch nur Verwahrung gegen den polnischen Übergriff auszusprechen. Nicht einmal jener Protest wurde erneuert, den Bischof Dibelius für die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union bereits am 23. Oktober 1947 in einem Schreiben an die polnische Staatsregierung erhoben hatte. 11) So Walter Scheel am 9.2.1972 vor dem Plenum des Bundesrates. In: Bundesrat, Bericht über die 376. Sitzung, S. 410.

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Das ist insgesamt ein sehr trauriges Kapitel, dessen Darstellung hier im einzelnen unmöglich ist. Alles Bemühen der ostdeutschen Kirchenglieder blieb jedenfalls vergeblich, obwohl sie immer wieder und mit Nachdruck betonten, es ginge ihnen nicht um Rechtsakte oder gar um politische Schritte. Vielmehr erwarteten die Ostdeutschen nur, einer Diakonie ihrer Kirche als Mitchristen teilhaftig zu werden. Einer Diakonie nämlich, die in der Wirklichkeit dieser Welt geübt wird und daher ein Verhältnis zum irdischen Recht besitzen muß. Schließlidi blieb als Ausweg nur, daß die Hilfskomitees der östlichen Provinzialkirchen der altpreußischen Union am 21. Februar 1972 von sich aus und für ihre Gläubigen die Verwahrung von 1947 wiederholten. Denn die E K Ü fühlt sich anscheinend durch taktische Überlegungen gehindert, sich zum polnischen Rechtsbruch zu äußern, weil sie noch formale Verbindungen zu den Unions-Kirchen Mitteldeutschlands besitzt. Der Rat der E K D dagegen begründet seine Zurückhaltung anders. Einmal verweist er darauf, nach amtlichen Auskünften des Auswärtigen Amtes sei davon auszugehen, „daß in den Vereinbarungen, die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen getroffen wurden, alle Eigentumsfragen nicht berührt worden sind" 12 ). Als ob diese Feststellung polnische Verfügungen über deutsches Kirchengut auch nur von ferne betreffen oder sogar noch vor Ratifikation des Warschauer Vertrages rechtsunerheblich machen könnte! N u r umgekehrt würde ein Schuh daraus: Eben weil deutsches Eigentum Rechtens besteht und nach amtlicher Auskunft auch fürderhin unberührt bleiben soll, wird die kirchliche Passivität so unbegreiflich. Es sei denn, daß die Duldung von Rechtsbruch als Beweis einer Verständigungs-Bereitschaft mißverstanden wird. Zum anderen aber hält sich der Rat der E K D überhaupt für unzuständig. Denn juristisch sei nicht zu klären, wer Rechtsnachfolger der vertriebenen ostdeutschen Gemeinden sei, ihr Eigentum also vertreten dürfe. Zur Begründung wird sogar das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794" bemüht. I m elften Titel § 308 sei nämlich festgelegt, daß der Landesherr über eine vakante Kirche verfügen könne, wenn die Stelle des 12) So Bischof D. Hermann Kunst nach der Sitzung des Rates der EKD vom 16. Dezember 1971.

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Pfarrers aus Mangel an Eingepfarrten länger als zehn Jahre hindurch unbesetzt geblieben sei 13 ). Es mag dahingestellt bleiben, ob eine polnische Verwaltungsmacht unbedenklich dem preußischen König gleichgesetzt werden sollte. Erschreckend aber ist, daß offenbar kein Gedanke dafür übrig ist, warum eigentlich die „Eingepfarrten" und ihre Geistlichen in den ostdeutschen Gemeinden fehlen. Auch hier und für den kirchlichen Bereich wurden die Massenvertreibungen offenbar zu einem gegebenen Tatbestand. N u r seine Rechtsfolgen, so scheint man zu meinen, seien noch zu ermitteln, und dafür genüge die analoge Anwendung einer deutschen Gesetzgebung, auch wenn sie gerade das historische Musterbeispiel rechtsstaatlichen Denkens ist! Es wäre zu bitter, diesen Standpunkt von geistlicher Ebene aus zu bewerten. Das möge daher unterbleiben, auch wenn die ostdeutschen Mitchristen von ihrer Kirche nur erwarteten, als ihre Glieder Beistand zu finden. Statt dessen mußten sie erkennen, daß keine ihrer Amtskirchen sich für berufen hält, die Ostdeutschen wahrhaft zu vertreten. Damit rückt die kirchliche Haltung in eine erschütternde Parallele zu jenem zeitgenössischen Denken, das Außenpolitik für möglich hält, ohne eine Gemeinschaft zu achten, der auch wirklich alle Bürger gleichermaßen zugerechnet werden. Staat und Kirdie mögen rechtlich getrennt sein, sie bleiben trotzdem einander um so mehr verhaftet, weil beide von Menschen ihrer Zeit verkörpert werden, je stärker Kirchenleitungen nach sogenannter Weltoffenheit streben. So mag man es drehen und wenden wie man will, übrig bleibt die Feststellung, daß die ostpolitische Haltung des Augenblicks ihre Rechtfertigung in der Massenvertreibung gleichberechtigter Staatsbürger sucht. Hinter dieser Gewalttat verschwinden menschliche Rechte und die ehrwürdige Geschichte von Jahrhunderten fast gänzlich; sie sollen zumindest die staatliche Willensbildung nicht mehr beeinflussen. Deswegen nur konnte das östliche Deutschland zu einem „Ballast" gestempelt und das außenpolitische Handeln auf eine personale Deutschland-Theorie gestützt werden, die Zeugnis gibt, wie sich — um mit Ernst Forsthoff zu sprechen — die Verfassung zu einer „Knetmasse in den Händen der Ideologen" oder Pragmatiker verwandeln Wortlaut des § 308: "Wenn aber, aus Mangel an Eingepfarrten, die Stelle des Pfarrers länger als zehn Jahre hindurch unbesetzt geblieben ist: so kann der Landesherr, so nicht besondere Landesverfassungen oder Traktate entgegenstehen, über die vakante Kirdie verfügen; und alsdann erlöschen auch die etwaigen Parodiialredite derselben."

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kann 1 4 ). Deswegen aber auch konnten kirchliches Eigentum und damit die Rechte christlicher Mitbürger fremdem Zugriff überlassen bleiben. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, den gemeinsamen Ursprung dieses gleichartigen Verhaltens zu finden. Den Anhalt geben zwei Sätze von Prof. Gustav Stein: „Wir haben den gesellschaftlichen Pluralismus als einen Wert unseres gemeinschaftlichen Lebens erkannt und bejahen ihn. W i r sind in Gefahr, zu verkennen, daß dieser Pluralismus einer Begrenzung durch den Gemeinschaftsgeist bedarf" 1 5 ). Der hier von Stein berufene Pluralismus ist gewiß ein Wesenskern unserer freiheitlichen Ordnung, er wird aber zum Sprengstoff und zum Vorwand für freiheitszerstörende Willkür, wenn darüber Bewußtsein und Wille verlorengehen, in einer Schicksalsgemeinschaft zu leben. Aus ihr dürfen nicht nach Belieben einzelne oder Gruppen ausgeschieden werden, wenn nicht der Gemeingeist überhaupt vernichtet werden soll. Ohne ihn aber bliebe nur, Geschichte zu erleiden, anstatt sie mittels des Staates zu gestalten. Gewiß kann ein starker Staat schlecht oder gut sein. Ein schwacher Staat aber, der nicht fähig oder gar nicht mehr willens ist, der Gesamtheit seiner Bürger zu dienen und von ihnen Treue zu fordern, ist sicherlich schlecht, mag die Regierung noch so wohlwollend sein 16 ). Es liegt auf der Hand, daß erhöhte Anforderungen an ein Gemeinwesen zu stellen sind, das um seine Wiederherstellung ringt und dessen ihm anvertraute Menschen zum großen Teil noch rechtlos sind oder die Folgen von Gewalttat zu tragen haben. Gerade hier erweist sich, daß von Selbstbestimmung als einem hohen Gut nur gesprochen werden darf, wenn das Gemeinwesen bereit ist, dies Recht für jeden seiner Bürger wahrzunehmen. Denn kein einzelner ist dazu fähig, vielmehr bleibt er auf den Beistand des überpersönlichen Ganzen verwiesen. Mögen das Irrationale am Staate, „der Kern des Unbezweifelten", die im Wort Vaterlandsliebe Ausdruck fanden, in unserem Lande durch einstigen Totalitarismus, durch Niederlage und eine destruktive Publizistik noch so angeschlagen sein, verloren sind sie nicht. Noch gibt es Bürger, die ganz Deutschland als Personifizierung ihres Staates denken und wollen. Bürger, die Staatlichkeit als den verkörperten Willen zu allgemeiner Verantwortung 14) Ernst ForsthofF, „Der Staat der Industriegesellschaft", München 1971, S. 78. ΐδ) Prof. Gustav Stein vor der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft in Bonn. Zitiert nach: „Rheinischer Merkur* Nr. 12 vom 24. 3. 1972, S. 2. ΐβ) Hierzu: Helmut Kuhn, „Der Staat", München 1967, passim, z.B. S. 55, 108, 148, 156.

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verstehen. Als einen Willen, der moralisch, geistig und vor allem politischsachlich unentbehrlich ist, um eine freiheitliche Ordnung zu erhalten. Dies gilt unverändert in einer Zeit, die internationale Zusammenschlüsse erstrebt, zu diesen aber nie ohne staatlichen Einzel willen gelangen wird 1 7 ). Allerdings wird es diesen Bürgern nicht leicht gemacht, ihr Staatsbewußtsein zugunsten des Ganzen zu vertreten. Sie müssen in Kauf nehmen, als Nationalisten oder gar als Friedensstörer verdächtigt zu werden. Selbst Regierungen und alle Parteien meiden es deswegen wohl, noch ernsthaft von ihrem Staate zu sprechen oder gar Staatstreue und damit Gemeinsinn von der Bevölkerung zu fordern. Statt dessen begnügt man sich damit, auf eine parlamentarische Mehrheit und auf eine demokratische Legitimierung zu verweisen, die doch nur um des Gemeinwesens und seiner Menschen willen erfolgte. Die Furdit, von Eigenstaatlichkeit zu sprechen, dürfte auch ursächlich sein für eine Neigung, die praktische Politik mehr mit Zustimmung oder Tadel Dritter zu begründen als mit den rechtmäßigen Interessen des Landes und seiner Bürger. Es konnte nicht Aufgabe dieses Referates sein, sich in jenen polemisch-vordergründigen Streit einzumischen, der um die Behauptung geht, daß zum einmal beschrittenen ostpolitischen Wege keine Alternative bestände. Ein Streit, der tatsächlich um die Glaubwürdigkeit von Zukunfts-Prognosen geführt wird und daher durchaus entbehrlich wäre. Das Referat wollte vielmehr versuchen, an einigen Zentralpunkten aufzuzeigen, welche geistige Grundlage nicht verlassen werden kann, ohne das staatspolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend zu verändern oder gar preiszugeben. N u r wenige Sätze seien noch angefügt. Übermacht, das „Gleichgewicht des Schreckens" und berechtigter Gewaltverzicht vereint, scheinen eine Resignation zu bewirken, die nur noch Fakten sieht, Normen aber mißachtet. Recht und Unrecht sollen keiner Unterscheidung mehr bedürfen, da die Effektivität der Macht ohnehin unangreifbar sei. Damit schwindet automatisch der Wille zu einer Menschlichkeit, die Bürgern und Staat eigene Beharrlichkeit und Anstrengung abverlangt, die aber nicht so bequem zu beweisen ist, wie es bei Wirtschaftshilfe oder Spenden für eine Dritte Welt der Fall ist. Damit verliert das Recht zudem seine Aufgabe, gerade den Schwachen zu schützen, und gleichgültig wird, daß jede Duldung staatlichen Rechtsbruchs diesen international wiederholungsfähig macht 18 ). 17) Hierzu: Werner von Simson. In: „Der Staat" 11. Band 1972 Heft 1, S. 51—60. 18) Hierzu: Armin A. Steinkamm, „Rechtsfragen zum Moskauer Vertrag vom 12. August 1970". In: „Politische Studien", Nr. 202, März/April 1972, S. 142 ff.

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Daher nur konnte das alles verdeckende Wort „Normalisierung" zum Inhalt zwischenstaatlicher Verträge und gewissermaßen zum Zaubermittel werden, das den Frieden bringen soll, ohne der Gerechtigkeit zu bedürfen. Weise scheint mir dagegen ein Wort der katholischen Vertriebenen-Seelsorger 19), aus dem zum Abschluß wenige Sätze zitiert seien: „Die Wiedergutmachung, die berechtigterweise für das Unrecht der Hitlerzeit gefordert werden kann, hat eine unübersteigbare Grenze in den Menschenrechten jener Deutschen, die keinerlei unmittelbare Schuld an jenem Unrecht haben. — Die Vertreibung der Deutschen stellt aber eine millionenfache Verletzung der Menschenrechte dar. Niemand kann den dadurch geschaffenen Unrechtszustand als berechtigte Wiedergutmachung für das den Polen oder Tschechen angetane Unrecht bezeichnen. — Die Aussöhnung zweier Völker kann nur Zustandekommen, wenn das ganze zwischen ihnen liegende Unrecht von beiden Seiten anerkannt wird und der Wille zur Wiedergutmachung auf beiden Seiten vorhanden ist."

1») „Königsteiner Erklärung der Vertriebenen-Seelsorger zum Welttag des Friedens 1972e vom 1. Januar 1972.

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Boris Meissner D I E F R A G E DES F R I E D E N S V E R T R A G E S M I T D E U T S C H L A N D SEIT P O T S D A M I . Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland im „Potsdamer Abkommen" Auf der Potsdamer Gipfelkonferenz im Juli/August 1945 wurde aufgrund eines amerikanischen Vorschlags ein ständiger Rat der Außenminister errichtet, dessen Organisation und Funktionen im Abschnitt I I des Berichts (bzw. Abschnitt I des Protokolls) näher geregelt wurden 1 ). Gleichzeitig wurde die Europäische Beratende Kommission („European Advisory Commission"-EA C ) , die auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1944 errichtet worden war, aufgelöst. Ein wesentlicher Teil der Vereinbarungen, die von der Europäischen Beratenden Kommission bis Potsdam getroffen wurden 2 ) und die von Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 ausgingen, ist noch heute gültig. Dies gilt vor allem für das Protokoll über die Besatzungszonen Deutschlands und die Verwaltung Groß-Berlins vom 12. September 1944 in der Fassung vom 26. Juli 1945. Dem Rat der Außenminister sollten außer den „Großen Drei", d. h. den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion auch Frankreich, das erst nach der Konferenz mit Vorbehalten dem „Potsdamer Abkommen" vom 2. August 1945 bei trat, und China angehören. Dieser Erweiterung stimmte Stalin nur widerstrebend zu. Der Außenministerrat hatte die vorbereitenden Arbeiten für die Friedensregelung fortzusetzen und sich darüber hinaus aller Angelegenheiten anzunehmen, die zu gegebener Zeit gemäß Vereinbarung der am Rat beteiligten Regierungen an ihn verwiesen wurden 3 ). 1) Vgl. The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) Foreign Relations of the United States, Diplomatie Papers, Vol. I I , Washington 1960, S. 1478—81, 1500—01; Teheran-Jalta-Potsdam. Sbornik dokumentov (Teheran-Jalta-Potsdam, Dokumentensammlung), Moskau 1967, S. 341—343, 359—361; deutsche Übersetzung: A. Fischer (Hrsg.): Teheran-Jalta-Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der »Großen Drei*, Köln 1968, S. 391—393, 405—407. 2 ) Vgl. B. Meissner: Die Vereinbarungen der Europäischen Beratenden Kommission über Deutschland von 1944/45, Internationales Recht und Diplomatie, 15. Jg., 1970, S. 9 ff. 3

) Vgl. J. Hacker: Sowjetunion und D D R zum Potsdamer Abkommen, Köln 1968, S. 23 £F.

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Als sofortige Aufgabe wurde von den Regierungschefs dem Außenministerrat die Ausarbeitung von Friedensverträgen mit den ehemaligen Verbündeten Deutschlands und von Vorschlägen für die Regelung strittiger europäischer Gebietsfragen übertragen. Als nächste Aufgabe war sodann die Ausarbeitung des Friedensvertrags mit Deutschland vorgesehen. I n allen diesen Fällen sollten im Rat nur diejenigen Mächte vertreten sein, die an den Feindseligkeiten auf dem europäischen Kriegsschauplatz beteiligt waren und die militärische Kapitulation Deutschlands entgegengenommen hatten, d . h . also neben den Großen Drei auch Frankreich, aber nicht China. Aus den Bestimmungen des „Potsdamer Abkommens" geht eindeutig hervor, daß die Alliierten von einem Fortbestand des Deutschen Reiches ausgingen. Der Friedensvertrag sollte mit dem deutschen Gesamtstaat abgeschlossen werden. I n dem Abschnitt über die Einrichtung und Aufgabe des Rats der Außenminister heißt es4) : „Der Rat wird zur Vorbereitung einer Friedensregelung für Deutschland benutzt werden, damit das entsprechende Dokument durch die für diesen Zweck geeignete Regierung Deutschlands angenommen werden kann, nachdem eine solche Regierung gebildet sein wird." Von Churchill und Stalin wurde auf der Potsdamer Konferenz die Bildung einer deutschen Zentralregierung unter Aufsicht des Alliierten Kontrollrats befürwortet 5 ). Der amerikanische Präsident Truman war dazu vor der Ausarbeitung eines Friedensvertrages nicht bereit. Von Frankreich, das auf der Potsdamer Konferenz nicht vertreten war, wurde anfangs selbst eine deutsche Zentralverwaltung abgelehnt. Seit Potsdam ist daher die Problematik eines Friedensvertrages mit der Frage einer deutschen Zentralregierung eng verknüpft gewesen. I m „Potsdamer Abkommen", das ebenso wie die EAC-Vereinbarungen von Deutschland in den Grenzen am 31. Dezember 1937 ausging, sind die Oder-

4) The Conference of Berlin (The Potsdam Conference), Vol. I I , a. a. O., S. 1479, 1500; Theran-Jalta-Potsdam, a. a. O., S. 342, 359. „Friedensregelung" ist in diesem Absatz die genaue Ubersetzung des englisdien Ausdrucks „peace settlement", während in der deutschen Übersetzung im Ergänzungsheft 1 des Amtsblattes des Alliierten Kontrollrats in Deutschland, die keinen verbindlichen Charakter besitzt, von „friedlicher Regelung" die Rede ist. Es handelt sich hierbei um die wörtliche Übersetzung des russischen Ausdrucks „mirnoje uregulirowanije", der sich aus der Anpassung des russischen Wortlauts an die englische Wortfolge ergeben haben dürfte. &) Vgl. B. Meissner: Rußland, die Westmädite und Deutschland. Die sowjetische Deutschlandpolitik 1943—1953, Hamburg 19531, 19542, S. 73.

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Boris Meissner Neiße-Gebiete an Polen nur zur zeitweiligen Verwaltung übertragen worden, während die Stadt Königsberg und das umliegende Gebiet, d. h. das nördliche Ostpreußen, auf der gleichen rechtlichen Grundlage unter die unmittelbare Verwaltung der Sowjetunion gestellt wurde 6 ). Allerdings erklärten sich der amerikanische Präsident und der britische Premierminister bereit, für eine Abtretung des nördlichen Ostpreußen an die Sowjetunion auf einer Friedenskonferenz einzutreten. Das westlich der Oder gelegene Gebiet von Stettin — ca. 455 qkm — wurde erst am 19. November 1945 polnischer Verwaltung unterstellt. Durch Verschiebungen der Demarkationslinie ist es bis 1950 um weitere 303 qkm vergrößert worden 7 ). Aus dem „Potsdamer Abkommen" geht eindeutig hervor, daß die endgültige Entscheidung über die deutschen Ostgebiete ausdrücklich einer künftigen Friedensregelung mit Deutschland vorbehalten worden ist. Dies ist vom damaligen amerikanischen Außenminister Byrnes in seiner bekannten Rede in Stuttgart am 6. September 1946, die eine Wende in der amerikanischen Deutschlandpolitik einleitete, deutlich zum Ausdruck gekommen. Byrnes erklärte 8 ) : „In Potsdam wurden, vorbehaltlich einer endgültigen Entscheidung durch die Friedenskonferenz, bestimmte Gebiete, die einen Teil Deutschlands bildeten, vorläufig der Sowjetunion und Polen zugewiesen. Damals waren diese Gebiete von der Sowjetarmee und der polnischen Armee besetzt. Es wurde uns gesagt, daß die Deutschen aus diesen Gebieten in großer Zahl flüchteten und daß es im Hinblick auf die durch den Krieg hervorgerufenen Gefühle tatsächlich schwierig sein würde, das wirtschaftliche Leben dieser Gebiete wieder in Gang zu bringen, wenn diese nicht als integrale Bestandteile der Sowjetunion beziehungsweise Polens verwaltet würden. Die Staatsoberhäupter erklärten sich damit einverstanden, bei den Friedensregelungen den Vorschlag der Sowjetregierung hinsichtlich der endgültigen Übertragung der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion zu unterstützen. Sofern die sowjetische Regierung ihre Auffassung diesbezüglich nicht ändert, werden wir an diesem Abkommen festhalten. β) Vgl. Meissner, a. a. O., S. 62 ff. 7) Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.): Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1972, S. 14/15. 8) Europa-Archiv, 1. Jg., 1946, S. 263/4.

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Die Frage des Friedensvertrages Was Sdilesien und andere ostdeutsche Gebiete anbetrifft, so fand die zu Verwaltungszwecken erfolgte Übergabe dieses Gebietes durch Rußland an Polen vor der Potsdamer Zusammenkunft statt. Die Staatsoberhäupter stimmten zu, daß Schlesien und andere ostdeutsche Gebiete bis zur endgültigen Festlegung der polnischen Westgrenze durch den polnischen Staat verwaltet und zu diesem Zweck nicht als Teil der russischen Besatzungszone in Deutschland angesehen werden sollten. Wie aus dem Protokoll der Potsdamer Konferenz hervorgeht, einigten sich die Staatsoberhäupter jedoch nicht dahingehend, die Abtretung irgendeines bestimmten Gebietes zu unterstützen." A m 16. September 1946 erfolgte eine Erwiderung Molotows auf die ByrnesRede, in der er die Oder-Neiße-Linie mit dem Hinweis auf die „Umsiedlung" der deutschen Bevölkerung als die endgültige deutsche Ostgrenze bezeichnete. Der Friedenskonferenz komme nur die formelle Bestätigung der in Potsdam getroffenen Entscheidung zu. Molotow sagte®) : „Die Berufung darauf, daß die Berliner Konferenz es für notwendig erachtet habe, die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückzustellen, ist natürlich richtig. Gerade so sieht die formale Seite aus. Dem Wesen der Sache nach aber haben die drei Regierungen ihre Meinung über die künftige Westgrenze ausgesprochen, als sie Schlesien und die obenerwähnten Gebiete unter die Verwaltung der polnischen Regierung stellten und außerdem den Plan über die Aussiedlung der Deutschen aus diesen Gebieten annahmen. Wem könnte der Gedanke in den Kopf kommen, daß diese Aussiedlung der Deutschen nur als zeitweiliges Experiment vorgenommen wurde? Diejenigen, die den Beschluß über die Aussiedlung der Deutschen aus diesen Gebieten gefaßt haben, damit sich dort sofort Polen aus anderen polnischen Bezirken ansiedeln, können nicht nach einiger Zeit vorschlagen, entgegengesetzte Maßnahmen durchzuführen. Allein schon der Gedanke an derartige Experimente mit Millionen von Menschen ist unfaßbar, ganz zu schweigen von seiner Grausamkeit sowohl gegenüber den Polen als auch gegenüber den Deutschen selbst." A l l das spricht davon, daß der von Truman, Attlee und Stalin unterzeichnete Beschluß der Berliner Konferenz die Westgrenzen Polens bereits festgelegt ö) W. M. Molotow: Fragen der Außenpolitik. Reden und Erklärungen April 1945 bis Juni 1948, Moskau 1949, S. 258 ff. 7

Königsberg

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Boris Meissner hat und nur seiner Besiegelung auf der künftigen internationalen Konferenz über den Friedens vertrag h a r r t . . . Gegenüber der sowjetischen Behauptung, daß von dem Beschluß der Potsdamer Konferenz über die „Umsiedlung", d. h. Vertreibung der heimatansässigen deutschen Bevölkerung, auf die endgültige Regelung der territorialen Frage geschlossen werden kann, ist von Außenminister Byrnes und später von seinem Nachfolger, General Marshall, betont worden, daß sie von sowjetischer und polnischer Seite in der Höhe der Zahl der verbliebenen Deutschen absichtlich getäuscht worden seien 10 ). Selbst die weit über den sowjetischen und polnischen Angaben liegende amerikanische Schätzung von 2 Millionen hätte sich als falsch erwiesen, da die Zahl der Deutschen in den polnisch verwalteten Gebieten zur Zeit der Potsdamer Konferenz faktisch über 5 Millionen betragen habe. I I . Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland auf den Tagungen des Außenministerrates Insgesamt haben 6 Tagungen des Außenministerrats stattgefunden: in London (Sept./Okt. 1945), Paris (April/Mai, Juni/Juli 1946), N e w York (Dezember 1946), Moskau (März/April 1947), London (Nov./Dez. 1947), Paris (Mai/Juni 1949) 1 1 ). Auf der ersten Pariser Viermächtekonferenz sind die Friedens Verträge mit Italien, Finnland, Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgehandelt worden, die am 10. Februar 1947 abgeschlossen wurden 12 ). Die Bestimmungen des Friedensvertrages mit Österreich lagen am Ausgange des Jahres 1949 im wesentlichen fest. Doch wurde der Friedensschluß von sowjetischer Seite immer wieder hinausgezögert. Die Unterzeichnung des Staatsvertrages fand erst am 15. M a i 1955 statt 18 ). Einen Sonderfall bildete Japan. Aus den Bestimmungen über den Außenministerrat war nicht ersichtlich, ob der Rat auch für die spätere Ausarbeitung eines Friedensvertrages mit Japan zuständig sein sollte. Dies ist später von der Sowjetunion behauptet und mit der Teilnahme Chinas am Außenministerrat begründet worden. 10) Vgl. Meissner, a . a . O . , S. 66 und 110. 11) Zur Behandlung der deutschen Frage auf den Tagungen des Außenministerrates vgl. B. Meissner: Rußland, die Westmächte und Deutschland. Die sowjetische Deutschlandpolitik 1943-1953, Hamburg 19531, 19542. 12) Vgl. E.Menzel (Hrsg.): Die Friedensverträge von 1947 mit Italien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Finnland, Oberursel (Taunus) 1948. 13 ) Vgl. E. Ermacora: Österreichs Staats vertrag und Neutralität, Berlin 1957.

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Die Frage des Friedensvertrages A n der Friedenskonferenz von San Franzisko hat sich die Sowjetunion nicht beteiligt 14 ). Der am 8. September 1951 abgeschlossene Friedens vertrag mit Japan stellte von ihrem Standpunkt einen Separatfrieden dar, der eine umfasssende Friedensregelung nicht ersetzen konnte. Die weltpolitischen Veränderungen der neuesten Zeit haben das Interesse der Sowjetunion an einem Friedensvertrag mit Japan wesentlich verstärkt 15 ). I m Rahmen des Außenministerrates ist auf der zweiten Pariser Außenministerkonferenz sowie den Ratstagungen in Moskau, London und Paris über den Friedensvertrag mit Deutschland diskutiert worden. A m ausführlichsten ist auf den Inhalt des Friedensvertrages auf der Moskauer Außenministerkonferenz und auf der vorausgegangenen Londoner Konferenz der stellvertretenden Außenminister im Januar 1947 eingegangen worden. Auf der Potsdamer Gipfelkonferenz scheinen die Sowjets an einer baldigen Friedensregelung mit Deutschland durchaus interessiert gewesen zu sein. Bereits im Frühjahr 1946 waren sie jedoch bemüht, die Ausarbeitung eines Friedensvertrages mit Deutschland so lange hinauszuzögern, bis die Westmächte sich bereit erklärten, auf jene Forderungen einzugehen, die in Jalta und Potsdam eine Erfüllung im sowjetischen Sinne nicht gefunden haben. Daher wurde der Vorschlag von Byrnes, die Stellvertreter der Außenminister mit der Ausarbeitung des Friedensvertrages mit Deutschland zu beauftragen, von Molotow in der ersten und zweiten Phase der Tagung des Außenministerrates in Paris abgelehnt. I n seiner Rede vom 10. Juli 1946 begründete Molotow die sowjetische H a l tung mit den Worten 1 6 ) : „Die künftige deutsche Regierung muß eine demokratische Regierung sein, die imstande ist, die Überreste des Faschismus in Deutschland auszurotten und gleichzeitig imstande ist, den Verpflichtungen Deutschlands gegenüber den Verbündeten nachzukommen, wobei sie in erster Linie die Reparationslieferungen an die Verbündeten sicherzustellen hat. Erst wenn man sich vergewissert hat, daß die neue deutsche Regierung fähig ist, diese Aufgabe zu bewältigen und sie in der Tat ehrlich erfüllt, erst dann wird man ernsthaft vom Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland sprechen 14) Vgl. E. Menzel: Der Friedensvertrag mit Japan, Europa-Archiv, 7. Jg., 1952, S. 5261 ff.; 5355 ff. 15) Zu den ungelösten Gebietsfragen zwischen der Sowjetunion und Japan vgl. H . Shibuya: Die territoriale Frage zwischen Japan und der Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg, in: Macht und Recht im kommunistischen Herrschaftssystem, Köln 1965, S. 209 ff. 16) Molotow, a. a. O., S. 74. 7'

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Boris Meissner können. Ohne dem kann Deutschland keinen Friedensvertrag beanspruchen, noch können die verbündeten Mächte sagen, sie hätten ihre Verpflichtungen gegenüber den Völkern erfüllt, die fordern, daß ein dauerhafter Frieden und Sicherheit gewährleistet werden." Die Sowjets waren damit einverstanden, daß die Probleme eines gesamtdeutschen Friedensvertrages zunächst auf einer Konferenz der stellvertretenden Außenminister durchgesprochen wurden, von denen die Auffassungen der anderen Staaten, die der Allianz gegen Deutschland angehört hatten, berücksichtigt wurden. Diese Konferenz fand im Januar 1947 in London statt. Auf ihr wurden Überlegungen angestellt, die künftige Friedensregelung weder „Friedensvertrag mit Deutschland" noch „Friedensvertrag für Deutschland", sondern „Deutscher Friedensvertrag" zu nennen 17 ). Auf der folgenden Tagung des Außenministerrates in Moskau im März/April 1947 wandten sich die Sowjets gegen den anfänglichen amerikanischen Plan, Deutschland die künftige Friedensregelung in Form eines Friedensstatuts aufzuerlegen und die Annahme der Friedensbedingungen durch das deutsche Volk durch Aufnahme entsprechender Bestimmungen in die Verfassung zu gewährleisten 18 ). Der sowjetische Außenminister vertrat im Einklang mit dem Potsdamer Abkommen den Standpunkt, daß der künftige Friedensvertrag erst nach Bildung einer deutschen Zentralregierung abgeschlossen werden sollte, womit diese die volle Verantwortung für die Durchführung des Vertrages übernehmen würde. Molotow erklärte, die Sowjetunion lege besonders großen Wert auf diese Frage, denn irgend jemand in Deutschland müsse für die Erfüllung des Vertrages verantwortlich gemacht werden und das könnten nicht die Länderregierungen sein. Der sowjetische Außenminister berief sich immer wieder auf die Beschlüsse der Potsdamer Gipfelkonfrenz, denen zufolge der Friedensvertrag von einer deutschen Regierung angenommen werden sollte, sobald eine solche für diesen Zweck geschaffen worden sei. Er wies darauf hin, daß man es auch bei der Unterzeichnung der Friedensverträge mit den ehemaligen Verbündeten Deutschlands als völlig normal angesehen hätte, daß diese Verträge von den Regierungen unterzeichnet würden und daß ihre Vertreter vorher bei der Friedenskonferenz zu Wort kämen. Deutschland dürfe keine Ausnahme bilden. 17) Vgl. Die Deutsche Frage auf der Moskauer Konferenz der Außenminister, Sonderheft des Europa-Archivs, 2. Jg., 1947, Nr. 1 (abgekürzt: Moskauer Konferenz), S. 771. 18) Vgl. Die Sowjetunion und das Deutschlandproblem. Stellungnahme der Sowjet-Delegation auf der Moskauer Konferenz, Halle (Saale) 1947, S. 25—27; Moskauer Konferenz, a. a. O., S. 700 ff.

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Der amerikanische Vorschlag, daß an der Friedenskonferenz Vertreter aller alliierten Staaten in voller Gleichberechtigung teilnehmen sollten, wurde von Molotow zurückgewiesen. Er bestand ausdrücklich auf der Sonderstellung der vier Großmächte, war aber einverstanden, daß in bestimmten Ausschüssen zur Vorbereitung des deutschen Friedensvertrages auch andere Staaten vertreten waren. Die Frage der Ostgrenze Deutschlands ist auf der Moskauer Außenministerkonferenz eingehend diskutiert worden 1 9 ). Nicht nur der neue amerikanische Außenminister Marshall, sondern auch der britische Außenminister Bevin, der an der Potsdamer Gipfelkonferenz teilgenommen hatte, traten für einen Verbleib Schlesiens und Pommerns bei Deutschland ein. Außerdem sprach sich Marshall für eine Nutzbarmachung des oberschlesischen Industriegebiets für die Wirtschaft ganz Europas aus. Marshall schlug die Bildung einer Grenzkommission vor, der die Aufgabe zufallen sollte, über folgende Punkte zu beraten und dem Außenministerrat Bericht zu erstatten 20 ) : „a) Revision der Vorkriegsgrenze zwischen Polen und Deutschland unter angemessener Entschädigung Polens für die Gebietsabtretung östlich der Curzon-Linie an die Sowjetunion; b) wirtschaftliche Vorkehrungen, durch die sichergestellt wird, daß diejenigen Rohstoffe und Hilfsmittel der Schwerindustrie des in Frage stehenden Gebietes, die für die europäische Wirtschaft von lebenswichtiger Bedeutung sind, in angemessener Weise eingesetzt werden, um den Bedürfnissen Europas und insbesondere Polens zu dienen. I n ihrer Berichterstattung soll die Kommission die Frage der polnischen Neubesiedelung und der deutschen Besiedelung der in Frage stehenden Gebiete sorgfältig erwägen und das beste Mittel angeben, durch das die wirksame Ausnutzung dieser Gebiete für das wirtschaftliche Wohlergehen des polnischen und des deutschen Volkes sowie Europas in seiner Gesamtheit sichergestellt werden kann. a Während Molotow auf dem Standpunkt verharrte, den er in seiner Rede am 16. September 1946 bezogen hatte, stellte der französische Außenminister fest, daß Frankreich zwar die Verwaltung der Polen zufallenden Gebiete durch die polnische Regierung gebilligt habe, aber der Ansicht sei, l») Vgl. Meissner, a.a.O., S. 107 ff.; Moskauer Konferenz, a . a . O . , S. 719 ff. 20) Moskauer Konferenz, a. a. O., S. 719.

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Boris Meissner daß das deutsche Grenzproblem als Ganzes behandelt und erst nach eingehenden alliierten Verhandlungen entschieden werden könne. Die Moskauer Außenministerkonferenz diente dem Kreml dazu, Zeit zu gewinnen, um einerseits den Wiederaufbau Deutschlands und Westeuropas hinauszuzögern, andererseits die Sowjetisierung Osteuropas weiter voran zu treiben. Sie gab der Sowjetführung außerdem die Möglichkeit, Klarheit über die Absichten der Vereinigten Staaten in Europa zu gewinnen. Die auf der Konferenz aufgetretenen Differenzen wurden von Stalin in einem Gespräch mit Marshall bagatellisiert und als „erste Reibungen und Plänkeleien zwischen Aufklärungsstreitkräften" bezeichnet21). I n dem gleichen Gespräch brachte Stalin das sowjetische Interesse an einem Finanzkredit der Vereinigten Staaten zum Ausdruck. Es ist durchaus möglich, daß die Gewährung eines solchen Kredites auf bilateraler Grundlage die Sowjets in ihrer Haltung in der Deutschlandfrage nachgiebiger gestimmt hätte. Eine multilaterale Regelung, wie sie im Marshall-Plan vorgesehen war, wurde dagegen vom Kreml als eine gegen die Sowjetunion gerichtete Aktion aufgefaßt. Die Auseinandersetzung um den Marshall-Plan veranlaßte Stalin im Juli 1947 ein Gespräch mit einer Abordnung führender SED-Funktionäre, der Pieck, Ulbricht, Grotewohl und Fechner angehörten, im Rahmen des Politbüros im Kreml zu führen 22 ). Dabei wurde auch auf das Problem des Friedensvertrages eingegangen. Zu der Frage der Grenzziehung, die von Grotewohl angeschnitten wurde, erklärte Stalin 2 3 ): „Was beispielsweise die Ostgrenze angeht, so kann die SED als eine deutsche Partei selbstverständlich einen anderen Standpunkt einnehmen als wir oder die Polen. Die SED braucht in der nationalen Frage den anderen Parteien keinen Agitationsgrund gegen sich zu geben." Die schnelle organisatorische Verwirklichung des Marshall-Plans und das Bestreben der drei Westmächte, ihre Besatzungszonen zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet unter einer gemeinsamen Verwaltung zusammenzufassen, führten zu einer Verhärtung der sowjetischen Haltung. Bei der Verschärfung der Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den Westmächten konnte weder auf der Konferenz der stellvertretenden Außenminister im November

1947 noch auf der anschließenden Tagung des

21) W. Bedell Smith: Meine drei Jahre in Moskau, Hamburg 1950, S. 303. 22) Vgl. die Wiedergabe des Gesprädis durch Grotewohl bei E. W. Gniffke: Jahre mit Ulbricht, Köln 1966, S. 250/251. 23) Gniffke, a . a . O . , S.251.

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Außenministerrates in London im Dezember 1947 2 4 ) eine Lösung jener Probleme erhofft werden, die in Moskau offen geblieben waren. Die Bildung einer deutschen Zentralregierung auf der Grundlage einer einheitlichen deutschen Wirtschaftsverwaltung, die zentralistisch aufgebaut sein sollte, wurde von Molotow erneut als die wichtigste Voraussetzung für den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland bezeichnet. Marshall meinte, es sei zwecklos, die Frage einer Zentralregierung zu erörtern, solange die Alliierten nicht bereit wären, die Bedingungen festzulegen, unter denen eine solche Regierung arbeiten könnte. Bevin trat für eine wirkliche repräsentative Regierung ein, die nicht das Werkzeug in der H a n d einer Besatzungsmacht sein durfte. Auf der Londoner Außenministerkonferenz legten die Sowjets im Gegensatz zu ihrem früheren Verhalten besonderen Nachdruck auf den baldigen Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland, ohne in der Sache zu Zugeständnissen bereit zu sein. Von Molotow wurde am 27. November 1947 vorgeschlagen, die folgenden Hauptfragen zu prüfen, die zur Vorbereitung des Friedensvertrages mit Deutschland gehörten 25 ) : a) Die Bildung einer demokratischen Regierung für ganz Deutschland; b) die Friedenskonferenz, die den Entwurf des Friedensvertrages Deutschland behandeln soll;

mit

c) die Leitsätze zur Ausarbeitung des Friedens Vertrages. I n Verbindung mit diesem Vorschlag wurden von der sowjetischen Delegation folgende Anträge gestellt: „1. Die Bildung einer demokratischen Regierung für ganz Deutschland wird in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz als unaufschiebbar anerkannt. 2. Es wird festgelegt, daß die Regierung Deutschlands auf der Friedenskonferenz die Möglichkeit erhält, ihre Meinung zum Friedensvertrag zu äußern. 3. Der Friedensvertrag muß von der deutschen Regierung unterzeichnet und dem deutschen Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden. 4. Die Friedenskonferenz wird sich aus Vertretern Großbritanniens, der Sowjetunion, der USA, Frankreichs, Ghinas und aus Vertretern der mit 24) Vgl. W. Cornides — H . Volle (Hrsg.): Um den Frieden mit Deutschland, Oberursel (Taunus) 1948. 25) Molotow, a. a. O., S. 555/6.

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Boris Meissner Deutschland benachbarten verbündeten Staaten zusammensetzen, die mit ihren Streitkräften am gemeinsamen Kampf gegen Deutschland teilgenommen haben, und zwar: Albanien, Australien, Belgien, die Bjelorussische Sozialistische Sowjetrepublik, Brasilien, Kanada, die Tschechoslowakei, Dänemark, Griechenland, Indien, Luxemburg, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Polen, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, die Südafrikanische Union und Jugoslawien. 5. Dem Friedensvertrag mit Deutschland werden die Beschlüsse der Konferenz von Jalta und Potsdam zugrunde gelegt." Die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung wurde von Molotow als die unbedingte Voraussetzung für den Abschluß eines Friedensvertrages herausgestellt. Der sowjetische Außenminister wandte sich ausdrücklich gegen den amerikanischen Vorschlag, eine Klausel in die gesamtdeutsche Verfassung aufzunehmen, durch die das deutsche Volk zur Durchführung der Bestimmungen des Friedensvertrages verpflichtet werden sollte. Nach seiner Ansicht würde die Annahme dieses Vorschlages eine unerträgliche Erniedrigung für das deutsche Volk bedeuten und Deutschland auf ewige Zeiten von anderen Ländern abhängig machen. Obgleich der sowjetische Außenminister in seiner Rede vom 26. November 1947 lange Ausführungen über den Unterschied zwischen einem „demokratischen" und einem „imperialistischen" Frieden gemacht hatte, war er nicht gewillt, außer den vier Großmächten noch andere Staaten zu den Unterausschüssen zuzulassen. Bei den Hauptausschüssen war Molotow nur von Fall zu Fall bereit, kleinere alliierte Staaten, soweit sie an bestimmten Problemen unmittelbar interessiert waren, einzuladen, an der Arbeit der Ausschüsse teilzunehmen. Eine Einigung in der Frage der Zusammensetzung der Friedenskonferenz und der Ausschüsse konnte nicht erzielt werden, da vor allem die amerikanischen und sowjetischen Auffassungen zu sehr voneinander abwichen. Molotow betonte, daß der Ausarbeitung des Friedensvertrages mit Deutschland Leitsätze aufgrund der Beschlüsse der Gipfelkonferenzen von Jalta und Potsdam zugrunde gelegt werden müßten. Marshall äußerte sich skeptisch über diesen Vorschlag, da „die Sprache von Jalta und Potsdam offensichtlich von uns und der Sowjetunion ganz verschieden ausgelegt wird". Bevin verwies auf seine auf der Moskauer Außenministerkonferenz vorgelegten: „Ergänzenden Richtlinien für die Behandlung Deutschlands", die den schrittweisen Aufbau einer provisorischen deutschen Zentralregierung vorsahen, die sich an der Vorbereitung einer gesamtdeutschen Friedensregelung beteiligen sollte.

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Vom sowjetischen Außenminister wurde abschließend folgender Antrag eingebracht2®): „Die sowjetische Regierung schlägt vor, daß die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion innerhalb zweier Monate dem Außenministerrat Entwürfe über die Grundlagen des Friedensvertrages mit Deutschland unterbreiten. Natürlich wird jede Regierung so verfahren, wie sie es für angemessen erachtet. Wenn dieser Vorschlag angenommen wird, verpflichtet sich die sowjetische Regierung, dem Außenministerrat innerhalb zweier Monate einen Entwurf über die Grundlagen des Friedensvertrages mit Deutschland zu unterbreiten." Der Vorschlag Molotows fand bei den übrigen Außenministern keine Zustimmung, da in den politischen Hauptfragen sowjetische Zugeständnisse nicht zu erreichen waren. I n seiner abschließenden Pressekonferenz beschuldigte er die Westmächte, die sowjetischen Bemühungen um eine baldige Friedensregelung mit Deutschland auf der Londoner Außenministerkonferenz sabotiert zu haben 27 ). Der gleiche Vorwurf fand sich in der Erklärung der ersten Außenministerkonferenz der Ostblockstaaten, die beim Beginn der Berliner Blockade am 23./24. Juni 1948 in Warschau stattfand. London war die letzte Viermächte-Konferenz, auf der die Frage der Grenzen Deutschlands zwischen Ost und West diskutiert wurde 2 8 ). Marshall und Bevin traten weiter für das Verbleiben Schlesiens und Pommerns bei Deutschland ein. Der amerikanische Außenminister forderte dabei erneut, das oberschlesische Industriegebiet der Gesamtheit der europäischen Nationen zugänglich zu machen. Bevin wiederholte ferner den Vorschlag, eine Kommission zum Studium der deutschen Grenzprobleme einzusetzen, der von Marshall und Bidault unterstützt wurde. Molotow war weder bereit, auf die territoriale Frage näher einzugehen noch eine solche Kommission ins Leben zu rufen. Jedenfalls läßt das Verhalten von Marshall und Bevin auf den beiden Tagungen des Außenministerrates, die sich ausführlicher mit den Problemen eines Friedensvertrages mit Deutschland befaßt haben, deutlich erkennen, daß die Westmächte die im Potsdamer Abkommen vorgesehene Übertragung der Verwaltung über die deutschen Ostgebiete nicht als eine endgültige territoriale Regelung ansahen. Der im „Potsdamer Abkommen" enthaltene Friedensvorbehalt ist dabei von allen drei westlichen Außenministern im 26) Cornides-Volle, à. a. O., S. 23. 27) Vgl. Molotow, a. a. O., S. 589. 28) Vgl. Meissner, a. a. O., S. 140 ff.; Cornides-Volle, a. a. O., S. 18 ff.

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Boris Meissner Sinne einer materiellen und nicht nur formellen Regelung der Gebietsfragen aufgefaßt worden 2 9 ). Auf der Pariser Außenministerkonferenz, die im Frühjahr 1949 nach Aufhebung der Berliner Blockade tagte, wurde von Wyschinskij als Nachfolger Molotows am 10. Juni 1949 vorgeschlagen, daß die vier Mächte innerhalb eines Vierteljahres Entwürfe für einen Friedensvertrag mit Deutschland vorlegen sollten 80 ). I n dem Vertrag sollte der Abzug der Besatzungstruppen innerhalb eines Jahres vorgesehen werden. Zur Begründung seines Vorschlags erklärte Wyschinskij, daß der „rascheste Abschluß eines Friedensvertrages" nicht nur von Interesse des deutschen Volkes, sondern auch aller Völker liege, „die danach strebten, einen Frieden auf den demokratischen, in Jalta und Potsdam im Jahre 1945 festgelegten Grundsätzen zu errichten und zu festigen". Von den westlichen Außenministern wurde der Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland abgelehnt, solange es unbekannt sei, mit welchem Deutschland der Friedensschluß erfolgen sollte und wie die endgültigen Grenzen Deutschlands aussehen würden. Vor dieser Klärung waren die Westmächte auch nicht bereit, Verpflichtungen hinsichtlich des Abzugs der Besatzungstruppen einzugehen. Seit der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland und der D D R im Herbst 1949 trat die Problematik, die mit einem Friedensvertrag mit Deutschland verbunden war, hinter der Frage der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zurück. Die Westmächte setzten sich für freie gesamtdeutsche Wahlen als Ausgangspunkt für den Wiedervereinigungsprozeß ein. Die Sowjetunion forderte dagegen zuerst die Bildung einer provisorischen deutschen Zentralregierung auf paritätischer Grundlage. Diese „gesamtdeutsche, souveräne, demokratische und friedliebende provisorische Regierung" sollte gemäß der Erklärung der zweiten Außenministerkonferenz der Ostblockstaaten, die am 20./21. Oktober 1950 in Prag stattfand, zur Konsultation bei der Ausarbeitung des Friedensvertrages herangezogen werden 81 ). Gleichzeitig wurde in Übereinstimmung mit den Vor29) Gegenteilige Feststellungen, wie sie in Verbindung mit der Diskussion über die Ostverträge gemacht worden sind, entbehren somit jeder Grundlage. Dies gilt vor allem für bestimmte Behauptungen, die in den Punkten 1—3 der Erklärung von Minister Dr. Posser als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen bei der Beratung der Ostverträge im Bundesrat am 9. Februar 1972 enthalten waren. Vgl. Sonderausgabe des Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung vom 12. 2. 1972, S. 217. Die Oder-NeißcGebiete haben erstens bis Potsdam formell zur sowjetischen Besatzungszone gehört. Zweitens war der Wille der Westmädite eindeutig nidit auf Zuweisung der gesamten OderNeiße-Gebiete an Polen gerichtet. Drittens haben sie in der Zwangsumsiedlung der Deutschen aus diesen Gebieten keine endgültige Entscheidung der territorialen Frage gesehen. 30) Vgl. Tägliche Rundschau vom 12. 6. 1949.

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schlagen Wyschinskijs unter Punkt 3 gefordert: „Unverzüglicher Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland unter Wiederherstellung der Einheit des deutschen Staates in Übereinstimmung mit dem Potsdamer Abkommen und mit der Maßgabe, daß die Besatzungstruppen aller Mächte in Jahresfrist nach Absdiluß des Friedensvertrages mit Deutschland zurückgezogen werden." Den Westmächten, welche den Kriegszustand mit Deutschland zu beenden beabsichtigten, wurde vorgeworfen, den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland und damit die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands solange wie möglich hinauszuzögern. Diese Vorwürfe wurden von Acheson als Nachfolger Marshalls am 24. Oktober 1950 als unbegründet zurückgewiesen. Es sagte 32 ): „Drittens verlangt das Prager Kommuniqué den sofortigen Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland. Wir stellen dazu abermals fest, daß die Voraussetzung für einen Friedensvertrag das Bestehen einer einheitlichen demokratischen und nationalen Regierung in Deutschland ist. Der Friedensvertrag sieht sehr verlockend aus; wem soll er jedoch gegeben werden? Es muß eine deutsche Regierung bestehen, mit der ein Vertrag unterzeichnet werden könnte. M a n soll das deutsche Volk frei eine Nationalregierung wählen lassen und dann können wir, wie wir oft vorgeschlagen haben, einen Friedensvertrag abschließen." Unter Zugrundelegung der Prager Erklärung wurde am 3. November 1950 von der Sowjetunion den Westmächten eine Tagung des Außenministerrates vorgeschlagen. Zu dieser siebenten Ratstagung sollte es nicht mehr kommen, da sich die Konferenz der stellvertretenden Außenminister in Paris, die sich 1951 dreieinhalb Monate hinzog, in der Frage der Tagesordnung nicht einigen konnte. I I I . Der sowjetische Entwurf der Grundsätze eines Friedensvertrages mit Deutschland und der Friedensvertragsvorbehalt in den Westverträgen Eine Wendung in der sowjetischen Deutschlandpolitik schien sich mit dem von den Sowjets autorisierten Vorschlag des SED-Regimes vom 13. September 1951, gesamtdeutsche Besprechungen zwecks Durchführung gesamtdeutscher Wahlen durchzuführen und der Note der Sowjetregierung an die Westmächte vom 10. März 1952 abzuzeichnen88). 31) Vgl. Tägliche Rundschau vom 22. 10. 1950. 32) Neue Zürcher Zeitung vom 25. 10. 1950. 33) Wortlaut: Meissner, a . a . O . , S. 290 ff.

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Boris Meissner Die Note vom 10. März forderte den schnellsten Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland unter unmittelbarer Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung. M i t der Note war der Entwurf der Grundlagen bzw. Grundsätze eines solchen Friedensvertrages verbunden, der vom Gedanken der bewaffneten Neutralität eines deutschen Gesamtstaates ausging. I n den politischen Leitsätzen war unter Punkt 1 vorgesehen: „Deutschland wird als einheitlicher Staat wiederhergestellt. Damit wird der Spaltung Deutschlands ein Ende gemacht, und das geeinte Deutschland gewinnt die Möglichkeit, sich als unabhängiger, demokratischer, friedliebender Staat zu entwickeln." Zum „Territorium" wurde erklärt: „Das Territorium Deutschlands ist durch die Grenzen bestimmt, die durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Großmächte festgelegt wurden." Deutschland sollte spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages von sämlichen Streitkräften der Besatzungsmächte geräumt werden. Von den Westmächten und der Bundesregierung ist der Verlauf des Notenwechsels, der durch die sowjetische Deutschlandnote vom 10. März 1952 ausgelöst wurde und zu einer zunehmenden Verhärtung der sowjetischen Haltung führte, als eine Bestätigung dafür angesehen worden, daß von sowjetischer Seite nur ein Störmanöver vorgelegen hat, um das Zustandekommen des Deutschlandvertrages und des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und damit die endgültige Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnissystem und weitere Fortschritte der westeuropäischen Integration zu verhindern. Dies dürfte eines der Ziele der Disengagement-Politik gewesen sein, die von Stalin 1951/52, beraten durch Berija und Malenkow, verfolgt wurde. I n dem sowjetischen Entwurf von Grundsätzen eines Friedensvertrages mit Deutschland waren außerdem Bestimmungen enthalten, die für die Gegenseite unannehmbar waren. Auf der anderen Seite stand hinter diesem Vorschlag eine Konzeption, die in stärkerem Maße bereit war, nationalen deutschen Interessen Rechnung zu tragen 84 ). Z u einer Gipfelkonferenz, die zunächst von Stalin und nach seinem Tode von Berija und Malenkow angestrebt wurde, ist es infolge der Verhärtung der sowjetischen Haltung nach dem Abschluß der Westverträge und der Volkserhebung am 17. Juni 1953 nicht gekommen. Dagegen führte die Initiative der Westmächte im Sommer 1953, die von der Bundesrepublik 34) Zur Begründung dieser These vgl. B. Meissner: 1941—1967, Europa-Archiv, 22. Jg., 1967, S. 521 f.

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Die Sowjetunion und Deutschland

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Deutschland unterstützt wurde, zu einer Außenministerkonferenz, die im Januar/Februar 1954 in Berlin stattfand. Es handelte sich bei ihr nicht um eine Tagung des Außenministerrates, an dessen Wiederbelebung beide Seiten nicht interessiert waren. Von Molotow wurde am 1. Februar 1954 im Namen der sowjetischen Delegation der Konferenz ein Vorschlag „über die Vorbereitung des Friedensvertrages mit Deutschland und über die Einberufung der Friedenskonferenz über den deutschen Friedens ver trag" unterbreitet, wobei er an der bekannten sowjetischen Reihenfolge festhielt. Der Vorschlag hatte folgenden Wortlaut 8 5 ) : 1. Entsprechend dem früher zwischen den Regierungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR erzielten Einvernehmen über das Verfahren der Vorbereitung des Friedensvertrages mit Deutschland sind die Stellvertreter der Außenminister der vier Mächte zu beauftragen, innerhalb von drei Monaten einen Entwurf des Friedensvertrages mit Deutschland vorzubereiten; 2. den Alliierten Staaten, die mit ihren Streitkräften am Krieg gegen Deutschland beteiligt waren, die Möglichkeit zu geben, während der Vorbereitung des Friedensvertragsentwurfs ihre Ansichten in der Frage des Friedensvertrages mit Deutschland darzulegen; 3. eine entsprechende Beteiligung von Vertretern Deutschlands an allen Stadien der Vorbereitung des Friedensvertrages ist vorzusehen. Bis zur Bildung einer Provisorischen Gesamtdeutschen Regierung werden an der Vorbereitung des Entwurfes des Friedensvertrages mit Deutschland Vertreter der bestehenden Regierungen Ost- und Westdeutschlands teilnehmen; 4. innerhalb von sechs Monaten und in jedem Fall nicht später, als im Oktober 1954 ist unter Teilnahme der entsprechenden interessierten Staaten sowie auch von Vertretern Deutschlands eine Friedenskonferenz zur Erörterung des Entwurfes des Friedensvertrages mit Deutschland einzuberufen. Gleichzeitig wurde von Molotow der Entwurf der Grundlagen bzw. Grundsätze eines Friedensvertrages mit Deutschland vom 10. März 1952 in einer geringfügig modifizierten Form vorgelegt. Die provisorische gesamtdeutsche Regierung sollte gemäß seinem Vorschlag vom 4. Februar 1954 durch die beiden Parlamente gebildet werden 86 ). 35) Η . v. Siegler (Hrsg.) Dokumentation zur Deutschlandfrage, Hauptband I , Bonn 1961, 5. 185 f. 88) Vgl. Siegler, a. a. O., S. 189 ff.

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Boris Meissner Von den westlichen Außenministern wurde im Einklang mit dem EdenPlan „für die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit" vom 29. Januar 1954 3 7 ) gefordert, daß die deutsche Wiedervereinigung und der Abschluß eines frei verhandelten Friedensvertrages mit einem vereinten Deutschland in folgenden Stadien vollzogen werden sollte: I. Freie Wahlen in ganz Deutschland I I . Einberufung versammlung

einer aus diesen Wahlen hervorgegangenen

I I I . Ausarbeitung einer Verfassung und Vorbereitung handlungen

der

National-

Friedensver-

I V . Annahme der Verfassung und Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, die für die Aushandlung des Friedensvertrages zuständig ist. V . Unterzeichnung und Inkrafttreten des Friedensvertrages Die Möglichkeit zu einer Auflockerung der festgefahrenen gegenseitigen Positionen, welche die von Molotow hergestellte Verknüpfung zwischen der Deutschlandfrage und den Gedanken eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa auf der Grundlage eines multilateralen Beistandspaktes bot, wurde von der westlichen Seite nicht hinreichend genutzt. Andererseits war aber auch die sowjetische Delegation nicht bereit, den Eden-Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands zu diskutieren. Die ablehnende Haltung der Sowjetunion auf der Berliner Konferenz schien zunächst insofern eine Rechtfertigung zu finden, als die Ratifikation des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft im Sommer 1954 nicht zustande kam. Auf den Konferenzen der westlichen Alliierten vom 28. September bis 3. Oktober 1954 in London und vom 19. bis 23. O k tober 1954 in Paris gelang es, diese Krise zu überwinden. Die Einbeziehung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem war mit der Übernahme gegenseitiger Verpflichtungen der beteiligten Mächte verbunden. I m Artikel 7 Absatz 1 des Deutschlandvertrages vom 26. M a i 1952 in der Fassung vom 23. Oktober 1954 wird zur Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland festgestellt 38) : „Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen 37) Wortlaut: Siegler, a. a. O., S. 181 ff. 38) I. v. Münch: Dokumente des geteilten Deutschlands, Stuttgart 1968, S. 232.

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Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Feststellung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß." Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich gleichzeitig im Artikel 7 Absatz 2 bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung zusammenzuwirken, „um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist. I m Artikel 2 haben sich dabei die drei Westmächte ausdrücklich „die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" vorbehalten. Durdi die Benutzung des Begriffs der friedensvertraglichen Regelung im Deutschlandvertrag ist von den Westmächten unterstrichen worden, daß es sich bei der Friedensregelung mit einer gesamtdeutschen Regierung nur um einen frei ausgehandelten Friedensvertrag und nicht um ein Friedensstatut handeln könne, das einem deutschen Gesamtstaat auferlegt werden würde. Außerdem wird in Artikel 2 betont, daß die internationale Lage bisher „die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedens Vertrages verhindert hat". Erst nach dieser Entscheidung, die mit dem Abschluß der Westverträge verbunden war, ließ die Sowjetunion größere Konzessionsbereitschaft erkennen. I n der Note vom 23. Oktober 1954 erklärte sich die Sowjetregierung zum ersten Male bereit, den Eden-Plan zu diskutieren. I n einer Erklärung vom 15. Januar 1955 3 0 ) gab sie bekannt, daß sie sogar mit freien gesamtdeutschen Wahlen unter internationaler Kontrolle im Falle einer Nichtratifizierung der Westverträge einverstanden sein würde. Sie ließ gleichzeitig die Forderung auf vorherige Bildung einer gesamtdeutschen Regierung auf paritätischer Grundlage fallen. A m 25. Januar 1955 erfolgte ferner eine Erklärung über die Beendigung des Kriegszustandes in ganz

39) Wortlaut: Siegler, a . a . O . , S. 269 ff. Vgl. hierzu die Rundfunkansprache von Bundeskanzler Adenauer vom 22. 1. 1955 und sein Briefwechsel mit dem SPD-Vorsitzenden Ollenhauer in: Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Deutschland, a . a . O . , S. 276 ff.

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Boris Meissner Deutschland 40 ). Diese Rückkehr zu einer kompromißbereiten Linie kam zu spät, um den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur N A T O verhindern zu können und entbehrte nach der kurz danach erfolgten Absetzung Malenkows als Regierungschef auch des innenpolitischen Rückhalts in der Sowjetunion. I V . Der sowjetische Friedensvertragsentwurf vom 10. Januar 1959 und der westliche Friedensplan Der Führungswechsel im Kreml führte in Verbindung mit dem Inkrafttreten der Westverträge am 5. M a i 1955 zu einer Verschärfung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Sie fand in der von Bulganin im Einvernehmen mit Chruschtschow auf der Genfer Gipfelkonferenz im Juli 1955 vertretenen These von den beiden voneinander getrennten souveränen deutschen Staaten ihren Niederschlag. Die Verbindung zwischen der Wiedervereinigung und der europäischen Sicherheit, die in den Direktiven der Regierungschefs an die Außenminister vom 23. Juli 1955 4 1 ) ausdrücklich festgelegt worden war, wurde von Chruschtschow gelöst. Außerdem trat er mit seinem Berlin-Ultimatum im November 1958 für eine Beseitigung der staatsrechtlichen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik ein 4 2 ). WestBerlin sollte in eine selbständige „Freie Stadt" umgewandelt und von den drei Westmächten geräumt werden. I n dem sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland vom 10. Januar 1959 4 8 ) kam die negative Wendung der sowjetischen Deutschlandpolitik deutlich zum Ausdruck. Verglichen mit den bereits erwähnten Grundsätzen eines Friedensvertrages vom 10. März 1952 wies er eine wesentliche Verschlechterung auf. Er stellte im Grunde genommen ein Friedensstatut und damit ein Friedensdiktat dar, das einem gevierteilten Deutschland auferlegt werden sollte, ohne daß ein gangbarer Weg zur Wiedervereinigung aufgezeigt wurde. Der sowjetische Friedensvertragsentwurf ist infolge der Konzeption, die ihm zugrunde liegt, noch heute aktuell und soll daher an dieser Stelle ausführlicher behandelt werden. 40) Wortlaut (russischer Urtext und deutsche Übersetzung): Internationales Redit und Diplomatie, 4. Jg., 1959, S. 195 f. 41) Wortlaut: Siegler, a . a . O . , S. 345/6. 42) Vgl. die Rede Chruschtschows vom 10. November 1958 und die Noten der Sowjetregierung zur Berlin-Frage, Internationales Recht und Diplomatie, 4. Jg., 1959, S. 537 ff. 43) Wortlaut (russischer Urtext und deutsche Übersetzung): Internationales Redit und Diplomatie, 4. Jg., 1959, S. 197 ff.

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Die Frage des Friedensvertrages 1. Die besonderen Wesenszüge des Friedensvertragsentwurfs Der sowjetische Friedensvertragsentwurf folgt in seinem Aufbau in weitgehendem Maße dem Schema, wie es bei den anderen Friedensverträgen, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wurden, angewandt worden ist. Er weist aber auch abweichende Züge auf, die sich aus der besonderen deutschen Situation ergeben. Inhaltlidi weist er wesentlich härtere Bestimmungen auf, die teilweise einen tiefen Eingriff in die Verfassungsstruktur des Landes darstellen und bei ihrer Verwirklichung einschneidende Änderungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland notwendig machen würden. Dies bezieht sich vor allem auf jene Teile, welche die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, das Parteienrecht und das politische Asylrecht betreffen. Er bietet damit den Raum zur ständigen Intervention anderer Mächte. M i t Recht hat Scheuner darauf hingewiesen, daß der Vertragsentwurf vom Gedanken des Ausgleichs, der Versöhnung und vor allem auch der Nichteinmischung weit entfernt sei 44 ). 2. Teilnehmer und allgemeine Bestimmungen Eingeleitet wird der Friedensvertrag, der 42 Artikel umfaßt, durch eine längere Präambel. I n ihr werden zunächst die Teilnehmer am Friedensschluß näher bestimmt. Es folgen allgemeine politisch-historische Ausführungen. Aus ihnen geht hervor, daß der Friedens vertrag dazu bestimmt ist, „die grundlegenden Bestimmungen, die in den Dokumenten der Anti-HitlerKoalition und besonders im Potsdamer Abkommen enthalten sind, zu verwirklichen". Diese Feststellung dient vor allem zur Rechtfertigung der Bestimmungen, die dazu bestimmt sind, Deutschland zum Objekt von Maßnahmen der Sicherung und Besserung zu degradieren. Deutschland, in dem offenbar nur ein geographischer Begriff gesehen wird, soll durch die Bundesrepublik Deutschland und die D D R und im Fall einer staatenbündischen Verbindung durch die deutsche Konföderation und die beiden deutschen Teilstaaten vertreten werden. 3. Die territorialen Bestimmungen Auf und und der

Gebietsfragen wird in den Abschnitten „Grenzen" sowie „Deutschland Österreich" im Kapitel I (Politische und territoriale Bestimmungen) im Art. 25 eingegangen. Angestrebt wird eine de jure-Anerkennung Demarkationslinien an der Oder-Neiße und Elbe-Werra als Staats-

44) Vgl. U. Scheuner: Der sowjetische Friedensvertragsentwurf vom Januar 1959, Recht in Ost und West, 3. Jg., S. 93. 8

Königsberg

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Boris Messn grenzen, der deutsche Verzicht auf das östliche Deutschland und die U m wandlung Berlins in eine „Freie Stadt". Eine Diskussion der Gebietsfragen bei den Friedens Verhandlungen wird durch die Behauptung ausgeschlossen, daß die im Potsdamer Abkommen enthaltenen territorialen Bestimmungen, obgleich sie ohne Beteiligung Deutschlands getroffen worden sind, endgültig seien. I m Art. 10 wird ausdrücklich die Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens „mit allen sich aus ihm ergebenden Folgen" gefordert. I m Art. 13 werden mit der Anerkennung des österreichischen Staatsvertrages, der österreichischen Neutralität und dem Anschlußverbot nur die im Art. 3 und 4 des österreichischen Staatsvertrages enthaltenen Bestimmungen wiederholt. Wesentlich erscheint dabei, daß nicht nur die politische, sondern auch wirtschaftliche Union untersagt wird. 4. Die politischen Bestimmungen Die politischen Bestimmungen, die in den Abschnitten „Frieden und friedliche Beziehungen", „Grundrechte und Grundfreiheiten der Menschen", „Parteien und andere Organisationen" und „Sonstige Bestimmungen" des Kapitels I (Politische und territoriale Bestimmungen) und im Kapitel I I (Bestimmungen, die sich auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beziehen) enthalten sind, betreffen die außenpolitischen und innenpolitischen Bindungen und die Frage der Wiedervereinigung. a) Außenpolitische Bindungen I m Art. 5 wird der internationale Status Deutschlands auf der Grundlage der Neutralität festgelegt. Der entscheidende Unterschied gegenüber den Grundsätzen eines Friedens Vertrages von 1952 besteht darin, daß jetzt von einer Teilung Deutschlands ausgegangen wird. M i t dem Inkrafttreten des Friedensvertrages ist das automatische Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus der N A T O und der D D R aus dem Warschauer Pakt vorgesehen. Erst danach wird eine Aufnahme der beiden Teilstaaten in die Vereinten Nationen und ihre Beteiligung an einem späteren europäischen Sicherheitssystem in Aussicht gestellt. Gemäß dem Art. 4 Abs. 1 sollen die Grundsätze der „friedlichen Koexistenz" im Sinne der sowjetischen Auslegung die Grundlage der gegenseitigen Beziehungen bilden. Art. 4 Abs. 2 enthält neben der Verpflichtung zur friedlichen Streitschlichtung auch das Verbot von Gewaltanwendung, das sehr extensiv ausgelegt wird. Abgesehen vom Gewaltverzicht wird den beiden deutschen Teilstaaten die Verpflichtung auferlegt, „keinem Staat oder keiner Gruppe von Staaten, die den internationalen Frieden und die Sicherheit verletzt haben, Hilfe oder

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Die Frage des Friedensvertrages Unterstützung zu gewähren". Diese Bestimmung führt über die Pflichten, die einem Mitgliedstaat durch die Satzung der Vereinten Nationen auferlegt sind, hinaus. b) Wiedervereinigung und Berlin-Status Zu den außenpolitischen Bestimmungen ist auch jener Teil des Friedensvertragsentwurfs zu rechnen, der sich auf die Frage der Wiedervereinigung und den künftigen Status West-Berlins bezieht. I m Kapitel I I wird „das Recht des deutschen Volkes auf Wiederherstellung der Einheit Deutschlands" grundsätzlich anerkannt 45 ). I m Widerspruch zu der Verantwortung, die von den vier Siegermächten mit der Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945 gegenüber ganz Deutschland übernommen wurde, wird aber kein konkreter Weg zur Wiedervereinigung eröffnet. Der Friedensvertragsentwurf stellt in der vorliegenden Form auf eine Erhaltung und nicht eine Beseitigung der Teilung Deutschlands ab. I m Falle West-Berlin wird der Status einer selbständigen „Freien Stadt" und damit eine Dreiteilung Deutschlands angestrebt. c) Innenpolitische Bindungen Die innenpolitischen Bestimmungen, die sich in der zweiten Hälfte des Kapitels I finden, hätten eine wesentliche Beeinträchtigung der demokratischen Ordnung und der inneren Sicherheit der Bundesrepublik zur Folge. Auf der einen Seite wird durch den Art. 16 die freie Betätigung der politischen Parteien und „anderen Organisationen" gewährleistet und in Art. 14 Ziff. 1 die politische Uberzeugung und die Parteizugehörigkeit aus Kriterien aufgeführt, aufgrund derer ein deutscher Staatsangehöriger nicht diskriminiert werden könne. Auf der anderen Seite enthalten die Artikel 13, 17 und 18 Ausnahmen von dieser Regelung, die einen tiefen Eingriff in die innere Freiheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Gemäß Art. 17 sollen nicht nur Parteien und Organisationen, die eine Ähnlichkeit mit nationalsozialistischen Institutionen besitzen, verboten werden, sondern insbesondere auch „revanchistische Parteien und Organisationen, die eine Überprüfung der Grenzen Deutschlands fordern oder territoriale Ansprüche an andere Staaten zum Ausdruck bringen", unter der Androhung straf45) Die deutsche Verhandlungsdelegation hat es 1970 offenbar unterlassen, sich auf diese sowjetische Feststellung zu berufen.

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Boris Meissner rechtlicher Verfolgung nicht zugelassen werden. Art. 13 Ziff. 4 Abs. 3 enthält außerdem die Verpflichtung, „das Bestehen, die Wiedergeburt und die Tätigkeit aller Organisationen (zu) verhindern, die sich eine politische und wirtschaftliche Union mit Österreich und die Propaganda für eine Union mit Österreich als Ziel stellen". Ferner soll sich Deutschland, d. h. praktisch die Bundesrepublik verpflichten, „jegliche Organisationen, darunter auch Emigrantenorganisationen, die eine feindliche Tätigkeit gegen irgendeine der verbündeten und vereinten Mächte betreiben, aufzulösen und die Existenz und Tätigkeit solcher Organisationen auf seinem Territorium unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung nicht zuzulassen". Personen, die den obengenannten Organisationen angehören, wird verboten, politisches Asyl zu gewähren. Auf eine Eliminierung der Emigranten zielt auch Art. 21 Ziff. 1 ab, nach der sich Deutschland verpflichten soll, ihre Repatriierung mit allen Kräften zu unterstützen. Art. 20 verbietet nicht nur eine Propaganda, „die das Ziel verfolgt oder geeignet ist, eine Bedrohung des Friedens, eine Verletzung des Friedens oder einen A k t der Aggression zu schaffen", sondern auch „jeglicher Art revanchistischen Auftretens mit der Forderung auf Revision der Grenzen Deutschlands oder der Anmeldung territorialer Ansprüche auf andere Länder". Ein wirksamer Schutz, der die im Art. 14 aufgeführten Grundrechte und Grundfreiheiten gewährleisten würde, wird durch das im Friedensvertragsentwurf enthaltene Verfahren nicht ermöglicht.

5. Die militärischen Bestimmungen Bereits in den Grundsätzen eines Friedensvertrages von 1952 war vorgesehen, daß es Deutschland gestattet sein sollte, eigene nationale Streitkräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu besitzen, die für die Verteidigung des Landes notwendig wären. Die Verteidigungsmittel, die gemäß Art. 28 des Friedensvertragsentwurfs den beiden Teilstaaten zugestanden werden sollen, sind so gering, daß sie auch für eine begrenzte konventionelle Verteidigung nicht ausreichen. Auch die weiteren militärischen Beschränkungen sind einseitig darauf gerichtet, das bestehende Kräftegleichgewicht zugunsten der Sowjetunion zu verändern. 6. Die finanziellen und wirtschaftlichen Bestimmungen Eine Regelung der finanziellen und wirtschaftlichen Fragen ist in den Kapiteln V (wirtschaftliche Bestimmungen) und V (Reparationen und

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Restitutionen) vorgesehen. Auf alle Ansprüche hinsichtlich der Zahlung weiterer Reparationen wird in Art. 41 ausdrücklich verzichtet 46 ). Andererseits sollen durch die Meistbegünstigungsklausel ohne zeitliche Begrenzung im Art. 39 Ziff. 1 und das im Art. 39 Ziff. 2 ausgesprochene Verbot jeglicher Diskriminierung im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer wirtschaftlichen Struktur Nachteile gegenüber den Oststaaten auferlegt und diesen damit mittelbar die Möglichkeit geboten werden, an den Erfolgen der E W G zu partizipieren. I m Zusammenhang mit den territorialen Regelungen sind die Art. 37, 38, 40 und 42 Abs. 3 von Bedeutung. I n Art. 42 Abs. 3 soll sich Deutschland verpflichten, den Staaten, denen Teile des ehemaligen Territoriums Deutschland zurückgegeben oder deren Souveränität solche Territorien unterstellt wurden, alle historischen, Gerichts-, Verwaltungs- und technischen Archive mit den Karten und Plänen zu übergeben, die diese Gebiete betreffen. Zweifellos handelt es sich hierbei nicht um eine Restitution im Sinne des Völkerrechts. M i t Recht stellt Blumenwitz fest 47 ), daß es ein kaum erreichbarer Zynismus sei, ganze Bevölkerungsschichten auszurotten oder zu vertreiben, um anschließend die letzten Überreste ihrer Kultur und ihre Archive unter Bemühung völkerrechtlicher Normen herauszuverlangen, um eine seit Jahren begonnene Geschichtsfälschung abzuschließen. Von den Westmächten war nach der Genfer Gipfelkonferenz auf Drängen der Bundesrepublik ein Junktim zwischen der Wiedervereinigung, der Europäischen Sicherheit und der Abrüstung hergestellt worden. Es fand seinen Niederschlag in der gemeinsamen Berliner Deklaration vom 29. Juli 1957 4 8 ), in der zum ersten Male der Begriff der „europäischen Friedensordnung" gebraucht worden ist. 1955 wurde neben dem modifizierten Eden-Plan der Entwurf eines Zusicherungsvertrages vorgelegt 49 ), ohne daß eine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Vorschlägen hergestellt wurde. Ein deutscher Reference) Eine Notwendigkeit, die Reparationsfrage aufzuwerfen, wie dies während der Vertragsverhandlungen in Moskau 1970 der Fall gewesen ist, bestand nach dieser sowjetischen Festlegung nicht mehr. 47) Vgl. D. Blumenwitz: Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, Berlin 1966, S. 182. 48) Wortlaut (englischer und deutscher Urtext): Internationales Redit und Diplomatie, 3. Jg., 1958, S. 247 ff. 49) Wortlaut: Siegler, a.a.O., S. 396 ff.

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Boris Meissner tenentwurf („Phasenplan zur Wiedervereinigung") wurde zum Ausgangspunkt des „westlichen Friedensplans", der als Antwort auf den sowjetischen Friedensvertragsentwurf vom amerikanischen Außenminister Herter der Außenministerkonferenz in Genf im Sommer 1959 unterbreitet wurde 5 0 ). Nach diesem Plan sollte der Wiedervereinigungsprozeß stufenförmig erfolgen, wobei der jeweilige Schritt zur Wiedervereinigung mit entsprechenden Maßnahmen auf dem Gebiet der europäischen Sicherheit und der Abrüstung verbunden werden sollte. Die freien gesamtdeutschen Wahlen waren erst in der dritten Phase und nicht am Anfang vorgesehen. Die Ausarbeitung des Wahlgesetzes sollte in den Händen eines gemischten deutschen Ausschusses liegen, bestehend aus 25 Mitgliedern der Bundesrepublik als Repräsentanten von damals 52 Millionen Bundesdeutschen und 10 Mitgliedern der Sowjetzonenrepublik als quasi-Repräsentanten von 17 Millionen Zonendeutschen. Entscheidungen des gemischten Ausschusses sollten mit einer Dreiviertelmehrheit getroffen werden, was ein Übereinstimmen der Vertretung der D D R unmöglich machte, ihr somit ein Vetorecht einräumte. Dieses Zugeständnis wurde bewußt getan, um der Argumentation zu begegnen, daß in jedem Falle eine Vergewaltigung der anderen Seite angestrebt würde. D a die Sowjetunion zu einer Diskussion dieses Verfahrensplanes, der in den Friedensvertrag einmünden sollte, nicht bereit war, lehnten es die Westmächte ab, auf den sowjetischen Friedensvertragsentwurf einzugehen. Aus Rücksicht auf die Westalliierten sah die Delegation der Bundesrepublik davon ab, dem Entwurf von Grundsätzen eines Friedensvertrages mit Deutschland vorzulegen. Das taktische Ziel wurde dadurch erreicht, daß die Sowjets, nachdem beide Vorschläge vom Verhandlungstisch entfernt worden waren, veranlaßt werden konnten, die akute Berlinfrage zu diskutieren und dadurch ein wenig zu entschärfen. Rückblickend läßt sich feststellen, daß der westliche Friedensplan zwei Schwächen aufwies, die eine Einigung mit den Sowjets auch dann unmöglich gemacht hätten, wenn diese — was 1959 nicht der Fall war — zu einer Diskussion der westlichen Vorschläge bereit gewesen wären. Den künftigen internationalen Status Deutschlands weitgehend von der Entscheidungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung abhängig zu machen, ist für die Sowjetunion unannehmbar. Ferner muß die Einigung über bestimmte Grundsätze eines künftigen Friedensvertrages mit Deutschland der Bildung einer Zentralregierung vorausgehen. 50) Wortlaut (englischer Urtext und deutsche Übersetzung) : Internationales Redit und Diplomatie, 5. Jg., 1960, S. 203 ff.

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Die

rage de Friedensvertrag

V . Die Problematik des Friedensvertragsvorbehalts im Bündnisvertrag der UdSSR mit der D D R und in den Ostverträgen A m 12. Juni 1964 wurde ein Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der Sowjetunion und der D D R abgeschlossen51). Die Bestimmungen des Vertrages ließen die Bereitschaft Chruschtschows erkennen, seine Deutschlandoffensive abzubrechen. Die Drohung mit dem Separatsfriedensvertrag mit der D D R aufgrund des Friedensvertragsentwurfs vom 10. Januar 1959, die wohl niemals besonders ernst gemeint war, ist mit dem Abschluß des Bündnisvertrages fallengelassen worden. Das „Potsdamer Abkommen", das Chruschtschow zu kündigen beabsichtigte, und die mit ihm verbundenen „internationalen Vereinbarungen" wurden besonders hervorgehoben. Der Abschluß eines Friedensvertrages mit einer gesamtdeutschen Regierung ist dabei nicht ausgeschlossen worden. Vielmehr wurde eine Überprüfung des Bündnisvertrages im Falle der Wiedervereinigung oder beim Abschluß eines Friedensvertrages in Aussicht gestellt (Bindungsklausel im Art. 10). Von der Forderung nach einer „Freien Stadt West-Berlin" wurde abgesehen. Der Vertrag begnügte sich damit, West-Berlin als eine „selbständige politische Einheit" zu bezeichnen (Art. 6). Damit ergab sich die Möglichkeit, beim faktischen Zustand stehenzubleiben. Der Vertragsabschluß mit der „ D D R " erfolgte kurz vor dem beabsichtigten Staatsbesuch Chruschtschows in der Bundesrepublik, welcher der Verbesserung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland dienen sollte. Vielleicht hätte dieser Besuch, der infolge des Sturzes von Chruschtschow im Oktober 1964 nidit zustande gekommen ist, eine Annäherung der gegensätzlichen Vorstellungen ohne Preisgabe des deutschen Rechtsstandpunktes gebracht. Seine Nachfolger sind offenbar an einem Friedensvertrag nicht interessiert. Sie sind bestrebt, die Grundkonzeption des Friedensvertragsentwurfs von 1959 auch ohne eine formelle Friedensregelung durchzusetzen. Das ist im Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland vom 12. August 1970 5 2 ), der eine Verbindung von Gewalt- und Grenzvertrag darstellt, teilweise geschehen. 51) Wortlaut (russisdier Urtext und deutsche Übersetzung): Internationales Redit und Diplomatie, 10. Jg., S. 160 ff. 52) Deutscher Urtext: Bulletin vom 12.8.1970, Nr. 107, S. 1057; russisdier Urtext, Prawda vom 13. 8. 1970.

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Boris Meissner Breschnjew und Kossygin hoffen, auf einer Konferenz über europäische Sicherheit und Zusammenarbeit den Abschluß eines multilateralen Vertrages zu erreichen, der den endgültigen Charakter eines Ersatzfriedes für ein auf die Dauer geteiltes Deutschland bedeuten würde 5 3 ). Es wird die Aufgabe deutscher Außenpolitik sein, die Möglichkeit eines Friedensvertrages mit einer gesamtdeutschen Regierung nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands weiter offenzuhalten. Denn nur in einem solchen frei ausgehandelten Vertrag kann die territoriale Frage und damit die künftige Gestalt der Ostgrenze eines deutschen Gesamtstaats völkerrechtlich verbindlich geregelt werden. I m Moskauer Vertrag ist ein formeller Friedensvorbehalt nicht enthalten. Doch schließt eine abgewogene Interpretation seiner Vertragsbestimmungen — unabhängig davon, was bei den Verhandlungen gesagt worden ist — unter Heranziehung des Briefes zur deutschen Einheit und des Notenwechsels mit den Westmächten 54 ) eine solche Möglichkeit nicht aus 55 ). Dies gilt ebenso für den Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Entscheidend ist dabei, daß von deutscher Seite am völkerrechtlichen Fortbestand des deutschen Gesamtstaats weiter festgehalten wird. N u r so kann die Konstruktion einer Viermächteverantwortung aufrechterhalten werden, die dem rechtlichen und nicht dem geographischen Begriff Deutschland gilt.

53) Von der Möglichkeit eines solchen Ersatzfriedens hat Außenminister Scheel anläßlich der NATO-Konferenz in Brüssel im Dezember 1971 gewarnt. Er meinte wörtlidi, daß eine europäische Sicherheitskonferenz „weder einen Vorfriedensvertrag nodi einen Ersatzfrieden mit Deutschland" bezwecken dürfe. Vgl. Die Welt vom 10. 12. 1971. 54) Wortlaut: Bulletin vom 12. 8. 1970, Nr. 107. S. 1058 f. 55) Vgl. H . Steinberger: Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-sowjetischen Vertragswerks vom 12. August 1970, Ztschr. f. ausi. öff. Recht und Völkerrecht, Bd. 31, 1971, S. 138 f.; O. Kimminidi: Der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970, Hamburg 1972, S. 82 ff. Diese Auffassung des Verfassers ist inzwischen durch die Entschließung des Deutschen Bundestages bei der Annahme der Ostverträge am 17. Mai 1972 bestätigt worden. In Punkt 2 heißt es: „Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nidit vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen".

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Otto Kimminich D I E OSTVERTRÄGE U N D DAS PROBLEM DES F R I E D E N S V E R T R A G E S M I T D E U T S C H L A N D Wer die kurzen Texte der beiden Ostverträge — des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR vom 12. August 1970 und des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 7. Dezember 1970 — unbefangen liest, wird zunächst daran zweifeln, daß die Analyse dieser Texte irgendeine neue Aussage zum Problem des Friedensvertrags mit Deutschland erbringen kann. I n der politischen Diskussion um die Ostverträge ist zwar viel davon gesprochen worden, daß sie dem Frieden dienten, aber zugleich wurde stets offiziell betont, daß sie keinen Friedensvertrag darstellten. Die in der Bundestagsdebatte von mehreren Rednern (darunter audi dem damaligen Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt) gebrauchte Wendung „Frieden mit der Sowjetunion" konnte schon deshalb nicht wörtlich genommen werden, weil mit der Sowjetunion vor Abschluß des Moskauer Vertrages kein Kriegszustand herrschte. Die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion erfolgte bekanntlich im Jahre 1955, und der Kriegszustand zwischen der Sowjetunion und Deutschland ist durch den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Januar 1955 offiziell beendet worden 1 ). I n diesem Erlaß finden sich unter anderem die folgenden Sätze: „Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erachtet es als anomal, daß Deutschland, obgleich seit der Einstellung der Kampfhandlungen mit Deutschland rund 10 Jahre vergangen ist, noch immer gespalten ist und keinen Friedensvertrag hat, und daß sich das deutsche Volk noch immer gegenüber anderen Völkern in einer nicht gleichberechtigten Lage befindet." Der Kernsatz des Erlasses lautet: „Der Kriegszustand zwischen der Sowjetunion und Deutschland wird beendet, und zwischen ihnen werden friedliche Beziehungen hergestellt." Die Notwendigkeit eines Friedensvertrages mit Deutschland wurde auch bei anderen Gelegenheiten von der Sowjetunion betont. So heißt es in Art. 2 des Vertrages über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der 1) Abgedruckt in Dokumente des geteilten Deutschland, hrsg. von Ingo von Münch, Stuttgart 1968, S. 61 f.

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Otto Kimminicb Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. Juni 1964: „Die Hohen Vertragsschließenden Seiten werden im Interesse des Friedens und der friedlichen Zukunft der Völker, darunter des deutschen Volkes, unbeirrt für die Beseitigung der Überreste des Zweiten Weltkriegs, für den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages und die Normalisierung der Lage in Westberlin auf seiner Grundlage eintreten" 2 ). Die Westmächte haben ihre Rechtsauffassungen in Art. 7 des Deutschlandvertrags vom 23. Oktober 1954 3 ) niedergelegt. Dieser Artikel lautet: „Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß." Die beiden Ostverträge sprechen an keiner Stelle ausdrücklich vom Friedensvertrag mit Deutschland. Jedoch wird ein „Friedensvertragsvorbehalt" in Art. 4 des Moskauer Vertrages und I V des Warschauer Vertrages gesehen. Art. 4 des Moskauer Vertrages lautet: „Dieser Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen." Art. I V des Warschauer Vertrages lautet: „Dieser Vertrag berührt nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen." Der Unterschied im Wortlaut der beiden Artikel, die eine generelle „Nichtberührungsklausel" darstellen 4), besteht darin, daß in Art. I V des Warschauer Vertrages nicht nur die von den Parteien früher geschlossenen, sondern auch die sie betreffenden internationalen Vereinbarungen in die Wirkungen der Nichtberührungsklausel einbezogen werden. Dies hat Bedeutung vor allem für das Potsdamer Abkommen, an dem weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Volksrepublik Polen beteiligt ist, und das bekanntlich in seinen Artikeln I V und X I b ebenfalls eine ausdrückliche Bezugnahme auf den noch zu schließenden Friedensvertrag mit Deutschland enthält. 2) AaO. S. 451. 3) BGBl. 1954 I I , S. 305. 4) Vgl. Knut Ipsen, Sinn und Reditsfolgen der Art. 4 der Ostverträge, in: Ostverträge, Berlinstatus, Mündiner Abkommen, Beziehungen zwischen der BRD und DDR, Kieler Symposium vom März 1971, Hamburg 1971, S. 85.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

I n dem Verhältnis zwischen den beiden Ostverträgen und den beiden vorgenannten internationalen Vereinbarungen — Deutschlandvertrag und Potsdamer Abkommen — , so wie es sich nach Art. 4 der Ostverträge darstellt, liegt das Problem der Einwirkung der Ostverträge auf die Lage bezüglich des Friedensvertrags mit Deutschland beschlossen. Die Auswirkung der Art. 4 auf den Deutschlandvertrag wird unterschiedlich beurteilt. Ulrich Scheuner meint: „Ein künftiger Friede bleibt insoweit gewahrt, als entsprechend Art. 4 des Vertrages die alliierten Vorbehalte in den Verträgen mit der Bundesrepublik von 1952/54 für ihre Zuständigkeit für Deutschland als Ganzes, Berlin und die friedensvertragliche Regelung respektiert bleiben" 5 ). Dagegen führt Georg Ferdinand Duckwitz zu denselben alliierten Vorbehalten aus: „Andererseits fallen sie nicht unter Art. 4 des Vertrages, da sie nicht auf Abkommen und Vereinbarungen beruhen" 6 ). I n der Tat beruhen die alliierten Rechte in Deutschland nicht auf Abkommen und Vereinbarungen, sondern auf der Tatsache des alliierten Sieges im Zweiten Weltkrieg, verbunden mit der totalen Besetzung des deutschen Staatsgebiets durch die Streitkräfte der Alliierten. Deswegen hat der Deutschlandvertrag diese alliierten Rechte nicht begründet, sondern nur anerkannt. Sein Art. 2 Satz 1 lautet: „ I m Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrags verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung". D a aber der H i n weis auf diese außervertraglich bestehenden Rechte in den Deutschlandvertrag aufgenommen worden ist, mag argumentiert werden, daß sie damit auf dem Umweg über den Deutschlandvertrag auch unter die Art. 4 der Ostverträge fallen. Bezüglich der Rechtsnatur des in Art. 2 des Deutschlandvertrags enthaltenen Vorbehalts werden ebenfalls unterschiedliche Auffassungen vertreten. Die herrschende Lehre geht davon aus, daß es sich um einen echten Vorbehalt, d. h. eine Ausnahme von der in Art. 1 Abs. 2 des Deutschlandvertrags vorgenommenen Übertragung der Souveränität an die Bundesrepublik Deutschland, handelt 7 ). Nach dieser Auffassung fehlt der Bundesrepublik Deutschδ) Ulrich Sdieuner, Die Bundesrepublik im west-östlichen Spannungsfeld, Hochland 1971, S. 36. β) Georg Ferdinand Duckwitz, Die Wende im Osten, Außenpolitik 1970, S. 655. 7) Vgl. Jochen A. Frowein, Deutschland-Vertrag, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 9, 1. Ergänzungsband, 1969, S. 578; Otto Kimminich, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg, 1970, S. 83 ff.

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Otto Kimminid) land die völkerrechtliche Kompetenz zur Setzung von Rechtsakten auf den in Art. 2 des Deutschlandvertrags genannten Gebieten. Erst die Genehmigung der drei Mächte kann einen solchen Rechtsakt völkerrechtlich wirksam machen. Nach einer anderen Auffassung statuiert Art. 2 des Deutschlandvertrags nur die vertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, die Setzung von Rechtsakten auf den in diesem Artikel genannten Gebieten zu unterlassen8). Auch nach dieser Auffassung kann die Bundesrepublik Deutschland Rechtsakte auf den vorbehaltenen Gebieten mit Zustimmung der drei Mächte setzen. Der Unterschied zur vorgenannten Auffassung besteht darin, daß hier die entgegen dem Deutschlandvertrag gesetzten Rechtsakte völkerrechtliche Gültigkeit besitzen und die Bundesrepublik Deutschland sich lediglich einer Vertragsverletzung gegenüber den drei Mächten schuldig macht, wenn sie auf den Gebieten „Berlin, Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands, friedensvertragliche Regelung" im völkerrechtlichen Bereich ohne Zustimmung der Alliierten tätig wird. Eine solche Vertragsverletzung würde nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen die anderen Vertragspartner berechtigen, den Deutschlandvertrag zu kündigen. I n den praktischen Folgen unterscheiden sich daher die beiden Auffassungen bezüglich des Vorbehalts in Art. 2 des Deutschlandvertrags nicht wesentlich. Ferner braucht auf sie nicht weiter eingegangen zu werden, weil die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich auf jeden Fall durch den Notenwechsel mit den drei Westmächten vor Abschluß der beiden Ostverträge abgesichert hat, gleichgültig, welche Auffassung bezüglich des Vorbehalts in Art. 2 des Deutschlandvertrages als richtig unterstellt wird. I n gleichlautenden Noten vom 7. August 1970 wurden die drei Westmächte von dem Moskauer Vertrag in Kenntnis gesetzt. Bezüglich der alliierten Vorbehalte enthielten die Noten folgende Erklärung: „Der Bundesminister des Auswärtigen hat im Zusammenhang mit den Verhandlungen den Standpunkt der Bundesregierung hinsichtlich der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin dargelegt. Da eine friedensvertragliche Regelung noch aussteht, sind beide Seiten davon ausgegangen, daß der beabsichtigte Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika nicht berührt. 8) Vgl. Karl Doehring, Bindungen NJW 1971, S. 449.

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der

Bundesrepublik

aus

dem

Deutschlandvertrag,

Die Ostvertrge

und der Friedensvertrag

Der Bundesminister des Auswärtigen hat in diesem Zusammenhang dem sowjetischen Außenminister am 6. August 1970 erklärt: Die Frage der Rechte der Vier Mächte steht in keinem Zusammenhang mit dem Vertrag, den die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken abzuschließen beabsichtigen und wird von diesen auch nicht berührt. Der Außenminister der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken hat darauf die folgende Erklärung abgegeben: Die Frage der Vier Mächte war nicht Gegenstand der Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland. Die Sowjetregierung ging davon aus, daß die Frage nicht erörtert werden sollte. Die Frage der Redite der Vier Mächte wird auch von dem Vertrag, den die UdSSR und die Bundesrepublik Deutschland abzuschließen beabsichtigen, nicht berührt. Dies ist die Stellungnahme der Sowjetregierung zu dieser Frage"9). Die Regierungen der drei Westmächte bestätigten in gleichlautenden Noten vom 11. August 1970 den Empfang der im vorstehenden wiedergegebenen Note der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und fügten hinzu:

„Die Regierung der Vereinigten Staaten" (bzw. des Vereinigten Königreichs, bzw. der Französischen Republik) „ist ihrerseits ebenfalls der Auffassung, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes, die sich aus dem Ergebnis des Zweiten Weltkriegs herleiten und die im Londoner Übereinkommen vom 14. November 1944, in der Vierererklärung vom 5. Juni 1945 sowie in anderen Kriegs- und Nachkriegsübereinkünften ihren Niederschlag gefunden haben, durch einen zweiseitigen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einschließlich dieses Vertrages nicht berührt werden können"10). Es fällt auf, daß die Bundesregierung in ihrer Note vom 7. August 1970 den drei Westmächten zunächst mitteilt, beide Partner des Moskauer Vertrages seien bei ihren Verhandlungen davon ausgegangen, daß „die Rechte und Verantwortlichkeiten" der vier Siegermächte vom Moskauer Vertrag nicht berührt würden, während in der Erklärung des Bundesaußenministers vom 6. August 1970 ebenso wie in der Gegenerklärung des sowjetischen Außenministers, die beide in der Note an die Westmächte wiedergegeben werden, nur von der „Frage der Rechte der vier Mächte" die Rede ist. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß es seit Jahren das erklärte Ziel der sowjetischen Außenpolitik ist, die Viermächteverantwortung für ganz Deutschland zu beseitigen und nur noch sowjetische Einflußmöglichkeiten auf Westβ) Zitiert nach „Der Vertrag vom 12. August 1970", hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1970, S. 11 f. 10) Zitiert nach „Der Vertrag vom 12. August 1970 e , hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1970, S. 15.

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Otto Kîmminich deutschland, nicht aber westailiierte Einflußmöglichkeiten auf die übrigen Teile Deutschlands anzuerkennen, gewinnt dieser Unterschied in der Formulierung ein politisches Gewicht. Wenn nur die „Frage der Rechte" von den Vertragsverhandlungen und vom Vertrag selbst unberührt blieb, so bedeutet dies für den sowjetischen Vertragspartner die Aufrechterhaltung seines Standpunkts in bezug auf die Viermächteverantwortlichkeit, während der deutsche Vertragspartner hiergegen offenbar keine Verwahrung eingelegt hat. Folgt man der Auffassung, daß auf Grund von Art. 2 des Deutschlandvertrags der Bundesrepublik Deutschland die völkerrechtliche Kompetenz zur Setzung von Rechtsakten auf den vorbehaltenen Gebieten fehlt, so könnte in der Note vom 7. August 1970 die Bitte um Genehmigung des Vertrags gesehen werden. Die Bundesregierung hat es aber vermieden, eine solche Bitte auszusprechen. Vielmehr legt sie den drei Westmächten ihren Standpunkt dar, daß der Moskauer Vertrag die Rechte der drei Mächte gemäß Art. 2 des Deutschlandvertrags unberührt läßt. U n d selbst dies ist nur im Wege der Interpretation herauszukristallisieren; denn die Note vom 7. August 1970 spricht nicht von Art. 2 des Deutschland Vertrags und nicht von den Rechten der drei Mächte, sondern nur von denen der vier Mächte. Damit ist die Bundesregierung praktisch auf den Zustand vor Abschluß des Deutschlandvertrags zurückgegangen. Es ist bisher nicht bekannt geworden, was die Bundesregierung bewogen hat, eine solche Haltung einzunehmen. Es handelte sich dabei sicher um eine politische Entscheidung. Vom rein juristischen Standpunkt ist jedoch vor jeder Aufweichung der Rechtspositionen zu warnen. Die rechtliche Bedeutung des Deutschlandvertrags lag darin, der Bundesrepublik Deutschland die Souveränität zu übertragen und die Rechte der Westalliierten, die sie in Deutschland als Besatzungsmächte innehatten, teils aufzuheben, teils in vertraglich vereinbarte Rechte von Verbündeten umzuwandeln: aus den ehemaligen Kriegsgegnern und Siegern wurden Verbündete. Art. 7 des Deutschlandvertrags präzisiert in diesem System die Obhutspflicht der Westalliierten für Deutschland als Ganzes; denn die Bundesrepublik Deutschland wollte — nach dem Willen der damaligen Bundesregierung und des Bundestages, der den Deutschlandvertrag ratifizierte — ihre Souveränität nicht zu dem Preis der Schutzlosigkeit und des Verzichts auf das Streben nach der Einheit Deutschlands erkaufen. Ganz gleich, ob Art. 2 des Deutschlandvertrags ein echtes Vorenthalten eines Souveränitätsrechts oder eine vertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

Deutschland darstellt, beschränkt dieser Artikel die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes. Diese Beschränkung kann nur dadurch aufgehoben werden, daß die Westmächte als Signatarstaaten des Deutschlandvertrags entweder ausdrücklich den Vorbehalt des Art. 2 dieses Vertrags beseitigen oder daß sie im Einzelfall einem von der Bundesrepublik Deutschland auf den vorbehaltenen Gebieten gesetzten Rechtsakt zustimmen. Bezüglich des Warschauer Vertrags mag im Sinne einer solchen Zustimmung argumentiert werden; denn in dem Notenwedisel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten vom 19. November 1970, der dem oben wiedergegebenen Notenwechsel vom August 1970 weitgehend entsprach, erklärten die Regierungen der drei Westmächte, daß sie „von der Paraphierung des Vertrages zustimmend Kenntnis" nehmen 11 ). Hier könnte argumentiert werden, daß die zustimmende Kenntnisnahme sich nicht auf die Tatsache der Paraphierung beschränken kann, sondern den Inhalt mit umfassen muß. I n den Noten der Westmächte zum Moskauer Vertrag fehlt aber eine derartige Erklärung. I n diesen Noten haben die Westmächte weder auf die in Art. 2 des Deutschlandvertrags vorbehaltenen Rechte verzichtet, noch haben sie irgendeinem von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland gesetzten Rechtsakt zugestimmt. Vielmehr haben sie ausdrücklich erklärt, daß ihre durch Art. 2 des Deutschlandvertrags nicht geschaffenen, sondern nur aufrechterhaltenen Rechte vom Moskauer Vertrag unberührt bleiben. Dies bedeutet, daß sie jede Wirkung des Vertrags, die in irgendeiner Weise diesen Rechten zuwiderläuft, als nichtig betrachten. I m Grunde genommen bestätigen sie damit die herrschende Auffassung vom völkerrechtlichen Kompetenzmangel der Bundesrepublik Deutschland in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Für die Frage des Friedensvertrags ergibt sich hieraus eine merkwürdige Situation. Einerseits ist durch den Notenwechsel mit den drei Westmächten klargestellt, daß der Moskauer Vertrag die Situation in bezug auf den Friedensvertrag mit Deutschland nicht ändert und den Inhalt eines solchen Friedensvertrags nicht beeinflussen kann. (Deshalb kommt Frowein zu dem Schluß, daß sich aus der Zustimmung der drei Westmächte zu den Ostverträgen nur ergebe, „daß sie der Regelung bis zu einem Friedensvertrag ihre

11) Zitiert nach „Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen", hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1970, S. 13.

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Otto Kmminich Zustimmung gegeben haben" 12 ). Andererseits läßt es sich nicht leugnen, daß die Ostverträge für die Bundesrepublik Deutschland eine bindende Wirkung entfalten, die vom Abschluß eines Friedensvertrages unabhängig ist. Dies ergibt sich eindeutig aus den Formulierungen in Art. 3 des Moskauer und Art. I des Warschauer Vertrages. I n Art. 3 des Moskauer Vertrages verpflichtet sich die Bundesrepublik, Gebietsansprüche auch in Zukunft nicht zu erheben und die Grenzen aller Staaten „heute und künftig" als unverletzlich zu betrachten. I n Art. I Abs. 2 des Warschauer Vertrages bekräftigt die Bundesrepublik Deutschland die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen der Volksrepublik Polen „jetzt und in der Zukunft" und erklärt in Art. I Abs. 3, daß sie keinerlei Gebietsansprüche gegenüber der Volksrepublik Polen hat „und solche auch in Zukunft nicht erheben" wird. M i t Recht ist daher in der völkerrechtlichen Literatur auf die Endgültigkeit der Grenzregelungen der Ostverträge geschlossen worden 13 ). Anläßlich der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags hat der Bundesaußenminister einen Ausweg aus diesem Dilemma aufzuzeigen versucht, indem er darauf hingewiesen hat, die Bundesregierung habe beim Abschluß des Vertrages betont, „daß sie nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handeln kann" 1 4 ). Er wollte damit andeuten, daß ein Friedensvertrag nur von einem gesamtdeutschen Staat abgeschlossen werden könne, und daß die Verträge der Bundesrepublik Deutschland jenen gesamtdeutschen Staat nicht binden könnten. Die Diskrepanz zwischen der intendierten Endgültigkeit der materiellen Regelungen des Moskauer Vertrages und ihrer formellen Vorläufigkeit im Hinblick auf das unberührt gebliebene Friedensvertragsproblem soll·demnach dadurch überbrückt werden, daß die endgültige Regelung nur für die Bundesrepublik Deutschland gelten soll, der Friedensvertragsvorbehalt aber für Deutschland als Ganzes. Dies ist zugleich der Ausweg aus einem anderen völkerrechtlichen Dilemma, in das die Bundesregierung mit dem Abschluß der Ostverträge geraten ist. Z u den „mehrseitigen internationalen Vereinbarungen" im Sinne der Art. 4 der Ostverträge gehört, wie bereits im vorstehenden bemerkt, auch das Potsdamer Abkommen. Wie ebenfalls bereits im vorstehenden ausgeführt, ist die Hinzufügung der Worte „ . . . sie betreffenden" im Warschauer Ver12) Jochen A. Frowein, Die Grenzbestimmungen der Ostverträge und ihre völkerrechtliche Bedeutung, in: Ostverträge, Berlinstatus, Münchner Abkommen, Beziehungen zwischen der BRD und der DDR, Kieler Symposium vom März 1971, Hamburg 1971, S. 31. 13) Vgl. Helmut Steinberger, Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-sowjetischen Vertragswerks vom 12. August 1970, ZaöRV 1971 (Bd. 31), S. 137. 14) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. Dezember 1970, Nr. 171, S. 1816.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

trag zu dem Zweck erfolgt, das Potsdamer Abkommen in die Wirkung der Nichtberührungsklausel mit aufzunehmen. Ferner ist die Vermutung ausgesprochen worden, daß audi die Formulierung des Art. 4 des Moskauer Vertrages „Verträge und Vereinbarungen" ausdrücklich zu dem Zweck gewählt worden ist, um das Potsdamer Abkommen in diesen Artikel einzubeziehen. Diese Wirkung hätte nicht erreicht werden können, wenn Art. 4 des Moskauer Vertrages nur die internationalen Verträge erwähnt hätte; denn nach herrschender Meinung ist das Potsdamer Abkommen kein echter völkerrechtlicher Vertrag 1 6 ). I n der völkerrechtlichen Literatur ist es häufig als „Potsdamer Kommuniqué" bezeichnet worden, aber auch nach dieser Auffassung kann nicht daran gezweifelt werden, daß es eine völkerrechtliche „Vereinbarung" enthält. Die Sowjetunion hat stets den größten Wert auf die Feststellung gelegt, daß das Potsdamer Abkommen nach wie vor gültig sei. Sie betonte dies insbesondere in dem Notenwechsel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR im Zuge der Gewaltverzichtsverhandlungen in den Jahren 1966/ 68 1 β ). U n d auch Art. 9 des Vertrags über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der D D R und der Sowjetunion vom 12. Juni 1964 lautet: „Dieser Vertrag berührt nicht die Rechte und Pflichten der beiden Seiten aus geltenden zweiseitigen und anderen internationalen Abkommen einschließlich des Potsdamer Abkommens" 17 ). Untersucht man, welche Bedeutung die Nichtberührung des Potsdamer Abkommens durch den Moskauer Vertrag für die Rechtsposition der Bundesrepublik Deutschland hat, so muß zunächst gefragt werden, welche Rechtswirkung dem Potsdamer Abkommen überhaupt grundsätzlich für die Bundesrepublik Deutschland zukommt. Art. 4 der Ostverträge beinhaltet keinen zusätzlichen Geltungsgrund internationaler Vereinbarungen, sondern läßt lediglich die tatsächlich bestehenden Rechte und Pflichten unberührt. Hier muß auf die besondere Situation im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Potsdamer Kommuniques hingewiesen werden. Es ist zwar richtig, daß eine unmittelbare Rechtsbindung durch dieses Kommuniqué nur für dessen Signatarstaaten eintreten konnte, aber die Signatarstaaten des Potsdamer Abkommens waren zugleich die Sieger des Zweiten Weltkriegs, die wenige Wochen 15) Vgl. Erich Kaufmann, in Pfeiffer-Strickert, Hrsg., KPD-Prozeß, 1. Bd., Karlsruhe 1955, S. 228. 16) Vgl. „Die Politik des Gewaltverzichts. Eine Dokumentation der deutschen und sowjetischen Erklärungen zum Gewaltverzicht, 1949 — Juli 1968 e , hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1968. 17) Vgl. Dokumente des geteilten Deutschland, hrsg. von Ingo von Münch, Stuttgart 1968, S. 453. 9

Königsberg

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Otto Kmminich vor der Potsdamer Konferenz durch die Erklärung vom 5. Juni 1945 die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen hatten und daher die Möglichkeit hatten, im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts über das künftige Schicksal Deutschlands zu entscheiden18). Die Frage, welche Teile des Potsdamer Abkommens heute noch von Bedeutung sind, ist nicht leicht zu beantworten. Es steht fest, daß das Potsdamer Abkommen Vorgriffe auf den Friedensvertrag mit Deutschland enthielt, die bereits in endgültiger Weise vollzogen worden sind, wie z. B. die Wiederherstellung der Republik Österreich oder die Rückgängigmachung der Annexionen des nationalsozialistischen Deutschlands. Andere Programmpunkte, wie die Auflösung der nationalsozialistischen Organisationen, die Entnazifizierung, die Reorganisation des Gerichtswesens, sind abgewickelt worden. Die Erfolge früherer Bundesregierungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, insbesondere die Einfügung der Bundesrepublik Deutschland in die internationale Gemeinschaft der Staaten und das Ansehen, das sie in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens auf internationaler Ebene gewann, ließen das Potsdamer Abkommen als eine Regelung erscheinen, deren Zweck mit der Beseitigung der Spuren des besiegten politischen Regimes und der Nachkriegsbesatzung erfüllt war. Erst in jüngster Zeit ist auch das Interesse der Rechtswissenschaft an den Problemen des Potsdamer Abkommens wieder erwacht 19 ). I n den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion hat das Potsdamer Abkommen stets eine gewisse Rolle gespielt; denn die Sowjetunion hat der Bundesrepublik Deutschland wiederholt einen Bruch des Potsdamer Abkommens vorgeworfen, wobei insbesondere behauptet wurde, die Bundesrepublik habe die antifaschistischen Bestimmungen des 18) Daß das Potsdamer Abkommen alsbald von seinen Signatarmächten selbst gebrochen wurde, insbesondere bezüglich derjenigen Bestimmungen, nach welchen Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu behandeln war, ist für den Fortbestand des Abkommens unerheblich. Der Bruch einer internationalen Vereinbarung bewirkt noch nicht automatisch deren Beseitigung, sondern gibt lediglich dem anderen Partner das Recht, die Vereinbarung zu kündigen. Die Signatarstaaten des Potsdamer Abkommens haben sich zwar jahrzehntelang gegenseitig den Bruch dieses Abkommens vorgeworfen, aber keiner von ihnen hat daraus die Konsequenz gezogen, das Potsdamer Abkommen zu kündigen. 19) Vgl. Robert Cecil, Potsdam and its Legends, International Affairs 1970, S. 455 ff.; Ernst Deuerlein, Deklamation oder Ersatz frieden. Die Konferenz von Potsdam 1945, Stuttgart 1970; ders., Die Verabschiedung der Deutschland-Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, Deutschland-Archiv 1970, S. 673 ff; Fritz Faust, Das Potsdamer Abkommen und seine völkerrechtliche Bedeutung, 4. Aufl. Frankfurt/M.-Berlin 1969; André Fontaine, Potsdam: A French View, International Affairs 1970, S. 466 ff.; Jens Hacker, Zur Interpretation des Potsdamer Abkommens, Deutschland-Ardiiv 1968, S. 135 ff.; Eberhard Menzel, Das Potsdamer Abkommen und die Ostpolitik der Bundesregierung, in: Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970, S. 114 ff.; Theodor Schweisfurth, Potsdam-Manipulationen, Deutschland-Archiv 1970, S. 923 ff.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

Potsdamer Abkommens nicht genügend beachtet und die Demokratie nicht wieder hergestellt, wie es das Potsdamer Abkommen verlangt 20 ). Seit einigen Jahren tritt neben die Berufung auf das Potsdamer Abkommen die Berufung auf die sogenannten Feindstaatenklauseln der UNO-Satzung (Art. 53 und 107 dieser Satzung), die vom östlichen Schrifttum in „antifaschistische" bzw. „antiimperialistische" Klauseln umgemünzt werden 21 ). Aber trotz des politischen Herunterspielens der Bedeutung des Potsdamer Abkommens — das wahrscheinlich mit dem Bemühen zusammenhängt, die Viermächteverantwortlichkeit für ganz Deutschland, die ebenfalls im Potsdamer Abkommen verankert ist, in den Hintergrund zu drängen — scheint die Sowjetunion nach wie vor an der Aufrechterhaltung des Potsdamer Abkommens im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland interessiert zu sein. Die Formulierung der Art. 4 der Ostverträge, die an zwei verschiedenen Stellen auf das Potsdamer Abkommen Rücksicht nimmt, unterstreicht dies. Jedoch ist hinsichtlich des Friedensvertrags mit Deutschland die Aufrechterhaltung des Potsdamer Abkommens für die Sowjetunion keineswegs günstig. Das Potsdamer Abkommen verweist nämlich an verschiedenen Stellen, ζ. B. in den bereits erwähnten Artikeln V I und I X b auf die noch ausstehende Friedensregelung. I m Gegensatz dazu vertritt die Sowjetunion die Auffassung, „daß die Frage der Grenzen Deutschlands durch das Potsdamer Abkommen gelöst worden ist" 2 2 ). Warum die Grenzfrage im Potsdamer Abkommen ausdrücklich offengehalten wurde, braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Ein formaler Grund liegt jedenfalls darin, daß eine Gebietszession nicht ohne deutsche Unterschrift erfolgen konnte. Es scheint aber auch noch andere Gründe gegeben zu haben, die der amerikanische Außenminister George C. Marshall auf der Moskauer Außenministerkonferenz vom 27. März 1947 wiederholte: „Herr Molotow vertrat die Auffassung, daß die Entscheidung über die polnische Westgrenze bereits gefallen sei. Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. . . . Eine gerechte Regelung dieser Frage erfordert, daß wir die Bedürfnisse der davon unmittelbar betroffenen Bevölkerung mit aller Sorgfalt berücksichtigen und zugleich die Bedeutung 20) Vgl. Jens Hacker, Sowjetunion und D D R Köln 1969.

zum Potsdamer Abkommen, 2. Aufl.

21) Vgl. Bernhard Graefrath, Die antifaschistischen Klauseln der UN-Charta und der Gewaltverzicht, Neue Justiz 1968, S. 686 ff.; Peter Alfons Steiniger, Die antifaschistischen Klauseln der Charta von San Francisco, Neue Justiz 1955, S. 355 ff.; ders., Deutschland und die Vereinten Nationen, Deutsche Außenpolitik 1954, S. 856. 22) Erklärung der Regierung der Sowjetunion vom 15.9. 1955, zitiert nach Rasdihofer, Die Vorbehalte der Bundesrepublik Deutschland bei Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion, in: Deutschlands Grenzen, Internationales Recht und Diplomatie 1965, S. 84. 9#

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Otto Kmminich dieser Grenze für die wirtschaftliche und politische Stabilität Europas beachten" 28 ). Ähnliche Erklärungen über die Vorläufigkeit der Grenzregelung sind von den Vereinigten Staaten bei anderen Gelegenheiten abgegeben worden, wie z. B. anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der D D R und der Sowjetunion vom 12. Juni 1964 2 4 ) sowie bei der Erneuerung des sowjetisch-polnischen Freundschafts- und Beistandspakts vom 8. April 1965. Damals wies die Regierung der Vereinigten Staaten ausdrücklich darauf hin, daß sich ihre Haltung in der Grenzfrage seit der Unterzeichnung des Potsdamer Kommuniques nicht geändert habe 25 ). Auch die britische Regierung hat ähnliche Erklärungen abgegeben26). I m Frühjahr 1967 hatte der Abgeordnete Brooks im englischen Unterhaus angefragt, ob „die Wünsche der Bevölkerung des nördlichen Teils des ehemaligen deutschen Ostpreußens bei der Festlegung des Status dieses Gebiets auf einer künftigen Friedenskonferenz eine wesentliche Rolle spielen werden". Das britische Außenministerium antwortete am 24. April 1967 mit dem H i n weis auf Art. V I des Potsdamer Abkommens und insbesondere auf das Versprechen des britischen Premierministers, den in Art. V I des Potsdamer Abkommens enthaltenen Vorschlag auf der Friedenskonferenz zu unterstützen 2 7 ). Die Auffassung von der Endgültigkeit der Grenzregelung im Potsdamer Abkommen findet daher weder im Text des Abkommens noch in den Interpretationen der zwei westlichen Signatarstaaten irgendeine Stütze. Daß auch die Westmächte am Ende des Zweiten Weltkriegs entschlossen waren, Deutschland im Friedensvertrag zur Abtretung von Gebieten im Osten zu veranlassen, unterliegt keinem Zweifel. Bezüglich des nördlichen Ostpreußens sind in dem bereits erwähnten Art. V I des Potsdamer Abkommens der Sowjetunion Versprechungen seitens der Westmächte gemacht worden. Auch sie gehen aber nicht weiter als bis zu der Zusage, den Vorschlag der Abtretung des nördlichen Ostpreußens an die Sowjetunion auf der Friedenskonferenz zu unterstützen. Die im Text des Abkommens ausdrücklich getroffene Feststellung, daß die Grenzregelung dem Friedensvertrag vorbehalten 23) Documents of American Foreign Relations, Bd. I X (1949), S. 49. 24) Department of State, Bulletin 1964, Nr. 1307, S. 44 ff. 25) Department of State, Bulletin 1965, S. 343. 26) Eine Zusammenstellung dieser Erklärungen findet sidi bei Helmut Steinberger, Völkerrechtliche Aspekte des deutsch-sowjetischen Vertragswerks vom 12. August 1970, ZaöRV 1971 (Bd. 31), S. 132 f., Anmerkung 172. 27) Parliamentary Debates (Hansard), Fifth Series, vol. 745, House of Commons, S. 207.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

bleibt, wird dadurch noch unterstrichen. Das bedeutet zugleich, daß das Potsdamer Abkommen keinen endgültigen Gebietsübergang bewirkt hat. Daß dagegen die beiden Ostverträge endgültige Grenzregelungen beabsichtigen, ist bereits im vorstehenden ausgeführt worden. Wenn nun aber die Art. 4 der gleichen Verträge das Potsdamer Abkommen unberührt lassen, so lassen sie auch die Vorläufigkeit der Grenzziehung durch dieses Abkommen unberührt. Die Wirkung der Art. 4 der Ostverträge hebt daher die Wirkung des Art. I des Warschauer Vertrages und des Art. 3 des Moskauer Vertrages wieder auf. Die Verträge sind in sich widersprüchlich und müßten im Falle einer Streitschlichtung durch ein internationales Gericht von diesem für nichtig erklärt werden. Man kann sich schwer vorstellen, daß dieses Problem im Laufe der Verhandlungen, die zu den Ostverträgen führten, nicht erkannt worden ist. Ganz sicher haben zumindest die sowjetischen und polnischen Juristen eine Argumentation zur Hand, welche die Ostverträge vor dem Schicksal der Nichtigerklärung rettet. U m dies zu erreichen, muß die Nichtberührungsklausel der Ostverträge so ausgedeutet werden, daß sie dem Vertragszweck nicht zuwiderläuft. Dieses Ziel kann wiederum nur dadurch erreicht werden, daß die Vorläufigkeitsbestimmung des Potsdamer Abkommens von den Wirkungen der Nichtberührungsklausel des Art. 4 der Ostverträge ausgenommen wird. M i t anderen Worten: die von den Parteien früher abgeschlossenen bzw. sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen bleiben unberührt, soweit sich nicht aus den übrigen Artikeln der Ostverträge etwas anderes ergibt. Eine solche Interpretation ist völkerrechtlich äußerst zweifelhaft, und es ist nicht sicher, ob ein internationales Gericht sich ihr anschließen würde. Denn eine ausdrückliche Bestimmung dieses Inhalts findet sich weder im Warschauer noch im Moskauer Vertrag. Als weiteres Argument bietet sich den östlichen Vertragspartnern die Behauptung an, das Potsdamer Abkommen habe die Grenze bereits endgültig festgelegt, so daß die Grenzregelungen der Ostverträge überhaupt keine juristische Bedeutung hätten. Das polnische und das sowjetische Verlangen, die Grenzfrage durch Verträge mit der Bundesrepublik Deutschland und der D D R zu regeln, steht allerdings im Widerspruch zu dieser Auffassung; denn wenn die Grenzfrage bereits endgültig geregelt worden wäre, hätte kein Bedürfnis nach einer weiteren vertraglichen Regelung bestanden. So bleibt für die Vertragspartner der Bundesregierung nur noch das Argument, die Bundesregierung habe in den Ostverträgen durch konkludentes Handeln den sowjetischen bzw. polnischen Rechtsstandpunkt in bezug auf die Endgültigkeit der Grenzregelung im Potsdamer Abkommen anerkannt. Damit würde

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Otto Kmminich aber die Nichtberührungsklausel der Art. 4 der Ostverträge mit einem Inhalt erfüllt werden, der — wie im vorstehenden gezeigt — sowohl dem Wortlaut dieser Vertragsbestimmung als audi den allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsregeln zuwiderlaufen würde. Das Handeln der Bundesregierung läßt auch keineswegs den Schluß auf eine stillschweigende Anerkennung der sowjetischen bzw. polnischen Auffassung von der Endgültigkeit der Potsdamer Beschlüsse zu. Staatssekretär Bahr erklärte sogar wörtlich: „Solange die Rechte der vier Mächte bestehen, kann die Bundesrepublik Deutschland über diese Rechte nicht verfügen; sie kann die völkerrechtliche Anerkennung der Grenzen auf deutschem Boden nicht vornehmen, selbst wenn sie das wollte. Es gibt keinen Friedensvertrag, und das wirkt sich aus" 28 ). Eine ähnliche Feststellung ist in dem Kommuniqué der Bundesregierung zum Abschluß des Warschauer Vertrages vom 7.12. 1970 enthalten: „Den Potsdamer Beschlüssen selbst wird damit von deutscher Seite nachträglich keine andere und weitergehende rechtliche Bedeutung zuerkannt, als sich aus dem Wortlaut dieser Beschlüsse und aus den Umständen ergibt, unter denen sie zustande gekommen sind* 2 9 ). Kann der Widerspruch zwischen der Endgültigkeit der Grenzregelungen und der Offenhaltung der Friedensvertragsfrage in beiden Ostverträgen nicht aufgelöst werden, so verlieren diese Verträge einen großen Teil ihrer völkerrechtlichen Wirksamkeit und könnten deshalb unter Umständen von einem internationalen Gericht im Streitfalle insgesamt für nichtig erklärt werden. Es war die Pflicht der Opposition im Deutschen Bundestag, auf diese Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten hinzuweisen und auf Klärungen zu drängen, damit nicht gegen Deutschland eines Tages der Vorwurf erhoben werden kann, es habe ein Doppelspiel betrieben. Dieser Vorwurf zeichnet sich sogar bereits heute ab. So konnte man z. B. in einer der angesehensten englischen Fachzeitschriften der internationalen Politik im Sommer 1971 lesen: „Bonn akzeptierte also den Status quo mit der erklärten Absicht, ihn, wenn möglich zu verändern. So wie man seinerzeit sagte: Grenzen können am besten dadurch überwunden werden, daß man sie zuerst anerkennt. Diese grundlegende Widersprüchlichkeit der bundesdeutschen Haltung erweist sich vielleicht als Quelle einer Mythologie in Westdeutschland, unterschiedlicher Interpretationen durch westdeutsche Pose) Egon Bahr, Der Vertrag mit der Sowjetunion, in: „Der Vertrag vom 12. August 1970", hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1970» S. 64 f. 2®) Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. Dezember 1970, Nr. 171, S. 1819.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

litiker und künftiger Spannungen zwischen Bonn und Moskau" 3 0 ). Aber auch in Deutschland erhoben sich warnende Stimmen gegen die Unklarheiten und juristischen Schwächen der Verträge. Sehr zu unrecht sind solche Warner und Mahner pauschal als „Vertragsgegner" abqualifiziert worden. Einer, der diese Beurteilung auf gar keinen Fall verdient, ist Ulrich Scheuner, dessen Auffassung deshalb hier stellvertretend für viele wiedergegeben sei. „Manche Kreise in der Bundesrepublik", so meint er, würden einen so konstruierten Friedensvertragsvorbehalt in dem Sinne verstehen, daß in einem Friedensvertrag auch von dem Warschauer Vertrag abweichende Regelungen getroffen werden könnten. Dies würde den Warschauer Vertrag nicht nur für den polnischen Vertragspartner entwerten, sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland; denn ein mit einem solchen Vorbehalt belasteter Vertrag könnte nicht zur Entspannung beitragen 31 ). Deshalb warnte Scheuner vor einem derartig versteckten Friedensvertragsvorbehalt und forderte stattdessen einen „formalen Rechtsvorbehalt". Seine Ausführungen, die dem Warschauer Vertrag galten, können in gleicher Weise auf den Moskauer Vertrag angewendet werden 32 ). Abzulehnen ist dagegen jede Interpretation der Verträge, die den Deutschlandvertrag zur reinen Formalität abstempelt. Eine solche Interpretation zeichnet sich in einigen Stellungnahmen zu den Ostverträgen ab. So schreibt z.B. Wolfgang Wagner über die Haltung der Bundesregierung beim Abschluß des Warschauer Vertrages (eine Haltung, die beim Abschluß des Moskauer Vertrages ebenfalls zutage trat): „Ihr in Noten an die drei Westmächte niedergelegter Vorbehalt in bezug auf einen möglichen Friedensvertrag hat daher nur den rein formalen Sinn, die Rechte der Westmächte aus dem Potsdamer Abkommen und den deutschalliierten Verträgen von 1954 zu wahren und gleichzeitig zu vermeiden, daß ihr ein Verstoß gegen die Verpflichtungen des Grundgesetzes zum Vorwurf gemacht werden kann" 3 3 ). Wie durch den Notenwechsel mit den drei Westmächten vermieden werden kann, daß der Bundesregierung ein Verstoß gegen die Verpflichtungen des Grundgesetzes zum Vorwurf gemacht wird, bleibt unklar. Der erste Teil des 30) Ε. H . Albert, Bonn's Moscow Treaty and its Implications, International Affairs (London) 1971, S. 316. 31) Ulrich Scheuner, Die Oder-Neiße-Grenze und die Normalisierung der Beziehungen zum Osten, Europa-Archiv 1970, S. 383. 32) Die Forderung Scheuners nach einem Rechtsvorbehalt ist durch die Gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 erfüllt worden. Im Zeitpunkt des Referats lag diese Gemeinsame Entschließung noch nicht vor. Ihre detaillierte juristische Analyse ist nicht Gegenstand der vorliegenden Abhandlung. 33) Wolfgang Wagner, Ein neuer Anfang zwischen Polen und Deutschen, Europa-Archiv 1970, S. 840.

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Otto Kmminich Satzes aber enthält eine klare Aussage: Der Friedensvertragsvorbehalt soll nur einen „formalen Sinn" haben. Die Ostverträge erweisen sich damit als Ausdruck der Überzeugung, daß ein Friedensvertrag in Wirklichkeit nicht mehr zu erwarten ist. Diese Auffassung ist keineswegs neu 3 4 ). Hierfür gibt es zahlreiche Gründe. Die erfolgreiche Aufbauarbeit in den ersten 20 Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland hat den Gedanken an einen Friedensvertrag in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend verdrängt. Ferner haben die von früheren Bundesregierungen gesetzten Rechtsakte wesentliche Probleme der Friedensregelung bereits gelöst und Deutschland wieder in den Kreis der Völkergemeinschaft zurückgeführt. Vielen Deutschen erscheint es unvorstellbar, daß ihr Land nach mehr als einem Vierteljahrhundert unversehens wieder in die Situation des Jahres 1945 zurückversetzt wird. Wenn von den Gefahren der Herabwürdigung des Deutschlandvertrags zur nichtssagenden Formalität gesprochen wird, so ist damit nicht der Verzicht auf einen Friedensvertrag gemeint, sondern die Obhutspflicht der drei Westmächte für Deutschland als Ganzes und Berlin. Die Aufrechterhaltung der Redite der Westmächte in bezug auf Deutschland als Ganzes (einschließlich der Wiedervereinigung) und Berlin in eben dem Vertrag, durch den die Westmächte endgültig von Siegern zu Verbündeten der Bundesrepublik wurden, erfolgte ja nicht zu dem Zweck, für die Bundesrepublik Deutschland die Situation des Jahres 1945 zu perpetuieren, sondern um jene Obhutspflicht der drei Westmächte rechtlich zu zementieren. Der Vorbehalt des Art. 2 des Deutschlandvertrags erhält, wie bereits im vorstehenden ausgeführt, seine wahre Bedeutung erst im Zusammenhang mit Art. 7 des Deutschlandvertrages, der eine Rechtsfolge aus Art. 2 ist, und in dem sich die drei Westmächte verpflichten, ihre Politik so einzurichten, daß die Wiedervereinigung Deutschlands mit friedlichen Mitteln gefördert wird, und dabei keine Schritte ohne vorhergehende Konsultation mit der Bundesrepublik Deutschland zu unternehmen. Der Deutsdilandvertrag stellt also nicht nur eine Beschränkung der völkerrechtlichen Kompetenz der Bundesrepublik Deutschland (oder eine vertragliche Pflicht der Bundesrepublik zur Unterlassung bestimmter Rechtsakte) dar, sondern auch eine Beschränkung der außenpolitischen Handlungsfreiheit der drei Westmächte. Es mag sein, daß den Westmächten diese Beschränkung lästig geworden ist. Aber das war für die Bundesrepublik Deutschland noch kein Anlaß, die Westmächte von 34) Eine Zusammenstellung der Gründe für die Unwahrsdieinlichkeit des Abschlusses eines Friedensvertrags mit Deutschland bringt Eberhard Menzel, Verfassungswidrigkeit der Ostverträge von 1970?, D Ö V 1971, S. 367.

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Die Ostverträge

und der Friedensvertrag

dieser Last zu befreien. Bisher ist es nodi immer als Erfolg der deutschen Diplomatie verzeichnet worden, wenn es gelang, die Westmächte in ihrer rechtlichen Verpflichtung für Deutschland als Ganzes zu halten. Wenn heute im Zusammenhang mit den Ostverträgen auf deutscher Seite offen davon gesprochen wird, der Friedens Vertrags vorbehält habe nur noch einen „formalen Sinn", so könnte es der Bundesrepublik Deutschland eines Tages schwerfallen, auf die Pflichten der Westmächte aus Art. 7 des Deutschlandvertrages hinzuweisen. Der Einwand, Art. 7 des Deutschlandvertrages habe audi in der bisherigen Politik nicht realisiert werden können, ist nicht stichhaltig. Art. 7 des Deutschlandvertrages konnte zu keiner Zeit als Aktionsprogramm zur alsbaldigen Wiederherstellung der Einheit Deutschlands betrachtet werden. Er war von vornherein — und ist noch immer — eine juristische Fixierung des Rechtsstandpunktes der Bundesrepublik Deutschland und der drei Westmächte in bezug auf die Rechtslage Deutschlands und damit auf die Rechtslage der Bundesrepublik. I n den Begleiterklärungen der Regierungen der drei Westmächte vom 3. Oktober 1954 kommt dies noch einmal deutlich zum Ausdruck. Die Westmächte erklären dort, „daß sie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen" 85). Auf dieser Grundlage beruht die staatsrechtliche Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland, deren völkerrechtliche Absicherung durch eine zwanzigjährige internationale Praxis der Bundesrepublik Deutschland erreicht worden ist. Es wäre verhängnisvoll, wenn im Zusammenhang mit dem Versuch, einen Ausweg aus dem völkerrechtlichen Dilemma, in das die Bundesregierung durch die unklaren und widersprüchlichen Vertragstexte gelangt ist, jene Grundlage unseres Staates erschüttert würde. Hinter dem Problem des Zusammenhangs der Ostverträge mit der Friedensvertragsfrage stehen daher die staatsrechtlichen Folgeprobleme der Ostverträge. Wenn die Bundesregierung den Ausweg aus dem völkerrechtlichen Dilemma dadurch sucht, daß sie erklärt, die endgültige Regelung gelte nur für die Bundesrepublik Deutschland, der Friedensvertragsvorbehalt dagegen nur für Deutschland, und sie, die Bundesregierung, habe nur für die Bundesrepublik gehandelt und handeln können, so gerät sie in ein gefährliches staatsrechtliches Dilemma. Denn sie verläßt den Boden des Grundgesetzes, auf 35) Zitiert nach Ingo von Mündi, Hrsg., Dokumente des geteilten Deutschland, Stuttgart 1968, S. 247.

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Otto Kimminià ? dem sie nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, für Deutschland zu handeln. Die rechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland mit „Deutschland", die schon im Namen dieses Staates zum Ausdruck kommt, kann nicht durch Regierungserklärungen oder völkerrechtliche Verträge, die nur durdi einfache Zustimmungsgesetze abgesichert sind, preisgegeben werden. Es handelt sich um eine Veränderung des tragenden Begriffs der Verfassung, nämlich des Deutschlandbegriffs. Für jede noch so geringfügige Änderung eines Artikels, Absatzes, Satzes oder Satzteils — ja auch nur eines einzigen Wortes — schreibt das Grundgesetz die verfassungsändernde Mehrheit vor. Der tragende Grundbegriff der ganzen Verfassung aber soll ohne Verfassungsänderung wandelbar sein? Hier wird die Lehre vom „stillen Verfassungswandel" offensichtlich überdehnt. Diese Detailfragen zu beantworten, kann nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß die eigentliche Problematik der Ostverträge mit deren Ratifizierung nicht erledigt ist, sondern über die Verknüpfung mit dem Problem des Friedensvertragsvorbehalts und den dazu abgegebenen offiziellen und offiziösen Erklärungen zu Grundfragen der rechtlichen Existenz unseres Staates führt, deren Beantwortung nicht mehr länger hinausgeschoben werden sollte.

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Jens Hacker D I E VORSTELLUNGEN DER D D R ÜBER E I N E F R I E D E N S V E R T R A G L I C H E R E G E L U N G M I T DEUTSCHLAND Vorbemerkung Eine neue Erscheinung im Völkerrecht bildet — wie der Bonner Staats- und Völkerrechtler Ulrich Scheuner betont — das Ausbleiben eines Friedensvertrags aller Kriegsgegner mit Deutschland und Japan nach 1945. Das habe freilich die Wiederaufnahme friedlicher Beziehungen zu den früheren Gegnern, sogar die Aufnahme diplomatischen Verkehrs nicht gehindert, so daß ein faktischer Friedenszustand eingetreten sei: „Die territorialen und politischen Fragen blieben indes ungeregelt, soweit nicht wenigstens Friedensregelungen oder friedensähnliche Abmachungen mit einem Teil der ehemaligen Gegner zustandegekommen sind" 1 ). Scheuner verweist auf den Friedensvertrag zwischen Japan und den westlichen Mächten vom 8. September 1951 2 ) und die Bonner Verträge vom 26. M a i 1952 in der Fassung des Pariser Protokolls vom 23. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei westlichen Hauptmächten. Die Sowjetunion, die vierte Besatzungsmacht in Deutschland, hat 1955 und 1964 Regelungen mit der D D R getroffen, die ebenfalls den noch ausstehenden Friedensvertrag mit Deutschland berühren. Dieter Blumenwitz spricht von dem allgemeinen Phänomen der Nachkriegszeit, dem faktischen Friedenszustand mit den Besiegten, „meist gefördert und getragen von den Differenzen der Siegermächte untereinander" 8 ). Festzuhalten gilt, daß die drei Westmächte den Kriegszustand mit Deutschland bereits 1951 für beendet erklärt haben 4 ); die UdSSR entschloß sich zu diesem Schritt erst im Januar 1955 5 ). 1) U. Sdieuner, Friedensvertrag, in: Strupp-Sdilodiauer: Wörterbuch des Völkerredits. Bd. I , Berlin 1960, S. 590—595 (591). 2) Text in: Europa-Archiv 1952, S. 5267 ff. 3) D. Blumenwitz, Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland. Ein völkerrechtlicher Beitrag zur künftigen Deutschlandpolitik. Berlin 1966, S. 45 mit Hinweis auf S. 31. 4 ) In getrennten Mitteilungen vom 9. Juli 1951. Text und Erläuterungen bei H . Mosler und K. Doehring, Die Beendigung des Kriegszustands mit Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Köln/Berlin 1965. 5) Durch einen Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 25. Januar 1955. Text in: Europa-Archiv 1955, S. 7347 f. Die anderen Staaten des Ostblodcs schlossen sich dieser Erklärung an. Texte aller Erklärungen bei Mosler und Doehring, ebenda, S. 393—419.

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Jens Hacker Es erscheint wenig sinnvoll, die Vorstellungen der D D R über einen Friedensvertrag mit Deutschland oder, um in der von östlicher Seite seit Mitte der sechziger Jahre bevorzugten Terminologie zu sprechen, eine „deutsche Friedensregelung" isoliert zu betrachten. Die von der D D R bisher unterbreiteten Vorschläge folgten — verständlicherweise — den jeweils von der Sowjetunion entwickelten Konzeptionen. Die Vorstellungen der UdSSR und der D D R stimmten jedoch nicht immer in allen Punkten überein. Die feststellbaren Differenzen ergeben sich nicht aus den Texten der jeweiligen Vorschläge, sondern aus der Interpretation der sowjetischen Vorschläge durch die D D R . Das gilt auch und gerade für die Entwürfe eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. März 1952 und 10. Januar 1959, den bisher letzten Vorschlag der sowjetischen Seite. Die sowjetische Regierung bereitete der DDR-Führung

und den sie unterstützenden Staats- und

Völkerrechtlern die bitterste Enttäuschung 1964, als sie sich nur zum Abschluß eines Freundschafts- und Beistandspakts, nicht aber zum Abschluß des von beiden Seiten jahrelang propagierten separaten Friedensvertrags mit allen seinen Folgen bereit fand. I n der D D R ist zu der komplizierten Problematik eines Friedensvertrags mit Deutschland ein sehr umfangreiches Schrifttum erschienen, das hier nicht im einzelnen ausgebreitet werden kann 6 ). Dabei fällt vor allem ein Faktum ins Gewicht: I n dem Maße, wie die Vorstellungen über den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland illusionär geworden sind, wurde das Potsdamer Abkommen, fälschlicherweise zumeist von den anderen und wichtigeren Abmachungen der Alliierten aus den Jahren 1944/45 e

) Folgende DDR-Interpretationen der sowjetischen Vorschläge seinen hier genannnt: F. Köhler: Das Ringen um den deutschen Friedensvertrag 1945—1949, in: Deutsche Außenpolitik 1959, S. 414—427; J. Mai, Der Kampf der Sowjetunion um einen Friedensvertrag, Universität Greifswald. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 1958/59, S. 461 bis 465; S. Bode, Der sowjetische Friedensvertragsentwurf und das Völkerrecht, in: Neue Justiz 1959, S. 73—76; ders., Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland, in: Deutsche Außenpolitik, Sonderheft IV/1959, S. 22—33; B. Graefrath und E. Oeser, Zu den Rechtsgrundlagen des deutschen Friedensvertrages, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellsdiafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 1964, S. 89—95; H.Kröger, Friedensvertrag und Völkerrecht, in: Einheit 1961, S. 1330—1353; J. Mitdank, 40 Jahre Versailler Diktat — Ein Vergleich mit dem Friedensvertragsentwurf der Sowjetunion, in: Deutsche Außenpolitik 1959, S. 641—648; G. Reintanz, Der sowjetische Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland — eine Waffe im Kampf gegen den wiedererstandenen deutschen Militarismus, in: Staat und Recht 1959, S. 452—467; G. Schirmer, Völkerrechtliche Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, in: Staat und Recht 1959, S. 314—333; H.Wünsche, Der Abschluß eines demokratischen Friedensvertrages garantiert die Verwirklichung des Prinzips der staatlichen Souveränität in ganz Deutschland, in: Staat und Recht 1959, S. 663—679; R. Arzinger, Warum Friedensvertrag? Berlin (Ost) 1959.

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DDR über eine friedensvertragliche

Regelung

völlig isoliert betrachtet 7), aufgewertet und zu einem „Präliminarfrieden" 8 ), Surrogat oder gar Synonym für einen Friedensvertrag mit Deutschland hodistilisiert. Die Frage, ob es angesichts der politischen Entwicklung — viele in einem Friedensvertrag zu regelnde Fragen haben sich erledigt, und der Gedanke an einen von einer gesamtdeutschen Regierung zu unterzeichnenden Friedensvertrag erscheint wenig real — noch sinnvoll ist, auf der Forderung nach dem Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland zu beharren, braucht hier nicht beantwortet zu werden 9 ). Notwendig erscheint es hingegen, der DDR-These entgegenzutreten, nach der bis zum Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland oder von Friedensverträgen mit den beiden Staaten in Deutschland „Potsdam" diese Funktion erfüllt. Prüft man die Einstellung der UdSSR zu einer Friedensregelung Deutschland seit 1945, so lassen sich folgende Phasen feststellen:

mit

1. Phase: Die vorherige Schaffung einer gesamtdeutschen Regierung als Voraussetzung für die Unterzeichnung eines Friedensvertrags (1945—1947); 2. Phase: Das Problem einer deutschen Zentralregierung und eines Friedensvertrags (1948—1952); 3. Phase: Die Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung an der Vorbereitung eines Friedensvertrags (1952—1954); 4. Phase: Die Priorität der Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems gegenüber der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Deutschland (1954—1958); 7) Vorausgegangen waren die Drei-Mächte-Protokolle vom 12. September und 14. November 1944, denen Frankreich am 26. Juli ohne Vorbehalte beigetreten ist, über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Groß-Berlin, das Drei-Mächte-Abkommen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. November 1944 (Beitritt Frankreidis am 1. Mai 1945), die auf der Konferenz von Jalta (4.—11. Februar 1945) vereinbarten Abmachungen der drei Hauptalliierten und die Berliner Vier-Mächte-Erklärungen vom 5. Juni 1945. Texte in: Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands. Bearb. von D. Rauschning. Mit einer einleitenden Darstellung der Rechtslage Deutschlands von H . Krüger. Frankfurt/M., Berlin 1962. Text der Amtlichen Verlautbarung über die Konferenz von Jalta bei E. Deuerlein, Die Einheit Deutschlands. Bd. I : Die Erörterungen und Entscheidungen der Kriegs- und Nachkriegskonferenzen 1941—1949. Darstellung und Dokumente. 2. Aufl. Frankfurt/M./ Berlin 1961, S. 325 ff. 8) So G. Schirmer, a. a. O. (Anm. 6), S. 328. 9) Vgl. dazu E. Menzel, Friedensvertrag mit Deutsdiland oder Europäisches Sicherheitssystem?, in: Jahrbuch für Internationales Redit 1967, S. 11—81 (14—39).

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Jens Haer 5. Phase: Die Zwei-Staaten-These als Grundlage für den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland (ab 1959). 1. Unterphase: Der sowjetische Entwurf 10. Januar 1959;

eines Friedensvertrags

mit Deutschland

vom

2. Unterphase: Der Vorschlag der UdSSR für den Abschluß eines separaten Friedensvertrags mit der D D R (1959—1961/62); 3. Unterphase: Der Abschluß des Freundschafts- und Beistandspakts zwischen der UdSSR und der D D R vom 12. Juni 1964; 4. Unterphase: Die Forderung nach einer „deutschen Friedensregelung" 10). Die wichtigsten Einschnitte bilden — auch aus der Sicht der D D R — die Jahre 1952, 1959 und 1964. Seit Ende der sechziger Jahre ist die Problematik des Abschlusses eines Friedensvertrags mit Deutschland in der offiziellen Politik der D D R stark in den Hintergrund getreten. Dazu haben auch der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970, der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 und schließlich der Grundvertrag vom 21. Dezember 1972 vor allem im Hinblick auf die darin verankerten Grenzklauseln beigetragen.

I . Der Anspruch Deutschlands auf den Abschluß eines Friedensvertrags Nach übereinstimmender Auffassung der mitteldeutschen Staats- und Völkerrechtslehre ergibt sich der Anspruch Deutschlands auf den Abschluß eines Friedensvertrags aus dem Rechtsinstitut der Staaten-Sukzession und dem Potsdamer Abkommen 1 1 ). Angesichts des Bestehens zweier deutscher Staaten als Rechtsnachfolger des untergegangenen Deutschen Reiches12) müsse der Friedensvertrag mit der D D R und der Bundesrepublik Deutsch10 ) Vgl. dazu J. Hacker, Sowjetunion und D D R zum Potsdamer Abkommen. Köln 1968, 5. 73—97. 11) Vgl. beispielsweise Völkerrecht — Ein Grundriß für Studenten. Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät. Lehrhefte für das Fernstudium, Berlin (Ost) 1966, Bd. I I , S. 143. 12 ) Vgl. dazu J. Hacker, Zum Problem der Staaten-Sukzession in der Sicht der »DDR* in: Recht in Ost und West 1970, S. 1—16.

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land abgeschlossen werden 13 ). Dieser Schluß folge daraus, daß beide deutsche Staaten in „alle völkerrechtsmäßigen Rechte und Pflichten des Vorgängerstaates" 14 ) eingetreten seien. Bernhard Graefrath und Edith Oeser betonen, das Recht und die Pflicht, mit beiden deutschen Nachfolgestaaten einen Friedensvertrag zu schließen, stehe jedem Staat zu, der sich mit Deutschland im Kriegszustand befunden habe 15 ). Walter Poeggel bedient sich in diesem Zusammenhang ebenfalls des Rechtsinstituts der Staaten-Sukzession. Aufschlußreich ist sein Hinweis, beide deutsche Staaten „repräsentieren heute Deutschland im Rahmen ihres jeweiligen Territoriums und der unter ihrer Jurisdiktionsgewalt stehenden Bevölkerung" 1β ). M i t dem Hinweis auf das Rechtsinstitut der Staaten-Sukzession wurde sowohl von offizieller als auch von staats- und völkerrechtlicher Seite der D D R versucht, den bisher letzten sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. Januar 1959 und die sowjetischen Vorschläge aus den Jahren 1959-1961/62 über den Abschluß eines separaten Friedens Vertrags nur mit der D D R zu begründen 17 ). I I . Die Vorschläge der UdSSR aus dem Frühjahr 1952 Z u den von der Sowjetführung im Frühjahr 1952 unterbreiteten Vorschlägen über den Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland hat sich der frühere SED-Chef Walter Ulbricht 1960 und 1967 nicht unkritisch ge18 ) Vgl. z. B. H . Kröger, G. Reintanz, A. Baumgarten, P. A. Steiniger, R. Arzinger, J. Peck, Völkerrechtliches Gutachten. Die Bedeutung eines deutschen Friedensvertrages und der friedlichen Lösung der Westberlinfrage für die Verwirklichung der allgemeinen Abrüstung und die Sicherung des Friedens, in: Staat und Recht 1962, S. 1480—1489 (1483). Wesentlich instruktiver ist das vom Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der D D R über den Entwurf der Regierung der UdSSR für einen Friedensvertrag mit Deutschland vom 10. Januar 1959 ausgearbeitete Gutachten vom 9. Februar 1959, in: Staat und Recht 1959, S. 291—333. Vgl. auch S. Bock, Die Frage des Friedensvertrages, a. a. O. (a. a. O. 6), S. 28 f. 14) So J.Kirsten, Einige Probleme der Staatennadifolge. Berlin (Ost) 1962, S. 149; E. Oeser und B. Graefrath, Die Bedeutung der Friedensregelung nach dem zweiten Weltkrieg für den Absdiluß des deutschen Friedensvertrages. Jur. Habilitationsschrift, Berlin (Ost) 1961 (maschinenschriftliches Manuskript), S. 95 mit Anm. 204; J.Kirsten, W. Poeggel und P. A. Steiniger, Friedensvertrag und Klassenkampf, in: Staat und Redit 1961, S. 2053—2066 (2065). 1δ ) Vgl. Β. Graefrath und E. Oeser, Zu den Rechtsgrundlagen des deutschen Friedensvertrages, a . a . O . (Anm. 6), S. 94; dies., ebenda; E. Oeser, Die Rolle der Pariser Verträge bei der Losreißung Westdeutschlands vom deutschen Staatsverband und einige grundlegende Konsequenzen für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes. Jur. Diss, an der Jur. Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. August 1961 (maschinenschriftliches Manuskript), S. 62. 16) W. Poeggel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands und beider deutscher Staaten, in: Deutsche Außenpolitik 1966, S. 1298—1313 (1309). 17) Vgl. dazu unten Abschnitt IV.

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Jens Hacker äußert. I n ihrer Note vom 10. März 1952 hatte die Sowjetregierung den Westmächten vorgeschlagen, einen „Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung", auszuarbeiten 18 ). Hieraus folge, daß die vier Mächte „auch die Frage der Bedingungen prüfen müssen, die die schleunigste Bildung einer gesamtdeutschen, den Willen des deutschen Volkes ausdrückenden Regierung fördern". Diesen Plan machte die sowjetische Regierung von mehreren Bedingungen abhängig, die sie als „Politische Leitsätze" ihrer Note beigefügt hatte. Punkt 5 lautet: „Auf dem Territorium Deutschlands dürfen Organisationen, die der Demokratie und der Erhaltung des Friedens feindlich sind, nicht bestehen." Schon damals wurden die staatstragenden politischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland von kommunistischer Seite als „militaristisch" und „revanchistisch" apostrophiert. Außerdem verlangte die UdSSR für Deutschland den Status einer bewaffneten Neutralität. Die Reaktion der SED auf die sowjetische Note vom 10. März 1952 zeigte bereits, daß Ost-Berlin mit den sowjetischen Vorstellungen über den künftigen Status Deutschlands nicht einverstanden war. Die SED-Presse erwähnte den Verzicht auf die von ihr geforderte Übertragung der „Sozialistischen Errungenschaften" auf die Bundesrepublik kaum und die Tatsache, daß diese Grundsätze eine bewaffnete Neutralität für Gesamtdeutschland vorsahen, überhaupt nicht 19 ). Ulbricht hatte nämlich zwei Jahre vorher, am 1. Februar 1950, auf die Forderung des damaligen 2. Vorsitzenden der Zonen-CDU, Hugo Hickmann, die D D R und Westdeutschland sollten zwischen Ost und West neutral bleiben, erklärt, Neutralität sei „eine direkte Ermunterung der Kriegsinteressen. Sie würde die Selbstaufgabe des deutschen Volkes und der Nation bedeuten und die Absichten des Monopolkapitals erleichtern" 20 ). U n d in der am 24. Juli 1950 vom I I I . SEDParteitag angenommenen Entschließung heißt es: „ . . . ist der Kampf gegen den Pazifismus zu führen, der die Friedensanhänger entwaffnet, sowie gegen die ,Neutralitätstheorie', die das deutsche Volk wehrlos den Aggressoren ausliefert" 21 ). 18) Vgl. dazu im einzelnen den Beitrag von Prof. B. Meissner in diesem Band. 18) Vgl. „Erkennt die Lage, nutzt die Chancen", in: Neues Deutschland vom 12. März 1952; dazu auch W.Osten, Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion in den Jahren 1952/53, in: Osteuropa 1964, S. 1—13 (9). 20) Vgl. SBZ von 1945—1954. Hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1956, S. 120. 21) Text in: Protokoll der Verhandlungen des I I I . Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin (Ost) 1951, S. 233.

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Den Vorschlag, die Regierungen der Vier Mächte sollten „ohne Verzug die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen erörtern", unterbreitete die sowjetische Regierung in ihrer Note vom 9. April 1952 an die Westmächte 22 ). Darin bezog sie sich ausdrücklich auf ihre Vorschläge vom 10. März 1952. Die Sowjetunion wiederholte ihren Plan, einen Friedensvertrag mit Deutschland auszuarbeiten, an dem eine gesamtdeutsche Regierung unmittelbar beteiligt werden sollte, und sie verwies auf die „Politischen Leitsätze", welche sie in ihrer März-Note vorgetragen hatte. Die sowjetische Regierung betonte in ihrer April-Note besonders, ihr Vorschlag entspräche „den Interessen Deutschlands... als eines friedliebenden und demokratischen Staates". I n der Note vom 9. April 1952 lehnte die Sowjetführung es ebenso kompromißlos ab, die Bedingungen für die Abhaltung allgemeiner Wahlen in Deutschland von einer UNO-Kommission prüfen zu lassen, wie in ihrer Note vom 24. M a i 1952 2 3 ). Auch diese Vorschläge der UdSSR müssen der SED-Führung mißfallen haben. Das geht einmal aus Ulbrichts Rede vom 28. M a i 1960 hervor. Damals hatte er sich auf einer Bezirks-Delegierten-Konferenz der SED in Leipzig zu dieser Frage geäußert. Das Referat wurde erst 14 Tage später, am 10. Juni 1960, im „Neuen Deutschland" veröffentlicht. Darin hieß es: „Ich sage ganz offen: Unser Vorschlag von 1952 war auch für die D D R , für die Werktätigen, mit einem Risiko verbunden. Damals war die D D R noch nicht so gefestigt, und es waren noch nicht in der ganzen Bevölkerung die Fragen der Sicherung des Friedens und der Wiedervereinigung und des Charakters der westdeutschen Herrschaft so klar wie jetzt. Aber wir waren bereit, auf offenem Felde den Kampf zu führen. Das wäre ein langer Weg des Kampfes in Deutschland geworden. Aber letzten Endes hätten doch die fortschrittlichen Kräfte das Übergewicht bekommen" 24 ). I n einem umfangreichen, Anfang Oktober 1967 publizierten Aufsatz „Der Große Oktober und Deutschland" hat Walter Ulbricht nochmals diese Problematik angesprochen: „1952 unternahm die Sowjetunion einen neuen Versuch, die deutsche Frage friedlich zu lösen. Die sowjetische Regierung, aber auch die Regierung 22) Text der sowjetischen Noten vom 10. März und 9. April 1952 bei E. Jäckel (Hrsg.), Die deutsche Frage 1952—1956. Notenwechsel und Konferenzdokumente der vier Mächte. Frankfurt/M./Berlin 1957, S. 23 f., 25 f. 23) Text, ebenda, S. 29 ff. 24) Vgl. „Höhere Qualität der Arbeit — Kettenglied im Kampf für Frieden und Sozialismus / Diskussionsrede des Genossen Walter Ulbricht am 28. Mai auf der 5. Bezirksdelegiertenkonferenz in Leipzig", in: Neues Deutschland vom 10. Juni 1960. 10

Königsberg

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Jens Hacker der D D R schlugen den Westmächten vor, einen Friedensvertrag vorzubereiten, einen gesamtdeutschen Rat zu schaffen und allgemeine, freie Wahlen abzuhalten. Es versteht sich von selbst, daß dieser Vorschlag auch mit einem gewissen Risiko für die antifaschistischen Kräfte in der D D R verbunden gewesen ist" 2 5 ). Was die sowjetische Noten-Offensive aus dem Frühjahr 1952 anbelangt, so gilt es, vor allem jenen Passus aus der Note vom 24. M a i 1952 festzuhalten, in dem nicht nur festgestellt wird, daß sich die Regierungen der UdSSR, Frankreichs, Großbritanniens und der U S A „bei der Ausarbeitung des Friedensvertrages mit Deutschland von den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens leiten lassen werden . . . " Darüber hinaus forderte die sowjetische Regierung: „Was die gesamtdeutsche Regierung und ihre Vollmachten betrifft, so muß sich diese Regierung selbstverständlich ebenfalls von den Potsdamer Beschlüssen und nach dem Abschluß des Friedensvertrages von den Bestimmungen des Friedensvertrages leiten lassen, der der Herstellung eines festen Friedens in Europa dienen s o l l . . . " 2 e ) . I m wissenschaftlichen Schrifttum der D D R wird besonderer Wert auf die Feststellung gelegt, daß die „Politischen Leitsätze" des sowjetischen Entwurfs über die Grundlagen eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. März 1952 auf den „Politischen Grundsätzen" des Potsdamer Abkommens basierten und „dessen Erfüllung" 2 7 ) „bedingten" 28 ). Wenn man auch darüber streiten kann, ob und inwieweit im Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz deren Teilnehmer mit den von ihnen in dem Abkommen verwandten zentralen Begriffen die gleichen Anschauungen verbanden, steht doch soviel fest: I m Jahre 1952 legten sie vor allem die Begriffe „demokratisch" und „friedliebend" sehr unterschiedlich aus 29 ). 25) W.Ulbricht, Der Große Oktober und Deutschland, in: Prawda vom 6. August 1967. Das „Neue Deutschland" brachte nur einen kurzen Auszug dieses Artikels: Walter Ulbricht würdigt Roten Oktober, in: Neues Deutschland vom 7. Oktober 1967. 26) Text bei E. Jäckel, a. a. O. (Anm. 22), S. 31. Vgl. dazu audi J. Hacker, Reminiszenzen an 1952, in: SBZ-Archiv 1967, S. 257 f.; ders., a . a . O . (Anm. 10), S. 79—85. 27

) So J.Mai, a . a . O . (Anm. 6), S. 465; M . M a i , Friedensvertrag und Konföderation, in: Neue Justiz 1959, S. 1—4 (2). 28) So J. Mai, ebenda. Vgl. zur Gesamtproblematik auch D. Schwarzkopf, Wünsdie schaffen Legenden. Eine versäumte Gelegenheit, die keine war, in: Die politische Meinung 1963, H 90, S. 33—48. 29) Vgl. zur Auslegung des Potsdamer Abkommens J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 13—19 mit weiteren Nachweisen.

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I I I . Der sowjetische Friedensvertrags-Entwurf vom 10. Januar 1959 A m 4. September 1958, also am Ende der 4. Phase, hatte sich die Regierung der D D R in Noten an die vier Großmächte 80 ) und an die Bundesregierung 31 ) mit dem Vorschlag gewandt, eine Vier-Mächte-Kommission für die Vorbereitung eines Friedensvertrags mit Deutschland zu bilden. Vier Monate später, am 10. Januar 1959, unterbreitete die UdSSR ihren Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland, mit dem sie die 5. Phase einleitete. Die D D R begrüßte wärmstens die Initiative der Sowjetregierung und wertete den Entwurf als die „denkbar positivste und konstruktivste Antwort" 3 2 ) auf die Noten der DDR-Regierung vom 4. September 1958. Trotz der offiziellen enthusiastischen Zustimmung sind es vor allem zwei Punkte, mit denen sich die D D R offensichtlich nicht so recht abfinden konnte: der Regelung der Grenzfragen und der Feststellung des Entwurfs über die vollständige Regelung der Zahlung von Reparationen durch Deutschland. 1. Der Gebietsstand Deutschlands I m staats- und völkerrechtlichen Schrifttum der D D R wird großer Wert auf die Feststellung gelegt, daß die Alliierten die politische Einheit Deutschlands wahren wollten und vom Gebietsstand Deutschlands vom 31. Dezember 1937 ausgegangen sind, als sie den Nachkriegsstatus Deutschlands 1944/45 festgelegt haben. Dabei bezieht man sich zu Recht auf die Berliner Feststellung über die Besatzungszonen in Deutschland vom 5. Juni 1945, die als Verlautbarung über die durch das Protokoll über die Besatzungszonen vom 12. September 1944 8 3 ) vereinbarte Zonen-Einteilung Deutschlands anzusehen ist 8 4 ): „Deutschland wird innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt.. . " 8 5 ) Unmißverständlich stellt dazu Walter Poeggel fest: 30) Text der Note in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd. V I , Berlin (Ost) 1959, S. 76 f. 31) Text, ebenda, S. 79 ff. 32) So die Regierung der D D R in ihrer Antwortnote an die Regierung der UdSSR vom 19. Januar 1959, Text in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd. V I I , Berlin (Ost), 1960, S. 22—26 (23); vgl. auch Ulbrichts Regierungserklärung vom 21. Januar 1959, Text, ebenda, S. 26—49 (27); Arzinger, a. a. O., Anm. 6, S. 20, 49. 33) Texte bei Rauschning, a. a. O. (Anm. 7), S. 76—82, 93. 34) Vgl. dazu Rauschning, ebenda, S. 93, Anm. 1. 36) Text, ebenda. Der in den Abmachungen der Alliierten für Berlin vereinbarte Sonderstatus bleibt hier ausgeklammert. 10·

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Jens Hacker „Aus allen Dokumenten folgt, daß Deutschland als einheitliches Ganzes behandelt werden sollte und daß als territoriale Grundlage im Prinzip der Gebietsstand Deutschlands vom 31. Dezember 1937 anerkannt wurde. Eine Ausnahme hiervon macht lediglich die bereits auf der Krim-Konferenz grundsätzlich vereinbarte Regelung hinsichtlich der Ostgrenze Deutschlands" 36 ). Allerdings bleibt in DDR-Analysen zumeist unerwähnt, daß die „Großen Drei" bereits auf der 2. Vollsitzung am 18. Juli 1945 in Potsdam über den Rechtsbegriff „Deutschland" beraten haben. Als Truman Stalin bat, Churchills Frage „Was bedeutet ,Deutschland' jetzt?" zu beantworten, erwiderte Stalin: „Deutschland ist das, was es nach dem Kriege wurde. Ein anderes Deutschland gibt es jetzt nicht. So verstehe ich diese Frage" 37 ). I m weiteren Verlauf der Diskussion sagte Truman: „Vielleicht nehmen wir die Grenzen Deutschlands von 1937 zum Ausgangspunkt?" Darauf erwiderte Stalin: „Ausgehen kann man von überall. Von irgend etwas muß man ausgehen. I n diesem Sinne kann man auch das Jahr 1937 nehmen" 38 ). Als Truman dabei blieb, das Deutschland von 1937 zum Ausgangspunkt der Potsdamer Diskussion zu machen, Schloß sich Stalin schließlich diesem Vorschlag an; als Vorsitzender der Sitzung gab Truman bekannt, „daß das Deutschland des Versailler Vertrags, wie es 1937 bestanden hatte, als Diskussionsgrundlage zu betrachten sei" 39 ). So einigten sich die „Großen Drei" darauf, unter „Deutschland" das Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 zu verstehen: „Uberall dort, wo in den Konferenz-Protokollen und in späteren alliierten Dokumenten das Wort Deutschland* gebraucht wird, ist diese Definition einzusetzen. Sie erfolgte zwar in erster Linie zur Klarstellung der Rechtsgrundlagen für die Grenzregelung, aber zugleich unterstreicht der ganze Vorgang, daß auch damals der Begriff Deutschland* ein Rechtsbegriff war und noch weiterhin als solcher verstanden wurde. Der offizielle Titel des Völkerrechtssubjekts, gegen das die Alliierten Krieg geführt hatten, lautete ,Deutsches Reich'" 40 ). Der Ausdruck „Deutschland" wurde — wie der 3β) ψ. Poeggel, Die Saarfrage in der Bonner Politik. Berlin (Ost), S. 24; weitere Nachweise bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 74 ff. 37) Text in: Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetisdien Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei". Hrsg. und eingeleitet von A. Fischer. Köln 1968, S. 214. 38) Text, ebenda, S. 215. 39) Vgl. dazu H . S. Truman, Memoiren. Bd. I : Das Jahr der Entscheidungen (1945). Stuttgart 1955, S. 346. 40) So O. Kimminich, Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1970, S. 437—445 (437 f.).

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Staats- und Völkerrechtler Otto Kimminich betont — offenbar als Synonym gebraucht 41 ). Dieser Feststellung steht nicht entgegen, daß die Alliierten eine Gebietsbestands-Garantie im Sinne der Grenzen Deutschlands vom 31. Dezember 1937 nicht übernommen haben 42 ). I n der Berliner Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands vom 5. Juni 1945 heißt es dazu, daß die Regierungen der vier Mächte „später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands und die rechtliche Stellung Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, festlegen" 48 ). Scharf haben sich mitteldeutsche Autoren gegen die kleineren Veränderungen der Westgrenze Deutschlands gewandt. A m 26. März 1949 gaben die drei Westmächte zusammen mit Belgien, Luxemburg und den Niederlanden die „Verlautbarung über vorläufige Änderungen der deutschen Westgrenze" in Paris heraus 44 ). Sie sah 31 geringfügige „Berichtigungen" der Westgrenze Deutschlands — der Kieler Völkerrechtler Eberhard Menzel spricht in diesem Zusammenhang von der „Grenze der B R D " 4 6 ) , obwohl sich die Bundesrepublik Deutschland in dem genannten Zeitpunkt noch gar nicht konstituiert hatte — gegenüber den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, der Saar und Frankreich vor. Die Grenz-Berichtigungen betrafen ein Gesamtgebiet von 135 qkm und eine Bevölkerung von etwa 13 500 Menschen. Dies geschah unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer „endgültigen Friedensregelung mit Deutschland"; in der Verlautbarung vom 26. März 1949 wird von einer „vorläufigen Prüfung des Grenzproblems" gesprochen 46). 41) So O. Kimminich, ebenda. 42) Diese „Garantie"-These unterstellt E. Menzel der vom Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen im Bund der Vertriebenen yerfaßten Schrift „Die völkerrechtlichen Irrtümer der evangelischen Ost-Denkschrift", 2. Aufl., Bonn 1967, S. 6, obwohl sie darin überhaupt nicht aufgestellt worden ist. Vgl. E. Menzel, Die Ostverträge von 1970 und der „Deuts Aland"Begriff des Grundgesetzes, in: Die öffentliche Verwaltung 1972, S. 1—13 (2V Text bei Rauschning, a . a . O . (Anm. 7), S. 87. Erwähnt wird dieser Passus in: Völkerrecht — Ein Grundriß für Studenten, a. a. O. (Anm. 11), S. 150. 44) Text bei Rauschning, a. a. O. (Anm. 7), S. 690 f. 45) E. Menzel, a. a. O. (Anm. 42), S. 3. 4») In den Jahren 1956, 1959 und 1960 schloß die Bundesrepublik Deutschland mit den betroffenen Nachbarstaaten zweiseitige Verträge ab, aufgrund deren die Abtretungen an die Niederlande und Luxemburg vollständig und an Belgien teilweise rückgängig gemacht wurden. Die Saar-Frage erübrigte sich durch die Rückgliederung an Deutschland. Vgl. dazu E. Menzel, a. a. O. (Anm. 9), $. 37, Anm. 44 und die Aufzählung der wichtigsten Verträge, ebenda, S. 30; O. Kimminich, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 1970, S. 73, 77 f.

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Jens Hacker DDR-Autoren meinen, diese Vereinbarungen über die Westgrenze Deutschlands seien „unter grobem Bruch des allgemein-demokratischen Völkerrechts" 47) erfolgt und könnten nur dadurch legitimiert werden, daß sie „mit der Sowjetunion sowie den beiden deutschen Staaten im Friedens vertrag vereinbart werden" 4 8 ). I n diesen Analysen wird bewußt verschwiegen, daß die geringfügigen und später weitgehend rückgängig gemachten Änderungen der Westgrenze Deutschlands ausdrücklich unter dem Vorbehalt einer späteren Friedensregelung gestellt worden sind. I m „Abkommen über die Markierung der Oder-Neiße-Grenze", das die D D R und Polen am 6. Juli 1950 geschlossen haben 49 ), sucht man diesen Vorbehalt vergeblich. Aufschlußreich ist, wie unterschiedlich von völkerrechtlicher Seite der D D R diese Abmachung interpretiert wird. Walter Poeggel wertet das Görlitzer Abkommen als einen völkerrechtlich verbindlichen Akt, der auf der Basis der Potsdamer Beschlüsse und der danach geschaffenen politischen und rechtlichen Tatsachen erfolgt sei: „Damit wurde die Polen in Potsdam gegebene Zusage der Alliierten durch eine klare völkerrechtliche Garantie seitens des demokratischen Deutschlands in Gestalt der D D R gegeben und zum anderen allen Spekulationen und Illusionen über eine mögliche Revision der zu diesem Zeitpunkt bereits real bestehenden Ostgrenze Deutschlands der Boden entzogen" 50 ). I m DDR-Schrifttum wird stets die Ansicht vertreten, das Potsdamer Abkommen habe die Oder-Neiße-Linie endgültig und verbindlich festgelegt; nur die formelle Anerkennung dieses Beschlusses hätten die Unterzeichner der Potsdamer Übereinkunft der Friedenskonferenz vorbehalten 51 ). Es sei

47) So J. Kirsten, a. a. O. (Anm. 14), S. 143, Anm. 3. 48) So A. Martin, Der Bonner Revanchismus im Lichte des Völkerrechts (II), in: Deutsche Außenpolitik 1960, S. 22—37 (31); vgl. dazu auch Kirsten, ebenda. 49) Text des Abkommens vom 6. Juli 1950 und der Gemeinsamen Deklaration über die Markierung der Oder-Neiße-Grenze vom 6. Juni 1950 bei Rauschning, a. a. O. (Anm. 7), S. 745 f., 743 f. 50) W. Poeggel, „Deutschlands Grenzen — Die Aussage des Völkerredits". Bemerkungen zu den Auslassungen des Bonner Ministeraldirigenten Prof. Dr. H . Meyer-Lindenberg über die Oder-Neiße-Grenze, in: Staat und Recht 1964, S. 21—36 (34 f.). Dort spricht er von den „gesamtdeutschen Wirkungen" des Görlitzer Abkommens. 51) Aus dem umfangreichen völkerrechtlichen Schrifttum der D D R zu diesem Thema seien nur genannt: H . Kröger, Deutsche Grenzen und europäische Sicherheit. Berlin (Ost) 1967; W. Poeggel, ebenda, S. 29—33; R.Meister, Das Völkerrecht garantiert die Friedensgrenze an Oder und Neiße. Leipzig/Jena 1955.

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hier nur vermerkt, daß die Sowjetunion der SED bis zum Frühjahr 1947 gestattet hat, für eine Revision der Ostgrenze Deutschlands einzutreten 52 ). I m Gegensatz zu Walter Poeggel schreibt Herbert Kröger, die D D R sei zum Abschluß des Grenzvertrags mit Polen berechtigt gewesen, „weil es sich bei der Oder-Neiße-Grenze ausschließlich um eine Grenze zwischen ihr und Polen handelt, also nur diese beiden Staaten hinsichtlich dieser Grenze verfügungsberechtigt sind. Die D D R handelte insoweit zugleich als derjenige der beiden Rechtsnachfolgestaaten nach dem ehemaligen Deutschen Reich, auf den die Befugnis zur Entscheidung über diese Grenze übergegangen ist, da sie nur sein Gebiet berührt und unlöslich piit seinem — und nur mit seinem — Gebietsbestand verbunden ist" 5 3 ). Krögers Aussage widerspricht eindeutig dem staats- und völkerrechtlichen Selbstverständnis der D D R im Jahre 1950. Damals ging die D D R noch vom Fortbestand des Deutschen Reiches und der Identität der D D R mit dem nicht untergegangenen deutschen Staat aus. Von der Staaten-Nachfolge war damals noch keine Rede. Der damaligen Rechtsauffassung der D D R entsprach es, daß sie als Repräsentantin Deutschlands auftrat, um mit anderen Staaten Verträge abzuschließen, die für Deutschland verbindlich sein sollten. So wurde dem Wortlaut des Görlitzer Abkommens zufolge nicht etwa die Grenze zwischen Polen und der D D R , sondern die „Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen" festgelegt; an anderer Stelle des Abkommens ist von der „deutsch-polnischen Staatsgrenze" 54 ) die Rede. Die 52) Vgl. dazu mit Nachweisen H.-P. Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutsdiland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeption in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945—1949. Neuwied und Berlin 1966, S. 226—230, 264; J.Hacker, a . a . O . Anm. 10), S. 106. 53) So H.Kröger, a . a . O . Anm. 51), S. 42; S.Bock schreibt dazu: „Infolge der Verhinderung des Abschlusses eines Friedensvertrages durch die Westmächte war die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik berechtigt und verpflichtet, diese Markierung vorzunehmen." Vgl. S. Bock, a. a. O. (Anm. 6), S. 75. 54) Vgl. Art. 3. Audi die Art. 1 und 2 des „Akts über die Ausführung der Markierung der Oder-Neiße-Grenze" vom 27. Januar 1951 sprechen von der „deutsch-polnischen Staatsgrenze". Text bei D. Rausdining, a. a. Ο. (Anm. 7), S. 747. In der Präambel wird die Formel „Staatsgrenzen zwischen Deutsdiland und Polen" wiederholt. In der völkerrechtlichen Bewertung der Oder-Neiße-Frage hat die D D R ihre Auffassung grundlegend gewandelt. Im Vertragsentwurf Ulbrichts, den er am 17. Dezember 1969 Bundespräsident Gustav Heinemann zugeleitet hat, wird die Oder-Neiße-Linie als Grenze „zwischen der Deutsdien Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen" bezeichnet. Text in: Neues Deutschland vom 20. Dezember 1969 und in: Deutschland-Archiv 1970, S. 80 ff. (81). Aufsdilußreidi ist, daß Ulbricht diesen „gesamtdeutschen" Anspruch noch auf der 12. Tagung des Zentralkomitees der SED (12. und 13. Dezember 1969) erhoben hat: „Die Deutsche Demokratische Republik hat schon vor 20 Jahren den Görlitzer Vertrag mit Polen und die Erklärung der Oder-Neiße-Grenze zu einer Friedensgrenze im Namen aller Deutschen, also auch im Namen der westdeutschen Bevölkerung, unterzeidinet." Text der Rede in: „Neues Deutschland" vom 14. Dezember 1969.

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Jens Haer D D R beanspruchte, nidit nur für sich selbst, sondern für den gesamten deutschen Staat als vertragschließende Partei zu handeln 55 ). M i t dieser Auffassung ist Herbert Krögers Versuch, die Regelung der Grenzfrage im Görlitzer Abkommen aus dem Gesichtspunkt der Staaten-Sukzession heraus zu deuten, unvereinbar. M i t dem Argument der Staaten-Sukzession argumentiert und operiert die D D R erst sei 1956 δ β ). I n den Jahren 1954—1956 hat die D D R auch versucht, sich in die deutschfranzösischen Verhandlungen über die Regelung der Saar-Frage einzuschalten. Die Regierung der D D R betonte damals in mehreren Schreiben, daß sie die zwischen Bonn und Paris geplanten Abmachungen als unzulässig und unwirksam betrachte, da es sich dabei um eine „gesamtdeutsche Frage" 57 ) handele. Später bedienten sich auch hier mitteldeutsche Autoren des Arguments der Staaten-Nachfolge. Weil die Rechte Deutschlands auf die Bundesrepublik und die D D R übergangen seien und der Saar-Vertrag unter Mißachtung der „konkreten völkerrechtlichen Situation Deutschlands" abgeschlossen worden sei, könne er keine bindende Wirkung für Gesamtdeutschland haben 58 ). Der sowjetische Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland vom 10. Januar 1959 nimmt auf die Einwendungen von offizieller und völkerrechtlicher Seite der D D R gegen die geringfügigen Berichtigungen der Westgrenze Deutschlands keine Rücksicht. Art. 12 des Entwurfs lautet: „Deutschland bestätigt und anerkennt die Veränderungen und die Festlegung seiner Grenzen, die gemäß den mit den Nachbarstaaten in der Zeit von M a i 1945 bis zum 1. Januar 1959 abgeschlossenen Abkommen vorgenommen worden sind" 59 ). Einige DDR-Autoren sind über die Haltung der UdSSR betrübt. Beispielsweise heißt es in einer Abhandlung, die 1959 in der führenden, von der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter U l bricht" herausgegebenen Zeitschrift „Staat und Recht" erschienen ist: „Die für Deutschland verbindlichen Vereinbarungen der Siegermächte sahen eine Westgrenze Deutschlands eo) vor, wie sie am 31. Dezember 1937 be55) 5β) 57) 58) 59) 60)

Vgl. dazu J. Hacker, a. a. O. (Anm. 12), S. 7 f. Vgl. dazu J. Hacker, ebenda, S. 9—16. Vgl. dazu mit Nachweisen J. Hacker, ebenda, S. 11, Anm. 116. So W. Poeggel, a. a. O. (Anm. 36), S. 119. Text in: Europa-Archiv 1959, S. D 25. Hervorhebung vom Verf.

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stand. Ungeachtet dessen wurden von der westdeutschen Regierung widerrechtlich β1) Grenzveränderungen vorgenommen, obwohl die Bundesrepublik nur ein 92) Nachfolgestaat des ehemaligen Deutschen Reiches ist und solche im Potsdamer Abkommen nicht vorgesehenen Grenzveränderungen mit Rücksicht auf die nationale Pflicht zur Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates nur mit Zustimmung beider 6S) Nachfolgestaaten vorgenommen werden dürfen" 64 ). Diese Formulierung ist im ersten Teil — im Hinblick auf die Ostgrenze Deutschlands — bewußt mißverständlich, da die Berliner Vier-Mächte„Feststellung über die Besatzungszonen in Deutschland" vom 5. Juni 1945 von „Deutschland... innerhalb seiner Grenzen* 5), wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden . . . " , spricht. Johannes Kirsten, der in der D D R die bei weitem wichtigste und teilweise aufschlußreiche Arbeit über die vielschichtige Problematik der StaatenSukzession verfaßt hat, schreibt, daß die in Art. 12 des sowjetischen Entwurfs eines Friedensvertrags vorgesehene Regelung zweifellos auch die „widerrechtlichen Grenz Veränderungen" im Westen Deutschlands erfasse, sie legitimiere und die dadurch erfaßten Territorien als belgische usw. konstituiere 66 ). U n d Alexander Martin meint, daß im Gegensatz zu anderen im Friedensvertrag geregelten Grenzfragen er hier eine „rechtserzeugende Wirkung" 6 7 ) besitze. Der DDR-Führung und den sie unterstützenden Staats- und Völkerrechtlern blieb nichts anderes übrig, als sich den Vorstellungen der Sowjetunion über die Westgrenze Deutschlands zu beugen. I n einem Gutachten über den Entwurf der Regierung der UdSSR für einen Friedensvertrag mit Deutschland vom 10. Januar 1959, das der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der D D R am 9. Februar 1959 erstattet hat, heißt es dazu: „ I m Interesse eines friedlichen Zusammenlebens zwischen dem deutschen Volk und allen seinen Nachbarvölkern ist der im Entwurf des Friedensvertrages enthaltenen Bestimmung, diese widerrechtlichen 68) Grenzveränderun61) 62) 63) 64) 65) 66) 67) 68)

Hervorhebung vom Verf. Hervorhebung im Text. Hervorhebung im Text. H . Wünsche, a. a. O. (Anm. 6), S. 671. Hervorhebung vom Verf. J. Kirsten, a. a. O. (Anm. 14), S. 143 f., Anm. 3. A. Martin, a. a. O. (Anm. 48), S. 31. Hervorhebung vom Verf.

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Jens Hacker gen anzuerkennen, zuzustimmen. Jede Diskussion um eine Grenzrevision schafft nur neues Mißtrauen, fördert den Chauvinismus und unterstützt den deutschen Militarismus . . . " 6 9 ) . Diese Formulierung gibt — ebenso wie die Aussagen von Harry Wünsche und Johannes Kirsten — den Art. 12 des sowjetischen Entwurfs entstellt wieder. Durch den Gebrauch des Wortes „widerrechtlich" will man den Eindruck erwecken, als bediene sich die Bestimmung des sowjetischen Entwurfs dieses Wortes, was jedoch nicht der Fall ist. Unverständlich ist daher, daß Dieter Blumenwitz gleichfalls feststellt, der sowjetische Friedensvertragsentwurf gehe von der Widerrechtlichkeit der Berichtigungen der Westgrenze Deutschlands aus; sein Hinweis auf das Gutachten des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der D D R vom 9. Februar 1959 zeigt, daß er ein Opfer der falschen DDR-Interpretation ist 7 0 ). Hingegen hat Dieter Blumenwitz die widersprüchliche Haltung der D D R in diesem Punkt zum Rechtsstatus Deutschlands zutreffend umschrieben: „Was die mit der Bundesrepublik vereinbarten Grenzveränderungen anbelangt, so ist es interessant festzustellen, daß hier auf einmal nur der Gesamtstaat rechtwirksam verfügen können soll; man vertritt hier also weder die Zweistaatenlehre noch eine Teilidentitätstheorie" 71 ). Festzuhalten gilt, daß Heinrich Brandweiner, der von österreichischem Boden aus in mehreren in der D D R publizierten Beiträgen Thesen vertreten hat, die mit jenen seiner mitteldeutschen Kollegen weitgehend oder vollständig identisch sind und zumeist dem offiziellen Ost-Berliner Standpunkt entsprechen, eine völlig vom übrigen DDR-Schrifttum abweichende Ansicht vorgebracht hat. I n seiner 1959 in Ost-Berlin erschienenen kleinen Schrift „Der sowjetische Vorschlag eines Friedensvertrages mit Deutschland" stellt er fest: „Keine Rede ist mehr von der provisorischen Administration durch Polen, von der noch die Potsdamer Beschlüsse ausgegangen sind. Es ist hier die inzwischen eingetretene Entwicklung berücksichtigt worden, insbesondere der Vertrag zwischen Polen und der Deutschen Demokratischen Republik über die Oder-Neiße-Grenze. Daß dieser Vertrag seine Kraft behält, ergibt sich schon aus einer N o r m des allgemeinen Völkergewohnheitsrechtes, wo68) So das Gutachten des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der DDR über den Entwurf der Regierung der UdSSR für einen Friedensvertrag mit Deutsdiland vom 10. Januar 1959, a. a. O. (Anm. 13), S. 299. Sehr viel zurückhaltender äußert sich S. Bode, a. a. O. (Anm. 6) S. 75. 70) D. Blumenwitz, a. a. O. (Anm. 3), S. 165. 71) D. Blumenwitz, ebenda, S. 166.

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nach Grenzverträge auf den Folgestaat übergehen. Ein künftiges einheitliches Deutsdiland wird also an die Oder-Neiße-Grenze gebunden sein" 72 ). Wegen dieser völlig aus dem Rahmen fallenden Äußerung haben drei prominente mitteldeutsche Völkerrechtler Brandweiner getadelt. Sie bemängeln einmal seine Formel von der „provisorischen Administration durch Polen" und zum anderen seine These, nach welcher der Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950 konstitutive Wirkung habe. Ihre Antwort, die nicht auf juristisch argumentierende Autoren schließen läßt, lautet apodiktisch: „Zu diesem Zeitpunkt war die Friedensgrenze an der O d e r - N e i ß e . . . längst Geschichte"78).

2. Die Reparations-Regelung Die Frage der Zahlung von Reparationen durch Deutschland gilt für die Sowjetunion als erledigt. Art. 41 des sowjetischen Entwurfs eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. Januar 1959 lautet: „Die Frage der Zahlung von Reparationen durch Deutschland zur Wiedergutmachung des den verbündeten und vereinten Mächten während des Krieges von ihm zugefügten Schadens gilt als vollständig geregelt, und die verbündeten und vereinten Mächte verzichten auf alle Ansprüche an Deutschland hinsichtlich der weiteren Zahlung von Reparationen." Die sowjetische Regierung hatte bereits in ihrer Note vom 15. August 1953 den Westmächten vorgeschlagen, Deutschland mit Wirkung vom 1. Januar 1954 von der Zahlung von Reparationen und anderen Verbindlichkeiten „gänzlich" zu befreien 74 ). Nachdem Stalin in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR in einem Schreiben vom 15. M a i 1950 an Ministerpräsident Grotewohl die Herabsetzung der Reparationsleistur gen Deutschlands bekanntgegeben hatte 7 5 ), beschloß die sowjetische Regierung 1953, der D D R ab 1. Januar 1954 die Reparationsleistungen zu 72) H . Brandweiner, Der sowjetische Vorschlag eines Friedcnsvertrages mit Deutschland. Berlin (Ost) 1959, S. 12. 7θ) R. Arzinger, W. Poeggel, W. Müller, Zu einigen Fragen des sowjetischen Entwurfs eines Friedensvertrages mit Deutschland, in: Staat und Recht 1960, S. 217—229 (228). 74) Text in: Europa-Archiv 1953, S. 5954. 75) Text des Schreibens in: Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion. Bd. I. Berlin (Ost) 1957, S. 242 f.

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Jens Hacker erlassen. Dies war das wichtigste Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Regierungen der UdSSR und der D D R im August 1953 7 6 ). Die Volksrepublik Polen gab eine entsprechende Erklärung am 24. August 1953 ab 7 7 ). Die Regierung der D D R hat in gleichlautenden Schreiben vom 7. November 1953 den Regierungen der Westmächte vorgeschlagen, dem Beispiel der Sowjetunion zu folgen 78 ). I n einem weiteren Schreiben vom 22. November 1953 forderte die Regierung der D D R die Bundesregierung auf, sich diesem Schritt anzuschließen „und außerdem die Bezahlung der von den Westmächten geltend gemachten Staatsschulden — mit Ausnahme der Verpflichtungen aus Handelsverträgen — einzustellen" 79 ). Die „großzügige" Geste der Sowjetunion, wie sie in Art. 41 des Friedensvertragsentwurfs vom 10. Januar 1959 zum Ausdruck kam, hat der Führung und einigen Völkerrechtlern der D D R mißfallen. Aus der Tatsache, daß die Sowjetregierung in ihrem Entwurf über die Grundlagen eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. März 1952 diese Frage stillschweigend übergangen hatte, konnte man noch folgern, daß die Reparationsregelung zwischen der UdSSR und der D D R „unzweifelhaft zur Disposition einer künftigen gesamtdeutschen Willensbildung" stehe und „deshalb der endgültigen Klärung im Friedensvertrag" 80 ) bedürfe. Das war um so eher anzunehmen, als die sowjetische Führung damals noch von einem Gesamtdeutschland, nicht von der erst später entwickelten ZweiStaaten-These ausgegangen ist. Äußerungen aus der D D R zeigen, daß sie zumindest bis Mitte der sechziger Jahre nicht bereit war, sich mit der „Großzügigkeit" der Sowjetführung 7 ·) Vgl. das sowjetisch-deutsche Kommuniqué vom 23. August 1953. Text, ebenda, S. 345 bis 350 (347). Vgl. dazu W. Hänisdi, Unverbrüchliche Freundschaft und feste brüderliche Beziehungen zur Sowjetunion — Grundpfeiler der Außenpolitik der Deutsdien Demokratischen Republik, in: Zur Außenpolitik der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost) 1964, S. 35 mit Anm. 9; L. Schnackenburg, Der Preis für Adenauers Aussdiließlichkeitsanspruch, in: Deutsche Außenpolitik 1957, S. 727—736 (736); Völkerrecht — Ein Grundriß für Studenten, a. a. O. (Anm. 11). Bd. I I , S. 154 f. 77) Text der Erklärung in: Dokumentation der Zeit 1953, S. 3047. ?8) Text, ebenda, S. 3670. 79) So. L. Schnackenburg, a. a. O. (Anm. 76), S. 736. Text des Schreibens der DDR-Regierung vom 22. November 1953 in: Dokumentation der Zeit 1953, S. 3671. Vgl. dazu auch Ulbrichts Rede vor der Volkskammer vom 25. November 1953, Text in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd.l, Berlin (Ost) 1954, S. 102 f.; A. Nordens Erklärung auf der Pressekonferenz vom 22. November 1953: „Die Regierung erkennt die von der Regierung der Bundesrepublik einseitig anerkannten Schulden an das Ausland nicht an. Alles weitere bleibt kömmenden Verhandlungen, auch den Friedensvertragsverhandlungen vorbehalten." Text in: Berliner Zeitung vom 14. November 1953, hier zit. nach Schnaàenburg, ebenda. 80) So W. Abendroth, Die gegenwärtige Bedeutung des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945, in: Europa-Archiv 1952, S. 4943—4955 (4953).

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abzufinden. Während Ulbricht am 21. Januar 1959 vor der Volkskammer erklärte, daß die Reparationszahlungen „in dem Friedensvertrag mit Deutschland keine Rolle mehr spielen" 81 ), sprach er vor dem 9. Plenum der SED am 27. April 1965 von Reparationen, „die die D D R für ganz Deutschland geleistet hat" 8 2 ). Er forderte von der Bundesrepublik die Begleichung dieser Zahlungen sowie anderer Schulden und zitierte genüßlich ein Interview des damaligen Direktors des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Prof. Fritz Baade, in dem dieser ausgeführt hatte: „ . . . behaupte ich, daß die Bundesrepublik der D D R moralisch 100 Milliarden Mark an Reparationen schuldet" 88 ). Der Argumentation Ulbrichts, die D D R habe Reparationen für ganz Deutschland geleistet, ist folgendes entgegenzuhalten: Ulbricht verschwieg in seiner Rede vom 27. April 1965 die in Potsdam von den Alliierten erzielte Einigung darüber, daß die Besatzungsmächte die Reparationen jeweils aus ihren eigenen Zonen decken sollten 84 ). So ist die Behauptung falsch, die D D R habe diese Reparationen für ganz Deutschland geleistet. Gemäß den Potsdamer Beschlüssen sollte die UdSSR zusätzlich aus den Westzonen 25 Prozent der zu demontierenden Großanlagen erhalten, davon 10 Prozent ohne Entgelt, 15 Prozent gegen Lieferung von Rohstoffen und Lebensmitteln. Sie blieb diese Lieferungen zum größten Teil schuldig und weigerte sich, die Reparationsentnahmen aus der laufenden Produktion zu beenden, welche die in Potsdam vereinbarte Behandlung Deutschlands als Wirtschaftseinheit unmöglich machte. Deshalb stellten die drei Westmächte 1946 die weiteren Reparationslieferungen an die Sowjetunion ein. Auch daraus läßt sich daher ein Anspruch der D D R auf Ausgleich nicht herleiten 85 ). S1) Text in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd. V I I . Berlin (Ost) 1960, S. 26—49 (44). Vgl. audi die Gemeinsame Erklärung aller Fraktionen der Volkskammer der D D R zur Frage eines Friedensvertrages mit Deutsdiland vom 21. Januar 1959, Text, ebenda, S. 49—53 (51): »Der Friedensvertrag setzt einen endgültigen Schlußstrich unter alle Reparationsforderungen." 82) W. Ulbricht, Die nationale Mission der D D R und das geistige Sdiaffen in unserem Staat, in: Neues Deutsdiland vom 28. April 1965. 83) Zit. in: Völkerrecht — Ein Grundriß für Studenten, a. a. O. (Anm. 11), Bd. I I , S. 155. Vgl. dazu audi E. Oeser und B. Graefrath, a. a. O. (Anm. 14), S. 139; dies., Potsdamer Abkommen und deutscher Friedensvertrag, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der HumboldtUniversität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 1966, S. 91—125 (108, Anm. 117). 34) Vgl. Abschnitt I V . des Potsdamer Abkommens. Text bei D. Rauschning, a. a. O. (Anm. 7), S. 101 f. βδ) Vgl. dazu J.Hacker, a . a . O . (Anm. 10), S. 121 mit Anm. 6; H.Brandt, Herrschaftsordnung und Selbstverwaltung im viergeteilten Groß-Berlin, in: Gedächtnisschrift Hans Peters. Berlin, Heidelberg, New York 1967, S. 445—479 (465 f.) mit einem Hinweis auf L. Clay, Entscheidung in Deutschland. Frankfurt/M., 1950, S. 141. Brandt spricht zutreffend vom „sowjetischen Reparationsseparatismus".

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Jens Hacker Zum sowjetischen Friedensvertragsentwurf vom 10. Januar 1959 sei abschließend bemerkt, daß man in der D D R mit besonderer Genugtuung jenen Passus registriert hat, der nur in der Begleitnote der Sowjetregierung zum Vertragsentwurf an die D D R enthalten ist: „Die Sowjetregierung geht davon aus, daß der Friedensvertrag für die Deutsche Demokratische Republik eine Registrierung und eine völkerrechtliche Bestätigung dessen sein wird, was auf Grund der konsequenten Durchführung der Prinzipien des Potsdamer Abkommens bereits erreicht und errungen wurde" 8 6 ). I n der Präambel zum Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland hatte sich die sowjetische Regierung auf den Vorschlag beschränkt: „ . . . von dem Bestreben geleitet, unter den bestehenden Bedingungen die grundlegenden Bestimmungen, die in den Dokumenten der Anti-Hitler-Koalition und besonders im Potsdamer Abkommen enthalten sind, zu verwirklichen . . ." I V . Die Problematik eines separaten Friedensvertrags mit der D D R I n der Zeit von 1959 bis Anfang 1964, also noch über den Zeitraum hinaus, in dem die Sowjetunion mit dem Gedanken spielte, mit der D D R einen separaten Friedensvertrag abzuschließen87), waren mitteldeutsche Staatsund Völkerrechtler bestrebt, auch dieses „Recht" der D D R aus dem Rechtsinstitut der Staaten-Sukzession abzuleiten. I n einem von Herbert Kröger, Gerhard Reintanz, Arthur Baumgarten, Peter A. Steiniger, Rudolf Arzinger und Joachim Peck Mitte 1962 erstatteten Gutachten über die Bedeutung eines „deutschen Friedens ver träges" heißt es dazu: „Wenn die Bundesrepublik es ablehnt, einen deutschen Friedensvertrag zu unterzeichnen, sie sich also diesem ihrem Recht und ihrer Pflicht als ein Nachfolgestaat des ehemaligen Deutschen Reiches entzieht, ist die D D R verse) Text in: Europa-Archiv 1959, S. D 34 und bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 51. Vgl. dazu audi das Gutachten, a. a. O. (Anm. 69), S. 295. 87) Diese Möglichkeit deutete Chruschtschow erstmals in seiner Rede vom 17. Februar 1959 in Tula an. Wichtig ist außerdem vor allem Chruschtschows Memorandum, das er am 4. Juni 1961 Präsident Kennedy in Wien überreicht hat und dem in einer gemeinsamen Erklärung das Zentralkomitee der SED, der Staatsrat und der Ministerrat der D D R sowie der Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland vom 14. Juni 1961 nachdrücklich zugestimmt haben. Text in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd. I X , Berlin (Ost) 1962, S. 42—47 (45 f.); dazu J.Kirsten, a . a . O . (Anm. 14), 5. 151; J. Kirsten, W. Poeggel, P. A. Steiniger, a. a. O. (Anm. 14), S. 2065 f. Texte der wichtigsten sowjetischen Erklärungen zum Separatvertrag mit der D D R bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 91—96.

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pflichtet und berechtigt, den Friedensvertrag mit denjenigen Staaten abzuschließen, die zu seiner Unterzeichnung bereit sind. Gerade aus der rechtswidrigen Weigerung der Bundesrepublik, einen Friedensvertrag abzuschließen, erwächst der D D R die besondere Pflicht, gegebenenfalls audi allein den deutschen Friedensvertrag im Namen des deutschen Volkes zu unterzeichnen" 88 ). Ohne es zugeben zu können, dürften sich die DDR-Autoren bewußt sein, daß ihre „Lösung" der friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland der schwächste Punkt in ihrer Sukzessions-Argumentation ist. Kriegsgegner der Alliierten war das Deutsche Reich, das nach Auffassung der mitteldeutschen Staats- und Völkerrechtler mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im M a i 1945 untergegangen ist. Auf der einen Seite wird mit Recht festgestellt, daß der „Kriegszustand im völkerrechtlich-formellen Sinn" immer ein Verhältnis zwischen zwei Völkerrechtssubjekten, d. h. Staaten, ist. Wenn — wie im Fall Deutschlands — das eine Völkerrechtssubjekt zu existieren aufgehört habe, müsse dies eo ipso auch die Beendigung des Kriegszustandes zur Folge haben, da dieser nicht Gegenstand der Staaten-Nachfolge sei. Der Kriegszustand gehe nicht auf die Nachfolgestaaten über; der Friedensvertrag habe nur zu bestätigen, daß kein Kriegszustand mehr bestehe89). Selbst wenn man der D D R den völkerrechtlichen Vollstatus und damit ihr das Recht konzediert, statusverändernde Verträge abzuschließen, lassen sich — wie Dieter Blumenwitz bemerkt — schon formal-logische Bedenken nicht ausräumen. I n diesem Fall wäre die D D R ein 1949 entstandener Neustaat, der sich weder mit der UdSSR noch mit einem anderen Kriegsgegner Deutschlands jemals im Kriegszustand befunden hat; daher müsse die D D R als Partner eines Friedensvertrags — und damit auch eines separaten Friedensvertrags — ausscheiden90). Wenn der deutsche Gesamtstaat untergegangen ist — schreibt zu Recht der Völkerrechtler Friedrich Berber —, bedarf es keines Friedensvertrags mehr; dann sind die Bundesrepublik Deutschland und die D D R Neustaaten, „die keinen Friedens vertrag abzuschließen brauchen, weil sie nie mit einem anderen Staat Krieg geführt haben" 91 ). 88) H . Kröger, G. Reintanz, A. Baumgarten, P. A. Steiniger, R. Arzinger, J. Peck, a. a. Ο. (Anm. 13), S. 1488. 89) A. Martin, Die Haltung Bonns zu einem Friedensvertrag mit Deutsdiland, in: Deutsche Außenpolitik 1959, S. 858—865 (859 f.). 90) D. Blumenwitz, a. a. O. (Anm. 3), S. 132. 91) F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, München und Berlin 1960, S. 243.

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Jens Hacker Selbst wenn man einräumt, daß ein Neustaat freiwillig in gewisse Rechtspositionen des untergegangenen Altstaates eintritt, so kann „nicht einem neu entstandenen Völkerrechtssubjekt die Position eines Kriegsgegners zugeschoben oder von diesem freiwillig übernommen werden: Die Rechtsstellung ,als besiegter Aggressor' ist genausowenig abstrakt übertragbar wie etwa die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen* 9 2 ). Ohne sich mit dem überkommenen deutschen Völkerrechtssubjekt, das Kriegsgegner auch der UdSSR war, zu identifizieren, konnte und kann die D D R weder einen „deutschen Friedensvertrag" noch einen Separatvertrag mit friedensvertraglichen Wirkungen abschließen. Die Sowjetunion hat sich nicht durchringen können, mit der D D R den von dieser so ersehnten separaten Friedensvertrag abzuschließen. Der zweimalige Hinweis Chruschtschows aus den Jahren 1959 und 1961, mit dem Abschluß eines Friedensvertrags werde die D D R sämtliche Rechte und Pflichten eines souveränen Staates erhalten 93 ), deutet darauf hin, daß die Sowjetführung es in dieser harten und kompromißlosen Phase ihrer Deutschland-Politik, die vom Berlin-Ultimatum geprägt war, mit den Konsequenzen ernst gemeint hat 9 4 ). Die D D R mußte sich mit dem am 12. Juni 1964 in Moskau unterzeichneten Freundschafts- und Beistandspakt zufriedengeben. Auf seiten der D D R legte man besonderen Wert auf die Feststellung, daß der Vertrag vom 12. Juni 1964 keinen Ersatz für einen „deutschen Friedens ver trag" bildet 9 5 ).

92) So D. Blumenwitz, a. a. O. (Anm. 3), S. 95. ®3) So Chruschtschow in seiner Rede vom 17. Februar 1959 in Tula; ähnlich äußerte er sich am 8. Juli 1961 auf einem Empfang im Kreml. Nachweise bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 92, Anm. 1 und 93, Anm. 7. 94

) Vgl. dazu W. G. Grewe, Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart, S. 280.

05) Vgl. vor allem die Rede Ministerpräsident Stophs vom 23. September 1964 vor der Volkskammer. Text in: Dokumente zur Außenpolitik der DDR. Bd. X I I , Berlin (Ost) 1966, S. 1043—1074 (1065); Kommuniqué über den Freundschaftsbesuch des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, vom 29. Mai bis 13. Juni 1964 in Moskau. Text, ebenda, S. 996—1021 (1005); Memorandum der Regierung der D D R vom 13. Juli 1964 an die Regierungen von 85 Staaten über den Inhalt des Vertrages zwischen der D D R und der UdSSR vom 12. Juni 1964, das sich auf die von Ulbricht am 12. Juni 1964 verkündete „deutsche Friedensdoktrin" bezieht. Text, ebenda, S. 71—79 (76).

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Auch mehrere Staats- und Völkerrechtler der D D R betonen, der Pakt vom 12. Juni 1964 könne einen „deutschen Friedens vertrag" nicht ersetzen 90). Die Führung der SED paßte sich der neuen Lage schnell an. Bereits wenige Tage nach dem Abschluß des Beistandspakts bestritt Walter U l bricht am 20. Juni 1964 in einer Rede in Gera, daß die D D R von der Sowjetunion einen separaten Friedensvertrag gewollt habe 97 ). Es sei daran erinnert, daß Ulbricht nicht nur in einem Interview vom 5. Januar 1962 9 8 ), sondern auch noch in einer Rede auf dem Nationalkongreß am 17. Juni 1964 in Ost-Berlin hervorgehoben hat, es werde ein „deutscher Friedensvertrag" nur mit der D D R geschlossen werden, wenn die Westmächte zu einer „deutschen Friedensregelung" nicht bereit seien 99 ). Vom „Abschluß eines deutschen Friedens Vertrags" ist nicht nur in der Präambel, sondern auch in Art. 2 des Beistandspakts die Rede. Gemäß Art. 10 Abs. 2 kann der Vertrag „im Falle der Schaffung eines einheitlichen, demokratischen und friedliebenden deutschen Staates oder des Abschlusses eines deutschen Friedens Vertrags" vor Ablauf der Frist von 20 Jahren auf Wunsch jeder der hohen vertragschließenden Seiten überprüft werden". Die von der D D R 1967 mit Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien geschlossenen Beistandsverträge enthalten die Formel „deutsche Friedensregelung"; im Freundschaftsvertrag der D D R mit der Mongolischen Volksrepublik vom 12. September 1968 ist von der „friedlichen Regelung der deutschen Frage" die Rede. I n dem am 12. M a i 1972 zwischen 96) Vgl. beispielsweise G. Herder und M. Kohl, Der Freundschaftsvertrag zwischen der DDR und der UdSSR — Baustein einer stabilen Friedensordnung, in: Neue Justriz 1964, S. 385—389 (388); H.Rose, Über den Freundschaftsvertrag DDR—UdSSR, in: Deutsche Außenpolitik 1964, S. 877—879 (877); H . Süss/K. Bollinger, Zur völkerrechtlichen Regelung der „Deutschlandfrage*, in: Deutsche Außenpolitik 1965, Sonderheft I, S. 214—232 (217); B. Graefrath, Völkerrechtliche Aspekte des Freundschaftsvertrages, in: Deutsche Außenpolitik 1964, S. 906—916 (915); W. Hänisch und J. Krüger, Der Freundschaftsvertrag zwischen der D D R und der UdSSR — Höhepunkt und Konsequenz 15jähriger sozialistischer Außenpolitik der DDR, in: Staat und Recht 1964, S. 1751—1768 (1761 f.); Völkerrecht — Ein Grundriß für Studenten, a. a. O. (Anm. 11), S. 141. 97) Text der Rede in: Neues Deutsdiland vom 21. Juni 1964. Rose, ebenda: „Der Friedensvertrag allein mit der D D R steht nicht mehr auf der Tagesordnung." Blumenwitz, a. a. Ο. (Anm. 3), S. 133, Anm. 19: „. . . hat die . . . Diskussion um den Separatfriedensvertrag mit dem Abschluß eines Freundsdiafts- und Beistandspakts der DDR und der UdSSR . . . einen vorläufigen Abschluß gefunden." 98) Text in : Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der DDR. Bd. X , Berlin (Ost) 1963, S. 15—22 (21). 99) Text, ebenda, S. 107—155 (114). 11

Königsberg

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Jens Hacker der D D R und Rumänien geschlossenen Beistandspakt fehlt die Formel von der „deutschen Friedensregelung" 100 ). N u r der Vertrag zwischen der UdSSR und der D D R vom 12. Juni 1964 enthält eine Revisionsklausel für die Fälle der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands auf „demokratischer" und „friedliebender" Basis und des Abschlusses eines „deutschen Friedensvertrags". Die Verträge der D D R mit Polen, der Tschechoslowakei und Bulgarien lassen die Uberprüfung nur im ersten Fall zu. Diese Regelung im Vertrag vom 12. Juni 1964 ist — wie Alexander Uschakow feststellt — einer der Reste und ein Reflexrecht der Vier-Mächte-Verantwortung der UdSSR gegenüber Deutschland 101 ). Was die Haltung der Mitgliedsländer des Warschauer Pakts betrifft, so haben sie bis 1966 den Standpunkt vertreten, die „deutsche Friedensregelung" entspreche den „Interessen des Friedens in Europa". I n der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist diese Formel stark in den Hintergrund getreten; in den kollektiven Dokumenten der Warschauer Pakt-Mächte wurde sie nicht mehr verwandt 1 0 2 ). Schlußbemerkung Fragt man abschließend nach dem Stellenwert, den die friedensvertragliche Regelung mit Deutschland noch in den deutschlandpolitischen Vorstellungen und in staats- und völkerrechtlichen Analysen der D D R einnimmt, so läßt sich zusammenfassend sagen: 100) Texte der bilateralen Beistandspakte der DDR mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Ungarn in : Freundschaft — Zusammenarbeit — Beistand. Grundsatzverträge zwischen den sozialistischen Staaten. Berlin (Ost) 1968; Texte des Freundschaftsvertrags der DDR mit der Mongolischen Volksrepublik vom 12. September 1968 und des Beistandspakts mit Rumänien vom 12. Mai 1972, in: Neues Deutschland vom 14. September 1968 und 13. Mai 1972. A. Uschakow, Die neuen bilateralen Pakte in Osteuropa, in: Recht in Ost und West 1967, S. 221—233 (233). Vgl. dazu auch A. Giese, Die Einheit und Spaltung Deutschlands im Spiegel völkerrechtlicher Verträge von 1941—1967 — eine völkerrechtlich-politische Untersuchung einschlägiger Urkunden. Jur. Diss. Universität Würzburg 1968, S. 438 ff. 102) N. S. Chruschtschow hatte bereits in seiner Rede auf dem V I . Parteitag der SED am 16. Januar 1963 ausgeführt: „ . . . i s t der Abschluß eines deutschen Friedensvertrages in der Tat nicht mehr das gleiche Problem wie vor den Schutzmaßnahmen an der Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und Westberlin. Hieraus darf man natürlich nicht schlußfolgern, in den sozialistischen Ländern. . . habe das Interesse am Abschluß eines Friedensvertrages nachgelassen." Text der Rede in: Neues Deutschland vom 17. Januar 1963 und Auszug in: SBZ-Archiv 1963, S. 46 ff. (48). Weitere Nachweise für die jähre 1964— 1966 bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 10), S. 97; ders., Die Vorstellungen der D D R über eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Preußen 1971 (Bd. X X I ) , Berlin-München 1971, S. 148—199 (191 f.).

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DDR über eine fridensvertragliche

Regelung

1. Weder gegenwärtig noch in absehbarer Zukunft ist mit dem Abschluß von „Friedensverträgen zwischen den Staaten der Anti-Hitler-Koalition und den beiden deutschen Staaten 103 ) oder gar mit einem „Friedens ver trag mit Deutschland" 104 ) zu rechnen. 2. Unabhängig davon, ob es zu einer formellen Friedensregelung mit der D D R und der Bundesrepublik Deutschland seitens der Staaten der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition überhaupt noch kommt, sind „die Grundbestimmungen des Potsdamer Abkommens sowohl für die Vertragspartner wie für die beiden auf dem Boden des 1945 untergegangenen Reiches im Herbst 1949 entstandenen Staaten als Ausdruck des allgemeinen Völkerrechts zu respektieren" 105 ). M i t ihrer Entstehung seien die D D R und die Bundesrepublik Deutschland zu „Trägern der Rechte und Pflichten aus dem Potsdamer Abkommen" 1 0 0 ) geworden. I n der DDR-Verfassung vom 6. April 1968 seien die Prinzipien von Potsdam als unmittelbar geltendes Recht verankert 1 0 7 ). 3. Die „Verweigerung der Anerkennung der grundlegenden und völkerrechtlich verbindlichen Beschlüsse von Potsdam unter Berufung auf einen irgendwann in der Zukunft noch abzuschließenden Friedens ver trag" mit einem schon seit über 25 Jahren nicht mehr existierenden Deutschen Reich wird als „völkerrechtlich unzulässig" und als „Ausdruck einer völkerrechtswidrigen und friedensgefährdenden Politik" 1 0 8 ) angesehen.

103) So H . Kröger, Die Rechtsverbindlichkeit des Potsdamer Abkommens in : Das Potsdamer Abkommen und die europäische Sicherheit. Sonderheft 3 der „Deutschen Außenpolitik" 1970, S. 53—59 (58). 104) So P. A. Steiniger, Das Potsdamer Abkommen und die Charta der Vereinten Nationen, ebenda, S. 60—63 (63). 105) So P. A. Steiniger, ebenda. Vgl. dazu audi E. Oeser und B. Graefrath, a. a. Ο. (Anm. 83), S. 94 f. 100) So P. Α. Steiniger, ebenda. 107) Man verweist dabei vornehmlich auf Art. 6 Abs. 1. Vgl. beispielsweise die Erklärung des Ministerrats der D D R zum 25. Jahrestag des Potsdamer Abkommens. Text in: Neues Deutschland vom 31. Juli 1970; J. Peck, Artikel 6 der sozialistischen Verfassung der D D R — ein Auftrag des Völkerrechts, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellsdiafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 1969, S. 967—971 (969); P. Florin, Die Bedeutung des Potsdamer Abkommens für den Kampf um die europäische Sicherheit, a . a . O . (Anm. 103), S. 29—43 (36); Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente — Kommentar. Bd. 1. Hrsg. von K. Sorgenicht, W. Weichelt, T. Rie^ mann, H.-J. Semler. Berlin (Ost) 1969, S. 288 f. 108) So W. Ulbricht auf der 12. Tagung des Zentralkomitees der SED am 12. und 13. Dezember 1969. Text in: Neues Deutschland vom 14. Dezember 1969 und Deutschland-Archiv 1970, S. 67; weitere Nachweise bei J. Hacker, a. a. O. (Anm. 102), S. 192—196. 11'

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Jens Hacker 4. Unter diesen Umständen bleiben die Grundsätze des Potsdamer Abkommens die „entscheidende völkerrechtliche Grundlage für die Schaffung einer stabilen Friedensordnung und eines Sicherheitssystems in Europa" 1 0 9 ). Den Bestrebungen der D D R , das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 als Surrogat oder gar Synonym für einen Friedensvertrag mit Deutschland zu werten, ist folgendes entgegengehalten: Die Konferenz von Potsdam einigte sich über die Errichtung eines Rates der Außenminister, der „zur Vorbereitung einer friedlichen Regelung für Deutschland benutzt werden" wird. Zwar hat das Potsdamer Abkommen in bezug auf Deutschland bewußt die Begriffe „Friedens ver trag" und „Friedensregelung" vermieden. Soweit sich jedoch der Rat der Außenminister in den Nachkriegsjahren mit dieser Thematik befaßt hat, war immer von einem „Friedensvertrag mit Deutschland" die Rede. Das beweist eindeutig, daß die an der Konferenz von Potsdam beteiligten Mächte ihre Beschlüsse keineswegs als Surrogat oder gar Synonym für einen Friedensvertrag mit Deutschland gewertet haben. Diesen Standpunkt haben die beteiligten Mächte auch in der Folgezeit nicht aufgegeben. Die Verträge, die die Bundesrepublik Deutschland am 12. August 1970 mit der Sowjetunion, am 7. Dezember 1970 mit Polen und am 21. Dezember 1972 mit der D D R geschlossen hat, enthalten zwar keinen ausdrücklichen Vorbehalt einer Friedensregelung mit Deutschland; die in ihnen jeweils verankerte „Nichtberührungsklausel" betrifft auch die friedensvertragliche Regelung mit Deutschland. Die in den drei Verträgen unberührt gebliebenen Rechte der vier Mächte resultieren einmal aus den 1944/45 von den Alliierten getroffenen Abmachungen über Deutschland und zum anderen aus den vertraglichen Vereinbarungen der drei Westmächte mit der Bundesrepublik Deutschland aus den Jahren 1952/54 und der UdSSR mit der D D R von 1955 und 1964. Durch die in den drei Verträgen jeweils verankerte „Nichtberührungsklausel" ist sichergestellt, daß die 1945 von den drei Hauptalliierten in Potsdam vorgesehene friedliche Regelung für ganz Deutschland für die Zukunft nicht ausgeschlossen ist 1 1 0 ).

109) So H . Kröger, a. a. O. (Anm. 103), S. 58. Vgl. dazu audi P. A. Steiniger, a. a. O. (Anm. 104), S. 63. HO) Vgl. dazu und zu den Vorbehalten, die die . drei Westmächte anläßlidi der Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau geltend gemacht haben im einzelnen Hacker, Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR. Köln 1974.

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Herbert G. Marzian ZEITTAFEL U N D D O K U M E N T E ZUR

ODER-NEISSE-LINIE

Februar 1971 bis M a i 1972 Der Bundestagsabgeordnete Dr. S t r a u ß , C D U / C S U , führt im Deutschen Bundestag am 12. Februar bei der Dritten Beratung des Haushaltsgesetzes 1971 u. a. aus:

„Erstens. CDU und CSU sind und bleiben Parteien der Mitte, mit scharfer Abgrenzung zu jenem irrationalen und verhängnisvollen Rechtsradikalismus, der mit dem Linksradikalismus mehr gemeinsam hat als mit uns. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Zweitens. CDU und CSU bieten auch denen eine politische Heimat, die ein durch Geschichte gereiftes und durch persönliche Erfahrung geläutertes Nationalbewußtsein haben und ein von obrigkeitsstaatlichem Denken freies, aber die Staatsautorität bejahendes Verhältnis der staatlichen Ordnung demagogi — (Lachen bei der SPD — Abg. Dr. Apel : Eine schöne Freudsche Fehlleistung!) — demokratischer Prägung besitzen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Drittens. Wenn Herr Kollege Schäfer uns als Rechtsparteien bezeichnet — die CSU noch ein bißchen mehr als die CDU —, so hat das nichts mit unserem politischen Standort zu tun, sondern damit, daß die SPD unter dem Druck der Jungsozialisten ihren Standort nach links verlagert hat und weiterhin verlagern wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) In dem Fall hat der Beobachter seinen Platz gewechselt und beschimpft diejenigen als weit reditsstehend, mit denen er früher gemeinsame Auffassungen, jedenfalls dem Wortlaut nach, vertreten hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich halte diese Rede nicht aus Verteidigungsgründen, sondern aus Gründen der Feststellung von Tatsachen. Haben nicht die Herren Ollenhauer, Brandt und Wehner vor gar nicht so vielen Jahren in einem Aufruf zum Schlesiertreffen die Parole ausgegeben: Verzicht ist Verrat? (Abg. Leicht: Sehr gut!) Haben sie damit nicht Ihre Ostpolitik von heute damals als Verrat bezeichnet? (Beifall bei der CDU/CSU.) Das waren doch Sie selber, nicht wir! Die Antwort, die der heutige Bundeskanzler in einem Interview mit der ,Rheinischen Post', das im Bulletin abgedruckt wurde, auf eine an ihn gerichtete Frage gegeben hat, ist für ihn bezeichnend. Die Frage lautete: 165

Herbert G. Marzian

Herr Bundeskanzler, wenn Hinnahme dessen, was östlich von Oder und Neiße in den letzten 25 Jahren geschehen ist — und es spricht einiges dafür, daß es hingenommen werden muß —: Warum gibt es dann nicht eine Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen westlich jener beiden Flüsse? Ich denke an das, was Ihr verstorbener Parteifreund Fritz Erler noch kurz vor seinem Tode geschrieben hat, daß die Polen von zwei völlig widersprüchlichen Voraussetzungen ausgehen, wenn sie die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie fordern, daß sie einmal sagen, es gebe zwei getrennte souveräne deutsche Staaten, und zum anderen, der nicht an sie angrenzende Staat müsse ihre Westgrenze anerkennen. Erler hat damals gesagt, keine deutsche Regierung könne vor einer Friedenskonferenz dies audi nur de facto anerkennen, solange nicht ein Schritt nach vorne getan wird zur Verwirklichung der Selbstbestimmungsrechte. Antwort des Bundeskanzlers: Ich habe ähnlich argumentiert. Insofern ist mir das alles nicht fremd. Idi habe ähnlich argumentiert und meine Auffassungen stark modifiziert. Es folgen dann noch weitere Äußerungen. Meine Damen und Herren, solche Aussagen erzeugen doch das Klima der Unstabilität, der Unsicherheit und Unruhe. Was damals, vor wenigen Jahren ein heiliges Bekenntnis war — wenn damals jemand etwas anderes gesagt hätte, hätten Sie ihn einen Verräter geheißen —, haben Sie jetzt einfach modifiziert. Was wollen Sie denn noch modifizieren? Mit welchen weiteren Modifikationen müssen wir denn noch rechnen? Das ist es dodi, was uns beunruhigt. Nichts könnte die Kurzatmigkeit und Hektik dieser Ostpolitik deutlicher kennzeichnen. Oder stimmt es nicht, Herr Wehner, daß Sie sich — allerdings schon vor einiger Zeit — als ein Anhänger der Sdiumadierschen Politik bezeichnet haben, als Anhänger der Politik eines Mannes, der um jeden Quadratmeter deutschen Bodens kämpfen wollte. Sollen wir uns deshalb als Nationalisten beschimpfen lassen oder mit dem Stempel des Rechtsradikalismus diffamieren lassen, nur weil wir heute noch dasselbe sagen, was die SPD-Führung vor wenigen Jahren als selbstverständlich und legitimen Ausdruck deutscher Politik vertreten hat? (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) In diesem Hause und in der deutschen Öffentlichkeit wirft man uns vor, daß wir in die Politik der fünfziger Jahre zurückfallen wollten. Diese Politik war im übrigen gar nicht so schlecht, wenn man sie mit der heutigen vergleicht. (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) Die ,Prawdac hat am 29. Januar geschrieben, daß die Unionsparteien in der Krise ihrer archaischen Politik verharren wollen. Andererseits hat der Bundesminister Eppler vor einem anderen Forum, in der Columbia University in New York, erklärt, Brandt setze die Politik Adenauers fort. (Lachen bei der CDU/CSU.) Drüben ist diese Visitenkarte gut zu gebrauchen. Als die CDU im Wahlkampf 1969 — Herr Bundesminister für Gesamt-, nein es heißt ja jetzt für innerdeutsche Beziehungen, hören Sie jetzt gut zu! — die 166

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

prinzipielle Einigkeit der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien in der Deutschland-Politik in Frage stellte, mit einem Fragezeichen versah und sich dabei in erster Linie an die Adresse der SPD wandte, schrieb Egon Franke an Kurt Georg Kiesinger ein Telegramm: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Mit Bestürzung habe ich zur Kenntnis genommen, daß die CDU versucht, die prinzipielle Einigkeit der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien in der Deutschland-Politik in Frage zu stellen. (Hört! Hört! und Lachen bei der CDU/CSU.) In der Vergangenheit war es gerade die besondere Stärke unserer deutschen Position, daß die im Bundestag vertretenen Parteien bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten in dieser Schicksalsfrage unseres Volkes im Grundsatz eine einheitliche Auffassung hatten. Unter Ihrem Vorsitz, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hat die Bundesregierung noch am 30. Mai eine Grundsatzerklärung zur Außen- und Deutschland-Politik beschlossen. Sie kennen die Wortlautprotokolle der Besprechungen in Moskau, die ich zusammen mit meinen Fraktionskollegen Schmidt und Möller geführt habe. Sie wissen sehr genau, daß wir dort die einheitliche deutsche Meinung vertreten haben. Ich kann nicht umhin, diese Äußerungen der CDU, deren Vorsitzender Sie zugleich sind, innenpolitisch als Brunnenvergiftung und außenpolitisch als Schaden für unser Volk zu bezeichnen. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Wer die gemeinsame Haltung in der Deutschlandfrage in Zweifel zieht, nutzt dadurch nur dem Gegner der deutschen Frage. Um Schaden von unserem Volke abzuwenden, fordere ich Sie daher in Ihrer Eigenschaft als Bundeskanzler auf, in aller Öffentlichkeit eine Klarstellung vorzunehmen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Hatte die CDU — die CSU war an dieser Tat nicht beteiligt — nicht recht, als sie der SPD zutraute, die Deutschlandpolitik in absehbarer Zeit zu ändern? Was soll denn dieser Brief des Herrn Franke? (Zuruf von der CDU/CSU: Betrug!) Wer hat denn die damalige Plattform der Gemeinsamkeit verlassen? Sie oder wir? Sie sind doch nicht mehr bereit, den damaligen Beschluß der Bundesregierung und die Erklärung des Bundestages vom Mai 1969 zu wiederholen, auf die sich Herr Franke hier berufen hat. Sie sind deshalb nicht dazu bereit, weil Sie Ihre Position aus falschen Denkansätzen heraus unter selbst gesetztem Zeitzwang und freiwillig gewähltem Erfolgsdruck aufgegeben haben (Beifall bei der CDU/CSU) und deshalb heute laufend der Gefahr sowjetischer Erpressung ausgesetzt sind." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 102. Sitzung, 12. 2.1971) Auf die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Strauß, C D U / C S U , erwidert Bundeskanzler B r a n d t u. a. :

„Herr Kollege Strauß, ich bekenne, daß ich heute manches anders sehe und auch anders sage. Bloß, wenn Sie die ,Rheinische Post* zitieren und versuchen, 167

Herbert G. Marzian

midi hier in einen Gegensatz zu meinem verstorbenen Freund Erler zu bringen, dann bezieht sich darauf mein Hinweis: man kann auch fälschen, wenn man nur einen Satz zitiert. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie haben zitiert, richtig zitiert: Idi habe ähnlich argumentiert. Insofern ist mir dies alles nicht fremd. Ich habe ähnlich argumentiert und meine Auffassung stark modifiziert. Da machen Sie Sdiluß. Und jetzt heißt es weiter: (Abg. Strauß: Das ist dodi das Wesentliche in diesem Zusammenhang!) — nein — Das gebe ich offen zu. Sie wissen, wir haben im Vertrag mit der Sowjetunion unseren Standpunkt zur Selbstbestimmung deutlich gemacht und durch unseren Notenwechsel ebenso wie beim Vertrag mit Polen unstreitig kundgetan, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes weiter gelten. Darin liegt ja der Hinweis auf die noch offene friedensvertragliche Regelung. Das heißt: Sie haben mir in der Sache eine Änderung des Standpunktes unterstellen wollen zu einem Komplex, wo diese Änderung des Standpunktes durch Ihre Argumentation nicht nur nicht richtig wiedergegeben, sondern in ihr Gegenteil verkehrt wird, und das kann man nicht durchgehen lassen. (Beifall bei den Regierungsparteien.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 102. Sitzung, 12. 2. 1971) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Haushaltsdebatte u. a. aus:

Β a r ζ e 1,

führt in der

„Ich möchte gerne dem Hause, da sich der Bundeskanzler an der Debatte nun offensichtlich nicht beteiligt, doch folgendes sagen. Meine Damen und Herren: Wer die totale Konfrontation will und herbeiführt, der schwächt unser Land. Wer uns diesen Willen unterstellt, wie das der Bundeskanzler eben tat, obwohl er das Gegenteil besser weiß, der redet an den Tatsachen vorbei. Wer dies s ο tut, wie es der Kanzler tat, aggressiv und vorher aufgeschrieben, der will nicht Gemeinsamkeit, der will hier Risse. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diese schönen Worte sind durch die Fakten nicht gedeckt. Es gab im Oktober — ich will eine einzige Tatsache zum Beweis in die Debatte einführen —, wie der Außenminister und andere bestätigen können, mündliche und schriftliche Bemühungen, zwischen Koalition und Opposition eine einmütige Auffassung in der Polen-Frage zu erzielen. In diesem Zusammenhang gibt es einen vertraulichen Schriftwechsel, aus dem ich aus unserem Brief, weil er in unserer Disposition steht, folgendes vorlesen möchte. Dann werde ich Ihnen die Antwort der Regierung sagen. Es heißt: Unsere Bedenken beziehen sich vor allem darauf, daß nach Ihren Vorstellungen — gemeint ist die Bundesregierung — 168

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

die Grenzfrage im Hinblick auf einen künftigen Friedensvertrag nicht offenbleibt. Wir vermissen den klaren Friedensvertragsvorbehalt. Zu den anderen Fragen, die in unserem Beschluß behandelt sind, müßten Abreden, zumindest verbindliche Absichtserklärungen beider Vertragspartner erfolgen. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung und die parlamentarische Lage im Deutschen Bundestag bitte ich Sie nochmals, Ihre Position zu überprüfen. Die Antwort der Bundesregierung: Es besteht kein Anlaß, sie zu überprüfen. Hier hätte man miteinander weiter sprechen, miteinander weiter schreiben können und müssen, wenn man Gemeinsamkeit g e w o l l t hätte und nicht das Gegenteil. (Beifall bei der CDU/CSU.)a (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 102. Sitzung, 12. 2. 1971) I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n Bundestages am 12. Februar gibt der Parlamentarische Staatssekretär Moersch die folgenden Antworten:

„Vizepräsident Dr. Jaeger: /eh rufe die Frage 91 des Abgeordneten Dr. Marx (Kaiserslautern) auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, durch Verhandlungen mit der Sowjetunion zu erreichen, daß Deutsche die im sowjetisch verwalteten Teil von Ostpreußen gelegenen Gräber ihrer Angehörigen besuchen dürfen? Bitte schön! Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Antwort lautet: Nein. Ziel der Verhandlungen in Moskau war nicht die Erörterung des Status einzelner Gebiete vor Abschluß eines Friedensvertrages. (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg meldet sich zu einer Zusatzfrage.) Vizepräsident Dr. Jaeger: Wegen des inneren Zusammenhangs rufe ich dann zunächst die Frage 95 des Abgeordneten Dr. Klepsch auf : Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach einer Meldung des ,Tagesspiegels' vom 11. September 1970 die Sowjetunion seit 1964 auch ohne Vorliegen eines Gewaltverzichtsvertrags Japanern gestattet, Gräber ihrer Angehörigen auf japanischen Inseln zu besuchen, die seit dem zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion besessen werden? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Der Bundesregierung ist die Meldung des ,Tagesspiegels' vom 1. September 1970 bekannt. Zum Inhalt der Meldung kann zu meinem Bedauern noch nicht abschließend Stellung genommen werden. Die Bundesregierung ist unter Einschaltung der Deutschen Botschaft in Tokio um Klärung des Sachverhalts bemüht. Sie schlägt daher vor, Ihnen ihre endgültige Antwort in Kürze zuzusenden. Vizepräsident Dr. Jaeger : Keine Zusatzfrage. Dann rufe ich die Frage 92 des Abgeordneten Dr. Marx auf : 169

Herbert G. Marzian

Hat die Bundesregierung während der Gespräche und Verhandlungen von Egon Bahr in Moskau oder während der Verhandlungen des Außenministers oder bei anderer Gelegenheit mit der Sowjetregierung über die aus der Besetzung des nördlichen Ostpreußens und dessen Einverleibung in die UdSSR sich ergebenden Probleme gesprochen oder Vereinbarungen in Aussicht gestellt oder abgeschlossen? Moerschy Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die Bundesregierung hofft, daß künftig im Zuge der durch den Moskauer Vertrag angestrebten Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion die von Ihnen angeschnittene Frage behandelt werden und u. a. auch eine Intensivierung des Reiseverkehrs erwirkt werden kann und eventuell die Reisen in dieses Gebiet für diejenigen Bürger der Bundesrepublik Deutschland erleichtert werden, die dort die Gräber von Angehörigen aufsuchen möchten. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx. Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, da ich nicht nadi Reisemöglichkeiten gefragt habe, sondern nach den durch die Einverleibung des nördlichen Ostpreußens entstandenen Problemen, möchte ich gern wissen: Wann, wo und in welcher Weise ist darüber gesprochen oder verhandelt worden? Moerschy Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Diese Fragen haben im Gesamtzusammenhang in der Tat in den Verhandlungen eine Rolle gespielt. Idi darf Ihnen sagen, daß wir in diesem Zusammenhang beispielsweise die verstärkte Einschaltung des Deutschen Roten Kreuzes erwogen haben. Wie Sie wissen, haben wir für dieses Gebiet ein Repatriierungsabkommen aus dem Jahre 1958. Die hier angeschnittenen humanitären Fragen werden diskutiert. Es sind Gespräche zwischen den Rotkreuz-Gesellschaften vereinbart worden. Sie stehen bevor. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx. Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, da das Repatriierungsabkommen von 1958 zeitlich begrenzt war — das ist jedenfalls von der sowjetischen Seite so interpretiert worden —, frage idi Sie: Haben Sie auf Grund der Gespräche, die Sie geführt haben, die Hoffnung, daß die damals niedergelegten Möglichkeiten jetzt in der Zukunft aufs neue verwirklicht werden, vor allen Dingen bezüglich des hier beschriebenen geographischen Teils? Moerschy Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ich gehe davon aus, daß diesem Ihrem Wunsch jetzt nach der Unterzeichnung des Vertrages wesentlich leichter entsprochen werden kann als vorher. Es ist bekannt, daß bei den Gesprächen in Moskau auf diese Frage zunächst einmal keine Antwort gegeben worden ist. Meines Wissens ist aber schon einen Tag nach Abschluß des Vertrages bezüglich der Rotkreuz-Gesellschaften eine positive Antwort eingegangen. Es wurde uns damals gesagt, daß das vor allem eine Sache der hier betroffenen Gesellschaften sei. Das ist dann auch geschehen, obwohl dies in früherer Zeit nicht so leicht gegangen war. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von und zu Guttenberg. 170

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU): Herr Präsident, idi bitte um die Genehmigung, eine Zusatzfrage zu der Antwort des Herrn Staatssekretärs auf die erste Frage des Herrn Dr. Marx stellen zu dürfen. Sie hatten meine Meldung übersehen. Habe ich Ihre Genehmigung? Vizepräsident Dr. Jaeger: Sind Sie bereit, das noch zu beantworten, Herr Staatssekretär? Moersdo, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ja, gerne. Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, kann ich aus Ihrer Antwort auf die Frage des Abgeordneten Dr. Marx entnehmen, daß nach Auffassung der Bundesregierung die endgültige Festlegung der sowjetischen Grenze im Territorium Ostpreußens dem Friedensvertragsvorbehalt für ganz Deutschland unterstellt bleibt? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es ist kein Friedensvertrag, den wir geschlossen haben; Sie sagen das in Ihrer Frage selbst. Zum Rechtscharakter der Grenzen hat die Bundesregierung keine Stellung genommen. (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das ist keine Antwort!) Die fortbestehenden Rechte — das darf ich hinzufügen, wenn Sie das meinen — — und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin werden durch den Moskauer Vertrag nicht berührt. (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Bezieht sich das auch auf diese Grenze?) — Herr Abgeordneter, ich bin nicht in der Lage, darüber weitere Ausführungen zu machen. Ich habe gesagt, es gibt Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Berlin und für Deutschland als Ganzes. Diese Verantwortlichkeiten wären in Friedensvertragsverhandlungen im einzelnen abzulösen. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, bitte sehr! Dr. Bach (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, ob die Deutschen, die noch in dem Gebiet von Nord-Ostpreußen wohnen, von der Deutschen Botschaft in Moskau konsularisch betreut werden, ob sie überhaupt Verbindung zur Deutschen Botschaft in Moskau haben und wie die jetzige Betreuung dieser Menschen von deutscher Seite ist? Moersdh, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, da die Frage nicht in direktem Zusammenhang mit der gestellten Frage steht, kann ich sie im Augenblick nicht beantworten. Aber ich bin gern bereit, Sie darüber später zu informieren." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 102. Sitzung, 12. 2.1971) Staatssekretär A h 1 e r s führt in einem Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk, das am 6. März ausgestrahlt wird, u. a. aus:

„Frage: Herr Staatssekretär, es fällt auf, daß im Osten und namentlich auch in Moskau die deutsche Sozialdemokratie kaum noch besser beurteilt wird als die

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Herbert G. Marzian CDU/CSU. Gibt es vielleicht auf beiden Seiten eine gewisse Ernüchterung? Bundesregierung und SPD-Spitze betonen doch wieder sehr stark die entscheidende Bedeutung des Atlantischen Bündnisses und der Anwesenheit der verbündeten Truppen in der Bundesrepublik und in West-Berlin.

Antwort: Ich würde hier nicht von Ernüchterung reden. Wir haben einen Vorgang, der sehr interessant ist. Der sogenannte Sozialdemokratismus wird im Osten zweifellos als eine innere Gefahr gesehen, und dann kommt es zu dem, was Sie Ernüchterung nennen oder mit Ihrer Frage nach der Ernüchterung meinen, nämlich doch auch zu sdiarfen Auseinandersetzungen des Ostens mit der Sozialdemokratie und zu dem, was Herr Ulbricht seine Abgrenzungsstrategie nennt, d. h. man will sich dagegen wehren, daß eine so populäre und durchschlagende Idee wie die des demokratischen Sozialismus nun das kommunistische System im Ostblock gefährdet. Das ist, glaube ich, der Hintergrund, auf den sich Ihre Frage bezieht. Und ich meine, eigentlich ist das eine Sache, über die wir freiheitlich gesinnten Menschen ja nur froh sein können. Nun kommt die Frage, warum betont die Bundesregierung und betont die sozialdemokratische Führung so stark die Notwendigkeit des Atlantischen Bündnisses und auch die Notwendigkeit der fortdauernden Anwesenheit amerikanischer und anderer alliierter Truppen auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Nun, Sie wissen, der Bundeskanzler und alle haben immer wieder darauf hingewiesen, daß unsere Ostpolitik nur möglich ist — da sie ja auch ein gewisses Risiko enthält — bei voller Abstimmung mit unseren Haupt verbündeten und daß wir sie nur führen können eingebettet in das westliche Bündnis. Wir dürfen selbstverständlich bei unserer Ostpolitik die Sicherheitserfordernisse der Bundesrepublik keineswegs außer acht lassen. Wir müssen auch die Tatsache berücksichtigen, daß die Welt nicht so schön ist, wie sie sein könnte, daß es neben einem Trend zur Entspannung überall auch neue Spannungen gibt, im Fernen Osten, im Nahen Osten ganz besonders, und man kann nie wissen, wann auch wieder einmal in Europa neue Spannungsfelder auftreten. Also ist es ein absolutes Erfordernis unseres Jahrzehnts, daß die westliche Verteidigung so stark bleibt, wie sie nur sein kann, und dazu gehört einerseits der deutsche Verteidigungsbeitrag, der nicht gekürzt und gemindert werden darf und gemindert werden wird, und andererseits natürlidi auch die Anwesenheit alliierter Truppen hier, zu der wir auch einen finanziellen Beitrag leisten müssen und leisten." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 9. 3. 1971) Bundesminister S c h m i d t führt in einem am 19. März veröffentlichten Interview mit der Wochenzeitung „Christ und Welt / Deutsche Zeitung" u. a. aus:

„Frage: Moskau drängt. Nach jüngster sowjetischer Version soll die Einberufung Sicherheitskonferenz sogar Vorbedingung für eine Berlin-Lösung sein.

172

einer

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Antwort: Es hat überhaupt keinen Sinn, über eine solche Konferenz zu sprechen, ehe nicht die Berlin-Regelung, implizite: ehe nicht unsere Ostverträge unter Dach und Fach sind. Und das heißt wieder, daß die viele heiße Luft aus östlicher, aber auch aus westlicher Himmelsrichtung zum sowjetischen Konferenzvorschlag ein bißchen früh produziert worden ist. Gegenwärtig haben wir keinen Anlaß, dieses Projekt zu forcieren. Wir haben Anlaß, die Berlin-Regelung für das gegenwärtig überragende Zwischenziel zu halten. Frage: Man hat das weltpolitische Fazit des ,Vertragsjahres 1970 f dahin zu deuten versucht, daß die Sowjetunion dabei sei, eine statische Macht zu werden, die nunmehr auf die Konsolidierung ihres Besitzstandes in Mitteleuropa bedacht sei. Drängt sich Ihnen aus subtiler Kenntnis der strategischen Lage nicht der Eindruck einer hochgradig dynamischen Macht auf, für die Expansion mehr denn je das Daseinsgesetz ist. Geht die Entlastung der sowjetischen Militärmaschinerie in Mitteleuropa nicht auf Kosten der Flanken im Süden wie im Ostsee- und Nordmeerraum, wo von einer Statik der Sowjetmacht ohnehin nie etwas zu spüren wari

Antwort : Ich denke, daß für Moskau als Motiv für eine Konsolidierung in Mitteleuropa nicht so sehr die Verlagerung der Dynamik an die nördlichen und südlichen Flanken Europas die Hauptrolle spielt, als vielmehr zwei andere Beweggründe. Das ist einmal die auf zwei, drei oder noch mehr Jahrzehnte zu erwartende Konfrontation zwischen den beiden kommunistischen Riesenstaaten China und Sowjetunion. Und das ist zweitens die Einsicht der sowjetischen Führung, daß sie zur Erreichung eines adäquaten technologischen Standes ihrer Wirtschaft und Lebensstandards ihrer Massen des Austausches und der Befruchtung durch westeuropäische Technologie, Wissenschaft und Industrie bedarf — und daß sie das nur erlangen kann, wenn hier tatsädilich das Gefühl friedlicher Verhältnisse eintritt. Insgesamt glaube ich deshalb freilich nicht, daß die Sowjetunion eine statische Entwicklung nehmen wird. Das glaube ich übrigens auch nicht von den Vereinigten Staaten, nicht von China, nicht von Japan, das glaube ich auch nicht von der Bundesrepublik. Alle diese Staaten sind aus verschiedenen Gründen in einer raschen Entfaltung zu neuen Strukturen. Frage: Sie verquicken Entwicklungen, die nicht vergleichbar sind. Für das seiner Doktrin nach auf ,Weltrevolution' eingeschworene Sowjetimperium ist Expansion, massive imperialistische Expansion ein Lebensgesetz.

Antwort: Ja, ich weiß, die von mir aufgezählten dynamischen Prozesse sind nicht kommensurabel, dies ist ganz richtig. Aber ich will hier mit Nachdruck darauf hinweisen, daß sich auch das Nordatlantische Bündnis in keiner Weise in einem statischen Zustand befindet. Die Kooperation war seit vielen Jahren nicht so 173

Herbert G. Marzian

eng und so aufeinander abgestimmt wie 1970. Das halte ich für eine große Leistung der verbündeten Staaten. Frage: Das Stichwort Entspannung' hat bestimmte Erwartungen gewedet: daß wir einen überhöhten Verteidigungsetat haben und daß wir meigentlich Schwimmbäder, Altersheime, Autostraßen statt Kasernen bauen können. Nach einer Ratifikation der Ostverträge, die ja als Gewaltverzicht firmieren, könnte sich diese Stimmung noch steigern — eben daß wir nun mehr und mehr auf zivile, soziale Projekte umschalten können.

Antwort: Ich kann Ihnen nicht zustimmen in dem, was Sie über die Stimmung in unserem Volk sagen. Es gibt wenige Politiker auf der Bundesbühne, die sich so eindeutig wie ich einerseits für die Entspannungspolitik mit dem Osten eingesetzt und gleichzeitig so eindeutig die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines militärischen, machtpolitischen Gegengewichts des Westens betont haben. Die deutsche öffentliche Meinung neigt generell nicht dazu, den Verteidigungsetat für übersetzt zu halten. Natürlich, audi die Bundeswehr ist unter dem Druck, bei jeder Million sorgfältig zu überlegen, wie sie ausgegeben werden soll. Es hat hier viele Jahre gegeben auf der Hardthöhe und früher in der Ermekeilkaserne, in denen mit dem Geld sehr großzügig umgegangen worden ist. Diese Zeiten sind vorbei; ich begrüße es, daß sie vorbei sind." »Frage: Daß Entspannung, in der Vorstellung der derzeitigen Bundesregierung, zu einem Abbau der militärischen Spannung führt — Ihr Optimismus scheint jedenfalls gedämpft?

Antwort: Wenn der Vertrag mit Moskau rechtskräftig werden sollte, was ja bedeutet, daß eine befriedigende Berlin-Regelung vorangeht oder Hand in Hand damit geht, dann wird das sicherlich auf beiden Seiten — in Warschau, in Prag, in Bukarest, ich hoffe sogar in Ost-Berlin, und ebenso auf der westlidien Seite — eine Erleichterung geben. Es mag dann das Feld etwas günstiger aussehen für das Vorhaben einer beiderseitigen gleichgewichtigen Rüstungsbegrenzung. Aber hier lege ich ganz großes Gewicht auf beiderseitig' und ,gleichgewichtig'. Verträge bewahren kein Gleichgewicht; wenn das Gleichgewicht verlorengeht, nutzen Verträge allein nichts. Auch nach diesen Verträgen wird der Westen das Gleichgewicht halten müssen. Frage: Wenn der Vertrag zustande kommt... Eine Ratifikation durò den Bundestag setzt zumindest, von Fortschritten in den innerdeutschen Beziehungen einmat ganz abgesehen, eine befriedigende Β erlin-Regelung voraus. Haben Sie als Verteidigungsminister — quasi als Generalstäbler, der alle Eventualitäten durchdenken muß — die Situation für den Fall eines NichtZustandekommens der Ratifizierung ins Auge gefaßtf

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Antwort: Ich bin kein Generalstäbler, ich bin ein Politiker, der für die äußere Sicherheit seines Landes verantwortlich ist — und als solcher muß man auch die von Ihnen angedeuteten theoretischen Möglichkeiten analysieren. Die Konsequenz dieser Analyse ist, daß man für solchen theoretischen Fall genau wie bei früheren Krisen die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts braucht. Alle bisherigen Berlin-Krisen konnten vom Westen durchgestanden werden, weil ein ausreichendes Machtgegengewicht zur Verfügung stand. Das brauchen wir auch in Zukunft. Gerade weil es noch nicht sicher ist, daß die Verträge zustande kommen — da es noch nicht sicher ist, daß die Berlin-Regelung zustande kommt —, gerade deswegen ist die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts unausweichlich notwendig. Aber nicht nur deswegen. Auch wenn die Verträge zustande kommen, muß das Gleichgewicht gewahrt bleiben. Das ist weder für mich noch für den Bundeskanzler, noch für den Bundesaußenminister auch nur jemals für fünf Minuten Gegenstand des Zweifels gewesen." (Christ und Welt, 19. 3.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Ansprache am 21. März in Köln zur Eröffnung der „Woche der Brüderlichkeit 1971" u. a. aus:

„Wenn ich als Bundeskanzler zum Thema Menschenrechte und Brüderlichkeit spreche, dann habe ich zunächst daran zu denken, was der Staat tun kann. Toleranz kann sich aber erst dann wirksam, auch als gesellschaftliche Kraft, entfalten, wenn sie von möglichst vielen geübt wird. Sie kann nicht von oben befohlen werden. Gleichwohl sollten die politisch Agierenden durch ihr Verhalten mit möglichst gutem Beispiel vorangehen. Sie sollten den politischen Kampf bei aller notwendigen Härte fair und möglichst sachlich führen. Sie sollten es unterlassen, den politischen Gegner zu verunglimpfen oder gar zu verleumden. Die Koexistenz von Minorität und Majorität braucht die permanente Überprüfung und Korrektur. Wenn hier eine Regel gilt, dann diese: praktizierte Humanität taugt mehr als die Proklamation von Forderungen. Was ich damit meine, läßt sich konkret beschreiben: Man hat die Bundesregierung mit Kritik bedacht, weil im Warschauer Vertrag das Schicksal der Deutschen in Polen nicht fixiert wurde. Nun, die Volksrepublik Polen glaubt nach den Erfahrungen der zwei Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen behaupten zu müssen, daß es eine deutsche Minorität in ihren Grenzen nicht gebe. Wir hatten — wie übrigens alle Bundesregierungen bisher — nicht die geringste Chance, sie zum Verrücken dieser Position zu bewegen. Dennoch hat die polnische Regierung im Zusammenhang mit dem Vertrag anerkannt, daß Bürger deutscher Volkszugehörigkeit in ihrer Volksrepublik leben. Sie hat sich bereit erklärt, ihnen die Ausreise in die Bundesrepublik zu gewähren, wenn sie es wünschen. Sie hat dieses Wort gehalten. Monat für Monat steigen jetzt in Friedland zahlreiche Umsiedler aus den Zügen. Sie werden von ihren Angehörigen mit offenen Armen aufgenommen. Dennoch haben sie es gewiß nicht leicht, sich in unser Leben, das sich von ihrem gewohnten so 175

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gründlich unterscheidet, reibungslos einzufügen. Auch ihnen gegenüber können wir beweisen, was der Wille zur Nichtdiskriminierung auszurichten vermag. Im kleinen mag sich hier wiederholen, was wohl eine der bedeutendsten Leistungen ist, die unser Volk in diesem Jahrhundert nachzuweisen hat: die Eingliederung und Integrierung von zwölf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen — ein Prozeß, der sich durchaus nicht ohne Reibungen und ohne Widerstand, ohne diskriminierenden Aufenthalt und ohne Ressentiments vollzog. Er ist, alles in allem, geglückt. Das Gelingen dieser gewaltigen Umschichtung beweist, was eine sorgsame und übrigens mit Opfern verbundene Politik der inneren Entspannung auszurichten vermag. Dieser gute Geist unseres Volkes — und ich scheue nicht, ihn so zu nennen —, der sich in den uns gesetzten Grenzen bewährte, der sich in der Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn, Frankreich und den anderen, nach außen übertrug — er soll nun nach dem Willen der Bundesregierung in unseren Beziehungen zu den Nachbarn im Osten sichtbarer und wirksamer werden. Deshalb sage ich aus meiner Sicht: Unsere illusionslose, aber konkrete Politik der Entspannung ist die wahrhafte Realpolitik dieser Zeit." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 23. 3.1971) Der Erste Sekretär des Z K der KPdSU, B r e s c h j n e w , erstattet am 30. März auf dem X X I V . Parteitag der KPdSU den Rechenschaftsbericht des Z K der KPdSU, in dem es u. a. heißt:

„Im Kampf gegen den Imperialismus spielen die revolutionär-demokratischen Parteien, von denen viele den Sozialismus als ihr programmatisches Ziel erklären, eine immer größere Rolle. Die KPdSU entwickelt die Beziehungen zu ihnen aktiv. Wir sind davon überzeugt, daß die Zusammenarbeit solcher Parteien mit den kommunistischen Parteien, darunter auch mit denen in ihren eigenen Ländern, voll und ganz den Interessen der antiimperialistischen Bewegung und der Stärkung der nationalen Unabhängigkeit wie auch der Sache des sozialen Fortschritts entspricht. Wir unterstützen und entwickeln unsere Beziehungen zu den linkssozialistischen Parteien einer Reihe von Ländern des Westens, des Ostens und Lateinamerikas. Auf dieser Ebene wurde in den letzten Jahren eine recht aktive Arbeit geleistet. In Ubereinstimmung mit der Linie der Internationalen Beratung vom Jahre 1969 ist die KPdSU bereit, sowohl im Kampf für Frieden und Demokratie als auch im Kampf für den Sozialismus die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten weiterzuentwickeln, wobei sie selbstverständlich nicht ihre Ideologie und ihre revolutionären Prinzipien preisgibt. Diese Linie der Kommunisten stößt jedoch auf den hartnäckigen Widerstand seitens der rechten sozialdemokratischen Führer. Unsere Partei führt nach wie vor einen unversöhnlichen Kampf gegen alle Positionen, mit deren Hilfe die Arbeiterbewegung den Interessen des Monopolkapitals unterworfen und die Sache des Kampfes der Werktätigen für Frieden, Demokratie und Sozialismus zum Scheitern gebracht werden soll." 176

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„Neue Perspektiven in Europa eröffnen sich durch die wesentliche Veränderung unserer Beziehungen zur BRD. Während der gesamten Nachkriegszeit gingen wir wie auch unsere verbündeten Freunde davon aus, daß vor allem die Unantastbarkeit der Grenzen der europäischen Staaten die Grundlage für einen dauerhaften Frieden in Europa darstellt. Durch die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der BRD wird nunmehr die Unantastbarkeit der Grenzen, darunter auch der zwischen der DDR und der BRD sowie der Westgrenze des polnischen Staates, mit aller Bestimmtheit bestätigt. Im Zusammenhang mit der Frage einer Ratifizierung der erwähnten Verträge grenzen sich in Westdeutschland die politische Kräfte scharf voneinander ab. Man sollte annehmen, daß die realistisch denkenden Kreise in Bonn und in einigen anderen westlichen Hauptstädten jene einfache Wahrheit begreifen, daß die Verzögerung der Ratifizierung eine neue Vertrauenskrise in bezug auf die gesamte Politik der BRD auslösen und das politische Klima in Europa sowie die Aussichten auf eine internationale Entspannung verschlechtern würde. Was die Sowjetunion betrifft, so ist sie bereit, ihre im Zusammenhang mit dem Abschluß des sowjetisch-westdeutschen Vertrags übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen. Wir sind bereit, unseren Teil des Wegs zur Normalisierung und Verbesserung der Beziehungen zwischen der BRD und dem sozialistischen Teil Europas zu gehen, wenn selbstverständlich auch die andere Seite in Übereinstimmung mit Geist und Buchstaben dieses Vertrags handelt. Die positiven Veränderungen, die sich in letzter Zeit in Europa vollzogen haben, bedeuten nicht, daß die Probleme, die Europa vom Zweiten Weltkrieg als Erbe übernahm, völlig gelöst sind. Was ist zu tun, um die Lage in Europa weiterhin zu verbessern und bei der Gewährleistung der kollektiven Sicherheit in Europa sowie bei der Entwicklung der Zusammenarbeit sowohl auf bilateraler als auch auf gesamteuropäischer Basis Fortschritte zu machen? Die Einberufung einer gesamteuropäischen Beratung könnte zur Verbesserung der Lage in Europa insgesamt beitragen. Die Mehrzahl der europäischen Staaten tritt jetzt dafür ein. Die Vorbereitung einer solchen Beratung verlagert sich auf die Ebene der praktischen Politik. Aber die Versuche, die Entspannung in Europa zu verhindern, reißen nicht ab. Alle Staaten dieses Kontinents müssen nodi ernsthafte Anstrengungen unternehmen, damit eine gesamteuropäische Beratung einberufen wird. Zur Verbesserung des Klimas auf dem Kontinent ist es selbstverständlich notwendig, daß der sowjetisch-westdeutsche und der polnisch-westdeutsche Vertrag möglichst rasch in Kraft treten. Auch die mit West-Berlin zusammenhängenden Probleme müssen geregelt werden. Wenn die USA, Frankreich und Großbritannien ebenso wie wir von der Achtung der Allierten-Abkommen, die den Sonderstatus von West-Berlin festlegen, und von der Achtung der souveränen Rechte der DDR als eines unabhängigen sozialistischen Staates ausgehen werden, können die gegenwärtig stattfindenden Verhandlungen zum gegenseitigen Vorteil aller interessierten Seiten, darunter auch der Westberliner Bevölkerung selbst, erfolgreich zum Abschluß gebracht werden. Eine aktuelle Aufgabe ist ferner, daß gleichberechtigte, auf den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts beruhende Beziehungen zwischen der DDR 12

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und der BRD hergestellt und diese beiden Staaten audi in die UNO aufgenommen werden. Nicht geringe Bedeutung muß auch der Erfüllung der berechtigten Forderung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik beigemessen werden, das Münchener Abkommen von Anfang an als ungültig zu erklären." „Der aggressiven Politik des Imperialismus setzt die Sowjetunion eine Politik der aktiven Verteidigung des Friedens und der Festigung der internationalen Sicherheit entgegen. Die Hauptrichtungen dieser Politik sind gut bekannt. Unsere Partei und unser Sowjetstaat kämpfen gemeinsam mit den Bruderländern des Sozialismus und den anderen friedliebenden Staaten sowie mit heißer Unterstützung der Millionenmassen der Völker in der ganzen Welt schon viele Jahre in diesen Richtungen und verteidigen Frieden und Völkerfreundschaft. Die konkreten Hauptaufgaben dieses Kampfes sieht die KPdSU in der derzeitigen Situation in folgendem: — Liquidierung der Kriegsherde in Südostasien und im Nahen Osten sowie die Förderung einer politischen Regelung in diesen Gebieten auf der Basis der Achtung der Rechte der Staaten und Völker, die einer Aggression ausgesetzt sind; — die sofortige und entschiedene Abfuhr gegenüber allen Aggressionsakten und internationaler Willkür. Zu diesem Zweck müssen auch in vollem Umfang die Möglichkeiten der Organisation der Vereinten Nationen genutzt werden; — der Verzicht auf Gewaltanwendung und Drohung ihrer Anwendung für die Lösung von Streifragen muß ein Gesetz des internationalen Lebens werden. Die Sowjetunion schlägt ihrerseits den Völkern vor, die sich mit einem solchen Vorgehen einverstanden erklären, entsprechende bilaterale oder regionale Verträge abzuschließen; — auszugehen von der endgültigen Anerkennung der im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstandenen territorialen Veränderungen in Europa. Eine grundlegende Wende zu Entspannung und Frieden auf diesem Kontinent zu vollziehen. Die Einberufung und den Erfolg einer gesamteuropäischen Beratung zu gewährleisten; — alles Notwendige für die Gewährleistung der kollektiven Sicherheit in Europa zu tun. Wir unterstützen die gemeinsam von den Mitgliedländern des Warschauer Verteidigungsvertrages ausgedrückte Bereitschaft zur gleichzeitigen Annullierung dieses Vertrages und des Nordatlantikpakts oder, als ersten Schritt, zur Liquidierung ihrer militärischen Organisationen; — der Abschluß von Verträgen, die Kern-, chemische und bakteriologische Waffen verbieten; — zu erreichen, daß überall und von allen die Erprobung von Kernwaffen, einschließlich der unterirdischen, eingestellt wird; — die Schafffung von kernwaffenfreien Zonen in verschiedenen Gebieten der Welt zu fördern; — wir sind für die Kernwaffenabrüstung aller der Staaten, die im Besitz von Kernwaffen sind, und für die Einberufung einer Konferenz der fünf Atom178

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mächte — UdSSR, USA, VR China, Frankreich und Großbritannien — zu diesem Zweck; — die Aktivierung des Kampfes um die Einstellung des Wettrüstens aller Art. Wir sprechen uns für die Einberufung einer Weltkonferenz zur Erörterung der Abrüstungsprobleme in ihrem ganzen Umfang aus; — wir sind für die Liquidierung der ausländischen Militärbasen. Wir treten für die Reduzierung der Streitkräfte und der Rüstung in den Gebieten ein, in denen militärische Konfrontationen besonders gefährlich sind, vor allem in Mitteleuropa; — wir halten die Ausarbeitung von Maßnahmen für zweckmäßig, die die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Entstehens oder der absichtlichen Herbeiführung von militärischen Zwischenfällen und deren Auswachsen zu internationalen Krisen und einem Krieg vermindern. Die Sowjetunion ist bereit, eine vertragliche Abmachung über die Reduzierung der Militärausgaben in erster Linie der großen Staaten zu treffen; — die UNO-Beschlüsse über die Liquidierung der noch verbliebenen Kolonialregimes müssen völlig in die Tat umgesetzt werden. Erscheinungsformen von Rassismus und Apartheid unterliegen der allgemeinen Verurteilung und dem Boykott; — die Sowjetunion ist bereit, mit allen Staaten, die sich ihrerseits darum bemühen, Beziehungen gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit auf allen Gebieten zu vertiefen. Unser Land ist bereit, gemeinsam mit anderen interessierten Staaten an der Lösung solcher Probleme, wie dem Schutz der Umwelt, der Erschließung energiewirtschaftlicher und anderer natürlicher Ressourcen, der Entwicklung des Transport- und Nachrichtenwesens, der Vorbeugung und Liquidierung der gefährlichsten und verbreitetsten Krankheiten, der Erforschung und Erschließung des Kosmos und des Weltmeers, mitzuarbeiten." (Neues Deutschland, 31. 3.1971) I n der F r a g e s t u n d e d e s D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 2. April wird eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Dr. Czaja betr. Nichtlegitimierung der Vertreibung bei den Warschauer Verhandlungen behandelt:

„Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 115 des Abgeordneten Dr. Czaja auf: Enthält die Meldung im »Bulletin4 Nr. 161 von 1970, Seite 1707 Absatz 7, über die Nichtlegitimierung der Vertreibung bei den Warschauer Verhandlungen den Text einer präzisen völkerrechtlichen Vorbehaltserklärung, die der deutsche Bundesaußenminister bei der Plenarsitzung der polnischen und deutschen Delegation dahingehend abgegeben hat, daß ein Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen mit der Volksrepublik Polen keine Legitimierung jener Maßnahmen sein kann und darf, durch die Millionen Deutscher aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Gebieten vertrieben worden sind? 12·

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Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Moersdo, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Der Bundesminister des Auswärtigen hat im Verlaufe der Verhandlungen in Warschau förmlich erklärt, daß die Grenzregelung, wie immer sie aussehen möge, nicht als eine Legitimierung jener Maßnahmen, durch die Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, gedeutet werden könne und dürfe. Damit hat der Bundesminister des Auswärtigen klargestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland die Vertreibung nicht als mit dem Völkerrecht vereinbar anerkennt. Außerdem hat der Bundeskanzler in seiner Fernsehansprache anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags vom 7. Dezember 1970 folgendes erklärt — ich zitiere wörtlich —: Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte: Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja. Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Sie sagten, daß der Herr Bundesaußenminister das in Warschau erklärt hat. Ist diese Erklärung in Form einer präzisen völkerrechtlichen Vorbehaltserklärung vor der polnischen Delegation erfolgt? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, Sie haben zwei Fragen gestellt. Ich bin bereit, die zweite Frage ebenfalls zu beantworten. Dr. Czaja (CDU/CSU): Meine Zusatzfrage bezieht sich auf die erste von mir gestellte Frage. Ich bitte um eine Antwort auf die Zusatzfrage. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident, da diese Zusatzfrage der zweiten Frage entspricht, ist es, glaube ich, am besten, wenn ich zur Klärung des Sachverhalts jetzt zunächst einmal die zweite Frage beantworte, (Abg. Rawe: Ohne Einverständnis des Fragestellers geht das nicht!) Präsident von Hassel: Ich möchte auf folgendes hinweisen. Herr Kollege Czaja, es besteht die Möglichkeit, Ihre beiden Fragen gemeinsam aufzurufen. Sie haben dann vier Zusatzfragen. (Abg. Rawe: Aber Herr Czaja will es ja nicht!) Ich finde, wir sollten es der Einfachheit halber so machen, daß jetzt auch die Frage 116 aufgerufen und beantwortet wird. Sie behalten das Recht auf vier Zusatzfragen. Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Präsident, ich habe bereits zu meiner ersten Frage eine Zusatzfrage gestellt. Ich wäre dankbar, wenn diese Zusatzfrage nun beantwortet würde. Ich habe gefragt, ob diese Erklärung in Form einer präzisen völkerrechtlichen Vorbehaltserklärung vor der polnischen Delegation erfolgt sei. 180

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Präsident von Hassel: Herr Kollege Czaja, die zweite von Ihnen gestellte Frage, die Frage 116, hat den Wortlaut: Hat die polnische Verhandlungsdelegation diese Erklärung in völkerrechtlich wirksamer Form entgegengenommen? Dr. Czaja (CDU/CSU): Entgegengenommen! Ich habe eben danach gefragt, ob die Erklärung in einer bestimmten Form abgegeben worden ist. Präsident von Hassel: Diese subtilen Unterschiede kann ich persönlich im Augenblick nicht übersehen. Bitte schön, dann steht jetzt also zunächst die Zusatzfrage zur ersten Frage zur Beantwortung an! Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen : Diese Erklärung ist abgegeben worden. Dr. Czaja (CDU/CSU): Vor der polnischen Delegation? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ja. Präsident von Hassel: Dann rufe ich die Frage 116 des Abgeordneten Dr. Czaja auf: Hat die polnische Verhandlungsdelegation diese Erklärung in völkerrechtlich wirksamer Form entgegengenommen? Zur Beantwortung Herr Staatssekretär! Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die polnische Delegation hat auf die Erklärung des Bundesministers des Auswärtigen nicht geantwortet, ihr somit auch nicht widersprochen. Der Warschauer Vertrag wird daher von — (Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Kliesing [Honnef] : Sie also nicht entgegengenommen! — Abg. Dr. Apel: Reden Sie doch keinen Stuß!) Präsident Ende.

von Hassel: Einen Augenblick, die Beantwortung ist noch nicht zu

Moersd?, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Der Warschauer Vertrag wird daher von polnischer Seite nicht dahin ausgelegt werden können, daß er die Vertreibungen legitimiere; eine derartige Aussage ist in dem Vertrag auch nicht enthalten. Herr Präsident, ich möchte im Hinblick auf die Zwischenrufe hinzufügen, daß es mir völlig unverständlich erscheint, daß sich Abgeordnete des Hohen Hauses bemühen, eine von uns nach unserer Auffassung unwidersprochen und in wirksamer Form abgegebene Erklärung im Sinne anderer Interessen zu interpretieren. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist dodi eine unzulässige Kritik!) Präsident von Hassel: Einen Augenblick! Die Abgeordneten haben sich bei Fragen einer Wertung zu enthalten. Auch die Vertreter der Regierung haben 181

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sich bei Antworten einer Wertung zu enthalten. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, das letztere war eine Wertung, die ich nicht zulasse. (Beifall bei der CDU/CSU: — Abg. Dr. Apel: Der Präsident akzeptiert fortlaufend Wertungen seiner eigenen Fraktion! Darauf möchte ich aufmerksam machen! — Widerspruch von der CDU/CSU.) — Herr Dr. A p e l , ist Ihnen bekannt, daß Sie den Präsidenten in der Amtsführung nicht zu rügen haben? Ich rufe Sie zur Ordnung. Sie haben die Möglichkeit, das im Ältestenrat zur Sprache zu bringen. Das Wortprotokoll steht Ihnen zur Verfügung. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Apel: Das werde ich auch tun, Herr Präsident!) Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja. (Abg. Dr. Apel: Was ihr macht, sind Unverschämtheiten! — Zuruf von der CDU/CSU: Das sind ja völlig neue Regelungen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) — Ich bitte Sie, der Zusatzfrage zuzuhören. Herr Dr. Czaja hat das Wort. Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß ansonsten solche — (Fortgesetzter Wortwechsel zwischen Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD. — Anhaltende Unruhe. — Glocke des Präsidenten.) Präsident von Hassel: Darf ich bitten, der Zusatzfrage zuzuhören; Herr Dr. Czaja hat das Wort. Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß ansonsten solche völkerrechtlich wirksamen Vorbehaltserklärungen in schriftlicher Form gegen Quittung der Entgegennahme abgegeben werden, wie es beispielsweise Bundeskanzler Adenauer 1955 in Moskau getan hat? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, wenn Sie unbedingt auf 1955 anspielen wollen, kann ich Ihnen auch den tatsächlichen Hergang der Sache hier mitteilen. Aber hier geht es doch gar nicht darum, daß das irgendwie Vertragsgegenstand gewesen wäre, was Sie hier in der Frage anschneiden, sondern es geht darum, daß von unserer Seite eindeutig klargestellt worden ist, daß es sich hier nicht um eine friedensvertragsähnliche Regelung handelt, daß hier die Präambel nicht diese Passagen enthalten hat, die die andere Seite anfänglich einmal gewünscht hatte. Dadurch, daß wir die Präambel so formulieren konnten, wie wir das für akzeptabel hielten, und die polnische Seite nicht mehr auf ihren früheren Erwägungen bestand, war klargestellt, daß eben dies nicht mehr Gegenstand der Verhandlungen war, was Sie eben von uns verlangen. Deswegen war auch nicht eine Erklärung abzugeben in der Form, wie Sie sie offenbar wünschen. 182

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Idi mödite noch einmal darauf hinweisen, daß ich in meiner ersten Antwort bereits das gesagt hatte, was Sie nachher in der Zusatzfrage angemahnt haben. Deswegen war mir Ihre Zusatzfrage unverständlich. Ich habe erklärt: »Der Bundesminister des Auswärtigen hat im Verlaufe der Verhandlungen in Warschau förmlich erklärt.. / Wo anders sollte er denn förmlich erklären als gegenüber der polnischen Delegation? Das, was hier zur Debatte stand, ist somit in unserem Sinne ausreichend geklärt, und etwas mehr als ausreichend zu klären ist in internationalen Verhandlungen nach meiner Auffassung nidit denkbar. Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Czaja. Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß Polen in ständiger Rechtsauffassung, die auch wiederholt der Bundesrepublik Deutschland auf offiziellem Wege zur Kenntnis gebracht worden ist, auf dem Standpunkt steht, daß jede Gebietsveränderung nur vertretbar und hinnehmbar ist im Zusammenhang mit der Herstellung der Homogenität der Bevölkerung, und ist Ihnen bekannt, daß deshalb offensichtlich der Herr Bundesaußenminister sich zu einer Erklärung veranlaßt sah, deren Entgegennahme durch die polnische Regierung Sie aber noch nicht bestätigen konnten? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich muß schon sagen: ich verstehe diese Fragestellung nicht mehr. Sie haben offensichtlich meine vorherige Antwort nicht zur Kenntnis genommen. Möglicherweise war das auch nicht beabsichtigt. (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU. — Unruhe.) Denn ich erlebe das jetzt zum wiederholten Male. Ich habe vorher erklärt, daß in der Verhandlung über die Präambel ein polnischer Textvorschlag abweichend war von dem, was der deutsche Textvorschlag war, und daß es uns gelungen ist, diese Frage, die Sie hier anschneiden, aus dem Text herauszuhalten, daß also somit das geklärt worden ist, was nach deutscher Auffassung zu klären war. Wir haben hier die Auffassung der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesregierung zu vertreten und nicht irgendwelche andere Auffassungen. Diese Aufgabe hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen in Warschau erfüllt. (Abg. Kiep: Der Elefant im Auswärtigen Amt!) Präsident von Hassel: Verehrter Herr Staatssekretär, ich habe vorhin dargestellt, daß wir uns bemühen müssen, in einer guten Form beiderseits die Fragestunde hier zu behandeln. (Abg. Dr. Apel: Beiderseits! Sehr richtig!) — Beiderseits. (Abg. Dr. Apel: Sehr richtig!) Ich glaube, daß Sie mir zugeben werden, Herr Kollge Dr. Apel, daß die Bemerkungen des Vertreters der Regierung, daß es vielleicht nicht beabsichtigt war, eine Antwort entgegenzunehmen, nicht dem Stil der Fragestunde entspricht. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Sie müssen das Regieren noch lernen!) 183

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Die nächste Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Geßner! Dr. Geßner (SPD): Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß der Herr Kollege Czaja in den Vertrag etwas hineinlegt, was in dem Vertrag überhaupt nicht drinsteht? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Den Eindruck gewinne ich gelegentlich. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Kliesing. Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß nach den völkerrechtlichen Usancen eine Erklärung dann als entgegengenommen gilt, wenn sie vom Empfänger quittiert worden ist? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Das ist mir bekannt, Herr Abgeordneter. Aber in diesem Falle handelt es sich darum, daß das, was hier als Erklärung notwendig war oder gewünscht war, überhaupt nicht Gegenstand des Vertrages war. Der Unterschied zwischen dieser Erklärung in Warschau, die ohne Widerspruch abgegeben worden ist, und dem Brief, den wir beispielsweise der Regierung der Sowjetunion zur Frage der Wiedervereinigung, des Selbstbestimmungsrechts übergeben haben, ist ganz erheblich, weil der Brief in Moskau, der quittiert worden ist, zur Interpretation bestimmter Vertragspassagen nach unserer Auffassung notwendig war, während es sich hier um eine Erklärung handelt, die nicht innerhalb des Vertrages selbst behandelt worden ist und somit gewissermaßen eine politische Erklärung zur Verdeutlichung unserer Auffassung über historische Zusammenhänge darstellt. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Kliesing. Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind wir beide uns also darüber einig, daß diese Erklärung, die hier zur Diskussion steht, von der polnischen Regierung nicht quittiert und infolgedessen auch im völkerrechtlichen Sinne nicht entgegengenommen worden ist? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß es sich hier um einen Gegenstand handelt, der nicht einer völkerrechtlichen Regelung bedarf, sondern daß es sich hier um eine politische Auffassung handelt, in der die Bundesregierung an geeigneter Stelle, nämlich vor der polnischen Delegation, ihre politische Auffassung zur Kenntnis gebracht hat, die eine andere politische Auffassung ist, als sie in polnischen Publikationsorganen vertreten worden ist. Es war eine Frage, die nicht völkerrechtlich geregelt werden kann und die deswegen auch nicht völkerrechtlich geregelt wurde. Ich weise einfach das Ansinnen zurück, daß die Bundesregierung sich um die völkerrechtliche Regelung historisch umstrittener Fragen zu bemühen hat. Das eben ist in diesem Vertrag aus gutem Grunde nicht geschehen, weil dieser Vertrag in die Zukunft weisen soll und nicht Vergangenheitsbewältigung mit untauglichen Mitteln vornehmen soll. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Kliesing [Honnef] : Darum geht es ja gar nicht!) 184

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Präsident von Hassel: Ich lasse noch drei Zusatzfragen zu. Herr Abgeordneter Sieglerschmidt! Sie gier Schmidt (SPD): Herr Staatssekretär, wenn man zu Recht, wie Sie es tun, davon ausgeht, daß hier nicht eine Erklärung zum Vertrag, sondern gewissermaßen eine Erklärung für die Geschichte abgegeben worden ist, meinen Sie dann mit dem Fragesteller, daß die Ausstellung einer Quittung das geeignete Mittel ist, um Recht oder Unrecht in der Geschichte festzustellen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich bin Ihnen für diese Frage dankbar, weil sie die Absurdität des Zusammenhangs wirklich klarmacht. (Abg. Dr. Apel: Sehr gut! — Abg. Rawe: Jetzt hat er die Frage wieder nicht beantwortet! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Verzeihung! Ich lasse nur noch eine Zusatzfrage zu. — Herr Abgeordneter Haase! Haase (Kassel) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, die Erklärung sei gar nicht notwendig gewesen. Dann frage ich mich, warum sie der Herr Außenminister überhaupt abgegeben hat. (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Damit die Opposition künftig keine falschen Fragen stellen kann. (Heiterkeit und lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Apel: Sehr gut! — Oh-Rufe bei der CDU/CSU.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 114. Sitzung, 2. 4.1971) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 2. April eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Riedel (Frankfurt), D r . Bach, Dr. Marx (Kaiserslautern), Dr. Czaja, D r . Starke (Franken) und Genossen und der Fraktion der C D U / C S U (Drucksache VI/1945) vom 10. März wie folgt:

„Die Kleine Anfrage beantworte ich im Einvernehmen mit dem Bundeskanzleramt und dem Herrn Bundesminister des Innern wie folgt: 1. Wie viele deutsche Staatsangehörige leben nach den Unterlagen der Bundesregierung heute noch in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Gebieten? Nach den verfügbaren statistischen Unterlagen sind in den 1945 unter polnische Verwaltung gestellten östlichen Gebieten des Deutschen Reiches nach Abschluß der Aussiedlung etwa 1,1 Millionen Personen zurückgeblieben. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei um deutsche Staatsangehörige im Sinne der einschlägigen deutschen Gesetzgebung. Es gibt darüber jedoch keine genauen Zahlen und Unterlagen. 185

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Von dieser Bevölkerungsgruppe sind im Rahmen der seit 1950 durchgeführten Umsiedlung aus Polen einige hunderttausend Personen in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Die Zahl der noch im nördlichen Ostpreußen lebenden deutschen Staatsangehörigen wird auf etwa 500 geschätzt. 2. Sind in den Verhandlungen mit der Sowjetunion der Bundesregierung Angaben über die zahlenmäßige Stärke der noch im nördlichen Ostpreußen lebenden Deutschen gemacht worden? Sind Vereinbarungen über deren Grundrechte — ζ. B. dem Recht auf Freizügigkeit und Familienzusammenführung — sowie über ihre konsularische Betreuung getroffen worden? In den Verhandlungen mit der Sowjetunion wurden Zahlen über die noch im nördlichen Ostpreußen lebenden Deutschen nicht zur Sprache gebracht. Nach Auffassung der Bundesregierung ist für die Rückführung deutscher Staatsbürger weiterhin die deutsch-sowjetische Repatriierungsvereinbarung vom 8. April 1958 gültig. Die konsularische Vertretung deutscher Staatsbürger richtet sich weiterhin nach dem deutsch-sowjetischen Konsularvertrag vom 25. April 1958. 3. Ist der Bundesregierung bei den Verhandlungen mit der Volksrepublik Polen ein zahlenmäßiger Überblick über die in Ost- und Westpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Nieder- und Oberschlesien zurückgebliebenen deutschen Staatsangehörigen gegeben worden? Ein zahlenmäßiger Überblick wurde nicht gegeben. Polen teilt die deutsche Auffassung über die Staatsangehörigkeit der zurückgebliebenen Deutschen nicht, sondern betrachtet sie auf Grund der polnischen Gesetzgebung als polnische Staatsangehörige. 4. Wie vielen Deutschen ist es erlaubt worden, im Rahmen der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen Ende 1956 vereinbarten Familienzusammenführung gemäß der Verordnung 333 des Vorsitzenden des Polnischen Ministerrates vom 21. November 1956 die Volksrepublik Polen zu verlassen? Im Rahmen der Familienzusammenführung auf Grund einer Vereinbarung zwischen dem Deutschen und Polnischen Roten Kreuz vom 1. Dezember 1955 haben von diesem Datum bis Ende 1970 368 824 Deutsche Polen verlassen. 5. Welche Obhutspflichten ergeben sich für die Bundesrepublik Deutschland aus den Artikeln 14, 16 und 116 und anderen die Grundfreiheiten sichernden Artikeln des Grundgesetzes gegenüber den betroffenen Deutschen? Die Grundrechte des Grundgesetzes binden die Staatsgewalt in der Bundesrepubik Deutschland unmittelbar. In diese Grundrechte darf — außer in den vom Grundgesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen — nicht eingegriffen werden. Die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland sind gehalten, den grundgesetzlich geschützten Rechten auch im internationalen Bereich Rechnung zu tragen. In den Verhandlungen mit der Regierung der Volksrepublik Polen ist die Wahrung der Rechte der betroffenen Deutschen für die Bundesregierung ein wesentliches Anliegen gewesen. Die Bundesregierung hat ihm Rechnung getragen. 186

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

6. Welche Absprachen hat die Bundesregierung mit der polnischen Regierung getroffen, um die Freizügigkeit deutscher Staatsbürger und Volkszugehöriger sicherzustellen? In der ,Information der Regierung der Volksrepublik Polen', die gleichzeitig mit dem Vertragstext am 20. November 1970 veröffentlicht wurde, hat die polnische Regierung zugesichert, daß die Umsiedlung im Rahmen der Familienzusammenführung sowie von Personen, die auf Grund ihrer unbestreitbaren deutschen Volkszugehörigkeit auszureisen wünschen, erleichtert und beschleunigt werden soll. Die polnische Regierung hat ferner gemäß Ziffer 5 der Information zugesichert, daß nach Inkrafttreten des Vertrages Verwandtenbesuche erleichtert werden sollen. 7. Hat die Bundesregierung in ihren Verhandlungen in Warschau darauf hingewirkt, daß der betroffene Personenkreis durch die polnische Regierung über eventuell getroffene Absprachen sachdienlich unterrichtet wird? Nach Auffassung der Bundesrepublik ist sichergestellt, daß alle interessierten Personen von den getroffenen Vereinbarungen Kenntnis erhalten. Im Einverständnis mit der polnischen Seite hat die Bundesregierung die Information der Regierung der Volksrepublik Polen' über Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme am 20. November 1970 veröffentlicht. Im Anschluß daran ist die Information in der deutschen Presse, im Rundfunk und Fernsehen verbreitet worden. Insbesondere hat der Deutschlandfunk die Information und die mit der Umsiedlung zusammenhängenden Fragen in zahlreichen deutschen und polnischen Sendungen eingehend behandelt. Das Deutsche Rote Kreuz hat in Beantwortung zahlreicher Einzelanfragen Auskünfte sowohl an Personen in der Bundesrepublik Deutschland wie in Polen erteilt. Ebenso erteilt unsere Handelsvertretung in Warschau interessierten Personen Auskunft. 8. Hat die Bundesregierung bei diesen Verhandlungen sichergestellt, daß bei der Annahme und Abwicklung von Ausreiseanträgen von Personen, die in den in Artikel 116 GG bezeichneten Gebieten leben, auf jede Diskriminierung gegenüber dem Antragsteller verzichtet wird? Die polnische Regierung hat in der ,Information' zugesichert, daß die aufgeführten Personen, die auszureisen wünschen, dies unter Beachtung der in Polen geltenden Gesetze und Rechtsvorschriften tun können. 9. Hat die Bundesregierung durch entsprechende Absprachen mit der polnischen Regierung Vorsorge getroffen, daß den jetzt noch in den angestammten Heimatgebieten verbliebenen Deutschen ihre Menschenrechte in vollem Ausmaß gesichert werden? Bei dem in Frage stehenden Personenkreis handelt es sich aus polnischer Sicht um polnische Staatsangehörige, denen nicht mehr und nicht weniger Rechte zustehen als allen anderen polnischen Staatsangehörigen. Die Bundesregierung hat die deutsch-polnischen Gespräche und Verhandlungen genutzt, um die Probleme der in Polen zurückgebliebenen Deutschen einge187

Herbert G. Marza

hend zu erörtern. Die Absprachen, die in bezug auf menschliche Erleichterungen gegenwärtig getroffen werden konnten, sind in der »Information* festgehalten. Darüber hinaus ist auf das gemeinsame Kommuniqué beider Regierungen zu verweisen, das anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages veröffentlicht wurde und in dem es heißt: ,Der durch die Unterzeichnung des Vertrages begonnene Normalisierungsprozeß soll nach Auffassung beider Seiten den Weg zur Beseitigung der noch bestehenden Probleme im Bereich der zwischenstaatlichen und menschlichen Beziehungen ebnen.' Die Bundesregierung erwartet, daß im Verlauf des Normalisierungsprozesses weitere menschliche Erleichterungen erreicht werden können. 10. Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß der betroffene Personenkreis nach einer etwaigen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen den vollen diplomatischen Schutz der Bundesregierung genießt? Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die im allgemeinen die Aufnahme konsularischer Beziehungen einschließt, wird die Gewährung diplomatischen Schutzes und konsularischen Beistands im Rahmen der dafür geltenden völkerrechtlichen Regeln möglich. Zu diesen Regeln gehören auch die im Völkerrecht entwickelten Grundsätze über die gegenseitige Behandlung von Personen, die sowohl vom Entsendestaat als auch vom Empfangsstaat als seine eigenen Staatsangehörigen betrachtet werden. Moersd?" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drucksache VI/2056, 2. 4. 71) Der sowjetische Außenminister G r o m y k o führt in einer Rede auf dem X X I V . Parteitag der K P d S U am 3. April in Moskau u. a. aus:

„Unsere Partei trennt den Bereich des ideologischen Kampfes, der sich mit aller Kraft entfaltet und in dem es keinen Frieden, keinen Waffenstillstand geben kann, scharf von dem Bereich unserer zwischenstaatlichen Beziehungen mit den kapitalistischen Ländern, die auf den Leninschen Prinzipien der friedlichen Koexistenz aufgebaut sind. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten schlagen vor, alle internationalen strittigen Probleme auf friedlichem Wege, auf dem Wege von Verhandlungen zu lösen. Unsererseits tun wir alles, was von uns abhängt, um solche Lösungen zu finden. Das ist die einzige realistische Methode des Handelns... Große Bedeutung widmet unser Land bei der Durchführung seiner Politik dem Streben nach Abkommen sogar mit solchen Staaten, die einen anderen politischen Kurs befolgen. Manchmal fragt man, welche reale Bedeutung Abkommen mit einigen Staaten hätten, wenn diese Abkommen von ihnen nicht immer eingehalten werden? Manchmal wird diese Frage auch auf einer anderen, sagen wir es offen, provokatorischen Ebene gestellt, wenn ein beliebiges Abkommen mit kapitalistischen Staaten geradezu als ,Komplott* deklariert wird. Natürlich gibt niemand eine Garantie, daß ein abgeschlosse188

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

" ner Vertrag von unseren Partnern auch immer eingehalten wird. Audi hier geht häufig ein Kampf vor sich. Die Sowjetunion steht in diesem Kampf stets auf dem Standpunkt, daß internationale Verträge und Abkommen streng eingehalten werden müssen. Was jedoch die oben erwähnten Erklärungen über ,Komplotte* betrifft, so glauben daran nicht einmal jene, die sie abgeben. Die außenpolitische Tätigkeit unseres Landes nach dem XXIII. Parteitag der KPdSU stärkt die Hoffnungen der Völker auf Frieden in bedeutendem Maße. In Europa entwickeln sich unsere Beziehungen zu Frankreich gut. Auch mit Italien haben sie gute Fortschritte gemacht. Millionen Menschen auch außerhalb der Länder des Sozialismus sehen in der Unterzeichnung der Verträge zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland auch für sich einen Erfolg, einen bedeutenden Beitrag zur Normalisierung der Lage in Europa. Die Inkraftsetzung dieser Verträge, die Regelung der Probleme, die in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den sozialistischen Staaten Europas bestehen, die Durchführung einer gesamteuropäischen Konferenz zu Fragen der Sicherheit sowie der erfolgreiche Abschluß der Verhandlungen über West-Berlin sind wichtige Schritte auf dem Weg von einem Europa der Konflikte zu einem Europa des stabilen Friedens. Diese Schritte müssen parallel erfolgen, ohne erst den Abschluß einer Angelegenheit für den Ubergang zu einer anderen abzuwarten." (Sowjetunion heute, 16. 4.1971) Der Erste Sekretär des Z K der PZPR, G i e r e k , führt in einem Bericht auf der 9. Plenartagung des Z K der P Z P R in Warschau am 16. April u. a. aus:

„Die Beschlüsse des Parteitages der KPdSU enthalten ein umfassendes Programm des Kampfes um eine friedliche Entwicklung in der Welt. Dieses gilt auch für die Situation in Mitteleuropa, einer Zone, die für uns von besonderem Interesse ist. Polen wird bei der Verwirklichung dieses Programms mit der Sowjetunion und anderen Ländern des Warschauer Vertrages aktiv zusammenarbeiten. Wir teilen die Auffassung des Genossen Breschnjew, daß sich in Europa heute, vor allem dank der ernsthaften Wende in den Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten und der BRD, neue Perspektiven eröffnen. Breschnjew erklärte: ,Die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der BRD bestätigten in konkretester Weise die Unverletzlichkeit der Grenzen, einschließlich der Grenze zwischen der DDR und der BRD sowie der Westgrenze des polnischen Staates*. Polen hat zur Entspannung in Europa, einschließlich des Prozesses zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern und Westdeutschland, der mit dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 eingeleitet wurde, einen großen Beitrag geleistet. Von großer Bedeutung ist der am 7. Dezember vergangenen Jahres in Warschau geschlossene Vertrag zwischen Polen und der BRD. So wie die Sowjetunion sind auch wir bereit, unsere aus diesem Vertrag sich ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Wir haben das vielfach betont. Heute hängt jedoch ein Fortschritt in der Normalisierung 189

Herbert G. Mara

der Beziehungen allein von der Haltung der BRD, vor allem von der Ratifizierung der geschlossenen Verträge ab." „Polen tritt konsequent für die volle Normalisierung der Beziehungen in Mitteleuropa ein. Deshalb ist es erforderlich, daß die BRD das Münchener Abkommen als von Anbeginn null und nichtig anerkennt. Notwendig ist ferner die Regelung der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR nach den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts. Auch die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen würde ein wichtiger Entspannungsfaktor sein." (PAP, englisch, 16. 4.1971) Bundesminister S c h m i d t führt in einem Vortrag am 21. April vor der Princeton Universität, N e w York, u. a. aus:

„Einige Leute meinen, wenn die Bundesrepublik einen Vertrag mit der Sowjetunion über Gewaltverzicht hätte, könnten sich die USA ja aus Europa zurückziehen oder die Bundesrepublik könnte aus der NATO ausscheiden oder die Bundeswehr aufgeben oder dergleichen Naivitäten mehr. Unsere Ost-Verträge, sobald sie ratifiziert sind, werden um so mehr Bedeutung haben für die zukünftige nachbarliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen diesen Völkern im Osten und unserem eigenen Volk, je sicherer beide Seiten sich auf die Erhaltung des Gleichgewichts verlassen können. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts ist nicht nur unser Interesse. Es ist auch das Interesse Polens, Ungarns, Rumäniens und ihrer politischen Führer, ganz zu schweigen von den Jugoslawen, von den Schweden oder von den Neutralen insgesamt. Dies ist so, weil nur ein stabiles Gleichgewicht einen gewissen Spielraum für eine autonome nationale Politik beläßt. Die Ostpolitik der deutschen Bundesregierung ist häufig unter dem Aspekt möglicher Rückwirkungen auf die Sicherheit des Westens insgesamt diskutiert worden. Ich nehme deshalb gern diese Gelegenheit wahr, mich mit diesem Komplex zu beschäftigen. Für die deutsche Bundesregierung haben sich die sicherheitspolitischen Gegebenheiten durch unsere Entspannungspolitik nicht verändert und sollten sich auch nicht ändern. Ich möchte diese Aussage durch fünf Thesen kurz erläutern: 1. Wir verstehen unser Bemühen um eine Entspannung nach Osten als einen Beitrag zum weltweiten Streben nach Entspannung, der die Sicherheit durch zusätzliche Beziehungen verbessern soll. Die deutsche Bundesregierung hat nicht die Absicht, ζ. B. den Verzicht auf Gewalt, die Respektierung des territorialen Status quo sowie die wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit gegen andere Sicherheitsfaktoren aufzurechnen oder einzutauschen oder gar im Bündnis für eine einseitige Verminderung der Verteidigungsanstrengungen einzutreten. 2. Dies bedeutet: Unsere Politik in Richtung Osteuropa verändert die politischen, militärischen, rechtlichen oder wirtschaftspolitischen Grundlagen unserer Sicherheit nicht. 190

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3. Gerade mit der Sowjetunion konnte sich die Bundesrepublik nur auf Verhandlungen einlassen, weil sie von Moskau als Mitglied der NATO und der Europäischen Gemeinschaft ernstgenommen wird. 4. Die in den USA vernehmbare Forderung nach Reduzierung der US-Truppen in Europa, die im amerikanischen Kongreß gelegentlich im Zusammenhang mit der deutschen Ostpolitik erörtert worden ist, hat in Wahrheit nichts damit zu tun. Die Mansfield-Resolution ist weit älteren Datums und hat rein inner-amerikanische Hintergründe. Aber verfrühte oder einseitige Schritte in Richtung auf Verringerung nur der westlichen Seite der europäischen Gleichung würden unsere Ostpolitik zweifellos ihrer Grundlage berauben. Dies ist einer der Gründe dafür, daß beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen jeder anderen Art der Verminderung der westlichen Streitkräfte in Europa vorzuziehen ist. 5. Für die Bundesregierung ergibt sich deshalb die Verpflichtung, — die eigenen Verteidigungsanstrengungen nicht zu vermindern, — sich wirkungsvoll dafür einzusetzen, daß die amerikanische militärische Präsenz in Europa erhalten bleibt, — in der europäischen Integration eine aktive Rolle zu spielen und — in der Auseinandersetzung um Berlin fest zu bleiben. Wir sind uns darüber klar, daß jede Politik Risiken enthält — und der Erfolg ist keineswegs garantiert. Aber wir haben das Risiko, soweit das möglich ist, dadurch begrenzt, daß wir diese Politik auf der festen Basis der ständigen Konsultation und des allgemeinen Konsensus zwischen den westlichen Verbündeten und auf der Grundlage gemeinsam ausgearbeiteter Verhandlungsmethoden betreiben. Bei den Völkern Osteuropas und in unserem eigenen Volk wird eines jedenfalls immer deutlicher: 25 Jahre nachdem der Zweite Weltkrieg zu Ende ist, wächst die Sehnsucht, nun endlich zu nachbarschaftlichen Verhätnissen zu kommen. Auch in den USA ist man derselben Auffassung. Ich habe in Ihrem Land viele Leute getroffen, die sich positiv vor allem über unsere Bemühungen geäußert haben, durch Abschluß eines Vertrages mit Warschau zu einer Bereinigung der Spannungen zu kommen, die für das deutsch-polnische Verhältnis so lange bestimmend waren." „An dieser Stelle möchte ich auf eine Frage eingehen, die einem zuweilen hier vor allem von manchen meiner Landsleute aus den Reihen unserer parlamentarischen Opposition, die in den USA zu Besuch weilen, gestellt wird: Welches sind die Gegenleistungen der Sowjetunion beim deutsch-sowjetischen Vertrag und gewinnt sie nicht mehr als sie gibt? In Wahrheit ist die sowjetische Führung zumindest ein doppeltes Risiko eingegangen, als sie diesen Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland aushandelte und unterschrieb. Sie ist erstens das Risiko eingegangen — und man sieht ja heute, daß das für sie nicht leicht war — ihre Genossen in Ost-Berlin dazu zu bringen, einer für uns und die drei Westmächte befriedigenden Regelung für West-Berlin zuzustimmen. Die sowjetische Führung wußte von Anfang an, daß keine Regierung den Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Ratifikation vorlegen wird, wenn nicht eine befriedigende Berlin-Regelung zustande kommt. Wir 191

Herbert G. Marza

meinen, es hat keinen Sinn, einen Vertrag über Gewaltverzicht mit der Sowjetunion zu schließen, wenn Berlin davon ausgenommen bleibt. Niemand weiß besser als Bundeskanzler Willy Brandt, berühmter Bürgermeister Berlins in vielen kritischen Jahren, daß dieser Ort seit 25 Jahren immer wieder der Hebel war, um neue Weltkrisen zu entfachen. Es wäre sinnlos, und es schaffte keinen Frieden in Europa, wenn Berlin bei der Entspannung ausgenommen würde." „Das zweite Opfer, das die Sowjetunion im Zusammenhang mit dem deutschsowjetischen Vertrag bringen mußte, und das wir in unserer Vorstellung von einer totalitär beherrschten Gesellschaft vielleicht gar nicht richtig sehen, ergibt sich aus der sowjetischen Gesellschaft und aus der Gemeinschaft der kommunistischen Staaten. Die sowjetische Führung hat in einer erstaunlichen Weise ihrem eigenen Volk den Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages in Zeitungen, Fernsehen und Wochenschauen publiziert. Sie hat ihn als einen großen Erfolg gefeiert. Vorher war es eines der wichtigsten Instrumente zur Beherrschung der osteuropäischen Völker, die Angst vor der angeblichen imperialistischen und revanchistischen Bundesrepublik Deutschland zu schüren. Die kommunistischen Führer osteuropäischer Länder haben jahrelang die Angst vor der Bundesrepublik Deutschland als Herrschaftsinstrument benutzt — oft wider besseres Wissen. Und jetzt hat die sowjetische Führung die Öffentlichkeit davon unterrichtet, daß sie einen Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland schließt, der die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bildet. Drittens: Die Sowjets haben der Bundesrepublik Deutschlands das versprochen, was ihr die Westmächte bereits 1955 versprochen haben, nämlich, sie nach den Grundsätzen des Art. 2 der UN-Charta zu behandeln und von jedem Versuch einer einseitigen Intervention in Deutschland unter Berufung auf die Artikel 53 und 107 abzusehen. Dies allein ist schon ein Gewinn." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 22. 4. 71) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem am 23. April ausgestrahlten Interview mit dem Deutschen Fernsehen u. a. aus:

„Frage: Aber kann es nicht so sein, daß das Moskauer Interesse an dem deutsch-sowjetischen Vertrag nachläßt, daß er sozusagen in dem Spiel um Berlin weniger wirkt, wenn es eben nicht gelingt, ihn in den Ratifizierungsprozeß im Laufe dieses Jahres zu bekommen? Antwort: Das glaube ich nicht, denn da sind noch andere Faktoren mit im Spiel. Daß wir den sachlichen Zusammenhang zwischen dem Vertrag und Berlin sehen, haben wir nicht nur im vorigen Jahr in Moskau gesagt, sondern das hat im Grunde auch der sowjetische Außenminister Gromyko auf dem Parteitag gesagt, der kürzlich in Moskau stattfand. Er hat es ,Parallelismus' genannt, wir haben es »sachlichen Zusammenhang' genannt. Frage: Nun kann es ja so sein, daß in dem sowjetischen Papier noch Luft drin ist, daß das, was jetzt als für uns negative Position angesehen werden 192

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muß, verhandlungsfähig ist. Aber nehmen wir einmal an, es komme nicht zu einer Berlin-Übereinkunft, was machen wir dann? Gibt es eine Auffangposition, ist die vorbereitet, einfach für den Fall. Es wäre ja für die Regierung als solche schwierig, für den Vertrag und die Berlin-Regelung nichts zu bekommen, aber für die Bundesrepublik als solche überhaupt mindestens ebenso schwer auf lange Zukunft. Antwort: Ich könnte sagen, was auch einen Sinn ergeben würde: Wir könnten vor unserem eigenen Volk und auch draußen in der Welt bestehen, wenn wir nachwiesen, daß wir uns ehrlich bemüht haben, auch wenn es dann noch nicht zu einer Öffnung oder gar zu einem Erfolg führt. Ich sage dies jetzt nicht, sondern ich sage statt dessen folgendes: Die Führung der Sowjetunion und andere wissen ganz genau, daß das Atlantische Bündnis gesagt hat: Berlin ist — so steht es nicht im Kommuniqué, aber ich sage es jetzt auf meine Weise — das Nadelöhr, durch das nicht nur der deutschsowjetische Vertrag hindurch muß, sondern durch das auch das hindurch muß, was mit der Vorbereitung einer Konferenz über Sicherheit in Europa zusammenhängt. Was ich sagen will, ist folgendes: Wenn es, was ich nicht erwarte, zu einem sehr unbefriedigenden Stadium dieser Erörterungen kommen sollte, würde dies nicht allein die bilateralen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und uns berühren, sondern es würde das sowjetische Interesse berühren, aber nicht nur das sowjetische, das allgemeine Interesse von West und Ost an einer verantwortlichen Gesamterörterung der Sicherheitsprobleme, die Europa berühren. Ich glaube, das ist ein Kitt, mit dem sich noch eine ganze Menge machen läßt.« (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 27. 4. 71) Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, D r . C z a j a , führt in einem Artikel „ I m Schlepptau der sowjetischen Europapolitik" im „Deutschen Ostdienst" vom 26. April u. a. aus:

„Sogar der deutsche Wortlaut des Artikels 3 des Moskauer Vertrages, noch stärker der russische Wortlaut, insbesondere die sowjetrussische Interpretation dieses Artikels, enthalten die Gefahr, daß das Eintreten für die Regelung der Grenzen Gesamtdeutschlands erst in einem Friedensvertrag, für das freie Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes, für die politische Zusammengehörigkeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem freien Berlin, für eine zukünftige Hauptstadt Berlin in einem freien Gesamtdeutschland, für das Eintreten gegen die stillschweigende Hinnahme der Folgen der völkerrechtswidrigen Massenvertreibung und für das Recht auf Freizügigkeit von und zum angestammten Wohnsitz in Deutschland, in seinem audi im Potsdamer Protokoll und bei der Übernahme der Besatzungsmacht anerkannten Umfang sowie für die freie Entfaltung daselbst nach freier Entscheidung des einzelnen Deutschen, das Auftreten mit politischen und friedlichen Mitteln gegen die Anerkennung völkerrechtswidriger Annexionen und des Faustrechts in Europa als Gefährdung des Friedens und als Vorbereitung von Aggressionen bezeichnet werden." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 14/15 vom 26. 4. 71) 13

Königsberg

193

Herbert G. Mara I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n Bundestages am 30. April werden aufgrund von Anfragen von Abgeordneten der C D U / C S U Fraktion Äußerungen des stellvertr. polnischen Außenministers Willmann behandelt:

„Vizepräsident Dr. Jaeger: Keine Zusatzfrage? — Dann komme ich zur Frage 103 des Abgeordneten Freiherr von Fircks: Ist der Bundesregierung bekannt, daß die polnische Militärmission

in West-

Berlin die Erteilung von Besucherreisevisen an Bundesbürger und Westberliner ζ. T. ablehnt, wenn im deutschen Reisepaß der Geburtsort des Antragstellers auch bei vor 1945 geborenen Personen in Übereinstimmung mit der Geburtsurkunde in der deutschen (statt der polnischen) Ortsbezeichnung eingetragen ist, und welche geeigneten Schritte zur Abhilfe wird die Bundesregierung ggf. unternehmen? Bitte sehr, Herr Staatssekretär! Afoeric/;, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Der Bundesregierung ist bekannt, daß in der Vergangenheit derartige Schwierigkeiten aufgetreten sind. Inzwischen soll die Ortsbezeichnung maßgebend sein, wie sie sich aus der Geburtsurkunde ergibt. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage.

Freiherr von Fircks (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß eine Reisende, die mehrfach ihr Visum bekommen hat, unter Vorlage ihres Ausweises, in dem ,Hindenburg' als Geburtsort verzeichnet war, jetzt einen ablehnenden Bescheid bekommen hat, mit dem Hinweis, daß nach einem neuen Gesetz, das in diesem Jahr erlassen worden sei — also nach den Verhandlungen über den Vertrag — die polnische Militärmission in Berlin sich außerstande gesehen habe, ebenso zu verfahren wie in früherer Zeit? Es ist also jetzt eine Erschwernis eingetreten. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, der von Ihnen hier geschilderte Fall ist mir in dieser Form nicht bekannt. Ich wäre allerdings gerne bereit, dem nachzugehen. Mir ist aber bekannt, daß tatsächlich gerade der Fall Hindenburg/Zabrze als Sonderproblem betrachtet wird und daß hier zweifellos auch nach polnischer Auffassung immer ein Sonderproblem vorgelegen hat. Dies ist insofern nicht neü.

Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr Czaja.

Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, würden Sie diesen Fall zum Anlaß nehmen, das ganze seit etwa einem halben Jahr eingeführte Verfahren der Besuchsreisen und der Visen über die Organisation ,Darpol' einer klaren Durchleuchtung zu unterwerfen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich glaube nicht, daß ein Einzelfall, der bisher nicht einmal auf amtliche Weise bekanntgeworden ist, Anlaß ist, nun ein Verfahren völlig zu ändern, das sich in den vergangenen Jahren durch Gespräche, die 194

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wir selbst geführt haben, im allgemeinen durchaus gebessert hatte. Daß es auf der anderen Seite Beamte geben mag, die hier nidit sehr großzügig verfahren, ist bekannt, aber wir hatten vor längerer Zeit eine Regelung gefunden, die jedenfalls — im Gegensatz zu früheren Zeiten — keinen Anlaß mehr zu speziellen Klagen gegeben hat. Idi bin aber gerne bereit, die Frage einmal zu prüfen, ob hier die Notwendigkeit einer erneuten Intervention gegeben ist. Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich komme zur Frage 104 des Abgeordneten Dr. Marx (Kaiserslautern): Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassungen, die der stellvertretende polnische Außenminister Willmann in einem Interview mit der kommunistischen Zeitschrift »Unsere Zeit' am 3. April 1971 vertreten hat, und insbesondere seine Behauptung, daß aus dem unzweideutigen Text des deutschpolnischen Vertrages hervorgehe, ,daß die Bundesregierung nur im Namen eines imaginären Deutschland spricht und handelt?' Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident, ich darf zunächst kurz eine Vorbemerkung zu den nachfolgenden Fragen machen. Diese Fragen beziehen sich auf eine Veröffentlichung im Organ der Deutschen Kommunistischen Partei. Es ist unverkennbar, daß es sich bei dieser Veröffentlichung um eine tendenziöse Darstellung handelt. Wir haben einen gewissen Grund zu der Annahme, daß die polnische Seite die Darstellung im Organ der DKP nicht als eine authentische Wiedergabe polnischer Auffassungen betrachtet. Und ich darf hinzufügen, für die Bundesregierung sind insbesondere die amtlichen polnischen Erklärungen maßgebend, die unmittelbar ihr gegenüber abgegeben werden. Damit komme idi zur Frage 104 von Herrn Abgeordneten Dr. Marx. Herr Kollege, das von Ihnen angeführte Zitat ist offensichtlich widersinnig. Wenn es die zutreffende Wiedergabe einer Äußerung des stellvertretenden polnischen Außenministers sein sollte, müßte man sich in der Tat fragen, wieso dann die polnische Regierung überhaupt einen Vertrag mit der Bundesregierung geschlossen hat. Vizepräsident

Jaeger: Eine Zusatzfrage.

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie haben angedeutet, daß es sich hier offenbar um eine nicht korrekte Wiedergabe handelt. Welche Schritte haben Sie unternommen, um festzustellen, ob der stellvertretende polnische Außenminister diese Äußerungen so, wie sie hier teilweise in indirekter Rede, teilweise als Zitat wiedergegeben sind, gemacht hat oder ob es sich um eine Mystifikation handelt? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es ist an sich nicht üblich, daß man Äußerungen, die in einem Organ der DKP erschienen sind, bei einer fremden Regierung im einzelnen verifiziert und sozusagen eine authentische Interpretation erbittet. Wir haben aber durch bestimmte Kontakte Gelegenheit gehabt, festzustellen, daß die polnische Seite doch offensichtlich ein wenig überrascht über eine 13*

195

Herbert G. Marztart

Art der Wiedergabe gewesen ist, die offenbar von ihrer Seite so nicht ins Auge gefaßt worden war. Vizepräsident Marx.

Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr.

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, da wir uns ja nicht die Quellen aussuchen können, in denen andere agieren, möchte ich noch einmal auf die letzte Zeile meiner schriftlich eingereichten Frage zurückkommen, wo es heißt, die Bundesregierung spreche nur im Namen eines ,imaginären Deutschland*. Meine Frage dazu lautet: Ist die Bundesregierung bereit, Äußerungen dieser Art, die wiederholt in den letzten Monaten in Organen nicht nur der polnischen Presse aufgetreten sind, zurückzuweisen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat das dort getan, wo immer es ihr notwendig erschien. Und es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß unsere Gesprächspartner über den Standpunkt der Bundesregierung, für wen sie spreche, nicht im unklaren gelassen worden sind und auch weiterhin nicht im unklaren gelassen werden. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Breidbadi zu einer Zusatzfrage.

Breidbach (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, nachdem Sie dargelegt haben, Sie hätten Grund zu der Annahme, daß die Wiedergabe dieses Gesprächs des polnischen Außenministers mit der Zeitschrift »Unsere Zeit* unter Umständen nicht dem tatsächlichen Gesprächsverlauf entsprechen könnte, frage ich Sie: Wie könnten Sie in Konkretisierung Ihrer Antwort das, was Sie als ,Grund zu der Annahme' bezeichnet haben, noch etwas näher präzisieren? (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Das hat er doch schon gesagt!) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich glaube, daß ich mich deutlich ausgedrückt habe. Ich habe auch gesagt — ich verweise darauf —, daß für die Bundesregierung die amtlichen Äußerungen der polnischen Seite maßgebend sind, die ihr gegenüber abgegeben werden. Ich halte es nicht für ein sinnvolles Verfahren, eine Zeitung der DKP, die sonst in diesem Hause nicht unbedingt als seriöse Quelle angesehen wird, wenn ich mich recht entsinne, (Beifall bei der SPD) zum Gegenstand diplomatischer Aktionen zu machen. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Sperling.

Dr. Sperling (SPD): Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht auch für merkwürdig, daß die Opposition den Bemühungen der DKP, im trüben zu fischen, mehr Authentizität verleiht, als ihnen eigentlich zukommt? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es ist nicht meine Aufgabe, hier irgendwelche Wertungen vorzunehmen, aber ich habe die schriftlich eingereichten Fragen eigent196

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

lidi nidit in dem Sinne verstanden, der möglicherweise durch die Zusatzfragen jetzt bei Ihnen als Eindruck entstanden ist. Vizepräsident Fircks.

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Freiherr von

Freiherr von Fircks (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie sagten dem Kollegen Marx soeben, Sie hätten es überall dort zurückgewiesen, wo es Ihnen als notwendig erschienen sei. Könnten Sie durch Ihr Haus veranlassen, daß uns dazu Quellenangaben gemacht werden? (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Was ist das für eine Merkwürdigkeit? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich glaube, aus Ihrer Frage ein in der Praxis überhaupt nicht begründetes Mißtrauen gegenüber den Organen der Bundesregierung herauszuhören. (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Sehr richtig!) Ich bin der Meinung, daß es unangebracht ist, die Politik der Bundesregierung in dieser Weise in Zweifel zu ziehen. (Beifall bei der SPD) Es ist in der Vergangenheit wie in der Gegenwart immer die Aufgabe der dafür zuständigen Beamten gewesen, die Gelegenheiten zu nutzen, die auf diplomatischem Wege gegeben sind, um unseren Standpunkt zu vertreten. Wenn Sie den deutschen Interessen dienen wollen, kann idi Ihnen in diesen Fragen nur Behutsamkeit gepaart mit Festigkeit empfehlen. (Beifall bei der SPD) Das ist die Art, wie die Bundesregierung das zu regeln pflegt. Vizepräsident Dr. Jaeger: Wir kommen zur nächsten Frage des Abgeordneten Dr. Marx, Frage 105: Bedeutet nach Auffassung der Bundesregierung die Meinung des stellvertretenden polnischen Außenministers Willmann ,aber wir werden nicht gestatten, daß unter dem Schlagwort Familienzusammenführung bei uns eine Abwerbung von Arbeitskräften betrieben wird', daß die in Polen bisher nicht veröffentlichte »Information der Regierung der Volksrepublik Polen... über Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme' von polnischer Seite restriktiv ausgelegt wird? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die Antwort lautet nein. Diese wiedergegebene Äußerung nimmt offensichtlich Bezug auf die am 12. November 1970 veröffentlichte ,Information* der polnischen Regierung, in der es heißt:

Sie — die polnische Regierung — war und ist jedoch nicht damit einverstanden, daß ihre positive Haltung in der Frage der Familienzusammenführung für eine Emigration zu Erwerbszwecken von Personen polnischer Nationalität ausgenutzt wird. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Marx zu einer Zusatzfrage. 197

Herbert G. Mara

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, stimmen Ihre Beobachtungen mit den unseren überein, daß sich in den letzten Wochen in polnischen Presseorganen Kommentare, Nachrichten und Beurteilungen häufen, die den Gedanken, der in der zweiten Frage wiedergegeben ist, in einer noch breiteren Weise als amtliche polnische Befürchtung deutlich machen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich hatte aus gewissen Presseveröffentlichungen den Eindruck, daß die Entwicklung, die nach dem Gespräch mit Warschau eingetreten war, die auch ganz andere Komponenten hatte, vielleicht nicht in allen Teilen so vorausgesehen worden ist, so z. B. der Andrang der Antragsteller in bestimmten Bereichen. Wir haben darüber aber keine authentischen Nachrichten, weil wir auch nicht die nötigen normalen Beziehungen haben. Ich würde es bedauern, wenn hier eine Änderung der Gesamthaltung einträte, aber ich glaube, wir müssen den weiteren Verlauf abwarten, um sagen zu können, ob solche Befürchtungen, die man vielleicht aus Pressebrichten herauslesen könnte, tatsächlich und langfristig begründet sind. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Schäfer.

Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD): Herr Staatssekretär, nachdem die Durchführung der Familienzusammenführung vom Präsidium des Polnischen Roten Kreuzes und vom Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes im Detail festgelegt wird, können Sie uns darüber etwas sagen, wie der Stand der Beratungen ist? Soweit ich gehört habe, wird in diesen Tagen eine neue Runde der Verhandlungen eröffnet. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, das ist zutreffend. Ich glaube, gerade aus diesem Grunde ist die Abgabe einer Art von Zwischenurteil in der Sache nicht angebracht. Sie könnte jedenfalls den Interessen der Betroffenen nicht sehr dienlich sein. Die Bundesregierung beobachtet diese Entwicklung natürlich mit großer Aufmerksamkeit. Ich darf Ihnen nur sagen, daß wir von Januar bis Mitte April dieses Jahres immerhin 6500 Umsiedler gehabt haben, die aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind und daß diese Zahl die Gesamtzahl des Jahres 1970 übertrifft und den Durchschnittszahlen der meisten Vorjahre entspricht. Die Zahl ist also gewachsen, seit uns die Information' der polnischen Regierung gegeben worden ist. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Czaja.

Dr. Czaja (CDU/CSU): Würden Sie, Herr Staatssekretär, zusätzlich zu den Pressemeldungen auch die zahlreichen individuellen Briefe überprüfen lassen, die davon zeugen, daß in Massenversammlungen unter Teilnahme auch schlesischer Parlamentarier die Deutschen unter Druck gesetzt werden sollen, nicht auszureisen, und die Briefe, die davon zeugen, daß selbst Personen, die zwölfund fünfzehnmal Anträge auf Ausreise gestellt haben, abgewiesen werden? Würden Sie bereit sein, im Sinne der unlängst auf Grund einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung bestätigten Vertretungspflicht für diese deutschen Staatsangehörigen auf internationaler Ebene das Menschenmöglichste zu tun, um die Einhaltung der »Information' zu erreichen und, wenn dies nicht 198

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

möglich ist und Polen den Verbleib der Personen wünscht, Polen doch nahezulegen, die menschlichen, kulturellen und sprachlichen Rechte der Leute zu sichern? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich darf zum ersten Teil Ihrer Frage sagen, daß die Bundesregierung alle Briefe, die sie bekommt, hier sorgfältig behandelt und auch auf ihren Gehalt nachprüft. Ich selbst konnte in mehreren Fällen feststellen, daß in solchen Briefen auch durchaus subjektive Meinungen vertreten werden und daß nicht jede Behauptung in solchen Briefen ohne weiteres bereits als feststehende Tatsache unterstellt werden kann. Das ist in der Situation der Menschen durchaus verständlich. Was die übrigen Bemühungen der Bundesregierung betrifft, so brauche ich midi hier nicht zu wiederholen; das ist genügend dargelegt worden. Ich möchte aber die Gelegenheit Ihrer Frage nutzen, zu sagen, daß alle Bemühungen, den Interessen der betroffenen Menschen gerecht zu werden, vom Parlament, von der Öffentlichkeit und nicht zuletzt von Interessengruppen am besten dadurch unterstützt werden, daß sie sich in der Behandlung dieser Frage in der Öffentlichkeit die Zurückhaltung auferlegen, die den Interessen der Menschen entspricht. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Czaja: Sie entspricht aber nicht der Erfahrung mit kommunistischen Parteien!) Vizepräsident Dr. Jaeger: Keine Zusatzfrage mehr. Ich rufe die Frage 106 des Abgeordneten Reddemann auf: Was bedeutet konkret, im Sinne der sowjetischen und polnischen Interpretation der Ostverträge, die Behauptung des polnischen stellvertretenden

Außenministers Willmann, daß die praktischen Konsequenzen des deutschpolnischen Vertrages ,Änderungen in der Gesetzgebungy und das betrifft solche Gesetze, die nicht mit dem Vertrag im Einklang stehen* erforderten (Interview in ,Unsere Zeit', 3. April 1971)? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt. Die deutsche Gesetzgebung ist eine innere Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist nicht Gegenstand des Warschauer und des Moskauer Vertrages. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, die sowjetisch-polnische Interpretation der Ostverträge, wie es hier heißt, in diesem Zusammenhang meinerseits namens der Bundesregierung zu interpretieren. Vizepräsident Dr. Jaeger: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Reddemann. Reddemann (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können Sie denn mitteilen, ob nach sowjetischer oder polnischer Ansicht tatsächlich Änderungen unserer Gesetzgebung verlangt werden oder ob es sich hier wirklich nur um eine Mystifikation des DKP-Blattes handelt? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich habe hier die Antwort auf Ihre Frage gegeben. 199

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Ich werde dieser Antwort nichts hinzufügen. Sie werden im übrigen Gelegenheit haben, in der Ratifikationsdebatte in den Ausschußberatungen diese Fragen sehr sorgfältig im einzelnen zu prüfen. (Zurufe von der CDU/CSU: Ei! Ei!) — Was heißt ,Ei! Ei!4? Das ist so üblich. — Sie werden dort die Rechtsfragen im einzelnen zu prüfen haben. Ich lehne es ab, hier eine vorweggenommene Ratifikationsdebatte in Einzelfragen zu führen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Jaeger: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Reddemann. Reddemann (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wenn diese Antwort einen Sinn haben kann, dürfte sie dann nicht den haben, daß tatsächlich von sowjetischer und polnischer Seite entsprechend Änderungen verlangt werden? (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat hier, wie idi eben wiederholt habe, deutlich gemacht — und nicht nur heute —, daß die deutsche Gesetzgebung eine innere Angelegenheit ist und niemals Vertragsgegenstand in dieser Form sein kann. Ich glaube, daß Ihre Frage damit gegenstandslos ist. (Unruhe in der Mitte) Vizepräsident von Wrangel.

Dr. Jaeger: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Baron

Baron von Wrangel (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie sagten eben, daß Sie sich nicht in der Lage sähen zu interpretieren. Irre ich mich, wenn ich hier nach zahlreichen Fragen feststelle, daß es eine gemeinsame Interpretation dieser Verträge durch die polnische und die Bundesregierung nicht gibt? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Sie irren sich, Herr Abgeordneter; denn ich habe hier deutlich gemacht, daß ich nicht die Absicht habe, jetzt eine vorweggenommene Ratifikationsdebatte zu führen. Das ist etwas anderes, als daß ich nicht in der Lage wäre, hier diese Dinge im einzelnen darzulegen. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schäfer.

Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) : Herr Staatssekretär, wäre es nicht angemessen, die Herren Abgeordneten Reddemann und von Wrangel nochmals auf ihre Vorbemerkung hinzuweisen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, selbstverständlich hat jeder das Recht, hier Zusatzfragen zu stellen. Aber die Bundesregierung hat das Recht, die Antwort zu geben, die sie für die Sache dienlich hält. Das ist ebenfalls in der Geschäftsordnung festgelegt. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx. 200

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatsekretär, sind Sie nicht bereit, einzusehen, daß es, wie ich glaube, die notwendige und der politischen Pflicht entsprechende Aufgabe jedes Abgeordneten in diesem Hause ist, auf ständige Einlassungen aus kommunistischen Staaten: Wenn ihr die Verträge unterschrieben habt, müßt ihr eine Reihe innerer Gesetze ändern, hier Fragen zu stellen und nicht zu hoffen, daß in irgendeiner Ratifikationsdebatte vielleicht darüber dann gesprochen werden kann? (Abg. Leicht: Wenn es zu spät ist!) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, dazu zwei Feststellungen. Idi habe überhaupt nichts gegen die Fragestellung; damit wir uns recht verstehen. Wenn ich darauf verweise, daß dieser Zusammenhang, was unsere Rechtsprobleme betrifft, in einer Ratifikationsdebatte im einzelnen auf Grund dazugehöriger Materialien darzulegen ist, die wir bei der Begründung des Ratifikationsgesetzes mit vorlegen, dann bitte ich einfach um Verständnis dafür, daß es Aufgabe der Bundesregierung und auch ihre Pflicht ist, sich den Zeitpunkt für die Ratifikationsauseinandersetzung vorzubehalten, den sie aus politischen Gründen für richtig hält. Es ist das gute Recht der Opposition, die Dinge anders zu sehen. Aber es ist auch das Recht der Regierung, ihren Standpunkt zu vertreten. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Apel.

Dr. Apel (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie bitte die Opposition darauf aufmerksam machen, daß wir nicht erst in der Ratifizierungsdebatte dazu zu sprechen haben werden, (Abg. Reddemann: Das hat er doch gesagt!) sondern daß die Bundesregierung hier in diesem Hause hinsichtlich unserer Position zu diesem Vertrag wiederholt deutlich gemacht hat, daß sie nicht daran denkt, unsere freiheitlich demokratische Rechtsordnung durch diesen Vertrag irgendwie tangieren zu lassen, und daß damit auch deutlich wird, daß Aussagen dieser Art in einer kommunistischen Zeitung uns in unserer Auffassung überhaupt nicht berühren? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich glaube, daß die ganze Diskussion darauf zurückzuführen ist, daß offensichtlich erhebliche höhere Erwartungen an die Möglichkeit deutscher Politik von Abgeordneten der Opposition gestellt werden, als sie nach Lage der Dinge (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Nach Lage der Bundesregierung!) in den letzten 25 Jahren jemals gestellt werden konnten. Ich kann mich nur darüber wundern, daß hier offensichtlich jetzt der Eindruck erweckt werden soll, als sei eine umfassende und perfekte Friedensregelung in diesem Europa jetzt überhaupt möglich. Dagegen war die Bundesregierung sehr viel bescheidener und — mit Recht — immer der Meinung, es komme darauf an, 201

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einen Modus vivendi zufinden, der eben nur auf der Basis des territorialen Status quo zu finden ist. (Zurufe von der CDU/CSU) Das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Erwartungshorizont der Opposition und dem, was die Regierung auf Grund ihrer Verantwortung für Realismus in der deutschen Politik hält. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Czaja.

Dr. Cxaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können wir im Anschluß an die Frage des Kollegen Apel hier gemeinsam in diesem Hause und mit der Bundesregierung feststellen, daß niemand in der Bundesrepublik, der in Verfassungsorganen ist, daran denkt, Initiativen auf Gesetzesänderungen auf ausländischen Druck zu vollziehen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich halte diese Frage deswegen für abwegig, weil ich hoffe, daß Sie nicht unterstellen wollen, daß irgend jemand in dieser Bundesregierung seinen auf die Verfassung geleisteten Eid verletzen will. (Abg. Leicht: Sagen Sie doch nein! — Abg. Kiep: Sie haben hier keine Zensuren zu erteilen!) Vixepräsident Dr. Jaeger: Ich rufe die Frage 107 des Abgeordneten Petersen auf: Versteht die Bundesregierung die praktischen Konsequenzen* des deutschpolnischen Vertrages ebenso wie der polnische stellvertretende Außenminister Willmann, der u. a. diese in einer ,Neutralisierung und politischen Eliminierung' sogenannter »revanchistischer Kräfte und Organisationen* sieht (Interview in »Unsere Zeit*, 3. April 1971)? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die Antwort lautet nein. Die gesamten Formulierungen, die der Artikel dem polnischen stellvertretenden Außenminister zuschreibt, gehören weder zum Vokabular der Bundesregierung, noch entsprechen sie ihren sachlichen Vorstellungen. Vixepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Petersen. Petersen (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, stimmen Sie dann mit mir darin überein, daß, obwohl in der gesamten kommunistischen Publizistik und Ostblockpublizistik

der letzten Monate z. B. die Organisationen

der Vertriebenen

in der Bundesrepublik als revanchistische Organisationen diffamiert und bezeichnet werden, diese eine auf dem Boden des Grundgesetzes stehende konstruktive Arbeit in diesem Staat leisten? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, Sie werden mir keine Antwort entlocken, die unter Umständen eine Pauschalamnestie für alle politischen Dummheiten in der Bundesrepublik enthält. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Oho-Rufe bei der CDU/CSU) 202

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Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.

Mertes (FDP): Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß man an eine kommunistische Parteizeitung höhere Anforderungen stellen sollte als an den ,Bayernkurier'? (Oho-Rufe bei der CDU/CSU) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich will hier nur deutlich machen, daß idi unmöglich in einer allgemeinen Form alle möglichen deutschen Veröffentlichungen zur deutschen Frage, die ich zum Teil gar nicht kennen kann, hier pauschal als in Ordnung befindlich erklären kann. Ich glaube, daß es eine Reihe von Veröffentlichungen gibt — (Zurufe von der CDU/CSU: Das war gar nicht die Frage!) — Das war der Sinn der Frage, entschuldigen Sie bitte. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) — Dann war das ein MißVerständnis, tut mir leid. Aber ich will hinzufügen, Herr Abgeordneter, es gibt Sprecher der Vertriebenenverbände — ich erinnere an die Kundgebung in Bonn —, die meiner Meinung nach den demokratischen Grundsätzen und den Grund- und Freiheitsrechten unserer Verfassung nicht gerecht werden. (Beifall bei den Regierungsparteien) Vizepräsident frage.

Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Reddemann, zu einer Zusatz-

Reddemann (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wollen Sie, da Sie alle politischen Dummheiten soeben in den Bereich der Vertriebenenverbände gerückt haben, diese Erklärung aufrechterhalten, oder wollen Sie nicht wenigstens versuchen, etwas von dieser Erklärung wieder herunterzukommen? (Zurufe von der SPD: Aufrechterhalten!) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, Sie unterstellen bereits in Ihrer Frage wieder etwas, was ich hier angeblich gesagt haben soll. Ich erinnere mich nicht, daß ich es so gesagt habe, wie Sie gefragt haben. Gerade das veranlaßt midi, zu sagen, daß sie hier im einzelnen Fragen stellen können, die ich dann im einzelnen beantworten kann, aber daß ich es ablehne, pauschal irgendwelche Jagdscheine', wenn Sie so wollen, auszuteilen. (Abg. Kiep: Wer ist denn hier pauschal?) Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher. Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, würden Sie bereit sein, hier zu sagen, welche Ausführungen bei der von Ihnen genannten Kundgebung des Bundes der Vertriebenen undemokratisch gewesen seien? Moersch, Parlametarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter Becher, ich wäre gern bereit, Ihnen das im einzelnen einmal darzulegen. Ich habe, weil das ja eine Sache ist, die nicht unbedingt 203

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zu der ursprünglich gestellten Frage gehört, die Unterlagen nicht hier. Aber ich muß Ihnen sagen, daß mich vieles auf dieser Kundgebung — (Abg. Leicht: Sie haben es angeführt!) — Entschuldigen Sie bitte! (Abg. Kiep: Sie können doch nicht von Sachen reden, von denen Sie nichts wissen!) — Ach, hören Sie einmal, Herr Kiep, ich weiß das doch! Glauben Sie mir, ich habe ein ganz gutes Gedächtnis, wenn Sie Wünsche dazu haben. (Abg. Kiep: Aber schneiden Sie doch nicht Themen an, wenn Sie nicht informiert sind!) Ich habe in diesem Hause unwidersprochen gesagt, daß mich vieles von dem, was dort gesagt worden ist, sehr unangenehm an das Vokabular der deutschnationalen Presse in der Weimarer Zeit erinnert, und dabei bleibe ich. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien) Ich habe in diesem Hause dazu aus den »Völkischen Blättern' des Jahres 1925 die Angriffe auf Stresemann zitiert. Ich darf in Erinnerung rufen, daß das im Zusammenhang mit dieser Kundgebung stand. Wenn Sie selbst kein Empfinden dafür haben, welche sprachlichen Ausrutscher dort geschehen sind, dann allerdings sind wir sehr verschiedener Meinung. (Beifall bei den Regierungsparteien) Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich kann nach den Richtlinien jedem Abgeordneten nur einmal das Wort zu einer Zusatzfrage geben. Jetzt Herr Dr. Wagner. Dr. Wagner (Trier) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, im Hinblick auf die Äußerungen des Herrn Kollegen Mertes betreffend den ^ayernkurier' möchte ich fragen: Wären Sie bereit, aus dem reichen Schatz Ihrer journalistischen Erfahrungen dem Herrn Kollegen Mertes irgendwann in einer stillen Stunde in Form eines Nachhilfeunterrichts den Unterschied zwischen der Publikation einer totalitären kommunistischen Partei des Ostblocks und einer demokratischen Partei in der Bundesrepublik zu erläutern? (Zuruf von der SPD: ,Bayernkurier' bleibt ,Bayernkurier'!) Moersd?, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ich wäre selbstverständlich bereit, Abgeordneten des Hauses Unterlagen darüber zuzustellen, wo und wann nach unserer Meinung die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte in unzulässiger Weise mißbraucht worden sind. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Czaja.

Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, würden Sie es nicht für gut halten, wenn Sie als Parlamentarischer Staatssekretär des Auswärtigen Amtes mit gutem Gedächtnis allgemeine Behauptungen über Aussagen aufstellen, diese dann auch wirklich präzis mit den etnsprechenden Zitaten zu belegen? (Zuruf von der SPD: Das hat er doch getan! — Weitere Zurufe von der SPD) 204

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Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich bitte dem Herrn Staatssekretär die Möglichkeit zu einer Antwort zu geben. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, darf ich zurückfragen, (Abg. Kiep: Sie haben hier keine Fragen zu stellen! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Fragen stellen wir!) ob Sie bisher als Präsident des Bundes der Vertriebenen zu Transparenten Stellung genommen haben, in denen zum Mord und zum persönlichen Angriff auf den Bundeskanzler aufgefordert worden ist. Das ist doch die Frage, die Sie hier in die Debatte gebracht haben. (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Czaja: Jawohl, das habe ich bei der Bonner Kundgebung und bei der Übernahme meines Amtes getan! — Abg. Leicht: So was von Parlamentarier! — Abg. Kiep: Das ist doch überhaupt keine Demokratie, was die hier praktizieren!) Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs. Dr. Fuchs (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, würden Sie mir sagen, was an den Kundgebungen der Heimatvertriebenen, wie Sie behauptet haben, undemokratisch gewesen ist? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ja, ich habe Ihnen gesagt, daß mich die Beschimpfung von verantwortlichen Mitgliedern dieser Bundesregierung als Verzichtspolitiker und einige andere Vokabeln an den Kampf der Deutschnationalen, der Völkischen gegen die Weimarer Demokratie erinnern. Deswegen glaube ich, daß es der Demokratie schadet, wenn mit den gleichen Vokabeln, mit denen Weimar kaputtgemacht worden ist, heute wieder agiert wird. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin gesagt, Sie seien bereit, allen Mitgliedern des Hauses eine Zusammenstellung jener von ihnen offenbar als inkriminierend bezeichneten Äußerungen zukommen zu lassen. Ich teile meine Frage in zwei Teile. Erster Teil: Kann dies bis Mitte Mai geschehen? Zweiter Teil: Sind Sie dann auch bereit, jene Äußerungen sozialdemokratischer Politiker, die noch nicht vier Jahre alt sind, mit aufzunehmen, in denen expressis verbis gesagt worden ist: Verzicht ist Verrat? . (Sehr gut! bei der CDU/CSU) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich habe midi hier auf eine ganz bestimmte Kampagne bezogen. (Lachen bei der CDU/CSU. Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Es reicht! Danke, das genügt! — Abg. Kiep: Wir haben volles Verständnis, Herr Moersch!) 205

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— Herr Marx, Sie haben die Antwort ja nodi gar nicht angehört; es tut mir leid. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.

Hansen (SPD): Herr Staatssekretär, angesichts der Aufregung, die die Opposition und besonders den Kollegen Czaja ergriffen hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie Verständnis dafür haben, daß ich mich an das Sprichwort erinnert fühle: Getroffene Hunde bellen? (Oho-Rufe von der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter, die Bezeichnung ,Hund' für einen Abgeordneten ist unmöglich. Ich weise sie zurück. Sie brauchen keine Antwort zu geben, Herr Staatssekretär! Bitte sehr, Herr Dr. Geßner. Dr. Geßner (SPD): Herr Staatssekretär, finden Sie nicht auch, daß es von einer Krise der Opposition und damit audi des parlamentarischen Systems schlechthin zeugt, wenn diese Opposition nicht bereit ist, sich von Ausagen und Formulierungen zu distanzieren, die eindeutig aus dem Vokabular der Deutschnationalen kommen? (Abg. Reddemann: Dann distanzieren Sie sich doch von Brandt und Wehner!) Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich sehe es nicht als sehr sinnvoll an, auf Grund einer Frage, die einen ganz anderen Ausgangspunkt hatte, jetzt die Debatte darüber zu verlängern. Ich glaube, jeder hier im Hause hat seine Meinung darüber, und wir werden sicherlich die Meinung darüber in der Fragestunde nicht ändern. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter von Wrangel !

Baron von Wrangel (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, darf ich Sie nach den absolut unqualifizierten Fragen, die eben von Seiten der SPD-Fraktion gestellt worden sind, jetzt in aller Form fragen, ob Sie der Meinung sind, daß der Bund der Vertriebenen auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Ordnung dieser Republik arbeitet? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich teile die Antwort in zwei Teile. Der Bund der Vertriebenen hat in seiner Satzung Bestimmungen, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Staates entsprechen. Aber er hat auf seinen Kundgebungen, gebeten oder ungebeten, Helfer und Mitstreiter gefunden, die zweifellos anderer Meinung sind als wir Demokraten. (Beifall bei den Regierungsparteien) Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und Herren, ich habe das Gefühl, wir entfernen uns immer mehr von der eigentlichen Frage. (Sehr richtig! bei der SPD) Ich rufe nunmehr die Frage 108 des Abgeordneten Breidbach auf: 206

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Wertet die Bundesregierung es als einen Beitrag zur Entspannung und Normalisierung, wenn der stellvertretende polnische Außenminister Willmann in einem Interview mit der DKP-Zeitung ,Unsere Zeit4 am 3. April 1971 sagt, ,Kulturaustausch, Aufhebung der Visapflicht, Jugendwerk und dergleichen* seien ydemagogische Vorschläge'?

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ich beantworte die Frage wie folgt. Niemand wird vernünftigerweise die genannten Zielsetzungen selbst als demagogisch qualifizieren. Soweit in dem Artikel unterstellt wird, diese Zielsetzungen seien in demagogischer Absicht vorgeschlagen worden, kann es nicht Sache der Bundesregierung sein, sich damit auseinanderzusetzen, wer hier wem was unterstellt. Vizepräsident bach.

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Breid-

Breidhach (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, da nicht nur in dem Artikel dieser Zeitung tendenziell ähnliche Äußerungen gestanden haben, sondern man ähnliches auch in anderen Zeitungen der Ostblockstaaten lesen kann, frage ich Sie, ob Sie in Anbetracht dieser Situation den von vielen Jugendverbänden in Deutschland unternommenen Versuch, einen besseren deutsch-polnischen Jugendaustausch einschließlich eines deutsch-polnischen Jugendwerks zu schaffen, weiterhin als realistisch betrachten würden. Moerschy Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich würde mich nicht durch eine Veröffentlichung im Organ der Deutschen Kommunistischen Partei von dem berechtigten Bemühen abhalten lassen, die Jugend Europas besser zusammenzuführen. (Beifall bei den Regierungsparteien) Vizepräsident Breidbach.

Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten

Breidhach (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung sichere Anzeichen dafür, daß die polnische Regierung die Situation anders sieht, als sie in diesen demagogischen Veröffentlichungen dargestellt wird? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich verweise auf meine Eingangserklärung. Ich glaube, ich habe das gesagt, was Sie in der Frage zum Ausdruck bringen wollten. Vizepräsident Sperling.

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr.

Dr. Sperling (SPD): Herr Staatssekretär, sollte nicht das Auswärtige Amt extra einen Hilfsreferenten zum Dementieren von Äußerungen in DKPOrganen anstellen, damit die Dementierwünsche der CDU nicht auf dieser aufwertenden Ebene behandelt werden? (Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Die ,Prawda* dann mit dazunehmen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) 207

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Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich hoffe mit Ihnen, daß es sich um einen einmaligen Vorgang handelt, was die Veröffentlichung in dieser Zeitung betrifft. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Leicht zu einer Zusatzfrage.

Leicht (CDU/CSU): Würden Sie nach dieser Frage des Kollegen zugeben, Herr Staatssekretär, daß auch Sie und andere Regierungsmitglieder bei Beantworung von Anfragen und bei Ausführungen vom Rednerpult aus Zitate aus kommunistischen Zeitungen wie der ,Prawda' usw. verwendet, auch zu Vergleichen verwendet und in Diskussionen eingeführt haben? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege Leicht, ich bin, ohne daß ich das jetzt schon im einzelnen mit dem Computer errechnet hätte, ziemlich sicher, daß Zitate aus der ,Prawda* häufiger von Sprechern der CDU in diesem Hause verwendet worden sind als von Sprechern der beiden anderen Parteien, (Zurufe von der CDU/CSU) und auch ich selbst werde selbstverständlich alle Zitate, die mir zugänglich sind und die meine Thesen stützen, nach wie vor in diesem Hause verwenden, gleichgültig von wem sie kommen. (Abg. Breidbadi: Aha! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Das ist üblich in der politischen Auseinandersetzung und ist kein Vorrecht irgendeiner bestimmten Gruppe. Vizepräsident Marx.

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr.

Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, um noch einmal den Versuch zu machen, zumindest hier eine gemeinsame Formulierung zu erreichen, möchte ich Sie fragen: Sind Sie nicht auch der Meinung, daß es, wenn man sich politische Kenntnisse über einzelne Tatbestände verschaffen will, vor allem über Tatbestände, die mit Ostblockstaaten zusammenhängen, notwendige Voraussetzung ist, dann auch die dortigen Zeitungen zu lesen, und daß deshalb die vorhin in ihrer vorletzten Antwort gegebene Qualifizierung ungerechtfertigt ist? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, wenn Sie es so verstanden haben, wie es hier in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt, haben Sie mich mißverstanden. Ich glaube, ich habe deutlich gemacht, daß ich es selbstverständlich nichvt nur für das Recht, sondern auch für die Pflicht halte, Publikationen zu lesen, von denen wir wissen, daß sie im allgemeinen nicht unter den Bedingungen eines Landes entstanden sind, in dem der Art. 5 des Grundgesetzes gilt, sondern die eben sehr oft offiziösen Charakter haben. Solche Organe tragen selbstverständlich zu unserer Information und Meinungsbildung bei. Der Fall, um den es sich hier handelt, ist insofern außergewöhnlich, als die Zeitung 208

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den Art. 5 des Grundgesetzes voll für sich in Anspruch nimmt, gleichwohl aber von osteuropäischen Staaten nicht als authentische Quelle oder gar als besonders seriös angesehen wird, wenn idi midi nicht sehr täusche. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber offenbar ist es ein für polnische Politiker brauchbares Instrument!) — Das ist eben eine Frage, die ich nicht so beantworten kann, nämlich ob es hier als Instrument angesehen worden ist oder nicht. Es gibt, wie Sie wissen, in der Weltgeschichte auch noch andere Möglichkeiten. Vizepräsident

Dr . Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Ageordneten Dr. Slotta.

Dr. Slotta (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß sich die polnische Regierung in allen Gesprächen mit ihr äußerst interessiert an dem Zustandekommen eines deutsch-polnischen Jugendwerkes zeigte. Mir ist das bei meinem Polenaufenthalt von Regierungsvertretern und von Sejm-Abgeordneten bestätigt worden. Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen in der Frage, die Sie gestellt haben, mit der Einschränkung zu, daß offensichtlich dabei von polnischer Seite, wenn audi in früherer Zeit, mit Organisationen in der Bundesrepublik, die nicht unbedingt besonders geeignet sind, einen solchen Austausch in Gang zu setzen, Kontakt aufgenommen worden ist." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 117. Sitzung, 30. 4. 71) Moerschy

Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , schreibt in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „Außenpolitik" u. a.:

„Das von den Regierungen angestrebte Entspannungssystem legt somit der Bundesrepublik einerseits Beschränkungen, andererseits aber eine besondere Verantwortung auf. Sie muß besonders behutsam bei der Entwicklung ihrer Außenbeziehungen sein. Die Bundesrepublik muß vor allem alles vermeiden, was die Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Siegermächte für Berlin und Deutschland als Ganzes faktisch beeinträchtigen könnte; denn dadurch würde die Grundlage der Stabilität in Europa berührt. Außerdem sollte die Bundesrepublik sich nicht von fiktiven politischen Maßstäben leiten lassen, mit anderen Worten, für sich eine Identität beanspruchen, die sie real betrachtet nicht besitzt. Die Bundesregierung, der ich angehöre, versucht, eine solche Politik zu entwickeln. Es scheint uns besser, einen Beitrag zur europäischen Stabilität in den Grenzen von 1971 zu leisten, als in den Grenzen von 1937 zu träumen. Der ,kurze Weg' zur Wiedervereinigung unseres Landes hat sich in einem schmerzlichen politischen Erfahrungsprozeß als nicht gangbar erwiesen. Wir müssen den ,langen Marsch' antreten. Es gilt, auf der Grundlage der Gegebenheiten einen modus vivendi in Europa zu organisieren. Wie schwer systemkonformes Verhalten fallen kann, zeigt das Beispiel der DDR. Der sowjetische Außenminister Gromyko war bei unseren Verhandlun14

Königsberg

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gen in Moskau bemüht, eine begrenzte Übereinstimmung über die Blöcke hinaus zu betonen. Er sagte: ,Wir leben alle unter einem europäischen Dach/ Auf dem 24. Parteitag der KPdSU setzte er sich mit jenen auseinander, die ,jeden Vertrag mit der kapitalistischen Welt als ein Komplott bezeichnen'. Eine solche ultrarevolutionäre Phraseologie sei eine provokatorische Plattheit. Daß es Anhänger der von ihm angeprangerten Auffassung in der DDR gibt, steht für mich außer Zweifel. Wie erklärt sich sonst ihr übersteigertes Abgrenzungsdenken, die immer wieder auftretende antagonistische Gebärde? Nicht einflußreich genug, um die Entspannungspolitik zu blockieren, fühlen sich diese Kräfte in der DDR durch die sich abzeichnenden Kontaktmöglichkeiten irritiert, wirken unsicher und bremsen, wo sie können. In letzter Zeit hat es gegen die Berlin-Verhandlungen im allgemeinen und im besonderen gegen den Zusammenhang zwischen einer befriedigenden Regelung dieser Frage und der Ratifizierung der Verträge von Moskau und Warschau einige propagandistische Querschüsse gegeben. Es ist müßig, sich dabei aufzuhalten, was im einzelnen die Hintergründe dieser Veröffentlichungen und Erklärungen hüben und drüben gewesen sind. Wesentlich ist, daß es unseres Erachtens keine Änderung in der sowjetischen Haltung gibt, die Entspannungspolitik in Europa fortzusetzen. Dies hat der Verlauf des Parteitages der KPdSU gezeigt. Breschnjew und Gromyko haben deutlich gemacht, daß die Sowjetunion der deutschen Frage und der Position der Bundesrepublik eine zentrale Bedeutung für die europäische Friedensordnung und die internationale Entspannung beimißt. Die sowjetische Politik ist langfristig angelegt. Taktische Bewegungen kommen nicht unerwartet. Sie sind geradezu ein Signal, daß sich die Berlin-Verhandlungen in einem konkreten Stadium befinden. Weder die Bundesrepublik noch ihre westlichen Verbündeten stehen dabei unter Zeitdruck. Es geht nicht darum, kurzfristig irgendein Verhandlungsergebnis vorweisen zu können, sondern einzig und allein um die dauerhafte Sicherung der Lebensfähigkeit Berlins. Um die Erreichung dieses Ziels werden wir mit Geduld, Elastizität und Beharrlichkeit ringen. Für Leute, die sich durch einen Nervenkrieg nervös machen lassen, gilt der Ausspruch von Präsident Truman: ,Wer Hitze nicht vertragen kann, gehört nicht in die Küche.' Festzuhalten ist, daß unsere Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa schon gewisse Erfolge zu verzeichnen hat. Sie hat unser Ansehen in Osteuropa und auch in den Ländern der Dritten Welt erhöht. Die polnische Regierung hat bei Abschluß des Vertrages für unsere Wünsche nach Familienzusammenführung und Aussiedlung Deutschstämmiger Verständnis gezeigt. Die Kontakte deutscher Wirtschaftler und die Reisen wissenschaftlich-technologischer Experten haben im Verhältnis zur Sowjetunion zugenommen. Luftverkehrsverhandlungen und Handelsvertragsverhandlungen sowie Konsularverhandlungen mit der Sowjetunion sind im Gange. Auch mit der Tschechoslowakei sind wir ins Gespräch gekommen. Die Aussichten für unseren Handel mit Osteuropa haben sich verbessert. Mit einer dramatischen Steigerung ist dabei nicht zu rechnen. Die Finanzierung von Großprojekten bereitet unseren Partnern Schwierigkeiten. Wir können 210

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und werden jedodi nicht Haushaltsmittel zur Finanzierung von kommerziellen Vorhaben bereitstellen. Eine langsame, stetige Steigerung unseres Handels mit der Sowjetunion und Osteuropa ist jedoch möglich. Für die Sowjetunion, die sich in ihrer Wirtschaft von einem ausgeprägten Planungsdenken leiten läßt, ist der Vertrag von Moskau die Basis für einen stetigen Ausbau der Handelsbeziehungen. Wir wissen, daß man in Moskau den Fall mit dem Röhrenembargo im Jahre 1962 nicht vergessen hat, als brüsk ein langfristig konzipiertes Geschäft unterbrochen wurde. Einen politischen Referenzrahmen möchte die Sowjetunion auch für den technologischen Austausch herstellen. Die Position der Bundesrepublik, ihre Außenpolitik, ist das Produkt einer Vielzahl von Konstanten und Variablen. Die wesentlichen Konstanten, Fortentwicklung des westeuropäischen Integrationsprozesses, unsere Verantwortung in der Atlantischen Allianz und unsere Beteiligung an der europäischen Friedenssicherung habe ich genannt. Faktoren der Interdependenz sind in unserer Außenpolitik wegen unserer Lage und auf Grund unserer geschichtlichen Vergangenheit notwendigerweise ausgeprägter als die Autonomie. Keine Außenpolitik ist statisch und von der eigenen gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklung losgelöst. Auch im Fall der Bundesrepublik ist es wichtig, einen Blick auf die Lage unerer Gesellschaft und unseres Regierungssystems zu werfen, um unsere Außenpolitik zu verstehen. Ein Rückblick auf die sechziger Jahre zeigt, daß über eine längere Periode, zumindest seit Ende der fünfziger Jahre, der Ausblick der Bürger der Bundesrepublik auf die Außenpolitik von einem Widerspruch bestimmt war. In der offiziellen Diktion wurde der fiktive politische Maßstab aufrechterhalten, die Wiederherstellung der Einheit des Landes durch freie Vereinigung unter Beibehaltung des Anspruchs auf die Grenzen von 1937 sei möglich. Für diese Politik sei die Unterstützung unserer Verbündeten zu erhalten. Gleichzeitig entsprach jedoch das normale politische Verhalten nicht diesem Maßstab. Man bewahrte sich Ansprüche, wurde ihnen in der Politik jedoch nicht gerecht. Die Bundesregierung, der ich angehöre, hat den Schritt getan, diesen Widerspruch aufzulösen. Wir taten es in dem Bewußtsein, daß das deutsche Volk in seinen demokratischen Formen gefestigt genug ist, um die Wirklichkeit zu akzeptieren. Es ist bezweifelt worden, ob dieser Schritt möglich sei. Noch im Jahre 1970 warf der französische Deutschlandkenner Grosser in der amerikanischen Zeitschrift ,Foreign Affairs' diese Frage auf: ,Das deutsche politische System ist zerbrechlicher als das französische: der französische Staat kann durch einen Konflikt über seine Definition als Nation nicht bedroht werden, während die Demokratie in der Bundesrepublik gegenüber einer aus dem deutschen Problem entstehenden Krise nicht gesichert ist/ Die Entwicklung seit der Bildung der gegenwärtigen Bundesregierung deutet darauf, daß die deutsche Demokratie doch die von uns erwartete Stabilität hat. Es hat keine Radikalisierung der Vertriebenenverbände über den Vertrag mit Warschau und die Feststellung, daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze Polens bilde, gegeben. Die rechtsextremistische Partei ist ihrem Ende nahe. Wir haben zwar die gleichen Randerscheinungen militanter Extremisten von links und rechts, wie 14·

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sie in anderen Ländern audi zu finden sind, eine Gefahr für unsere demokratische Ordnung bilden sie jedoch nicht. Die Aussichten dafür, daß sich die Bundesrepublik in einer ihr angemessenen Rolle im internationalen Geflecht einrichtet und sich konstruktiv verhält, sind nidit schlecht." (Außenpolitik, 1971, Heft 5) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Interview der Sendung „Report" des Deutschen Fernsehens am 3. M a i u. a. aus:

„Frage-. Sie haben, Herr Bundeskanzler Brandt, den Erfolg Ihrer Ostpolitik, den Abschluß und die endgültige Ratifizierung der Moskauer Verträge, an eine befriedigende Berlin-Regelung gebunden. Immerhin, Berlin lebt gegenwärtig, wenn auch mit manchen Schikanen und Erschwerungen. War es klug, das große Ziel Ihrer Politik an den Erfolg eines Details zu binden und sie möglicherweise damit zu gefährden? Antwort: Das ist eine Frage, die häufig gestellt wird. Ich bin dankbar dafür, daß ich hier noch einmal darauf eingehen kann. Ich bin davon ausgegangen — und ich denke, ich mußte davon ausgehen —: Wenn es nicht einmal möglich ist, sich über Berlin so zu verständigen, daß sich durch diese Verständigung Erleichterungen, Verbesserungen ergeben, dann muß man sehr skeptisch sein, was andere Wirkungen angeht, die von den Verträgen ausgehen sollen. Es geht ja um mehr als um die Normalisierung der Beziehungen zu einem Staat, einem anderen, einem dritten oder wieviel noch, was auch wichtig ist. Aber es geht doch darum, einmal, daß wir — was manche übersehen —, indem wir dies tun, im Westen gleicher werden wollen; denn wir müssen gleicher werden. Wir müssen zumindest jenen Grad an Normalisierung erreichen gegenüber den östlichen Staaten, den unsere westlichen Partner überwiegend bereits erreicht haben. Dies müssen wir erreichen, weil wir sonst im Westen nicht voll mitwirken können — ein Aspekt, der häufig übersehen wird. Dann müssen wir außerdem unseren spezifischen Beitrag leisten mit dem Blick auf eine europäische Friedensordnung. Denn das ist doch die eigentliche Perspektive: Wie kommen wir in den Jahren, die vor uns liegen, dahin, daß nicht mehr nur Amerikaner und Russen miteinander verhandeln — wogegen wir ja nichts haben, sondern wir wünschen ihnen dabei viel Glück —, sondern daß alle andern Beteiligten mitwirken können an realistischen Verhandlungen, ζ. B. über den beiderseitigen ausgewogenen Abbau von Truppen und Rüstungen in der Mitte Europas. Das ist die Perspektive; alles andere sind Elemente, die dazu beitragen können, diesen schwierigen Prozeß zu fördern. Ich sage noch einmal: Wie soll man sich vorstellen können, daß die Beteiligten, bei allen Interessen, die ohnehin zwischen ihnen stehen, genügend Vertrauen zueinander haben, über die Fragen der Sicherheit zu reden, wenn sie sich nicht einmal über einen Modus vivendi in bezug auf die Stadt Berlin verständigen können?Insofern bleibt das so wie im vorigen Jahr, wie ich es neulich einmal gesagt habe, das Nadelöhr, durch das das andere hindurch muß." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 5. 5.1971) 212

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Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l ,

führt in einem Interview

mit der „Frankfurter Rundschau" vom 3. M a i u. a. aus:

„Frage: Nach der Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau ist es um die Ostpolitik ruhiger geworden. Wird die Bundesregierung sich in diesem Jahr stärker als 1970 der Westpolitik zuwenden? Antwort: Ich habe nicht den Eindruck, daß es um die Ostpolitik ruhiger geworden ist. Mit den Verträgen von Moskau und Warschau sind Ergebnisse intensiver Arbeit sichtbar geworden. Aber die Arbeit geht mit gleicher Intensität weiter, und wir haben noch eine schwierige Wegstrecke vor uns. Außerdem schaffen die parlamentarische Opposition und andere Kritiker immer neue Unruhe — und leider ist die Kritik sehr stark polemisch durchmengt. So erklären jetzt manche Leute, die Ostpolitik sei in eine Sackgasse geraten. Man muß sich das einmal bildlich vorstellen und dann fragen: Wo sind wir denn hergekommen? Es ist doch grotesk, wenn man der denkenden Öffentlichkeit einreden will, wir kämen von der breiten Straße des Erfolges früherer Regierungen in der Ostpolitik. Das Gegenteil ist richtig. Die Ostpolitik hat sich jetzt zum erstenmal bewegt, so, wie wir in der FDP es uns schon 1961 vorgestellt hatten, als wir mit Konrad Adenauer verabredeten, Gerhard Schröder als Außenminister zu benennen. Schröder zeigte die Bereitschaft, von der Existenz der osteuropäischen Staaten überhaupt erst einmal Kenntnis zu nehmen. Es lag nicht an Schröder, sondern an der Struktur der CDU, wenn es trotzdem damals noch nicht vorwärtsging. Ich warne davor, heute durch hemmungslose Parteipolemik die künftigen Möglichkeiten der Ostpolitik für das deutsche Volk und besonders für die Berliner zu verschütten — Möglichkeiten, die doch wohl auch die heutige Opposition genutzt sehen möchte. Ich bitte die Öffentlichkeit darum, sich nicht von Geisterbeschwörungen und Sackgassen-Gerede irritieren zu lassen, sondern ganz nüchtern zu prüfen, was wir erreicht haben: Das Verhältnis der Bundesrepublik zu den Staaten des Warschauer Paktes hat sich verändert, und zwar grundlegend und unwiderruflich verändert. Die Bundesrepublik ist nicht mehr das Objekt propagandistischer Angriffe aller Staaten des Warschauer Paktes. Es ist hier schon eine Normalisierung eingetreten, die für die Zukunft unsere Stellung in diesem Europa, das zwei verschiedene Gesellschaftsordnungen hat, erleichtert. Das ist unstreitbar und unwiderruflich. Und alle, denen es heute in Berlin zu langsam vorwärtsgeht, möchte ich fragen: Wo kommen wir denn her? Doch nicht aus der Ruhe und der Sicherheit, sondern aus dem Schatten des Chruschtschow-Ultimatums, aus dem Schatten der Mauer, aus der Zeit weltpolitisch brisanter Störungen im Berlinverkehr. Das ist der Hintergrund, an dem man messen muß, was heute geschieht: zum erstenmal seit 25 Jahren verhandeln die vier Mächte über eine völkerrechtliche Fundierung der gewachsenen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin. Wer hat das erreicht? Nimmt man die Tatsache der Verhandlungen zusammen mit dem sowjetischen Berlin-Papier und den Reden von Parteisekretär Breschnew und Außenminister Gromyko vor dem Moskauer 213

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Parteitag, dann sehe ich darin eine grundsätzliche Bereitschaft auch der Sowjets, zu einer gemeinsamen, das heißt einer von allen akzeptierten Lösung zu kommen." (Frankfurter Rundschau, 3. 5.1971) Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Dr. C z a j a , nimmt in einer Erklärung zu Berichten Stellung, wonach der Wiener Kardinal König in Breslau geäußert hat, die Polen hätten bewiesen, daß die einst deutschen Gebiete nun ihnen gehörten und ihre Heimat seien:

„Bei den Erklärungen des Kardinals König im Breslauer Dom über den ,Charakter' der unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete handelt es sich um eine von der katholischen Kirche in Österreich in keiner Weise zu vertretende Einmischung in die politischen Fragen Dritter. Außerdem widerspricht der der Erklärung zugrundeliegende Rat zur Hinnahme von Annexion und Okkupation ohne friedensvertraglichen Ausgleich berechtigter Interessen sowohl dem positiven als auch dem natürlichen Völkerrecht, auf dem nach Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils der Friede gründet. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums ,Die Kirche in der Welt von heute' bezeichnet die Massenvertreibung als eine der größten Ungerechtigkeiten; ohne zumutbare Wiedergutmachung solcher Ungerechtigkeiten aber gebe es keinen Frieden. Kardinal König übersieht die Pflicht der Kirche, durch die Vertretung der sittlichen Grundlagen für einen dauerhaften Frieden der Politik zu helfen: eines freien und gesicherten Ausgleichs zwischen den Völkern, der Wahrung der Rechte des Menschen und eines jeden Volkes im Rahmen des Gemeinwohles der Völker, der zumutbaren Wiedergutmachung der Folgen schweren Unrechts, der Uberwindung alter Gegensätze durch zeitgemäße Formen der Zusammenarbeit auch in umstrittenen Gebieten. Die ständige glücklose Einmischung des Kardinals in osteuropäischen Fragen versucht einer bisher erfolglosen Minderheit der Kurie den Weg zur Durchsetzung ihrer Kirchenpolitik zu ebnen. Sie steht im Widerspruch zur früheren österreichischen Sachkunde in osteuropäischen Fragen und zur Laienkonstitution des Zweiten Vatikanums, die den Laien den Vorrang in den praktischen Bemühungen um die Regelung der weltlichen Fragen auf der Grundlage der sittlichen Ordnung, den Geistlichen die schwierigen seelsorglichen Probleme zuweist. Kardinal König hat die betroffenen Deutschen nicht gefragt und versucht, den politischen Entscheidungen in Deutschland vorzugreifen. Die Unruhen bald nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages haben bewiesen, daß aber die Sorgen des Kardinals König auch nicht die des polnischen Volkes sind; das polnische Volk ist von seiner Existenznot tiefer berührt als von den nationalistischen Scheinerfolgen seiner kommunistischen Regierung. Die Unterstützung der Ziele kommunistischer Zwangsherrschaft durch den Kardinal von Wien erinnert peinlich an überwundene kirchenpolitisdie Fehler gegenüber früheren Diktaturen und bringt viele ostdeutsche 214

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Katholiken in einen scharfen Gegensatz zu solchen kirchenpolitischen Tendenzen." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 16 vom 3. 5. 71) Der Erste Sekretär des Z K der SED, H o n e c k e r , führt in einem Bericht auf der 16. Tagung des Z K am 3. M a i über den X X I V . Parteitag der K P d S U u. a. aus:

„Mögen die herrschenden Kreise in der BRD zur Kenntnis nehmen, daß die unmittelbaren Angriffe auf die Verträge von Seiten der Rechtskräfte und die Aufrechterhaltung des Junktims zwischen diesen Verträgen und der Regelung der mit West-Berlin zusammenhängenden Probleme ebenso aussichtslose Versuche zur Veränderung des Kräfteverhältnisses in Europa zugunsten des Imperialismus darstellen wie die offiziellen Bestrebungen maßgeblicher Regierungskreise, die Aufrüstung des aggressiven NATO-Paktes zu forcieren, um auf diese Weise gegenüber den sozialistischen Ländern die Sprache der ,Politik der Stärke* sprechen zu können. Auch an die Adresse solcher Liebhaber der »Politik der Stärke* wie Strauß, Barzel, Kiesinger und Schmidt ist die Warnung des Genossen Gretschko gerichtet, daß die Sowjetunion zusammen mit den anderen sozialistischen Staaten die DDR wie ihr eigenes Territorium verteidigen wird. Von der Tribüne des Parteitages wurde dem Gerede von sogenannten »innerdeutschen Sonderbeziehungen' eine eindeutige Abfuhr erteilt. Frieden und Sicherheit in Europa verlangen die uneingeschränkte Anerkennung der Realitäten. Irgendwelche ,Sonderbeziehungen' zwischen der imperialistischen BRD und der sozialistischen DDR zu konstruieren, ist ein krasser Verstoß gegen die Realitäten und legt der europäischen Sicherheit neue Hindernisse in den Weg. Unmißverständlich wurde unterstrichen, daß die Zeit herangereift ist, gleichberechtigte, auf den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts basierende Beziehungen zwischen der DDR und der BRD herzustellen. Indem der XXIV. Parteitag der KPdSU den grundsätzlichen Kurs sozialistischer Europapolitik mit aller Entschiedenheit bekräftigte, bestätigte er zugleich die Richtigkeit und die Notwendigkeit des von der 14. Tagung des Zentralkomitees unserer Partei dargelegten Prozesses, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik vollständig von der imperialistischen BRD abzugrenzen. Das entspricht voll und ganz der Notwendigkeit, Beziehungen der friedlichen Koexistenz zwischen der DDR und der BRD — also zwischen Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen — herzustellen. Wie es nicht anders sein kann, verbinden unsere Partei und die Regierung der DDR zu jedem Zeitpunkt die entschiedene Zurückweisung jeglicher annexionistischer, revanchistischer Bestrebungen mit einer aktiven, konstruktiven Politik der friedlichen Koexistenz . . . So kann man zusammenfassend sagen: Das internationale Kräfteverhältnis verändert sich durch die Erfolge der KPdSU und der Sowjetunion, durch die Festigung der sozialistischen Staatengemeinschaft und die Vertiefung ihrer Beziehungen auf politischem, ökonomischem und militärischem Gebiet, durch die wachsende Stärke unseres Weltsystems ständig weiter zugunsten des 215

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Sozialismus. An dieser Tatsache kommt niemand vorbei, und daraus ergibt sich, daß eine Politik nur dann real ist, wenn sie den neuen Bedingungen des Kräfteverhältnisses in der Welt voll und ganz Rechnung trägt. Das möge man auch in Bonn mit dem gebührenden Ernst zur Kenntnis nehmen. Trotz mancher Schwierigkeiten und zeitweiliger Rückschläge im Kampf schreiten jene Kräfte stürmisch voran, die für die Erneuerung des gesellschaftlichen Daseins der Menschheit eintreten. Der aggressive Charakter des Imperialismus hat sich nicht gewandelt, und es gilt nach wie vor, hohe Klassenwachsamkeit zu üben. Doch die Zeichen der Zeit zeugen mehr denn je davon, daß der Sieg denen gehören wird, die mit ganzer Kraft für die Verwirklichung der Sache des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens und der internationalen Sicherheit, des Wohles und des Glückes der Völker kämpfen.. (Neues Deutschland, 4. 5.1971) Der polnische Ministerpräsident J a r o s z e w i c z Kattowitz eine Rede, in der er u. a. ausführt:

hält

am 8. M a i

in

„Eingedenk der Leiden und schmerzlichen Verluste, die die polnische Nation im II. Weltkrieg erlitten hat, haben wir vom ersten Augenblick der Befreiung an versucht, unsere ganze Tätigkeit im Hinblick auf das deutsche Problem einem grundlegenden Ziel zu unterordnen: die Wiederbelebung eines Deutschlands, das Polen und Europa erneut bedrohen könnte, nicht zuzulassen. In unseren Bestrebungen haben wir mit den antinazistischen und demokratischen Kräften, die in der DDR wiedergeboren wurden, Verbündete gefunden. Die Anerkennung der im Potsdamer Abkommen von den Siegermächten festgesetzten Westgrenzen Polens durch die DDR durch den bereits 1950 geschlossenen Vertrag von Görlitz (Zgorzelec) legte die Grundlagen für Beziehungen der Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen unseren Ländern. Die Beziehungen mit dem anderen deutschen Staat, der Bundesrepublik Deutschland, gestalteten sich ganz anders. Von Anbeginn der Schaffung dieses Staates wurde der Antikommunismus zur offiziellen Doktrin der Regierung erhoben, die sich darin äußerte, sich mit der neuen Ordnung in Europa nicht abzufinden, die Ergebnisse des II. Weltkrieges, darunter Polens Westgrenzen an der Oder und Lausitzer Neiße (Odra and Lusatian Nysa), in Frage zu stellen. Im Rahmen der im Budapester Appell formulierten Prämissen handelnd, schlug Polen der BRD-Regierung die Aufnahme von Gesprächen über den Abschluß eines Vertrages zwischen unseren Staaten vor, durch den die BRD unsere Westgrenze anerkennen würde. Wie allgemein bekannt ist, endeten diese Gespräche am 7. Dezember vergangenen Jahres mit der Unterzeichnung des Vertrages auf der Grundlage der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen Polen und der BRD erfolgreich. Diese Tatsache stellt ein bedeutendes Ereignis in unseren Beziehungen mit der BRD dar, und sie ist ein wichtiger Erfolg jener Kräfte in der BRD, denen 216

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die Normalisierung der Beziehungen unter allen Staaten in Europa teuer ist. Dennoch sind die Verträge und Abkommen nodi keine ausreichende Garantie für eine Verbesserung der Beziehungen. Sie können nur die Grundlagen für eine volle Normalisierung formen. Polens Vertrag mit der BRD muß von den gesetzgebenden Organen der beiden Länder ratifiziert werden. Wir möchten glauben, daß die Regierung von Bundeskanzler Brandt entsprechend oft wiederholten Erklärungen aufrichtig an einer vollen Normalisierung der Beziehungen mit Polen und den übrigen sozialistischen Staaten interessiert ist. Um das zu beweisen, sollte diese Regierung möglichst rasch mit einem gleichlaufenden Ratifizierungsverfahren sowohl hinsichtlich des Moskauer Vertrages sowie des mit Polen geschlossenen Vertrages beginnen. Polens Haltung zur Ratifizierung der beiden Verträge ist der BRD-Regierung von der polnischen Regierung bereits im Dezember vergangenen Jahres dargelegt worden. Die Ratifizierung der beiden unterzeichneten Verträge durch den westdeutschen Bundestag wird ein Prüfstein für die Absichten der BRD-Regierung im Hinblick auf die Normalisierung der Beziehungen mit allen sozialistischen Staaten sein. Die Ratifizierung des Vertrages vom 7. Dezember 1970 würde den Weg ebnen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und für die volle Normalisierung unserer Beziehungen mit der BRD. Was die bilateralen Beziehungen mit der BRD betrifft, so können wir hier einigen Fortschritt feststellen. Dieser Fortschritt ist ein Ausdruck guten Willens für eine echte Verbesserung der Beziehungen zwischen Polen und der BRD. Mit dem gleichen Maßstab würdigen wir die Bedeutung der neuen Ostpolitik der Regierung von Bundeskanzler Brandt. Aber diejenigen irren sich, die da glauben, daß der praktische Fortschritt in den Beziehungen Polens mit der BRD ein Ersatz für die Ratifizierung des Vertrages sein kann. Wir haben das Recht zu fordern, daß die Erklärungen der BRD-Regierung durch praktische Schritte untermauert werden, die auf eine Verbesserung der Beziehungen gerichtet sind. Das trifft auch auf den Zeitraum vor der Ratifizierung des Vertrages zu, in dem ein größerer Fortschritt in unserer Zusammenarbeit, insbesondere in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, erzielt werden könnte.« ^ 9 5 19/1) ( P A P ) ^ I n dem Bericht über den Besuch einer P a r t e i - u n d R e g i e r u n g s d e l e g a t i o n d e r D D R am 18. M a i in Moskau heißt es u. a. :

„Die Seiten äußerten die Überzeugung, daß trotz der Aktivität der Gegner der Entspannung auf dem europäischen Kontinent, und vor allem der aggressiven Kreise der USA und der revanchistischen Kräfte in der BRD, reale Voraussetzungen für die Festigung des Friedens in Europa bestehen. Die Teilnehmer des Treffens hoben die Bereitschaft ihrer Länder hervor, alles Notwendige für die baldigste Einberufung der gesamteuropäischen Konferenz zu tun, die praktische Maßnahmen zur Festigung der Sicherheit und zur Entwicklung der friedlichen Zusammenarbeit in Europa festlegen soll. Die Seiten stellten fest, daß der Abschluß der Verträge zwischen der UdSSR und der BRD, zwischen der VR Polen und der BRD einen wichtigen Schritt 217

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zur Gesundung der Atmosphäre aufgrund der Anerkennung der bestehenden europäischen Realitäten und des Verzichts auf die Gewaltanwendung und -androhung bedeutete. Sie sind der Ansicht, daß die Ratifizierung dieser Verträge die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten günstig beeinflussen würde. Beim Treffen wurde die Wichtigkeit der gleichberechtigten Teilnahme der DDR an der Lösung der Grundprobleme des europäischen Friedens und der internationalen Zusammenarbeit hervorgehoben. In diesem Zusammenhang gewinnt die Herstellung normaler Beziehungen entsprechend den Normen des Völkerrechts zwischen der DDR und jenen Ländern eine besondere Aktualität, die keine solchen Beziehungen zur DDR haben. Das würde die Entspannung in Europa und in der Welt bedeutend vorwärtsbringen. Die Teilnehmer des Treffens äußerten ihre Meinung über den Verlauf der vierseitigen Verhandlungen über West-Berlin. Sie sind einmütig darin, daß die Verständigung in dieser Frage den Interessen aller Verhandlungspartner entsprechen und den Boden für Streitigkeiten und Konflikte in dieser Region beseitigen würde. Die UdSSR und die DDR nahmen die Treffen zwischen Repräsentanten der CSSR und der BRD, bei denen die Frage der Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an aufgeworfen wird, als ein positives Ereignis im europäischen Leben auf." (Außenpolitische Korrespondenz, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Nr. 21, 24. 5.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Rede auf der Generalratskonferenz der Sozialistischen Internationale in Helsinki am 26. M a i u. a. aus:

„Sicherheitsgarantien, Abrüstung und andere günstige Perspektiven können mit Aussicht auf Erfolg nur erörtert werden, wenn ein gemeinsamer Wille und gemeinsame Vorschläge die Maßstäbe der Ordnung zurechtrücken, die die Staatengemeinschaft — zumal in Europa — dringend braucht. Die Politik meiner Partei und meiner Regierung ist auf dieses Ziel gerichtet. Unsere Politik beschränkt sich nicht darauf, anderen zu applaudieren, wenn sie von Frieden reden. Wir fragen uns, was man selbst tun kann — ohne den eigenen Einfluß zu überschätzen und sich zu übernehmen —, um Spannungen abzubauen, Bereiche sachlicher Zusammenarbeit zu erschließen und so den Frieden sicherer zu machen. Für das, was man ,deutsche Ostpolitik* nennt, hat es Lob und Tadel gegeben. Nun, man soll sich durch Zustimmung nicht übermütig machen und durch Ablehnung nicht entmutigen lassen. Aber ich denke, es ist notwendig, an zweierlei zu erinnern: Erstens, daß unsere Bemühungen um Ostverträge eine Konsequenz der in den fünfziger Jahren abgeschlossenen Westverträge und der Erfahrungen sind, die in den sechziger Jahren mit der Konfrontation gemacht werden mußten. Wir wollen gleichberechtigte Partner bei der Organisierung des Friedens werden. 218

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Zweitens, daß die Bemühungen der Bundesrepublik Deutsdiland eingebettet sind in gleichgerichtete Anstrengungen ihrer Partner und Freunde. Wir sind loyale Partner der Atlantischen Allianz und energische Befürworter der westeuropäischen Einigung." „Was die Bundesrepublik Deutschland angeht, so habe ich schon darauf hingewiesen, daß unsere Politik aus den Gegebenheiten unserer Entwicklung und unserer Erfahrungen heraus atlantisch und westeuropäisch verankert ist. Aber es gibt natürlich Bereiche, in denen wir uns nicht vertreten lassen können, sondern in denen das Eis nur von uns selbst gebrochen werden kann. So hat eine feierliche Erklärung über die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen, wenn sie von der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen wird, ein besonderes Gewicht. So ist die Aussöhnung mit Polen ein spezifischer — wie ich meine: auch moralischer — Beitrag zum europäischen Frieden. Das besondere Verhältnis zur Sowjetunion — als eine der für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte — erfordert aus unserer Sicht besondere Bemühungen. Schließlich ist die Regelung des Verhältnisses zwischen den beiden Staaten, in denen die deutsche Nation heute lebt, vor allem Sache der Deutschen selbst: Niemand kann uns diese Aufgabe abnehmen, wenn wir dabei auch auf das Verständnis und die Unterstützung anderer angewiesen sind. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland war eine Zeitlang — wohl nicht ganz ohne Grund — dem Vorwurf ausgesetzt, es werde zu wenig getan, um die Entspannung in Europa zu fördern. Seitdem nun werden wir manchmal gefragt, ob wir auf dem Gebiet der Ostpolitik nicht vielleicht zuviel des Guten getan hätten. Lassen Sie mich dazu sagen: Wir bemühen uns um das erforderliche Augenmaß und die gebotene Nüchternheit. Wir jagen keinen Illusionen nach, und wir opfern keine bewährten Freundschaften. Ich meine jedoch: Es war notwendig und an der Zeit, mit dem Versuch einer Bereinigung zu beginnen. Wir konnten und wollten nicht beiseite stehen und 25 Jahre nach Kriegsende ein ungeklärtes Verhältnis zu den Staaten im Osten Europas fortdauern lassen. Die Verträge, die wir im vorigen Jahr mit der Sowjetunion und Polen abgeschlossen haben, sind nach unserer Überzeugung ein Beispiel, um zur gleichberechtigten Partnerschaft bei der Organisierung des Friedens zu kommen. Wir hoffen, auch mit der Tschechoslowakei zu einer vertraglichen Regelung unserer Beziehungen zu gelangen. Unabhängig davon habe ich in meiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 ausgeführt, daß wir selbstverständlich bereit sind, mit allen Staaten, die unseren Wunsch nach friedlicher Zusammenarbeit teilen, diplomatische Beziehungen zu unterhalten und die bestehenden Handelsbeziehungen zu verstärken. Verzicht auf Gewalt; die Verpflichtung, Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu regeln; die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen; die Achtung der territorialen Integrität; — das sind ohne Zweifel wichtige Ele219

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mente für eine wirksame Entspannung und Bausteine für die Organisierung des Friedens. Nun wird man zugeben müssen, daß alle Reden über Entspannung wenig Sinn ergeben, wenn es nicht jedenfalls gelingt, den Spannungs- und Gefahrenpunkt Berlin zu entschärfen. Eine wirksame und dauerhafte Verbesserung der Lage in und um Berlin ist heute ein Test des gegenseitigen Vertrauens. In unseren Gesprächen mit der Sowjetunion haben wir — auch vor der Unterzeichnung des Vertrages vom 12. August vergangenen Jahres — keinen Zweifel an dieser Uberzeugung gelassen. Natürlich waren wir nicht so töricht, der Sowjetunion Bedingungen stellen zu wollen; wir haben uns selbst auch keine Bedingungen stellen lassen. Aber wir handelten — auch als wir den Moskauer Vertrag unterzeichneten — in der Überzeugung, daß der Frieden in Europa nicht sicherer würde, wenn der Kalte Krieg um Berlin fortdauern könnte. Diesen sachlichen Zusammenhang wird niemand übersehen können." „Die Politik, von der idi gesprochen habe, will nidit nur bilaterale Beziehungen verbessern. Sie will mithelfen bei den in Gang gekommenen Bemühungen um eine umfassende Erörterung von Fragen der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit. An einer solchen Erörterung besteht ein weitreichendes Interesse in Europa und Amerika, in beiden Bündnissen, und nicht zuletzt bei den Neutralen. Meine Regierung hat an dem Gedanken einer Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Anfang an ein starkes Interesse bekundet. Wir haben dies auch bei den vorbereitenden Gesprächen über den Vertrag mit der Sowjetunion deutlich gemacht. So heißt es in einer der dabei formulierten Absichtserklärungen — und wir stehen zu unserem Wort: ,Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der UdSSR begrüßen den Plan einer Konferenz über Fragen der Festigung der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und werden alles von ihnen Abhängende für ihre Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung tun/ Auf einer Konferenz über die Sicherheit in Europa — an der die nordamerikanischen Partner der westlidien Allianz teilnehmen werden — wird gewiß mit Vorteil über Fragen der wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit beraten werden können. Idi will diesen Aspekt, von dem idi selbst schon vor Jahren gesprochen habe, gewiß nicht unterbewerten. Zu den politischen Aufgaben einer gesamteuropäischen Konferenz gehören unzweifelhaft auch die Themen des Gewaltverzichts und der allseitigen Zusammenarbeit zum gemeinsamen Vorteil. Aber es liegt dodi auf der Hand, daß eine oder eine Serie von Konferenzen über die Sicherheit in Europa ihren Sinn nicht erfüllten, wenn auf ihnen nicht vor allem über spezifische Sicherheitsfragen gesprochen werden würde. Wenn wir Entspannung wollen, muß es darum gehen, mehr Sicherheit durch weniger Rüstungen zu erreichen. Diese Fragen dürfen jedenfalls nicht ausgeklammert werden, sondern sie müssen aus der Sicht der einzelnen Länder, ob sie nun einem der Bündnisse 220

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angehören oder nidit, im einzelnen erläutert werden können. In diesem Zusammenhang darf ich an die Vorschläge erinnern, die — unter meiner damaligen Mitwirkung als Außenminister — auf der Ministerratskonferenz der NATO in Reykjavik im Juni 1968 vorgelegt und »signalisiert* wurden. Eine Konkretisierung erfolgte durch die Erklärung von Rom im Mai 1970 und eine Bekräftigung im Kommunique von Brüssel im Dezember 1970. Ich bin sicher, daß die Außenminister des Atlantisdien Bündnisses auf ihrer kurz bevorstehenden neuen Tagung wesentlich Ergänzendes zu diesem Thema festzustellen haben werden." (Europa-Archiv 1971, 12, D 287 ff.) Die Generalratskonferenz der S o z i a l i s t i s c h e n Internation a l e faßt auf ihrer Sitzung in Helsinki im M a i eine Entschließung, in der es u. a. heißt:

„1. Die Sozialistische Internationale begrüßt die Initiativen der österreichischen und finnischen Regierungen und den Fortschritt, der in jüngsten Sitzungen der NATO und des Warschauer Pakts im Hinblick auf ein Übereinkommen betreffend Zusammensetzung, Zweck und Tagesordnung einer europäischen Sicherheitskonferenz gemacht wurde. Sie fordert Regierungen und Völker in Europa und Nordamerika dringend auf, auf die baldige Abhaltung einer Konferenz über europäische Sicherheit hinzuarbeiten. 2. Die siebziger Jahre sollten eine Zeit der Zusammenarbeit werden. Das Ziel muß die Beendigung des Kalten Krieges zwischen Ost und West sein. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion beginnen gerade, in ihren Gesprächen über die Limitation von strategischen Waffen Erfolg zu haben. Die Bundesrepublik Deutschland unter Kanzler Willy Brandt hat bereits das politische Klima in Europa verändert durch den ungebrochenen Mut, mit dem sie die Ostpolitik verfolgt. Die Sozialistische Internationale begrüßt und unterstützt die Bemühungen und Versuche der vier Mächte und der beiden deutschen Staaten, eine Verbesserung der Lage in und um Berlin zu erreichen. Die erfolgreiche Beendigung dieser Bemühungen wird es besonders erleichtern, die multilateralen Anstrengungen zur Verwirklichung der großen Aufgaben der Entspannung und Zusammenarbeit in Europa im positiven Sinne zu fördern. 3. Solche Diskussionen sollten alle Mitglieder der NATO sowie des Warschauer Pakts, zusammen mit neutralen und nichtgebundenen Ländern in Europa einschließen. Sie sollten sich bemühen, größere militärische Sicherheit für ganz Europa durch eine gleichzeitige ausgewogene Reduzierung der Waffen zu erreichen und sollten eine allgemeine Übereinkunft über den Verzicht auf Gewalt in intraeuropäischen Beziehungen beschließen. Sie sollten Anregungen zu größerer Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet geben. 4. Indem sie die möglicherweise innerhalb der beiden Allianzen bestehende Angst reduzieren, daß ein politischer Umschwung ihre Verteidigung gefährden könne — sollten diese Diskussionen es allen Betroffenen leichter machen, ihre 221

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Politik der rechtmäßigen Forderung der europäischen Völker anzugleichen, der Forderung nach dem Recht, ihre Angelegenheiten ohne äußere Einmischung zu ordnen und einige der Probleme zu lösen, die durdi die Umstände hervorgerufen wurden, unter denen der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. 5. Während sie der Ansicht ist, daß die baldige Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz notwendig ist, betrachtet die Sozialistische Internationale es als wesentlich, daß eine solche Konferenz sorgfältig vorbereitet wird. An der Konferenz selbst sollten Minister teilnehmen und den Rahmen der Grundlagen festlegen, innerhalb dessen detaillierte Diskussionen über beoondere Probleme von ständigen Komitees durchgeführt werden könnten. Zu einem gegebenen Zeitpunkt sollten die Feststellungen dieser Komitees an weitere Konferenzen berichtet werden. 6. Im Hinblick auf die dänische parlamentarische Initiative könnte die Konferenz auch in Betracht ziehen, Vertreter der nationalen Parlamente in einigen Abschnitten ihrer Arbeit und zur passenden Zeit einzubeziehen. Die UN-Wirtschaftskommission für Europa (ECE) könnte in der Förderung alleuropäischer wirtschaftlicher Zusammenarbeit eine besondere Aufgabe haben. 7. Die Sozialistische Internationale hofft, daß europäische Sicherheitskonferenzen eine permanente Maschinerie herstellen werden, innerhalb derer die Länder Europas mit verschiedenen politischen Systemen zeigen können, wie Konfrontation durch Kooperation ersetzt werden kann, und so eine Zone des Friedens schaffen." (Europa-Archiv 1971, 12, D 293 f.) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Interview mit der Wiener Zeitung „Die Presse" am 1. Juni u. a. aus:

„Frage: Durch das — was Sie sagten — ,Nadelöhr* Berlin muß auch die Europäische Sicherheitskonferenz hindurch. Wenn nun Berlin vor einer solchen Konferenz vom Tisch wäre, was müßten dann Ihrer Meinung nach die Hauptthemen einer solchen umfassenden Erörterung Von Sicherheitsfragen in Europa sein? Antwort: Ohne Zweifel gibt es einen politischen, einen Sachzusammenhang zwischen einer befriedigenden Berlin-Regelung und einer Konferenz über die Sicherheit in Europa. Denn wenn nicht einmal die Berlin betreffenden Fragen geregelt werden können, wird man auch auf der erwähnten Konferenz keine Fortschritte erzielen. Lassen Sie midi die Themen benennen, die nach meiner Meinung auf einer derartigen Konferenz behandelt werden müßten. Es geht darum, den Frieden in Europa sicherer zu machen, Spannungen abzubauen und allmählich dort Vertrauen zu schaffen, wo bisher Mißtrauen überwog. Dazu können vielfältige Formen der praktischen Kommunikation und Kooperation beitragen. Auch das Thema des Gewaltverzichts verdient Beachtung. Unsere ostpolitischen Initiativen und eine Konferenz über die Sicherheit in Europa sind insoweit sozusagen zwei Wege, die zu demselben Ziel führen sollen. Die einzelnen Regierungen müßten aber auch ihre Meinungen zu dell eigentlichen Sicherheitsfra222

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gen darlegen können. Wir müßten über die Verringerung der Rüstungen in Europa sprechen, und hier denke ich insbesondere an die gleichzeitige und ausgewogene Verringerung der Streitkräfte beiderseits der Trennungslinie. Die kürzlichen Erklärungen der sowjetischen Führungsspitze lassen mich damit rechnen, daß es zu dieser Thematik vielfältige Kontakte und dann vermutlich auch Verhandlungen geben wird. Es ist dabei nicht so entscheidend, wie man verfahrenstechnisch diese Fragen mit einer Konferenz über die Sicherheit in Europa verbindet, was man in ihrem Vorfeld und später in ihrer Weiterführung behandeln kann. Es kommt darauf an, in der Sache Fortschritte zu erzielen und doch zu wissen, daß die aufgeworfene Thematik gleichermaßen wichtig und schwierig ist." (Die Presse, 1. 6.1971) Der sowjetische Ministerpräsident 9. Juni in Moskau u. a. aus:

Kossygin

führt in einer Rede am

„Das konkrete Zutagetreten von Entspannungstendenzen in Europa ist allgemein bekannt. Das ist die erfolgreiche Entwicklung der Zusammenarbeit der Sowjetunion und Frankreichs und einigen anderen Ländern, die zu einem ernsthaften Faktor des Friedens und der Sicherheit auf unserem Kontinent wurde. Das ist die Unterzeichnung der wichtigen Verträge zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik sowie zwischen Polen und der Bundesrepublik. Immer mehr europäische Staaten offenbaren ein Bestreben, Wege zu einem dauerhaften Frieden in Europa zu finden, und daran sind alle europäischen Völker interessiert. Natürlich sind diese Wandlungen nicht von selbst gekommen. Sie sind das Ergebnis eines langjährigen, konsequenten Kampfes der Sowjetunion, der brüderlichen sozialistischen Länder aller friedliebenden Kräfte Europas, damit die Pfeiler der Nachkriegswelt nicht von den Kräften des Revanchismus und Militarismus zerstört werden, und daß sie dauerhaft für alle Zeiten gefestigt sein mögen. Noch vor nicht so langer Zeit lehnten einige westliche Länder jede unserer Friedensinitiativen in Europa unter dem Vorwand ab, daß angeblich die in Europa bestehenden Realitäten, d. h. die zustandegekommenen Grenzen, und die Tatsache des Bestehens zweier souveräner Staaten, der DDR und der Bundesrepublik, keine Realitäten, sondern irgendeine vorläufige, unbeständige Erscheinung seien. Der sowjetisch-westdeutsche Vertrag wie auch der Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik beruhen auf der Notwendigkeit, von jener faktischen Lage auszugehen, die als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung zustandegekommen ist. Gerade deswegen stoßen die Verträge auf den erbitterten Widerstand der Gegner der Entspannung, die auf jede Art und Weise versuchen, ihre Ratifizierung und ihr Inkrafttreten zu verhindern. Wir teilen die vor kurzem von Bundeskanzler Brandt geäußerte Meinung, daß diese Verträge ein Beispiel dessen sind, wie eine gleichberechtigte Partnerschaft in der Sache der Schaffung des Friedens zu erreichen ist. Das Hauptziel der 223

Herbert G. Marza

Verträge besteht doch darin, zum Ubergang von der Feindseligkeit und dem Mißtrauen zu einer wirklichen Versöhnung, einem gegenseitigen Verständnis und einer gemeinsamen Zusammenarbeit beizutragen." (Radio Moskau, russisch, 9. 6.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Ansprache vor dem Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington am 15. Juni u. a. aus:

„Unsere Politik ist logisch. Sie entspricht unserem Interesse und ist eingebettet in die gemeinsamen Überlegungen des westlichen Bündnisses. Sie geht von der Lage aus, wie sie ist. Sie spricht den Gewaltverzicht nach Osten aus, nachdem wir ihn nach Westen bereits 1955 ausgesprochen haben. Sie ist die logische Ergänzung unserer Westverträge. Sie übernimmt im übrigen eine Aufgabe, in der nun einmal die Deutschen durch keinen anderen ersetzt werden können. Wer gefürchtet hat, die Allianz würde darunter leiden, sogar eine Umkehr der Allianzen könnte sich anbahnen, die Sowjetunion werde Vorteile erhalten, die sie an den Rhein stolpern ließen, der hat sich geirrt, und er sollte froh sein, diesen Irrtum audi zugeben zu können. Der Vertrag, den idi im August vorigen Jahres in Moskau unterzeichnete, ist ein Moment der Stabilisierung in Europa. Er setzt die Verpflichtung für beide Seiten, die Grenzen, wie sie seit 1945 bestehen, nicht mehr mit Gewalt zu ändern. Dabei sage ich in aller Offenheit, daß mir diese Grenzen und ihr Zustandekommen nicht gefallen; daß mir die Teilung Europas und Deutschlands nicht gefällt; daß ich kommunistische Herrschaftsformen nicht mag, in Deutschland noch weniger als anderswo. Aber dies alles kann und darf mich und andere doch nicht an der Erkenntnis hindern, daß derjenige ein gefährlicher Narr wäre, der deshalb versuchen wollte, die bestehenden Grenzen mit Gewalt zu ändern. Dies gilt für die Oder-Neiße-Linie, die zu respektieren Millionen meiner Landsleute besonders schwerfällt, weil hinter ihr ihre Heimat liegt, und weil es ihnen scheint, als ob mit dem heutigen Schritt erst besiegelt würde, was doch schon seit 25 Jahren Tatsache ist. Eine hervorragende Publizistin in der Bundesrepublik hat das richtige Bild gefunden: Der Vertrag mit Polen legt den Kranz auf Preußens Grab, aber das Grab existiert seit vielen Jahren. Wahrheit kann schmerzen, die Teilung meines Landes schmerzt; sie schmerzt schon lange. Und bis zum heutigen Tage sterben Menschen an jener widernatürlichen Grenze, die sich in Berlin zu einer Mauer verdichtet hat. Und dennoch war nicht länger zu leugnen, daß Ostdeutschland', die DDR, ein Staat ist. Wir haben es ja erfahren, daß sie über die Attribute der staatlichen Gewalt verfügt. Und wir konnten auch nicht zusehen, daß die Bemühungen um Entspannung zwischen Ost und West sich um Deutschland und Berlin herum entwickelten und mein Land eine Insel eines Konflikts bliebe, der keine Perspektiven hat, oder eine Barriere bliebe, über die andere hinwegsteigen, oder ein Stein würde, über den die Entspannung stolpert." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 17. 6.1971) 224

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Der Generalsekretär des Z K der KPdSU, B r e s c h n j e w , führt in einer Rede auf dem V I I L Parteitag der SED in Ost-Berlin am 16. Juni u. a. aus:

„Mancherorts im Westen wird behauptet, daß die BRD nach diesem Vertrag angeblich Zugeständnisse* gegenüber der Sowjetunion mache. Uns scheint es jedoch, daß unsere aus dem Vertrag vom 12. August hervorgehenden Verpflichtungen auch für die BRD einen nicht geringeren, wenn nicht sogar größeren Wert besitzen als ihre entsprechenden Verpflichtungen für die Sowjetunion. Das betrifft sowohl die Frage des Verzichts auf Gewaltanwendung, Beachtung der Unverbrüchlichkeit der Grenzen als auch, daß man in den gegenseitigen Beziehungen sich von den Bestimmungen der Satzung der UNO leiten läßt. Es geht folglich nicht um irgendwelche einseitigen Zugeständnisse — es gibt sie nicht, von keiner Seite — sondern um das politische Wesen und die allgemeine Errichtung des Vertrages. Und denjenigen in Westdeutschland, die sich mit politischen Spekulationen um den Vertrag mit der UdSSR befassen, möchten wir nur eines sagen: Die Unverbrüchlichkeit der Grenzen der Sowjetunion, der DDR, Polens, der CSSR und der anderen Bruderländer wird unabhängig vom Vorhandensein eines solchen Vertrages gewährleistet! Sie wird gewährleistet durch die vereinigte Macht der Staaten des Warschauer Vertrages. Der Vertrag mit der BRD kann und muß nach seinem Inkrafttreten eine neue Seite in den Beziehungen der BRD mit der Sowjetunion aufdecken, einer umfangreichen, gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit in der Wirtschaft und auf anderen Gebieten Raum schaffen. Aber es geht nicht nur darum, das Inkrafttreten der Verträge der Sowjetunion und Polens mit der BRD wird in vielem eine neue politische Atmosphäre schaffen. Das wird, wie man annehmen darf, die Voraussetzungen für die Herstellung normaler Beziehungen Westdeutschlands mit den europ. sozialistischen Ländern, für die Entwicklung fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen den Staaten des europäischen Ostens und Westens allgemein, für die Lösung wichtiger Probleme der europ. Sicherheit wesentlich verbessern. Die Lage ist so, daß jetzt im Westen realistisch denkende Kreise hervorgetreten sind, die sich für die Festigung des europ. Friedens einsetzen. Gleichzeitig wird die Tätigkeit dieser Kreise immer erbitterteren Attacken seitens eines gewissen Lagers ausgesetzt. Die friedliebenden Völker sehen dieses Bild. Sie können nicht umhin, daraus ihre Schlüsse zu ziehen." (Radio Moskau, russisch, 16. 6.1971) Der Erste Sekretär des Z K der PZPR, G i e r e k , hält auf dem V I I I . Parteitag der SED in Ost-Berlin am 16. Juni eine Rede, in der er u. a. ausführt:

„Mit der Unterzeichnung des historischen Vertrages von Görlitz (Zgorzelec), in dem feierlich und endgültig die bestehende Grenze an Oder und Neiße als Grenze zwischen Polen und Deutschland anerkannt wurde, haben wir einen Grundstein der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern gelegt. Beide Parteien werden auch künftig ihr Bestes tun, um die Freundschaft, die Allianz und die Zusammenarbeit unserer Länder zu stärken. Die 15 Königsberg

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Herbert G. Marza

Wende in den polnisch-deutschen Beziehungen trat ein in Übereinstimmung mit den historischen Gesetzen, die der sozialistischen Entwicklung zugrunde liegen und ist eine dauerhafte und unwiderrufliche. Das sozialistische System, die enge Konsolidierung der DDR mit der führenden Kraft unserer Gemeinschaft — der Sowjetunion —, die Mitgliedschaft im Warschauer Vertrag und im RGW haben die DDR zu einem starken Glied des Sozialismus gemacht, ihre Westgrenze gesichert und eine neue Situation in Mitteleuropa geschaffen. Ohne Beteiligung der DDR können heute und noch weniger in der Zukunft die gesamteuropäischen Probleme der Sicherheit und der Zusammenarbeit gelöst werden." „Wir führen den Erfolg der friedliebenden Politik unserer Staaten auf die wachsende Stärke der sozialistischen Gemeinschaft, auf die Einheit und die Zusammenarbeit zurück. Diese Politik hat zu großen Fortschritten in der internationalen Entspannung geführt und die Frage der Einberufung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa aufgeworfen. In diesem Rahmen wurde zwischen den sozialistischen Ländern und der BRD ein Prozeß der Normalisierung der Beziehungen eingeleitet. Hierfür ist der Moskauer Vertrag vom 12. August letzten Jahres von grundlegender Bedeutung. Er hat eine Plattform des ganzen Prozesses umrissen — die Anerkennung der Realitäten der heutigen politischen Landkarte Mitteleuropas. Auf dieser Plattform Schloß Polen am 7. Dezember vergangenen Jahres einen Vertrag mit der BRD. Die Ratifizierung dieser Verträge ist eine unerläßliche Voraussetzung des wirklichen Fortschritts der Normalisierung. Das Inkrafttreten dieser beiden Verträge wäre von großer konstruktiver Bedeutung für die gesamteuropäische Situation und für die Stärkung der Kräfte der Klugheit, des Realismus und des guten Willens in der Gesellschaft der BRD. Selbstverständlich können normale Beziehungen in Mitteleuropa nur auf der politischen Realität gegründet werden. Das Bestehen zweier souveräner deutscher Staaten — der DDR und der BRD — gehört heute zu den grundlegenden Fakten dieser Realität. Volkspolen unterstützt voll und ganz den aus den Realitäten der Situation resultierenden Standpunkt der DDR zur Frage der Beziehungen mit der BRD. Vernünftige Beziehungen zwischen den beiden souveränen Staaten können nur geschaffen werden auf der Grundlage der Völkerrechtsnormen." (PAP, englisch, 16. 6.1971) Bundeskanzler B r a n d t am 17. Juni u. a. aus:

führt auf einer Pressekonferenz in N e w York

„Meine Regierung bemüht sich um eine im wahren Sinne des Wortes realistische Politik. Realistisch deshalb, weil ihr Ziel der friedliche Ausgleich und weil die Erhaltung des Friedens das oberste Gebot in unserem atomaren Zeitalter ist. Realistisch auch deshalb, weil sich diese Politik eindeutig an den Realitäten orientiert, die wir teils negativ, teils aber auch positiv in unserer Lage vorfinden. Und realistisch schließlich, weil diese Politik dem starken Drängen der Völker nach Verständigung und nach Zusammenarbeit ent226

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

spricht. Das gilt für den Teil Europas, in dem ich -wirke, jedenfalls ebenso wie für das Land, in dem idi jetzt Gast bin. Sie wissen, daß ich mich in den vergangenen zwei Tagen in Washington aufgehalten habe. Präsident Nixon und ich sind uns in der außenpolitischen Zielsetzung einig, aber auch in bezug auf die Wege, auf denen man diese Ziele erreichen kann. Ich bin aus diesem Grunde sehr zufrieden mit meinen Gesprächen in Washington. Wir haben in gewisser Weise ein Stück gemeinsamer Außenpolitik entwickelt. Als Beispiel dafür nenne ich die Berlin-Verhandlungen, die in engstem Einvernehmen mit uns und mit dem festen Willen geführt werden, zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Die USA haben die Ostpolitik der Bundesregierung wirksam unterstützt. Ich weiß die persönliche Anteilnahme des Präsidenten dabei besonders zu schätzen. Als weiteres Beispiel für diese gemeinsamen Bemühungen nenne ich das Einvernehmen über die Vorbereitung von Verhandlungen über eine beiderseitige ausgewogene Truppenverminderung in Europa. Ich wage die Feststellung, daß die siebziger Jahre ein Jahrzehnt der Rüstungsbegrenzung werden können. Wir haben den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Wir nähern uns einem Verbot der bakteriologischen — und danach hoffentlich auch der chemischen — Waffen. Wir haben die Hoffnung, daß die strategischen Waffen eingegrenzt werden können. Und nun beginnen wir uns intensiv mit dem Thema der Truppen- und Rüstungsverminderung in Europa zu beschäftigen. Auf diese Weise kann es gelingen, den Frieden sicherer zu machen. Es gilt aber auch, produktive Kräfte freizumachen für den gesellschaftlichen Fortschritt. Alle Industrienationen tragen schwer an den Rüstungslasten, in Ost und in West. Alle Industrienationen leiden unter ähnlichen Krankheiten, dem ungestümen Wachstum der Städte, der Bedrohung der Umwelt, dem Mangel an Ausbildungsstätten und Ausbildungskräften, der ungenügenden Gesundheitsvorsorge, um nur einige Beispiele aufzuführen. Wir müssen diese Krankheiten bekämpfen, und dafür brauchen alle viel Geld. Mit großem Interesse habe ich die gestrigen Ausführungen des Generalsekretärs Breschnew verfolgt. Ich messe der Tatsache besondere Bedeutung zu, daß er sich gerade in Ost-Berlin, über frühere Formulierungen hinaus, für eine positive Berlin-Vereinbarung ausgesprochen hat. Man kann feststellen, daß alle Beteiligten ihre Bemühungen auf dieses Ziel konzentrieren. Die Ausführungen Breschnews haben auch klargemacht, welche Bedeutung die Sowjetunion nach wie vor dem Vertrag zumißt, den die beiden Regierungen im August vergangenen Jahres in Moskau unterzeichnet haben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 22. 6.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Rede vor dem American Council on Germany in N e w York am 17. Juni u. a. aus:

„Die Bundesrepublik Deutschland holt nun in gewisser Hinsicht die Normalisierung ihres Verhältnisses zu den Staaten Osteuropas nach, die ihre Verbündeten bereits vollzogen haben. Sie respektiert, daß die Grenzen dort 15*

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Herbert G. Mara

verlaufen, wo sie sind. Sie erkennt an, daß es einen politischen Westen, einen politischen Osten gibt; daß es Gesellschaftssysteme gibt, die man nicht mischen kann. Sie ist sich bewußt, daß es zwischen Demokratie und Kommunismus eine unverwischbare Abgrenzung gibt. Und daß schließlich, sosehr uns das schmerzt, die Teilung der deutschen Nation nur soweit überwindbar geworden ist, wie es gelingt, die Teilung Europas zu überwinden. In dieser, wie gesagt, schmerzhaften Erkenntnis sind sich Regierung und Opposition in der Bundesrepublik Deutschland übrigens im wesentlichen einig. Wir werden in diesem Jahr zum zehnten Mal den 13. August vorbeigehen lassen müssen, ohne daß sich an der Mauer in Berlin etwas geändert hat. Es hat sich nichts geändert an ihrer Absurdität, an ihrer Widernatürlichkeit, an ihrer Grausamkeit und an ihrer Existenz. Das, was hinter jener Mauer liegt, ist ein Teil von Berlin, ein Teil von Deutschland, und dennoch ist es ein eigener Staat geworden. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß es einer nicht nur in der Vergangenheit verhafteten Einstellung zur Teilung Deutschlands bedarf. Wir haben gegen sie protestiert, und das war richtig. Wir werden es weiter tun. Wir haben uns gegen sie gewehrt, und das war unser gutes Recht. Wir haben sie beklagt, und das bleibt verständlich. Aber all das reicht nicht. Das Anrennen gegen Mauern wird sinnlos, wenn sie aus weltpolitischem Zement errichtet sind. Der Protest oder die Klage werden peinlich, wenn sie in Selbstmitleid oder in Resignation enden. Unmenschliche und unnötige Folgen der Spaltung zu überwinden, das ist die Herausforderung, der wir uns zu stellen haben. Im Schatten der Berlin-Verhandlungen hat unser Meinungsaustausch mit der DDR begonnen. Er kann heute nicht die staatliche Einheit zum Gegenstand haben. Was aus Deutschland als Ganzem wird, hängt von der künftigen Entwicklung zwischen Ost und West und zwischen den Teilen Europas ebenso ab wie vom künftigen Willen des deutschen Volkes." „Wir machen uns keine Illusionen. Entspannung oder sogar Kooperation sind nicht Fragen eines einmal zu fassenden Beschlusses, sondern Prozesse, die ihre Zeit brauchen. Nur in der Theorie schließen sich Konfrontation und Kooperation aus. In der Praxis werden sie lange nebeneinander existieren zwischen Ost und West, in der Welt und in Deutschland. Die Auseinandersetzung — politisch und ideologisch — wird die Politik in Europa und in Deutschland nach wie vor bestimmen. Wir können unsere Pflicht für Europa und den Frieden nur im Rahmen unserer Allianz erfüllen. Und die DDR ist hineingestellt in die militärischen, ökonomischen und sonstigen Bindungen des Warschauer Paktes. Ein polnischer Journalist bemerkte kürzlich, mit der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages vom 12. August vergangenen Jahres sei die Nachkriegszeit beendet worden. Nun, die Chance, trotz aller Schwierigkeiten zu einem Europa der jedenfalls partiellen Zusammenarbeit zu kommen, war gewiß noch sie so groß während der vergangenen zwanzig Jahre. Die Aufgabe beider Staaten in Deutschland ist es, diese Chance nicht zu zerstören, diesen Prozeß nicht unnötig zu erschweren, sondern ihren spezifischen Beitrag zu leisten. 228

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Unsere Verträge von Moskau und Warschau ebnen dazu den Weg. Die Sowjetunion nimmt in unseren Bemühungen den Platz ein, der ihrer politischen Bedeutung entspricht. Aber alle unsere Bemühungen und alle Anstrengungen unserer Freunde und Verbündeten wären zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht gelänge, den Punkt an der Entspannung in Europa teilnehmen zu lassen, der lange Zeit die Spannung symbolisiert hat: Berlin. Berlin, das ist die deutsche Hauptstadt, von der Hitler seinen Krieg begann, von der aus namenloses Unglück über Europa gebracht wurde. Namenloses Unglück, auch für mein Volk. Es ist die Stadt, die am grausamsten darunter gelitten hat; bis zum heutigen Tage. Berlin zu nennen heißt aber auch, an eines der stärksten Bindeglieder zu erinnern, die zwischen diesem Land hier und dem demokratischen Deutschland bestehen, es heißt, die Erinnerung wachzurufen an einen der großen Erfolge, die westliche Entschlossenheit und westliche Geschlossenheit an einem geographisch ungünstigen Punkt erreicht haben." „Früher wurde an diesem Tag vor allem das Recht der Deutschen auf nationale Einheit betont. Zuwenig war wohl die Rede von der europäischen und weltpolitischen Verantwortung der Deutschen. Geschichtlich ist die Teilung Europas eine Folge von Hitlers Krieg. Es war gegen unseren Wunsch, aber es ist die Realität, daß die Deutschen heute in zwei Staaten leben. Dies mindert nicht ihre Verantwortung für den Frieden in Europa. Und deshalb ist dieser Tag für den deutschen Bundeskanzler der Tag des Bekenntnisses zur Verantwortung, das Mögliche zu tun, damit die Staaten in Europa einander näherkommen, neben- und miteinander leben können und unter ihnen und mit ihnen auch das deutsche Volk. Es gibt Bereiche, in denen wir uns nicht vertreten lassen können, sondern in denen das Eis nur von uns selbst gebrochen werden kann. So hat eine feierliche Erklärung über die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen, wenn sie von der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen wird, ein besonderes Gewicht. So ist die Aussöhnung mit Polen ein spezifischer — wie ich meine auch moralischer — Beitrag zum europäischen Frieden. Das besondere Verhältnis zur Sowjetunion — nicht nur als eine der für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte — erfordert aus unserer Sicht besondere Bemühungen. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland war eine Zeitlang — wohl nicht ganz ohne Grund — dem Vorwurf ausgesetzt, es werde zuwenig getan, um die Entspannung in Europa zu fördern. Seitdem nun werden wir manchmal gefragt, ob wir in östlicher Richtung nicht vielleicht zuviel des Guten getan hätten. Lassen Sie mich dazu sagen: Wir bemühen uns um das erforderliche Augenmaß und die gebotene Nüchternheit. Wir jagen keinen Illusionen nach, und wir opfern keine bewährten Freundschaften. Ich meine jedoch: Es war notwendig und 25 Jahre nach Kriegsende an der Zeit, mit dem Versuch einer Bereinigung zu beginnen. Lassen Sie mich in allem Freimut hinzufügen: Solange militärische Machtmittel vorhanden sind, die ausdrücklich oder vorwiegend der Politik der 229

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Mächte Nachdruck verleihen sollen, solange kann auch der friedliebendste Staat nicht darauf verzichten, seine Unabhängigkeit und seine territoriale Integrität durch eigene militärische Anstrengungen zu schützen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 19. 6.1971) Bundesminister Prof. D r . E h m k e führt in einer Ansprache auf dem 9. Heimkehrer-Deutschlandtreffen in Stuttgart am 20. Juni u. a. aus:

„Die Bundesregierung wird die Verträge von Moskau und Warschau nur dann dem Bundestag vorlegen, wenn eine befriedigende Berlin-Regelung sozusagen als Testfall für die politische Wirkung der Verträge zustande gekommen ist. Ich glaube, daß dies gelingen wird und die Verträge in absehbarer Zeit in Kraft treten. Von dieser Voraussetzung gehe ich aus, wenn ich nun ein besonderes Wort zum Vertrag mit Polen sage. Im Bewußtsein der polnischen wie der deutschen Öffentlichkeit ist er ein Vertrag über die Oder-Neiße-Linie. Die Gebiete östlich von Oder und Neiße sind vor mehr als 25 Jahren verspielt und verloren worden. Und dieser Verlust ist von der gesamten Staatengemeinschaft der Welt praktisch akzeptiert worden. Nach dem Willen beider Regierungen soll der Vertrag über die politische Regelung dieses Problems weit hinausführen. Der Teil des Vertrages, der die Westgrenze Polens betrifft, ist gleichsam der Vergangenheit zugewandt. Der Teil, der den Wunsch nach der umfassenden Entwicklung guter Beziehungen ausdrückt, reicht in die Zukunft. Der eine ist besonders schmerzlich für meine Generation, die sich der alten Heimat im Osten eng verbunden fühlt, der andere ist besonders wichtig für die seit der Vertreibung herangewachsene junge Generation in Deutschland, die endlich mit jungen Polen unbefangen sprechen können möchte. Uns Älteren fällt das nicht so leicht, hier nicht und drüben nicht. Aber eines können wir sicher tun: der Jugend beider Völker den Weg in eine friedliche Zukunft zu ebnen, die nicht mehr von den Schatten der Vergangenheit belastet ist. Dazu gehört auch ein Problem, das gerade Ihrem Kreise besonders nahe sein wird: die Heimkehr von ausreisewilligen Deutschen aus Polen in die Bundesrepublik, Sie erfolgt im Rahmen von Vereinbarungen zwischen den RotkreuzOrganisationen beider Länder. Wer wie Sie viele Jahre auf die Heimkehr und das Wiedersehen mit den Angehörigen hat warten müssen, kann sich in die Lage derer versetzen, die nunmehr die Chance erhalten, nach mehr als 25 Jahren wieder mit ihren Angehörigen zusammenzukommen. Die Bundesregierung sieht in der vereinbarten zügigen Abwicklung der Aktion — zur Zeit treffen zwischen 400 und 500 Heimkehrer wöchentlich in der Bundesrepublik ein — einen wesentlichen Beitrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk. Sie weiß, und auch die polnische Regierung ist sich wohl darüber klar, daß es in den ersten Monaten manche Schwierigkeiten und Stockungen gegeben hat. Ich möchte hier an unsere Landsleute appellieren, nicht die Geduld zu verlieren. Es handelt sich um ein in mancher Hinsicht viel schwierigeres Unternehmen, als etwa die Heimführung von Kriegsgefangenen. Es müssen Arbeitsverhältnisse gekündigt, Besitzverhältnisse geregelt und Bindungen mancher Art ge230

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löst werden. Dadurch entstehen Probleme sowohl auf polnischer wie auf deutscher Seite. Vorschnelle Kritik scheint mir nicht am Platze, solange sich alle Beteiligten um erträgliche Lösungen bemühen. Die Bundesregierung ist sich gleichzeitig der großen Verantwortung bewußt, die sie zusammen mit den Bürgern dieses Landes trägt, wenn es darum geht, den Aussiedlern die Eingliederung in unsere Gesellschaft nach besten Kräften zu erleichtern. Auch hier sind nodi keineswegs alle Probleme gelöst, aber wir bemühen uns darum und hoffen dabei auf Unterstützung durch private Initiative." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 23. 6.1971) Das Präsidium des B u n d e s d e r V e r t r i e b e n e n erklärt zu dem vom Sejm in Warschau verabschiedeten Gesetz über die Übereignung ostdeutschen Kirchenbesitzes an die polnischen Kirchenbehörden:

„Die Volksrepublik Polen hat als Verwaltungsmacht in einem besetzten Teil Deutschlands nicht das Recht, über deutsches Eigentum zu verfügen. Das gilt auch für das Eigentum anerkannter Religionsgemeinschaften und die Übertragung von Eigentum von einer Religionsgemeinschaft auf eine andere. Der BdV warnt zugleich vor unüberlegten Schritten und Erklärungen, die offen oder unterschwellig das Verhältnis zwischen den Angehörigen der verschiedenen Konfessionen belasten können. Selbstverständlich soll unabhängig von den Eigentumsfragen die örtliche Bevölkerung die notwendigen Räume für Gottesdienst und Seelsorge in den von Polen verwalteten deutschen Gebieten ohne unerträgliche Beschränkungen und Belastungen zur Verfügung haben. Der BdV fordert jedoch weiterhin die strenge Beachtung aller Abmachungen des geltenden Reichskonkordats. Er erwartet von der Bundesregierung ein entschiedenes Eintreten dafür, daß der Schutz des Völkerrechts und des geltenden Vertragsrechts für die Deutschen und für Deutschland erhalten bleibt." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 25 vom 30. 6.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Rede vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing am 13. Juli u. a. aus:

„Meine Regierung hat sich vorgenommen, gemeinsam mit anderen den Frieden in Europa sicher zu machen. Wenn es jenseits des Friedens für unser Volk keine Existenz mehr gibt, dann bekommt die Erhaltung des Friedens einen anderen Stellenwert als vor hundert oder audi vor fünfzig Jahren. Dann muß auch die Definition nationaler Interessen und der Sicherung des Friedens anders gesehen werden als vor hundert oder fünfzig Jahren. Es gibt dann kein vitaleres nationales Interesse als die Sicherung des Friedens. Dies bedeutet nicht, daß es andere Interessen nicht gäbe. Aber mir will scheinen, daß Forderungen, die sich lediglich aus Rechtstiteln der Vergangenheit herleiten, dem Ausgleich, der Verständigung, dem Frieden in Europa nicht im Wege stehen dürfen. Unsere Kinder werden uns nicht daran messen, wieviel juristischen Scharfsinn wir auf die Verteidigung der von Hitler zerstörten Gren231

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zen, sondern wieviel Energìe wir an die Organisierung des Friedens für die siebziger und achtziger Jahre verwendet haben. Daß diese Organisierung des Friedens — innerhalb des Westens und im OstWest-Verhältnis — ein mühsames Geschäft sein würde, haben wir gewußt. Daß die Chancen des Erfolges größer sind als die des Scheiterns, wage idi Ihnen heute zu sagen. Und wenn wir zum Erfolg kommen, wollen wir nicht rechten, was Ursache, was Wirkung war, wie hoch unser Beitrag zu veranschlagen sei. Wir wollen dann nur feststellen, daß der Beitrag, den wir geleistet haben, nicht nur dem Willen der Menschen in unserem Lande entsprach, die meiner Regierung ihre Stimme gaben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 14. 7.1971) Der Präsident des BdV, D r . C z a j a , erklärt zum Kabinettsbeschluß vom 30. Juni über die Aufhebung der Bezeichnungsrichtlinien:

„Das Präsidium des BdV hat seit Wochen vor den Absichten der Bundesregierung zur Änderung der Karten- und Bezeichnungsrichtlinien gewarnt. Durch juristisch nicht verbindliche »Hinweise* an die einzelnen Ministerien und Länder versucht sie, die Feststellung und Anfechtbarkeit von Verfassungswidrigkeiten verbindlicher Rechtsakte zu umgehen und die Urheber von Verfassungswidrigkeiten hinter undurchsichtigen Kompetenzen zu verbergen. Wenn nun die Deutschen schrittweise an das Verschwinden Gesamtdeutschlands von den Karten und aus dem Sprachgebrauch gewöhnt werden sollen, versucht man damit, die Hinnahme verfassungswidriger Rechtsakte bei dem Ratifizierungsverfahren der Ost Verträge vorzubereiten. Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik dürfen aber nach wiederholter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Teile Deutschlands in den Grenzen von 1937 n i c h t als A u s l a n d behandeln. Breiten Bevölkerungsschichten werden damit die politischen Bestrebungen deutlich sichtbar, aus der Bundesrepublik einen von ganz Deutschland endgültig abgespaltenen, auf die Dauer selbständigen Staat zu machen. Dem Bewußtsein der Bürger soll möglichst unauffällig eingeimpft werden, daß unsere Verpflichtung zur Wahrung berechtigter Interessen ganz Deutschlands aufgehoben wird. Verbindliche Rechtsakte in dieser Richtung setzen aber die Verabschiedung einer neuen Verfassung voraus. Dafür gibt es weder die zur Änderung des Grundgesetzes erforderlichen Mehrheiten bei den Verfassungsorganen noch den mehrheitlichen politischen Willen der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Auch unsere Bindungen durch das Völkervertragsrecht gestatten einen solchen Vorgriff auf friedensvertraglidie Regelungen nicht. Den unverbindlichen ,Hinweisen' werden sich die freien Deutschen widersetzen und sie nicht befolgen: Freiheit bleibt Freiheit! West-Berlin gehört audi politisch zur Bundesrepublik Deutschland! Fremde Verwaltung deutscher Gebiete bleibt fremde Verwaltung! Noch immer sind alle Verfassungsorgane verpflichtet, alles zu unterlassen, was dem Inkraftsetzen des Grundgesetzes in den anderen Teilen Deutschlands ent232

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gegensteht und den grundgesetzlichen Auftrag zur freiheitlichen Einigung der Deutschen behindert." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 27/28 vom 27. 7.1971) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, H e r o l d , beantwortet am 9. August eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Baron v. Wrangel, Dr. Czaja, Reddemann, Dr. v. Bismarck, Dr. Mende, D r . Bach und der Fraktion der C D U / C S U (Drucksache VI/2466) wie folgt:

„Die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU beantworte ich wie folgt: Wir fragen die Bundesregierung: 1. Waren die Richtlinien für die Bezeichnung Deutschlands sowie der Demarkationslinien und Ortsbezeichnungen innerhalb Deutschlands vom Juli 1965 (GMBl. 1965 S. 277) im Einklang mit Inhalt und Wortlaut des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Deutschlandbegriff des Grundgesetzes und mit dem Ziel, eine freiheitliche Ordnung des Staatslebens in Deutschland während einer Übergangszeit zu sichern, in der von Verfassungsorganen nichts veranlaßt werden darf, was dem Inkraftsetzen des Grundgesetzes in anderen Teilen von ganz Deutschland entgegensteht oder dies evident und auf Dauer erschwert und beeinträchtigt? 2. Welche Gründe haben die Bundesregierung im einzelnen veranlaßt, die Bezeichnungsrichtlinien als überholt anzusehen und aufzuheben, und billigt sie mit ihren Gründen die Auffassung des Staatssekretärs Ahlers, daß die Anwendung der bisher als verfassungskonform angesehenen Bezeichnungsrichtlinien seit der Unterzeichnung der Ost ver träge unsinnig4 wäre? 3. Wird die Bundesregierung nach der Aufhebung der bisherigen ,Bezeichnungsrichtlinien' sicherstellen, daß ohne Reglementierung der Öffentlichkeit die Behörden des Bundes auch zukünftig Bezeichnungen wählen, die im amtlichen Sprachgebrauch den Deutschlandbegriff des Grundgesetzes wahren und einer Gewöhnung des allgemeinen Sprachgebrauchs an einen vom Grundgesetz abweichenden Deutschlandbegriff entgegentreten, oder sollen die Behörden des Bundes in Zukunft bei den Bezeichnungen nur dem angeblichen ,Grundsatz der Respektierung der amtlichen Bezeichnung anderer Länder' für Deutschland entsprechen? 4. Hat die Bundesregierung die Absicht, die Änderung des amtlichen Sprachgebrauchs bei der Bezeichnung Deutschlands, der Demarkationslinien und Orte innerhalb Deutschlands in Zukunft durch eine Grundgesetzänderung abzustützen, oder war sie nicht bereits vor der Änderung der Bezeichnungsrichtlinien verpflichtet, durch Initiativen zur Grundgesetzänderung prüfen zu lassen, ob die gesetzgebenden Körperschaften eine solche Änderung des Deutschlandbegriffs und der Pflicht zur Wahrung der Interessen ganz Deutschlands billigen? 5. Dürfen Verfassungs- und Verwaltungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z. B. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4 S. 307) Gebiete Deutsch233

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lands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 als Ausland und nicht als Inland behandeln oder bezeichnen? 6. Mit welcher Begründung hat das Kabinett den in Abschnitt I Buchstabe a der ,Bezeichnungsrichtlinien 1965* enthaltenen Satz: ,Die Bundesrepublik Deutschland setzt — unbeschadet der Tatsache, daß ihre Gebietshoheit gegenwärtig auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt ist — das Deutsche Reich als Völkerrechtssubjekt unter Wahrung seiner rechtlichen Identität fort*, aufgehoben? 7. Mit welcher politischen sowie staats- und völkerrechtlichen Begründung hat das Kabinett in Abschnitt I Buchstabe a der ,Bezeichnungsrichtlinien 1965* den Absatz: ,Bis zu der einem Friedensvertrag vorbehaltenen endgültigen Regelung ist als deutsches Staatsgebiet das Gebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 zu bezeichnen. Die völkerrechtlich gültigen Grenzen sind die des Deutschen Reichs nach dem Stand vom 31. Dezember 1937' sowie die Richtlinien 1961 zur Darstellung der deutschen Grenzen in Karten und Texten aufgehoben? 8. Mit welcher politischen sowie staats- und völkerrechtlichen Begründung hat das Kabinett in Abschnitt I Buchstabe b der ,Bezeichnungsrichtlinien 1965' den Absatz: ,Normalerweise ist davon auszugehen, daß die Bezeichnung ,Bundesrepublik Deutschland' das Land Berlin einschließt. Der Zusatz einschließlich des Landes Berlin' sollte nur gebraucht werden, wo ein besonderes Bedürfnis nach Klarstellung der Zugehörigkeit Berlins zum Bundesgebiet besteht/ aufgehoben? 9. Mit welcher staats- und völkerrechtlichen Begründung sollen die »ostwärts der Oder-Neiße-Linie liegenden Gebiete Deutschlands' von nun an nicht mehr als ,Deutsche Ostgebiete, ζ. Z. unter fremder Verwaltung' und die Demarkationslinien innerhalb Deutschlands nicht mehr im Sinne der Richtlinien 1965 bezeichnet werden? 10. Sind in der Zukunft zur Bezeichnung von Orten innerhalb des deutschen Staatsgebiets im amtlichen Sprachgebrauch und in amtlichen Urkunden nicht mehr ,allein die hergebrachten deutschen Namensformen' und für die ,z. Z. unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete' deutsche Ortsbezeichnungen nach dem ,Amtlichen Gemeinde- und Ortsnamenverzeichnis der deutschen Ostgebiete unter fremder Verwaltung' zu verwenden, wobei in unumgänglichen Fällen bei letzteren in Klammern fremdsprachige Namensformen beigefügt werden können? I. Die Kleine Anfrage geht von Voraussetzungen aus, die nicht zutreffen. Da die Einzelfragen von diesen Voraussetzungen abhängig sind, ist es nur möglich, sie zusammen zu beantworten. II. Genau wie es einer früheren Bundesregierung freistand, ohne Mitwirkung des Parlaments die Bezeichnungs- und Kartenrichtlinien zu erlassen, kann die gegenwärtige Bundesregierung sie nun aufheben. Damit ist kein Eingriff in das 234

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Grundgesetz oder die Rechte des Parlaments verbunden. Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Probleme werden dadurch nicht berührt. Der Aufhebung von Bezeichnungs- und Kartenrichtlinien würde nur dann verfassungsrechtliche Bedeutung zukommen, wenn durch ein Gebot des Grundgesetzes die Notwendigkeit solcher Richtlinien festgelegt wäre. Das dürfte jedoch auch von den Fragestellern nicht in Betracht gezogen werden. III. Die Bezeichnungs- und Kartenriditlinien sind seinerzeit als interne Weisungen für den Bereich der Bundesregierung erlassen worden. Die heutige Bundesregierung erblickt grundsätzlich in der Festlegung von Bezeichnungen kein geeignetes Mittel der Politik und schon gar nicht einen Ersatz für Politik. Dies gilt insbesondere, wenn der Sprachgebrauch weitgehend über diese Festlegungen hinweggegangen ist. Die Bundesregierung hat sich deshalb entschlossen, die Richtlinien aufzuheben, um Gelegenheit zu geben, die Diskrepanz zum allgemeinen Sprachgebrauch in Politik und Publizistik abzubauen und unnötige Erschwernisse zu beseitigen. Die Bundesregierung sieht in diesem Schritt ein ,Gebot der praktischen Vernunft', womit sie einer Maxime folgt, die der damalige Bundeskanzler Kiesinger am 25. September 1969 in einer Fernsehdiskussion anführte, um den Gebrauch des Ausdrucks ,DDR... ohne Anführungsstriche' zu begründen. Schon am 16. Dezember 1966 hatte der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, in der Debatte zur Regierungserklärung der großen Koalition unter dem Beifall der Regierungsparteien — also auch der heutigen Opposition — seine Weigerung, als ,Nomenklatur-Einhalte-Obermeister' zu fungieren, ausführlich begründet. Um der politischen Glaubwürdigkeit und der notwendigen Klarheit in der Verwaltung willen konnte es nicht länger hinausgezögert werden, aus einem längst bestehenden Zustand, an dessen Herbeiführung auch die heutige parlamentarische Opposition mitgewirkt hat, die Konsequenzen zu ziehen. IV. Mit der Aufhebung der Bezeichnungs- und Kartenrichtlinien ist ein Zustand hergestellt worden, wie er in anderen Verwaltungsbereichen selbstverständlich ist. Das bedeutet: Soweit im amtlichen Sprachgebrauch unter politisch und rechtlich relevanten Aspekten Einheitlichkeit angestrebt werden muß, erfolgt von Fall zu Fall eine Abstimmung der zuständigen Stellen. Dieses Verfahren hat sich wegen der mangelnden Anwendbarkeit der Bezeichnungsrichtlinien schon seit Jahren eingespielt. Insofern ändert die Aufhebung der Richtlinien nichts an der bewährten Praxis. V. Die Bundesregierung muß dem durch die vorliegende Anfrage hervorgerufenen Eindruck entgegentreten, als ob es nicht jedem Bürger freigestellt war und freigestellt bleibt, diejenigen Bezeichnungen zu verwenden, die er nach eigener Verantwortung für richtig hält." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drucksache VI/2500) 235

Herbert G. Marza Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , schreibt in einem Aufsatz anläßlich des Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrages im „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" vom 9. August u. a.:

„Am 13. August dieses Jahres sind zehn Jahre vergangen seit dem Bau der Mauer in Berlin. Schlagartig und schmerzlich wurden wir damals mit der Realität der deutschen Spaltung konfrontiert. Dem Abbau der damals so kraß zutage tretenden Konfrontation soll der deutsch-sowjetische Vertrag vom 12. August 1970 dienen. Er bietet uns nicht nur die Möglichkeit, aus Belastungen der Vergangenheit herauszufinden; er ist auch die Grundlage für bessere, fruchtbarere Beziehungen mit der Sowjetunion in der Zukunft. Wir haben diesen Vertrag abgeschlossen, weil es ohne Entspannung im deutschsowjetischen Verhältnis keine Entspannung in Europa und damit auch keine Fortentwicklung in den Beziehungen zwischen West- und Osteuropa gibt. Wir haben aus europäischer Verantwortung gehandelt. Stagnation im Verhältnis zu Osteuropa bedeutet auf die Dauer Rückschritt. Sie verewigt unnatürliche Spaltungen, vertieft Gräben, schafft Gefahren, gerade auch in Deutschland. Der Vertrag von Moskau geht von der in Europa ,bestehenden wirklichen Lage' aus, denn wir treiben eine illusionslose Politik. Wir geben damit nichts auf. In einem zum Vertragswerk gehörenden Brief wird das Ziel der Bundesregierung herausgestellt, ,auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangt'. Entspannung wird nicht von heute auf morgen eintreten. Aber wir haben einen Anfang gesetzt. Die Atmosphäre ist entgiftet. Manches wurde schon erreicht. Ein politischer Meinungsaustausch, nicht nur mit der Sowjetunion, sondern auch mit anderen Staaten des Warschauer Pakts hat begonnen. Die Errichtung von Generalkonsulaten in Leningrad und Hamburg ist vereinbart. Verhandlungen über Handels- und Luftfahrtabkommen haben begonnen; die Grundlage für einen Austausch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet und für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit ist gelegt. Beiden Partnern wird damit stärker der Blick für die Lage und die Interessen des anderen geöffnet, neue Interessen entstehen, ungeachtet alles Trennenden." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 9. 8.1971) Der Erste Sekretär des Z K der SED, H o n e c k e r , gibt am 25. August dem sowjetischen Fernsehen und Rundfunk ein Interview, in dem er u. a. erklärt:

„Wie die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Bruderstaaten befürworten und unterstützen wir in vollem Maße die von der Sowjetunion und von der VR Polen mit der BRD abgeschlossenen Verträge, in denen die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung entstandenen Grenzen bestätigt sind, darunter auch die Grenze zwischen der DDR und der BRD sowie die Westgrenze Polens. Worum es jetzt geht, ist die Ratifizierung dieser 236

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Verträge, damit sie im Leben wirksam werden können und ihre positive Rolle voll zur Geltung kommt. Das wäre zweifellos ein großer Beitrag für die Entspannung in Europa. Alle Völker unseres Kontinents hätten davon einen Vorteil, nicht zuletzt auch selbstverständlich unsere DDR, die ihr sozialistisches Aufbauwerk in gesichertem Frieden fortsetzen will." (Radio Moskau, deutsch, 25. 8.1971) Der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, D r . H u ρ k a , führt auf dem Tag der Heimat in Berlin am 29. August u. a. aus:

„Wir alle wissen, was gerade unsere Nachbarn im Osten Grausames und Unmenschliches unter Hitler und von Deutschen erfahren und erlitten haben. Aber die Verbrechen von gestern berechtigen niemanden, mit neuen Verbrechen zurückzuzahlen. Mit dem Unrecht des Generalgouvernements, in dem der Name Polen ausgelöscht werden sollte, kann man nicht das Unrecht begründen, daß nun auch Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen als Teile Deutschlands augelöscht werden müssen. Das furchtbare Geschehen, das sich mit Orten wie Auschwitz oder Lidice verbindet, kann nie und nimmer die Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat verständlich machen oder gar entschuldigen. Auf Auschwitz folgt die Oder-Neiße-Grenze, so hört man es gelegentlich; diese Pseudo-Logik will aus den ermordeten Juden und Polen von gestern Pioniere der kommunistischen Hegemonialpolitik von heute und Zeugen nationalistischer Überheblichkeit machen. Für die Verbrechen von gestern muß Wiedergutmachung geleistet werden, aber diese Wiedergutmachung darf nicht in neuen Verbrechen und deren Sanktionierung bestehen . . . Was uns jetzt im W a r s c h a u e r V e r t r a g vom 7. Dezember 1970 vorgelegt wird, ist eine Bestätigung vollzogener Annexionen und steht im Widerspruch zu dem Satz von der Rechtswidrigkeit einer gewaltsamen Annexion. Was in Warschau Vertragstext wurde, so sagen es die Interpreten hierzulande, sei nur eine Lagebeschreibung des heutigen Zustandes und als Modus vivendi zu verstehen, mit einer friedensvertraglichen Regelung habe es nichts zu tun. Dem widerspricht leider schon der Text des als Muster übernommenen Görlitzer Vertrages zwischen den Diktaturen von Ost-Berlin und Warschau und dessen offizielle kommunistische Auslegung. Und es widerspricht dieser auf den binnendeutschen Bedarf abgestimmten Interpretation, es handele sich nur um eine politische, nicht aber um eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung, die von der Warschauer Regierung gegebenen Darstellung. Für sie hat der Warschauer Vertrag das vollzogen, was Wladyslaw Gomulka, der bekanntlich bei der Unterzeichnung am 7. Dezember noch am politischen Leben war, in seiner Rede vom 17. Mai 1969 so umrissen hat: ,In der Frage der Grenze an Oder und Neiße wird Polen mit der Deutschen Bundesrepublik niemals einen Vertrag abschließen, der vom Görlitzer Vertrag abweichen würde, der mit der DDR beschlossen wurde. Dies würde einen Schritt rückwärts bedeuten, einen Schlag gegen uns selbst und alle unsere Verbündeten und Freunde, sowie gegen diejenigen Staaten und politischen Kräfte im Westen, die unseren Standpunkt teilen, daß diese Grenze endgültig ist/ 237

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Noch ist durch diesen Warschauer Vertrag Gesamtdeutschland nicht gebunden, denn noch gelten die Bestimmungen aus dem Deutschlandvertrag und die Rückstellungsklausel eines Entscheides über die Grenzen Deutschlands bis zu einem Friedensvertrag. So hört man es immer wieder. Hier einmal die Gegenfrage: Wie soll denn die Entscheidung eines sogenannten gesamtdeutschen Souveräns anders ausschauen, nachdem sowohl der frei regierte Teil als auch der kommunistisch beherrschte Teil Deutschlands eindeutige Erklärungen abgegeben haben, und soll sich dann Moskau oder Warschau auf einen geringeren Status einlassen? Sollte so etwas möglich sein, lieferte dies doch Rußland wie Polen einen Vorwand mehr, gegen eine deutsche Wiedervereinigung zu operieren. Ohnedies ist diese nur unter dem Signum ,Neues Deutschland' der SED gefragt! Aber es ist doch auch einiges erreicht worden, so behauptet man, nimmt die ,Information' zur Hand und führt die besseren Möglichkeiten zur Aussiedlung der Deutschen an. Wir freuen uns aus vollem Herzen über jeden Landsmann, der endlich aus der Unfreiheit in die Freiheit gelangt. Allzu viele haben schon allzu lange gewartet. Aber diese Information hat es in sich, denn sie ist denen, für die sie bestimmt ist, bis heute offiziell nicht zugänglich gemacht worden. Das erlaubt die Warschauer Regierung nicht. Dann gibt es immer noch Schikanen und Ablehnungen, Verlust des Arbeitsplatzes und hohe Abschlagszahlungen, kostenlose Übereignung des bisherigen Eigentums und die ständige Ungewißheit, wie lange das etwas großzügigere Verfahren in der Aussiedlung beibehalten bleibt. Dazu kommen die Lügenmeldungen polnischer Berichterstatter, die von der Gleichstellung der Aussiedler mit Asozialen und Obdachlosen faseln und Einrichtungen wie Förderschulen für die junge Generation unter den Aussiedlern mit nationalsozialistischen Einrichtungen im Stile von ,Lebensborn' vergleichen. Bei uns aber stellt man sich stumm und taub, so als ginge einem all dieses Zeug, das nur Verwirrung in die Reihen der zur Aussiedlung entschlossenen Deutschen tragen soll, nichts an, als müßte es so sein, daß Kommunisten lügen und hetzen. Zu dem, was bei uns beharrlich verschwiegen wird, gehört auch die in diesem Sommer beschlossene rechtswidrige Ubereignung des K i r c h e n e i g e n t u m s deutscher katholischer und evangelischer Gemeinden an die katholische Kirche in Polen durch den polnischen Staat. Bis zu dem Zeitpunkt, da ein Friedensvertrag die Sachlage endgültig klärt, kann auch die katholische Kirche in Polen das Kircheneigentum der deutschen Gemeinden nur treuhänderisch verwalten, nicht aber sich selbst zu eigen nehmen. Vor allem aber hat der polnische Staat gar kein Recht, aus eigener Machtvollkommenheit in das Eigentum der deutschen Kirchengemeinden einzugreifen und dieses wie Beutegut dem Nächsten, das ist die katholische Kirche in Polen, zu schenken. Bis heute vermissen wir eine deutsche Stimme des Protestes und des Einspruches. Oder sollte schon vor einer möglichen Ratifizierung des Warschauer Grenzvertrages Ostdeutschland fernes Ausland geworden sein? Im Artikel 1, 3. Absatz des Warschauer Vertrages steht ein Satz, den viele überlesen, der aber schon jetzt die ersten unheimlichen und bedrückenden Folgen zeigt. Es ist darin davon die Rede, daß die vertragsschließenden Parteien »gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft 238

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nicht erheben werden*. Selbstverständlich erhebt kein Deutscher Gebietsansprüche auf polnisches Territorium. Aber wie verhält es sich mit Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen, werden diese deutschen Provinzen nicht plötzlich polnisches Territorium, wenn der Warschauer Grenzvertrag als Vorfriedensvertrag oder Friedensvertragsersatz ratifiziert werden sollte? Schon jetzt gibt es bemerkenswerte Vorstöße aus polnischer Richtung, unterstützt durch unsere lieben deutschen Mitmarschierer, indem gefordert wird, daß Gesetzestexte und Schulbücher, Landkarten und geschichtliche Darstellungen umfunktioniert werden müssen, daß den Vertriebenen und ihren Sprechern das Wort zu entziehen sei. Das ist keine Schwarzseherei, so ist es wirklich. Was jeden, der die gegenwärtigen Verhältnisse in Ostdeutschland kennt, am schwersten bedrückt, sind die den Deutschen von der Volksrepublik Polen verweigerten Menschenrechte. Um so stärker müssen wir dagegen protestieren, daß von diesen elementaren Menschenrechten, auf die auch Deutsche einen Anspruch haben, im Warschauer Vertrag nichts zu finden ist. Darüber hinaus haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Repräsentanten des heutigen Polens zwar zu Recht dagegen Stellung beziehen, in welcher Weise dem polnischen Volk von den deutschen Machthabern die Menschenrechte verweigert worden sind, ohne aber auch nur im geringsten daraus zu folgern, daß man sich gegenüber den Deutschen nun nicht gerade genauso verhalten dürfe. Zur polnischen Praxis von heute gehört es, die über eine Million Deutschen gewaltsam zu polonisieren und ihnen sogar den Gebrauch der deutschen Muttersprache im Gottesdienst und bei der Beichte zu verwehren. Eine Chance, die elementaren Menschenrechte wenigstens vertraglich zu sichern, ist leider vertan worden. Von diesen Menschenrechten wollten die polnischen Unterhändler nichts wissen, und die deutschen Unterhändler haben sich damit abgefunden. Eine schmerzvolle, eine empörende Feststellung." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 32/33 vom 3. 9.1971) )er S t ä n d i g e R a t d e r o s t d e u t s c h e n Landesvertreu η g e η gibt am 3. September eine Erklärung zum Berlin-Abkommen ab, der es u. a. heißt:

„Es geht um den politischen Willen von Deutschlands Staatsführung, nämlich die Rechte aller anvertrauten Menschen zu wahren oder zum Nachteil vieler zu resignieren. Damit geht es um das Vertrauen der Bürger, das nicht mehr durch unbestimmte Zukunftsbilder zu erhalten ist. Normalisierung, Entspannung, Versöhnung oder selbst Friede sind so lange nur betörende Schlagworte, wie sie allein Verzichte begründen sollen, Rechte von Staat und Menschen aber verschweigen. Im Bewußtsein der Gleichberechtigung aller Staatsbürger, der Unverzichtbarkeit von Menschenrechten und Selbstbestimmung, der Obhutspflicht des Staates für alle seine Bürger, eines verpflichtenden Gemeinsinns jedes einzelnen werden daher folgende Fragen an Bundesregierung, Bundestag und alle Parteien gerichtet: 239

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1. Darf ein Sonderstatus für West-Berlin begrüßt werden, obwohl ,GroßBerlin' entgegen dem Grundgesetz nicht mehr als Land der Bundesrepublik gelten soll und als Hauptstadt Deutschlands preisgegeben wurde? 2. Sollen zum Verzicht auf das östliche Deutschland, zur Anerkennung von Grenzen an Oder und Neiße oder an Werra und Elbe, die in Moskau und Warschau unterzeichnet werden, nun noch die Billigung der Mauer durch Berlin und die Duldung des Schießbefehls hinzutreten? 3. Sind ,die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und die Berliner Interessen' für den freigewählten Bundestag und die Regierung nicht mehr identisch mit den rechtmäßigen Interessen ganz Deutschlands und aller seiner Bürger, ist also das Verfassungsgebot, ,die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden', nicht mehr bindend? 4. Kann das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen glaubwürdig für unverzichtbar erklärt werden, wenn trotzdem die Mitteldeutschen, die Ost-Berliner ebenso ihrem Schicksal überlassen werden wie die ostdeutschen Staatsbürger? Soll die Hinnahme von Massenvertreibungen als Achtung vor einer Selbstbestimmung der betroffenen Mitbürger gelten? 5. Werden überhaupt die Mitbürger außerhalb des Bundesgebietes und WestBerlins für gleichberechtigt gehalten, und gilt ihre Freiheit noch als sittlichpolitische Aufgabe unseres freiheitlichen Rechtsstaates? 6. Können menschliche Erleichterungen' auf dem Boden von Gewalttat und von Nichtachtung der Menschenrechte gedeihen, auf denen überlegene Macht beharrt? 7. Verursachen bleibender Rechtsbruch und fortbestehende Unfreiheit nur deswegen keine Spannung mehr, weil sie nicht beim Namen genannt und gleichgültig Mitbürgern aufgelastet werden? Darf die Regierung eines freiheitlichen Deutschland ihre Verantwortung für das Ganze willkürlich auf einen Teil von Land und Menschen beschränken und dem eine Entlastung versprechen, wenn er sich nur dem anderen nicht mehr verpflichtet fühlt? 8. Sind unsere Demokratie und ihre Regierung unfähig geworden, allen Bürgern zu dienen; werden Sicherheit und Frieden von Opfern erhofft, die ungefragt den Ost-Berlinern, mitteldeutschen, ostdeutschen und vertriebenen Staatsbürgern abverlangt werden? Die ostdeutschen Mitbürger fordern Antwort. Sie fühlen sich Deutschland als einem freiheitlichen Gemeinwesen verpflichtet und bekennen sich zu verantwortungsbewußtem Gemeinsinn, zu einer S o l i d a r i t ä t a l l e r , die sie allerdings auch von Parlament, Staatsführung und Mitbürgern erwarten." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr.34 vom 10. 9.1971) Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, D r . C z a j a , Rede am Tag der Heimat am 5. September u. a. aus:

führt in einer

„Der Bund der Vertriebenen, der Zusammensdiluß aller anerkannten und auf Grundlage unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung stehenden Vertrie240

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benenorganisationen, ist durch seine Satzung verpflichtet, einer gerechten Regelung an der Zukunft des ganzen deutschen Volkes verantwortungsvoll mitzuwirken. Er kann zu diesen Fragen nicht schweigen! Auch nicht zu den Ostverträgen, über die im Parlament zu entscheiden ist. Ein w i r k l i c h d a u e r h a f t e r F r i e d e setzt einen t r a g b a r e n , halbwegs gerechten A u s g l e i c h voraus. Die Anerkennung Ostpreußens, Westpreußens und von Teilen der Mark Brandenburg, Pommern, Schlesiens und Oberschlesiens als Ausland, die Preisgabe von über hunderttausend Quadratkilometern Territorium von Deutschland und der Menschenrechte von Millionen Menschen, die selbst an Unrechtstaten nicht schuldig waren, dazu noch die T e i l u n g R e s t d e u t s c h l a n d s , das ist k e i n t r a g b a r e r und halbwegs g e r e c h t e r A u s g l e i c h ! Dies dient nicht einem dauerhaften und wirklichen Frieden! Weder für uns, noch für unsere unmittelbaren östlichen Nachbarn. Für die Osteuropäer ist eine solche deutsche Einstellung unglaubwürdig. Dies gibt ihnen nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Mißtrauen! Neun Tage nach der Unterschrift unter der Paraphierung des Warschauer Vertrages hat in einer dramatischen Rundfunkansprache der polnische Ministerpräsident an die Einwohner im Innern Polens, aber auch die von Danzig und Stettin appelliert, ihre Demonstrationen einzustellen und an die Erfolge des Warschauer Vertrages zu denken. T r o t z d e m kam es zu den blutigen Ereignissen. Die Existenznot belastet diese unsere Nachbarn stärker als die Begeisterung über extrem nationalistische und nationalstaatliche Erfolge. Mit Schrecken sehen unsere Nachbarvölker, wie die sowjetische Hegemonie gefestigt wird und wie sich der freie Teil Deutschlands dem anzupassen scheint. Gleichzeitig aber wachsen die östlichen Interventionsansprüche gegen unsere freiheitliche Rechtsordnung, gegen die legale politische Erörterung der Ostverträge, gegen das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Dies und das Eintreten für einen Kompromiß, ausgehend von den durch das Völkerrecht gedeckten Grenzen von 1937, wird immer mehr zur ,politischen Aggression* abgestempelt, Schadenersatz dafür und Unterbindung der freien Meinungsäußerung wird gefordert. Der stellvertretende polnische Außenminister W i l l m a n n verlangt die Änderung zahlreicher deutscher Gesetze, die Änderung unseres Bildungssystems und die Eliminierung der Vertriebenenorganisationen nach der Ratifikation des Warschauer Vertrages. Die Fassung der Verträge ist so, daß insbesondere die Sowjetunion gegen jedes auch legale Eintreten für eine friedliche Revision zugunsten der Selbstbestimmung und der Verwirklichung der Menschenrechte für alle, auch für die vertriebenen Deutschen mit Interventionen antworten kann. Uns gegenüber ist es weniger ein Gewaltverzicht als der Ausgangspunkt zu neuen Interventionen. Weder ist die schrittweise Wiederherstellung der Menschen- und Gruppenrechte vertraglich vereinbart, noch wird das Recht auf Freizügigkeit und auf die angestammte Heimat gesichert. Die Anerkennung aller Annexionen in Europa nach 1945, gerade durch die Deutschen und das völlige Ausklammern der Regelung aller personalen Rechte kann unmöglich dem Frieden dienen. Von einem Friedensvertragsvorbehalt, der die Entscheidungen der Bundesrepublik Deutsch16 Königsberg

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land selbst mit einschließt, kann nicht die Rede sein. Eine Entschädigung für die betroffenen Deutschen ist weder vereinbart, noch wird sie ins Auge gefaßt; umgekehrt drohen uns nach einer eventuellen Ratifikation ungeheuere Schadensersatzforderungen." „Wir können auch nicht schweigen zu dem sich anbahnenden s t i l l e n und stillschweigend vollzogenen Verfassungswandel bei uns. Der Deutschlandbegriff, auf dem das Grundgesetz gründet, das Verbot des Grundgesetzes in Artikel 23, daß die Bundesrepublik Verpflichtungen eingeht, die den Beitritt der anderen Teile Deutschlands in den Grenzen von 1937 zum Grundgesetz oder aber die Schaffung einer neuen freiheitlichen Ordnung durch freie Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes unmöglich machen, werden immer mehr ausgehöhlt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestrebungen, wenn sie evident sind und die genannten Wege auf Dauer vertraglich zu verbauen drohen, wiederholt als verfassungswidrig bezeichnet. Das Parlament wird sich bei den Vertragsgesetzen diesen Fragen stellen müssen. Zur Verfassungsänderung bedarf es besonderer Mehrheiten. Sie sind weder im Parlament, noch in der Öffentlichkeit gegeben. Die qualifizierte Mehrheit unseres Volkes will nicht den Deutschlandbegriff, auf dem das Grundgesetz gründet, und das Offenhalten für halbwegs gerechte Lösungen der deutschen Frage aufgeben. Eine ganz bedeutsame Rolle wird auch der Bundesrat bei den Vertragsgesetzen haben. Der politische Wille der Bevölkerung hat bei den Landtagswahlen der vergangenen Monate die Mehrheitsverhältnisse entscheidend geändert. Die Wähler haben aber damit auch eine schwere politische Verantwortung auf den Bundesrat gelegt. Für uns ist das Grundgesetz kein juristischer Formelkram. Die staatliche und die internationale Rechtsordnung werden leider oft gebrochen, es gibt nur geringe Ansätze für ihren internationalen Schutz; aber wir selbst haben es erlebt, daß dann, wenn der Kern des staatlichen oder internationalen Rechts erheblich verletzt wird, die Folgen katastrophal sind. W i r w i d e r s p r e chen daher m i t E n t s c h i e d e n h e i t jedem s t i l l e n V e r f a s s u n g s w a n d e l ! Wir sind nicht für Starrheit. Wenn man die Grundlagen unseres Staates ändern will, muß man prüfen, ob man dafür die notwendige Mehrheit hat. Ist dies nicht der Fall, dann darf man nicht den Ausweg in der Berufung auf den stillen Wandel der Bedeutung der Verfassungsnormen suchen. Dies hat schon einmal zur Zerstörung der Rechtsordnung in Deutschland, und zwar am Ende der Weimarer Republik, geführt!" „Gerade weil wir nicht die ewig Gestrigen sind, wissen wir, daß man m i t F o r m e l n , m i t P a p i e r e n und V e r s c h l e i e r u n g von Gegensätzen k e i n e n d a u e r h a f t e n F r i e d e n s t i f t e n kann. Lange vor der neuen Ostpolitik haben wir gesagt, daß man, ausgehend von der Gerechtigkeit, auf die auch Besiegte Anspruch haben, ausgehend von jenem Schutz des Völkerrechts, unter dem auch die Besiegten stehen, einen tragbaren und halbwegs gerechten A u s g l e i c h zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn auf Dauer suchen und in der dafür geeigneten weltpolitischen Lage erstreben muß. Dieser Ausgleich kann zu einem nationalstaatlichen Kompromiß führen, noch zukunftsweisender aber wäre es, ihn in die zwar erschreckend zurückgebliebene, aber in Zukunft unausbleibliche föderale Ordnung Europas 242

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einzubetten. Unabdingbar ist dabei die Wahrung und Wiederherstellung der Menschen- und Gruppenrechte. Lange vor der neuen Ostpolitik haben wir unsere Absage an jede neue Vertreibung und Gefährdung der Menschenrechte der Bevölkerung in unserer angestammten Heimat erteilt und uns zu Verzicht auf Rache und Gewalt bekannt. Alle früheren deutschen Regierungen haben versucht, den Weg zu einer wirklichen europäischen Friedensordnung offen zu halten. In wenigen Jahren wird die Sowjetunion ihre Organisationskraft, ihr wirtschaftliches und politisches Potential stärker zur Durchformung des asiatischen Teiles ihres Imperiums einsetzen müssen. Vielleicht wird sie dann bereiter sein, im ureigenen Interesse eine wirkliche europäische Friedensordnung zur Befriedung ihrer Westflanke zu akzeptieren. Auf nahe Sicht sind eine vertiefte wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit, die Annäherung der Fachleute und der Menschen untereinander sowie mehr kulturelle Begegnungen nötig. Wenn sich aber auf w e i t e Sicht eine freie föderale politische Ordnung der Völker und Staaten — vorerst im Westen, später in geeigneter weltpolitischer Lage in ganz Europa — entwickeln ließe, ist unter Wahrung der Selbstbestimmung und der nationalen Eigenart ein Ausgleich auch in umstrittenen Gebieten nicht nur im nationalstaatlichen Kompromiß, sondern vielleicht auch in einer neuen, die volle Selbstverwaltung der Völker und Volksgruppen wahrenden bündischen Struktur in internationalisierten Territorien am Rande nationalstaatlicher Kerngebiete nicht ausgeschlossen. Gerade die Achtung vor den Nachbarn gebietet uns, ebenso die eigenen Fehler aufzuarbeiten, wie den Fehlern des Nachbarn nicht bedenkenlos nachzugeben. 800 Jahre deutscher Präsenz im Guten und im Bösen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa sind nicht unbedingt nach 25 und 30 Jahren endgültig beendet. Die gewaltigen wirtschaftlichen und technologischen Lücken aus Kriegs- und Nachkriegszeit und die dünne Besiedlung schließen nicht für alle Zeiten den neuen Anfang einer Zusammenarbeit in gesicherter Freiheit in unserer Heimat aus. Die ungelösten Probleme des Strukturwandels von der Agrar- zur Industriewirtschaft machen sie erforderlich, die Beweglichkeit der Menschen in unserer Zeit können sie ermöglichen. Wer Mittelosteuropa kennt, weiß wie schwierig dies ist. Aber wenn man die nationalen Gegensätze und Irrtümer der Vergangenheit aufarbeiten will, kann man dies weder durch Preisgabe berechtigter nationaler Interessen und nationaler Eigenart, noch bei Durchsetzung eines extremen nationalstaatlichen Expansionsdrang und der Schaffung unüberschreitbarer Grenzwände. Nur wenn man nicht mit Gewalt ein Volk zum Knecht eines anderen Volkes macht, wird es wirklich Frieden geben. Nur wenn sich ein Volk oder mehrere Völker, die zeitweise große Macht besitzen, nicht bemühen, die Schwächeren völlig an die Wand zu drücken, gibt es einen dauerhaften Frieden. Nur wenn man die enge und nahe Zusammenarbeit im schwierigen Alltag, allerdings in garantierter Freiheit und Selbstverwaltung wagt, wird man die alten Gegensätze wirklich aufarbeiten." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 35/36 vom 22. 9.1971) 16*

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Herbert G. Marza Der Erste Sekretär des Z K der SED, H o n e c k e r , führt in einem Interview mit „Neues Deutschland" vom 5. September u. a. aus:

„Frage: Sie haben den Nutzen der Viermächte-Vereinbarung bereits erläutert. Was bedeutet das Ergebnis der Verhandlungen im einzelnen für die Position der Deutschen Demokratischen Republik? Antwort: In dem Viermächte-Abkommen haben sich die drei Westmächte — die USA, Großbritannien und Frankreich — zum erstenmal über die Deutsche Demokratische Republik als einen souveränen Staat, über seine Grenzen und seine Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und zu West-Berlin verbindlich geäußert. Diese Tatsache schätzen wir sehr hoch ein. Es handelt sich ja um ein internationales Abkommen, in dem die Deutsche Demokratische Republik, ihr Territorium und ihre Grenzen genannt werden. Dieses Abkommen trägt die Unterschriften der Vertreter der Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Die Äußerung der drei Westmächte über die Deutsche Demokratische Republik hat also völkerrechtlich verbindlichen Charakter. Die völkerrechtliche Position der Deutschen Demokratischen Republik ist damit zweifellos weiter gestärkt worden. Frage: Wird das Abkommen der vier Mächte weitere Auswirkungen für die Festigung des Friedens haben, Wirkungen, die über das Gebiet, das unmittelbar betroffen ist, hinausgehen? Antwort: Die Unterzeichnung des Abkommens der vier Mächte über WestBerlin hat große Bedeutung für die weitere Verwirklichung des Friedensprogramms, das auf dem XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beschlossen wurde. Dieses umfassende Friedensprogramm sieht für Europa vor, von der Anerkennung der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen territorialen Veränderungen auszugehen und eine grundlegende Wende zu Entspannung und Frieden auf diesem Kontinent zu vollziehen. Die Einigung über West-Berlin erleichtert natürlich weitere Fortschritte in dieser Richtung." „Frage: Wir sind immer davon ausgegangen, daß das Potsdamer Abkommen den Grundstein für eine europäische Friedensordnung bildet. In welchem Verhältnis steht das Viermächte-Abkommen über West-Berlin zum Potsdamer Abkommen? Antwort: Der eigentliche Sinn des Potsdamer Abkommens ist es, in Mitteleuropa solche Verhältnisse zu schaffen, daß von den deutschen Imperialisten kein Krieg mehr angezettelt werden kann. Gerade West-Berlin war lange Zeit eine Quelle von Spannungen, es wurde von revanchistischen Kreisen als Speerspitze gegen die Deutsche Demokratische Republik und die ganze sozialistische Gemeinschaft mißbraucht. Wenn also über West-Berlin ein Abkommen geschlossen wurde, das der Entspannung und der Festigung des Friedens dient, so ist das ganz im Geiste des Potsdamer Abkommens. Die Unterzeichnermächte des Potsdamer Abkommens sind nach 26 Jahren zu einem neuen gemeinsamen Abkommen gelangt. Zur Verankerung und weiteren Entwicklung dieser positiven Veränderung in der europäischen Lage werden zweifellos weitere Schritte erforderlich sein. Dies um so mehr, als auf dem Wege zu einem dauerhaften 244

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Frieden und zur Sicherheit noch eine ganze Reihe ernster Hindernisse zu überwinden sind, die von der imperialistischen Reaktion errichtet wurden und werden." (Neues Deutschland, 5. 9.1971) I n dem K o m m u n i q u e über das Treffen zwischen Bundeskanzler Brandt und dem Generalsekretär des Z K der KPdSU, Breschnjew, vom 16.—18. September in O r e a n d a heißt es u. a.:

„In voller Loyalität zu ihren Bündnispartnern besprachen beide Seiten zahlreiche internationale Probleme, die für beide Seiten von Interesse sind, in besonderem Maße die Entwicklung der Lage in Europa. Sie führten einen Meinungsaustausch über den gegenwärtigen Stand der Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD und über die Möglichkeiten ihrer Entwicklung. Die erstrangige Bedeutung des am 12. August 1970 durch die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Vertrages für Gegenwart und Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurde unterstrichen. Dieser Vertrag leistet bereits jetzt einen Beitrag zur Verbesserung des politischen Klimas zwischen den beiden Ländern und wirkt sich günstig auch auf das europäische Geschehen aus. W. Brandt und L. I. Breschnjew besprachen Fragen betreffend die Ratifizierung dieses Vertrages durch den Obersten Sowjet der UdSSR und den Deutschen Bundestag der Bundesrepublik Deutschland und gaben ihrer festen Überzeugung Ausdruck, daß das baldige Inkrafttreten des Vertrages zwischen der UdSSR und der BRD sowie des Vertrages der Volksrepublik Polen mit der Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Wende in den Beziehungen zwischen den genannten Ländern ermöglichen und eine umfassende, dauerhafte, langfristige Zusammenarbeit zum Nutzen der heutigen und künftigen Generationen dieser Länder sowie deren Nachbarn und zur Festigung des Friedens in Europa einleiten wird. Beide Seiten stellten übereinstimmend fest, daß sie diese Entwicklung wünschen und daß sie die Belastungen der Vergangenheit überwinden und dadurch der Verwirklichung der Ideen der friedlichen Zusammenarbeit sowohl in den zwischenstaatlichen Beziehungen als auch zwischen den Bürgern und den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen dienen wollen." „Einen wichtigen Platz nahmen in den Gesprächen die Fragen der Vorbereitung der Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein. Es wurde festgestellt, daß die Entwicklung in Europa eine solche Konferenz unter Teilnahme der USA und Kanada fördert. Die Sowjetunion und die Bundesrepublik wollen demnächst untereinander und mit ihren Verbündeten sowie mit anderen europäischen Staaten Konsultationen führen, um die Abhaltung einer solchen Konferenz zu beschleunigen. Beide Seiten haben ihre Auffassungen zur Frage der Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa — ohne Nachteile für die Beteiligten — dargelegt. Dabei stellten sich übereinstimmende Elemente in ihren Positionen heraus. Sie sind überzeugt, daß die Lösung dieses schwierigen Problems die Grundlagen des europäischen und internationalen Friedens wirksam festigen würde. 245

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Die Zukunft in Europa ebenso wie in anderen Gebieten der Welt soll nicht auf militärischer Konfrontation, sondern auf der Grundlage gleichberechtigter Zusammenarbeit und Gewährleistung der Sicherheit für jeden einzelnen sowie für alle Staaten zusammen gebaut werden." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21.9.1971) Bundeskanzler Brandt gibt nach Rückkehr aus der Sowjetunion am 18. September auf dem Flughafen Köln/Bonn eine Presseerklärung ab, in der er u. a. ausführt:

„Vier Punkte möchte ich in aller Kürze hervorheben, was den sachlichen Ertrag angeht. 1. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen den beiden Staaten sollen, wo gemeinsame Interessen dies möglich machen, verbessert und ausgebaut werden. Dies gilt auch für die dazu erforderlichen oder nützlichen Abkommen. Die Außenminister werden dies im einzelnen weiter erörtern. 2. Der Vertrag vom 12. August vergangenen Jahres soll voll wirksam werden, das heißt, er soll natürlich auch rechtswirksam werden, und in diesem Zusammenhang sind auch die Absichtserklärungen bestätigt worden, die im vergangenen Jahr mit diesem Vertrag verbunden waren. Es ist also bestätigt worden, daß unser Vertrag mit Polen in etwa zur gleichen Zeit wie der mit der Sowjetunion ratifiziert werden wird. Es ist bestätigt worden, daß wir im vergangenen Jahr als unsere Meinung gesagt haben, daß für unser Verhältnis zur Tschechoslowakei die aus der Vergangenheit herrührenden Fragen so gelöst, so beantwortet werden, daß sie dem Rechnung tragen, was beide Seiten für richtig und möglich halten, und es ist das noch einmal unterstrichen worden, was sich auf die DDR und die vertragliche Regelung unserer Beziehungen zu ihr bezieht. 3. Hervorgehoben wurde während der Gespräche mehrfach die besondere Bedeutung des Viermächte-Abkommens vom 3. September. Beide Seiten haben festgestellt, daß sich daraus gute Voraussetzungen für weitere praktische Schritte ergeben können. 4. Es wurde eingehend über Fragen der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa gesprochen, das heißt über die Vorbereitung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit, an der alle europäischen Staaten sowie die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada teilnehmen sollen. Und es wurde über Verhandlungen gesprochen, die der Verminderung von Truppenstärken dienen sollen, und zwar gleichgewichtig oder — wie es im Kommuniqué dazu heißt — ohne Nachteil für die daran Beteiligten. Wir stimmten in dem Ziel überein, in den Jahren, die vor uns liegen, mehr Sicherheit durch Abbau der Konfrontation zu erreichen, aber das schwierige Thema — warum sollte ich das nicht hinzufügen — konnte nur andiskutiert werden. Es gab zu verschiedenen Teilfragen ähnliche Vorstellungen, ja sogar übereinstimmende Elemente, aber beide werden, wie sich das aus der Natur der Sache 246

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ergibt, im einzelnen mit ihren Verbündeten sprechen, und die beiden Regierungen werden durch ihre Außenminister hierzu in Verbindung bleiben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21.9.1971) Bundeskanzler B r a n d t

führt in einem Interview mit der „Süddeutschen

Zeitung" vom 20. September u. a. aus: „Frage:

Nachdem Sie, Herr Bundeskanzler, Ihre Eindrücke über die auf der Krim gemachten Erfahrungen eine Nacht überschlafen haben, möchte ich Sie fragen, was für die Menschen in der Bundesrepublik das wichtigste Ergebnis Ihrer Besprechung mit Generalsekretär Breschnjew ist? Antwort:

Das Wichtigste ist wohl, daß sich seit Unterzeichnung des Vertrages in Moskau vom 12. August 1970, also seit gut einem Jahr, eine wesentliche Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten ergeben hat. Der Vertrag, der noch nicht ratifiziert worden ist, noch nicht rechtswirksam ist, hat bereits zu wirken begonnen. Hieraus wird sich jetzt zunehmend ergeben, daß für Gebiete, auf denen die beiden Staaten gemeinsame Interessen haben, vertragliche Regelungen zustande kommen können. Was wohl noch wichtiger ist: Die beiden Staaten haben sich bilateral in die Erörterung von Fragen der europäischen Sicherheit eingeschaltet. Mit anderen Worten: Auf diesem ganz wichtigen Gebiet, das für die kommenden Jahre zentrale Bedeutung hat, ist die Bundesrepublik nicht mehr wie in früheren Jahren nur auf der einen Seite beteiligt, nur am westlichen Meinungsaustausch. Nachdem unsere westlichen Partner schon seit Jahren den Ost-West-Austausch gehabt haben, spielt jetzt die Bundesrepublik eine gleichberechtigte Rolle. Sie tut dies, indem sie sich neben den wichtigen westlichen Erörterungen ihre eigene Meinung bildet und dann ihre eigenen Beiträge leistet im Gespräch mit den östlichen Partnern. In diesem Falle mit dem wichtigsten östlichen Partner, mit der Führungsmacht, mit der Sowjetunion." „Frage:

Die aufsehenerregenden Begleitumstände der Konferenz auf der Krim, die das ganze Procedere herkömmlicher sowjetischer Verhaltensweisen über den Haufen geworfen haben, sind vermutlich geeignet, bei unseren westlichen Alliierten neuen Argwohn zu wecken. Haben Sie eine Idee, Herr Bundeskanzler, wie man den Rapallo-Komplex mancher Nachbarn endlich ad absurdum führen könnte? Antwort:

Erstens muß idi sagen, daß manche, die über Rapallo reden, nie nachgelesen haben, was Rapallo eigentlich bedeutete. Damals hat das Deutsche Reich einen außenpolitischen Entlastungsversuch unternommen gegenüber einem schwachen, von Revolutionswirren und Interventionskriegen noch völlig geschwächten Rußland. Das ist wohl nicht die außenpolitische Landschaft, in der wir uns heute bewegen. 247

Herbert G. Marza

Im übrigen habe ich zu meiner großen Zufriedenheit festgestellt, daß es bei den Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs nicht die Andeutung von Mißbilligung oder Kritik unseres Sdirittes gibt. Dann haben wir die öffentliche Meinung, wie sie in den Zeitungen zum Ausdruck kommt. Was es dort an Mißverständnissen gibt, können wir ausräumen. Wir waren und sind nicht auf Alleingänge aus. Aber wir sind auch nicht dazu da, uns zu verstecken. Ohne uns wichtiger zu nehmen als wir sind, werden wir uns an dieselben Regeln halten, wie sie sonst zwischen westlichen Staaten üblich sind." (Süddeutsche Zeitung, 20. 9.1971) Der polnische Stellv. Außenminister C z y r e k führt bei der Gründung des polnischen Komitees für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit am 22. September in Warschau u. a. aus:

„Zahlreiche wichtige Ereignisse haben in Europa stattgefunden, darunter die Unterzeichnung der Verträge zwischen der UdSSR und der BRD sowie Polen und der BRD. Ihr Inhalt drückt die Anerkennung der territorialen und politischen Realitäten in Europa aus, insbesondere die Anerkennung der Unverletzlichkeit und der Endgültigkeit der polnischen Grenze an der Oder und Neiße. Er zeigt auf die Perspektiven für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und Polen sowie auch zwischen der DDR und der BRD einschließlich der Aufnahme der letzteren Staaten in die UNO. Er unterstreicht die positive Rolle, die die Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR bei der Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems und bei der Erzielung eines Übereinkommens über Probleme regionaler Abrüstung in Europa spielen können." (PAP, englisch, 22.9.1971) I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 23. September wird eine Anfrage des Abgeordneten Dr. D ο 11 i η g e r , C D U / C S U , beantwortet:

„Präsident von Hassel: Ich rufe Frage 3 des Abgeordneten Dr. Dollinger auf : Welche unmittelbaren Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, um nicht nur den Eindruck ostpolitischer Alleingänge bei ihren Bündnispartnern nachträglich zerstreuen zu müssen, sondern um sicherzustellen, daß ihre Ostpolitik in Abstimmung und Ubereinstimmung mit ihren Bündnispartnern entsprechend den in Artikel 7 des Deutschlandvertrages niedergelegten gemeinsamen Zielen verfolgt wird? Zur Beantwortung Herr Bundesminister des Auswärtigen! Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege Dollinger, die Bundesregierung hat seit ihrer Amtsübernahme ihre Osteuropapolitik in völliger Abstimmung und in Übereinstimmung mit den Bündnispartnern entsprechend den im Deutschland-Vertrag niedergelegten gemeinsamen Zielen entworfen und durchgeführt, und sie wird das auch in Zukunft tun. Der fälschliche Eindruck 248

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ostpolitisdier Alleingänge, den Sie, Herr Kollege Dollinger, erwähnen, besteht in den Regierungskreisen unserer Verbündeten nicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Na?) Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Dollinger. Dr. Dollinger (CDU/CSU): Herr Bundesminister, wie erklären Sie es sich dann, daß der Herr Bundeskanzler selbst in einem Interview mit ,Panorama' eine Formulierung gebraucht hat, die etwas an das Kommunistische Manifest erinnert? (Oho-Rufe bei der SPD.) Er sagte nämlich — ich darf zitieren —: ,Es geht ein Gespenst um — das ist wahr — in manchen Kreisen.' (Zuruf von der SPD: Ja, was hat er denn noch gesagt?) Sc&ee/, Bundesminister des Auswärtigen: Wie? Es geht ein Gespenst? Dr. Dollinger (CDU/CSU): ,Es geht ein Gespenst um — das ist wahr — in manchen Kreisen.' Das war seine Antwort auf eine Frage. Sòeel, Bundesminister es Auswärtigen: In manchen Kreisen, aber nicht in Regierungskreisen. (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.) Eher in Oppositionskreisen! (Beifall bei den Regierungsparteien.) Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Dollinger. Dr. Dollinger (CDU/CSU): Herr Bundesminister, sind Sie wirklich der Meinung, daß der Moskauer Vertrag und das Kommunique von der Krim das noch abdecken, was in Art. 7 des Deutschland-Vertrages steht? Ich darf zitieren: Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlichdemokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist. Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Kollege, ich bin dieser Meinung, und diese Meinung wird von unseren Verbündeten, die im Deutschland-Vertrag unsere Partner sind, geteilt." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 135. Sitzung, 23. 9.1971) Staatspräsident P o m p i d o u 23. September u. a. aus:

führt in seiner Pressekonferenz in Paris am

„Auf jeden Fall hat Frankreich nicht den Ehrgeiz, die Führungsrolle in Europa zu spielen, nicht im Europa der Sechs und noch weniger im Europa der Zehn. Wir glauben, daß ein solcher Aufbau, wenn er gültig und solide sein soll, im Gegenteil in seinen Komponenten ausgeglichen sein muß. Deutschland wird zweifellos noch lange einen gewissen wirtschaftlichen Vorsprung beibehalten, 249

Herbert G. Mara

aber andere Länder, wie England oder Frankreich und audi andere, verfügen über eine gewisse Anzahl von Trümpfen. Dazu gehört zum Beispiel unsere geographische Lage; ferner verfügen wir — warum soll man es nicht sagen — über ein gewisses politisches und sogar moralisches Prestige, das Frankreich seit der Revolution bis zu de Gaulle immer zu wahren oder wiederherzustellen verstanden hat. Ich glaube also, daß es schwer wäre, Europa ohne Deutschland zu machen, und daß es überhaupt keine Chance gibt, daß man es ohne Frankreich tut, und daß wir uns an Europa beteiligen können, in dem sidieren Bewußtsein, weder seine Meister noch seine Satelliten zu sein, sondern gleichberechtigte Partner, und so muß es sein. Was die Beziehungen mit dem Osten betrifft, so glaube idi vor allem, daß Westdeutschland den Wunsch hat, wie der Bundeskanzler es zum Ausdruck gebracht haben soll, sich zu emanzipieren, d. h. die Hände frei zu haben, wozu Frankreich ihm übrigens das Beispiel gegeben hat. Es hat im übrigen zu einem gewissen Zeitpunkt geglaubt, daß dies leichter wäre als es in Wirklichkeit ist. Die deutsche Regierung war zu einer Zeit, wie mir schien, versucht, eine Lösung der Berlin-Frage einzig und allein in einem innerdeutschen Gespräch zu suchen. Dann wurde sie sich bewußt, daß die Lösung eines Viermächte-Abkommens bedarf. Und dieses Abkommen, an dem Frankreich einen aktiven Anteil hatte, gibt ihr jetzt die Möglichkeit, mit der DDR auf guten Grundlagen zu diskutieren und die Politik der deutsch-sowjetischen, deutsch-polnischen und vielleicht bald auch deutsch-tschechischen Verträge zu ihrem Ende zu führen. All das ist, wie Frankreich glaubt, für die Entspannung und die Verständigung sowie für die Zusammenarbeit nützlich, und folglich hat es dies von Anfang an formell gebilligt. Doch soll das heißen, daß diese Politik, die seitens Deutschlands schwierig und mutig ist, eine Art wirtschaftlicher Aggression oder Eroberung des sowjetischen Marktes zum Ziel hätte? Das zu glauben, heißt in meinen Augen, von der sowjetischen Realität nichts zu verstehen. Die Sowjetunion hat wegen ihrer Ausdehnung, ihrer Bevölkerung, ihrer noch nicht genutzten Naturschätze, ihres Rückstandes in der Produktion von Konsumgütern einen riesigen Bedarf an Entwicklung, aber sie verfügt andererseits über sehr beschränkte Zahlungsmittel, weil sie mit ihren Ausfuhren außerhalb ihrer Einflußzone Schwierigkeiten hat. Daraus ergibt sich, daß derjenige, der in die Sowjetunion exportieren will, es schließlich nur unter der Voraussetzung tun kann, ihr Zahlungsmittel zu beschaffen, d. h. indem man zuerst russische Waren einführt und ihr dann Kredite einräumt. Lange vor der Ostpolitik haben die Deutschen gezeigt, daß sie geschickter sind als wir, und daß sie in der Lage sind, mehr Einkäufe zu tätigen. In der letzten Zeit haben wir die Lage wieder ein wenig normalisiert, und gegenwärtig ist unser Warenaustausch mit der Sowjetunion ausgeglichen. Um diesen Warenaustausch zu fördern, um unsere Importe zu verstärken und damit naturgemäß auch unsere Exporte, kamen die Minister Giscard d'Estaing und Ortoli auf den Gedanken langfristiger Lieferverträge für Energie und Rohstoffe. Da ist auch die Frage der Kredite, aber die Gewährung von Krediten hängt allein von uns ab. Jedoch bin ich der Auffassung, daß Deutschland, Frankreich sowie Großbritannien und Italien nicht schlecht fahren würden, 250

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wenn sie sich ein wenig über die Bedingungen und die Dauer von Krediten einigten, um zu vermeiden, gegeneinander in Wettbewerb gestellt zu werden; und im übrigen bietet der sowjetische Markt Platz für jedermann, sofern er es versteht, sich diesen Absatzmarkt zu erschließen, und was uns betrifft, so hängt das nur von uns selbst ab. Warum also sollte idi beunruhigt sein wegen des Gesprächs zwischen Parteichef Breschnjew und Bundeskanzler Brandt, wie einige zu glauben scheinen? Warum verunsichert man uns? Herr Brandt war bereits zuvor in Moskau gewesen. Er hat die Reise nach Rußland noch einmal gemacht. Man kann natürlich die Auffassung vertreten, daß der deutsch-französische Freundsdiaftsvertrag oder andererseits das französisch-sowjetische Protokoll ein wenig mehr an vorausgehenden Informationen gerechtfertigt hätten. Aber was hätte sich dadurch im Grunde geändert? Warum sollten wir einen bösen Blick auf die Bundesrepublik werfen, wenn sie die Oder-Neiße-Grenze zugesteht, zu der wir schon seit langem Stellung bezogen haben? Warum sollten wir bösen Blickes auf die Bundesrepublik sehen, wenn sie sich in Richtung der Anerkennung der DDR bewegt, gleichviel in welche Worte man dies kleidet, da wir uns bis zum heutigen Tage nur aus Freundschaft zur Bundesrepublik Zurückhaltung auferlegt haben, um ihr den Vorrang zu überlassen für einen Akt, der sie unendlich stärker berührt als uns. Warum sollten wir Bundeskanzler Brandt böse sein, weil er sich hinsichtlich der Europäischen Sicherheitskonferenz jenen Gedanken anschließt, die ich selbst vor einem knappen Jahr in Moskau dargelegt habe? Ich sehe in dieser Angelegenheit nur eine Meinungsverschiedenheit zwischen der deutschen Regierung und uns, und zwar in bezug auf das Problem dessen, was man die sogenannte ausgeglichene Truppenreduzierung nennt. Dies hängt meiner Meinung nach damit zusammen, daß wir im Bündnis eine besondere Stellung einnehmen und daß wir der Auffassung sind, daß die Bemühungen in Richtung auf die Entspannung und der Wille zur Entspannung keinesfalls zu einer Verminderung der Sorgfalt und Kapazität der Verteidigung führen dürfen. Insgesamt gesehen muß jedoch alles unter dem Blickwinkel des europäischen Aufbaus und der Herstellung immer engerer Bande zwischen Westeuropa und allen östlichen Ländern betrachtet werden. Von diesem Standpunkt aus gesehen, erscheint es mir keineswegs, daß die Begegnung des Bundeskanzlers mit dem Parteichef Breschnjew die Dinge schwieriger gemacht habe, sondern im Gegenteil, und deshalb blicke ich auch weiterhin mit Vertrauen und Wachsamkeit der europäischen Zukunft entgegen." (Ambassade de France, Service de presse et d'information, Bonn 1971, Nr. 21) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" für die Ausgabe vom 27. September u. a. aus: »Frage:

Welchen Stellenwert hat in dieser, Ihrer Ostpolitik noch das deutsche Reizwort Wiedervereinigung? 251

Herbert G. Marxian Antwort:

Es geht darum, ob und wie in einem Prozeß, der vermutlich weit über dieses Jahrzehnt hinausreicht, der Abbau der Spaltung Europas auch den Hintergrund schafft, auf dem die Spaltung Deutschlands abgemildert, vielleicht sogar überwunden werden kann. Ich würde die Tür dazu nie zumachen wollen. Aber nur, wenn es gelingt, die Teile Europas in Ost und West in ein anderes Verhältnis zu bringen, wird es auch möglich sein, Dinge auf deutschem Boden aus der Erstarrung des Kalten Krieges herauszulösen." (Der Spiegel, 27. 9.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Rede zur Eröffnung des 10. Ordentlichen Gewerkschaftstages der Industrie-Gewerkschaft Metall in Wiesbaden am 27. September u. a. aus:

„Die Gefahr besteht nicht in der sachlich harten Auseinandersetzung zwischen den Parteien, im Ringen der Meinungen. Das muß sein, denn niemand hat die Weisheit gepachtet, und Kritik ist das Salz der Demokratie. Die Gefahr besteht andererseits nicht nur darin, daß extreme Gruppen mit der Gewalt spielen. Das darf man auch nicht auf die leichte Schulter nehmen, ebenso wenig wie das, was einige Schreibtischtäter an Verdummung und Hetze auf den Markt bringen. Aber es geht um etwas noch Ernsteres, nämlich darum, ob es unbeschadet aller Meinungsverschiedenheiten eine gemeinsame demokratische Verantwortung gibt, oder ob eine Verwilderung der politischen Sitten um sich greifen soll. Meiner Uberzeugung nach geht es einfach nicht an, wenn man jemandem, der sich gewissenhaft um die Sicherung des Friedens bemüht, im Bundestag unterstellt, er orientiere sich nicht an den Menschenrechten. Wer nach 1933 ebenso wie nach 1945 der Diktatur die Stirn geboten hat, der braucht in Sachen Menschenrechte nicht mit sich spaßen zu lassen. Es kann auch nur verhängnisvolle Folgen haben, wenn man bestrebt ist, den Handlungen einer rechtmäßig gewählten Regierung die Legitimität abzusprechen. Den Eid, den meine Kollegen und ich auf das Grundgesetz abgelegt haben, lasse ich nicht in Zweifel ziehen. Außerdem soll niemand glauben, er leiste unserem Volk einen Dienst, wenn er ihm die wirkliche Lage verschweigt und es mit Wunschvorstellungen abspeist. Schließlich geht es doch darum, daß wir mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges fertig werden und einen europäischen Rahmen schaffen, der auch dem deutschen Volk eine gute Zukunft sichert. Aus unverantwortlicher Polemik kann eine böse Saat aufgehen. Dabei handelt es sich nicht darum, daß alle mal Fehler machen. Wir sind alle nur Menschen. Worum es geht ist, daß einiges in Ordnung gebracht werden muß, wenn nicht ein kaum noch zu überbrückender Graben aufgerissen werden soll. Dies ist eine ernste Mahnung an alle, die es angeht. Sie aber, die Delegierten der größten Gewerkschaft, die deutschen Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit — und gleichzeitig alle verantwortungsbewußten Kräfte aus allen Lagern unseres Volkes — fordere ich auf: Seien Sie wachsam. Nehmen Sie die politischen 252

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Auseinandersetzungen jetzt unter eine besonders kritische Lupe. Und lassen Sie nicht zu, daß die Erfahrungen der Vergangenheit in den Wind geschlagen werden und unserem Staat Schaden zugefügt wird. Das dürfen und das werden wir nicht zulassen." „Diese Bundesregierung dankt den Gewerkschaften dafür, daß wir einander in der Europapolitik ergänzen. Aber auch dafür, daß unsere Bemühungen um einen Ausgleich mit den osteuropäischen Staaten soviel Verständnis und Unterstützung gefunden haben. An den Verträgen mit der Sowjetunion und mit Polen führt kein Weg vorbei, und sie müssen durch einen Vertrag mit der Tschechoslowakei ergänzt werden. Das Viermächte-Abkommen über Berlin liegt vor. Es wird wesentliche Verbesserungen und Erleichterungen bringen. Neben allem anderen wird nun auch nicht mehr umstritten sein, daß West-Berlin durch uns nach außen mitvertreten wird, auch im gewerkschaftlichen Bereich. Die Gewerkschaften haben diese befriedigende Regelung mit herbeiführen helfen, indem sie es konsequent abgelehnt hatten, die Berliner Kollegen aus der Gesamtorganisation herausdividieren zu lassen. Wir ziehen am gleichen Strang, wenn es darum geht, den Frieden in Europa dadurch sicherer zu machen, daß das Wettrüsten eingedämmt und die militärische Konfrontation abgebaut wird. Das ist kein einfaches Vorhaben, und man muß sich ihm ohne Illusion nähern. Im Nordatlantischen Bündnis werden gegenwärtig Richtlinien für Ost-WestGespräche über gegenseitige und ausgewogene Truppenverminderung ausgearbeitet. Der Abbau der Rüstungen wird auch ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sein, mit deren konkreter Vorbereitung begonnen werden kann, wenn die gegenwärtig so schwer anlaufenden Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten — zur Ausfüllung des Viermächte-Abkommens über Berlin — zu einem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Hierüber und über andere wichtige Fragen habe ich vor einer guten Woche mit Herrn Breschnjew auf der Krim gesprochen. Natürlich hat da keiner von beiden seine grundsätzlichen Positionen aufgegeben. Aber es hatte einen Sinn, miteinander zu reden. Das haben mir auch unsere Verbündeten bestätigt. Ich werde, bei aller gebotenen Wachsamkeit und Umsicht, weiterhin nichts versäumen, was einen Rückfall in die Schrecken der Vergangenheit verhindern hilft." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 29. 9.1971) Der scheidende Generalsekretär der N A T O , B r o s i ο , führt vor der Nordatlantischen Versammlung in Ottawa am 27. September u. a. aus:

„Ich möchte bei Ihnen nicht den Eindruck eines selbstgefälligen und in der Tat völlig unberechtigten Optimismus erwecken. Die Freiheit und der Westen können durchaus ihre Positionen festigen, aber sie können kaum behaupten, daß sie sie vorschieben. Wenn wir auf die letzten zehn Jahre des Bündnisses zurückblicken und dann die gegenwärtige Situation betrachten, so können wir befriedigt feststellen, daß die NATO zusammengehalten und den Frieden ge253

Herbert G. Marxian

wahrt hat, aber wir können nicht sagen, daß sie den Raum der Freiheit erweitert hätte. Die deutsche Frage ist ein Beispiel. Zweifellos war die Ostpolitik der Bundesrepublik unter den gegenwärtigen Bedingungen in Europa eine unentbehrliche und positive Entwicklung. Ich teile nicht die Zweifel und Befürchtungen, die Pessimisten in dieser Beziehung hegen. Ich bin ganz sicher, daß das freie Deutsdiland unter der Führung der gegenwärtigen deutschen Regierung und ihres Kanzlers einen zuverlässigen Piloten für einen schwierigen Kurs besitzt. Ich weiß, daß die derzeit verantwortlichen Politiker in Bonn es ehrlich meinen, wenn sie sagen, das Fundament ihrer Politik liege in der festen Unterstützung durch den Westen und die Atlantische Allianz und in den Fortschritten zu einer soliden westeuropäischen Einheit. Im übrigen war das direkte Herantreten Westdeutschlands an den Osten, an Moskau, Warschau und Pankow, der unentbehrliche Schlüssel für die Öffnung der Tür zu besseren Ost-West-Beziehungen und ernsthaften Verhandlungen. Aber wir würden uns der Naivität und der Vergeßlichkeit schuldig machen, wenn wir übersehen würden, daß wir für diese neuen Entwicklungen und diese berechtigten Hoffnungen schon einen hohen Preis bezahlt haben. Der Status quo in Deutschland, das heißt die Teilung Deutschlands auf unabsehbare Zeit, ist zwar nicht de jure, aber doch de facto anerkannt worden. Das Prinzip, auf das die Politik des Westens in den späten vierziger und fünfziger Jahren gegründet war, nämlich daß es keine echte Entspannung zwischen Ost und West in Europa geben könne ohne entsprechende Fortschritte in Richtung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage von Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung des deutschen Volkes, ist fallengelassen worden. Die verbündeten Länder, die im Jahre 1954 in Verbindung mit der Aufnahme der Bundesrepublik als 15. Mitglied der NATO die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands zur Grundlage ihrer Politik gemacht hatten, mußten ihren Mißerfolg eingestehen und die neue unabhängige Bemühung ihres deutschen Verbündeten zulassen und unterstützen. Das ist eine Realität, die sich nicht leugnen läßt und die wohl oder übel bei der Bilanz unseres Bündnisses — die zweifellos im Endergebnis positiv ist — mit ins Gewicht fällt." . . . (Europa-Archiv 1972, 4 vom 25.2.1972) Die N o r d a t l a n t i s c h e V e r s a m m l u n g verabschiedet auf ihrer 17. Jahrestagung in Ottawa am 27. September eine Empfehlung N r . 1 über die Ost-West-Beziehungen, welche folgenden Wortlaut hat:

„Die Versammlung verweist auf die Vielfalt der bilateralen und multilateralen Ost-West-Kontakte, die von Seiten des Westens mit dem Ziel angekündigt worden sind, die OstWest-Spannungen zu reduzieren; stellt fest, daß die Verfolgung solcher Kontakte sinnlos wäre, falls die UdSSR die sogenannte Breschnjew-Doktrin noch einmal mit militärischen Mitteln anwenden würde; betont die Bedeutung des Viermächte-Abkommens über Berlin für die allgemeine Entspannung und für die Weiterführung der Ost-West-Gespräche; 254

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ist jedodi der Ansicht, daß dieses Viererabkommen im Detail nodi durch bilaterale Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu vervollständigen ist; ist der Ansicht, daß multilaterale diplomatische Vorbereitungsgespräche über eine europäische Sicherheitskonferenz aufgenommen werden könnten, wenn die Berlin-Verhandlungen einen zufriedenstellenden Abschluß erreicht haben und das endgültige Abkommen durch die vier Mächte unterzeichnet worden ist, und empfiehlt dem Nordatlantikrat, ein gemeinsames Programm über kurz- und langfristige Ziele auszuarbeiten und anzuwenden, die von den Mitgliedern des Bündnisses im Verlauf der gegenwärtigen und künftigen Ost-West-Verhandlungen erreicht werden sollen; empfiehlt den Regierungen ihrer Mitglieder: a) daß gegenseitige, ausgewogene Truppenreduzierungen als wesentlicher Bestandteil aller Verhandlungen über die europäische Sicherheit angesehen werden müssen, die auch eine Verminderung der gegenwärtigen Möglichkeiten eines sowjetischen Überraschungsangriffs durch sowjetische konventionelle Streitkräfte umfassen sollten; b) im Zusammenhang mit Verhandlungen über die europäische Sicherheit die Möglichkeit einer Beschränkung der taktischen Nuklearwaffen und nuklearen Mittelstreckenraketen, die in Europa stationiert sind, zu untersuchen; c) sicherzustellen, daß bei einer europäischen Sicherheitskonferenz die sowjetischen Aktivitäten, besonders im Mittelmeergebiet und im Nahen Osten, von den Mitgliedern des Bündnisses gebührend berücksichtigt werden." (NATO Brief, Nr. 8, Nov./Dez. 1971) Die N o r d a t l a n t i s c h e V e r s a m m l u n g verabschiedet auf ihrer 17. Jahrestagung in Ottawa am 28. September eine Empfehlung N r . 9 über die allgemeine politisch-militärische Strategie der N A T O , welche folgenden Wortlaut hat:

„Die Versammlung begrüßt die von Präsident Nixon auf der Ministertagung des Nordatlantikrats am 3. Dezember 1970 in Brüssel abgegebene Versicherung, daß ,die Vereinigten Staaten, vorausgesetzt, daß sich die übrigen Bündnispartner ähnlich verhalten, ihre eigenen Kräfte in Europa aufrechterhalten und verbessern und sie außer im Rahmen einer beiderseitigen Ost-West-Maßnahme nicht verringern würden'; begrüßt die von den Verteidigungsministern der Länder der Eurogruppe am 1. Dezember 1970 in Brüssel getroffene Entscheidung bezüglich des Europäischen Verstärkungsprogramms; nimmt die sowjetische Reaktion auf die ständigen Angebote der NATO in bezug auf die Möglichkeit von Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierungen in Europa zur Kenntnis; nimmt die positiven Entwicklungen in den SALT-Gesprächen und die amerikanisdi-sowjetische Erklärung vom 20. Mai 1971 zur Kenntnis; 255

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nimmt die im August 1971 zwischen den Botschaftern der Vier Mächte über West-Berlin geschlossene Vereinbarung zur Kenntnis, und empfiehlt dem Nordatlantikrat, a) die Regierungen der im Verteidigungs-Planungsausschuß der NATO vertretenen Verbündeten der Vereinigten Staaten aufzufordern, einen wirksameren Beitrag zu den gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen zu leisten; b) der Sowjetunion und den Ländern des Warschauer Paktes in naher Zukunft und im Lichte der jetzt von den Mitgliedsländern des Nordatlantikrats in diesem Zusammenhang unternommenen Sondierungen konkrete und detaillierte Vorschläge über die Möglichkeit der Aufnahme von Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenverminderungen in Europa zu unterbreiten; c) die Vereinigten Staaten anzuhalten, mit der Sowjetunion schnell zu einer Vereinbarung über die Begrenzung defensiver und strategischer offensiver Nuklearwaffen zu gelangen; d) im Rahmen der Verhandlungen über europäische Sicherheit die Möglichkeit der Begrenzung der in Europa stationierten taktischen Atomwaffen und atomaren Flugkörper mittlerer Reichweite zu untersuchen; e) spezifische Vorschläge darüber zu unterbreiten, wie die gegenwärtigen bilateralen Kontakte zur Vorbereitung einer europäischen Sicherheitskonferenz zum geeigneten Zeitpunkt in ein multilaterales Bemühen zur Vorbereitung einer solchen Konferenz umgewandelt werden können." (NATO Brief, Nr. 8, Nov./Dez. 1971) Die U n i o n d e r V e r t r i e b e n e n u n d F l ü c h t l i n g e in der C D U verabschiedet auf dem CDU-Parteitag in Saarbrücken am 3. Oktober eine Entschließung, welche den folgenden Wortlaut hat:

„1. Der Frieden in Europa kann auf Dauer nur durch die Realisierung des Selbstbestimmungsrechts auch für die Völker Mittel- und Osteuropas gesichert werden. Dieses Ziel ist mit ausschließlich friedlichen Mitteln und unter Verzicht auf jegliche Anwendung und Androhung von Gewalt anzustreben. Der Vertreibung aus der Heimat darf nicht die Vertreibung aus dem Recht und aus der Geschichte folgen. 2. Jede Deutschlandpolitik hat sich auf den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes zu gründen, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Den Willen, das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte zu regeln, beweist unsere Bereitschaft zur Verständigung und Aussöhnung auf der Grundlage eines gerechten Ausgleichs. Dementsprechend ist auch das Sicherheitsbedürfnis aller beteiligten Völker zu berücksichtigen. 3. Die Verträge von Moskau und Warschau verletzen das Selbstbestimmungsrecht. Sie verstoßen gegen die unabänderliche Verfassungsgrundlage und den Verfassungsauftrag des Grundgesetzes. 256

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4. Nidit der Friede wird durch die Ostverträge sidierer, sondern die Hegemonie der Sowjetunion über Mittel- und Osteuropa und ihr Einfluß auf die inneren Angelegenheiten des freien Westeuropas. Diese Sorge wird durch die Ergebnisse des Kanzler-Treffens von Jalta verstärkt, dessen Ziele uns vorenthalten werden. 5. Das Berlin-Abkommen kann die Voraussetzungen für eine Ratifizierung der Ostverträge nicht verbessern. Es ist lediglich eine unbefriedigende einstweilige Regelung eines menschenrechtswidrig bleibenden Zustandes und enthält bedenkliche Vereinbarungen, die eine Minderung des status quo bedeuten. Die Vereinbarungen mit Ost-Berlin sowie deren praktische Anwendungen werden eine weitere Bewertung dieses Abkommens ermöglichen." (Deutscher Ostdienst 1971, Nr. 38/39 vom 9.10.1971) Der Generalsekretär der N A T O , L u η s, gibt am 6. Oktober eine M i t teilung über die Tagung des Nordatlantikrates heraus, welche folgenden Wortlaut hat:

„1. Am 5. und 6. Oktober 1971 wurde eine Tagung des Nordatlantikrats über das Thema beiderseitiger und ausgewogener Truppenreduzierungen abgehalten, an der stellvertretende Außenminister, hohe Regierungsvertreter aus den Hauptstädten und Ständige Vertreter teilnahmen. Wie erinnerlich, waren in Absatz 15 des Schlußkommuniques der Lissabonner Ministertagung die Minister, die die verbündeten Regierungen vertreten, welche die Erklärungen von Reykjavik im Jahre 1968 und Rom im Jahre 1970 bezüglich beiderseitiger und ausgewogener Truppenreduzierungen herausgegeben haben, übereingekommen, daß zu einem baldigen Zeitpunkt in Brüssel eine solche Tagung stattfinden sollte. 2. Die Vertreter dieser Regierungen erörterten und billigten in Übereinstimmung mit Absatz 16 des Lissabonner Kommuniques das Mandat für einen Vertreter, exploratorische Gespräche mit der sowjetischen Regierung und anderen interessierten Regierungen zu führen. Es wurde beschlossen, daß der Vertreter im Namen der Länder sprechen soll, die ihn ernannt haben, und nicht für das Bündnis als solches. Seine Aufgabe wird darin bestehen, zu sondieren und die Auffassungen der ihn ernennenden verbündeten Länder bezüglich der Grundsätze für beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen und zu der Frage eines Forums für eventuelle Verhandlungen zu erläutern. Er sollte von seinen Gesprächspartnern deren Absichten bezüglich beiderseitiger und ausgewogener Truppenreduzierungen und bezüglich von Verhandlungsformen in Erfahrung bringen und ihre Reaktion auf die vorgetragenen Gedanken zu erhalten suchen. 3. Vertreter der Länder, die die Erklärungen von Reykjavik und Rom herausgegeben haben, ersuchten Manlio Brosio, der Vertreter zu sein. Er hat dieses Ersuchen angenommen. 4. Die Regierung Belgiens wurde ersucht, die oben angeführten Entscheidungen den Ländern zu übermitteln, die Empfänger des Lissabonner Kommuniques waren. Die Regierung Belgiens wurde ferner ersucht, die notwendigen Vor17

Königsberg

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kehrungen zu treffen, damit Manlio Brosio seine Mission so bald wie möglich beginnen kann. 5. Diese Entscheidungen stellen eine weitere Initiative seitens der beteiligten verbündeten Regierungen dar, in der ihre Überzeugung zum Ausdruck kommt, daß die Verringerung der Gefahr einer militärischen Konfrontation in Europa zu einer erhöhten Sicherheit und Stabilität führen könnte, die sie beharrlich angestrebt haben. Die Initiative ist ein Beweis für ihren Wunsch, so bald wie möglich festzustellen, ob eine gemeinsame Basis für Verhandlungen über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen besteht. Diese Regierungen hoffen deshalb, daß ihr Schritt eine klare, positive und rasche Antwort seitens der anderen interessierten Regierungen finden wird." (NATO Brief, Nr. 8, Nov./Dez. 1971) Der Erste Sekretär des Z K der Z E D , H o n e c k e r , kel in der „Prawda" vom 7. Oktober u. a. aus:

führt in einem Arti-

„Die Zeit ist herangereift, endlich den Vertrag zwischen der UdSSR und der BRD sowie den Vertrag zwischen VR Polen und der BRD zu ratifizieren, damit sie verwirklicht werden können. In diesen Verträgen werden völkerrechtlich die infolge des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung entstandenen Grenzen in Eruopa anerkannt, darunter auch die Grenze zwischen der DDR und der BRD und die Westgrenzen Volkspolens." (Prawda, 7.10.1971) Die F r a k t i o n der C D U / C S U richtet am 14. Oktober eine G r o ß e A n f r a g e über die Deutschland- und Außenpolitik an die Bundesregierung (Wortlaut der Fragen siehe bei der Antwort der Bundesregierung unter dem 11. November 1971). Der Anfrage sind die folgenden Begründungen beigegeben: „Begründung Zu Frage 1:

Die Bundesregierung bezeichnet die Verträge von Moskau und Warschau als reine Gewaltverzichtsverträge, mit denen ein provisorischer ,modus vivendi* geschaffen wird; während die deutsche Frage — einschließlich der Feststellung der Grenzen — bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland offen bleibt. Ausdrücklich haben Bundeskanzler Willy Brandt am 6. Juli 1971, Bundesaußenminister Walter Scheel am 15. Juli 1970 und Staatssekretär Karl Moersch am 12. August 1970 vom ,modus videndi' gesprochen. , ,modus vivendi* — Terminus des Völkerrechts, der gewöhnlich für kurzfristige Vereinbarungen über wirtschaftliche, seltener über militärische oder politische Fragen verwendet wird. In der Regel wird ein modus vivendi in solchen Fällen abgeschlossen, in denen Umstände vorhanden sind, die dem Abschluß einer beständigen oder dauerhaften Vereinbarung im Wege stehen/ (Große Sowjetische Enzyklopädie, Moskau 1954) , ,modus vivendi' (lateinisch: Art zu leben), 258

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Völkerrecht: die als vorläufig gedachte, die endgültige Entscheidung aufschiebende Regelung einer Frage oder eines Streitfalles in allen internationalen Beziehungen durch eine völkerrechtliche Vereinbarung.' (Großer Brockhaus, Wiesbaden 1971) Der Auffassung der Bundesregierung stehen zahlreiche offizielle Erklärungen der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und anderer Staaten des Warschauer Paktes entgegen, nach denen die Bundesregierung in den genannten Verträgen die Anerkennung und Endgültigkeit der Teilung Deutschlands und der Westgrenze Polens bestätigt habe. Leonid Breshnew, Generalsekretär des ZK der KPdSU in Alma Ata am 28. August 1970: ,Es besteht kein Zweifel, daß die Anerkennung der politischen Realitäten des heutigen Europas durch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie in den Ergebnissen unserer Verhandlungen im Text des sowjetisch-westdeutschen Vertrages ihren Niederschlag gefunden hat, ein vernünftiger Schritt auf dem richtigen Wege ist.' (nach Radio Moskau/Tass) Andrej Gromyko, Außenminister der UdSSR, vor der Vollversammlung der UNO am 28. September 1971: ,Die Verträge der UdSSR und der Volksrepublik Polen mit der Bundesrepublik Deutschland, denen die Anerkennung der Realitäten in Europa, vor allem die Unverletzlichkeit der Grenzen, zugrunde liegt, entsprechen den Interessen aller europäischen Staaten.' Europa-Dokument der Berliner Konferenz der Staaten des Warschauer Paktes vom 2. Dezember 1970: ,Die Anerkennung der bestehenden Lage (durch die Verträge von Moskau und Warschau), die sich im Ergebnis des 2. Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung herausgebildet hat, und die Unantastbarkeit der gegenwärtigen Grenzen der europäischen Staaten, . . . all dies ist von eminenter Bedeutung für das Schicksal des Friedens in Europa.' Wladislaw Gomulka, Parteidief der polnischen Partei der Arbeit, am 4. Dezember 1970: ,In diesem Vertrage (von Warschau) hat die deutsche Bundesregierung den endgültigen Charakter unserer westlichen Staatsgrenze an der Oder und Lausitzer Neiße anerkannt.' (Trybuna Ludu) Josef Winiewicz, stellvertretender Außenminister Polens im Februar 1971: ,Im Vertrag (von Warschau) bestätigen beide Seiten einträchtig die Endgültigkeit der bestehenden Westgrenzen Polens...'. (Polnische Perspektiven) Diese Vertragsinterpretationen aus den Staaten des Warschauer Pakts beeinflussen in zunehmendem Maße audi die Öffentlichkeit und führende Politiker des Westens. 17·

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Hinsichtlich der entscheidenden Aussage der Verträge von Moskau und Warschau besteht also ein Dissens zwischen den Vertragspartnern. Es kann den deutschen gesetzgebenden Körperschaften nicht zugemutet werden, über Verträge ein Votum abzugeben, die nach Auffassung der östlichen Vertragspartner endgültige Regelungen sind, von der deutschen Regierung aber als befristete Übergangsregelungen angesehen werden. Zu Frage 2

Die Bundesregierung hat wiederholt zu erkennen gegeben, daß sie substantielle und dauerhafte Verbesserungen für die Menschen im geteilten Deutschland als den Kern ihrer Ostpolitik ansieht. So hat der Bundeskanzler am 14. Januar 1970 vor dem Deutschen Bundestag erklärt: ,Ein Vertrag zwischen der DDR und uns darf nicht zu einer Nebelwand werden, hinter der alle die Menschen belastenden Tatbestände unverändert bleiben/ Auch nach der Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau wird drüben die Politik der Unmenschlichkeit und der Abgrenzung fortgesetzt. Die Fraktion der CDU/CSU geht daher davon aus, daß die Bundesregierung die Verträge von Moskau und Warschau erst dann den gesetzgebenden Körperschaften zuleiten wird, wenn diese ,die Menschen belastenden Tatbestände' geändert sein werden. Sie geht weiter davon aus, daß zwischen der oben zitierten Absichtserklärung des Bundeskanzlers und der von der Bundesregierung in den Kasseler Punkten, in den Moskauer Absichtserklärungen und im KrimKommunique zugesicherten ,Achtung der Unabhängigkeit der beiden (deutschen) Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen* kein Widerspruch besteht. Zu Frage 3

Der Bundeskanzler hat am 14. Januar 1970 vor dem Deutschen Bundestag zugesichert: ,Es bleibt dabei, eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR kommt für uns nicht in Frage*. Tatsächlich hat die ,DDR* durch die Politik der Bundesregierung in der Welt mehr und mehr Boden gewonnen. Zu dieser Entwicklung trug vor allem die Erklärung der Bundesregierung bei, daß es auf deutschem Boden zwei gleichberechtigte Staaten gäbe und daß der Eintritt der ,DDR* in die UNO in Aussicht genommen werde. Die Tatsache, daß der Bundeskanzler im Krim-Kommuniqué den geplanten Eintritt der ,DDR* in die UN nur noch an die allgemeine Bedingung ,im Zuge einer Entspannung in Europa' geknüpft und auf eine Wiederholung der in den 20 Kasseler Punkten enthaltenen Bedingungen konkreter Verbesserungen in Deutschland verzichtete, wird diese Entwicklung weiter beschleunigen. Schon heute läßt sich erkennen, daß mit dem Eintritt der ,DDR* in die Vereinten Nationen der Weg zur internationalen völkerrechtlichen Anerkennung der ,DDR* endgültig freigegeben wird. Zu Frage 4

Alle bisherigen Bundesregierungen und der deutsche Bundestag haben bis zum Amtsantritt der gegenwärtigen Bundesregierung die Auffassung vertreten und nach ihr gehandelt, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 260

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26. März 1957 (Band 6, Entscheidungen des Bundes ver fassungsgeridites, Seite 338) in folgende Worte gefaßt hat: ,Das deutsche Reich, welches nach dem Zusammenbruch nicht zu existieren aufgehört hatte, bestand audi nach 1945 weiter; wenn auch die durch das Grundgesetz geschaffene Organisation vorläufig in ihrer Geltung auf einen Teil des Reichsgebiets beschränkt ist, so ist doch die Bundesrepublik Deutschland identisch mit dem Deutschen Reich/ Durch die Erklärung der Bundesregierung, daß es zwei deutsche Staaten gebe und durch die Verträge, die die Bundesregierung mit Moskau und Warschau geschlossen hat, sind Zweifel daran entstanden, ob die Bundesregierung sich weiterhin an die obengenannte Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts gebunden hält. Zu Frage 5

In ihrer Erklärung vom 3. Oktober 1954 (Londoner Schlußakte), die im Zusammenhang des Deutschlandvertrages zur Grundlage der Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten wurde, haben diese erklärt, daß sie ,die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen/ Dieser Auffassung ist übrigens auch der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, beigetreten, indem er am 18. August 1961 vor dem Deutschen Bundestag erklärte : ,..., daß die Bundesregierung ihre eigene Verfassung nicht brechen darf, die uns verbindlich auffordert, stellvertretend für alle Deutschen zu handeln'. Entgegen dieser von den Westmächten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland vertraglich bestätigten und vom heutigen Bundeskanzler damals formulierten Pflicht hat der Bundesaußenminister am 29. April 1970 vor dem Deutschen Bundestag erklärt, daß die Bundesregierung selbstverständlich nur für die Bundesrepublik Deutschland sprechen' könne. Er hat sich damit in Widerspruch gesetzt zu dem »wesentlichen Ziel der gemeinsamen Politik', die die Bundesregierung mit den Westmächten im Deutschlandvertrag vereinbart hat. Zu Frage 6

Die Aufrechterhaltung und Entwicklung aller bestehenden Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Berlin im Einverständnis mit unseren Alliierten ist unerläßlich für die Lebensfähigkeit dieser Stadt. Demgegenüber haben die Sowjetunion und ihre Verbündeten ständig versucht, West-Berlin zu einer von der Bundesrepublik getrennten besonderen politischen Einheit zu machen. Nach dem Moskauer Vertrag, nach dem Rahmenabkommen der Vier Mächte über Berlin und nach der Erklärung des amerikanischen Botschafters Rush, daß sich am rechtlichen Status Berlins nichts geändert habe, erwartet die Opposition eine eindeutige Stellungnahme der Bundesregierung zur Frage der rechtlichen Zuordnung Berlins zur Bundesrepublik Deutschland. Der amerikanische Botschafter Rush am 22. September 1971 in Berlin: »Was die westlichen Alliierten anbelangt, so wird der rechtliche Status Deutschlands, einschließlich Berlins, in keiner Weise von dem Viermächteabkommen be261

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rührt. . . . Rechtlich bleibt die Lage Berlins und Deutschlands genau die gleiche wie am 26. März 1970 zu Beginn der Viermächteverhandlungen.' Zu Frage 7

Auf der Lissabonner NATO-Konferenz haben sich die Teilnehmerstaaten auf eine schrittweise Prozedur der Vorbereitung der »Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa' geeinigt. Hinter dieser vorsichtigen Haltung stand bei vielen unserer Bündnispartner die Erkenntnis, daß die Sowjetunion und die meisten ihrer Verbündeten mit dieser Konferenz unverändert folgende Ziele anstreben: — die endgültige Fixierung der sowjetischen Herrschaft über Mittelost- und Südosteuropa (Breshnew-Doktrin), — die Legalisierung der Teilung Deutschlands, — die Verhinderung der Einigung des freien Europa, — die schrittweise Verdrängung der USA aus Europa. Dennoch hat sich der Bundeskanzler im Krim-Kommuniqué für eine Beschleunigung der Vorbereitungen der Europäischen Sicherheitskonferenz ausgesprochen. Zu Frage 8

Im Budapester Memorandum vom 22. Juni 1970 haben die kommunistischen Parteien Osteuropas als eines ihrer Ziele bei einer gesamteuropäischen Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die Einrichtung gesamteuropäischer Organe und entscheidungsbefugter Institutionen genannt. Diese Ankündigung macht die Absicht des Ostblocks deutlich, das westeuropäische Einigungswerk durch gesamteuropäische Entscheidungen', an denen die Sowjetunion und ihre Verbündeten wesentlich mitwirken sollen, zu zerstören. Demgegenüber ist die Schaffung einer politischen Union der demokratischen Staaten Westeuropas eine unabdingbare Voraussetzung für das Entstehen einer stabilen und von keinerlei Hegemonie bedrohten gesamteuropäischen Friedensordnung. Trotz dieses unverändert fortbestehenden fundamentalen Gegensatzes zwischen dem sowjetischen und dem westlichen Konzept für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat der Bundeskanzler auf der Krim die Beschleunigung der Abhaltung der gesamteuropäischen Konferenz zugesagt. Zu Frage 9

Die Bundesregierung hat mehrfach erklärt, die Grundlage ihrer Ostpolitik sei die feste Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis. Ebenso hat die Bundesregierung auch ständig versichert, im engsten Einvernehmen mit unseren Partnern vorzugehen und die notwendigen Konsultationen nach dem deutsch-französischen Vertrag, im NATO-Rat und innerhalb der Sechsergemeinschaft zu führen. Gegenüber diesen Erklärungen der Bundesregierung hat die plötzliche Reise des Bundeskanzlers zu einem Treffen mit dem sowjetischen 262

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Parteichef auf der Krim in der westlichen öffentlidikeit Sorgen vor deutschen Alleingängen hervorgerufen. Staatspräsident Pompidou, Pressekonferenz 23. September 1971 : ,Man könnte sich natürlich vorstellen ..., daß der französisch-deutsche Vertrag über Zusammenarbeit... etwas mehr vorherige Information hätte rechtfertigen können..Λ Zu Frage 10

Der britische Premierminister Heath hat in seiner Rede in Zürich am 17. September 1971 eine wachsende Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Verteidigung gefordert: Andererseits hat der französische Staatspräsident Pompidou in seiner Pressekonferenz am 23. September 1971 von einem Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Auffassung hinsichtlich einer ausgewogenen Reduzierung der Truppen in Europa gesprochen; er hat warnend festgestellt, diese Meinungsverschiedenheit beziehe sich darauf, daß ,die Bemühungen um eine Entspannung und der Wille zur Entspannung die Sorge um die Verteidigung und die Fähigkeit zur Verteidigung nicht vermindern dürften/ Eine Klarstellung der Absichten der deutschen Verteidigungspolitik ist angesichts dieser beiden Äußerungen unserer europäischen Partner nötig." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drucksache VI/2700) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 15. Oktober eine Anfrage des Abgeordneten R i e d e l C D U / C S U schriftlich wie folgt:

*Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom 15. Oktober 1971 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Riedel (Frankfurt) (CDU/CSU) (Drucksache VI/2680 Frage A 101): Welche Begründung hat der Herr Bundeskanzler für seine Annahme (Pressekonferenz 14. August 1970), daß durch die von ihm in Moskau und Warschau abgeschlossenen Verträge die Bundesrepublik Deutschland nur auf die gewaltsame Revision von Grenzen verzichtet habe, nachdem die Grenzartikel beider Verträge Elemente des Locarno-Paktes Artikel 1 enthalten, an deren Endgültigkeitsgehalt völkerrechtlicher Verbindlichkeit nicht zu zweifeln ist? In seiner Pressekonferenz vom 14. August 1970 in Bonn hat der Herr Bundeskanzler ausgeführt: ,Wir haben bei der Unterzeichnung des Vertrages in der Erkenntnis gehandelt, daß die Grenzen der Staaten in Europa so wie sie heute verlaufen — unabhängig davon, ob sie uns gefallen oder nicht, oder auf welcher rechtlichen Basis sie ruhen — unter Gewalt nicht verändert werden dürfen, daß sie niemand verletzen darf, es sei denn, er wollte das Abenteuer der Gewalt anwenden. Wir wollen dies nicht. Die Absicht von früheren Regierungen haben wir in die Tat, d. h. in eine vertragliche Verpflichtung umgesetzt/ Ich nehme an, daß der Herr Abgeordnete mit seiner Frage diese Äußerung des Herrn Bundeskanzlers im Auge hat. Diese Erklärung des Bundeskanzlers bezog sich konkret nur auf den Moskauer Vertrag. Denn die Verhandlungen über 263

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den Warschauer Vertrag, der erst am 7. Dezember 1970 unterzeichnet wurde, waren damals noch nicht abgeschlossen. Der in Ihrer Frage angeschnittene Vergleich zwischen dem Locamo-Vertrag und dem Moskauer Vertrag geht an den historischen Gegebenheiten vorbei. Der Locarno-Vertrag wurde abgeschlossen, nachdem bereits ein Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Reich und seinen Kriegsgegnern abgeschlossen war. Dieser Friedensvertrag, der Vertrag von Versailles, enthielt eine ausdrückliche Festlegung der deutschen Grenzen. Schon aus diesem Grunde kann der LocarnoVertrag nicht zur Auslegung des Moskauer Vertrages herangezogen werden. Im übrigen sind Artikel I des Locarno-Vertrages und Artikel I I I des Moskauer Vertrages aber auch keineswegs inhaltsgleich. Vor allem ist in Artikel I des Locarno-Vertrages ausdrücklich auf die Grenzregelung des Versailler Vertrages Bezug genommen worden." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 142. Sitzung, 15.10.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Interview mit dem Bonner „General-Anzeiger" vom 15. Oktober u. a. aus:

„Frage: Einer der wichtigsten politischen Prozesse der nächsten Zeit wird das Ratifizierungsverfahren der Ostverträge sein. Besteht die Möglichkeit, begründeten Bedenken der Opposition im Hinblick auf die Wahrung der deutschen Rechtspositionen durch zusätzliche Interpretationen Rechnung zu tragen? Antwort: Unsere Rechtsposition im Hinblick auf die Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen ist in den Verträgen voll gewahrt worden. Dies wird in der Begründung zu den Ratifizierungsgesetzen noch einmal im einzelnen dargelegt werden. Eine zusätzliche Interpretation kann natürlich nicht den Sinn haben, unsere Politik zu ändern oder Zweifel an unserer Vertragstreue zu wecken. Dies kann niemand wollen, auch die Opposition nicht. Ich begrüße es, daß führende Männer der Opposition ausdrücklich erklärt haben, daß sie sich nach einem Inkrafttreten der Verträge selbstverständlich an diese halten würden. Was ich mir vorstellen könnte, ist dies: daß der Bundestag zusammen mit der Abstimmung über die Ratifizierung eine Erklärung verabschiedet, in der die großen außenpolitischen Zielsetzungen — vor allem der Wille zum Frieden und zur Wahrung der Einheit der Nation — ihren Niederschlag finden. Ob eine solche Erklärung gemeinsam zustande gebracht werden könnte, wage ich heute nicht zu sagen. Sie dürfte natürlich auch nicht zu einer Verwischung dessen führen, worauf es jetzt ankommt." (General-Anzeiger, Bonn, 15.10.1971) Die L a n d s m a n n s c h a f t S c h l e s i e n faßt auf ihrer Bundesdelegiertentagung vom 16.—17. Oktober in Hamburg eine Entschließung, die folgenden Wortlaut hat:

„Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zum Verzicht auf Gewalt und zum Verbot von Annexionen. In den Verträgen von Moskau und Warschau wird 264

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jedoch die Annexion von einem Viertel Deutschlands durch den kommunistischen Imperialismus gebilligt und anerkannt. Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zu den europäischen Lösungen, durdi die Grenzen überwunden und durdilässiger gemacht werden. Im Vertrag von Warschau werden jedoch nationalistische Forderungen erfüllt. Wroclaw für Breslau und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze sind Ausdruck eines längst für überwunden gehaltenen Nationalismus und die Sanktionierung der Vertreibung. Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zur uneingeschränkten Gewährung der elementaren Menschenredite in allen Völkergruppen und Minderheiten. Der Warschauer Vertrag erwähnt nicht nur mit keinem Wort die Menschenredite, sondern nach wie vor werden den Deutschen — das sind über eine Million — von der gegenwärtigen Regierung in Warschau alle elementaren Menschenrechte wie Gebrauch der deutschen Sprache in Schule, Kirche und im Betrieb verweigert. Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zu Text und Inhalt der sogenannten Informationen, durch die die Prozedur der Aussiedlung endlich erleichtert und beschleunigt werden soll. Mit Bestürzung muß jedoch registriert werden, daß die Behörden der Volksrepublik Polen in zunehmendem Maße Anträge ablehnen, daß wie bisher den Antragstellern mit Arbeitverlust oder Rückstufung am Arbeitsplatz geantwortet wird, daß Landwirte ihre Höfe, nicht anders als zuvor die Vertriebenen, entschädigungslos aufgeben müssen, daß Akademiker zur Rückzahlung der Studiengebühren in Höhe bis zu 9000 DM gezwungen werden. Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zur Verständigung gerade auch mit dem polnischen Volk, zur Wiedergutmachung für die dem polnischen Volk zugefügten Leiden, zu einem Modus vivendi zwischen den Völkern und Staaten, aber mit neuem Unrecht kann nicht altes Unrecht wiedergutgemacht werden. Die Erhaltung und Stärkung der Freiheit in der Bundesrepublik und der Zusammenschluß Europas in Freiheit sollten das vorrangige Ziel der Politik für Deutschland sein. Jede Schwächung des Vertrauens unserer Bundesgenossen zum freien Teil von Deutschland untergräbt die Position der Bundesrepublik Deutschland und erhöht die kommunistische Gefahr sowohl im Innern als auch nach außen. In Verantwortung für Schlesien als einem unverzichtbaren Teil ganz Deutschlands appellieren die Schlesier an die Solidarität des deutschen Volkes und an die Verpflichtung von Bundestag und Bundesregierung auf das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Es ist der freiheitlichen deutschen Politik aufgetragen, die Substanz ganz Deutschlands zu wahren. Ein neues Miteinander der Völker, also auch des deutschen und polnischen Volkes, kann nur auf einem Frieden beruhen, der das Selbstbestimmungsrecht zur Voraussetzung hat und demokratisch legitimiert wird. Uber die Generationen hinweg bleibt der Auftrag aus dem Grundgesetz, die Einheit und Freiheit Deutschlands erst noch zu vollenden." (Der Schlesier. Breslauer Nachrichten, 21.10.1971) 265

Herbert G. Marxian Bundesminister Prof. Dr. E h m k e führt in einem Interview mit dem Süddeutschen Rundfunk am 17. Oktober u. a. aus:

„Frage: Eine letzte Frage noch, Herr Minister. Könnte die Bundesregierung etwa einer Präambel im Ratifikationsgesetz zustimmen, mit der, wie seinerzeit bei dem Deutsch-Französischen Vertrag, den Bedenken der Opposition Rechnung getragen würde? Der Bundeskanzler hat erst kürzlich in einem Interview davon gesprochen, daß die Fraktionen im Bundestag auch eine Erklärung verabschieden könnten. Aber das würde ja weit unter der Grenze einer Präambel sein. Was sagen Sie dazu? Antwort: Das will ich nicht sagen. Wir werden ja demnächst wieder eine Diskussion über diese Fragen haben. Ich bin der Meinung, daß, wenn man den Vertrag und die Anhänge zum Vertrag richtig liest, kein Grund zu irgendeiner Besorgnis besteht, die man dann in einer Präambel zerstreuen könnte, zumal die Präambel nur eine einseitige Erklärung unsererseits sein kann. Man kann nicht von einer Seite eine Präambel zum Vertrag schreiben. Also, von dem Gedanken halte ich nicht viel. Ich bin der Meinung, wir sollten uns dann in der Debatte noch einmal gründlich darüber unterhalten, warum die Befürchtungen, die ein Teil der Union äußert, nach unserer Meinung nicht zutreffen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 20.10.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Ansprache auf dem 9. Ordentlichen Gewerkschaftstag der I G Druck und Papier in Nürnberg am 24. O k tober u. a. aus:

„Ausgleich und Verständigung heißt nicht, daß wir die Spaltung Deutschlands nachträglich als rechtmäßig anerkennen oder die Teilung Europas als unabänderlich betrachten. Verzicht auf Gewalt heißt nicht, daß wir auf die zunehmende, friedliche Verwirklichung der Menschenrechte verzichten. Achtung der Grenzen heißt nicht, daß wir dafür sind, sie als feindliche Barrieren zu zementieren. Bereitschaft zur Rüstungsverminderung heißt nicht, daß wir die westliche Friedenssicherung vernachlässigen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 26.10.1971) I n der Niederschrift der G r u n d s ä t z e d e r französisch-sow j e t i s c h e n Z u s a m m e n a r b e i t , welche anläßlidi des Besuches des Generalsekretärs des Z K der KPdSU, Breschnjew, in Paris am 30. Oktober unterzeichnet wird, heißt es u. a. :

„Diese politische Zusammenarbeit wird unter gebührender Berücksichtigung der Rechte und Prärogativen der anderen interessierten Mächte ihre Anwendung besonders bei der Ausübung der Verantwortung finden, die beide Länder in der Welt tragen, der Verantwortung als ständige Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und der Verantwortung in Europa, die sich aus den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs ergeben hat. Sollten Situationen entstehen, die nach Meinung beider Seiten eine Gefährdung des Friedens oder eine Verletzung des Friedens bedeuten oder zu internationa266

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len Spannungen führen könnten, werden Frankreich und die Sowjetunion gemäß dem Protokoll vom 13. Oktober 1970 handeln. Von großer Bedeutung ist die enge Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Sowjetunion in Europa — gemeinsam mit anderen interessierten Staaten — bei der Wahrung des Friedens und der Weiterführung der Entspannungspolitik, der Verbesserung der Sicherheit sowie der Stärkung der friedlichen Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Staaten, unter strenger Beachtung folgender Prinzipien: — Unverletzlichkeit der gegenwärtigen Grenzen, — Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, — Gleichheit, — Unabhängigkeit, — Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt." (Ambassade de France, Service de presse et d'information, Bonn 1971, Nr. 26) I n der f r a n z ö s i s c h - s o w j e t i s c h e n E r k l ä r u n g vom 30. O k tober anläßlich des Besuches des Generalsekretärs des Z K der KPdSU, Breschnjew, in Frankreich heißt es u. a. :

„Bei der Prüfung der großen Probleme von internationaler Aktualität widmeten Pompidou und Breshnjew der Lage in Europa besondere Aufmerksamkeit. Sie stellten mit Genugtuung fest, daß es nach der 1970 erfolgten Unterzeichnung der Verträge zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland neue ermutigende Anzeichen für eine Entwicklung in Richtung der Entspannung gegeben hat, und erklärten sich überzeugt, daß das Inkrafttreten dieser Verträge von großer Bedeutung für die Stärkung des Friedens in Europa sein werde. Die beiden Seiten unterstrichen, daß das Viermächte-Abkommen, das am 3. September dieses Jahres zwischen Frankreich, der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und Großbritannien aufgrund der von ihnen gemeinsam übernommenen Verantwortungen abgeschlossen wurde, ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringt, die Ursachen der Spannung im Herzen Europas zu beseitigen, und daß es einen Schritt auf dem Wege der Entspannung in Europa und in der Welt darstellt. Pompidou und Breshnjew brachten den Wunsch zum Ausdruck, daß dieses Abkommen durch die vorgesehenen Vereinbarungen und das Schlußprotokoll vervollständigt werden möge. Die so erzielten Fortschritte und die Ergebnisse, die man von den im Sinne einer allgemeinen Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR unternommenen Anstrengungen erwarten darf, sowie in der Folge die Aufnahme dieser beiden Staaten in die Organisation der Vereinten Nationen werden neue Perspektiven für die Stärkung der Sicherheit, die Entwicklung der Beziehungen und die Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen allen Staaten in Europa eröffnen. Pompidou und Breshnjew bekräftigten erneut, welche Bedeutung sie dem Zusammentreten einer Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa beimessen. Die baldige Verwirklichung dieses Vorhabens, die durch die 267

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jüngste Entwicklung der Lage begünstigt wird, soll nach ihrer Meinung dazu beitragen, die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten schrittweise dergestalt umzuwandeln, daß die Teilung des Kontinents in Blöcke überwunden werden kann. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben muß die Stärkung der europäischen Sicherheit durch die Schaffung eines Systems von Verpflichtungen sein, das jede Anwendung oder Androhung von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Staaten ausschließt und die Achtung der Grundsätze der territorialen Integrität der Staaten, der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, der Gleichheit und der Unabhängigkeit aller Staaten gewährleistet. Eine solche Konferenz soll auch bewirken, daß sich der wirtschaftliche und kommerzielle Austausch, die Zusammenarbeit auf industriellem und technischem Gebiet, der kulturelle und wissenschaftliche Austausch sowie die menschlichen Kontakte zwischen allen daran beteiligten Staaten entwickeln. Wenn die Völker einander auf diese Weise besser kennenlernen und gemeinsam die Früchte ihrer Arbeit, ihres künstlerischen und geistigen Schaffens genießen, werden sie sich im Interesse der Stärkung des Friedens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit der sie verbindenden Solidarität stärker bewußt werden. Pompidou und Breshnjew erinnerten an ihren Wunsch, daß die multilaterale Vorbereitung der Konferenz im Einvernehmen mit den interessierten Staaten so schnell wie möglich in Helsinki beginnen möge, und brachten die Ansicht zum Ausdruck, daß dieses multilaterale Vorbereitungstreffen es gestatten sollte, sich über den Inhalt der Tagesordnung der Konferenz, ihre Arbeitsverfahren sowie die Modalitäten und das Datum ihrer Einberufung zu einigen." (Ambassade de France, Service de presse et d'information, Bonn, 1971, Nr. 26) I n dem Kommuniqué über den Besuch des Generalsekretärs des Z K der KPdSU, B r e s c h n j e w , in Ost-Berlin vom 30. Oktober bis 1. November heißt es u. a. :

„Bei der Erörterung der internationalen Probleme widmeten die führenden Persönlichkeiten der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik der Situation in Europa und den Bemühungen der sozialistischen Staaten zur Gewährleistung der Sicherheit auf dem europäischen Kontinent besondere Aufmerksamkeit. Sie stellten fest, daß das vom XXIV. Parteitag der KPdSU verkündete und von den sozialistischen Bruderländern unterstützte Programm des Friedens immer stärkere internationale Anerkennung findet. Die aktive Friedenspolitik der sozialistischen Länder ist die Haupttriebkraft der in Europa vor sich gehenden Veränderungen zugunsten der Festigung des Friedens. Eine positive Rolle spielten und spielen die Initiativen und konstruktiven Schritte einiger westeuropäischer Staaten, unter ihnen Frankreich, dessen Regierung sich als eine der ersten für die Entspannung auf dem europäischen Kontinent einsetzte. Es wurde die große Bedeutung der von der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen mit der BRD abgeschlossenen Verträge hervorgehoben, die die Unantastbarkeit der europäischen Grenzen einschließlich der Grenze zwischen der DDR und der BRD sowie der Westgrenze der Volksrepublik Polen bekräftigen. 268

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Beide Seiten sind der Ansicht, daß die Ratifizierung dieser Verträge in allernächster Zeit nicht nur den langfristigen Interessen der Staaten entsprechen würde, die sie unterzeichnet haben, sondern auch weitergehende Möglichkeiten eröffnen, die friedliche Zusammenarbeit in Europa zu regeln." (Neues Deutschland, 2.11.1971) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 3. November eine Anfrage des Abgeordneten D r . W i t t m a n n C D U / C S U schriftlich wie folgt:

„Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom 3. November 1971 auf die mündliche Frage des Abgeordneten Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) (Drucksache VI/2775 Frage A 93): Trifft die Meldung der frankfurter Allgemeinen Zeitung* vom 26. Oktober 1971 zu, daß mehr als die Hälfte der Anträge auf Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland von den polnischen Behörden abgelehnt wurde, obwohl die Antragsteller die Voraussetzungen erfüllen, die in der polnischen Zusage anläßlich der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages genannt sind, und was tat die Bundesregierung, und was gedenkt sie zu tun, um die polnische Seite zur Einhaltung ihrer Zusage zu bewegen? Die Bundesregierung hält an der Uberzeugung fest, daß die polnische Regierung nach wir vor entschlossen ist, die in der ,Information der Regierung der Volksrepublik Polen f gemachten Zusagen einzuhalten und zu verwirklichen.

Es ist allerdings zutreffend, daß sich die Mitteilungen von Antragstellern über Ablehnungen von Ausreiseanträgen mehren. Wie hoch der Anteil der abgelehnten Anträge im Verhältnis zur Gesamtzahl ist, läßt sich von hier aus naturgemäß kaum feststellen, da diese Anträge bei polnischen Behörden gestellt und von polnischen Behörden entschieden werden. Die Bundesregierung hat die aufgetretenen Probleme wiederholt gegenüber der polnischen Regierung zur Sprache gebracht, u. a. auch anläßlich der kürzlichen deutsch-polnischen Konsultationen in Bonn. Diese Probleme werden nach Kenntnis der Bundesregierung auch in der bevorstehenden nächsten Runde der deutsch-polnischen Rotkreuz-Verhandlungen über Umsiedlungsfragen behandelt werden. Diese Rotkreuz-Gespräche sind für die Zeit vom 18. bis 20. November 1971 in Warschau vorgesehen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode 149. Sitzung, 5.11.1971) Der französische Außenminister S c h u m a n n führt in einer Rede vor der Nationalversammlung in Paris am 3. November u. a. aus:

„Wir glauben, daß eine der besten Methoden — vielleicht überhaupt die beste —, die Sicherheit des Kontinents zu verstärken, darin besteht, daß man — entsprechend der französisch-sowjetischen Erklärung vom 30. Oktober — den Völkern hilft, einander besser kennenzulernen, indem sie gegenseitig von den Früchten ihrer Arbeit, ihrer Kunst und ihres Denkens profitieren, also die Schranken abbaut, die hier und dort noch die Reisen von Personen, den Austausch von Informationen, die Zirkulation von Ideen behindern; daß man dafür 269

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sorgt, daß ohne Beeinträchtigung der Souveränität eines dieser Staaten eine echte gegenseitige Durchdringung ihre Völker einander näherbringt, die, wenn sie einander besser verstehen, auch erleben werden, wie dank diesem Austausch ihr geistiges und materielles Lebensniveau ansteigt. Um auf diesem Wege voranzukommen, ist es wichtig, daß die Konferenz nicht nur eine Begegnung von Politikern wird, die ihre Ansichten einander gegenüberstellen, sondern daß sie zu einer tiefschürfenden, gründlichen, präzisen Arbeit führt, mittels derer Fachleute auf jedem Gebiet die Grundsatzentscheidungen, zu denen die Minister gelangen, in die Tat umsetzen können. Unsere Vorstellungen zielen also auf eine Konferenz, die abwechselnd auf zwei Ebenen stattfindet: auf der Ebene der Außenminister, um die Dinge in Gang zu bringen und später die Ergebnisse zu billigen, und in der Zwischenzeit auf der Ebene von drei Kommissionen, deren Aufgabe es ist, die in den drei Bereichen der Sicherheit, des Güteraustauschs sowie auch des Austauschs von Ideen und Personen erzielten Fortschritte für die Völker nutzbar zu machen. Es versteht sich, daß — sofern die Ergebnisse es rechtfertigen — eine Konferenz auf höchster Ebene das Werk krönen könnte. Diese Analyse erlaubt uns, genau zu verstehen, warum der Besuch Leonid Breshnjews in Frankreich — der erste, den er einem westlichen Land abgestattet hat — in unseren Augen wie auch in denen unserer Gäste den Wert eines beispielhaften Erfolgs annimmt. Wenn ich dieses Adjektiv verwende, denke ich an einen der dreizehn Grundsätze unserer Zusammenarbeit, deren Niederschrift — seit vergangenem Samstag — die Unterschriften von Breshnjew und Pompidou trägt: Frankreich und die Sowjetunion werden ihre bilateralen Beziehungen auf allen Gebieten so gestalten, daß sie als gutes Beispiel für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen dienen. Dieser Grundsatz schließt sich an zwei andere an, die ihn ergänzen und einander ergänzen: Zum einen soll die Politik der Verständigung zwischen Frankreich und der Sowjetunion zu ,einem ständigen Faktor des internationalen Lebens' werden (das ist so wahr, daß das Abkommen über die Entfaltung der wirtschaftlichen, technischen und industriellen Zusammenarbeit die Aufstellung eines Intensivierungsprogramms mit zehnjähriger Laufzeit vorsieht). Zum anderen ist diese Zusammenarbeit nicht gegen die Interessen irgendeines Volkes gerichtet und berührt in keiner Weise die von beiden Ländern gegenüber dritten Staaten eingegangenen Verpflichtungen. Aber der Wille, die Einberufung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in kürzester Zeit vorzubereiten — in der Hoffnung, daß ihr Erfolg es erlauben wird, Fortsetzungen folgen zu lassen —, hat zwei weitere Konsequenzen, zu denen sich die Regierung vor der Nationalversammlung in aller Deutlichkeit äußern möchte. Die eine betrifft unsere Beziehungen zu Ostdeutschland, die andere das, was man die beiderseitige ausgewogene Reduzierung der Streitkräfte nennt. Nehmen wir einmal an, die vier verantwortlichen Mächte hätten sich nicht über eine zufriedenstellende Regelung der Berlin-Frage einigen können. Nehmen wir an, die deutsch-sowjetischen und die deutsch-polnischen Verhandlungen hätten nicht zum Abschluß von zwei Verträgen geführt. Nehmen wir an, die 270

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zwischendeutschen Verhandlungen, die auf die Herstellung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR hoffen lassen, hätten nicht aufgenommen werden können. Wenn die Wirklichkeit unglücklicherweise diesen Hypothesen entspräche, dann wäre — darin wird mir jeder zustimmen — die Vorbereitung der Konferenz keine Sache für morgen und ihre Einberufung keine Sache für übermorgen. Umgekehrt ist auch klar, daß wir, wenn wir Einberufung und Vorbereitung der Konferenz beschleunigen wollen, alles tun müssen, was die Unterzeichnung des Schlußprotokolls des Abkommens über Berlin, die Ratifizierung der Verträge von Moskau und Warschau und den Fortschritt der zwischendeutschen Gespräche begünstigen kann, und daß wir nichts tun dürfen, was dies behindern könnte. Diese Regel, die kein Anhänger der Entspannung zu bestreiten gedenkt — die auch kein Anhänger der Entspannung bestreiten könnte, ohne sich in einen fürchterlichen Widerspruch zu verwickeln —, schreibt uns unsere Haltung in bezug auf ein Problem vor, dem die Versammlung und im besonderen ihr Außenpolitischer Ausschuß, der vor kurzem eine Delegation nach Ost-Berlin entsandt hatte, mit gutem Recht Aufmerksamkeit schenken. Eine erste Bemerkung: Unsere Kontakte und unser Austausch mit der DDR entwickeln sich auf der Grundlage beiderseitigen Interesses auf den Gebieten der Wirtschaft, des Handels, des Austauschs zwischen den Universitäten, des kulturellen, künstlerischen, sportlichen und sogar parlamentarischen Austauschs; diese Beziehungen sind im Laufe der letzten Jahre spürbar erweitert worden, und es ist im übrigen bekannt, daß unsere Exportindustrie seit 1970 über eine Vertretung in Ost-Berlin verfügt. Ich kann versichern, daß wir hinter niemandem zurückstehen, auch nicht hinter den europäischen Ländern, die — im Gegensatz zu uns — einen Status der Neutralität wahren. Selbstverständlich ist die gegenwärtige Situation nicht unveränderlich, sie ist im Gegenteil ihrem Wesen nach entwicklungsfähig. Wenn Berlin — nachdem es so lange Ort und Symbol der Spannung war — zum Ort und Symbol des Fortbestands der friedlichen Koexistenz geworden ist, wird sich diese Wandlung zum Guten zwangsläufig auch auf die allgemeine Lage unseres Kontinents auswirken. Danach wird das Schlüsselwort, das mein Freund, der Vorsitzende de Broglie, vor kurzem anläßlich einer Reise ins Licht zu rücken verstanden hat — schrittweises Vorgehen —, voll zur Geltung kommen. Wer könnte uns also hier einen Vorwurf machen, weil wir die Fortsetzung der Politik der Öffnung, welche die Bundesrepublik mit unserer Unterstützung und — warum sollte man es nicht sagen? — nach unserem Beispiel eingeschlagen hat, nicht gefährden wollen? Auf keinen Fall jene, die auf dem Rang Frankreichs bestehen und wissen, daß unsere besonderen Zuständigkeiten betreffend Berlin und Deutschland als Ganzes, die wir gemeinsam mit unseren Verbündeten wahrnehmen, Teil des großen Erbes sind und uns Pflichten auferlegen. Auf keinen Fall jene, die getreu dem Geist und Buchstaben des im Jahre 1963 von de Gaulle und Adenauer unterzeichneten Vertrags wünschen, daß Präsident Pompidou und Bundeskanzler Brandt noch vor Beginn des nächsten Jahres zu einer direkten und ertragreichen Aussprache zusammenkommen. Es ist nicht unsere Sache, ein Urteil darüber abzugeben, daß Herr Breshnjew eine Verbindung zwischen dem endgültigen Abschluß des Abkommens über 271

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Berlin und dem Inkrafttreten der Verträge von Moskau und Warschau hergestellt hat. Aber es ist unsere Sache, festzustellen, daß man nicht diese Initiative bejahen und uns zur gleichen Zeit auffordern kann, eine andere zu ergreifen, die die Ratifizierung dieser Verträge — ich gebrauche absichtlich einen Euphemismus — erschweren würde. Weil der Präsident der Republik am 23. September in seiner Pressekonferenz gewisse Prioritäten gesetzt und sie am 25. Oktober in Versailles beim Empfang für Breshnjew bestätigt hat, darf man uns beschuldigen — wie man sich nicht gescheut hat —, wir begäben uns ,ins Schlepptau Deutschlands'? Eine seltsame Art, sich im Schlepptau der Bundesrepublik zu befinden, wenn man ihr ihre eigenen Fortschritte auf dem Wege erleichtert, den wir ihr auf getan haben! Soviel zur ersten Konsequenz, und nun zur zweiten: Wenn wir sagen, der Augenblick sei gekommen, daß ganz Europa sich ein Stelldichein gibt, so stellen wir dieses Vorhaben unter den Titel ,Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa' (die beiden Ausdrücke — Sicherheit und Zusammenarbeit — sind dabei eng miteinander verbunden, weil die Konzeptionen, die sie bezeichnen, einander ergänzen und voneinander nicht getrennt werden können). Aber wir hüten uns wohl, den Namen zu wählen, an den andere gedacht haben sollen: ,Ost-West-Konferenz.' Warum? Weil unser Ziel gewiß nicht darin besteht, die Konfrontation der beiden Lager zu verewigen oder auch nur zu organisieren, sondern im Gegenteil darin, sie zu verringern, bis sie schließlich aus der Mode kommt. Eben deshalb ist im zehnten der vor vier Tagen niedergelegten Grundsätze der französisch-sowjetischen Zusammenarbeit die Möglichkeit, ,die Probleme einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung und vor allem der nuklearen Abrüstung zu lösen,' mit der Notwendigkeit verknüpft, ,die Teilung der Welt in Blöcke zu überwinden'. Wie könnten wir folglich umhin zu bedauern, daß gerade in dem Augenblick, in dem sich die Chancen der ersten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen allen Europäern konkretisieren, ein anderes Vorhaben dazwischenkommt und die Aufmerksamkeit ablenkt: das Vorhaben einer Verhandlung — diesmal zwischen dem Osten und dem Westen — nicht etwa über die Reduzierung der militärischen Potentiale, sondern über die Reduzierung der Streitkräfte in Europa — was etwas ganz anderes ist? Es ist bzeichnend, daß der ehemalige Generalsekretär des Atlantischen Bündnisses von unseren Verbündeten ausersehen wurde, hinsichtlich dieses Projektes die Absichten Moskaus zu sondieren, das sich ihm, wie es scheint, angeschlossen hat. Mein Freund Brosio wird nicht in unserem Namen sprechen. Er ist zu sehr von cartesianischem Geiste, um sich darüber zu wundern. Denn er wird trotz allem nicht umhin können, über die Konfusion betroffen zu sein, welche die Befürworter dieses Unternehmens — alte und in jüngster Zeit bekehrte — aus absolut entgegengesetzten Motiven veranlaßt, sich darin zu engagieren. Ich will mich nicht mit denjenigen streiten, die glauben, auf irgendeine Weise das Gleichgewicht, auf dem die Sicherheit Europas ruht, manipulieren zu können unter dem Vorwand, daß dieses Gleichgewicht ohnehin durch eine gewisse Tendenz der Amerikaner zu partiellem Desengagement gefährdet sei. Was will man damit sagen? Daß wir Amerika davon abbringen könnten, seine Wacht 272

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zu schwächen, indem wir zunächst einmal die unsrige schwächen? Oder daß wir unsere Wacht schwächen müssen, weil die Vereinigten Staaten die ihre schwächen könnten? Das sind zwei Arten, erkennen zu lassen — ohne daß man es zu sagen wagt —, daß Europa nicht nur darauf verzichtet, Herr seines Geschicks zu sein, sondern schon darauf, an der Bestimmung seines Geschicks teilzunehmen. Ich will mich auch nicht mit denjenigen streiten, die noch vor kurzem das Signal von Reykjavik, als darauf noch nicht mit dem Signal von Tiflis geantwortet worden war, als ein Hindernis für die Einberufung und den Erfolg der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit bezeichnet hatten. Ich möchte ihnen nur sagen, daß wir jedenfalls unsere Meinung nicht geändert haben. Wir glauben nach wie vor, daß es ein Fehler wäre, jetzt die Militärsysteme einander zu konfrontieren und die Erörterung ihrer Interessen derjenigen der Interessen der Nationen vorzuziehen — ein Fehler, der noch durch zwei Gefahren verschlimmert würde: daß man den Stil des Kalten Krieges wiederbelebt und — noch schlimmer — daß man Europa zum bloßen Objekt der Abstimmung zwischen den beiden größten Mächten macht, als wäre es nicht seine erste Pflicht — ich wiederhole mich absichtlich —, sich selbst darauf vorzubereiten, im Einvernehmen und in Zusammenarbeit unter allen Nationen, aus denen es sich zusammensetzt, ein Maximum an Verantwortung bei der Bestimmung seiner eigenen Zukunft zu fordern. Unmittelbar nach den französisch-sowjetischen Gesprächen will ich, nicht ohne eine gewisse Zuversicht, die Hoffnung aussprechen, daß wenigstens alles getan wird, um zu vermeiden, daß die Verhandlung, deren gefährliche Zweideutigkeit ich soeben aufgezeigt habe, das Wesentliche verzögert: Ich meine die Konferenz, die, indem sie die Früchte der Entspannung reifen läßt, die politischen Bedingungen schaffen wird, die es den europäischen Nationen erlauben, ohne Furcht und in voller Unabhängigkeit den größten Teil ihrer Mittel den Aufgaben des Friedens zu widmen. Denn wir wollen die Abrüstung, die wirkliche Abrüstung. Es ist sogar höchste Zeit, daß wir, um Legenden zu zerstreuen, in diesem wichtigen Punkt unsere vier Verhaltensregeln präzisieren — nachdem wir zuvor bekräftigt haben, daß wir, ohne uns in ihren Ablauf einzumischen, den russisch-amerikanischen Gesprächen über die strategischen Rüstungen, bei denen es übrigens nicht um Abrüstung, sondern um die Aufrechterhaltung des nuklearen Gleichgewichts zwischen den beiden sehr großen Mächten geht, Erfolg wünschen. Erste Regel: Wir haben immer den Standpunkt vertreten und glauben weiterhin, daß die Erörterung der Abrüstung mit einer Prüfung der nuklearen Probleme beginnen müßte und daß die Gespräche über diesen Punkt die besten Erfolgschancen hätten, wenn sie im Rahmen einer zwischen den verantwortlichen Mächten organisierten Verhandlung stattfinden. In diesem Sinne haben wir seit jeher unsere Präferenz für eine Konferenz der fünf Atommächte bezeigt, und wir haben das noch vor kurzem unter Beweis gestellt, indem wir auf den in diesem Sinne von der sowjetischen Regierung gemachten Vorschlag positiv geantwortet haben. Zweite Regel: Diese Haltung ist im wesentlichen von einem Wunsch nach Wirksamkeit bestimmt. Nichtsdestoweniger wollen wir, da eine Fünfer-Konferenz 18

Königsberg

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im Augenblick nicht zu verwirklichen ist, uns dem Projekt einer Weltkonferenz nicht verschließen, denn sie kann, wenn sie sorgfältig vorbereitet wird, zu einer Wiederbelebung des Abrüstungsgedankens beitragen und im besonderen für die Länder, die über nukleare Bewaffnung verfügen, einen Rahmen abgeben, um darüber gemeinsam im Interesse aller Völker zu beraten. Dritte Regel: Die Probleme der Abrüstung dürfen nicht das Monopol von wenigen sein. Ihre endgültige Regelung kann ohne die Mitwirkung der ganzen internationalen Gemeinschaft nicht erreicht werden. Deshalb wünschen wir, daß die Abrüstungsmaßnahmen von einer Gesamtheit von Verifizierungs- und Kontrollverfahren wirklich internationalen Charakters begleitet werden. Vierte Regel: Es steht fest, daß die Hoffnungen, die in den Erfolg einer Weltkonferenz gesetzt werden könnten, nur begründet wären, wenn die Teilnahme aller Atommächte gewährleistet wäre. In dieser Uberzeugung geben wir unsererseits unsere Zustimmung zu dem Resolutionsentwurf für eine Welt-Abrüstungskonferenz, den die Sowjetunion der Vollversammlung der Vereinten Nationen unterbreitet hat." (Europa-Archiv 1971, D 564 ff.) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 5. November eine Anfrage des Abgeordneten S c h e d i , C D U / C S U , schriftlich wie folgt:

„Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom 5. November 1971 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Schedi (CDU/ CSU) (Drucksache VI/2775 Frage A 90): Hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen, die zum Abschluß des Warschauer Vertrags führten, oder danach der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei einen Anlaß gegeben, in ihrer Aufklärungskampagne über den Vertrag zu behaupten, sie sei im Besitz von Zusicherungen, wonach die Bundesrepublik Deutschland auch in einem Friedensvertrag die Frage nach der Grenze an Oder und Neiße nicht wieder aufwerfen wird, oder haben die die Bundesregierung tragenden Kräfte dies getan? Die Bundesregierung geht davon aus, daß ein Friedensvertrag mit einer gesamtdeutschen Regierung zu schließen ist. Die Bundesregierung hat daher in den Verhandlungen klargestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland nur für sich selbst sprechen kann und daß eine Friedensregelung

für ganz Deutschland durch den Warschauer

Wertrag

vorweggenommen noch ersetzt werden kann." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 149. Sitzung, 5.11.1971) Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , führt in einem Interview mit dem Bonner „General-Anzeiger" am 5. November u. a. aus:

„Frage: Wie beurteilt der Bundesaußenminister den gegenwärtigen Stand der Ost- und Deutschlandpolitik? Welche Möglichkeiten sieht er, den Verträgen eine breite Mehrheit im Bundestag zu sichern? 274

weder

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Antwort: Die Verträge mit der Sowjetunion und Polen haben den Weg für eine Verbesserung der Beziehungen zu Osteuropa freigelegt. Ein intensiver politischer Meinungsaustausch hat begonnen. Mit der sowjetischen Führung hat sich ein Gespräch ergeben, das viel zur Klärung der Standpunkte, aber auch zur Beseitigung an Mißverständnissen beigetragen hat. Ich werde es am 25. November in Moskau mit Außenminister Gromyko fortsetzen. In dem Meinungsaustausch mit der polnischen Regierung haben der polnische Vizeaußenminister Willmann und Staatssekretär Frank gerade die zweite Runde beendet. Mit der Tschechoslowakei führen wir Gespräche über die Möglichkeit eines Vertrages zur Normalisierung der Beziehungen, die im November fortgesetzt werden sollen. Der Bundespräsident reiste nach Rumänien; auch das ist ein Ereignis, das vor zwei Jahren noch unvorstellbar schien. Auch die Beziehungen im nichtpolitischen Bereich haben sich, befreit vom Ballast der Vergangenheit, erfreulich entwickelt. Die Familienzusammenführung aus Polen wurde gefördert; ein reger Besucheraustausch auf vor allem parlamentarischer und wirtschaftlicher Ebene hat begonnen. Mit der Sowjetunion wurde die Errichtung von Generalkonsulaten in Leningrad und Hamburg vereinbart, die Unterzeichnung eines Luftfahrtabkommens steht bevor, über ein Handelsabkommen wird verhandelt. Und auch in den Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands haben wir Fortschritte gemacht. Ein Postabkommen wurde geschlossen, Gespräche über einen Verkehrsvertrag, den Berlin-Verkehr und eine Besuchsregelung für Westberliner haben begonnen. Allerdings befinden wir uns hier noch am Anfang eines Normalisierungsprozesses. Wenn über die Ratifizierung des deutsch-sowjetischen und des deutsch-polnischen Vertrages im Bundestag abgestimmt wird, wird sich jeder Abgeordnete fragen müssen, ob er die Entspannung im Verhältnis zu Osteuropa und damit die Chance für eine europäische Friedensordnung ablehnen will oder nicht. Diese Entscheidung muß sich — und damit komme ich auf meine Antwort zur ersten Frage zurück — an den Interessen unseres Volkes und an den vorhandenen Möglichkeiten, sie durchzusetzen, orientieren. Niemand wird außerdem daran vorbeigehen können, daß die ganze Welt, Präsident Nixon, Präsident Pompidou, Premierminister Heath, die Entspannung will. Wir dürfen unseren Blick nicht von Ideologien und Vorurteilen einengen lassen. Wenn wir daran denken, dann bin ich einer klaren Mehrheit für die Ratifizierung sicher." (Generalanzeiger, Bonn, 5.11.1971) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , beantwortet am 11. N o vember eine Große Anfrage der Fraktion der C D U / C S U (Drucksache VI/2700) vom 14. Oktober wie folgt:

„Die Bundesregierung beantwortet die Große Anfrage der Fraktion der CDU/ CSU wie folgt: Die Bundesregierung begrüßt die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Sie gibt ihr eine willkommene Gelegenheit, dem Deutschen Bundestag und dem deutschen Volk erneut Zielsetzung und wichtige Zwischenergebnisse ihrer 18*

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Deutsdiland- und Ost-West-Politik darzulegen und zu erläutern. Die Bundesregierung bezieht sich dabei auf ihre Antwort auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP zur Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksache VI/1728) vom 21. Januar 1971, auf die am 18. März 1971 beantwortete Große Anfrage der SPD-, FDP- und CDU/CSU-Fraktionen zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung (Drucksache VI/1977) und auf ihren Bericht zur Lage der Nation vom 28. Januar 1971. Die Bundesregierung stellt die Beantwortung der Anfrage in den größeren Rahmen ihrer Bemühungen um eine von sämtlichen Fraktionen des Bundestages getragene Außenpolitik, die den Zielen der Erhaltung des Friedens, der freiheitlich-demokratisdien Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und der Einheit der Nation gleichermaßen verpflichtet ist. Die Bundesregierung stellt aus diesem Anlaß erneut fest: — Die feste Verankerung der Bundesrepublik Deutschland in der NATO und ihre Bemühungen um einen umfassenden inneren und äußeren Ausbau der Europäischen Gemeinschaften sind die Grundlagen ihrer Politik. Gemeinsam mit ihren Partnern betreibt sie eine Bündnis- und Europa-Politik, die darauf gerichtet ist, Grundstein für eine Friedensordnung für Europa zu legen. — Alle Initiativen der Bundesregierung zur Minderung der Auswirkungen der politischen, ideologischen und militärischen Konfrontation in Europa, insbesondere ihre Bemühungen um eine Verbesserung des Verhältnisses zur DDR und ihrer Beziehungen zu der Sowjetunion, zu Polen und zur Tschechoslowakei, stehen im Einklang mit der nachdrücklich verfolgten Entspannungspolitik des Atlantischen Bündnisses und insbesondere der Politik der drei für Berlin und Deutschland als Ganzes verantwortlichen Westmächte. — Das Abkommen der Vier Mächte über Berlin vom 3. September 1971 ist nicht nur ein bedeutender Schritt im Rahmen dieser gemeinsam vom Bündnis getragenen Entspannungspolitik, sondern auch eine wichtige Etappe auf dem Wege zu einem Modus vivendi zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Es unterstreicht mit den dafür vorgesehenen Modalitäten die Tatsache, daß das politische Konzept unserer Alliierten mit unserer Deutschland-Politik voll in Einklang steht. Die Einzelfragen werden wie folgt beantwortet: Frage 1

Die Bundesregierung erklärt, die Ostverträge stellen einen Modus vivendi dar, der die deutsche Frage und die endgültige Festlegung der Grenzen bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland offenhalte. Demgegenüber stehen die Auffassung der Sowjetunion und Polens, wonach die Verträge von Moskau und Warschau die Anerkennung und Endgültigkeit der Teilung Deutschlands und des Status quo bedeuten. Wird die Bundesregierung in Verhandlungen mit der sowjetischen und polnischen Regierung diesen Dissens über den wesentlichen Inhalt der Verträge vor der Einleitung des Ratifikationsverfahrens ausräumen? Antwort: Über die Auslegung der Verträge von Moskau vom 12. August 1970 und von Warschau vom 7. Dezember 1970 besteht zwischen den Vertragspart276

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nern kein Dissens, der die Bundesregierung veranlassen könnte, in erneute Verhandlungen mit der sowjetischen und der polnischen Regierung einzutreten. Die Verträge führen einen Modus vivendi herbei, der die deutsche Frage bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland offenhält. Die Bundesregierung hat völkerrechtlich dafür Sorge getragen, daß diese Verträge nicht den Charakter von Friedensverträgen besitzen. Ebensowenig wie die Verträge die Tür zur Wiedervereinigung Deutschlands schließen, verhindern sie eine europäische Lösung der deutschen Frage. 1. a) Der sowjetischen Regierung ist die Auffassung der Bundesregierung bekannt, daß das deutsche Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung besitzt und daß die Politik der Bundesregierung eine Wiederherstellung der nationalen Einheit im Rahmen einer europäischen Friedensordnung anstrebt. Die Bundesregierung hat diese Auffassung anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrages in dem Schreiben des Bundesministers des Auswärtigen zur deutschen Einheit an den sowjetischen Außenminister zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus enthält der Moskauer Vertrag in seiner Präambel einen Verweis, der sich u. a. auf den Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Adenauer und Ministerpräsident Bulganin vom 13. September 1955 bezieht. In den Äußerungen des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Leonid Breshnew, in Alma-Ata am 28. August 1970 und von Außenminister Gromyko vor der VN-Vollversammlung am 28. September 1971, die in der Begründung zur Großen Anfrage zitiert werden, ist nicht die Rede von einer Anerkennung und Endgültigkeit der Teilung Deutschlands, sondern von einer Anerkennung der Realitäten in Europa und von der Unverletzlichkeit der Grenzen. b) Was die Äußerungen von Wladislaw Gomulka betrifft, so wird in Artikel I des deutsch-polnischen Vertrages festgestellt, daß die bestehende Grenzlinie im Westen Polens die Staatsgrenze Polens bildet. Die Bundesregierung hat dazu mit Kenntnis der polnischen Regierung in einer Note an die Drei Westmächte vom 19. November 1970 vorab festgestellt, ,daß sie nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handeln kann*. Die Drei Westmächte haben den Empfang dieser Note bestätigt und dabei ihr Einverständnis mit dem Inhalt zum Ausdruck gebracht. c) Daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im ganzen noch aussteht, ergibt sich auch aus dem Fortbestand der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Berlin und Deutschland als Ganzes. Diese Rechte und Verantwortlichkeiten werden von den beiden Verträgen nicht berührt. Im Falle des deutsch-sowjetischen Vertrages hat die Bundesregierung darauf hingewirkt, daß die sowjetische Regierung hierzu eine besondere Erklärung abgab, die den Westmächten von der Bundesregierung übermittelt und von ihnen beantwortet wurde. Im Falle Polens ergeben sich die entsprechenden Vorbehalte aus Artikel IV des deutsch-polnischen Vertrages, der die Fortgeltung bestehender Verträge und damit auch des Deutschland-Vertrages feststellt, und aus dem deutsch-alliierten Notenwechsel, der der polnischen Regierung zur Kenntnis gebracht und zugestellt wurde. 2. Die Verträge beschreiben also den bestehenden Zustand; sie gehen von den faktischen Gegebenheiten aus, zu denen der tatsächliche gegenwärtige Grenz277

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verlauf in Europa und die territoriale Integrität der Staaten in Europa gehören. Die Verträge regeln damit einen Modus vivendi, der von den in Europa als Folge des Zweiten Weltkrieges tatsächlich entstandenen Grenzen ausgeht. Im Warschauer Vertrag hat die Bundesregierung nur die Bundesrepublik Deutschland als solche hinsichtlich der polnischen Westgrenze verpflichtet. Entsprechend sind die Feststellungen von östlicher Seite zu werten, auf die in der Begründung zu dieser Großen Anfrage Bezug genommen wird. Frage 2

Kann die Bundesregierung bestätigen, daß bei der von ihr zugesicherten »Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit der beiden (deutschen) Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen' insbesondere folgendes Verhalten der ,DDRC ausgeschlossen ist: — Konkrete Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes, — widerrechtliche Eingriffe in die Zugangswege von und nach Berlin, — Unterbindung der Freizügigkeit, — Verweigerung und Unterdrückung von in der UN-Charta verankerten und vom Bundeskanzler wiederholt berufenen Menschenrechten? Antwort: Ebensowenig wie alle ihre Vorgängerinnen ist diese Bundesregierung in der Lage, auf die Ausübung der Hoheitsgewalt in der DDR unmittelbaren Einfluß zu nehmen. Ihre Politik ist unter diesen Umständen darauf gerichtet, die Folgen der Spaltung für die Menschen in Deutschland zu mildern und die Beziehungen zur DDR auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte zu ordnen, wie dies in den 20 Punkten von Kassel zum Ausdruck gekommen ist. Sie geht dabei ohne Illusion von der Erfahrung aus, daß eine Verbesserung der Lage zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nicht erwartet werden kann, solange das Verhältnis zwischen ihnen ungeregelt ist. Um eine Regelung möglich zu machen, hat die Bundesregierung in den 20 Punkten von Kassel vom 21. Mai 1970 und in den Moskauer Absichtserklärungen vom 12. August 1970 u. a. festgestellt, daß sie ihre Beziehungen zur DDR auf der Grundlage der Achtung der Selbständigkeit der beiden Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen, gestalten will. Sie hat dies in dem Kommuniqué wiederholt, das bei Abschluß des Besuchs des Bundeskanzlers in der Sowjetunion am 18. September 1971 veröffentlicht wurde. Die Bundesregierung trug damit der politischen Tatsache Rechnung, daß die DDR in ihren Grenzen Hoheitsgewalt ausübt. Dieses Element der Deutschlandpolitik der Bundesregierung bedeutet nicht, daß sie mit der inneren Ordnung in der DDR einverstanden ist. Sie hofft, daß eine Entkrampfung in Mitteleuropa, vor allem durch verstärkte Kommunikation zwischen Menschen und Einrichtungen in den beiden Teilen Deutschlands, Bestandteil und Funktion der europäischen Entspannung* sein wird, wie Bundeskanzler Kiesinger am 12. April 1967 vor dem Deutschen Bundestag gesagt hat. Darauf beruht das Bemühen der Bundesregierung, die unmittelbaren Folgen der Spaltung Deutschlands für die menschlichen Beziehungen durch verbind278

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lidie Vereinbarungen mit der DDR über verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten abzumildern. Es liegt auf der Hand, daß dies die beiderseitige Bereitschaft voraussetzt, die innere Kompetenz der jeweiligen Behörden zu achten und weder diese Behörden als soldie nodi ihre Fähigkeit in Frage zu stellen, für die in ihrem Bereich lebenden Deutschen verbindliche Abmachungen zu treffen. Im Hinblick darauf wird die Bundesregierung den Weg der Entspannung in Europa auch dann fortsetzen, wenn führende Kreise in der DDR ihre derzeitigen Bemühungen um Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland aufrechterhalten sollten. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung orientiert sich daran, die Einheit der Nation zu wahren und praktische Möglichkeiten der Vermehrung von Kontakten zwischen den Menschen in beiden Teilen Deutschlands zu erreichen. Zu dem Hinweis in der Großen Anfrage zum zivilen Berlin-Verkehr ist zu sagen, daß er Gegenstand des Viermächte-Abkommens vom 3. September 1971 und ergänzender Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ist, über die zur Zeit verhandelt wird. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die DDR sich nach Inkrafttreten der Gesamtregelung in gleicher Weise daran halten wird wie sie selbst. Frage 3

Was bleibt nach Auffassung der Bundesregierung von der Erklärung des Bundeskanzlers am 14. Januar 1970: ,Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR kommt für uns nicht in Frage* praktisch übrig, wenn sie die Aufnahme beider Teile Deutschlands in die Vereinten Nationen betreibt? Antwort: Die gleichzeitige Mitgliedschaft zweier Staaten in den Vereinten Nationen hat nicht ohne weiteres zur Folge, daß sie sich völkerrechtlich anerkennen. Die Praxis der Vereinten Nationen gibt hierfür Beispiele. Die VNSatzung schließt es nicht aus, daß zwei oder mehr Staaten, die sich untereinander nicht im Verhältnis von ,Inland/Ausland* gegenüberstehen, gleichzeitig den Vereinten Nationen angehören. Die Bundesregierung geht im übrigen davon aus, daß die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in die Vereinten Nationen im Zuge der Entspannung erst nach einer zwischen ihnen vereinbarten Regelung ihres Verhältnisses erfolgen kann, die auch die Frage der VN-Mitgliedschaft beider deutscher Staaten in einer die Bundesrepublik befriedigenden Weise klärt. Diese Regelung hat einen gewissen Grad der Normalisierung herzustellen; sie hat ferner der besonderen Lage Deutschlands (auch im Hinblick auf den Fortbestand der Viermächte-Verantwortung) Rechnung zu tragen. Ein fester Bestandteil dieser Politik ergibt sich aus der Auffassung der Bundesregierung, daß sie der besonderen Lage Deutschlands und der Deutschen nicht gerecht würde, wenn sie die Spaltung Deutschlands nachträglich völkerrechtlich anerkennen würde. Die Bundesregierung hält an dieser Beurteilung unverändert fest. Frage 4: Steht die Bundesregierung noch zu den wiederholten Erklärungen aller früheren Bundesregierungen und des Deutschen Bundestages, die mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes übereinstimmen, daß die Bundesre279

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publik Deutschland unbeschadet der Tatsache, daß ihre Gebietshoheit gegenwärtig auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt ist, Deutschland als Völkerrechtssubjekt fortsetzt? Antwort: Die Bundesrepublik Deutschland ist bei und seit ihrer Gründung davon ausgegangen, daß die bis 1945 im Deutschen Reich verkörperte Staatsgewalt in ihr reorganisiert wurde. Sie ist gemäß dem Willen des deutschen Volkes bewußt in die moralischen Verpflichtungen eingetreten, die ihr die deutsche Vergangenheit aufgebürdet hat; entsprechend rückte sie weitgehend in die rechtlichen Positionen — Rechte und Verpflichtungen — des Deutschen Reiches ein. Die Bundesrepublik Deutschland wurde daher nach ihrer Gründung und seither vor allem auch im Ausland als derjenige Staat empfunden und behandelt, der die Kontinuität Deutschlands wahrte und wahrt. Die Existenz eines zweiten Staates in Deutschland kann die Beziehung der Bundesrepublik Deutschland zur deutschen Vergangenheit und das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen. Die Bundesregierung stimmt mit der grundsätzlichen Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes von der Rolle der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zum Deutschen Reich überein; sie bleibt dazu berufen, dessen rechtliche Positionen auszufüllen, wo das möglich ist und soweit das möglich ist. Frage 5: Identifiziert sich die Bundesregierung noch mit der Erklärung der Drei Westmächte, nach der ,sie (die Westmächte) die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet wurde und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen'? Antwort: Die Erklärung der Drei Westmächte ist am 3. Oktober 1954 im Zusammenhang mit dem Abschluß des Deutschland-Vertrages und der mit ihm verbundenen weiteren Abmachungen des Vertrags Werkes von 1954 abgegeben worden und bildet mit diesem ein Ganzes. Zwischen der Bundesregierung und den Drei Mächten gibt es keine Meinungsverschiedenheiten über die fortdauernde Geltung des Vertragswerkes von 1954 und den politischen Sinn jener Erklärung. Die Bundesregierung identifiziert sich unverändert mit dieser Erklärung. Sie fühlt sich dem gesamten deutschen Volk verpflichtet. Sie orientiert ihre Politik nicht nur an den Interessen der Bundesrepublik Deutschland, sondern an den Belangen der ganzen Nation. Die Politik der Bundesregierung erfährt die volle Unterstützung ihrer Verbündeten. Deren Zustimmung ist zuletzt in dem Kommuniqué der Lissaboner Außenministerkonferenz des Nordatlantischen Bündnisses vom 4. Juni 1971 zum Ausdruck gekommen, wo es heißt, daß Fortschritte in den Gesprächen zwischen den deutschen Stellen über einen Modus vivendi, der die besonderen Gegebenheiten in Deutschland berücksichtigt, einen wichtigen Beitrag zur Entspannung in Europa darstellen würden. Indem die Bundesregierung von der natürlichen Einheit unseres Volkes ausgeht, ist sie bestrebt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es die ihm 280

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gemäße Form des Zusammenlebens in freier Selbstbestimmung entwickeln kann. Die Bundesregierung hat dabei politische Tatsachen, die das deutsche Volk nicht geschaffen hat und die die Bundesregierung nicht beseitigen kann, in Rechnung zu stellen. Dazu gehört die Existenz eines zweiten Staates in Deutschland, dessen Gesellschaftsordnung sich von der in der Bundesrepublik grundlegend unterscheidet. Der politische Orientierungspunkt der Bundesregierung ist die Sicherung der Einheit der Nation mit den geeigneten Mitteln. Unter den bestehenden Umständen ist die Bundesregierung davon überzeugt, daß sie der Wahrung der Einheit des deutschen Volkes durch eine Regelung ihres Verhältnisses zur DDR am besten dient. Eine solche Regelung kann zwar die unnatürliche Teilung Deutschlands nicht aufheben; sie kann jedoch einer Vertiefung der Spaltung entgegenwirken und kommt auf diese Weise der gesamten deutschen Nation zugute. Um dieses Ziel zu verwirklichen, wünscht die Bundesregierung keine Diskriminierung der DDR-Behörden; sie achtet die Selbständigkeit der DDR in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren Grenzen betreffen und bestätigt, wie bereits in Kassel erklärt, daß keiner der beiden deutschen Staaten für den anderen handeln oder ihn vertreten kann. Dennoch — dies ist für die Beurteilung dieses Sachverhalts entscheidend — wird sich die Bundesregierung weiterhin an einer sittlichen Verpflichtung gegenüber dem gesamten deutschen Volk politisch orientieren. Sie wird sich auch weiterhin so verhalten. Frage 6: Kann die Bundesregierung bestätigen, daß sich die Bestimmungen des Moskauer Vertrages Artikel 3 nicht auf die Bindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin beziehen und daß die Bundesrepublik Deutschland in der Entwicklung ihrer Bindungen zu Berlin auch künftig ausschließlich durch Vereinbarungen mit ihren Alliierten und durch deutsches Recht gebunden ist? Antwort: Die Verpflichtung zur Respektierung der Grenzen in Europa, einschließlich der innerdeutschen Grenze, berührt nicht die Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland, die aufgrund von Vereinbarungen der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Alliierten und nach deutschem Recht bestehen und wie sie im Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 bestätigt worden sind. Schon in Anbetracht der Rechte und Verantwortlichkeiten der Drei Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes kann die rechtliche Stellung Berlins nicht Gegenstand eines bilateralen Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion sein. Die Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland sind im übrigen kein Grenzproblem. Artikel 3 des Moskauer Vertrages kann daher zu einer Politik der Aufrechterhaltung, Festigung und Entwicklung der Bindungen Berlins zum Bund, wie sie die Bundesregierung verfolgt, nicht in Widerspruch stehen. Frage 7: Was hat den Bundeskanzler bewogen, sich im Krim-Kommunique entgegen der Lissaboner Vereinbarung für eine Beschleunigung der Vorbereitung der »Konferenz für Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa* auszusprechen? 281

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Antwort: Die sich auf eine Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSE) beziehenden Sätze des Kommuniqués über den Besuch des Bundeskanzlers in der Sowjetunion vom 18. September 1971 stimmen mit der Haltung des Atlantischen Bündnisses zur Substanz und zum Verfahren einer solchen Konferenz überein. Die Mitglieder des NATO-Bündnisses äußerten am 4. Juni 1971 in Lissabon ihre Hoffnung, ,daß vor ihrem nächsten Zusammentreffen die Berlin-Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß gelangt sind und sodann multilaterale Gespräche mit dem Ziel aufgenommen werden können, zu einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu führen'. (Artikel 9) Im Hinblick auf die laufenden Vorbereitungen im Bündnis für eine solche Konferenz betonten die Bündnispartner in Artikel 11 des Lissabonner Abschlußkommuniques, ,daß sie ihre bilateralen Sondierungsgespräche mit allen interessierten Staaten mit Nachdruck fortsetzen werden'. Das Kommunique von Oreanda stimmt damit überein. Die Gespräche des Bundeskanzlers auf der Krim sind ein Beispiel für die in Artikel 11 des Lissabonner Abschlußkommuniques zum Ausdruck kommende Bereitschaft der NATO-Mitgliedstaaten, bilaterale Sondierungsgespräche ,mit Nachdruck' fortzusetzen. Die in Oreanda festgestellte Absicht, die Vorbereitungen für eine KSE zu beschleunigen, wird vom Präsidenten der Französischen Republik geteilt. Im Kommuniqué vom 30. Oktober 1971 zu dem Besuch des Generalsekretärs der KPdSU wird sogar festgestellt, daß die Realisierung der Konferenz in naher Zukunft erfolgen sollte. Frage 8: Nach dem von den Partei- und Regierungschefs des Ostblocks am 22. Juni 1970 veröffentlichten ,Budapester Memorandum' wird die Sowjetunion auf einer Europäischen Sicherheitskonferenz unter anderem das Ziel verfolgen, die westeuropäische Integration zu verhindern. Wie verträgt sich das Krim-Kommunique in diesem Punkte mit dem Bekenntnis der Bundesregierung zur Politik der westeuropäischen Einigung? Antwort: Die Bundesregierung stellt fest, daß die Perspektive einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit West- und Osteuropas, die auf einer KSE konkretisiert werden könnte, keine Alternative zum Ausbau und zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft darstellen kann. Hierin stimmt die Bundesregierung mit allen Partnerländern der Europäischen Gemeinschaft überein. Sie verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß alle diejenigen Fragen einer KSE, die die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten besonders betreffen, seit längerem im Rahmen der politischen Zusammenarbeit der Gemeinschaftsländer eingehend konsultiert werden. Diese gegenseitige Abstimmung hat der europäischen Integration zusätzliche Impulse verliehen. Die Bundesregierung wird dem europäischen Einigungswerk auch in Zukunft höchste Priorität geben. Sie geht auch dabei davon aus, daß eine etwa zustande kommende KSE den anderen Teilnehmerstaaten die Realität und Kooperationsbereitschaft der Europäischen Gemeinschaft vor Augen führen wird. Jedem 282

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Versuch, im Zusammenhang mit der Konferenz die politische und wirtschaftliche Einigung, die sich im westlichen Europa vollzieht, zu verhindern, zu verlangsamen oder einzuschränken, würde die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern entgegenwirken. In Anbetracht der umfangreichen Zielsetzung einer KSE muß der Bundesregierung auch in Zukunft an deren sorgfältiger prozeduraler und sachlicher Vorbereitung gelegen sein. Die Bundesregierung wird sich bei ihren Sondierungen zur Vorbereitung einer KSE von dieser Erwägung weiterhin leiten lassen. Frage 9: Hat die Bundesregierung vor der Krim-Reise des Bundeskanzlers die Verbündeten in einer Weise konsultiert, die den bestehenden Konsultationspflichten entspricht? Antwort: Die Themen der Gespräche des Bundeskanzlers mit Generalsekretär Breshnew in Oreanda waren, soweit sie sich auf die Deutschland-Frage und das Ost-West-Verhältnis bezogen, Gegenstand der laufenden Konsultationen der Bundesregierung mit ihren Verbündeten, und zwar mit den Drei Mächten, die für Berlin und Deutschland als Ganzes verantwortlich sind, mit Frankreich auf der Grundlage des deutsch-französischen Vertrags, mit den fünf Partnern im Rahmen der politischen Zusammenarbeit der Sechs und dem NATO-Rat. Vor Antritt der Krim-Reise wurden die Hauptverbündeten ins einzelne gehend über die beabsichtigte Gesprächsführung unterrichtet und zu Rate gezogen. Damit ist die Bundesregierung den bestehenden Konsultationsverpflichtungen voll nachgekommen. Die Absprache der Besuchstermine von Regierungchefs ist eine bilaterale Angelegenheit und unterliegt nicht der westlichen Konsultationspraxis. Die Äußerung des französischen Staatspräsidenten in seiner Pressekonferenz vom 23. September 1971 drückt eine Meinung aus, die die Bundesregierung voll unterstützt. Eine laufende Verbesserung des Konsultationsmechanismus sollte unser aller Ziel sein. In diesem Zusammenhang weist die Bundesregierung darauf hin, daß die ständige Abstimmung und Koordinierung mit den Drei Westmächten in der sogenannten Bonner Vierergruppe im Zuge der Berlin-Verhandlungen außerordentlich vertieft worden ist. Sie erinnert ferner daran, daß seit der Haager Gipfelkonferenz im Dezember 1969 regelmäßige Konsultationen der Außenminister der Partnerstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit dem Ziel stattfinden, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und mit einer Stimme zu sprechen. Die Gemeinschaftsländer haben sich damit ein zusätzliches Instrument gemeinsamer Politik geschaffen, an dem sich auch die vier Regierungen, deren Beitritt bevorsteht, beteiligen. Die ständige politische Konsultation in der NATO ist eine selbstverständliche Einrichtung geworden und hat zu der Herstellung und Weiterentwicklung der gemeinsamen Positionen in der Sicherheits- und Entspannungspolitik entscheidend beigetragen. Die Bundesregierung legt auf eine intensive und vertrauensvolle Konsultation mit ihren Verbündeten und insbesondere den Drei Westmächten größten Wert. Mit dieser Bereitschaft erwidert sie das Vertrauen, das ihr von ihren Partnern auf gleiche Weise erwiesen wird und das die Grundlage der politischen Solida283

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rität ist, durch die sich die westlichen Bündnisse und Zusammenschlüsse von Anbeginn ausgezeichnet haben. Frage 10: Stimmt die Bundesregierung der Auffassung des britischen Premierministers Heath zu, daß Fortschritte in der Vertretung gemeinsamer europäischer Interessen Hand in Hand mit einer verstärkten Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Verteidigung gehen müssen? Antwort: Die Bundesregierung stimmt der Auffassung des britischen Premierminister zu. Sie erinnert an ihre Beantwortung der Großen Anfrage aller Fraktionen des Bundestages zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung (Drucksache VI/1977) vom 18. März 1971, in der sie u. a. festgestellt hatte: ,Das westliche Bündnis ist für unsere Sicherheit und für die Sicherheit unserer Partner unerläßlich. Die Aufrechterhaltung des globalen Gleichgewichts der Kräfte bleibt notwendig. Dazu muß in Europa ein ausreichendes Gegengewicht zum militärischen Potential der Sowjetunion und des Warschauer Paktes erhalten bleiben. Die substantiell ungeschmälerte Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa ist Voraussetzung für einen stabilen Frieden in Europa, so lange eine Einigung über beiderseitige ausgewogene Truppenverminderungen nicht erreicht ist. Die europäischen NATO-Partner verstärken ihre militärische Zusammenarbeit weiter, um die Verteidigungsfähigkeit zu erhalten. Die Bemühungen um Entspannung und die Anstrengungen für Verteidigung sind nicht voneinander zu trennen. Die Bundesregierung erhält und verbessert die Kampfkraft der Bundeswehr durch Umgestaltung und Modernisierung/ Diese Feststellungen bestimmen auch heute die Absichten der Bundesregierung. Die Bundesregierung wird ihre Verteidigungsanstrengungen weiterhin an den Erfordernissen orientieren, die vor einem Jahr in der NATO-Studie über ,Die Verteidigungsprobleme der Allianz in den 70er Jahren* aufgestellt worden sind. Danach sind die Bündnispartner dazu aufgerufen, im Interesse einer erfolgversprechenden Entspannungspolitik alles zu unternehmen, was einer Verschlechterung des Ost-West-Kräfteverhältnisses in Europa entgegenwirkt. Hierzu bedarf es neben dem unverminderten politischen und militärischen Engagement der USA in Europa intensiver Verteidigungsanstrengungen der europäischen Bündnispartner. Die in der Eurogroup der NATO zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten, darunter maßgeblich die Bundesrepublik Deutschland, haben dem Ziel einer optimalen Ausnutzung der vorhandenen Mittel bereits Rechnung zu tragen gesucht. Bedeutendste Leistung der Eurogroup war die Entwicklung und Verabschiedung eines detaillierten Europäischen Verteidigungs-Verstärkungsprogramms im Dezember 1970, an dem die Bundesregierung entscheidend beteiligt war. Heute geht es darum, den in der Eurogroup eingeschlagenen Weg entschieden fortzusetzen. Die Bundesregierung weiß sich in dieser Beurteilung mit der britischen Regierung einig. In gleicher Weise teilt die Bundesregierung die Auffassung des französischen Staatspräsidenten vom 23. September 1971, daß ,die Bemühungen um eine 284

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Entspannung und der Wille zur Entspannung die Sorge um die Verteidigung und die Fähigkeit zur Verteidigung nicht vermindern dürfen*. Die Bundesregierung geht wie die anderen NATO-Verbündeten davon aus, daß das NATO-Konzept von MBFR bei Beachtung der dafür ausgearbeiteten Kriterien ein wichtiges, den lebenswichtigen Sicherheitsinteressen des Bündnisses entsprechendes Instrument der Entspannungspolitik darstellen kann. In den Gesprächen von Oreanda konnte der Bundeskanzler Übereinstimmung mit Generalsekretär Breshnew erzielen, daß sich MBFR nicht zum Nachteil für die Beteiligten auswirken darf. Die Bundesregierung versteht darunter eine ausgewogene Lösung, bei der die Unterschiede zu berücksichtigen sind, die aus geographischen und sonstigen Umständen erwachsen. Sie wird keinen MBFR zustimmen, die diesen Kriterien nicht entsprechen. In der Wirkung trägt diese Auffassung den Vorstellungen aller Verbündeten, auch des französischen Verbündeten, in vollem Umfang Rechnung." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drucksache VI/2828) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Interview mit der Wochenzeitung „Publik" vom 12. November u. a. aus:

„Frage: Herr Bundeskanzler, in allen Äußerungen, die wir von Ihnen kennen, kommt das Wort »Wiedervereinigung* nicht vor. Ist die Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt noch ein auch längerfristig relevantes Ziel Ihrer Regierung? Antwort: Ich habe, wie andere, im Laufe der Jahre viel von Wiedervereinigung gesprochen, aber ich habe zunehmend den Eindruck gehabt, daß dieses Wort dem schwierigen Gegenstand nicht gerecht wurde. Dieser Eindruck ist durch den Zeitablauf verstärkt worden. Wie immer sich die nationale Einheit der Deutschen verwirklichen mag, sie wird nicht bedeuten, daß einfach wiederhergestellt wird, was einmal war. Nach mehr als fünfundzwanzig Jahren der Teilung und damit einer sehr unterschiedlichen staatlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung wird man die beiden Teile nicht einfach wieder zusammensetzen können, so wie es bis in die Mitte der fünfziger Jahre noch für möglich gehalten werden konnte. Damals sprach man ja nicht nur im Westen, sondern — wenngleich mit unterschiedlichem Inhalt — auch im Osten noch von »Wiedervereinigung*. Heute darf man nicht so tun, als würden sich die Dinge eines Tages wieder auf einen bekannten Nenner bringen lassen. Heute muß man zweierlei im Auge behalten: einmal den internationalen und europäischen Rahmen, innerhalb dessen sich für die Deutschen ein gemeinsamer staatlicher Verband (oder Verbund) verwirklichen ließe; zum anderen den Willen des Volkes in beiden Teilen, zur staatlich organisierten Gemeinsamkeit zu gelangen. Ob man es nun Wiedervereinigung nennt oder nicht, die nationale Einheit bleibt ein geschichtlicher Auftrag an die deutsche Politik. Aber niemand, der von mir eine ehrliche Antwort erwartet, wird mir die Ankündigung zumuten wollen, in dieser Legislaturperiode stehe eine Wiedervereinigung auf der Tagesordnung der praktischen Politik. 285

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Frage: Herr Bundeskanzler, Sie sprechen davon, daß die Vereinigung Deutschlands sich innerhalb eines internationalen und europäischen Rahmens abspielen soll, und Sie sprechen hier von einem gemeinsamen staatlichen Verband (oder Verbund). Da Sie das alte Rezept der Wiedervereinigung oder das einer Konförderation nicht mehr für realisierbar halten: was für andere Formen sind denn überhaupt denkbar? Antwort: Es ist interessant, darüber nachzudenken. Aber es gibt keinen Grund, warum ich mich dazu äußern sollte. Ich habe ganz bewußt zwei Grobmodelle mit den Ausdrücken Verband oder Verbund angedeutet. Wir haben aus der Erfahrung mit der Entwicklung der westeuropäischen Gemeinschaft gelernt, daß es nicht mehr nur den überkommenen Unterschied zwischen Föderation oder Konföderation gibt. Frage: Sie sprachen vorhin von der nationalen Einheit' — wollen Sie mit diesem Begriff davon ablenken, daß Sie die Wiedervereinigung für ausgeschlossen halten, oder beschreibt dieser Begriff ein neues Ziel, mit dem der Verfassungsauftrag für das ,ganze deutsche Volk', in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, erfüllt werden soll? Antwort: Ich will von gar nichts ablenken. Aber ich meine, daß viele, die heute mit dem Begriff der Wiedervereinigung operieren, sich vor der Einsicht in die Wirklichkeit scheuen oder von ihr ablenken wollen. Mir kommt es darauf an, unserer Bevölkerung nicht Sand in die Augen zu streuen, sondern ihr die Wahrheit zu sagen. Deshalb sage ich, daß wir uns trotz der Teilung unseres Landes um die Einheit der Nation bemühen müssen. Dafür gibt es, trotz allem, entwicklungsfähige Ansatzpunkte in beiden Teilen Deutschlands. Es ist mein politisches Ziel, das zu tun, was in dieser internationalen Lage und in diesem Abschnitt der Geschichte möglich ist — im Interesse des Friedens und damit der Menschen. Der Verfassungsauftrag bleibt bestehen. Unsere Politik versucht, ohne Illusionen, ihm unter den gegenwärtigen Bedingungen gerecht zu werden." „Frage: Vor Jahren wurde die Politik entworfen: »Wandel durch Annäherung'. Können Sie der These zustimmen, daß heute die erkennbare Annäherung zwischen Bonn und dem Osten nur durch Wandel vollzogen werden könnte? Wenn Sie dieser These folgen wollen — und die Tatsache eines Wandels in der deutschen Politik bestärkt sie —: haben sich die Staaten des Ostblocks in ihrer grundsätzlichen Einstellung gegenüber dem deutschen Problem ebenfalls gewandelt oder ist die sich abzeichnende Annäherung nicht nur deshalb möglich geworden, weil sich allein die deutsche Position gewandelt hat? Antwort: Die von Ihnen erwähnte Formel wurde 1963 aus der Politik John F. Kennedys entwickelt. Ihre Frage selbst halte ich für zu kurzfristig angesetzt. Wandel durch Annäherung kann natürlich erst eintreten, wenn eine Annäherung im Sinne zunehmender Kommunikation und Kooperation ernsthaft in Gang gekommen ist. Wir stehen aber erst am Anfang der Bemühungen, einen solchen Prozeß zu konzipieren und zu praktizieren. Sie unterstellen in Ihrer Frage etwas polemisch einen einseitigen Wandel der Politik der Bundesrepublik. In Wirklichkeit handelt es sich ja aber um eine Politik, die innerhalb des westlichen Bündnisses entwickelt wurde und in es ein286

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gebettet ist. Hier geht es — ich möchte das noch einmal klar sagen — nicht um eine Preisgabe von Grundsätzen. Was wir getan haben und was endlich getan werden mußte, war eine Annäherung an die Realitäten. Und damit auch das Zur-Kenntnis-Nehmen der Existenz eines zweiten Staates in Deutschland. Dies hatte natürlich nur einen Sinn, wenn wir bereit waren, daraus die politischen Folgerungen zu ziehen. Auch die Staaten des Warschauer Paktes haben inzwischen aus der neueren Entwicklung ihre Position gegenüber der Bundesrepublik verändert. Man sollte das Berlin-Abkommen nicht unterschätzen, dem ja weitere Abmachungen zwischen Bonn und Ostberlin folgen werden. Man sollte auch nicht übersehen, daß die feindselige Haltung uns gegenüber im Abbau begriffen ist. Stattdessen beginnen sich unsere Beziehungen zur Sowjetunion und ihren Verbündeten zu normalisieren, und dies kann der Wahrnehmung unserer nationalen Interessen nur zugute kommen. Frage: Sie sagen, daß ich etwas polemisch einen einseitigen Wandel der deutschen Politik unterstellte. Wo sehen Sie einen Wandel auf der anderen Seite in der grundsätzlichen Frage? Sie sind in Ihrer Regierungserklärung 1969 erstmals von der Existenz zweier Staaten ausgegangen; das war ein Novum in der deutschen Nachkriegspolitik. Sie sind dabei, die Existenz dieser beiden deutschen Staaten zu formalisieren. Damit ist im Grunde genommen ein altes Ziel der Sowjetunion, das sie seit 1955 verfolgt hat, erreicht. Wir haben unsere Position gewandelt, die andere Seite hat in der Substanz keinen Wandel vollzogen. Konnte die Annäherung, die wir jetzt zu verzeichnen haben, nicht allein durch unseren, durch einen einseitigen Wandel zustande kommen? Antwort: Die Politiker, die so denken und argumentieren, haben aber auch immer gesagt, daß die Sowjetunion Westberlin aus der Zusammengehörigkeit mit Westdeutschland herausbrechen wolle, daß sie die Existenz der Europäischen Gemeinschaft niemals anerkennen, sondern diese zerstören wolle und daß man mit einer militärischen Aggression rechnen müsse. Auch daran war etwas Richtiges, nicht zuletzt was Westberlin angeht. Statt dessen haben wir jetzt das Berlin-Abkommen der Vier Mächte, haben eine Intensivierung der sowjetischen Kontakte zu allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft und haben die Bereitschaft Moskaus, über eine ausgewogene Truppenreduzierung zu verhandeln. Kein Wandel? Die Veränderung unserer Haltung ist das Ergebnis dessen, was sich in der Welt vollzogen hat. Man kann doch im Jahre 1971 nicht so tun, als ob zum Beispiel die Mauer von 1961 nicht gebaut worden wäre. Die deutsche Politik mußte einmal die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß die ursprünglich als vorübergehend gedachte Aufteilung in Zonen durch die Entwicklung zweier Staaten abgelöst worden ist, woran wir im übrigen selber ja nicht ganz unbeteiligt waren. Die Landschaft der Politik wandelt sich ständig, und deshalb muß ich auch die Kompaßzahl ändern, nach der wir uns richten. Es war ein grundsätzlicher Fehler unserer Außenpolitik der fünfziger Jahre, von der Unmöglichkeit eines Wandels der sowjetischen Außenpolitik auszugehen. Selbst unter Stalin wurden die besetzten Gebiete Nordnorwegens und die besetzten nördlichen Gebiete Persiens geräumt. Im Jahre 1955 hielt die 287

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Sowjetunion es für zweckmäßig, sich mit den drei Westmächten über Österreich zu verständigen. Auch dies war für viele eine Überraschung. Ich führe dieses Beispiel allerdings nicht deshalb an, weil ich hier eine Parallele zu uns sehe. Wir sind nicht Österreich, weder nach der Zahl der Menschen, nach der geographischen Lage und nach dem Potential. Gerade dies macht unsere Lage so schwierig, nicht nur aus der Sicht der Russen, sondern auch aus der Sicht der anderen Völker. Ich werde nie vergessen, wie mir der frühere amerikanische Außenminister John Foster Dulles, mit dem ich persönlich gut stand, einmal in Washington sagte: ,Wir mögen uns mit den Russen über hundert Sachen streiten, über die hunderteinste Sache sind wir einer Meinung: Wir werden Euch nie mehr die Möglichkeit geben, vereinigt und bewaffnet zwischen uns hin und her zu marschieren/ Konrad Adenauer wußte dies so gut wie ich. Er hat daraus die Konsequenzen gezogen, von denen wir jetzt ausgehen müssen. Frage: In Paris sprechen autorisierte Politiker, etwa Pompidou oder de Broglie und viele andere, von einer Anerkennung der DDR. Ist es nicht so, daß eine Anerkennung der DDR einer Anerkennung der Zweiteilung Deutschlands gleichkäme und stünde ein solcher Schritt, wann immer Frankreich ihn vollzöge, nicht in eklatantem Widerspruch zu der von ihm eingegangenen Verpflichtung im Deutschlandvertrag, auf die Wiedervereinigung' Deutschlands hinzuwirken? Antwort: Wir haben nicht die Absicht, die Spaltung Deutschlands nachträglich anzuerkennen, und unsere Verbündeten haben auch keine solche Absicht. Sowohl die Bundesregierung wie die verbündeten Regierungen werden sich auch in Zukunft an eingegangene vertragliche Verpflichtungen halten. Dazu gehört, daß jede Form der internationalen Beziehungen der DDR — sei es die Teilnahme an Konferenzen, sei es der Austausch von Missionen, sei es der Beitritt beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen — von einer Bekräftigung unserer Rechtsauffassung und der gemeinsamen politischen Zielsetzungen begleitet sein wird und von Fortschritten in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten abhängig bleibt. Der von Ihnen erwähnte Widerspruch besteht so nicht. So paradox es sein mag, wir können die Einheit der Nation ja nicht an der DDR vorbei wahren, indem wir so tun, als ob es sie (die DDR) nicht gibt. Und wenn wir unsere Beziehungen zur DDR vertraglich regeln und uns bereitfinden, auch auf internationaler Ebene mit ihr friedlich zu konkurrieren, dann liegt es auf der Hand, daß sich auch das Verhältnis unserer Verbündeten zum anderen Teil Deutschlands formalisieren wird. Frage: Man würde also diese Bestimmung des Deutschland-Vertrages auch dann nicht verletzen, wenn beide Staaten über die Mitgliedschaft in der UNO gleichrangige Völkerrechtssubjekte geworden sind? Antwort: Ein Beitritt der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen wird von einer Erklärung der Mächte begleitet sein, daß sie ihren Rechtsstandpunkt bewahren und daß ihre früher eingegangenen rechtlichen Verpflichtungen nicht überholt sind. 288

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Frage: Ihre Regierung hat in Moskau und Warschau Verträge abgeschlossen, die durch ein sorgfältig gezogenes Geflecht alliierte Vorbehaltsrechte berücksichtigen, endgültige Festlegungen vermeiden sollen. Nun wird beispielsweise der Warschauer Vertrag sowohl in Polen als auch im westlichen Ausland als auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung widerspruchslos so bewertet, als sei damit die Oder-Neiße-Grenze unwiderruflich anerkannt. Der Vertrag von Moskau wird ebenso widerspruchslos so interpretiert, als sei damit die Zweiteilung Deutschlands anerkannt. Es drängt sich der Verdacht auf, als seien die juristischen Absicherungen der alliierten Vorbehaltsrechte sowohl bezüglich Deutschlands als auch bezüglich der Oder-Neiße-Grenze nur gewählt, um die Verfassungskonformität der Verträge und die Vertragstreue der Bundesrepublik nicht zu verletzen. Welchen inhaltlich-politischen Wert haben diese Vorbehalte noch für Sie, und wäre es nicht ehrlicher — wenn auch erfolglos —, auf eine Revision des Deutschland-Vertrages und auf eine Änderung der Verfassung zu drängen? Antwort: Eine friedensvertragliche Regelung steht aus. In deren Ermangelung sollen die Verträge, wie die Bundesregierung immer wieder festgestellt hat, einen Modus vivendi ermöglichen. Es handelt sich also nicht nur um das, was Sie juristische Absicherung nennen. Auch hinsichtlich der Oder-Neiße-Grenze können wir nur für die Bundesrepublik Deutschland sprechen, aber jeder, der die Welt kennt, muß außerdem wissen, daß ein Revisionsanspruch zu nichts anderem führen würde, als uns zu isolieren und/oder den Frieden in Europa zu gefährden. Insofern geht es für mich hier um etwas, was noch über die Vertragsgrundsätze des Gewaltverzichts und der Unverletzlichkeit der Grenzen hinausreicht. Die innerdeutsche Grenze ist im übrigen auch von früheren Bundesregierungen respektiert worden. Aber es bleibt das Ziel unserer Politik, dahin zu wirken, daß im Laufe des historischen Prozesses diese künstliche Teilung mit friedlichen Mitteln überwunden werden kann. Frage: Eine hypothetische Frage: Wenn Sie über die notwendige Zweidrittelmehrheit verfügten: Würden Sie den Auftrag des Grundgesetzes bezüglich der Einheit Deutschlands ändern wollen? Antwort: Selbstverständlich nicht. Frage: Bezüglich der Oder-Neiße-Grenze sind die Interpretationen in Polen eindeutig: damit haben wir die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze abgeschrieben. Muß man Ihren Vorbehalt bezüglich eines Friedensvertrages so verstehen, daß von der Bundesrepublik aus diese Frage nicht mehr hochgebracht werden würde, wie immer eine friedensvertragliche Lösung aussehen würde? Antwort: Ich sehe seit mindestens fünfzehn Jahren niemanden von Gewicht in der Welt, der uns unterstützt hätte, wenn wir uns bei einer friedensvertraglichen Regelung um eine Änderung der deutsch-polnischen Grenze bemüht haben würden, obwohl vielleicht nicht von allen in Potsdam die Oder-NeißeLinie als endgültige Grenze gemeint war. Es hat in den fünfziger Jahren — das ist keine Phantasie, ich und andere haben Gespräche dieser Art damals geführt — eine Situation gegeben, in der, wenn 19

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die deutsche Frage im Sinne der staatlichen Einheit, der Wiedervereinigung von den Großmächten und von uns angepackt worden wäre, Modifikationen der Grenze audi mit Polen hätten ausgehandelt werden können. Diese Zeit ist vorbei. Wenn ein Friedensvertrag in einer überschaubaren Zeit kommen sollte, wird wegen der Teilung unseres Landes kein Deutscher für Deutschland als Ganzes verhandeln können. Außerdem: Wie sollte man sich eine Politik vorstellen, mit der man ohne Unterstützung von irgend jemandem eine Grenzziehung mit friedlichen Mitteln — und nur die kommen doch in Betracht — revidieren will? Man könnte nur noch einmal den Wunsch vorbringen, ob nicht Modifikationen möglich seien, mehr aber nicht." (Publik, 12.11.1971) Das Plenum des Z K d e r K P d S U verabschiedet am 22. November einen Beschluß über die internationale Tätigkeit des Zentralkomitees nach dem X X I V . Parteitag, in dem es u. a. heißt:

„Das Plenum billigt die praktischen Maßnahmen zur Verwirklichung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz mit Staaten anderer Gesellschaftsordnung. Das Plenum spricht dem Politbüro des ZK für seine Tätigkeit zur Lösung eines der zentralen Probleme der gegenwärtigen internationalen Beziehungen — Sicherung der Entspannung in Europa und weitere praktische Anwendung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten — hohe Anerkennung aus. Ein gewichtiger Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe ist die weitere Entwicklung der sowjetisch-französischen Beziehungen, die in der vergangenen Zeit in allen Bereichen, vor allem aber im politischen Bereich, auf eine neue höhere Stufe gehoben worden sind. Wesentliche Bedeutung für die Schaffung einer solchen Lage in Europa, die die Gefahr eines Kriegsausbruchs auf diesem Kontinent völlig ausschließen würde, hatten in dieser Zeit die neuen Schritte zur baldigsten Ratifizierung der Verträge zwischen der UdSSR und der BRD, zwischen der Volksrepublik Polen und der BRD und zur Normalisierung der Beziehungen zwischen allen Staaten des Kontinents auf der Grundlage der Anerkennung der Unverletzlichkeit der im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstandenen Grenzen, darunter auch der zwischen der DDR und der BRD, der Prinzipien der Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie des Verzichts auf Gewaltanwendung bei der Lösung internationaler Fragen. Das Plenum des ZK hält es für wichtig, daß der Vorschlag der sozialistischen Länder, in nächster Zeit eine Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einzuberufen, immer größere Unterstützung findet. Die Einberufung einer europäischen Konferenz unter Teilnahme der USA und Kanadas, für die heute die Regierungen Frankreichs, der BRD, Finnlands, Kanadas und anderer Länder eintreten, wird eine große Rolle bei der Sicherung eines dauerhaften Friedens auf dem europäischen Kontinent spielen." (Neues Deutschland, 24.11.1971) 290

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Die O s t p r e u ß i s c h e L a n d e s v e r t r e t u n g beschloß auf ihrer Tagung in Hamburg am 27. November die folgende Erklärung:

„Im Bewußtsein der gefährdeten Lage unseres geteilten Deutschlands, der Massenvertreibungen von Millionen, der Unfreiheit unter fremder Verwaltung oder totalitärer Herrschaft bekunden wir unsere feste Entschlossenheit, der Zukunft unseres Landes und seiner Menschen zu dienen. Deswegen wenden wir uns mit Schärfe gegen das Reden von ,Realitäten', das bloß Recht und Menschlichkeit verleugnen will, gegen eine Agitation mit Worten wie Friedenspolitik* oder ,Friedensordnung', die über Unfreiheit schweigt und dadurch zugleich an eine böse Vergangenheit im eigenen Lande und an die Ausdrucksweise der Diktaturen im Osten erinnert, gegen die Illusionen, daß ,der Friede sicherer' werde, wenn nur die Einheit Deutschlands und die Selbstbestimmung seiner Bürger aufgegeben sind, gegen die Irreführung, daß »Politik für Menschen' gemacht werde, obwohl sich Teilungs-Verträge von Moskau und Warschau über das Schicksal gleichberechtigter Staatsbürger schweigend hinwegsetzen, gegen die falsche Behauptung, daß niemandes Rechte berührt seien, obwohl das nördliche Ostpreußen zu sowjetischem Territorium, die Oder-NeißeGebiete zu polnischem Staatsgebiet, Mitteldeutschland zum zweiten deutschen Staat und Berlin zur geteilten Stadt erklärt werden. Es geht um unseren freiheitlichen Rechtsstaat, um ganz Deutschland und um die Schicksalsgemeinschaft seiner Bürger. Die Gefahren für die Freiheit aller sind nicht durch Verleugnung rechtmäßiger Staats-Interessen oder durch Gleichgültigkeit gegenüber Mitbürgern abzuwenden. Mit dem Verzicht auf Deutschlands Einheit und Osten wird die angeblich unverzichtbare Selbstbestimmung seiner Bürger preisgegeben. Deswegen Schluß mit dem Mißbrauch verwirrender Vokabeln: Entspannung, Normalisierung oder Versöhnung sind keine Rechtfertigung bloßer Resignation, sondern die sittliche Aufgabe jeder staatlichen Außenpolitik, die Gerechtigkeit für alle durch Überwindung von Gewalttat erstrebt!" (Das Ostpreußenblatt, 4. 12. 1971) I n einer Mitteilung des A u s w ä r t i g e n A m t e s über den Besuch des Bundesministers des Auswärtigen, Scheel, in der UdSSR vom 25. bis 30. November heißt es u. a.:

„Beide Seiten waren sich darin einig, daß der Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eine gute und dauerhafte Grundlage für die Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten und für die Entspannung insgesamt schafft. Schon jetzt geht von diesem Vertrag, wie auch von dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen für die Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen und die politische Lage ein positiver Einfluß aus. Beide Regierungen halten es für wünschenswert, daß der Vertrag vom 12. August 1970 so bald wie möglich vom Deutschen Bundestag der Bun19*

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desrepublik Deutschland und vom Obersten Sowjet der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ratifiziert wird. Beide Seiten erwarten von seinem Inkrafttreten eine entscheidende Wendung zur Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Ländern, wie sie die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Interesse des Friedens in Europa und zum Wohle künftiger Generationen anstreben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 2.12.1971) I n dem Kommuniqué über die Konferenz der Außenminister der Warschauer Paktmächte in Warschau am 30. November und 1. Dezember heißt es u. a. :

„Die Minister berieten die Vorbereitungen zur Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit. Sie stellten mit Genugtuung fest, daß in letzter Zeit eine weitere positive Entwicklung zur Gesundung der politischen Lage in Europa zu beobachten war, für die häufigere Kontakte, Fortschritte in der Entspannung und Zusammenarbeit, die Festigung des Vertrauens in den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, unabhängig von ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, charakteristisch sind. Diese Entwicklung ist ein Resultat der Anstrengungen und des konstruktiven Beitrags der Teilnehmerstaaten der gegenwärtigen Beratung wie auch der Anstrengungen und des konstruktiven Beitrags einer Reihe anderer Staaten. Neue bedeutende Meilensteine auf diesem Wege sind die Unterzeichnung des vierseitigen Westberlin-Abkommens, die Vertiefung der politischen Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und Frankreich und der Ausbau bilateraler Kontakte zwischen den sozialistischen und anderen europäischen Staaten. Die im Jahre 1970 unterzeichneten Verträge zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland tragen schon jetzt zur Verbesserung des politischen Klimas in den Beziehungen zwischen diesen Staaten bei und beeinflussen die europäische Entwicklung im positiven Sinne. Die Regierungen der Partnerstaaten dieser Verträge treffen Vorbereitungen zu ihrer Ratifizierung. Ein Meinungsaustausch ist zwischen den Regierungen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen im Gange. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an seitens der Bundesrepublik Deutschland. Die Minister sprachen ihre Genugtuung darüber aus, daß die sachliche und konstruktive Haltung der DDR dem günstigen Verlauf der Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD wie auch zwischen der DDR und dem Senat von West-Berlin dienlich war. Die Minister stellten ferner fest, daß sich die interessierten Staaten in zunehmendem Maße darüber einig werden, daß es wünschenswert ist, so bald wie möglich eine gesamteuropäische Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zu292

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sammenarbeit einzuberufen. Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Abhaltung einer gesamteuropäischen Konferenz der Aufgabe einer allmählichen Umgestaltung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten entspricht, die es ermöglichen wird, die Teilung des Kontinents in militärischpolitische Gruppierungen zu überwinden. Es hat sich eine wesentliche Annäherung der Ansichten über den Inhalt der Arbeit der Konferenz abgezeichnet, die zur Schaffung eines Systems von Verpflichtungen beitragen muß, das jede Androhung oder Anwendung von Gewalt in den Beziehungen zwischen den Staaten in Europa ausschaltet und die Einhaltung der Prinzipien der territorialen Integrität der Staaten, der Achtung ihrer Souveränität, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der Gleichberechtigung und der Unabhängigkeit aller Staaten sichert. Auch in der Frage einer Erweiterung der ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern sind sich die Standpunkte etwas nähergekommen. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung gelangten die Regierungen der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags zu der Schlußfolgerung, daß sich eine günstige Situation für die Durchführung der gesamteuropäischen Konferenz im Jahre 1972 abzeichnet. Zugleich ziehen sie in Betracht, daß gewisse Kräfte immer noch der Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz entgegenwirken und Versuche unternehmen, die Situation in Europa zu komplizieren. Die Minister brachten jedoch die Überzeugung ihrer Regierungen zum Ausdruck, daß aktive Schritte aller, die an einem Ubergang von einem Europa der Spannungen und Konflikte zu einem Europa dauerhaften Friedens interessiert sind, den Einfluß dieser Kräfte überwinden können. Die Minister tauschten Meinungen über die Form der praktischen Vorbereitungen für die Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz aus. Sie bestätigten im Namen ihrer Regierungen, daß sie den Vorschlag der finnischen Regierung, zu diesem Zweck multilaterale Vorbereitungskonsultationen aller interessierten Staaten durchzuführen, begrüßen. Auf solchen Konsultationen könnten die Tagesordnung der gesamteuropäischen Konferenz, ihre Arbeitsweise, konkrete Termine und die Form ihrer Einberufung abgestimmt werden. Die Minister erklärten, daß ihre Regierungen den Beschluß faßten, bevollmächtigte Vertreter einzusetzen, die zusammen mit den bevollmächtigten Vertretern der anderen Staaten an den multilateralen Konsultationen teilnehmen und die Fragen koordinieren, die die Vorbereitung und Organisierung der Konferenz betreffen. Sie laden die Regierungen der anderen interessierten Staaten ein, auf dieselbe Weise vorzugehen. Sie lassen sich davon leiten, daß solche Konsultationen die Einberufung der gesamteuropäischen Konferenz beschleunigen und zu deren Gelingen beitragen müssen. Die Minister fordern im Auftrag ihrer Regierungen die Regierungen aller europäischen Staaten sowie die Regierungen der USA und Kanadas auf, ohne Verzug an die praktische Vorbereitung der gesamteuropäischen Konferenz zu gehen und deren Einberufung im Jahre 1972 zu sichern." (Sowjetunion heute, Botschaft der UdSSR in Bonn, 16.12.1971) 293

Herbert G. Marian Der amerikanische Außenminister R o g e r s hält vor dem Verein der Auslandspresse in Washington am 1. Dezember eine Rede, in der er u. a. ausführt:

„Europa befindet sidi heute in einer bedeutsamen Periode des Ubergangs — eines Übergangs, der sich in zwei Prozessen ausdrückt. Der erste, der Prozeß der Integration Westeuropas, madit rasche Fortschritte. Der zweite, ein Prozeß der Versöhnung zwischen Ländern in Ost- und Westeuropa, scheint seinen Anfang zu nehmen. Die amerikanische Regierung unterstützt beide Prozesse voll und ganz. Seit den Tagen des Marshall-Plans sind Einheit und Stärke Westeuropas ein zentrales Anliegen der amerikanischen Außenpolitik gewesen. Wir werden nicht aufhören, diese Ziele aktiv zu unterstützen, jetzt da wir an der Schwelle des Erfolgs stehen. Und wir sind nicht weniger entschlossen, uns aktiv an dem Prozeß des Abbaus der politischen und sozialen Schranken zu beteiligen, die den europäischen Kontinent noch trennen." „In gewissen Kreisen Westeuropas ist die Besorgnis zum Ausdruck gebracht worden, daß die amerikanische Regierung die Diskussion über Truppenreduzierungen als kaum mehr als einen Deckmantel für den Abzug amerikanischer Truppen benutzen könnte. Diese Besorgnis entbehrt jeder Grundlage. Wir haben kein Interesse an einem Abkommen, das das Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte in Europa zum Nachteil des Westens verändern würde. Es können nur Abzüge auf beiden Seiten, die sorgfältig ausgewogen sind, ins Auge gefaßt werden. Nur solche Abzüge können zu dem Gesamtprozeß der Versöhnung zwischen Ost und West beitragen, dem wir und unsere Verbündeten uns verschrieben haben. Zusammen mit unseren Verbündeten müssen wir sicherstellen, daß alle Vorschläge für Truppenreduzierungen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Sicherheit sorgfältig geprüft werden. Ein weiterer Schritt in dem Prozeß der Versöhnung, der auf der kommenden NATO-Tagung aktive Behandlung finden wird, ist eine Konferenz über europäische Sicherheit und Zusammenarbeit. Die NATO hat klar zu verstehen gegeben, daß sie keine Vorbereitungen für eine solche Konferenz treffen wird, solange die Berlin-Verhandlungen nicht erfolgreich abgeschlossen worden sind. Die erste Phase des Berlin-Abkommens ist von den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich im September unterzeichnet worden. Die zweite Phase, die Gespräche zwischen Ost- und Westdeutschland ist jetzt in das entscheidende Stadium getreten. Wenn diese Gespräche zum Erfolg führen — und es besteht aller Grund zu der Annahme, daß dies der Fall sein wird —, würden die Vier Mächte anschließend zur Unterzeichnung eines Schlußprotokolls schreiten, das das gesamte Berlin-Abkommen in Kraft setzt. Wann dies geschehen kann, ist gegenwärtig nicht sicher, da die Sowjetunion darauf beharrt, daß sie das Protokoll nicht unterzeichnen wird, solange die Ratifikation des Vertrags zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland nicht erfolgt ist. Was die Vereinigten Staaten angeht, so wären diese bereit, das Schlußprotokoll zu unterzeichnen, sobald die Ergebnisse der deutschen Verhandlungen als annehmbar befunden worden sind. 294

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Sobald jedoch das Protokoll unterzeichnet ist — so daß eine befriedigende Lösung der Berlin-Frage Tatsache geworden ist —, wird im kommenden Jahr der Weg für konkrete Vorbereitungen einer solchen Konferenz frei sein. Wir wären in diesem Zusammenhang bereit, für die Einberufung einer Sondertagung der stellvertretenden Außenminister der NATO-Länder einzutreten, um über Mittel und Wege zu sprechen. Lassen Sie mich nun die grundsätzliche Haltung der Vereinigten Staaten zu einer solchen Konferenz erläutern. Zunächst sind wir der Ansicht, daß auf einer solchen Konferenz die Sache wichtiger sein muß als die Atmosphäre. Sie muß versuchen, die eigentlichen Ursachen der Spannung zu verringern, nicht lediglich deren oberflächliche Manifestationen. Sie sollte sich deshalb in konkreter Weise mit jeder auf der Tagesordnung stehenden Sicherheitsfrage befassen. Zweitens sind wir der Ansicht, daß die Erörterungen sich in nützlicher Weise mit den Grundprinzipien befassen könnten, die die Beziehungen zwischen den Staaten bestimmen sollten. Eine Konferenz sollte die Aussöhnung zwischen souveränen europäischen Staaten fördern und nicht deren Spaltung bekräftigen. Die Konferenz könnte dies klarstellen, indem sie — wie Präsident Nixon und Präsident Tito dies im Oktober getan haben — die Unabhängigkeit und Gleichberechtigung souveräner Staaten bestätigt, gleichviel ob ihre politischen oder sozialen Systeme unterschiedlich oder gleichartig sind. Drittens sind wir der Ansicht, daß eine solche Konferenz größten Nachdruck auf Fragen der Zusammenarbeit legen sollte, bei denen ein Fortschritt zwischen Ost und West möglich ist. Wenn eine solche Konferenz auch zu einer besseren Sicherheit beitragen kann, so zeigen doch die Fortschritte, die im Hinblick auf Berlin und auf eine Begrenzung der strategischen Rüstungen erzielt worden sind, daß detaillierte Verhandlungen über einzelne Sicherheitsfragen wahrscheinlich in weniger allgemeinen und im Blickpunkt stehenden Gremien geführt werden sollten. Eine solche Konferenz könnte jedoch die Zusammenarbeit in Europa fördern: für einen verstärkten Ost-West-Handel, für einen häufigeren und nützlicheren Austausch auf wissenschaftlichem und technologischem Gebiet sowie für gemeinsame Anstrengungen zum Schutze der Umwelt. Viertens sind wir der Ansicht, daß eine solche Konferenz über die traditionellen Formen des kulturellen Austausches zwischen Ost und West hinausgehen sollte. Sie sollte spezifische Maßnahmen zur Förderung einer größeren Freizügigkeit von Menschen, Gedanken und Informationen ergreifen. Ganz allgemein sehen wir eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unter dynamischen und nicht so sehr unter statischen Gesichtspunkten. Wir würden jeden Versuch zurückweisen, sie zur Verewigung der politischen und sozialen Teilung Europas zu benutzen. Wir sehen die Konferenz nicht als eine Besiegelung der bestehenden Trennung, sondern als einen Schritt auf dem langen Weg zu einem neuen Zustand, einem Zustand, in dem die Gründe für Spannungen weniger zahlreich sind, die Kontakte größer, ein Zustand, in dem von dem Kontinent wieder als von einem Europa, nicht aber von zwei Teilen gesprochen werden kann." (Amerika-Dienst (USIS Bonn), Dokumentation 38/1971) 295

Herbert G. Marian I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 3. Dezember wird eine Anfrage des Abgeordneten D r . Wittman, C D U / C S U , beantwortet:

„Vizepräsident Dr. Jaeger: Keine Zusatzfrage mehr. — Ich rufe die Frage 112 des Abgeordneten Dr. Wittmann (München) auf: Hat der stellvertretende

polnische Außenminister

Willmann

in den seiner Er-

klärung vom 27. Oktober 1971 vor auf gegangenen Verhandlungen das Ansin-

nen gestellt, in deutschen Schulbüchern auf die Darstellung des fortbestehenden deutschen Staats in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 zu verzichten, und

hat die Bundesregierung — bejahendenfalls — dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland zurückgewiesen und darauf hingewiesen, daß über deutsche Schulbücher die Länder in eigener ausschließlicher Zuständigkeit befinden und auch der Vertrag vom 7. Dezember 1970 nach seinem Inkrafttreten keine entsprechende Handhabe bieten würde, bzw. wird die Bundesregierung, wenn ein derartiges Ansinnen in Zukunft gestellt werden sollte, entsprechend verfahren? Bitte sehr, Herr Staatssekretär!

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Die Antwort lautet: Nein. Vizeaußenminister Willmann hat ein derartiges Ansinnen nicht gestellt. Davon abgesehen wären die auf der Ebene der Außenministerien in Bonn am 25. und 26. Oktober 1971 geführten Gespräche, auf die sich Ihre Frage offensichtlich bezieht, nicht der Ort zur Behandlung des Inhalts von Schulbüchern gewesen, da diese Fragen in die Zuständigkeit der Länder fallen, die die Bundesregierung selbstverständlich zu respektieren hat. Sie als Abgeordneter aus Bayern werden das besonders zu schätzen wissen. Bei den Besprechungen in Bonn wurde lediglich allgemeine Übereinstimmung darüber erzielt, daß eine Überprüfung der Schulbücher beider Länder, etwa nach dem deutsch-französischen Vorbild, wünschenswert ist und daß sie von den zuständigen Stellen sobald wie möglich in Angriff genommen werden soll. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Wittmann.

Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ich darf die Frage praktisch wiederholen; Sie haben darauf nicht geantwortet: Würde die Bundesregierung ein Ansinnen, wie es in meiner Frage zum Ausdruck kommt, falls es gestellt werden sollte, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik zurückweisen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, das ist eine hypothetische Frage, die wir beantworten werden, wenn sie gestellt wird. Die Bundesregierung ist prinzipiell der Meinung, daß sie jedes Ansinnen auf eine Art Einmischung in innere Angelegenheiten zurückweisen sollte. In diesem Fall gibt es ja aber große Vorbilder, nämlich in den deutsch-französischen Beziehungen, wo eine gegenseitige Revision der Schulbücher vorgenommen worden ist. Wir haben unsererseits zum Ausdruck gebracht — das war nicht von polnischer Seite initiiert worden —, daß man, wenn man Beziehungen zu einem Staat wie der Volksrepublik Polen 296

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normalisieren will — das wollen wir, und idi denke, das will das ganze Hohe Haus —, vor allem bereit sein muß, die Gründe für eine langjährige und jahrzehntelange Vergiftung der Atmosphäre zu bereinigen. Die Grundlage dafür wäre, daß in den beiden Staaten, wo das überhaupt denkbar ist, in den Schulbüchern wenigstens einigermaßen die gleichen geschichtlichen Auffassungen dargeboten und diese Dinge abgestimmt werden. Dafür gibt es das Schulbuchinstitut in Braunschweig, das sich dieser Mühe in anderen Fällen mit großem Erfolg unterzogen hat, und zwar in Zusammenarbeit mit der deutschen UNESCOKommission. Vizepräsident Wittmann.

Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr.

Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort den Schluß ziehen, daß über die Frage der Schulbücher im Detail nicht gesprochen wurde? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Den Schluß dürfen Sie ziehen. Sie müssen ihn auch ziehen, weil wir ja für das nächste Jahr erwarten, daß deutsch-polnische Gespräche unter den Fachleuten über diese Fragen geführt werden. Ich möchte noch hinzufügen, daß es, wenn man solche Gespräche führt — und ich halte sie für nützlich —, selbstverständlich notwendig ist, daß dann jede Seite die Meinungen der anderen Seite und die Vorhalte der anderen Seite zur Kenntnis nimmt und gründlich prüft. Nur so hat man ja auch eine Gelegenheit, etwa seine eigene Stellungnahme dann nachher zu bekunden. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Arndt.

Dr. Arndt (Hamburg) (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß vom Deutschen Schulbuchinstitut in Braunschweig bereits eine oder meines Wissens sogar zwei deutsch-polnische Konferenzen über dieses Thema veranstaltet worden sind, die es uns ermöglichen, gegenseitig, d. h. auch hinsichtlich der polnischen Geschichtsbücher, für eine objektive Darstellung der Geschichte in beiden Ländern zu sorgen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Daß so etwas bereits stattgefunden hat, Herr Abgeordneter, ist mir aus den Unterlagen hier nicht ersichtlich. Ich möchte aber sagen, daß nach meiner Kenntnis Besprechungen über diese Fragen für Oktober dieses Jahres vorgesehen waren und daß sie auf Anfang 1972 verschoben worden sind. Die ersten Besprechungen, so heißt es hier in der mir vorliegenden Aufzeichnung des zuständigen Institutes, sollen Ende Januar 1972 in Warschau stattfinden, und weitere sind dann für Mitte des nächsten Jahres in Braunschweig vorgesehen, selbstverständlich auf der Basis der vollen Gegenseitigkeit. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Becher.

Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, darf ich aus Ihrer Antwort, von der Voraussetzung ausgehend — die die Bundesregierung ja immer behauptet —, daß es sich beim Warschauer Vertrag nicht um einen Frie297

Herbert G. Marian

densvertrag, daher auch nicht um einen Grenzregelungsvertrag handelt, die Folgerung ziehen, daß sidi die Bundesregierung selbstverständlich gegen jede Veränderung des Grenzbildes Deutschlands vor einem kommenden Friedensvertrag wenden wird und wenden muß? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, Sie dürfen von der Voraussetzung ausgehen, daß sich die Bundesregierung bei allem, was sie tut, streng an den Text des Vertrages mit der Volksrepublik Polen halten wird, den sie selbst unterschrieben hat. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Jahn.

Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Sie wissen, daß das Schulbuchinstitut in meinem Wahlkreis gelegen ist. Ich kann doch wohl annehmen, daß das Schulbuchinstitut nur Besprechungen und Gedankenaustausch mit unseren polnischen Nachbarn führt. Sonst müßte ich nämlich fragen, auf welcher Rechtsgrundlage das Schulbuchinstitut Verhandlungen führt. Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Das Schulbuchinstitut hat die gleiche Rechtsgrundlage, die es auch befähigt hat, mit Frankreich Besprechungen zu führen. Es ist ja auch beauftragt worden, diese Gespräche zu führen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 155. Sitzung, 3.12.1971)

Moerschy

Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , führt in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk am 4. Dezember u. a. aus:

„Frage: Der CSU-Vorsitzende Strauß hat neulich erklärt, die Opposition werde ihre Haltung zum Moskauer Vertrag überprüfen, wenn die Sowjetunion die Vertragsinterpretation der Bundesregierung akzeptiere. Sehen Sie hier eine Chance für eine breite Mehrheit? Antwort: Ich bin recht zufrieden darüber, daß führende Oppositionspolitiker diese nüchterne Art der Beurteilung in der Zwischenzeit angenommen haben. Herr Dr. Barzel wird eine Reise nach Moskau machen, er wird sich mit den politischen Führern der Sowjetunion unterhalten können, und er wird bestätigt finden, daß der Vertrag, so, wie er in seinem Wortlaut abgeschlossen worden ist, Gültigkeit erlangen wird. Interpretationen läßt er kaum zu. Wir haben unsere Meinung im Parlament, in den Ausschüssen, immer wieder dargestellt. Herr Dr. Barzel wird vermutlich bestätigt finden, daß diese Meinung zu Recht besteht, und wenn dadurch die Haltung der Oppositionsfraktion beeinflußt würde, so könnte das nur günstig sein. Frage: Wären Sie unter Umständen bereit, dem Oppositionsführer Rainer Barzel vertrauliche Einsicht in die Verhandlungsprotokolle des Moskauer Vertrages zu geben? Antwort: Ich sollte hier einmal etwas klarstellen. Man spricht so häufig von Verhandlungsprotokollen. Verhandlungsprotokolle wie man sie sich vorstellt, gibt es natürlich nicht. Es gibt Aufzeichnungen — Dolmetscher-Auf Zeichnungen, Aufzeichnungen von Mitarbeitern — über den Verlauf der Verhandlungen. 298

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Die füllen natürlich Bände, weil die Verhandlungen viele Stunden, Tage, Wochen und Monate gedauert haben. Aus diesen Aufzeichnungen sind Aufschlüsse zu gewinnen, um die eine oder andere Vertragspassage vollkommen zu klären. Soweit das nötig ist, wird man diesen Versuch in den Beratungen des Parlaments machen, vor allem auch in den Ausschußberatungen, die sicherlich sehr gründlich geführt werden müssen. Ich selbst habe Herrn Dr. Barzel schon über einige, sich aus den Aufzeichnungen ergebende Probleme Auskunft gegeben. Aber es ist ganz ungewöhnlich und nirgendwo in der Welt üblich, daß die Dolmetscher-Aufzeichnungen von ganzen Verhandlungsmonaten sozusagen öffentlich werden." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 7.12.1971) Die L a n d s m a n n s c h a f t S c h l e s i e n gibt zum Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages eine Erklärung ab, welche folgenden Wortlaut hat:

„1) Mit dem Warschauer Vertrag sind die nationalistischen Forderungen des kommunistischen Regimes in voller Höhe erfüllt worden. Was bereits 1950 durch das Görlitzer Abkommen von den beiden Diktaturen in Ost-Berlin und Warschau vertraglich festgelegt worden war, wurde im Warschauer Grenzvertrag jetzt auch für die Bundesrepublik Deutschland wiederholt und bestätigt: die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze. 2) Der Warschauer Grenzvertrag verurteilt weder die Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat — aber nur durch Vertreibung, Okkupation und Annektion konnte sich Polen in den Besitz von Ostdeutschland setzen —, noch werden den Deutschen jenseits von Oder und Görlitzer Neiße elementare Menschenrechte eingeräumt. 3) Auch wenn von der Bundesregierung erklärt wurde, daß durch den Warschauer Vertrag ein gesamtdeutscher souveräner Staat noch nicht gebunden sei und der Vertrag lediglich als politische Lagebesprechung zu verstehen sei, widerspricht diese Interpretation dem polnischen Vertragspartner, der im Vertrag die endgültige völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie sieht. Es besteht darum ein unauflösbarer Dissens, so daß der Vertrag einen weit schlechteren Zustand geschaffen hat, als er zuvor ohne Vertrag zwischen Deutschland und Polen bestanden hat. 4) Die Landsmannschaft Schlesien begrüßt voller Freude die Aussiedler, die endlich zu uns kommen können, stellt aber gleichzeitig fest, daß die ständigen Schikanen und die sich wiederholenden Ablehnungen von Anträgen zur Aussiedlung, darüber hinaus die inzwischen eingetretene Erschwerung, überhaupt Anträge stellen zu können, den seitens der polnischen Regierung gegebenen Zusagen eindeutig widersprechen. 5) Die Landsmannschaft Schlesien sagt ja zu einem offenen Gespräch mit Polen und zu einem neuen Nachbarschaftsverhältnis, zur Wiedergutmachung des dem polnischen Volk zugefügten Leids und zur vertraglichen Regelung. Aber mit neuem Unrecht kann nicht altes Unrecht wiedergutgemacht werden, 299

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auf der Erfüllung einseitiger Forderungen kann keine gute Nachbarschaft basieren, die Aufstellung von Grenzbarrieren versperrt die europäische Zukunft. 6) Die Landsmannschaft Schlesien wiederholt am ersten Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Grenzvertrages das Nein zum Vertrag und das Ja zu einem auf gegenseitigen Verpflichtungen beruhenden europäischen Miteinander von Deutschland und Polen. Die Landsmannschaft Schlesien erhebt erneut den Anspruch auf einen demokratisch legitimierten, auf dem Selbstbestimmungsrecht basierenden Frieden." (Der Schlesier. Breslauer Nachrichten, 9.12.1971) Der Generalsekretär des Z K der KPdSU, B r e s c h n j e w , 7. Dezember auf dem V I . Parteitag der P Z P R in Warschau aus:

führte am

„Wir waren niemals der Meinung und sind auch jetzt nicht der Meinung, daß die Entspannung, die Zusammenarbeit und die Sicherheit in Europa ohne entgegenkommende Bemühungen beider Seiten, sowohl seitens des Ostens als auch seitens des Westens — Fortschritte machen können. Je mehr Realismus in der Politik der westlichen Länder ist, desto größer sind unsere gemeinsamen Möglichkeiten, die Lage in Europa weiter zu verbessern und den Weg für eine fundamentale Ubereinkunft im Interesse der europäischen und internationalen Sicherheit zu bereiten. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der Beziehungen der Sowjetunion, Polens und einer Reihe anderer sozialistischer Länder zu Frankreich; ein Beispiel dafür ist auch die zutage getretene Wende in unseren Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland; ein Beispiel dafür ist auch die kürzlich erreichte vertragliche Vereinbarung über Fragen Westberlins. Die Verträge der Sowjetunion und der Polnischen Volksrepublik mit der Bundesrepublik Deutschland, das Abkommen der vier Mächte über Westberlin, die Ausarbeitung von Abkommen der DDR über Westberlin, die zunehmende Anerkennung der Notwendigkeit des Eintritts der DDR und der BRD in die UNO, die Regelung der Probleme, die zwischen der Tschechoslowakei und der BRD existieren, die — wie wir hoffen — von den Seiten erreicht werden wird, all das wird die Nachkriegsperiode der europäischen Entwicklung zum Abschluß bringen. Es entsteht der Anfang des Übergangs-Europas zu einer neuen historischen Phase, die sich, wie wir glauben, unter dem Zeichen der friedlichen Koexistenz und der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit entwickeln wird. Gerade in dieser Etappe des Umbruchs gewinnt die gesamteuropäische Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit eine besondere Bedeutung. Eine solche Konferenz ist berufen, die Grundlagen des friedlichen Lebens auf unserem Kontinent zu festigen. Die strikte Beachtung der Prinzipien der Unverletzlichkeit der gegenwärtigen Grenzen, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der Gleichheit, der Unabhängigkeit, des Verzichts auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung, dies sind unserer Meinung nach diese Grundlagen. Ganz vor kurzem unterzeichneten die Sowjetunion und Frankreich ein Dokument, in dem gerade ein solches Herangehen an die europäischen Angelegen300

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heiten zum Ausdruck gebracht ist. In unseren Augen würden alle Staaten und Völker Europas nur gewinnen, wenn analoge Prinzipien zur allgemein anerkannten Norm des internationalen Lebens in ganz Europa werden würden. Sollte man nicht gründlich über eine solche Möglichkeit nachdenken?" „Das wiedererstandene Polen, das sozialistische Polen, hat einen würdigen Platz in der Weltgeschichte eingenommen. Für immer sind vergangene Zeiten verschwunden, als das Volk Polens ständig für seine Freiheit und Unabhängigkeit, für die Integrität seines Staates Befürchtungen hegen mußte. Jetzt ist die Unantastbarkeit (neprikosnowennostj) der polnischen Grenze durch das Bündnis Polens mit der Sowjetunion, der DDR und den anderen brüderlichen Ländern, durch die gesamte Verteidigungsmacht der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages gewährleistet. Jetzt, da das polnische Volk unwiederbringlich den Weg des Sozialismus beschritten hat, da es in die einheitliche Familie der sozialistischen Länder eingekehrt ist, sind die Freiheit und die Unabhängigkeit Polens endgültig und unbedingt garantiert". (Ost-Informationen, 8.12.1971) I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 9. Dezember werden Anfragen des Abgeordneten S c h u l t e , C D U / C S U , beantwortet: „Vizepräsident

Dr. Schmitt-Vockenhausen:

Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Bundesminister Professor Dr. Ehmke zur Verfügung. Zunächst die Frage 122 des Herrn Abgeordneten Schulte (Schwäbisch-Gmünd) : Auf welche von ihm geführten Gespräche — mit welchen Gesprächspartnern zu welchem Zeitpunkt — bezieht sich Bundeskanzler Brandt in seinem in ,Publik* vom 12. November 1971 unter der Überschrift ,Willy Brandt über Deutschland* erschienenen Interview, in dem er auf eine Frage nach der Oder/ Neiße-Grenze u. a. geantwortet hat: ,Es hat in den fünfziger Jahren — das ist keine Phantasie, ich und andere haben Gespräche dieser Art damals geführt — eine Situation gegeben, in der, wenn die deutsche Frage im Sinne der staatlichen Einheit, der Wiedervereinigung, von den Großmächten und von uns angepackt worden wäre, Modifikationen der Grenze auch mit Polen hätten ausgehandelt werden können.*? Herr Bundesminister! Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Aufgaben: Herr Präsident, ich wäre dankbar, wenn ich die Fragen 122 und 123 im Zusammenhang beantworten könnte. Vizepräsident

Dr. Schmitt-Vockenhausen:

Ich nehme an, daß der Fragesteller keine Bedenken hat. — Er ist einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 123 auf: 301

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Wer sind die übrigen deutschen Politiker, die nach dieser Aussage des Bundeskanzlers angeblich ebenfalls Gespräche dieses Inhalts geführt haben, und mit welchen Gesprächspartnern und zu welchem Zeitpunkt fanden diese Gespräche statt? Herr Minister! Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Aufgaben: Herr Kollege Schulte, der Bundeskanzler hat eine Einschätzung wiedergegeben, zu der er — wie er in seinem ,Publik*-Interview gesagt hat — ,in den fünfziger Jahren' gelangt ist. Es handelt sich also um eine politische Bewertung, die er nicht etwa erst in letzter Zeit gewonnen hat, seitdem er in der Bundesrepublik Deutschland Regierungsverantwortung trägt. Die Gespräche, auf die er sich bezogen hat, fanden sogar nodi vor seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin statt. Davon abgesehen hielte es der Bundeskanzler aber weder für ratsam nodi für fair, Herr Kollege, wenn er jetzt Namen damaliger osteuropäischer Gesprächspartner bekanntgeben würde. Die im ,Publik'-Interview erwähnte Problematik — nämlich die Möglichkeit, Kodifikationen auch mit Polen' auszuhandeln, ,wenn die deutsche Frage im Sinne der staatlichen Einheit angepackt worden wäre' — ist der damaligen Bundesregierung durchaus geläufig gewesen. Es wäre daher schon aus diesem Grunde abwegig, wenn Sie die Äußerungen des Bundeskanzlers im Sinne einer parteipolitischen Polemik verstünden. Im übrigen hat die erwähnte Problematik sich damals z.B. auch in Äußerungen hochgestellter Persönlichkeiten der Vereinigten Staaten niedergeschlagen. Die Voraussetzung, von der der Bundeskanzler in seinem Interview gesprochen hat — ,wenn die deutsche Frage im Sinne der staatlichen Einheit angepackt worden wäre' —, hat, wie wir alle wissen, leider nicht geschaffen werden können. Vizepräsident

Dr. Schmitt-Vockenhausen:

Ein Zusatzfrage.

Schulte (Schwäbisch Gmünd) (CDU/CSU): Herr Minister Ehmke, nach diesem teilweisen Rückzug möchte ich Sie fragen, ob Sie es für eine saubere Antwort und eine saubere Auskunft auf diese Frage, die von dem Interviewer gestellt wurde, oder mehr für den Versuch einer Legendenbildung halten, wenn ohne die Darstellung der damals vorhandenen Umstände, insbesondere außenpolitischer und verteidigungspolitischer Natur, und ohne die Darstellung der von der anderen Seite, d. h. von Seiten der Gesprächspartner her gestellten Bedingungen eine solche Antwort auf die Frage nach der Oder-Neiße-Grenze gegeben wird. Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Aufgaben: Herr Kollege Schulte, ich möchte zunächst sagen, daß es sich hier in keiner Beziehung um einen Rückzug handelt. Der Bundeskanzler steht voll zu dem, was er dort gesagt hat. Aber schon geringe Regierungserfahrung lehrt, daß man zwar alles wissen muß, was man sagt, aber nicht alles sagen muß, was man weiß. Vizepräsident 302

Dr. Schmitt-Vockenhausen:

Eine weitere Zusatzfrage.

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Schulte (Schwäbisch Gmünd) (CDU/CSU): Herr Minister Ehmke, wären Sie bereit, mir persönlich weitere Informationen zugänglich zu machen? Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Aufgaben: Ich bitte Sie, diese Frage an den Herrn Bundeskanzler persönlich zu richten." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 157. Sitzung, 9.12.1971) I n dem K o m m u n i q u e der Ministertagung des N o r d a t l a n t i k r a t e s vom 9. bis 10. Dezember in Brüssel heißt es u. a.: »12.

Die Minister vertraten die Auffassung, daß eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nicht dem Zweck dienen sollte, die seit dem Kriege bestehende Teilung Europas zu verewigen, sondern vielmehr zur Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen den teilnehmenden Staaten beitragen sollte, indem sie einen Prozeß des Abbaus der noch bestehenden Schranken einleitet. Die Minister bekräftigten daher erneut, daß sich die Konferenz konkret mit den grundlegenden Ursachen der Spannung in Europa und den Grundprinzipien befassen sollte, die für die Beziehungen zwischen den Staaten, unabhängig von ihren politischen und sozialen Systemen, maßgebend sein sollten. 13. Die Minister nahmen den Bericht des Ständigen Rats über eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zur Kenntnis. Dieser Bericht befaßt sich mit vier Themengruppen für eine derartige Konferenz : (a) Sicherheitsfragen einschließlich der Grundsätze für zwischenstaatliche Beziehungen und bestimmte militärische Aspekte der Sicherheit; (b) Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen sowie kulturelle Beziehungen; (c) Zusammenarbeit in der Wirtschaft, der angewandten Wissenschaft und Technologie sowie der reinen Wissenschaft; (d) Zusammenarbeit zur Verbesserung des Umweltschutzes. Die Minister baten den Ständigen Rat, diese Studien fortzusetzen mit dem Ziel, eine konstruktive Erörterung dieser Themen bei den Verhandlungen zu erleichtern." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 14.12.1971) Bundeskanzler B r a n d t führt in einem Vortrag in der Aula der Universität Oslo am 11. Dezember anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises u. a. aus:

„Als Berliner Bürgermeister habe ich erfahren, wie zugespitzte Lagen auf unser Denken einwirken. Ich habe dabei auch gewußt, daß Standhaftigkeit dem Frieden dient. 303

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Uber die Krisenjahre 1961 und 1962 ist viel geschrieben worden. Vielleicht kann ich ein paar zusätzliche Hinweise geben. Der Bau der Mauer hatte eine Seite, die am stärksten ins Auge fiel: die absurde Teilung dessen, was vom Gesamtorganismus einer Millionenstadt intakt geblieben war. Mit all den beklagenswerten Folgen, die sich daraus für die Menschen ergaben. Daneben gab es die weltpolitische Seite dieses tiefen Einschnitts. Die Westmädite standen ohne Schwanken zu ihrem Schutz für Wes t-Berlin. Aber sie fanden sich wohl oder übel damit ab, daß ihr Gegenpart allein über O s t-Berlin verfügte. Kein Viermächte-Status änderte etwas daran, daß die Mauer zur Trennungslinie zwischen den atomar gerüsteten Supermächten geworden war. Und niemand, der Verantwortung trug, hat verlangt, die Westmächte sollten militärische Macht einsetzen und einen Krieg riskieren, um ihren Anteil an einer ursprünglich gemeinsamen Verantwortung zu wahren. Es gab noch einen anderen Aspekt, den der verbal überspielten Ohnmacht. Die Berufung auf Rechtspositionen, die sich nicht verwirklichen ließen. Das Planen von Gegenmaßnahmen für jeweils andere Situationen als die, mit denen man es zu tun hatte. In kritischen Lagen war man auf sich selbst gestellt; die Verbalisten hatten einem nichts zu bieten." „Noch als Außenminister habe ich gesagt, daß die Politik unseres Landes sich eindeutig an dem einen Generalnenner Friedenssicherung zu orientieren habe. Der jetzige Bundesaußenminister und ich wissen natürlich, daß Friedenspolitik mehr bedeuten muß, als anderen zu applaudieren. Alle müssen sich fragen, was sie konkret beizutragen haben. Gerade ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland durfte nicht im Allgemeinen verharren; sie mußte sich zu ihrem spezifischen Beitrag äußern. Antworten, die wir selbst geben konnten, durften wir nicht anderen überlassen. Niemand kann uns dort etwas abnehmen, wo wir auf Grund der realen Lage unersetzbar sind. Ich habe reale Lage gesagt. Die erkennt man nicht, wenn man der Selbsttäuschung unterliegt oder Politik mit Juristerei verwechselt. Der Kreml ist kein Amtsgericht, sagte Präsident Paasikivi, und das Bild ließe sich ausweiten, auch auf Washington. Ich wußte, daß die Rechnung für Hitlers Krieg noch offen war. Aber ich war und bin dennoch nicht gesonnen, über die Prinzipien der Menschenrechte und der Selbstbestimmung mit mir handeln zu lassen. Von der realen Lage ausgehen, das hieß, niemandes territoriale Integrität in Frage zu stellen, sondern die Unverletzlichkeit der Grenzen anzuerkennen. Als wir den vertraglich organisierten Gewaltverzicht vorschlugen und die östlichen Nachbarn aufforderten, uns beim Wort zu nehmen, haben wir an das anknüpfen können, was andere Bundesregierungen vor uns gesagt und wozu sie sich in den Westverträgen verpflichtet hatten. Aus der Logik unserer Politik folgerte, daß die Unantastbarkeit der Grenzen auch für das Verhältnis zum Osten und auch für die beiden Staaten in Deutschland gelten mußte, die ihre Zuordnung zu den beiden Bündnissystemen gefunden hatten. Die Spannung — zwischen Friedenswillen und Selbstbehauptung —, der der deutsche Politiker in der Zeit der Konfrontation unterworfen war, führte über leidenschaftliche Auseinandersetzungen zu wesentlichen Klärungen. Unsere 304

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West-Ost-Politik hat sich hieraus ergeben. Wir haben das Gebot der Selbstbehauptung ernst genommen, und den Gedanken der nationalen Einheit haben wir nicht verkümmern lassen. Sondern wir sind daran gegangen, auch in unserem nationalen Interesse, unser Verhältnis zu Osteuropa neu zu ordnen. Dies ist keine einfache Folge von Maßnahmen und Verträgen, sondern ein breiter und vielgestaltiger Ablauf, der alle möglichen Wege zur Relativierung der Grenzen zu nutzen und neue Wege zu öffnen sucht. Das Etikett ,Ostpolitik' sagt mir nicht zu. Aber wie will man etwas einfangen, was sich als Begriff selbstständig gemacht und — wie »Gemütlichkeit' unübersetzbar erscheinend — Eingang in die internationale Terminologie gefunden hat? Das Wort ist vorbelastet. Und es läßt die Fehldeutung zu, als sei es mit der Auswärtigen Politik wie mit einer Kommode, bei der man mal die eine, mal die andere Schublade aufzieht. In Wirklichkeit ist es so: Unsere Entspannungspolitik fing im Westen an und bleibt im Westen verankert. Wir wollen und brauchen die Partnerschaft mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. Niemand sollte übersehen: Die westeuropäische Einigung, an der wir aktiven Anteil haben, behält für uns Priorität. Das Atlantische Bündnis ist für uns unverzichtbar. Aber nicht nur die allgemeine weltpolitische Entwicklung, sondern auch die besondere Realität der Westverträge erfordern deren Ergänzung durch gute, normale, nach Möglichkeit freundliche Beziehungen zur Sowjetunion und ihren Partnern im Warschauer Pakt. Darin bin idi mir einig mit Präsident Pompidou, mit den Premierministern Heath und Colombo, mit all unseren Freunden und Verbündeten. Wir werden — weil es für uns selbst, für die Deutschen in den beiden Staaten der einen Nation, von Nutzen ist — unsere Verträge mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen ratifizieren. Ein entspanntes und ergiebiges Verhältnis auch zu den anderen Staaten des Warschauer Paktes herzustellen, ist ein Ziel der Bundesregierung. Die Beziehungen zur DDR werden, allen Schwierigkeiten zum Trotz, auf dem Boden der Gleichberechtigung geordnet werden, und zwar in der zwischenstaatlich üblichen Form, aber auch in Respekt vor den Rechten und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes. Die Verhandlungen der beiden deutschen Seiten zur Ausfüllung des Berlin-Abkommens der Vier Mächte haben gezeigt, daß schwierige Fragen sogar bei nicht zu vereinbarenden Rechtsauffassungen zu regeln sind. Die Bundesrepublik kennt die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Mit dieser Einsicht verbunden ist das Bewußtsein, daß sie durchaus auch Macht hat und eine Macht ist — sie versteht sich mit allen ihren Kräften als eine Friedensmacht. Der Ubergang von der klassischen Machtpolitik zur sachlichen Friedenspolitik, die wir verfolgen, muß als der Ziel- und Methodenwechsel von der D u r c h setzung zum A u s g l e i c h der Interessen begriffen werden. Dies erfordert Selbstüberwindung, Sachlichkeit und keine weniger sichere Einschätzung politischer Kräfte und Möglichkeiten, als sie die klassische Machtpolitik verlangt. Vom geheiligten Egoismus der Nation soll sie zu einer europäischen und globalen Innenpolitik führen, die sich für ein menschenwürdiges Dasein aller verantwortlich fühlt. 20 Königsberg

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Wenn idi midi nun einigen Elementen eines möglichen europäischen Friedenspaktes zuwende, so halte idi mich nicht bei institutionellen Vorstellungen auf, die sich auf kürzere Sicht doch nicht verwirklichen lassen. Aber ich bekenne midi nachdrücklich zu den universellen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts, so oft sie auch mißachtet werden. Sie haben in den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen ihren verbindlichen Ausdruck gefunden: Souveränität — territoriale Integrität — Gewaltlosigkeit — Selbstbestimmungsrecht der Völker — Menschenrechte. Diese Grundsätze sind unabdingbar, audi wenn es an ihrer Erfüllung so oft mangelt da und dort; das weiß idi. Übrigens gehört es zu den Härten im Leben eines Politikers, besonders eines Regierungschefs, daß er nicht immer alles sagen darf, was er denkt; daß er, um des Friedens willen seinen Gefühlen nicht immer freien Lauf lassen kann. Ich möchte im übrigen betonen, daß meiner Überzeugung nach die gesamteuropäische Sicherheit und Zusammenarbeit nicht beeinträchtigt wird, wenn die west europäische Einigung weiter voranschreitet. Westeuropa mit Einschluß Großbritanniens, also die sich erweiternde Gemeinsdiaft, formiert sich nidit als Block gegen den Osten, sondern kann — audi durch die Stärkung ihrer sozialen Komponente — zu einem besonders wichtigen Bauelement einer ausgewogenen europäischen Sicherheit werden. Fester Zusammenhalt im Innern steht nicht im Gegensatz zu großer Offenheit in der Zusammenarbeit nach außen. Weiter will idi sagen: Europa und Amerika sind nicht zu trennen. Sie brauchen einander als selbstbewußte, gleichberechtigte Partner. Unsere Freundschaft wird den Vereinigten Staaten um so mehr gehören, je schwerer dieses große Land an seinen Bürden trägt. Die Punkte, die ich skizziere, gehen realistisch davon aus, daß wir die Welt mit ihren Ordnungen und Gedankenkräften zunächst so nehmen müssen, wie sie heute ist. Wohl wissend, mit wieviel Unvollkommenem wir es zu tun haben, muß trotzdem der Versuch gemacht werden, ein Gebäude des Friedens zu errichten, das gegenüber alten Systemen und Egoismen Bestand haben kann und das sich ausbauen läßt. Erstens

heißt dies: Unsere gesamteuropäische Politik kann über die jahrhundertealten Identitäten von Nationen und Staaten nicht hinweggehen. Wir müssen vielmehr ein Gleichgewicht zwischen den Staaten und Staatengruppen schaffen und wahren, in dem die Identität und die Sicherheit eines jeden von ihnen geborgen sein kann. Ein solches Gleichgewicht muß aber mehr sein als nur ein ausgewogenes System militärischer Machtmittel. Zweitens : Wir müssen der Gewalt und der Androhung von Gewalt im Verkehr der Staaten entsagen, endgültig und ohne Ausnahme. Das schließt die Unverletzlichkeit bestehender Grenzen notwendig ein. Unantastbarkeit der Grenzen kann jedoch nicht heißen, sie als feindliche Barrieren zu zementieren. 306

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Drittens : Über den allgemeinen Gewaltverzicht — sei er bilateral oder multilateral ausgesprochen — hinaus können wir mehr Sicherheit erreichen durch gleichberechtigte europäische Teilnahme an speziellen Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle. Über den ausgewogenen Abbau von Truppenstärken in der Mitte Europas muß konkret verhandelt werden. Viertens : Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse anderer Staaten muß respektiert werden, aber Nichteinmischung ist nicht genug. Ein Europa des Friedens braucht die Bereitschaft zum Hinhören auf die Argumente des anderen, denn das Ringen der Überzeugungen und Interessen wird weitergehen. Europa braucht Toleranz. Nicht moralische Gleichgültigkeit, sondern Gedankenfreiheit. Fünftens : Die Zeit ist reif, neue Formen der wirtschaftlichen und technisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit zu entwickeln und eine gesamteuropäische Infrastruktur auszubauen. Und vor allem auch dies: Europa ist als Kulturgemeinschaft gewachsen; es sollte wieder werden, was es war. Sechstens: Soziale Gerechtigkeit gehört zu den Grundlagen eines dauerhaften Friedens. Materielle Not ist konkrete Unfreiheit. Sie muß, jedenfalls in Europa, durch Evolution überwunden werden. Siebteηs : Europa muß seiner weltweiten Verantwortung gerecht werden. Dies ist Mitverantwortung für den Weltfrieden. Dies hat auch Mitverantwortung für Gerechtigkeit nach außen zu bedeuten, um Hunger und Elend in der Welt zu überwinden. Friede ist mehr als Abwesenheit von Krieg, obwohl es Völker gibt, die hierfür heute schon dankbar wären. Eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung erfordert gleichwertige Entwicklungschancen für alle Völker. Hier geht es nicht um abstrakte Fernziele, sondern um die mögliche Versachlichung der Gegensätze heute. Ich weiß, daß dies manchen, gerade in der jungen Generation, zu wenig ist und daß es vielen überhaupt zu langsam geht. Es ist nicht schädlich, sondern hilfreich, wenn junge Menschen aufbegehren gegen das Mißverhältnis zwischen veralteten Strukturen und neuen Möglichkeiten. Wenn sie protestieren gegen den Widerspruch von Schein und Wirklichkeit. Idi halte nichts davon, der Jugend nach dem Mund zu reden. Aber ich werbe um die kritische und verantwortungsbewußte Mitarbeit ihrer unverbrauchten Kräfte. Wir brauchen Augenmaß, Beharrlichkeit und Ausdauer. Wir brauchen natürlich auch Sinn und Kraft für die neuen Dimensionen. Angesichts der Größe der Aufgaben bedarf es einer gesunden Mischung von Zukunftsglauben und nüchternem Realismus. Kann es im übrigen etwas Wichtigeres geben, als die Organisierung Europas und des Friedens mitzugestalten!" (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 13.12.1971) 20*

307

Herbert G. Marian Der

VI.

Parteitag

der

PZPR

in Warschau verabschiedet eine

Resolution über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der es u. a. heißt:

„Die konsequente Politik und vereinte Aktivität der sozialistischen Gemeinschaft hat die Erhaltung des Friedens in Europa über ein Vierteljahrhundert lang ermöglicht und Aussichten auf einen dauerhaften Frieden und auf breite Zusammenarbeit auf unserem Kontinent geschaffen. Ein günstiges Klima hierfür wurde geschaffen durch die Aktivität der fortschrittlichen und friedlichen Kräfte und durch die realistische Politik vieler europäischer Staaten. Anstelle des Kalten Krieges wird in Europa ein Klima der Entspannung und der Zusammenarbeit geschaffen. Ein Anfang wurde gemacht in dem wichtigen Prozeß der Normalisierung der Beziehungen in Mitteleuropa. Grundlage hierfür war und ist die Anerkennung des unabänderlichen Charakters und der Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen auf unserem Kontinent. Von fundamentaler Bedeutung für diesen Prozeß sind die 1970 zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland und zwischen Polen und der BRD geschlossenen Verträge. Damit wurde die Möglichkeit für die Viermächte-Vereinbarung über die Westberlin-Frage und auch über die Abkommen zwischen den Regierungen der DDR und der BRD und der DDR-Regierung und dem Westberliner Senat geschaffen. So sind alle wesentlichen Vorbedingungen für den Ubergang zu einer neuen Etappe im Bau eines Europas des Friedens, der Sicherheit und Zusammenarbeit geschaffen worden. Notwendig ist eine baldige Ratifizierung der mit der UdSSR und Polen geschlossenen Verträge durch die BRD sowie der positive Abschluß der Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und der BRD unter der Voraussetzung, daß die BRD die Ungültigkeit des Münchener Abkommens von Anfang an anerkennt. Ebenfalls notwendig ist die internationale Anerkennung der beiden deutschen Staaten — der DDR und der BRD — sowie ihr Beitritt zu den Vereinten Nationen und die Aufnahme von Beziehungen zwischen ihnen in Ubereinstimmung mit den Völkerrechtsnormen. Wir halten die baldige Einberufung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa für sehr wichtig. Die Idee dieser Konferenz hat die allgemeine Unterstützung der Nationen Europas und der Mehrheit der betroffenen Regierungen erhalten. Die Zeit ist jetzt reif für den Beginn aktiver und umfassender Vorbereitungen zur Durchführung der Konferenz im Jahre 1972. Namens aller Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags rief die jüngste Warschauer Außenministerkonferenz alle betroffenen europäischen Länder hierzu auf. Es bestehen alle Voraussetzungen dafür, daß diese Konferenz ein bedeutsames Ereignis für Europa bei der Konsolidierung der Beziehungen der Sicherheit und der Zusammenarbeit wird. Sie kann und sollte stark zur Schaffung eines Systems von Bindungen zwischen den Staaten Europas beitragen, das jede Gewaltanwendung oder -androhung ausschließt, die Wahrung des Prinzips der 308

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territorialen Integrität, der Respektierung ihrer Souveränität, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der gleichen Redite und Unabhängigkeit aller Staaten garantiert." (PAP, 11.12.1971) Die Bundesregierung leitet am 13. Dezember dem Bundesrat die Entwürfe der R a t i f i k a t i o n s g e s e t z e nebst Anlagen und Durchschriften zu den Verträgen von Moskau und Warschau zu, welche folgenden Wortlaut haben: Moskauer Vertrag Schreiben des Bundeskanzlers an den Präsidenten des Bundesrates. Bundeskanzler Willy Brandt sandte unter dem Datum des 11. Dezember 1971 an den Präsidenten des Bundesrates folgendes Schreiben:

„Hiermit übersende ich gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mit Begründung. Der Wortlaut des Vertrages in deutscher und russischer Sprache, die Denkschrift zum Vertrag — allgemeiner und besonderer Teil —, der Brief zur deutschen Einheit, die Note der Bundesrepublik Deutschland an die drei Westmädite sowie die Noten der drei Westmächte sind gleichfalls beigefügt. Federführend ist der Bundesminister des Auswärtigen." Vorblatt zum Vertragsgesetz

„Vertragsgesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Entwurf der Bundesregierung) A. Zielsetzung Der Vertrag ist ratifizierungsbedürftig (Art. 5). B. Lösung Der Entwurf trägt diesem Erfordernis Rechnung. Er enthält das Vertragsgesetz mit Begründung, den Text des Vertrages in deutscher und russischer Sprache sowie die Texte der dazu gehörigen Urkunden (Brief zur deutschen Einheit, Notenwechsel mit den drei Westmächten) und die Denkschrift zum Vertrag nebst Anlagen. C. Alternativen Keine D. Kosten Keine" 309

Herbert G. Marian Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

„Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen : Artikel 1

Dem in Moskau am 12. August 1970 unterzeichneten Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mit dem dazugehörigen Brief der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur deutschen Einheit an die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 sowie dem Notenwechsel zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten vom 7. August 1970 wird zugestimmt. Der Vertrag, der Brief und der Notenwechsel werden nachstehend veröffentlicht. Artikel 2

(1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. (2) Der Tag, an dem der Vertrag nach seinem Artikel 5 in Kraft tritt, ist im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben. Bonn, den Der Bundespräsident Der Bundeskanzler Der Bundesminister des Auswärtigen" Begründung JZu Artikel 1

Der Vertrag bedarf nach Artikel 59 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes der Zustimmung bzw. der Mitwirkung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes, da er die politischen Beziehungen des Bundes regelt. 2u Artikel 2

Die Bestimmung des Absatzes 1 entspricht dem Erfordernis des Artikels 82 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Nach Absatz 2 ist der Zeitpunkt, in dem der Vertrag nach seinem Artikel 5 in Kraft tritt, im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben. Schlu ßbemerkung

Bund, Länder und Gemeinden werden durch die Ausführung des Gesetzes nicht mit Kosten belastet." Hier folgt bei den dem Bundesrat zugeleiteten Dokumenten: — der Wortlaut des Vertrages in deutscher und russischer Sprache, — der Brief zur deutschen Einheit, — der Notenwechsel der Bundesrepublik mit den drei Westmächten in den Originalsprachen. 310

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Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 „Allgemeiner Teil I.

Der am 12. August 1970 unterzeichnete Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR legt Grundsätze für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den vertragsabschließenden Staaten fest. Die Mitglieder der Allianz haben den Vertrag als Beitrag zur Minderung der Spannungen in Europa und als ein wichtiges Element des Modus vivendi, den die Bundesrepublik mit ihren östlichen Nachbarn herstellen will, begrüßt. Die Politik der Bundesregierung, zu deren Ergebnissen auch der Vertrag von Moskau gehört, ist Teil der Bemühungen des Atlantischen Bündnisses um die Sicherheit des Friedens in Europa. In diesem größeren Rahmen eingebettet bemüht sie sich, bessere Voraussetzungen für Fortschritte auch in der deutschen Frage zu schaffen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Kapitulation ist die deutsche Frage noch immer ungelöst. Das deutsche Volk ist gegen seinen Willen in zwei Staatswesen organisiert. Der Zeitpunkt, in dem es sich in freier Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts wieder vereinigt, läßt sich heute nicht voraussehen. Sicher aber kann nur über eine längere Periode der Annäherung und des Abbaus von Spannungen ein Zustand des Friedens in Europa erreicht werden, in dem das deutsche Volk seine Einheit wiedererlangt. Dem deutsch-sowjetischen Verhältnis kommt für die Herbeiführung eines solchen Zustandes eine Schlüsselrolle zu. Der zwischen den Siegermächten schon wenige Jahre nach 1945 aufbrechende Gegensatz führte dazu, daß zunächst eine Einigung über das Schicksal Deutschlands insgesamt nicht mehr möglich war und beiderseits der Elbe zwei deutsche Staatswesen entstanden. Die Bundesrepublik hat sich in der Folge darauf konzentriert, ihr Verhältnis zu den Nachbarn im Westen zu ordnen und sich in die Völkerrechtsgemeinschaft einzugliedern. Sie beteiligte sich zunehmend an multilateralen Verträgen und Zusammenschlüssen und entwickelte zur großen Mehrheit der Mitglieder der Staatengemeinschaft normale Beziehungen. Zu einer Normalisierung des Verhältnisses zu den osteuropäischen Staaten kam es zunächst nicht. Auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR im Jahre 1955 sowie der spätere Abschluß von Abkommen über allgemeine Fragen des Handels und der Seeschiffahrt und über den Warenverkehr sowie eines Konsularvertrages schufen zwar eine erste Grundlage, bewirkten aber noch keine nachhaltige Besserung der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR. Im Jahre 1959 unternahm der damalige Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer einen neuen Versuch, den toten Punkt in den Beziehungen zur UdSSR zu überwinden: Er schlug der sowjetischen Regierung einen langfristigen Burgfrieden in der deutschen Frage vor. Die sowjetische Regierung ging auf diesen Vorschlag nicht ein. 311

Herbert G. Marian

In Fortsetzung dieser Bemühungen regte die Regierung Bundeskanzler Erhards in ihrer an alle Staaten gerichteten Friedensnote vom 25. März 1966 den Austausch von Erklärungen über den Verzicht auf die Anwendung von Gewalt zur Regelung internationaler Streitfragen zwischen der Bundesrepublik einerseits, der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten auf der anderen Seite, an. Diesen Gedanken nahm die sowjetische Regierung auf. Sie trat Anfang 1967 in einen Meinungsaustausch mit der Bundesregierung über den Austausch entsprechender deutsch-sowjetischer Erklärungen ein. Dieser bis Juli 1968 auf diplomatischer Ebene geführte deutsch-sowjetische Meinungsaustausch machte insbesondere im Memorandum der sowjetischen Regierung vom 21. November 1967 und in ihrem Aide Memoire vom 5. Juli 1968 deutlich, daß die Sowjetunion den Gewaltverzicht in einer Fixierung des politischen Status quo einschließlich einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR konkretisiert sehen wollte. Die Bundesrepublik sollte darüber hinaus den Status Westberlins als einer besonderen politischen Einheit' achten. Sie sollte die Nichtigkeit ex tune des Münchner Abkommens anerkennen. Schließlich stellte die Sowjetunion Forderungen, die unter dem Stichwort »Durchführung des Potsdamer Abkommens' die innere Ordnung der Bundesrepublik betrafen. Darüber hinaus berief sich Moskau ausdrücklich auf ein Recht auf Zwangsmaßnahmen gegen die Bundesrepublik, das es in der UNO-Charta verbrieft zu sehen glaubte. Diese Phase wurde von der Sowjetunion durch eine heftige, gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Polemik belastet. II. Nach seiner Unterbrechung unmittelbar vor der CSSR-Krise wurde der Meinungsaustausch im Juli 1969 wieder aufgenommen. Ohne zunächst von ihren grundsätzlichen Forderungen abzurücken, konzentrierte die sowjetische Seite ihr Interesse auf die konkrete Erörterung der nach ihrer Auffassung mit dem Verzicht auf Gewalt zusammenhängenden Fragen. Die im Oktober 1969 gebildete neue Bundesregierung bestätigte es als ihr ausdrückliches Ziel, auch der Sowjetunion und den anderen Staaten in Osteuropa gegenüber eine Politik des Ausgleichs und des Gewaltverzichts zu führen. In ihrer Regierungserklärung setzte sie dabei neue Akzente: — sie bestritt nicht mehr die Existenz zweier Staaten in Deutschland; — sie machte ihre Einstellung zu den internationalen Beziehungen der DDR von deren Haltung zu den innerdeutschen Fragen abhängig; — sie kündigte einen Termin für Verhandlungen mit der Sowjetunion und einen Vorschlag zur Aufnahme von Gesprächen mit Polen an; — sie erklärte sich bereit, den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen zu unterzeichnen. Auf Vorschlag des Bundesministers des Auswärtigen begannen im Dezember 1969 in Moskau intensivere Gespräche, die für die Bundesregierung von ihrem Botschafter in Moskau geführt wurden. Es ergab sich dabei, daß zunächst die Grundfragen der gegenseitigen Beziehungen geklärt und das gegenseitige Mißtrauen abgebaut werden mußten, ehe man zu konkreten Verhandlungen gelangen konnte. 312

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Deshalb entschloß sich die Bundesregierung, den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr, nach Moskau zu entsenden. Er führte von Januar bis Mai 1970 einen umfassenden Meinungsaustausch mit Außenminister Gromyko, der die Formulierung einer Reihe gemeinsamer Leitsätze ergab. Nach Absdiluß dieser Gespräche berichteten die beiden Beauftragten ihren Regierungen. Vom 27. Juli bis zum 7. August 1970 wurden sodann zwischen dem Bundesminister des Auswärtigen und dem sowjetischen Außenminister in Moskau Vertragsverhandlungen auf der Grundlage der ersten vier Leitsätze geführt. Als Ergebnis dieser Verhandlungen wurde der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 7. August 1970 paraphiert und am 12. August 1970 in Moskau unterzeichnet. III. In den Verhandlungen wurde der Regierung der Sowjetunion nachdrückich gesagt, daß es unser Ziel bleibt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dies wurde dem sowjetischen Außenminister in einem Schreiben des Bundesministers des Auswärtigen bestätigt, das dem sowjetischen Außenministerium am Tage der Vertragsunterzeichnung übermittelt wurde. Die Sowjetunion hat in den Verhandlungen erklärt, daß sie ihre eigenen Vorstellungen habe, wie die künftige deutsche Einheit beschaffen sein soll. Es ist bekannt, daß sie nicht dasselbe Ziel verfolgt wie die Bundesrepublik und ihre westlichen Verbündeten. Die Zeit für eine einvernehmliche Regelung der Deutschlandfrage ist noch nicht gekommen. Wir haben der Sowjetunion bestätigt, daß wir unsere nationalen Ziele niemals mit Gewalt durchsetzen wollen. Die Sowjetunion ihrerseits hat in den Verhandlungen bestätigt, daß es kein Verstoß gegen den Vertrag ist, wenn wir diese Ziele mit friedlichen Mitteln zu erreichen suchen (vgl. Anlage 1). Da eine friedensvertragliche Regelung noch aussteht, sind die beiden vertragschließenden Parteien davon ausgegangen, daß der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika nicht berührt. Die sowjetische Seite hat sich während der Verhandlungen ausdrücklich damit einverstanden erklärt, daß die Bundesregierung den drei Alliierten eine sowjetische Erklärung übermittelt, wonach die Frage dieser Rechte nicht berührt wird. Die Leitsätze 5 bis 10 waren nicht Gegenstand der Verhandlungen. Sie wurden als übereinstimmende politische Absichtserklärungen bestätigt, die mit dem Vertrag nicht verbunden sind. Ihr Gegenstand ist die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Ländern, der Beziehungen zur DDR, die Fortentwicklung der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und sonstigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR sowie die Frage einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. IV. Der Moskauer Vertrag soll für unser Verhältnis zur Sowjetunion eine neue Grundlage bilden. Diese ist in dem beiderseitigen uneingeschränkten Gewalt313

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verzieht, dem Kernstück des Vertrages, zu sehen. Es ist offenkundig, daß hierbei von dem ausgegangen werden mußte, was ist. Der ehrliche Versuch, ungeachtet aller noch vorhandenen, zum Teil tiefgreifenden und jedenfalls zur Zeit nicht überbrückbaren ideologischen und sachlichen Divergenzen zu einem dauerhaften politischen Modus vivendi mit der Sowjetunion zu kommen, soll dem Frieden in Europa dienen. Der Vertrag ist gleichzeitig eine Basis für die Entwicklung der künftigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den anderen osteuropäischen Staaten. Auf der festen Grundlage unserer Verträge mit den westlichen Verbündeten soll er eine Phase der Normalisierung und gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Staaten Osteuropas einleiten. Er hat große Bedeutung für die Bemühungen um die Normalisierung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten und entscheidende für das Zustandekommen einer befriedigenden BerlinRegelung. Zusammen mit anderen Schritten, besonders auf dem Gebiet der Abrüstung und der Rüstungskontrolle, sowie mit Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit soll der deutsch-sowjetische Gewaltverzicht dazu beitragen, daß ein politischer Prozeß in Gang gesetzt wird, in dessen Verlauf die unnatürliche Zerrissenheit des Kontinents überwunden werden kann. Nur in einem solchen Prozeß liegt die Hoffnung der Deutschen, die Einheit ihrer Nation zu wahren. Wir dienen mit dieser Politik nicht nur dem allgemeinen Interesse des Friedens, sondern auch dem besonderen Anliegen unseres Volkes. Besonderer Teil

Absatx I der Präambel ist das Leitmotiv des Vertrages: Die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der Welt. Absatx II der Präambel nennt die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen als Maßstäbe für ein friedliches Zusammenleben der Staaten. Sie sind in Artikel 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt. Zu ihnen gehören namentlich auch die Grundsätze der Selbstbestimmung, der friedlichen Regelung von Streitfragen, der souveränen Gleichheit der Staaten und der Achtung der Menschenrechte. Absatx III der Präambel erinnert an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 13. September 1955 sowie an die im Anschluß hieran getroffenen Vereinbarungen, die auf der Uberzeugung beider Staaten beruhten, sie würden der Entwicklung des gegenseitigen Verständnisses und der Zusammenarbeit beider Staaten im Interesse des Friedens und der Sicherheit in Europa dienen. Eben dieses Ziel wird auch in Absatz I der Präambel angesprochen. Zugleich wird damit auch die in Artikel 4 allgemein formulierte Tatsache hervorgehoben, daß die deutsch-sowjetische Vereinbarung vom Jahre 1955 aus dem Briefwechsel zwischen dem damaligen Bundeskanzler Adenauer und dem damaligen sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin nach wie vor gültig ist und vom Moskauer Vertrag unberührt bleibt. Absatx IV der Präambel weist in die Zukunft; er drückt den gemeinsamen Wunsch beider Parteien aus, ihrer Entschlossenheit zur Verbesserung und Er314

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Weiterung der Zusammenarbeit zwischen ihnen in vertraglicher Form Ausdruck zu verleihen, einschließlich der wirtschaftlichen Beziehungen sowie der wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Verbindungen. Artikel 1 bekräftigt noch einmal das Ziel beider Staaten, den Frieden zu erhalten und die Entspannung zu erreichen. Wenn die Parteien in Absatz 2 dieses Artikels bekunden, daß sie von der in Europa bestehenden wirklichen Lage ausgehen, so steht diese Erklärung im Zusammenhang mit dem gleichfalls genannten Ziel, die Normalisierung der Lage in Europa und die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen allen europäischen Staaten zu fördern. Diese Lage kann im Hinblick auf die in Europa bestehenden Spannungen und die ungelöste deutsche Frage nicht als normal angesehen werden. Es bleibt das Ziel dieser Bundesregierung, wie es auch Ziel der vorhergehenden Bundesregierungen war, zu einer gerechten und die legitimen Bestrebungen der europäischen Völker berücksichtigenden Friedensordnung beizutragen, in der das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Artikel 2 hat den beiderseitigen Gewaltverzicht zum Inhalt. Sein erster Satz verweist auf die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, von denen sich beide Vertragsparteien in ihren gegenseitigen Beziehungen und in den Fragen der Gewährleistung der europäischen und der internationalen Sicherheit leiten lassen wollen. Unter den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen sind in diesem Zusammenhang die Verpflichtungen der Staaten hervorzuheben, in den internationalen Beziehungen die Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen (Artikel 2 Ziffer 4) und Streitfragen mit friedlichen Mitteln beizulegen (Artikel 2 Ziffer 3 der Charta). Im zweiten Satz des Artikels 2 konkretisieren beide Staaten die Verpflichtung aus Satz 1, indem sie erklären, daß sie ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen werden. Sie schließen für alle Fragen, die die internationale Sicherheit und die Sicherheit in Europa berühren, sowie für den gesamten Bereich ihrer gegenseitigen Beziehungen die Androhung oder Anwendung von Gewalt aus. Somit gilt für alle Probleme, die das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR betreffen, der umfassende Gewaltverzicht. Die hier vereinbarte Formulierung schließt eine Anwendung oder Androhung von Gewalt seitens der Sowjetunion — auch unter Berufung auf die in Artikel 53 und 107 der Charta der Vereinten Nationen vorgesehene Freistellung von den Bestimmungen dieser Charta — aus (vgl. Anlage 2). Artikel 3 ist durch seine einleitenden Worte ,in Ubereinstimmung mit den vorstehenden Zielen und Grundsätzen' als Konkretisierung des in Artikel 2 vereinbarten Gewaltverzichtes zu verstehen. Satz 1, in dem beide Parteien feststellen, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet, ist allgemeiner Obersatz zu den nachfolgenden Unterabsätzen, in denen beiderseitige Verpflichtungen und Erklärungen formuliert werden. Der erste Unterabsatz verpflichtet die Vertragsparteien, die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu 315

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achten. Der Ausdruck »uneingeschränkt achten* besagt, daß sich die Vertragsparteien verpflichten, den gegenwärtigen tatsächlichen Zustand nicht durch Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu verändern. Der zweite Unterabsatz enthält die Erklärung, daß beide Seiten keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Eine solche Erklärung hat die Bundesregierung wiederholt, so in ihrer Antwort vom 9. April 1968 auf die sowjetischen Memoranden vom 17. Oktober und 21. November 1967, ausgesprochen. In dem dritten Unterabsatz erklären die Bundesrepublik Deutschland und die UdSSR, daß sie die Grenzen aller Staaten in Europa als »unverletzlich' betrachten. Diese Feststellung schließt eine friedliche und einvernehmliche Berichtigung oder Änderung von Grenzen nicht aus. Artikel 3 wendet sich insgesamt nur gegen gewaltsame Grenzänderungen (vgl. Anlage 1). Im Einklang damit bedeutet die in Artikel 3 Unterabsatz 3 enthaltene Anwendung dieses Grundsatzes auf die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR keinen Verzicht auf die Fortsetzung der Politik der Bundesrepublik, die auf die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen gerichtet ist. Die Bundesregierung hat ihr politisches Ziel, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, in einem vom Bundesminister des Auswärtigen am 12. August 1970 an den sowjetischen Außenminister gerichteten Brief festgehalten. Uber diesen Brief und sein Thema ist in den Vorgesprächen und Verhandlungen in Moskau ausführlich diskutiert worden. Er ist ein Dokument, das im Zusammenhang mit dem Vertrag, auf den der Brief verweist, von einer Vertragspartei verfaßt und von der anderen entgegengenommen worden ist. Der Brief muß daher zur Interpretation des Vertrages herangezogen werden. Durch Absatz 3 der Präambel und durch Artikel 4 des Vertrages (Fortgeltung der früher geschlossenen Verträge und Vereinbarungen) wird darüber hinaus auch auf die Erklärung zur Deutschlandfrage in dem Briefwechsel vom 13. September 1955 Bezug genommen. Artikel 4 enthält die Klarstellung, daß der Vertrag frühere einseitige und mehrseitige Verträge beider Seiten nicht berührt. Dies schließt die Bestimmungen des Vertrages über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26. Mai 1952 i. d. F. vom 23. Oktober 1954 und insbesondere dessen Artikel 7 sowie die deutsch-sowjetische Vereinbarung vom 13. September 1955 ein. Anlagen zur Denkschrift Anlage 1 Äußerungen des sowjetischen Außenministers in den Verhandlungen Bundesminister des Auswärtigen am 29. Juli 1970: 1. Zur Frage der Anerkennung der Grenzen

Wir sind Ihnen entgegengekommen in der Grenzfrage, als wir den Begriff Anerkennung fallengelassen haben. Das war für uns ein sehr komplizierter und politisch schmerzhafter Prozeß. 316

mit dem

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2. Zur Frage einvernehmlicher

Grenzänderungen

Jetzt etwas, um Ihre Bedenken zu zerstreuen. Wenn zwei Staaten freiwillig ihre Vereinigung beschließen, oder Grenzen korrigieren, wie wir das selbst mit Norwegen, Afghanistan und Polen, dort sogar mehrmals, gemacht haben, oder wenn die Staaten ζ. B. ihre gemeinsamen Grenzen aufgeben und sich vereinigen wollen wie Syrien und Ägypten, so wäre uns nicht eingefallen, hier zu kritisieren, denn dies ist Ausdrude der Souveränität und gehört zu den unveräußerlichen Rechten der Staaten und Völker. Wer hier Fragen stellt, sieht Probleme, wo keine sind. 3. Zur Frage der Wiedervereinigung

Deutschlands

Die dritte Frage, in der wir Ihnen entgegengekommen sind, ist die Wiedervereinigung Deutschlands als zukünftige Perspektive. Ihre Position ist klar, die unsere auch. Auch wir haben unsere Vorstellung, wie die künftige deutsche Einheit beschaffen sein soll. Wir könnten einen Vertrag machen, der das Kreuz über alle Pläne zur Wiedervereinigung Deutschlands setzen würde. Dann stünde jede Äußerung über die Wiedervereinigung im Gegensatz zum Vertrag. Anlage 2 Äußerungen des sowjetischen Außenministers in den Verhandlungen mit dem Bundesminister des Auswärtigen am 29. Juli 1970: Zur Frage eines Interventionsanspruchs

Die zweite prinzipielle Frage, in der wir Ihnen entgegengekommen sind, ist der Gewaltverzicht unter Berücksichtigung der UNO-Satzung. Wir verstehen Ihr Interesse an dieser Frage. Die Geschichte kann man nicht widerrufen. Aus ihr folgte eine Bestimmung der UNO-Satzung. Wir haben uns trotzdem entschlossen, mit Ihnen einen Gewaltverzicht abzuschließen, d. h. die Verpflichtung zu übernehmen und sie zu ratifizieren. In dem von uns angenommenen Text steht das Wort ausschließlich' (mit friedlichen Mitteln). Wir haben keinerlei Ausnahmen vorgesehen. Das ist unsere Antwort auf Ihre innenpolitische Diskussion. Ich betone erneut das Wort ,ausschließlich'. Glauben Sie, daß das für uns nur ein Fetzen Papier ist? Das ist es nicht." Warschauer Vertrag Schreiben des Bundeskanzlers an den Präsidenten des Bundesrates Bundeskanzler Willy Brandt sandte unter dem Datum des 11. Dezember 1971 an den Präsidenten des Bundesrates folgendes Schreiben:

„Hiermit übersende ich gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlage der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 mit Begründung. 317

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Der Wortlaut des Vertrages in deutsdier und polnischer Sprache, die Denkschrift zum Vertrag, die Note der Bundesregierung an die drei Westmädite, die Antwortnote der drei Westmächte an die Bundesregierung sowie eine Information der Regierung der Volksrepublik Polen sind gleichfalls beigefügt. Federführend ist der Bundesminister des Auswärtigen". Vorblatt zum Vertragsgesetz „Vertragsgesetz zu dem Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen

A. Zielsetzung Der Vertrag ist ratifizierungsbedürftig (Art. 5). B. Lösung Der Entwurf trägt diesem Erfordernis Rechnung. Er enthält das Vertragsgesetz mit Begründung, den Text des Vertrages in deutscher und polnischer Sprache sowie die Texte der dazu gehörigen Urkunden (Notenwechsel mit den drei Westmächten) und die Denkschrift zum Vertrag nebst Anlagen. C. Alternativen Keine D. Kosten Keine." Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen

„Der Bundestag hat das folgende Gesetz' beschlossen: Artikel 1

Dem in Warschau am 7. Dezember 1970 unterzeichneten Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen mit dem dazugehörigen Notenwechsel zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten vom 19. November 1970 wird zugestimmt. Der Vertrag und der Notenwechsel werden nachstehend veröffentlicht. Artikel 2

(1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. (2) Der Tag, an dem der Vertrag gemäß seinem Artikel V in Kraft tritt, ist im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben. Der Bundespräsident Der Bundeskanzler Der Bundesminister des Auswärtigen" 318

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Begründung zum Vertragsgesetz „Zu Artikel 1:

Der Vertrag bedarf nach Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes der Zustimmung bzw. der Mitwirkung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes, da er die politischen Beziehungen des Bundes regelt. Zu Artikel 2:

Die Bestimmung des Absatzes 1 entspricht dem Erfordernis des Artikels 82 Absatz 2 des Grundgesetzes. Nach Absatz 2 ist der Zeitpunkt, an dem der Vertrag nadi seinem Artikel V in Kraft tritt, im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben. Schlu ßbemerkung

Bund, Länder und Gemeinden werden durch die Ausführung des Gesetzes nicht mit Kosten belastet." Hier folgt bei den dem Bundesrat zugeleiteten Dokumenten: — Wortlaut des Vertrages in deutscher und polnischer Sprache, — Notenwechsel der Bundesrepublik mit den drei Westmächten in den Originalsprachen. Denkschrift der Bundesregierung „I. Allgemeiner Teil

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen ist vor allem durch den Zweiten Weltkrieg schwer belastet. Polen war das erste Opfer des von Hitler entfesselten Angriffskrieges. Der Krieg und die nationalsozialistischen Gewalttaten, später die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus ihrer Heimat in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches haben unermeßliches Leid über beide Völker gebracht. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in beiden Völkern die Uberzeugung durchgesetzt, daß nur der Wille zur Versöhnung den Weg für die Schaffung normaler und guter Beziehungen frei machen kann. Schon die Regierung der Großen Koalition hatte in ihrer Regierungserklärung dem Wunsch des deutschen Volkes nach einer Aussöhnung mit Polen Ausdruck gegeben und ihr Verständnis für das Verlangen des polnischen Volkes bekundet, in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben. Die gegenwärtige Bundesregierung hat diese Auffassung in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 bekräftigt und weiterentwickelt. Erklärungen des damaligen polnischen Parteichefs Gomulka vom 17. Mai 1969 und des polnischen Außenministers vom 16. Oktober 1969 hatten eine Bereitschaft der polnischen Regierung erkennen lassen, die seit langem erstarrten Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern. Am 4. Februar 1970 wurden zwischen der Bundesregierung und der polnischen Regierung Gespräche aufgenommen, die auf deutscher Seite der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Duckwitz, auf polnischer 319

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Seite Vizeaußenminister Winiewicz führten, und die in den folgenden Monaten abwechselnd in Warschau und in Bonn bis zum Oktober 1970 fortgeführt wurden. Nach einer abschließenden Phase intensiver Verhandlungen, die der Bundesminister des Auswärtigen und der polnische Außenminister vom 4. bis 14. November 1970 in Warschau führten, wurde der deutsch-polnische Vertrag über die Grundlagen der Normalisierung der Beziehungen in Warschau am 18. November 1970 paraphiert und am 7. Dezember 1970 von Bundeskanzler Brandt und dem polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz sowie den beiden Außenministern unterzeichnet. Der Vertrag soll für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Volksrepublik Polen eine neue Grundlage schaffen und zugleich einen Beitrag zur Entspannung im Ost-West-Verhältnis leisten. Die Bundesregierung betrachtet ihn als ein Kernstück ihrer Bemühungen um einen friedlichen Ausgleich mit Osteuropa, der von dem Grundsatz des Gewaltverzichts ausgeht. Im Verhältnis zu Polen stand unausweichlich die Grenzfrage im Mittelpunkt der Verhandlungen. Ohne ein Einvernehmen in dieser Frage ist ein Ausgleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen nicht erreichbar. Die Bundesregierung ist deshalb auf den Wunsch der polnischen Regierung eingegangen, die Grenzfrage in dem Vertrag an erster Stelle zu behandeln. Sie ist dabei von einer nüchternen Einschätzung der Lage ausgegangen, die als Folge des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage des Deutschen Reiches entstanden ist. Der Vertrag beruht auf der Erkenntnis, daß nur auf dieser Grundlage Versöhnung und eine konstruktive Entwicklung der Beziehungen mit Polen möglich sind. In dem Vertrag stellen die Vertragspartner übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf auf der Potsdamer Konferenz von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Die polnische Regierung hat den Vertrag in Kenntnis der rechtlichen Vorbehalte unterschrieben, die in den Vertragsverhandlungen von deutscher Seite im Hinblick auf die Grenzfrage immer wieder betont worden sind und die in Artikel IV des Vertrages sowie in dem Notenwechsel mit den Drei Mächten zum Ausdruck kommen. In dem Notenwechsel wird klargestellt, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Berlin und für Deutschland als Ganzes durch den Vertrag nicht berührt werden und daß die Bundesregierung nur für die Bundesrepublik Deutschland handelt. Die Bundesregierung will und kann ein wiedervereinigtes Deutschland durch den Vertrag nicht binden. Andererseits wird auch ein wiedervereinigtes Deutschland, das das Grundgesetz als friedliches Ziel deutscher Politik voranstellt, die bestehende Lage, von der der deutsch-polnische Vertrag ausgeht, nicht außer Betracht lassen können. Es wird hierbei insbesondere auch die Haltung der Drei Mächte berücksichtigen müssen. Jedoch hat die Bundesregierung auch gegenüber Polen einem Friedensvertrag für Deutschland als Ganzes nicht vorgegriffen. Die Vertragsparteien bekräftigen den Gewaltverzicht und das Bekenntnis zu den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen. Damit wird förmlich 320

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bestätigt, daß diese Grundsätze für die Gestaltung der gegenseitigen Beziehungen maßgebend sein sollen. Das dritte tragende Element des Vertrags ist die Bereitschaft der Vertragspartner zu konkreten Schritten mit dem Ziel, ihre gegenseitigen Beziehungen zu normalisieren und umfassend fortzuentwickeln. Damit bekräftigen beide Seiten ihren Willen zu einer breiten Zusammenarbeit, für die die Feststellung zur Grenzfrage und der Gewaltverzicht die Voraussetzungen schaffen. Im Zusammenhang mit dem Vertrag steht eine Verständigung über die Behandlung von Problemen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Vertreibung des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung und der Unterstellung der ostdeutschen Provinzen unter polnische Verwaltung ergeben haben. Dabei geht es um das Schicksal getrennter Familien und Personen unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit, die in Polen zurückgeblieben sind. Diese Fragen waren Gegenstand intensiver Verhandlungen. Die polnische Seite hat sich der Notwendigkeit, auch diese Probleme im Interesse der Menschen und der angestrebten Normalisierung der Beziehungen zu lösen, nicht verschlossen. So konnte schließlich eine praktische Regelung erreicht werden. Die polnische Regierung hat uns in Form einer ,Information* über Maßnahmen unterrichtet, die sie treffen wird und die sie inzwischen auch eingeleitet hat. Der Vertrag eröffnet den Weg, um unser Verhältnis zu Polen zu normalisieren und die gegenseitigen Beziehungen auf einer neuen Grundlage im Interesse beider Völker positiv auszugestalten. Ausdruck eines neuen und besseren Verhältnisses zur Volksrepublik Polen soll die Aufnahme diplomatischer Beziehungen unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrages sein, die bei der Unterzeichnung des Vertrages vereinbart wurde. IL Besonderer Teil

Erläuterungen des Vertrages im einzelnen. Präambel

Der erste Absatz weist auf die leidvolle Vergangenheit hin, die den Hintergrund des Vertrages bildet. Die folgenden Absätze bringen den Willen der Vertragsparteien zum Ausdruck, normale und gute Beziehungen zueinander zu entwickeln und damit zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa beizutragen. Sie weisen damit über die Vergangenheit hinaus in die Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen, für deren Gestaltung der Vertrag die Grundlagen schaffen soll. Artikel I

Artikel I enthält im ersten Absatz die Feststellung, daß die Oder-Neiße-Linie die westliche Staatsgrenze Polens bildet. Diese Feststellung wird die Bundesrepublik Deutschland vom Inkrafttreten des Vertrages an binden, ohne rückwirkende Kraft zu haben. Die Bundesrepublik Deutschland wird hiernach die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellen; sie macht ihre Haltung nicht davon abhängig, wann eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland zustande kommen wird. 21

Königsberg

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Die Formulierung des Absatzes 1, in dem der Verlauf der Grenzlinie unter Bezug auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz beschrieben wird, ist so gefaßt, daß die unterschiedlichen Standpunkte beider Seiten zur rechtlichen Bedeutung des Potsdamer Abkommens unberührt bleiben. Artikel I Abs. 1 besagt nicht, daß bereits auf der Potsdamer Konferenz die westliche Staatsgrenze Polens festgelegt worden sei. Das Wort festgelegt* bezieht sich nicht auf die Worte ,westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen', sondern auf die beiden Worte »Verlauf* und ,Grenzlinie*. Dieses Wort kann daher nur im Sinne dessen verstanden werden, was in Potsdam seinerzeit tatsächlich geschehen und in dem Konferenzprotokoll niedergelegt ist. Im Potsdamer Konferenzprotokoll wurde der Verlauf der Oder-NeißeLinie beschrieben, um die unter polnische Verwaltung gestellten Gebiete abzugrenzen, während gleichzeitig eine endgültige Festlegung der deutsch-polnischen Grenze ausdrücklich einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten blieb. Den Potsdamer Beschlüssen selbst wird durch Artikel I Abs. 1 von deutscher Seite nachträglich keine andere und weitergehende rechtliche Bedeutung zuerkannt, als sich aus dem Wortlaut dieser Beschlüsse und aus den Umständen ergibt, unter denen sie zustande gekommen sind. Im übrigen bekräftigt Artikel I den Willen der Vertragspartner, das Prinzip der territorialen Integrität zu achten, und ihre Absicht, gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche zu erheben. Die Bundesregierung hat gegenüber der polnischen Regierung klargestellt, daß der Vertrag nicht bedeutet, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren. Artikel II

Artikel I I enthält die Verpflichtung der Vertragsparteien, sich in der Gestaltung ihrer gegenseitigen Beziehungen von den Grundsätzen des Gewaltverbots und der friedlichen Streitschlichtung leiten zu lassen. Sie betonen damit ihren Willen, anerkannte Prinzipien des Zusammenlebens der Völker auch in ihren gegenseitigen Beziehungen vorbehaltlos anzuwenden. Artikel III

Artikel I I I Abs. 1 gibt dem Willen der Vertragsparteien Ausdruck, ihre gegenseitigen Beziehungen positiv auszugestalten und Schritte zur vollen Normalisierung und umfassenden Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen zu unternehmen, deren feste Grundlage der Vertrag bildet. Artikel I I I Abs. 2 bezeichnet Gebiete, auf denen nach übereinstimmender Auffassung der vertragschließenden Parteien die Erweiterung der Zusammenarbeit im beiderseitigen Interesse liegt. Die Aufzählung umfaßt die wichtigsten Bereiche bilateraler Zusammenarbeit; sie ist jedoch nicht erschöpfend. Artikel IV

Artikel IV stellt klar, daß von den Vertragsparteien früher geschlossene oder sie betreffende internationale Vereinbarungen durch den Vertrag nicht berührt werden. Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen ihren Standpunkt bekräftigt, daß 322

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— die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte, wie sie in den bekannten Verträgen und Vereinbarungen ihren Niederschlag gefunden haben, durch den Vertrag nicht berührt werden und daß diese Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes fortbestehen, weil eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland noch nicht zustande gekommen ist; — die Bundesregierung nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handelt und ein wiedervereinigtes Deutschland durch den Vertrag nicht gebunden wird. Die Bundesregierung hat diesen ihren Standpunkt in einem Notenwechsel mit den Regierungen der drei Westmächte niedergelegt. Der Notenaustausch wurde am 19. November 1970, d. h. zwischen Paraphierung und Unterzeichnung des Vertrages, vollzogen. Form und Inhalt der Noten an die Drei Mächte waren in den Vertragsverhandlungen mit der polnischen Seite erörtert worden. Der Text dieser Noten wurde am 20. November 1970 von dem Leiter unserer Handelsvertretung mit einer Mantelnote dem polnischen Außenministerium in Warschau übergeben; er ist damit der polnischen Regierung notifiziert worden. Bei der I n f o r m a t i o n der Regierung der Volksrepublik Polen handelt es sich um eine einseitige Erklärung der polnischen Regierung, die formal nicht Bestandteil des Vertrages ist und die nicht der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften unterliegt. Die Information wurde von der Bundesregierung zusammen mit dem Vertragstext veröffentlicht. In der Information sichert die polnische Regierung zu, daß — sie die Familienzusammenführung beschleunigen und verbessern wird (Ziff. 1, 3); — auch außerhalb der Familienzusammenführung Personen unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen können (Ziff. 2); — die Zusammenarbeit der Rotkreuzgesellschaften der beiden Länder bei der Durchführung der Umsiedlungsaktion in jeder erforderlichen Weise erleichtert werden wird (Ziff. 4); — sie nach Inkrafttreten des deutsch-polnischen Vertrags Verwandtenbesuche im gleichen Maße wie gegenüber anderen westeuropäischen Staaten ermöglichen wird (Ziff. 5). Diese Zusagen stellen wesentliche Verbesserungen gegenüber dem bisherigen Zustand dar." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 15.12.1971) Der Erste Sekretär des Z K der SED, H o n e c k e r , gung des Z K am 17. Dezember u. a. aus:

führt auf der 4. T a -

„Zu der sich verändernden Welt, von der wir aufgrund der gewachsenen Stärke des Sozialismus mit Recht sprechen, gehört die gefestigte Position unserer Deutschen Demokratischen Republik. Was haben die Politiker und Propagandisten im Westen nicht alles angestellt, um den Prozeß der steten Konsolidierung der 21·

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DDR aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen! Alle diese Versuche sind gescheitert. Von allen ,gesamtdeutschen' oder ,innerdeutschen' Fiktionen ist nichts übriggeblieben." „So, liebe Genossen, erweist sich sehr eindrucksvoll, daß der vom VIII. Parteitag begründete und beschlossene Kurs der stärkeren Profilierung der Deutschen Demokratischen Republik als souveräner sozialistischer Staat im Herzen Europas richtig ist und seine Früchte trägt. Die Politik der klassenmäßigen Abgrenzung des Sozialismus vom Imperialismus gründet sich bekanntlich auf einen objektiven Prozeß. Daran ändert auch nichts die Behauptung bestimmter Kreise im Westen, im Zuge der Entspannung würde sich dies ins Gegenteil verkehren. Dieser Trick ist leicht zu durchschauen. Bei uns weiß man seit eh und je, daß das Verhältnis von zwei Staaten nichts damit zu tun hat, ob man eine Tante oder einen Onkel im Ausland hat, zum Beispiel in der Schweiz, in der Bundesrepublik, in Österreich, Frankreich oder in den USA. So einfach liegen die Dinge: Wir leben in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik, und andere leben in kapitalistischen Ländern. Nicht der Grad der Verwandtschaft dieses oder jenes Bürgers, sondern der Charakter der Gesellschaftsordnung des Staates, in dem man lebt, gibt hier den Ausschlag. Hier geht es um politische Realitäten, um die Frage Sozialismus oder Kapitalismus. Heute ist es klar, daß die Integration der Deutschen Demokratischen Republik in die sozialistische Gemeinschaft, ihr enges Bündnis mit der Sowjetunion, der Volksrepublik Polen und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik auch unseren Beitrag zu einer erfolgreichen Politik der friedlichen Koexistenz ermöglicht hat und ihm großes Gewicht verleiht, ja, daß dieses Bündnis geradezu die entscheidende Voraussetzung dafür war und ist. Die Abkommen und Vereinbarungen, die unsere Deutsche Demokratische Republik mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Senat von West-Berlin abgeschlossen hat, können wir getrost in die Wandlungen einordnen, die sich in unserer Zeit vollziehen, einordnen in eine Politik der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. So handelten und handeln wir konsequent im Sinne unseres Friedensprogramms, das wir als einen konstruktiven Beitrag für die Sicherheit Europas auffassen und in dem es wörtlich heißt: Die Deutsche Demokratische Republik tritt weiterhin für die Aufnahme normaler Beziehungen entsprechend den Regeln des Völkerrechts audi zur Bundesrepublik Deutschland ein. Allerdings müssen wir in diesem Zusammenhang alle Versuche zurückweisen, Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland als »besondere innerdeutsche Beziehungen* auszugeben. Das wäre kein Beitrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD und zur europäischen Sicherheit, sondern ein Torpedo dagegen. Jeder Versuch, normale Beziehungen zwischen zwei voneinander unabhängigen, souveränen Staaten von unterschiedlicher Gesellschaftsordnung mit einer den Realitäten widersprechenden .innerdeutschen* Klammer zu versehen, zielt nur darauf ab, dem Völkerrecht gemäße Beziehungen zwischen zwei deutschen Staaten zu hintertreiben. Daraus konnte nichts werden, und daraus wird selbstverständlich auch in Zukunft nichts werden. Dieser Zug ist längst abgefahren. 324

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Auf unserem VIII. Parteitag hat das Zentralkomitee dies erneut mit der Feststellung unterstrichen, daß über die nationale Frage bereits die Geschichte entschieden hat. Es ist und bleibt das geschichtliche Verdienst der Arbeiterklasse der Deutschen Demokratischen Republik, daß sie unter Führung unserer Partei und im Bündnis mit allen Werktätigen die politische Macht ergriffen und unwiderruflich den Weg des Sozialismus beschritten hat. Inzwischen wurde durch die politische Praxis die Probe aufs Exempel gemacht und — wie man sieht — mit Erfolg. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sdion mit dem Moskauer Vertrag unsere Grenzen anerkennen und als unverletzlich hinnehmen müssen. Jetzt hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Male ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik direkt geschlossen, wobei sie wiederum die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik anerkennen mußte. Mit dem Vierseitigen Abkommen haben zum ersten Male auch die drei Westmächte ein völkerrechtlich gültiges Abkommen unterzeichnet, in dem die Deutsche Demokratische Republik als souveräner Staat, ihr Territorium und ihre Grenzen als unbestrittene Gegebenheiten respektiert werden. Zum ersten Male haben die vier Mächte ein Abkommen über West-Berlin abgeschlossen. Es bringt zum Ausdruck, daß West-Berlin als Einheit in seinen gegebenen Grenzen besteht und von der Deutschen Demokratischen Republik, einschließlich ihrer Hauptstadt, umgeben ist. Dementsprechend berücksichtigen die Vereinbarungen zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat, daß Berlin die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist. Und weiter: Das kürzlich noch herumspukende Gespenst eines westlich kontrollierten »Korridors* durch die Deutsche Demokratische Republik hat sich in ein Nichts aufgelöst. Statt dessen sind die Regierung der DDR und die Regierung der BRD in dem Bestreben, einen Beitrag zur Entspannung in Europa zu leisten, zu einem Abkommen gelangt, das es ermöglicht, den Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Westsektoren Berlins durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik nach den international gültigen Normen abzuwickeln. Das zeigt sich zum Beispiel darin, daß das Transitabkommen von den Hoheitsrechten der Deutschen Demokratischen Republik ausgeht, wie das bei souveränen Staaten üblich ist. Es zeigt sich also, daß die Bundesrepublik Deutschland die souveränen Rechte der Deutschen Demokratischen Republik vollauf wahren mußte und sich angesichts der Realitäten veranlaßt sah, die Grenzen gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik zum drittenmal in kurzen Zeitabständen völkerrechtlich zu akzeptieren.. (Neues Deutschland, 18.12.1971) Bundeskanzler B r a n d t 22. Dezember u. a. aus:

führt vor der Bundespressekonferenz in Bonn am

Frage: Halten Sie im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Ostverträge eine Präambel oder eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen des Bundestags für denkbar? 325

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Antwort: Idi will midi nicht auf alle Fraktionen festlegen. Ich habe vor einigen Wochen einmal öffentlich gesagt, daß ich einen Sinn darin sehen könnte, in einer Erklärung des Bundestags festzuhalten, was für die Einbettung der Ostverträge wichtig ist. Aber ich verbinde damit nicht notwendigerweise die Vorstellung, daß dies von allen unterschrieben werden muß. Dies ergibt audi einen Sinn, wenn nicht alle glauben, dem zustimmen zu können. Es sind zwei verschiedene Dinge. Ich würde es begrüßen, wenn möglichst viele zu etwas ,Ja4 sagen können, aber wichtiger ist hierbei der Inhalt als die Zahl der Zustimmenden. Die Frage einer Präambel sehe ich ähnlich kritisch wie der Außenminister. Verträge, die man mit einem anderen Partner ausgehandelt hat, hinterher anzureichern, ist, wie die Erfahrung zeigt, auch mit Partnern im Westen, die zugleich Freunde sind, mit gewissen Risiken verbunden." „Frage: Wenn Sie auf zwei Jahre einer neuen Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn zurückblicken — welcher gedankliche Ansatz für diese neue Politik hat sich als besonders fruchtbar erwiesen? Antwort: Als besonders fruchtbar erwiesen hat sich der Gedanke eines Modus vivendi, mit seinen Komponenten Gewaltverzicht, territoriale Integrität und Fortentwicklung der Zusammenarbeit dort, wo sich teilweise Interessenübereinstimmungen ergeben. Es hat sich als richtig erwiesen, daß wir es nicht nur bei dem Versuch einer atmosphärischen Verbesserung unserer Beziehungen zu unseren Nachbarn in Osteuropa belassen haben, sondern daß wir zur Substanz vorgestoßen sind. Ebenso war es richtig, unsere Osteuropa-Politik als Teil der westeuropäischen Gesamtpolitik zu konzipieren. Nur vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Integration Westeuropas und auf der Basis der durch das Bündnis garantierten Sicherheit kann die Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Osteuropa wirksam organisiert werden. Nur so lassen sich auf den Gebieten, wo Kooperation möglich ist, die trennenden Schranken der Verschiedenheit der politischen und gesellschaftlichen Systeme überwinden". „Frage: Die gesamtdeutsche Option, Bekundungen des deutschen Einheitswillens spielen in den außenpolitischen Erklärungen der Regierung wieder eine stärkere Rolle. Nützt das wirklich den Zielen, die damit beschworen werden? Oder war es nicht klüger, ausgehend von der Erkenntnis, daß auf deutschem Boden zwei selbständige Staaten existieren, sich auf die Erklärung zu beschränken, die Bonner Regierung könne nur für die Bundesrepublik sprechen und im übrigen blieben alle früheren Abmachungen — wie beispielsweise der Deutschlandvertrag — unberührt? Antwort: Die Bundesregierung nimmt den Auftrag des Grundgesetzes ernst und fühlt sich an ihn gebunden. Daß sie von der natürlichen Einheit unseres Volkes ausgeht, hat sie eben erst dem Bundestag in der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU gesagt. Sie hat dabei ihr Bestreben unterstrichen, die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß unser Volk die ihm gemäße Form des Zusammenlebens in freier Selbstbestimmung entwickeln kann. Bei der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrages haben wir dies im Brief zur deutschen Einheit klar zum Ausdruck gebracht. Frage: Gelegentlich ist der Gedanke geäußert worden, im Interesse des Selbstbestimmungsrechts die Ostverträge bei der Ratifizierung mit einer Präambel zi 326

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versehen. Kann man sich nadi den Erfahrungen des deutsdi-französischen Vertrages, der nach Pariser Ansicht durch die Präambel entwertet worden ist, davon etwas versprechen? Antwort: Sie haben redit, die Einführung einer Präambel in das Gesetz zu dem deutsch-französischen Vertrag ist seinerzeit nicht ohne Kritik aufgenommen worden. Erwägungen in dieser Hinsicht jetzt für die Ostverträge anzustellen, ist nicht tunlich. Sie wären rein spekulativ". (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 23.12.1971)

1972 Zum Welttag des Friedens am 1. Januar veröffentlichen die V e r t r i e b e n e n s e e l s o r g e r in der Bundesrepublik Deutschland eine Erklärung, welche von Bischof Janssen, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, unterzeichnet ist, die folgenden Wortlaut hat:

„1. Die Verpflichtung zur Wiedergutmachung von Unrecht und zur Aussöhnung der Völker ist allen Christen aufgegeben. Als Seelsorger unter den Heimatvertriebenen haben wir dieser Aufgabe in besonderer Weise zu dienen. Wir halten es daher für unsere Pflicht, auch zu den Verträgen Stellung zu nehmen, die unser Verhältnis zu unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn regeln sollen. Entschieden müssen wir es ablehnen, wenn solche Verträge als Wiedergutmachung des unter Hitler geschehenen Unrechts begründet und gewertet werden. Die Wiedergutmachung, die berechtigterweise für das Unrecht der Hitlerzeit gefordert werden kann, hat eine unübersteigbare Grenze in den Menschenrechten jener Deutschen, die keinerlei unmittelbare Schuld an jenem Unrecht haben. Die Vertreibung der Deutschen stellt aber eine millionenfache Verletzung der Menschenredite dar. Und niemand kann den dadurch geschaffenen Unrechtstatbestand als berechtigte Wiedergutmachung für das den Polen oder Tschechen angetane Unrecht bezeichnen. 2. Die Aussöhnung zweier Völker kann nur zustande kommen, wenn das ganze zwischen ihnen liegende Unrecht auf beiden Seiten anerkannt wird und der Wille zur Wiedergutmachung auf beiden Seiten vorhanden ist. In Erschütterung und Scham verurteilten wir auf das schärfste das furchtbare Unrecht, das zur Zeit des Nationalsozialismus auch den Völkern im Osten Europas angetan worden ist. Deshalb dürfen wir auch erwarten, daß die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat nicht mehr länger historisch oder moralisch gerechtfertigt, verteidigt oder totgeschwiegen wird. Wir sind uns bewußt, daß die Wiedergutmachung des den Polen unter Hitler angetanen Unrechts noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Wir müssen auch darauf hinweisen, daß das Unrecht der Vertreibung durch das Festlegen von Grenzen oder durch einen den Vertriebenen 327

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abverlangten Verzicht nicht beseitigt und die Pflicht zu einer zumutbaren Wiedergutmachung dieses Unrechts nicht ausgelöscht werden kann. 3. Das große Zeugnis christlicher Versöhnungsbereitschaft, das polnische Bischöfe mit ihren Gläubigen in Tschenstodiau mit dem Ruf: ,Wir vergeben und bitten um Vergebung!' abgelegt haben, machen wir uns ausdrücklich zu eigen. Der Beitrag der deutschen Vertriebenen zur deutsch-polnischen Aussöhnung liegt darin, daß sie jenen verzeihen, die ihnen unrecht getan haben, daß sie sich bei der grundsätzlichen Verteidigung ihres Rechts auf die Heimat freihalten von Verbitterung, Abneigung und Gedanken der Vergeltung; daß sie dabei die Menschenrechte der in ihrer Heimat siedelnden Polen und die berechtigten Interessen des polnischen Volkes an freier Existenz und angemessener Entfaltung berücksichtigen; daß sie unter Ablehnung jeder Gewaltpolitik von beiden Seiten als gerecht angesehen werden kann. 4. Massenvertreibungen aus nationalen, rassischen oder religiösen Gründen stehen im Gegensatz zu Moral und Völkerrecht und sind ungerechte staatliche Machtpolitik. Mit der Ost-West-Verschiebung des polnischen Staates sollen die Menschenrechte von zwei Millionen Polen, einer Million Ukrainern und neun Millionen Deutschen einer ungerechten nationalistischen Politik geopfert werden." (Deutscher Ostdienst, 8.1.1972) Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung veröffentlicht am 18. Januar eine Stellungnahme der B u n d e s r e g i e r u n g zu den Einwänden der Opposition gegen die Verträge von Moskau und Warschau, welche folgenden Wortlaut hat:

„1. Einwand: Die Ostverträge verstoßen mit ihren Grenzaussagen gegen das in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegte Wiedervereinigungsgebot. Antwort: Im Grundgesetz steht nichts über eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937. Das Wiedervereinigungsgebot bezieht sich auf die Selbstbestimmung des deutschen Volkes und sein Recht, in einem einheitlichen und freien Staate zusammenzuleben. Das Grundgesetz enthält einen Auftrag zum aktiven Handeln für die Schaffung der Voraussetzungen einer Selbstbestimmung. Der Weg, den die Opposition seit über 20 Jahren propagiert, hat sich angesichts der gegebenen Lage als nicht erfolgreich für die nationalen Belange des deutschen Volkes erwiesen. Deshalb hielt es die Bundesregierung für ihre Verfassungspflicht, einen Weg einzuschlagen, der nicht länger nur Lippenbekenntnis und Vorwand zum Immobilismus ist. Durch die Sicherung des Friedens, durch Entspannung und Zusammenarbeit wird der Weg zur Selbstbestimmung des deutschen Volkes erleichtert. Durch die Aufrechterhaltung von Konfrontationen und Spannungsherden wird dem gesamten deutschen Volke nicht gedient. Der einzig realistische Weg ist der Weg der Verhandlungen. Ausgangspunkt für eine aktive Politik des Ausgleichs in Deutschland muß die Respektierung 328

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der Grenze zur DDR und der territorialen Integrität der DDR sein. Ohne das ist eine Politik der Verhandlungen nicht zu führen und ohne Politik der Verhandlungen ist der Ruf nach Selbstbestimmung und Wiedervereinigung bloßes Lippenbekenntnis. 2. Einwand: Die beiden Verträge verstoßen gegen das Grundgesetz, weil sie den Beitritt der deutschen Ostgebiete zum Grundgesetz ausschließen. Antwort: Die Verträge treffen keine Verfügung über deutsche Gebiete. Dazu wäre die Bundesregierung auch nicht befugt, da die Verantwortung für Deutschland als Ganzes, solange es keine friedensvertragliche Regelung für Deutschland gibt, den Vier Mächten vorbehalten ist. Auf Grund des Vorbehalts der drei Westmächte im Deutschlandvertrag ist die Bundesrepublik Deutschland nicht zur Verfügung über diese Gebiete berechtigt. Die Bundesregierung hat im Warschauer Vertrag nichts mehr getan, als die Lage nicht mehr in Frage zu stellen, die durch die Vier Mächte und die tatsächliche Entwicklung entstanden ist. Die Akzeptierung dieser Lage muß Voraussetzung einer Politik des Friedens, der Entspannung und der Verhandlungen sein. Nur eine solche Politik wird dem Auftrag des Grundgesetzes gerecht. 3. Einwand: Die Verträge bedeuten mit der Festlegung, daß die Oder-Neiße die Westgrenze Polens sei, eine Abtretung deutschen Staatsgebietes, die nur durch eine Änderung des Grundgesetzes möglich sei. Antwort: Wie schon ausgeführt, ist die Bundesrepublik Deutschland nidit in der Lage, endgültige Verfügungen über Grenzen und Territorien außerhalb ihres eigenen Staatsgebietes zu treffen. Die Oder-Neiße-Grenze unterliegt dem Vorbehalt der Drei Mächte im Deutschlandvertrag. Das ist auch durch den Briefwechsel zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten klargestellt worden, der durch Notifizierung an die polnische Seite vor Unterzeichnung Teil des Vertrages von Warschau geworden ist. Als eine Abtretung deutschen Staatsgebietes kann dieser Vertrag nicht qualifiziert werden. 4. Einwand: In den Verträgen sei für die in den Ostgebieten lebenden Deutschen kein Optionsrecht vereinbart worden; damit werde gegen Artikel 16 des Grundgesetzes verstoßen, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden dürfe. Die Gebietsfeststellung im Warschauer Vertrag verschlechtere auch dann, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit der Oder-NeißeDeutschen formell aufrechterhalten bleibe, die Möglichkeiten eines Schutzes dieser Personen durch die Bundesregierung, zu dem sie insbesondere nach Artikel 1 des Grundgesetzes gegenüber deutschen Staatsangehörigen verpflichtet sei. Sie hätte deshalb der Gebietsfeststellung nicht ohne eine den üblichen völkerrechtlichen Standards entsprechende Optionsregelung zustimmen dürfen. Antwort: Durch die beiden Verträge wird keinem Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Die Verträge enthalten keine derartigen Bestimmungen. Im übrigen hat der Bundesminister des Auswärtigen bei den Verhandlungen in Warschau formell und unwidersprochen erklärt, daß keinem Deutschen durch den Warschauer Vertrag Rechte verloren gehen, die ihm nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland zustehen. Dies gilt insbesondere gerade für die deutsche Staatsangehörigkeit. 329

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Der Warschauer Vertrag ist im übrigen kein Friedensvertrag, der endgültige Grenzregelungen enthielte und in dessen Rahmen ein Optionsrecht vielleicht gepaßt hätte. Der Vertrag ordnet sich vielmehr in unsere Politik eines rechtlich abgesicherten modus vivendi mit den osteuropäischen Staaten ein, ohne einen Friedensvertrag vorwegzunehmen oder zu ersetzen. Der Vertrag bewirkt keine Verschlechterung der vor seinem Abschluß gegebenen Möglichkeiten zum Schutz der Interessen der Oder-Neiße-Deutschen, sondern eine Verbesserung; einmal schon kurzfristig, indem der Vertrag eine Voraussetzung für die Bereitschaft der polnischen Regierung zur Umsiedlung bildet, zum anderen längerfristig, indem er die Grundlage für eine Normalisierung und Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen schaffen soll." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 18.1.1972) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, H e r o l d , beantwortet am 19. Januar eine Anfrage des Abgeordneten R i e d e l ( C D U / C S U ) schriftlich wie folgt:

„Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Herold vom 19. Januar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Riedel (Frankfurt) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3016 Frage A 3): Wenn die Bundesregierung die in der Neujahrsansprache des ,DDR'-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht zum Ausdruck gekommene Auffassung der Regierung der ,DDR', daß die ,DDR' durch den Moskauer und Warschauer Vertrag sowie durch das Viermächteabkommen und die innerdeutschen Abkommen über Berlin völkerrechtlich verbindlich als souveräner Staat, ihr Territorium und ihre Grenzen als unbestreitbare Realitäten anerkannt worden sei, nicht teilt, wie ist es dann möglich, daß sie auf der Grundlage dieses Dissenses — nach der Auffassung der Bundesregierung sind die Verträge lediglich Zustandsbeschreibungen — Verhandlungen über ein Generalabkommen mit der ,DDR' beginnen will? Die Interpretation der genannten Verträge und Abkommen in der Neujahrsansprache des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR wird weder von der

Bundesregierung geteilt, noch berührt sie die rechtliche Qualität dieser Verträge und Abkommen. Daß es sich bei diesen Auslassungen um eine in erster Linie für die Bevölkerung der DDR bestimmte Version handelt, ergibt sich allein schon daraus, daß Ulbricht in seiner Rede anläßlich des Neujahrsempfanges für die ausländischen Diplomaten die Wendung von der »völkerrechtlich verbindlichen Anerkennung der DDR als souveräner Staat' nicht wiederholte. So hat auch Honecker in seiner vielzitierten Rede vom 6. Januar 1972 lediglich davon gesprochen, daß durch diese Verträge und Abkommen die DDR ,höhere internationale Autorität' gewonnen habe. Die Bundesregierung begrüßt es, in diesem Zusammenhang den Charakter eines allgemeinen Abkommens über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR noch einmal verdeutlichen zu können. Wie alle Vereinbarungen, die die Bundesrepublik anstrebt, soll auch das Abkommen über die allgemeinen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland 330

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und der Deutschen Demokratischen Republik einer fortschreitenden Regelung der zahlreichen Fragen und Probleme dienen, die im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR nodi offen sind, unzähligen Menschen das Leben erschweren und Ursache immer neuen Leidens sind." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 163. Sitzung, 20.1.1972) I n der D e k l a r a t i o n des Politischen Beratenden Ausschusses der W a r s c h a u e r P a k t m ä c h t e , die auf der Ausschußtagung in Prag vom 25. und 26. Januar verabschiedet wird, heißt es u. a.:

„Eine außerordentlich wichtige Rolle beim Zusammenschluß aller für Frieden und Zusammenarbeit in Europa eintretenden Kräfte spielen die Vorschläge der sozialistischen Staaten zur Festigung der europäischen Sicherheit und zur Einberufung der darauf gerichteten gesamteuropäischen Konferenz, die in der Bukarester Deklaration von 1966, im Budapester Appell von 1969 sowie in der Berliner Erklärung von 1970 enthalten sind. Diese Vorschläge der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags sowie auch weitere von ihnen unternommene Aktionen und Initiativen bilden ein umfassendes Friedensprogramm und tragen zur Schaffung eines neuen politischen Klimas in Europa bei. Einen immer beträchtlicheren Beitrag zur Sache des Friedens in Europa leisten auch andere europäische Staaten. In der Politik einiger dieser Staaten treten die Interessen des europäischen Friedens entschieden in den Vordergrund, was sich günstig auf die Lage in Europa auswirkt. Die Teilnehmer der Tagung hoben die große positive Bedeutung hervor, die in letzter Zeit die zunehmenden Kontakte zwischen den europäischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung haben, sowie die Entwicklung von politischen Beziehungen zwischen ihnen, besonders in Form von Konsultationen über Fragen von gemeinsamem Interesse. Das erleichtert die Verständigung zwischen den europäischen Staaten über die Gemeinsamkeit ihrer langfristigen Interessen auf dem Gebiet des Friedens und der Zusammenarbeit. Im Ergebnis der Anstrengungen und des konstruktiven Beitrags der an dieser Tagung teilnehmenden Staaten sowie der Anstrengungen und des konstruktiven Beitrags anderer Staaten setzen sich zwischen den europäischen Staaten immer mehr Beziehungen der friedlichen Koexistenz durch. In diesem Zusammenhang heben die Teilnehmer der Tagung die Bedeutung der Prinzipien der Zusammenarbeit zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und Frankreich hervor, mit deren Annahme die kürzlich durchgeführten sowjetisch-französischen Verhandlungen auf höchster Ebene abgeschlossen wurden. Die Erweiterung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet der Wirtschaft, des Handels, der Wissenschaft und Technik, der Kultur sowie auf anderen Gebieten trägt ebenfalls zur Entspannung auf dem europäischen Kontinent bei. Die Beziehungen zwischen den europäischen Völkern werden fester, ihr Inhalt immer vielseitiger. Die Aktivität der europäischen Öffentlichkeit im Kampf für die Vertiefung der Entspannung, für den Frieden und die Sicherheit in Europa nimmt zu. 331

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Die auf der Tagung vertretenen Staaten äußerten ihre Genugtuung darüber, daß die Ergebnisse, die im Prozeß der Entspannung in Europa erreidit werden, in den erforderlichen Fällen in entsprechenden völkerrechtlich gültigen Dokumenten ihre Verankerung finden. Der Politische Beratende Ausschuß schätzt die Einleitung der Ratifizierung der Verträge zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutsdiland sowie zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland positiv ein. Das Inkrafttreten dieser Verträge wird den Interessen nicht nur ihrer unmittelbaren Partner, sondern auch aller europäischen Staaten entsprechen und zur Konsolidierung der Grundlagen des europäischen Friedens führen. Die an der Tagung teilnehmenden Staaten unterstrichen die positive Bedeutung des Vierseitigen Abkommens über West-Berlin vom 3. September 1971 sowie der Vereinbarungen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland sowie zwischen der Regierung der DDR und dem Senat von West-Berlin. Die zunehmende internationale Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik ist ein wichtiger Faktor der Festigung des Friedens. Weitere Fortschritte in dieser Richtung, einschließlich der Herstellung von Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, entsprechend den Normen des Völkerrechts, werden ein wichtiger Beitrag zur Sache des Friedens, der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sein. Die Teilnehmer der Tagung treten dafür ein, daß die Frage der Aufnahme der DDR und der BRD in die Organisation der Vereinten Nationen ohne weitere Verzögerung gelöst wird. Die Teilnehmer der Tagung stellen mit Befriedigung fest, daß zwischen der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ein Meinungsaustausch über die ungelösten Fragen in den Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern geführt wird, vor allem über die Anerkennung der Ungültigkeit des Münchener Abkommens von Anfang an. Sie unterstützen die gerechten Forderungen der CSSR und sind der Auffassung, daß eine entsprechende Übereinkunft der Verbesserung der Atmosphäre in Europa förderlich sein wird. Die Verwirklichung dieser Schritte wird zur schnellen und radikalen Beseitigung der Folgen der langen Periode des Mißtrauens und der Spannungen aus den Beziehungen der BRD mit den sozialistischen Ländern und zu deren voller Normalisierung beitragen, was die Vertiefung der Entspannung auf dem europäischen Kontinent und die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Staaten fördern würde. Die auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses vertretenen Staaten begrüßen es, daß Aussicht auf weitere positive Veränderungen in Europa besteht. Zugleich berücksichtigen sie, daß in Europa auch weiterhin diejenigen Kräfte wirken, die daran interessiert sind, die Spannungen zu erhalten, die einen europäischen Staaten zu den anderen in Gegensatz zu bringen und Möglichkeiten zu behalten, die Entwicklung der Ereignisse auf dem europäischen Kontinent erneut in Richtung auf eine Verschärfung zu lenken. Wie die Tat332

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Sachen, darunter auch der allerjüngsten Zeit, zeigen, ist für diese Kräfte die europäische Politik außerhalb des Blockdenkens nicht vorstellbar. Sie sind bestrebt, das Wettrüsten auf dem europäischen Kontinent weiter zu verstärken. Die Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags können nicht umhin, daraus die entsprechenden Schlußfolgerungen für ihre Sicherheit zu ziehen. Sie sind jedoch überzeugt, daß gegenwärtig in Europa ein solches Kräfteverhältnis besteht, daß bei einem geschlossenen und konsequenten Eintreten für die Festigung des Friedens der Widerstand der Gegner der Entspannung überwunden werden kann. II Die an der Tagung teilnehmenden Staaten geben ihrer Überzeugung Ausdruck, daß in der gegenwärtigen Etappe kollektives, gemeinsames Handeln der europäischen Staaten zur Festigung der europäischen Sicherheit besonders wichtig und durchaus erreichbar ist. In diesem Zusammenhang sprechen sie sich für die schnellstmögliche Durchführung der gesamteuropäischen Konferenz zu Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit aus, an der alle europäischen Staaten auf gleichberechtigter Basis sowie die USA und Kanada teilnehmen. Die Teilnehmer der gesamteuropäischen Konferenz könnten praktische Maßnahmen für die weitere Entspannung in Europa ausarbeiten und die Schaffung eines Systems der europäischen Sicherheit einleiten. Die Teilnehmer der Tagung sind der Auffassung, daß die europäische Sicherheit und Zusammenarbeit die Schaffung eines Systems von Verpflichtungen erfordern, das jede Anwendung oder Androhung von Gewalt in den Beziehungen zwischen den Staaten in Europa ausschließt, allen Ländern Schutz vor Aggressionsakten garantiert und zum Wohl und Gedeihen jedes Volkes beiträgt. Die an der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses teilnehmenden Staaten treten dafür ein, daß folgende Grundprinzipien der europäischen Sicherheit und der Beziehungen der Staaten in Europa allgemein anerkannt und im politischen Leben des europäischen Kontinents praktisch verwirklicht werden: Unverletzbarkeit der Grenzen. Die Grenzen, die heute zwischen den europäischen Staaten existieren, darunter auch die im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstandenen, sind unverletzlich. Jeder Versuch, sie zu verletzen, würde den europäischen Frieden gefährden. Deshalb müssen die Unverletzlichkeit der gegenwärtig bestehenden Grenzen und die territoriale Integrität der Staaten Europas auch künftig strikt gewahrt werden und Gebietsansprüche der einen Staaten gegenüber den anderen völlig ausgeschlossen sein. Gewaltverzicht. In den Beziehungen zwischen den Staaten in Europa darf Gewalt weder angewandt noch angedroht werden. Alle strittigen Fragen zwischen ihnen müssen ausschließlich mit friedlichen politischen Mitteln auf dem Wege von Verhandlungen entsprechend den Grundprinzipien des Völkerrechts so gelöst werden, daß die legitimen Interessen, der Frieden und die Sicherheit der Völker nicht bedroht werden. Friedliche Koexistenz. In Europa entstanden im Zuge der historischen Entwicklung und bestehen Staaten zweier Gesellschaftsordnungen — der sozialistischen und der kapitalistischen Ordnung. Die Unterschiedlichkeit der Systeme 333

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muß kein unüberwindliches Hindernis für die allseitige Entwicklung der Beziehungen zwischen ihnen sein. Unter Ausschluß des Krieges als Mittel ihrer Politik können und müssen die europäischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ihre Beziehungen auf der Grundlage der Verständigung und Zusammenarbeit im Interesse des Friedens gestalten. Grundlagen gutnachbarlicher Beziehungen und Zusammenarbeit im Interesse des Friedens. Die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten müssen sich auf der Basis der Prinzipien der Unabhängigkeit und der nationalen Souveränität, der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie des gegenseitigen Vorteils entwickeln. Ein solches Herangehen muß zur ständigen Politik in den Beziehungen zwischen den Staaten in Europa und zum ständigen Faktor des Lebens aller europäischen Völker werden sowie auch zur Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und der Verständigung zwischen den Staaten in den verschiedenen Teilen Europas führen. Es ist eine solche Umgestaltung der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten anzustreben, die es ermöglicht, die Spaltung des Kontinents in militärisch-politische Gruppierungen zu überwinden. Gegenseitig vorteilhafte Beziehungen zwischen den Staaten. Unter den Bedingungen des Friedens müssen die vielfältigen gegenseitig vorteilhaften Beziehungen zwischen den europäischen Staaten auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem, kulturellem Gebiet sowie auf dem Gebiet des Tourismus und des Umweltschutzes breit entfaltet werden. Die Entwicklung dieser Beziehungen wird die Stabilität des sich in Europa herausbildenden Systems der Sicherheit und Zusammenarbeit stärken, indem sie dem Streben der europäischen Völker nach Frieden, Ruhe und Wohlergehen die materiellen Grundlagen schafft. Abrüstung. Im Interesse der Festigung des Weltfriedens müssen die europäischen Staaten in jeder Weise zur Lösung des Problems der allgemeinen und vollständigen Abrüstung vor allem der nuklearen Abrüstung, sowie zur Verwirklichung von Maßnahmen zur Begrenzung und Einstellung des Wettrüstens beitragen. Untrstützung der UNO. Die Ziele der europäischen Staaten in der internationalen Arena entsprechen den Bestimmungen der UN-Charta, zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sowie zur Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen den Staaten beizutragen. Die europäischen Staaten treten für die Unterstützung der Organisation der Vereinten Nationen, für ihre Stärkung in Ubereinstimmung mit den Bestimmungen der UN-Charta ein." (Neues Deutschland, 27.1.1972) Der Präsident der CSSR, S ν o b o d a , führt in einem TASS-Interview vom 29. Januar u. a. aus:

„Endlich ist die Zeit gekommen, unter die Nachkriegsperiode einen Strich zu ziehen, um so mehr als hierzu reale Möglichkeiten bestehen. Die Völker Europas sollen in eine neue Ära eintreten, in die Ära der friedlichen Koexistenz 334

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

und der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit. Gerade darin sehen wir das Ziel und den Sinn für die Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz. In gewissen Kreisen im Westen behauptet man hartnäckig, daß die sozialistischen Länder angeblich die Einberufung der Konferenz lediglich deshalb anstreben, um den »Status quo* auf dem Kontinent zu bestätigen. Natürlich stellt die Anerkennung der Realität, die sich nach dem Kriege herausgebildet hat, eine unerläßliche Bedingung für eine entscheidende Wende in der Entwicklung Europas dar. Es ist zweifellos erforderlich, die Unantastbarkeit der jetzigen Grenzen und die territorialen Ansprüche völlig auszuschließen und gegenseitige Verpflichtungen über Nichtanwendung von Gewalt zu übernehmen. Aber all das bedeutet lediglich eines — mit dem Nachlaß des ,Kalten Krieges* entschieden Schluß zu machen. Die Tschechoslowakei will beispielsweise aufrichtig nicht nur — wie man sagt — normale, sondern auch wirklich gutnachbarliche Beziehungen zur BRD haben und bewertet mit Befriedigung jede positive Äußerung seitens der Vertreter der BRD. Aber kann man denn von gutnachbarlichen und gleichberechtigten Beziehungen sprechen, wenn die andere Seite davon ausgeht, daß die Abtrennung unserer Ländereien durch Hitler-Deutschland — für welchen Zeitraum auch immer — gültig und gesetzmäßig gewesen sei? Gerade deshalb sind wir der Meinung, daß die Anerkennung der Tatsache, daß das Münchener Abkommen von Anfang an ungültig war, eine solche Frage darstellt, die man nicht unberücksichtigt lassen oder umgehen darf. Wir sind aufrichtig froh darüber, daß unsere Freunde und Verbündeten auf der Konferenz in Prag hinsichtlich dieser unserer prinzipiellen Haltung erneut ihrer vollen Unterstützung versichert haben." (TASS, 29.1.1972) A m 31. Januar legt die C S U den Entwurf für einen „Vertrag über Gewaltverzicht zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" vor, der den folgenden Wortlaut hat:

„Die Hohen Vertragschließenden Parteien in dem Bestreben zur Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa und in der Welt beizutragen, in der Uberzeugung, daß die friedliche Zusammenarbeit in ganz Europa den sehnlichen Wünschen der Völker und den allgemeinen Interessen des internationalen Friedens entspricht, in Würdigung der Tatsache, daß die früher von ihnen vereinbarten Maßnahmen, insbesondere der Abschluß des Abkommens vom 13. September 1955 über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen eine Grundlage für die Weiterentwicklung und Festigung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaffen haben, mit der Feststellung, daß der erklärte Ausschluß der Gewaltanwendung dazu beiträgt, ein politisches Klima zu schaffen, das der späteren Lösung strittiger und unterschiedlich bewerteter Fragen dienlich ist und zu einer Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung der geteilten deutschen Nation führt, in dem Wunsche, in vertraglicher Form ihrer Entschlossenheit zur Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen ihnen Ausdruck zu verleihen, 335

Herbert G. Marian

sind wie folgt übereingekommen: Artikel 1

(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken betrachten es als wichtiges Ziel ihrer Politik, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Entspannung durch die Beseitigung der Ursachen der Spannung zu erreichen. (2) Sie verpflichten sich, alle strittigen Fragen einschließlich derer, die Grenzen und Demarkationslinien betreffen, nur mit friedlichen Mitteln zu lösen und sich in ihren Beziehungen der Drohung mit Gewalt und der Anwendung von Gewalt zu enthalten. (3) Sie bekunden ihr Bestreben, die Entwicklung friedlicher Beziehungen zwischen den europäischen Staaten durch zügigen Ausbau der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet sowie durch die Öffnung aller Grenzen für einen ungehinderten Reiseverkehr zu fördern. Artikel 2

(1) Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden sich in ihren Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und der internationalen Sicherheit von den Zielen und Grundsätzen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, leiten lassen. (2) Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklärt, daß sie auf Grund Art. 107 und 53 der Charta der Vereinten Nationen kein einseitiges Interventionsrecht gegenüber der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nimmt. (3) Die Bundesrepublik Deutschland erklärt, — daß die von ihr verfolgte Politik der Herstellung eines politisch geeinten Europa gegen niemanden gerichtet ist. Ein politisch geeintes unabhängiges Europa soll der friedlichen Zusammenarbeit mit allen anderen Staaten der Welt dienen. — daß der Abschluß dieses Vertrages für sie keine Verpflichtung darstellt, das von ihr vertretene und ausgeübte Recht, Selbstbestimmung und Einheit der deutschen Nation als Ziel ihrer Politik mit friedlichen Mitteln zu verfolgen, in Zukunft aufzugeben oder einzuschränken. Artikel 3

Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stimmen in der Erkenntnis überein, daß der Friede in Europa nur erhalten werden kann, wenn die Grundsätze des Völkerrechts, der Gleichberechtigung, des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Nichteinmischung sowie der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf Freizügigkeit für Menschen und Ideen überall beachtet werden. Artikel 4

Eine endgültige Regelung der deutschen Frage einschließlich der deutschen Grenzen bleibt einem Friedensvertrag mit ganz Deutschland vorbehalten. 336

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Artikel 5

Durch diesen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken werden die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen in ihrer Geltung nicht beeinflußt. Artikel 6

Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage des Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft, der in . . . stattfinden soll. Geschehen zu . . . am . . . in zwei Urschriften, jede in deutscher und russisdier Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist." (CSU-Presse-Mitteilungen, Bonn, 31.1.1972) Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, D r . C z a j a , Arbeitstagung des BdV am 2. Februar in Bonn u. a. aus:

führt auf einer

„Zu den O s t v e r t r ä g e n haben wir unsere Stellungnahme frühzeitig konkretisiert; sie ist bekannt. Allerdings sind in den letzten Monaten neue bedeutende Sorgen in den Vordergrund getreten, die die früheren nicht gegenstandslos machen, sondern in einer bestimmten Richtung noch — infolge der Zusammenkunft in Oreanda, infolge einer Reihe von Äußerungen aus dem Ostblock und infolge der inzwischen sehr präzis bekanntgewordenen politischen Zielsetzung für die europäische Sicherheitskonferenz — vertieft haben. Das sind die Sorgen um E r h a l t u n g der v o l l e n F r e i h e i t auch in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d und im f r e i e n T e i l Europas. Das Motto für unsere Arbeit 1971 lautete: Gefahr für Deutschland — Gefahr für Europa! Für 1972 heißt es in Fortführung und Präzisierung dieser Linie : J a zum Frieden — nein

zur Unfreiheit!

Lassen Sie mich in diesem Sinne die Gründe der Vertragsablehnung präzisieren: I. Was geschieht durch die Verträge mit unseren Heimatgebieten? Zuerst stand im Vordergrund die Ablehnung der Verträge wegen der Feststellung, daß Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Teile der Mark Brandenburg, Schlesien und Oberschlesien, zusammen etwa 108 000 Quadratkilometer, Ausland und zu Polen oder Rußland für heute und künftig gehörend sind, daß die M e n s c h e n r e c h t e in keiner Weise gewahrt und in keiner Weise gefördert werden, daß die p e r s o n a l e n Rechte der Vertriebenen überhaupt nicht geregelt und die v i e l f a c h e T e i l u n g D e u t s c h l a n d s vertraglich festgeschrieben ist. Schließlich war unser Einwand, daß dieser Vertrag keine wirkliche Entspannung bringt. Wir haben immer wieder betont, daß wir uns von anderen im Friedenswillen nicht in den Schatten stellen lassen wollen, 22 Königsberg

337

Herbert G. Marian

daß gerade die Vertriebenen, die so schwer an den Folgen des Krieges getragen haben, nur den Frieden wollen, allerdings einen dauerhaften Frieden, der für die verschiedenen beteiligten Völker und Staaten tragbar sein muß und dadurch erst seine Dauerhaftigkeit erhält. Die bisherige Diskussion über die Verträge hat die Gründe für diese Ablehnung nicht widerlegt. Idi beziehe mich dabei vorrangig auf den uns Ostdeutschen betreffenden W a r s c h a u e r V e r t r a g , aber nicht nur auf ihn. Wie steht es im Lichte der Verträge um die politische Situation und den rechtlichen Status unserer Heimatgebiete, wie steht es um die Rechte ihrer deutschen Bewohner? Immer mehr Machthaber im Ostblock bezeichnen die Regelung als e n d g ü l t i g , am stärksten tun es von der Zeit vor, während und nach dem Vertragsabschluß an die Polen, mehr an den Text gebunden die Russen; beide machen sehr klare Aussagen. Audi im Westen verdichten sich die Aussagen über die Endgültigkeit der Regelung. Lassen Sie midi einige Beispiele nennen: Breschnew im Bericht an den 24. Parteitag am 30. März 1971 unter der Überschrift ,Die Abwehr der imperialistischen Aggressionspolitik* : »Ausgehend von der e n d g ü l t i g e n A n e r k e n n u n g der t e r r i t o r i a l e n V e r ä n d e r u n g e n , die in Europa infolge des Zweiten Weltkrieges eingetreten sind.' Und einige Seiten davor: »Während der Nachkriegszeit gingen wir... davon aus, daß die Grundlage eines dauerhaften Friedens in Europa vor allem die Unverrückbarkeit der Grenzen der europäischen Staaten ist. J e t z t wird die Unverrückbarkeit der Grenzen, darunter auch zwischen der DDR und der BRD sowie die Westgrenze des polnischen Staates, durch die Verträge der Sowjetunion und Polens mit der Bundesrepublik Deutschland e i n d e u t i g bestätigt.' Oder in seiner Rede bei der Festveranstaltung in Alma Ata am 28. August 1970, zitiert nach den Ostinformationen des Presse- und Informationsamtes vom 31. August 1970: ,Der Abschluß des Vertrages mit der BRD, in dem eine k l a r e und e i n d e u t i g e A n e r k e n n u n g der Unverrückbarkeit der in Europa bestehenden Grenzen, der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polens ist, sowie der Grenze zwischen der BRD und der Deutschen Demokratischen Republik enthalten ist, stellt zweifellos einen ernsthaften Beitrag zur Entspannung in Europa, zur friedlichen Koexistenz und zur fruchtbaren Zusammenarbeit aller europäischen Staaten dar.' Mit Bedauern stellt im Westen Manlio B r o s i ο fest, daß auf lange Zeit die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands begraben sei. Der neue Generalsekretär der NATO L u η s soll laut ,Frankfurter Allgemeine Zeitung' vom 12. Juni 1971 erklärt haben: ,Dieser Vertrag bringt der Sowjetunion die e n d g ü l t i g e A n e r k e n nung ihres Herrschaftsbereiches in Europa und der Teilung Deutschlands.' Der französische Staatspräsident Pompidou hat in der Pressekonferenz vom 23. September 1971 laut Pressemitteilung der französischen Botschaft in Bonn 338

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

unter ausdrücklichem Hinweis auf das Vorangehen der Bundesrepublik Deutschland u. a. gesagt: »Warum sollten wir einen bösen Blick auf die Bundesrepublik werfen, wenn sie die Oder-Neiße-Grenze zugesteht, zu der wir schon seit langem Stellung bezogen haben? Warum sollten wir bösen Blicks auf die Bundesrepublik sehen, wenn sie sich in Richtung der A n e r k e n n u n g der D D R b e w e g t , gleichviel in welche Worte man dies kleidet, da wir uns bis zum heutigen Tage aus Freundschaft zur Bundesrepublik Beschränkungen auferlegt haben, um ihr den Vorrang zu überlassen für einen Akt, der sie unendlich stärker berührt als uns/ Bezüglich der Oder-Neiße-Linie hat der polnische Vorsitzende des Ministerrats auf der Plenarsitzung des dortigen Parlaments am 23. Dezember 1970 zu dem Vertrag erklärt, daß er den endgültigen Abschluß des Problems der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße bedeutet. Der polnische Ministerpräsident C y r a n k i e w i c z hat am 17. Dezember 1970 erklärt, daß nunmehr endgültig das Problem der Anerkennung unserer Grenzen an der Oder und Neiße durch alle geklärt (sei), indem wir einen Vertrag mit dem anderen deutschen Staat, mit der Bundesrepublik Deutschland, unterzeichnet haben'. In der Tischrede bei der Unterzeichnung des Vertrages sagte er, daß nunmehr ,keine Angelegenheiten, die aus dem Krieg resultieren, auch nur scheinbar offen, nicht bis zum Ende erledigt, oder glimmend oder manchmal als schürender Keim kommenden Streites als Nachlaß verbleiben'. Und unser Bundesaußenminister hat laut Bulletin am 8. Dezember 1970 bereits früher erklärt: ,Wir können mit Polen nichts vereinbaren, was zweideutig ist. Was wir hier vereinbaren, muß im Wortlaut absolut klar sein und man muß es auf beiden Seiten genau gleichermaßen deuten können und nicht etwa in Unterschiedlichen Interpretationen... Und die Bundesrepublik verpflichtet sich für sich und sie verpflichtet sich selbstverständlich in vollem Umfang, nicht etwa mit Fristen für sich, für die Bundesrepublik Deutschland.' Wir wollen nicht die Texte in der Weise des Ostblocks auslegen und übersehen nicht, was deutsche Regierungsstellen dazu sagen; aber wir wünschen Klarheit darüber, was von deutscher Seite den Aussagen von o f f i z i e l l e n S t e l l e n des O s t b l o c k s aus dem V e r t r a g s i n h a l t e n t g e g e n z u h a l t e n ist. Wir wollen wissen, ob in den grundlegenden, den normativen Fragen durch die Verträge ein Konsens, eine Ubereinstimmung erreicht wurde oder eine Dissens bestehen blieb oder gar vertieft wurde. Blieb aber eine Dissens bestehen, und zwar auch in den normativen Fragen, die man ja nicht nur dann als normativ bezeichnen kann, wenn das in die Auslegung des deutschen Standpunktes hineinpaßt, wie will man dann den deutschen Standpunkt als weit schwächerer Partner aufrechterhalten — wenn er überhaupt als ein in den Verhandlungen selbst von den Vertragspartnern zur Kenntnis genommener Standpunkt bezeichnet werden kann. — Ich möchte eindeutig sagen, daß es für uns n o r m a t i v ist, ob diese unsere Heimatgebiete, die bisher nach dem Grundgesetz und nach zahlreichen deutschen Gesetzen als deutsches Inland behandelt wurden, rechtlich I n l a n d bleiben oder A u s l a n d werden. 22*

339

Herbert G. Marian

Falls diese Gebiete in der Bundesrepublik Deutschland als deutsches Ausland vertraglich normiert werden, kann man dann noch davon reden, daß nicht verfügt wurde, daß nicht abgetreten wurde? Wenn all dies Ausland geworden ist, ändert sich ζ. B. unser gesamtes Erbrecht, erhält die rechtswidrige Enteignung der Deutschen neue Aspekte; die hiesigen Heimat vertriebenen fahren nicht wie bisher, wenn man ihnen dies seitens der Besatzungs- und Verwaltungsgewalt gestattete, in ihre angestammte Heimat ,im Inland', sondern sie würden nach dem Willen der staatlichen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland nach der Ratifizierung ins »Ausland' fahren, wenn sie sich nach Pommern oder Schlesien begeben. Die Bundesrepublik würde — so meinen wir — auch gegen ihre grundgesetzlich verankerte Pflicht verstoßen, sich für den Beitritt aller Teile Deutschlands in den Grenzen von 1937 offenzuhalten. Diese grundgesetzliche Pflicht haben noch in den Jahren 1954/1955 174 Abgeordnete der SPD beim Bundesverfassungsgericht durch eigenhändige Unterschrift bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht haben übereinstimmend mit den Klägern und die Bundesregierung damals festgestellt, daß grundgesetzwidrig wäre, wenn evident und auf Dauer Teile Deutschlands in den Grenzen von 1937 beim Beitritt zum Grundgesetz behindert oder auf Dauer daran gehindert würden. Wenn die

Bundesrepublik für heute und künftig sich verpflichtet — so im Warschauer Vertrag — bedingungslos bzw. ohne Rücksicht auf irgendjemanden — so im polnischen Text — die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze nicht nur zu achten, sondern auch politisch ,hoch zu achten' (so im polnischen Text), so kann dies nach unserer Auffassung nicht mit dem Verfassungsgebot des Art. 23 zum Offenhalten und auch nicht mit dem Schlußsatz des Art. 7 Abs. 1 des Deutschlandvertrages in Einklang gebracht werden. Die Grundrechte der Deutschen jenseits von Oder und Neiße auf Erhaltung ihrer Staatsangehörigkeit und wenn sie dies wollen, auf d i p l o m a t i s c h e n S c h u t z , auf Fürsprache für ihre Menschenrechte wären gefährdet. Ihnen würde auch seitens der Bundesrepublik Deutschland das Recht, vor zuständigen deutschen Gerichten — bestenfalls unter Achtung der deutschen Rechtsordnung vor Besatzungsgerichten — gerichtet zu werden, nicht nur durch die Gewalt der Machthaber entzogen, sondern dazu käme hinzu die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland. Das ganze Steuerrecht in der Bundesrepublik Deutschland wäre zu ändern; denn bis zum Mehrwertsteuergesetz gehen diese Gesetze und viele andere bei der rechtlichen Behandlung der deutschen Gebiete in den Grenzen von 1937 als Inland aus. Wir wollen aber über die personalen Rechte der Ostdeutschen und über den territorialen Status unserer Heimat im Licht der Verträge klare Auskunft. In der Begründung zum Warschauer Vertrag sagt die Bundesregierung zu Art. 1, daß der Satz von der uneingeschränkten Achtung der territorialen Integrität — in dem gleichermaßen verbindlichen polnischen Wortlaut des Vertrages heißt es übrigens: die bedingungslose Hochachtung der territorialen Integrität — sie daran bindet, die Westgrenze

Polens auch in Zukunft

nicht mehr in Frage zu

stellen, unabhängig davon, ob und wann eine friedensvertragliche Regelung zustandekommt. Im sonderbaren Gegensatz dazu heißt es in der Begründung zu Art. 4, daß ,die Bundesregierung in den Verhandlungen ihren Standpunkt 340

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

bekräftigt hat, daß . . . die Bundesregierung nur im Namen der Bundesrepublik Deutschland handelt und ein wiedervereinigtes Deutschland durch den Vertrag nicht gebunden wird'. Dieser letzte Satz ist doch wohl eine normative Feststellung. Wir hätten Wortlaut und Form der Aussage brennend gern in den Protokollen zum Warschauer Vertragswerk gesehen und geprüft und nicht nur die Behauptung in einer Bundesdrucksache gelesen; denn es geht ja um àie v ö l k e r r e c h t l i c h e Tragweite des Vertragswerkes selbst. Diese ist durch Erklärungen im Bundestag oder in der Drucksache nicht unmittelbar kodifiziert. Hier kann es auch keine Geheimhaltungspflicht geben, denn es geht um eine deutsche Erklärung. Es geht um die demokratische Offenlegung dessen, wie es um den Rechtsstatus unserer Heimatgebiete bestellt ist und um die Rechte ihrer Bewohner. Hier unterliegt die Bundesregierung in ihrem Handeln für Deutschland und für die Bundesrepublik und für unsere Heimat wohl der parlamentarischen Kontrolle. Kann man gleichzeitig wie in Art. 1 die Bundesrepublik Deutschland für heute und künftig binden, dies als eindeutig und klar darlegen und gleichzeitig sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland aber heute schon einen Vorbehalt für ganz Deutschland aktiv anmeldet? Was bedeutet die vertragliche Feststellung der U b e r e i n s t i m m u n g in Art. 1 Satz 1 bezüglich der Westgrenze Polens? Es ist konstante polnische Rechtsauffassung, daß die Westgrenze Polens an der Oder und Neiße seit 1945, seit dem Potsdamer Protokoll rechtens bestehe und dies nur einer Bestätigung der beiden deutschen Staaten, evtl. der Siegermächte bedürfe. Die Bundesregierung erklärt in der Begründung zum Vertrag, daß die »Feststellung' ,νοη Inkrafttreten des Vertrages an' bindet. Uber welchen Rechtsstandpunkt wurde denn nun eigentlich, wie es so schön heißt, Ubereinstimmung erzielt: War es der polnische, daß unsere Heimat seit 1945 polnisches Inland ist, oder der angebliche der Bundesregierung, wonach es erst nach 1971 Ausland wird? Erfolgte die Enteignung durch illegale polnische Enteignungsgesetze im deutschen oder polnischen Inland, im deutschen oder polnischen Ausland? Gegen wen ist der Entschädigungsanspruch der Eigentümer zu richten? Wurden die zahlreichen, auch bei der Vertreibung vorgekommenen Verbrechen gegen die Menschenredite im deutschen Inland oder im polnischen Inland verübt? Ist das Erbrecht deutscher Erbberechtigter in der Bundesrepublik nach in der Heimat verstorbenen Eltern schon seit 25 Jahren nach polnischem Recht zu behandeln oder nicht? Wer hat nachgegeben bezüglich des Zeitpunkts — mit tiefgreifenden Folgen — einer Umwandlung von Inland in Ausland? Oder ist es überhaupt falsch, daß es eine Ubereinstimmung in diesem entscheidenden Punkt gab; gerät in diesem normativen Punkt nicht das Vertragswerk teilweise ins Wanken? Daneben interessiert uns als Deutsche natürlich auch eine weitere Frage. Im Moskauer Vertrag werden die Elbe-Werra-Linie und die Oder-Neiße-Linie, also die mehrfache Teilung Deutschlands, völlig gleichartig und im gleichen Satz behandelt; die Präambel des Warschauer Vertrags setzt in der Verwendung der Bezeichnungen und Begriffe den Moskauer Vertrag voraus. Im Warschauer Vertrag hat sich die Bundesrepublik Deutschland auch für den Fall einer irgendwie gearteten Teilnahme an friedensvertraglichen Regelungen verpflichtet, für die Behandlung Ostdeutschlands als Ausland einzutreten. Ist aus 341

Herbert G. Marian

der konformen Behandlung beider deutscher Teilungslinien im Moskauer Vertrag ein Gleiches für die Behandlung Mitteldeutschlands als A u s l a n d nunmehr zu folgern? Bezieht sich der Satz des Art. 3, wonach die Vertragspartner klären, daß sie keine Gebietsansprüche gegen irgendjemanden haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden, auch auf den Verzicht auf das spätere Geltendmachen des vollen Wortlauts des zweitweise suspendierten Art. 23 des Grundgesetzes bezüglich des Umstandes, daß Berlin ein Teil der Bundesrepublik Deutschland ist? Schon hat die Bundesregierung den Text des Viermächteabkommens, wonach Berlin kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik Deutschland ist, begrüßt. Sind ihre Organe aber nicht verpflichtet, in geeigneter Weise, zur gegebenen Zeit, die v o l l e Geltung des Art. 23 anzustreben, da in diesem Punkt das Grundgesetz nicht abgeändert worden ist und wohl nicht abgeändert werden soll? Verstoßen sie dann aber nicht gegen diesen Satz des Art. 3 des Moskauer Vertrages? Dieses sind nur einige Fragen über den Status Deutschlands, Mitteldeutschlands, Ostdeutschlands. Fragen, die sich tief auf die Rechte der Deutschen auswirken. II. Der zweite Grund, weshalb wir die Verträge ablehnten und ablehnen ist der, daß die Menschen rechte der deutschen Staatsangehörigen drüben nicht gewahrt sind. Durch eine in vielen einzelnen Formulierungen sehr umstrittene einseitige »Information* der Regierung der Volksrepublik Polen sollte die Familienzusammenführung sofort beginnen. Zahlreiche polnische offizielle und offiziöse Stimmen bestreiten, daß es sich hier um den Gegenstand einer zweiseitigen Abmachung handelt. Manchmal wird von verantwortlichen Stellen der Bundesregierung zwar behauptet, daß diese Information den Charakter einer Abmachung angenommen habe. Die Bundesregierung zieht aber daraus keine Konsequenzen bezüglich der Durchsetzung der Abmachung, und sie zieht keine Konsequenzen aus dem Bruch einer evtl. Abmachung. Sie läßt das keine Hoheitsrechte besitzende Deutsche Rote Kreuz verhandeln. Man sagt, Herr Vizeaußenminister W i 11 m a η η habe im Oktober erklärt, Polen wolle die Information loyal erfüllen. Ist diese Erklärung verbal oder echt zu werten? Gerade in den letzten Monaten ist die Familienzusammenführung rapid zurückgegangen. Es kann von niemandem geleugnet werden, daß Tausende und Zehntausende von Anträgen fünf-, zehn-, ja ζ. T. fünfzehn- und zwanzigmal abgelehnt wurden bzw. werden, daß die Antragsteller arbeitslos gemacht oder zurückgestuft werden, daß seit einigen Wochen niemand mehr die aus Oberschlesien zur Ausreise notwendige Arbeitsbescheinigung erhält. Sicherlich kann unsere Staatsgewalt die Verwirklichung der Menschenrechte auf Gebieten, die nicht ihrer Herrschaftsgewalt unterliegen, nicht erzwingen. Aber kann sie sich mit dem Verzicht des Schutzes der Menschenrechte deutscher Staatsangehöriger abfinden, und darf sie Teile des Territoriums Deutschlands als Ausland feststellen, ohne mindestens im gleichen Vertrag eine Rechtsverwahrung Schutz deutscher Staatsangehöriger abzulegen*

Die Menschen- und Grundrechte verpflichten jede innere und äußere Gewalt der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar zum möglichen Schutz. Verstößt 342

zum

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

ein Vertragsabschluß, der nicht zumindest eine Rechtsverwahrung, wenn nicht eine vertragliche Sicherheit zum Schutz dieser Rechte enthält, nicht gegen die fundamentalen grundgesetzlichen, aber auch sittlichen und politischen Verpflichtungen unseres Staates? Sollten aber wirkliche Abmachungen getroffen worden sein und jetzt nicht eingehalten werden, sollte man nicht dann die Vertragsgesetze zum Warschauer Vertrag bis zur Verwirklichung der Abmachungen, bis zur Verwirklichung der Menschenrechte von hunderttausenden Deutschen zu-

rückstellen? Nicht wir sind daran schuld, daß 30, 40 und 60 Prozent der Menschen in Oberschlesien in einzelnen Gemeinden sich zur Aussiedlung melden. Wenn man diesen Menschen eine geordnete und gesicherte Existenz wahren, wenn man die Diskriminierungen beenden würde, wenn man ihnen volle Rechte auf den Gebrauch der Muttersprache in der Familie, in der Kirche, im Verein, in kulturellen Veranstaltungen und vor den Behörden geben würde, könnte man vielleicht durch sinnvolles Handeln der polnischen Seite die Massenflucht eindämmern. Die freie Entscheidung, wo jemand leben will, sollte allerdings dem einzelnen gewahrt werden. Nicht wir haben es zu verantworten, daß tiefe Resignation und Angst, daß nach der Ratifizierung der Verträge die Familienzusammenführung überhaupt aufhöre, die Bevölkerung befallen hat! Nichts von den personalen Rechten ist in diesem Vertrag geregelt, die sonst üblich waren, wenn gewaltige Gebiete Deutschlands als Ausland festgeschrieben werden. Diesbezüglich ist der Vertrag ein Unikum in den Verträgen der letzten Jahrzehnte. Im Versailler Vertrag waren minutiös Optionsrechte, Freizügigkeitsrechte, Fragen der Entschädigung, der Staatsangehörigkeit und vieles andere geregelt. Jetzt versucht man, sich aus der Affäre zu ziehen, indem man sagt, es handelt sich um keine friedensvertragliche Regelung. Dennoch verpflichtet sich der freie Teil Deutschlands, diese unsere Heimatgebiete heute und künftig als Ausland bedingungslos zu behandeln. Von Gruppenrediten und Menschenrechten der dort verbliebenen Deutschen ist nicht einmal die Rede. III. Wie

steht

es um

die

Verpflichtung

unserer Verbündeten aus

dem

D e u t s c h l a n d v e r t r a g aus den sonstigen Grundlagen unseres Bündnisses? Als Deutsche und deutsche Heimatvertriebene interessieren uns zwei Fragen in unserem Bündnissystem, in diesem Zusammenhang ganz besonders.

a) Gilt Art. 7 Abs. 1 und 2 des Deutschlandvertrages noch vollinhaltlich, oder ist etwa der Satz, daß die vertragschließenden Parteien sich einig sind, daß die endgültige Feststellung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung (nämlich einer zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarten friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland) aufgeschoben, werden muß, ausgehöhlt? Oder die Bestimmung des zweiten Absatzes des Art. 7, daß die Unterzeichner zusammenwirken zur Verwirklichung eines wiedervereinigten Deutschlands mit einer freiheitlich demokratischen Verfassung? Gibt es noch präzise gemeinsame Ziele in dieser Richtung oder ist diese den deutschen Interessen dienende Hypothek unseres westlichen Bündnisses seitens der Bundesregierung mehr oder weniger als erloschen behandelt worden? 343

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b) Gilt nodi als Grundlage der Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den westlichen Verbündeten die Londoner Erklärung vom 3. Oktober 1954, wonach die Verbündeten die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ,als die einzige deutsche Regierung betrachten, die frei und rechtmäßig gebildet und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen'? Es war die Nachkriegsphilosophie des Westens, daß der Friede mit den Deutschen nur gewährleistet sei durò Beziehungen mit einem freiheitlich-demokra-

tischen Deutschland. Wird dies nun auf einen totalitären Teil Deutschlands ausgedehnt? In der neueren europäischen Geschichte ist diese Kooperation mit totalitären deutschen Strömungen nicht erstmalig zu verzeichnen. Die katastrophalen Folgen einer solchen Politik sind bekannt. Wird man sich 1973 noch an diese Folgen von vor 40 Jahren erinnern? Oder ist die KP bzw. die SE ungefährlicher als die NSDAP? Sicherlich mag es Unterschiede bei einzelnen Mitgliedern geben, aber als Organisation halte ich auch die jetzigen Vertreter totalitärer Macht und sogenannter friedlicher Koexistenz* für überaus gefährlich. Daß sich die Westmächte auch aus dieser Verpflichtung vom 3. Oktober 1954 zu lösen beginnen, zeigt die Erklärung Pompidous, die mit deutlichem Hinweis auf das Handeln der Bundesrepublik Deutschland versehen ist. IV. Wir fürchten immer mehr, daß unsere i n n e r e F r e i h e i t durch die Rechtswirkungen der Verträge tangiert wird. Wir fürchten, daß durch die Verlagerung der politischen Gewichte in Europa, aber auch durch die betonte Öffnung der Bahn zu einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz mit weittragenden politischen Zielen — Ersatzfriedensvertrag und gesamteuropäische Kontrollkommissionen mit kommunistischer Mehrheit — auch der freie Teil Europas erheblich gefährdet wird. Über Grenzregulierungen kann man im Ablauf der Geschichte sicherlich verhandeln, wenn uns auch Herr Gromyko recht zynisch auf die wiederholten Grenzänderungen an der Ostgrenze Polens aufmerksam machte. Aber wenn wir uns vertraglich verpflichten würden, daß in unsere innere Ordnung eingegriffen werden kann, dann ist der teilweise Verlust der inneren Freiheit eine furchtbare Hypothek, die je nach der weltpolitischen Lage tiefe Folgen, vielleicht auf lange Zeit irreparable Folgen haben kann. Wenn durch Nebenabreden unsere Unterstützung für gesamteuropäische Institutionen mit kommunistischen Mehrheiten auch nur angedeutet wäre, Mehrheiten, die zuerst über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen, die mit der Sicherheit zusammenhängen, Gespräche führen, später darüber mehrheitlich entscheiden sollen, dann würden wir uns an der Gefährdung Europas und des freien Teiles Europas beteiligen. Diejenigen, die darüber verhandelten, sei es nun in Moskau, sei es in Oreanda, mußten Kenntnis des Memorandums der Ostblockstaaten vom Juni 1970 (Budapest) haben, das in den neuesten Prager Erklärungen nur noch verstärkt worden ist. Es fällt besonders auf, daß zu diesen Gefahren für die Sicherheit und Freiheit Westeuropas weitgehend eine öffentliche Stellungnahme der Bun-

344

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

desregierung fehlt, obwohl eine breite öffentliche Darlegung der politischen Ziele der KSZE im Ostblock — neben den Fragen der Truppenverminderungen — seit Monaten erfolgt ist. Worin besteht aber die Gefahr für unsere freie Rechtsordnung?

a) Die Verträge gründen nach Auffassung des Ostblocks auf den Prinzipien der sogenannten friedlichen Koexistenz*. Nicht zuletzt hat sie Breschnew als den größten Erfolg der friedlichen Koexistenz seit 25 Jahren bezeichnet. Nach Lenin sollte durch zeitweilige Verträge und Bündnisse mit nachgiebigen Kräften in Phasen des Übergangs der kommunistischen Herrschaft Vorschub geleistet werden. Das kommunistische Parteiprogramm von 1961 nennt die »friedliche Koexistenz' eine besondere Form des weiterhin zu führenden Klassenkampfes, und danach hat Chruschtschow seine Politik ausgerichtet. Am 6. November 1970 hat vor 6000 führenden Funktionären Suslow deutlich hervorgehoben, daß durch die friedliche Koexistenz das Kräfteverhältnis zugunsten der sowjetischen Hegemonie vergrößert und erweitert werden soll. Bürgerkriege und Kriege unterdrückter Klassen gegen die Unterdrücker werden ausdrücklich auch in der Phase friedlicher Koexistenz für möglich erklärt. Der namhafte sowjetische Völkerrechtler Tunkin hat im Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag gerade in der Phase der friedlichen Koexistenz die Mobilisierung aller kommunistischen Kräfte für den aktiven Kampf des Kommunismus gefordert und Marschall Gretschko am 21. Oktober 1970 in Berlin die verstärkte Gefechtsbereitschaft der kommunistischen Armeen. Uber die militärische Situation möchte ich mich hier in diesem Zusammenhang nicht äußern. b) Die Verträge enthalten Begriffe,

die seit 50 Jahren im Vertragsvokabular

der Sowjetunion Verwendung finden und deren Gefährlichkeit praktisch wiesen ist. Was die Sowjetunion unter ,wirklicher Lage', unter Normalisierung', unter ,gegenwärtigen' Grenzen usw. versteht, ist uns in den Noten von 1967 und 1968 eindeutig notifiziert worden. Nach diesen Noten ist schon die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschlands zur nuklearen Planungsgruppe der NATO friedensstörend und friedensgefährdend in Europa, ganz abgesehen davon, daß stereotyp die Angriffe gegen die ,imperialistischen Friedensstörer' deshalb wiederholt werden, weil angeblich die Potsdamer Protokolle mit ihrer Forderung nach Beseitigung der Faschisten, Militaristen, der Herren der Kartelle und Monopole und natürlich auch der Revanchisten nicht voll erfüllt seien. Wozu solche Begriffe in Verträgen führen, hat das fast fugenlos eindeutige Nichtangriffsabkommen mit Litauen gezeigt. c) In den gleichermaßen geltenden russischen und polnischen Texten enthalten

die Verträge eine Reihe von Begriffen, die geeignet sind, auch das p o l i t i sche E i n t r e t e n für das Offenhalten und Offensein der deutschen Frage, für die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen und seine Vertretung auch in der Bundesrepublik Deutschland sowie das Festhalten an dem Recht auf die Heimat und seiner Verwirklichung auf friedlichem Wege als Friedensstörung

und ,politische

Aggression'

nicht nur zu brandmarken,

sondern auch als Vertragsverletzung festzuhalten. Besonders deutlich zeigt sich der Unterschied dieser Begriffe auch in den offiziellen englischen Ubersetzun345

er-

Herbert G. Marian

gen des deutschen und des russischen Textes. Dabei geht es nidit nur um die Unverletzlichkeit oder Unverrückbarkeit von Grenzen, über die schon viel diskutiert wurde, sondern es geht auch um den Begriff der bedingungslosen Hochachtung der territorialen Integrität und vor allem auch — was bisher noch nicht diskutiert worden ist — um den Begriff ,antasten\ der im Russischen und im Polnischen so gefaßt ist, daß auch eine politische Kritik, eine politische Absichtserklärung, daß man die Dinge ändern wolle, als vertragsverletzend und friedensstörend angegriffen werden kann. d) Seit Jahren hat die sowjetische Völkerrechtslehre den Standpunkt vertreten, daß mit allen Mitteln — auch mit Sanktionen, mit Schadensersatz und vielem anderen, audi mit Besetzung von Gebieten — ,politische Aggressionen' zu verhindern sind. Im Bereich des Ostblocks sind politische Aggressionen, bei denen man zu gemeinsamer Intervention verpflichtet ist, alle Schritte, die der Kreml als »Bedrohung sozialistischer Errungenschaften' erachtet. Bei den politischen Aggressionen von ehemaligen Feindstaaten wird man sich auf Art. 53 und 107 der UNO-Charta beziehen. Was politische Aggressionen sind, darüber gibt es im Ostblock sogenannte regionale Abmachungen'. Es begann in Bukarest 1966, ging über Karlsbad 1968, Budapest 1969 und Budapest 1970 weiter bis nach Prag 1972. Die sowjetische Völkerrechtslehre unterscheidet ausdrücklich — man lese beispielsweise Tunkin auch in den französischen und englischen Ausgaben nach — Streitigkeiten, die ausschließlich mit friedlichen Mitteln beizulegen sind, von politischen

Aggressionen, bei denen zur Verhin-

derung der Friedensstörung alle Mittel des souveränen Staates eingesetzt werden dürfen. So handelte man in Prag, so droht man unter Berufung auf die Feindstaatenklausel dann zu handeln, wenn man sich unsererseits nicht buchstabengetreu an den Moskauer Vertrag hält. Darauf beruft sich Rschewski bezüglich des Status von Westberlin (in Sowjetunion heute'). Herr Fallin hat schon angedeutet, daß die Feindstaatenklausel durch diesen Vertrag nur überlagert und überdeckt sei. Überlagert ohnehin, weil der Moskauer Vertrag viel präziser als die Feindstaatenklausel mögliche Friedensstörungen definiert. Dazu treten die oben angeführten regionalen Abmachungen, auf die Art. 53 der UNO-Charta ausdrücklich Bezug nimmt. Bisher war man der Meinung, daß es sich um Ost-West-Abmachungen der Anti-Hitler-Koalition handeln müsse. Das ist aber nirgends in der UNO-Satzung festgehalten. Audi der Einwand der drei Westmächte gegen die früheren Drohungen, daß die Sowjetunion nicht einseitig intervenieren dürfe, trifft nicht regionale Abmachungen. Sicherlich ist in dieser Richtung die Sowjetunion der weitaus stärkere

Vertrags-

partner·, und wahrscheinlich würde man leicht seitens einer schwachen Regierung ihm entgegenkommen. Es könnte Druck natürlich ohne Vertrag eintreten und bei Ablehnung des Vertrages. Aber wenn der Vertrag in Kraft wäre, haben wir uns zusätzlich vertragliche

und rechtliche Daumenschrauben anlegen lassen,

die der Ostblock immer, wenn es möglich ist, recht kräftig zu nutzen versteht. Dazu kommt die weitgehende Erschütterung der deutschen Position in bezug auf die Vertretung der ganzen deutschen Frage im positiven Sinn für uns durch die Verbündeten, nachdem wir selbst dieses Feld zu räumen begannen. 346

Zeittafel

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Gerade wegen dieser Gefahren ist es politisch verhängnisvoll, ,mit den Verträgen leben' zu wollen. Gerade deshalb erscheint es uns notwendig, sie politisch und rechtlich zu Fall zu bringen, ihr Inkrafttreten zu verhindern oder ihre Revision mit friedlichen Mitteln zu betreiben. V. Alternativen

Seit 1950 — wo sich noch wenige der heute die Ostpolitik führend Bestimmenden um diese Frage gekümmert haben — haben die Vertriebenen auf Rache und Vergeltung und damit auf Gewalt verzichtet. Sie sagen ein selbstverständliches Ja zu einem eindeutigen klaren und beiderseitigen Gewaltverzicht. Sie sind sich darüber im klaren, daß er im Rahmen der friedlichen Koexistenz dann eingehalten wird, wenn es auch im ureigenen Interesse der Vertragspartner des Ostblocks liegt. Dies ist und kann aber audi in den nächsten Jahren aus Gründen der in Fluß gekommenen Weltpolitik möglich sein. Wir sind und waren für verbesserte wirtschaftliche und technologische sowie kulturelle Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit und möglichst breiter Freiheit beruhen sollen. Wir sind nicht gegen edite finanzielle Opfer zugunsten einer solchen wirtschaftlichen Kooperation, soweit sie nicht der militärischen Stärkung vorrangig dient. Wir sind vor allem für schrittweise Verbesserung der menschlichen Beziehungen hinüber und herüber. Dies sind Aufgaben auf nahe Sicht. Sie sind aber pragmatisch wichtiger als formelhafte Kompromisse, die einen völligen Dissens in den g r u n d l e g e n d e n Fragen verdecken. Insbesondere die Fragen der t e c h n o l o g i s c h e n Z u s a m m e n a r b e i t betreffen zutiefst auch die Existenz und angemessene Entfaltung unserer unmittelbaren östlichen Nachbarn. Wir haben nie verkannt, daß insbesondere den Polen Furchtbares zugefügt worden ist. Wir haben das nie verschleiert und haben es öffentlich genannt. Wir wehren uns aber dagegen, daß konstant auch die Verbrechen, die an Deutschen begangen wurden, verschwiegen werden. Wir wollen nicht aufrechnen und dürfen dies auch gar nicht; für jedes Verbrechen an Menschen sollte Sühne im geordneten Rechtsgang versucht werden, was bei uns in vielen Fällen geschah, dort aber, wo es sich um Verbrechen an Deutschen handelte, überhaupt nicht. Darüber hinaus gilt es, die Wiedergutmachung verletzter Rechte auf allen Seiten, mehr Sicherheit und Überwindung z. T. Jahrzehnte, z. T. Jahrhunderte alter Gegensätze zu finden. Eines der Grundübel ist auf beiden Seiten der übersteigerte Nationalismus an Stelle eines gesunden, den Nachbarn ernstnehmenden eigenen Nationalbewußtseins. Beides kann nicht dadurch ersetzt werden, daß man auf die eigenen vertretbaren Interessen völlig verzichtet und widerspruchslos eine extreme nationalstaatliche Expansion Polens im Westen oder gar eine Verschiebung eines Staates von Ost nach West wie auf dem Schachbrett als selbstverständlich hinnimmt. Es gilt, einen Ausgleich zwischen den vielen berechtigten Anliegen, zwischen dem verständlichen polnischen Streben nach Sicherheit und den Rechten von Millionen von Deutschen, zu finden. Ausgehend von den völkerrechtlichen Gegebenheiten ist auf weite Sicht ein t r a g b a r e r K o m p r o m i ß und A u s g l e i c h , der auf dieser schwie347

Herbert G. Marxian

rigen Welt natürlich nur halbwegs Gerechtigkeit durchsetzbar erscheinen läßt, anzustreben. Es gibt dafür die Möglichkeit eines nationalstaatlichen Kompromisses auf der einen Seite. Der B u n d e s k a n z l e r hat in einem Interview in ,Publik' darauf hingewiesen, daß er selbst noch vor wenigen Jahren an Verhandlungen über Modifikationen der Oder-Neiße-Linie teilgenommen habe. Später noch hat Herr Chruschtschow massiven Druck auf Gomulka ausgeübt, damit dieser einer erheblichen Verlegung der Oder-Neiße-Linie zugunsten der ,DDR' zustimme. Diese Verhandlungen sind von polnischen Politikern, aber ebenso von Belgiern, Österreichern und von ausländischen Botschaftern vielfach bestätigt worden. Es liegt aber natürlich an der jeweiligen weltpolitischen Lage, was ein solcher nationalstaatlicher Kompromiß für beide Seiten bringt und was Grundlage für einen dauerhaften Frieden, es macht den Frieden nicht sicherer, sondern unsicherer. In einem Beitrag, überschrieben mit ,Grundlagen der europäischen Friedensordnung', hat der Bundesaußenminister Willy Brandt am 4. Juli 1967 im Bulletin im bezug auf Ostdeutschland erklärt: ,Eine europäische Friedensordnung soll man sich auch in anderer Hinsicht nicht so vorstellen, als ob einfach zu bestätigen wäre, was der Zweite Weltkrieg in Europa hinterlassen hat. Die europäische Friedensordnung müßte Grenzen einebnen und neue Formen der Zusammenarbeit möglich machen. Zu ihr müßte deshalb beispielsweise auch ein europäisches Volksgruppenrecht gehören. Sie müßte Menschenrechte nicht nur deklarieren, sondern auch auf wesentlichen Gebieten praktizieren.' Natürlich ist also auch andererseits auf weite Sicht ein nicht nationalstaatlicher, aber freiheitlicher europäischer garantierter Ausgleich in einer föderalen freiheitlichen europäischen Ordnung auch in umstrittenen Gebieten mit voller Selbstverwaltung einschließlich Steuer- und Verwaltungsrechten einzelner Volksgruppen denkbar. Die Bundesversammlung des BdV hat vor meiner Amtszeit am 19. Januar 1970 in Bremen beschlossen: ,In einer freiheitlichen und gesicherten europäischen Friedensordnung ist Raum für eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen'. Ob es dazu kommen kann, weiß niemand. Es hängt von der fortschreitenden politischen Einigung des freien Teiles Europas bis zu einer f ö d e r a l e n alles gegeben und dem anderen alles genommen wird. Es ist dies auch keine er ihnen an Opfern zumutet. Nur ist es kein Kompromiß, wenn dem einen

O r d n u n g , die die Völker und die Kerngebiete der Staaten in ihrer Eigenart erhält, ab. Ausgeschlossen ist das beim Fortgang der technischen Entwicklung und bei dem Aneinanderrücken der Völker nicht. Gewaltige Aufgaben des Wiederaufbaus und der Aufarbeitung von Gegensätzen durch enge Zusammenarbeit ist auch in Ost- und Mittelosteuropa und in Ostdeutschland notwendig. Die Lücken von Kriegs- und Nachkriegszeit sind keineswegs geschlossen und der Strukturwandel von der Agrar- zur Industriewirtschaft nicht vollzogen. Es ist Raum zur Zusammenarbeit vorhanden, und es besteht die Notwendigkeit dafür. Ob sie geordnet möglich ist, kann man heute nicht beantworten. Aber man sollte die Frage offenhalten, auch um die Gegensätze aufzuarbeiten.

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Wir erheben nicht den Vorwurf, daß das, was Brandt 1967 als Grundlage einer europäischen Friedensordnung bezeichnet hat, noch nicht verwirklicht ist. Wir machen den entscheidenden Vorwurf, daß man versucht, politisch und rechtlich den Weg dahin zu versperren oder zu verzögern. Dabei geht es ebenso um Rechtspositionen wie um politische Positionen. Unabdingbar bei jedem Ausgleich, wie immer er aussehen möge, und bei jedem Kompromiß ist die Aufrechterhaltung, die Sicherung und die Unabdingbarkeit der Menschenrechte. Selbstverständlich setzt ein Kompromiß Festigkeit des westlichen Bündnisses, ein gemeinsames westliches Interesse für partnerschaftliche Aufbauarbeit mit Osteuropa und eine Situation der Sowjetunion voraus, in der diese im ureigensten Sinn eine wirkliche Befriedigung an ihrer europäischen Westflanke angesichts der in Fluß geratenen Weltpolitik wünscht. In diesem Sinne stehen wir sehr klar zu unserer Friedenspflicht. Man kann sià) auf die Sachkunde und auf den guten Willen

eines großen Teiles der Hei-

matvertriebenen, alte Irrtümer und Gegensätze zu überwinden, auf der Seite unserer unmittelbaren Nachbarn, insbesondere auch in Polen, vielleicht mehr verlassen als auf extreme

Zugeständnisse,

die den Stempel der Dauerhaftig-

keit nicht für sich haben, oder auf geschliffene Formeln, die die Gegensätze überdecken. Wir möchten allerdings, daß die Ostpolitik befreit wird von der Sachunkunde und von der Meinung, daß die Preisgabe allér eigenen Positionen und das Stattgeben allen extremen nationalstaatlichen Bestrebungen der Nachbarn schon dauerhaften Frieden schafft. Wir sind für einen schrittweisen Ausgleich in Freiheit, für Leistung und Gegenleistung, der zu einer freiheitlichen Friedensordnung und der Wahrung der Menschenrechte, der Rechte der Volksgruppen und der dem Gemeinwohl der europäischen Völker dienenden vertretbaren deutschen staatlichen Rechte führt. Wir sagen Nein zur drohenden Unfreiheit, zu Verträgen, die die Ziele der friedlichen Koexistenz* erfüllen. Wir sagen ein klares Ja zu einem tragbaren und halbwegs gerechten Ausgleich auf nahe und weite Sicht. Einem Ausgleich, der allein für uns die Freiheit bewahren und bei unseren östlichen Nachbarn bessere Zustände erhoffen läßt.

Eine wirkliche Entspannung ist dort nicht eingetreten. Acht Tage nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages erhoben sich große Teile der polnischen Bevölkerung trotz eines dramatischen Appells ihres Ministerpräsidenten, an die soeben erworbenen nationalen Errungenschaften zu denken, wegen der Existenznot, die bei ihnen herrschte. Mit größter Sorge vermerkt man, daß unlängst Radio Moskau als Vorläufer dieser Verträge ausdrücklich den Vertrag von Rapallo bezeichnete. Viele in Mitteleuropa fürchten, daß in anderer Weise die Politik vom 23. August 1939 unter russischer Führung fortgesetzt würde. Diese Sorge wird manchmal oder oft durch den Drang, größte nationale Erfolge einzuheimsen, verdrängt. Aber auch im wirklich wohlverstandenen, dauerhaften Interesse des polnischen Volkes mag es liegen, daß wir ein Nein zur Unfreiheit und ein Ja zur Freiheit

sprechen. Selbstverständlich ist darin auch die Achtung vor berechtigten Interessen der östlichen Großmacht in Mitteleuropa eingeschlossen, soweit dies nicht 349

Herbert G. Marian

Freiheit und Selbstbestimmung der Völker ausschließt. In diesem Sinne sagen wir: Nein zur Unfreiheit

und Ja zum Frieden!"

(Deutscher Ostdienst 1972, 5/6 vom 10. 2.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , mit dem Südwestfunk am 6. Februar u. a. aus:

führt in einem Interview

„Frage: Nach meiner Beurteilung ergibt sich in Sachen Ostpolitik, in Sachen Moskauer und Warschauer Vertrag folgendes Bild: Sowohl die Sowjetunion und nicht nur sie allein, sondern auch der Ostblock, als auch unsere westlichen Partner gehen nach Abschluß des Moskauer Vertrages von der Voraussetzung aus, daß das deutsche Problem damit im Grunde genommen vom Tisch sei, daß es nicht mehr offen sei. Auf der anderen Seite bemüht sich die Bundesregierung, bemühen Sie sich darum, innenpolitisch deutlich zu machen, daß die deutsche Frage nach wie vor offen, also durch den Moskauer Vertrag nicht abgeschlossen sei. Wie kann die Bundesregierung aus diesem Dilemma, aus dieser widersprüchlichen Situation herauskommen? Antwort: Die Bundesregierung ist überhaupt in keiner widersprüchlichen Situation. Unsere Situation ist klar. Bisher ist in der Deutschlandpolitik nichts geschehen und nichts erreicht worden. Es gibt also niemanden, vor allem nicht in der Bundesrepublik, der von sich aus sagen könnte, er wisse, wie man die deutsche Frage lösen könne, vor allem nicht solche, die lange Jahre Gelegenheit gehabt hätten, sie zu lösen. Sie ist ein Teil der Weltpolitik; daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Ich will niemand einen Vorwurf machen, daß in der Vergangenheit die deutsche Frage nicht weitergekommen ist, denn das ist immer abhängig von der weltpolitischen Situation und von der Situation in Europa. Wir haben aber jetzt in der Zeit, in der das möglich war, einen praktischen Schritt getan zur Normalisierung der Verhältnisse in Europa. Wir haben den Vertrag mit der Sowjetunion und den Vertrag mit Polen nicht als Endpunkt einer Entwicklung geschlossen, sondern als Beginn der Entwicklung zu einer Normalisierung. Damit haben wir die deutsche Frage nicht abgeschlossen; denn ich habe ja — das ist offensichtlich niemandem entgangen — im Zusammenhang mit dem Vertrag von Moskau einen Brief zur deutschen Frage geschrieben, in dem ausdrücklich festgestellt wurde, daß die Politik der Bundesregierung, die darauf hinausläuft, im Zuge einer europäischen Friedenspolitik auch die Möglichkeit für die Deutschen zu eröffnen, wieder zusammenzukommen, nicht im Widerspruch zu diesem Vertrag steht. Wir haben nur eine neue und hoffentlich bessere Ausgangsposition mit diesem Vertrag geschaffen, die uns mehr Hoffnung auf eine Lösung als in der Vergangenheit gibt, wo ja jede Hoffnung enttäuscht worden ist. Also es ist nicht so, daß die deutsche Frage geschlossen ist, sondern es ist eine neue politische Möglichkeit geschaffen worden, allerdings in einer europäischen Lösung, auch die deutsche Frage weiterzubringen. Das ist ein langwieriger Prozeß. Wir sind ja weiß Gott nüchtern genug zu erkennen, daß in dieser 350

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jetzigen Zeit die Wiedervereinigung Deutschlands, so wie wir sie uns vorstellen, nicht möglich ist, weil es niemanden gibt, mit dem wir das verabreden könnten. Was wir tun müssen ist, für die Menschen, die in Deutschland leben, bessere Chancen zu schaffen. Was wir tun müssen ist, den Frieden zu sichern und eine günstigere Ausgangsposition für die nächste Zukunft zu erreichen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 8. 2.1972) Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Ansprache vor dem Verein der Ausländischen Presse in Bonn am 8. Februar u. a. aus:

„Die Auseinandersetzung um unsere Verträge mit der UdSSR und mit der Volksrepublik Polen sowie über das Berlin-Abkommen ist, und ich scheue mich nicht, dies auszusprechen, von historischer Bedeutung. So wie es Konrad Adenauer gelang, das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu den Ländern des Westens auf eine Basis des gegenseitigen Vertrauens, der Partnerschaft und der Zusammenarbeit zu stellen, so muß es uns gelingen, nun auch unsere Beziehungen zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Ländern in Ordnung zu bringen. Die Verträge können dafür nur ein Anfang sein, aber sie sind ein notwendiger Anfang. Was die Bundesrepublik Deutschland hier unternimmt, ist der deutsche Beitrag zum allgemeinen Bemühen um den Abbau der Spannungen zwischen Ost und West, und er ist eingeordnet in die Politik des westlichen Bündnisses. Ich weiß mich in diesen Fragen einig mit den Regierungen aller unserer verbündeten Länder und mit vielen anderen Regierungen in der Welt. Diese Politik entspricht den Interessen Europas, aber auch denen der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar; denn wir sind an der Festigung des Friedens interessiert. Andere auch. Und wir sind zusätzlich daran interessiert, daß die Bundesrepublik Deutschland sich international nicht isoliert. Ich meine es ganz ernst, wenn ich sage: zu dieser unserer Politik gibt es keine vernünftige und tragfähige Alternative. Die Verträge werden eine Mehrheit finden und in Kraft treten. Dies wird der historischen Vernunft zugute kommen. Der Wille zur Entspannung und zur Verständigung wird sich durchsetzen. Und nur auf diese Weise werden wir weiterkommen mit der Sicherung des Friedens in Europa und in der Welt." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 10. 2.1972) Ministerpräsident G o p p e l (Bayern) führt als Berichterstatter für den Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten des Bundesrates auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, der federführende Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten hat sich in zwei Sitzungen, am 19. und am 27. Januar, sehr eingehend mit der Problematik der Verträge befaßt. Er hat — trotz entscheidender Gegensätzlichkeiten in den Auffassungen in sachlicher Atmosphäre — zunächst in einer Generaldebatte mit dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister die politische Gesamtkonzeption der Verträge erörtert 351

Herbert G. Marian

und sodann auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse über die Einzelbestimmungen beraten. Alle Mitglieder des Ausschusses stimmten darin überein, daß es erstens das vorrangige Ziel der deutschen Politik sein und bleiben muß — entsprechend der Präambel unseres Grundgesetzes —, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung unseres Volkes zu vollenden, daß zweitens eine zentrale Aufgabe der deutschen Politik darin besteht, zum Frieden und zur Entspannung in Europa und in der Welt beizutragen und außenpolitische Streitfragen unter Verzicht auf Anwendung von Gewalt und Drohung mit Gewalt zu lösen; sie stimmten drittens darin überein, daß unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes alle Bestrebungen zu begrüßen sind, die dazu beitragen, das politische Klima zwischen der Bundesrepublik und den osteuropäischen Staaten zu verbessern und die wirtschaftliche, technische und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern. Unterschiedliche Auffassungen bestanden indessen bei der Beurteilung und Bewertung der Vor- und Nachteile, der Chancen und Risiken, die sich im übrigen aus den Festlegungen und Bindungen der Vertragsbestimmungen ergeben. Während die Bundesregierung und die ihr politisch nahestehenden Ausschußmitglieder die nach erfolgreichem Abschluß des Ratifikationsverfahrens erhofften Vorteile der Verträge sehr hoch einschätzen und in ihnen insgesamt den Ausgangspunkt einer neuen, erfolgreichen Politik in Europa sehen, sind von Seiten der übrigen Ausschußmitglieder — unter Hinweis auf die aus der kommunistischen Theorie und Praxis hinreichend bekannten langfristigen politischen Ziele des Sowjetblocks — die Nachteile gegenüber unserer heutigen Rechtsposition sowie die Risiken und Gefahren der nach ihrer Auffassung nicht immer klaren und eindeutigen Regelungen hervorgehoben worden. Die einzelnen Argumente für und gegen die von der Bundesregierung getroffenen Vereinbarungen werden uns hier bei den heutigen Beratungen erneut beschäftigen. Ich habe nicht die Absicht, sie in allen Einzelheiten mit den jeweiligen Gegenpositionen darzustellen und damit der Debatte vorzugreifen. Ich möchte mich vielmehr auf einen allgemeinen Überblick der Argumentationen beschränken, die im Mittelpunkt der Erörterungen des Ausschusses gestanden haben. E r s t e n s : Die Bundesregierung und sechs Mitglieder des Ausschusses haben die Auffassung vertreten, daß die Vertragsverhandlungen zu einem zufriedenstellenden Ergebnis geführt haben und daher gegen die Gesetzentwürfe keine Einwendungen zu erheben seien. Als Grundlage für die Würdigung der Verhandlungsergebnisse weist die Bundesregierung auf die Positionen der Gegenseite hin, mit denen diese sie zu Beginn der Gespräche konfrontiert habe. Erstens sei die Forderung erhoben worden, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung formal auszusprechen, zweitens habe die Anerkennung West-Berlins als einer »selbständigen politischen Einheit' erfolgen sollen, drittens hätten die Sowjetunion und die übrigen Mitglieder des Warschauer Paktes das Fortbestehen von Rechten und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte sowohl für die deutsche Frage als auch für Berlin negiert, und viertens habe die Sowjetunion das Inter352

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

ventionsrecht aus den Artikeln 53 und 107 der UNO-Charta als für sich weiterbestehend bezeichnet. Bei Berücksichtigung dieser Ausgangslage könne man mit dem Erreichten durchaus zufrieden sein. Rechtspositionen seien nicht aufgegeben worden. Das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen sei in vollem Umfang aufrechterhalten worden und die Frage der deutschen Wiedervereinigung offengeblieben. Als Erfolg der mit der Sowjetunion und Polen geschlossenen Verträge wird audi die Berlin-Regelung gewertet, da sie mit diesen Verträgen in einem inneren sachlichen Zusammenhang stehe. Nur weil dieser Sachzusammenhang ganz klar und eindeutig auch herausgestellt worden sei, habe für Berlin eine befriedigende Regelung erreicht werden können. Die Sowjetunion habe damit unter Beweis gestellt, daß audi sie bereit sei, für die Politik der Entspannung in Europa eigene Beiträge zu leisten. Ein weiterer Vorteil der Verträge besteht nach Auffassung der Bundesregierung darin, daß vor allem durch die getroffenen Grenzregelungen eine breite Basis für die politischen Bestrebungen geschaffen worden ist, eine Aussöhnung mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Damit werde der Frieden stabilisiert und eine verstärkte Zusammenarbeit auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet ermöglicht. Besonders hervorgehoben wurde des weiteren, daß die Politik, die mit den Verträgen beschritten wird, den Bestrebungen unserer Verbündeten, im OstWest-Verhältnis eine Entspannung zu erreichen, entgegenkommt. Mit dieser Politik hätten wir uns, so erklärte der Bundesaußenminister, in die westeuropäische Politik der Entspannung und Zusammenarbeit in Europa eingefügt und für die Einheit der westlichen Politik unseren spezifischen Beitrag geleistet. Z w e i t e n s : Von fünf Ausschußmitgliedern sind hingegen schwerwiegende Bedenken gegen die Verträge erhoben worden. Trotz aller Erklärungen der Bundesregierung über die unverminderten Aussichten auf Wiedervereinigung und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes ist es nach ihrer Auffassung unklar, wie die deutsche Frage nach Inkrafttreten der Verträge für eine zukünftige Lösung im Sinne des Grundgesetzes noch offengehalten werden kann. Aus einer Reihe von Äußerungen maßgeblicher Politiker und Publizisten des Ostblocks gehe hervor, daß die Grenzfestlegungen der Verträge — auch die zwischen der Bundesrepublik und der DDR — als völkerrechtlich verbindlich für alle Zeiten angesehen werden. Ein weiterer Einwand betrifft die Gefahr der Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten der verwendeten Begriffe. So ist ζ. B. in Art. 1 des Moskauer Vertrages von ,Frieden', »Entspannung', ,Normalisierung der Lage' die Rede, wobei von ,der in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage' ausgegangen werden soll. Es besteht auch nach Auffassung der Bundesregierung kein Zweifel, daß die ideologische Interpretation der kommunistischen Staaten diesen Begriffen einen Sinn gibt, der von unseren Vorstellungen entscheidend abweidit. Besteht nicht, so ist gefragt worden, die Gefahr, daß es bei der Anwendung der Verträge zu Auslegungsstreitigkeiten kommt, die, anstatt den Frieden zu sichern, neue Spannungen schaffen, wobei das Interpretationsrisiko letzten Endes immer der Schwächere zu tragen hat? 23

Königsberg

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Herbert G. Marian

Es ist ferner darauf hingewiesen worden, daß mit den Verträgen und mit der gesamtpolitischen Konzeption, deren Ergebnis diese Verträge sind, von der Sowjetunion seit Jahren immer wieder erhobene Forderungen erfüllt worden sind, ohne entsprechende Gegenleistungen vor allem für die Bevölkerung der DDR zu erreichen. Aus dieser Auffassung ergab sich die Frage, wie die Bundesregierung denn die Aufhebung des Schießbefehls an Mauer und Stacheldraht, die Freiheit der Informationen und Meinungen und eine größere Freizügigkeit der Menschen im anderen Teil Deutschlands erreichen wolle, wenn sie mit den Verträgen alle Trümpfe, Chancen und Möglichkeiten aus der Hand gegeben habe. Eine bedeutende Rolle kam in den Erörterungen schließlich aus der in den Artikeln 53 und 107 der UN-Charta enthaltenen Feindstaatenklausel zu, vor allem nachdem von maßgeblicher sowjetischer Seite erklärt worden ist, daß der Gewaltverzicht des Art. 2 des Moskauer Vertrages die Klausel überlagere, solange sich die Bundesrepublik an die Verträge halte. Hier stellte sich wieder die Frage der Interpretation, die in diesem Falle ausschließlich nach den Wertungen der Sowjetunion erfolgen würde. Wann liegt ein Verstoß gegen die Verträge nach deren Auffassung vor? Die Bundesregierung ist gefragt worden, warum nicht klar und eindeutig ein Verzicht der Sowjetunion auf die Geltendmachung der Feindstaatenklausel herbeigeführt bzw. eine Nichteinmischungsklausel vereinbart worden ist, wie sie in Gewaltverzichtsverträgen sonst üblich ist. Meine Damen und Herren, der Ausschuß hat eine von fünf Ländern beantragte Entschließung, durch die die Bedenken gegen die Verträge zum Ausdruck gebracht werden sollten, abgelehnt und mit der Mehrheit seiner Stimmen dem Bundesrat empfohlen, gegen die Gesetzentwürfe keine Einwendungen zu erheben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Senator D r . H e i n s e n (Hamburg) führt als Berichterstatter für den Rechtsausschuß des Bundesrates auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Der Rechtsausschuß hat in seiner Beratung der Vertragsgesetze zu dem am 12. August 1970 mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und zu dem am 7. Dezember 1970 mit der Volksrepublik Polen unterzeichneten Verträgen alle Argumente, die für und wider die Verträge im Verlaufe des letzten Jahres in politischen Erklärungen, in der Fachliteratur und insbesondere auch in den Massenmedien geltend gemacht worden sind, sorgfältig auf ihren rechtlichen Gehalt geprüft. Dabei hat sich der Rechtsausschuß seiner Aufgabe gemäß darauf beschränkt, zu untersuchen, ob gegen die Vertragsgesetze verfassungsrechtliche Einwände zu erheben sind, die einer Zustimmung oder Mitwirkung des Bundesrats gemäß Artikel 59 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz entgegenstehen. Bei den Verträgen handelt es sich um sogenannte politische Verträge gemäß Artikel 59 Abs. 2 S. 1 GG, die den gesetzgebenden Körperschaften zur Mitwirkung bzw. Zustimmung zugeleitet worden sind. 354

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Ehe idi einen Überblick über die Beratungen des Rechtsausschusses gebe, möchte idi feststellen, daß der Rechtsausschuß mit klarer Mehrheit (7 :4) beschlossen hat, gegen beide Vertragsgesetze keine Einwendungen zu erheben. Im Mittelpunkt der Beratungen stand die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Verträge. Form der Vertragsgesetze

Vorab einige Bemerkungen zu der Besonderheit, die sich daraus ergibt, daß sich die Vertragsgesetze nicht nur auf die Verträge selbst, sondern auch auf einige beigefügte Dokumente erstrecken, weil dies für die rechtliche Beurteilung der Verträge unter verschiedenen Gesichtspunkten von Bedeutung ist. Beide Vertragsgesetze beziehen jeweils einen Notenwechsel der Bundesregierung mit den 3 Westmächten ein, das Gesetz zum Moskauer Vertrag darüber hinaus den anläßlich der Unterzeichnung des Vertrages überreichten Brief der Bundesregierung zur deutschen Einheit. Bei dem Brief zur deutschen Einheit handelt es sich um eine einseitige Erklärung des deutschen Vertragspartners; es ergab sich daher die Frage nach seiner Tragweite. Nach den Erklärungen der Bundesregierung ist der Brief nach Verhandlungen über seinen Inhalt von der Regierung der UdSSR als auf den Vertrag bezogenes Dokument widerspruchslos angenommen worden. Damit kommt ihm gemäß Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 als sogenanntes instrument' völkerrechtliche Bedeutung für die Auslegung des Vertrages zu. Der Vertrag ist dementsprechend dahingehend auszulegen, daß er nicht im Widerspruch zu dem Streben des deutschen Volkes nach Erlangung von Einheit in freier Selbstbestimmung steht. Da der Brief somit eine Rechtsverwahrung enthält, kommt ihm ein besonderer Rang zu, weswegen ihn auch die Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften mit dem Vertragsgesetz unterbreitet hat. Der Notenwechsel zum Moskauer Vertrag zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten enthält die Erklärungen der Außenminister der Bundesrepublik und der UdSSR, daß die Vertragschließenden einverständlich davon ausgehen, daß die Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes nicht berührt wird und eine friedensvertragliche Regelung aussteht. Die Westmächte haben dieser Auffassung in dem Notenwechsel ausdrücklich zugestimmt. Gleiches gilt für den Notenwechsel mit den Westmächten zum Warschauer Vertrag, in dem die Bundesregierung darauf hinweist, daß sie die Verantwortung der Vier Mächte in den Verhandlungen klargestellt hat. Beide Notenwechsel sind den Vertragspartnern notifiziert worden. Diese Feststellung eines breiten Konsensus über die Frage der Viermächte-Verantwortung erschien der Bundesregierung für die Behandlung der Verträge in den gesetzgebenden Körperschaften gleichfalls von großer Bedeutung. Im einzelnen wurden folgende Hauptkomplexe erörtert: 1. Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot

Einen breiten Raum nahm die Diskussion der Frage ein, ob die Verträge gegen das aus der Präambel des Grundgesetzes abgeleitete Gebot der Wiedervereinigung verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat aus der Präambel des Grund23*

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gesetzes für alle politischen Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland die Rechtspflicht hergeleitet, die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben (BVfG 5, 85 [187 ff.] und 12, 45 [51]; insbesondere aus S. 3, der lautet: Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Die Wahl der für die Wiedervereinigung politisch richtigen und zweckmäßigen Wege überläßt es aber den zum politischen Handeln berufenen Organen. In negativer Hinsicht — so führt das Bundesverfassungsgericht aus — müßten die politischen Organe alle Maßnahmen unterlassen, die eine Wiedervereinigung faktisch unmöglich machten. Eine Maßnahme der politischen Organe könne allerdings nur dann beanstandet werden, wenn die Verletzung des Verfassungsgebotes der Wiedervereinigung evident und die Maßnahmen unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen sei. Insbesondere sind daher, worauf das BVfG in seinem Urteil zum Saarstatut hinweise (BVfG 4, 157, 168) die politische Ausgangslage und die politischen Realitäten zu beachten; es komme darauf an, daß unter Beachtung dieser Realitäten ein Zustand erreicht werde, der eine Annäherung an das vom Grundgesetz postulierte Ziel darstelle. Für beide Verträge war als Vorfrage zu prüfen, auf welchen Gebietsbegriff sich das Wiedervereinigungsgebot erstreckt, wie also der in der Präambel verwendete Begriff ,Deutschland* auszulegen ist. Nach allgemeiner Ansicht enthält das Grundgesetz hierüber keine für alle Bestimmungen geltende eindeutige Aussage, vielmehr ist jeder Artikel (23 GG, 166 GG) nach seinem Sinn und Zweck auszulegen. Im Rechtsausschuß ist von der Minderheit die Meinung vertreten worden, das Wiedervereinigungsgebot erstrecke sich auf Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937. Diese Meinung stützt sich auf die vom BVfG im Konkordatsurteil (BVfG 6, 309, 338) aufgestellte Identitätstheorie. Ihr gegenüber hat die Mehrheit eingewandt, daß die Aussage über den Identitätsbegriff nicht zu den tragenden Gründen des Urteils gehöre, das das BVfG in dem Beamtenurteil (BVfG 3, 132) und dem Soldatenurteil (BVfG 3, 289, 314) die Identitätstheorie in staatsrechtlichem Sinne nicht bestätigt habe und auch keine Bundesregierung sich bindend auf diese Theorie festgelegt habe. Die Ausschußmehrheit meint, daß man von der Lage ausgehen müsse, die der Parlamentarische Rat nach der Kapitulation Deutschlands und der auf Grund der Potsdamer Beschlüsse vorgenommenen Unterstellung der Gebiete jenseits von Oder und Neiße unter polnischer Verwaltung vorgefunden habe. Danach und aus dem Wortlaut der Präambel zum Grundgesetz ergäbe sich, daß der Deutschlandbegriff personal zu verstehen sei. Dementsprechend betreffe das Wiedervereinigungsgebot nur diejenigen Teile Deutschlands, in denen das deutsche Volk geschlossen lebt und frei ist oder sein könnte, den Willen zu einer Wiedervereinigung zu realisieren. Für den Moskauer Vertrag ergibt sich hieraus folgendes: In Artikel 3 des Moskauer Vertrages stimmen die Vertragsparteien darin überein, daß die gegenwärtigen Grenzen in Europa einschließlich der Oder-NeißeLinie und der Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR unantastbar und unverletzlich sind. 356

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Die Aussage erstreckt sich also auf Gebiete, die nadi der Identitätstheorie ganz und nach der personalen Theorie zum Teil unter den Begriff ,Deutschland* fallen. Trotzdem hat der Ausschuß in seiner Mehrheit sich davon überzeugt, daß ein Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot aus folgenden Gründen nicht vorliegt: In Verbindung mit der in Artikel 2 des Vertrages enthaltenen Bestätigung des allgemeinen völkerrechtlichen Gewaltanwendungsverbotes ergibt sich, daß nur gewaltsame Grenzänderungen ausdrücklich ausgeschlossen sein sollen, nicht aber einvernehmliche Grenzänderungen. Hinzu kommt — und darauf haben die Vertreter der Bundesregierung nachdrücklich hingewiesen — sowohl der Brief zur deutschen Einheit, nach dem die Wiedervereinigung weiterhin angestrebt werden könne, als auch die durch den Notenwechsel zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten bestätigte gemeinsame Auffassung der Vertragsparteien, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und damit für eine Wiedervereinigung unberührt bleiben. Der Moskauer Vertrag schließt also eine Wiedervereinigung auf friedlichem Wege rechtlich nicht aus und enthält keine endgültigen Grenzänderungen, die einem Friedensvertrag vorbehalten sind. Aber auch tatsächlich ist nicht festzustellen, daß der Vertrag die Wiedervereinigung evident erschwert oder unmöglich macht. Bei Beurteilung dieser Frage war von der politischen Gesamtsituation auszugehen. Diese ist davon gekennzeichnet, daß die bisherige Politik Deutschland einer Wiedervereinigung nicht näher gebracht hat. Nunmehr ist die Weltpolitik in eine Phase der Respektierung des Status quo eingetreten, die eine Überwindung der Spaltung zwischen Ost und West auf friedlichem Wege ermöglichen soll. In diese Entspannungsbemühungen paßt sich der Moskauer Vertrag ein. In ihm bekräftigen die Vertragsparteien, daß in ihrem Verhältnis zueinander Artikel 2 der UNO-Charta gilt, wonach die Mitglieder der Vereinten Nationen in ihren Beziehungen untereinander auf die Anwendung und Androhung von Gewalt verzichten. Dieser umfassende Gewaltverzicht schließt auch die Anwendung der Artikel 53 und 107, die eine Freistellung von Bestimmungen der Charta enthalten, im Verhältnis zur Bundesrepublik aus. Damit ist rechtsverbindlich vereinbart, daß ein Interventionsanspruch gegenüber der Bundesrepublik. aus der UNO-Charta nicht hergeleitet werden kann. Der Moskauer Vertrag also verschlechtert — negativ abgegrenzt — in keiner Weise die bei Vertragsabschluß gegebene Ausgangslage, positiv gesprochen verbessert er durch Entspannung und Klimabereinigung die Chance, daß auch die vierte Siegermacht, ohne die es nicht geht, die UdSSR, langfristig doch noch einer Wiedervereinigung zustimmt, dient er also der Annäherung an das vom Grundgesetz gesetzte Ziel. Rechtlich ist daher ein Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot nicht gegeben. 2. Warschauer Vertrag

In Artikel I stellen die Vertragspartner fest, daß die bestehende Grenzlinie die wirkliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen und unverletzlich ist. Die Vertragsparteien würden daher weder jetzt noch in Zukunft Gebietsansprüche gegeneinander erheben. 357

Herbert G. Marian

Wenn man die personale Theorie zugrunde legt, so erstreckt sich diese Bestimmung nicht auf das Deutschland' im Sinne des Wiedervereinigungsgebotes, so daß eine Verletzung von vornherein ausgeschlossen ist. Aber auch wenn man mit den Anhängern der Identitätstheorie von Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 ausgeht, ist nach Ansicht der Mehrheit des Rechtsausschusses das Wiedervereinigungsgebot aus den gleichen Gründen nicht verletzt, die zum Moskauer Vertrag dargelegt worden sind. Hinzu kommen noch folgende Erwägungen: Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob Artikel 1 eine Ersitzung des Gebietes jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Polen ermöglicht, auf einen bestehenden Rechtstitel verzichtet und die Spaltung Deutschlands vertieft wird. Die Vertreter der Bundesregierung haben hierzu ausgeführt: Der Warschauer Vertrag könne schon deswegen nicht die Grundlage für eine Ersitzung oder besser für eine historische Konsolidierung einer Rechtslage, die zunächst völkerrechtswidrig gewesen sein mag, bieten, weil sich die polnische Seite niemals auf diesen Erwerbstitel berufen habe. Polen gehe vielmehr davon aus, daß ihm in Potsdam die Souveränität endgültig übertragen worden sei und nur noch die formelle friedensvertragliche Bestätigung ausstehe. Ein weiteres Element für die historische Konsolidierung liege in dem von Anfang an vorhanden gewesenen Annexionswillen der Polen. Durch den Warschauer Vertrag trete kein weiterer Rechtsverlust ein. Umgekehrt liege dagegen ein kleiner Vorteil in der unwidersprochenen Annahme des Notenwechsels mit den Westmächten über die Anerkennung der Viermächte-Verantwortung; diese wirke der historischen Konsolidierung sogar entgegen. Der Ausschuß billigte die Ansicht, daß durch den Vertragsabschluß die historische Konsolidierung nicht gefördert wird und somit das Wiedervereinigungsgebot nicht tangiert wird. 3. Offenhalten

der Beitrittsmöglichkeit

gemäß Art. 23 S. 2 GG

Es war ferner zu prüfen, ob die Verträge mit Artikel 23 S. 2 GG vereinbar sind, wonach in den anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt das Grundgesetz in Kraft zu setzen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Saarstatut (BVfG 4 157, 174) erwogen, daß aus dieser Bestimmung möglicherweise eine Offenhaltungspflicht abzuleiten sei. Diese ergibt sich allerdings nicht aus Wortlaut und Sinn dieser Vorschrift, die nur besagt, daß, wenn ein Teil Deutschlands der Bundesrepublik beitritt, dort das Grundgesetz in Kraft zu setzen ist. Eine positive Pflicht, den Beitritt anderer Teile zu ermöglichen oder alles zu unterlassen, was ihn erschweren könnte, enthält sie nicht. Bei dieser strikten Interpretation wird Artikel 23 S. 2 GG von den Verträgen nicht berührt. Es wurde im Ausschuß auch die Meinung vertreten, daß Artikel 23 S. 2 GG durch den Beitritt der Saar als konsumiert anzusehen und schon deswegen auf die Verträge nicht anwendbar sei. Jedenfalls hat sich der Ausschuß davon überzeugt, daß auch, wenn aus Artikel 23 S. 2 GG eine Offenhaltungspflicht abgeleitet werden kann, diese durch die Verträge nicht verletzt ist. Denn die Offenhaltungspflicht hinsichtlich einzelner Teile Deutschlands kann logischerweise nicht weitergehen als das aus der Präambel abgeleitete Wiedervereinigungsgebot im Ganzen, das nicht verletzt ist. 358

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Im übrigen ist eine einvernehmliche Änderung der Grenzen, wie oben dargelegt wurde, durch die Verträge rechtlich nicht ausgeschlossen worden. Damit ergibt sich, daß auch ein freiwilliger Beitritt nicht ausgeschlossen wird. Ein anderer Beitritt ist nicht vorstellbar — selbst ein Beitritt aus freiem Willen der Bevölkerung gegen den Willen der Regierungen oder mindestens einer der vier Siegermächte ist ohne Krieg und daher ohne Verletzung des schon in Artikel 26 GG verankerten Gewaltverzichts nicht möglich. Auch bei der Beurteilung der etwaigen Offenhaltungspflicht aus Artikel 23 GG gilt im übrigen, daß durch die Verträge eher eine Verbesserung und jedenfalls keine Verschlechterung der Chancen für einen friedlichen Beitritt anderer Teile Deutschlands eintritt. Letztlich war auch hier zu beachten, daß die Verträge eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnehmen, sondern daß diese und zugleich die Frage der Grenzregelung für Deutschland als Ganzes rechtlich offen und eine Angelegenheit der Vier Mächte bleibt. 4. Gebietsabtretungen

Der Rechtsausschuß hat ferner das Argument der Minderheit untersucht, daß die Verträge Gebietsabtretungen enthalten, diese aber kraft Verfassungstradition nur im Wege der Grundgesetzänderung vorweggenommen werden könnten. Der Ausschuß war mit Mehrheit der Auffassung, daß die beiden Verträge schon deswegen keine Gebietsabtretungen zum Gegenstand haben können, weil durch sie mit Sicherheit kein Gebietsteil der Bundesrepublik unter fremde Staatshoheit gerät. Abgesehen davon habe ich bereits ausgeführt, daß die Regelung der Grenzen Deutschlands nach wie vor unter der Verantwortung der Vier Mächte steht und einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten bleibt. Im übrigen konnte der Ausschuß keine verfassungsrechtliche Tradition feststellen, wonach Gebietsabtretungen einer Grundgesetzänderung bedürfen. Jedenfalls ist bisher bei keiner Gebietsabtretung das Grundgesetz geändert worden. Gemäß Artikel 115 e Abs. 3 Grundgesetz genügt für den Friedensschluß ein normales Gesetz. Wenn für diesen einschneidenden Akt eine verfassungsändernde Mehrheit nicht erforderlich ist, ist nicht einzusehen, daß für eine Gebietsabtretung diese entgegen dem Wortlaut des Grundgesetzes notwendig sein soll. 5. Fehlen eines Optionsrechtes

Besonders eingehend hat der Rechtsausschuß das Vorbringen geprüft, ob die Verträge die sich aus Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 16 und 116 Grundgesetz ergebende Fürsorge- und Schutzpflicht gegenüber den eigenen Staatsangehörigen verletzen und damit gegen das Gebot des Schutzes der Menschenwürde verstoßen. Die Minderheit hatte geltend gemacht, die Verträge verstießen gegen diese Fürsorgepflicht, weil die in den Gebieten jenseits der Oder/Neiße lebenden Deutschen durch den Vertragsabschluß den Status als Deutsche verlören und kein Optionsrecht für alle Deutschen vereinbart worden sei, das die Ausreise unter den international üblichen Bedingungen gestatte. Die humanitäre Information der polnischen Regierung sei schon deswegen kein Ersatz, weil es sich um keine zweiseitige Vereinbarung handelt. 359

Herbert G. Marxian

Diese Frage berührt allerdings den Moskauer Vertrag nicht, weil er nach seinem Wortlaut die Frage der Staatsangehörigkeit nicht betrifft. Zum Warschauer Vertrag ist im Ausschuß festgestellt worden, daß die in den Gebieten östlich der Oder/Neiße lebenden Deutschen ihre deutsche Staatsangehörigkeit bisher auch dann nicht verloren haben, wenn sie auf ihren Antrag die polnische Staatsangehörigkeit erwarben, weil die Voraussetzungen für den Verlust gemäß § 25 RuStAG (Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz) nicht vorlagen. Auch durch den Vertragsschluß verliert kein Deutscher die deutsche Staatsangehörigkeit, weil der Vertrag keine Gebietsabtretung enthält. In der Schlußphase der Verhandlungen ist durch formelle Erklärung des Bundesaußenministers überdies noch einmal klargestellt worden, daß keinem Menschen Rechte verlorengehen, die ihm nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland zustehen. Davon zu trennen war die Frage, ob der Vertrag die aktive Ausübung des diplomatischen Schutzes für die beachtliche Zahl von Doppelstaatlern erschwert. Hierzu erklärten die Vertreter der Bundesregierung, daß nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts die Staatsangehörigkeit des Territorialstaates Vorrang hat. Die vollen Rechte als Deutscher können daher erst nach der Ausreise in die Bundesrepublik gewährt werden. Der Ausschuß hat aus diesen Erklärungen gefolgert, daß weder die Rechtsposition noch der diplomatische Schutz durch den Abschluß des Vertrages verschlechtert wird und insbesondere kein automatischer Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit eintritt. Damit war auch ein Verstoß gegen Artikel 16 und 116 Grundgesetz zu verneinen. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Bundesrepublik ihrer Schutzverpflichtung aus Artikel 1 Grundgesetz in ausreichender Weise nachkommt, war im übrigen wieder die politische Ausgangslage in Betracht zu ziehen und das Erreichte nach den Maßstäben der Annäherungstheorie zu messen. Danach hat sich die rechtliche Situation der deutschen Bevölkerung nicht verschlechtert. Wenn auch eine vertragliche Regelung des Optionsrechtes, des Minderheitenschutzes und anderer humanitärer Fragen nicht zu erreichen war, verbessert der Vertrag aber nach Ansicht der Ausschußmehrheit die Ausgangslage insofern, als nach Artikel I I I weitere Schritte zur Normalisierung der Beziehungen folgen sollen und als durch die Übergabe der Informationen über Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme* jedenfalls eine einseitige Verpflichtung mit völkerrechtlicher Bindung von polnischer Seite eingegangen worden ist. Tatsächlich ist die Zahl der Auswanderer im letzten Jahr erheblich gestiegen. 6. Zu Artikel 3 des Moskauer Vertrages

Bei den Beratungen des Ausschusses ist noch die Frage aufgeworfen worden, ob Artikel I I I des Vertrages, wonach sich die Vertragspartner verpflichten, daß »niemand* die gegenwärtigen Grenzen antastet, gegen das in Artikel 5 Grundgesetz gewährleistete Recht auf Meinungsfreiheit verstoße. Die Vertreter der Bundesregierung stellten klar, daß der Vertrag überhaupt nur die Beziehungen der Vertragsparteien selbst zueinander regele und daß daher der Begriff niemand' nur im Sinne von Völkerrechtssubjekten verstanden werden könne. Das 360

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Wort antasten' bedeute, daß die Grenzen nicht mit Gewalt in Frage gestellt werden dürften; die Vertretung eines Rechtsstandpunktes falle nicht hierunter. Im übrigen könne die Bundesregierung nur Verpflichtungen eingehen, die sie nach innerstaatlichem Verfassungsredit auch einhalten könne; das Recht auf Meinungsfreiheit könne und wolle sie nicht einschränken. Damit wurden die Bedenken befriedigend ausgeräumt. Im Verlauf der gründlichen Erörterung der verfassungsrechtlichen Probleme wurde von keinem Land ein Antrag auf Ablehnung der Vertragsgesetze aus Rechtsgründen gestellt. Es wurde auch von keinem Land ein Antrag auf Änderung einer konkreten Bestimmung des Grundgesetzes für erforderlich gehalten, respektive die Einbringung eines Änderungsgesetzes in Aussicht gestellt. Es wurde nicht einmal in irgendeinem Falle positiv behauptet, daß eine Vertragsbestimmung das Grundgesetz verletze. Es wurden vielmehr lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit geäußert und eine Entschließung vorgeschlagen, wonach die Verabschiedung der Vertragsgesetze eine klarstellende Ergänzung des Grundgesetzes gemäß Artikel 79 Absatz 1 S. 2 Grundgesetz voraussetze. Ich darf dazu bemerken, daß es einer Ausräumung von Zweifeln nur bedarf, wenn man den Verträgen positiv gegenübersteht. Ob die Antragsteller dies ausdrücken wollten, lasse ich offen. Auf jeden Fall hatte die Mehrheit derartige Zweifel nicht; sie lehnte den Antrag mit 7 : 4 Stimmen ab. 7. Zustimmungsbedürftigkeit

Die in der öffentlichen Diskussion in den letzten Monaten von Nichtjuristen hochgespielte Meinung eines einzelnen Staatsrechtslehrers, die Vertragsgesetze bedürften der Zustimmung des Bundesrates, fand im Ausschuß nicht einen einzigen Befürworter; 8 Länder sprachen sich ausdrücklich dagegen aus, während 3 Länder durch ihre Enthaltung nicht Farbe bekennen wollten. Dieses eindeutige Ergebnis ergibt sich daraus, daß der Bundesrat nach dem klaren Wortlaut von Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz bei Verträgen, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln, allein in der Form eines einfachen Gesetzes mitwirkt. Nur wenn sich ein politischer Vertrag gleichzeitig auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht und sich aus einer konkreten Bestimmung des Grundgesetzes (etwa Artikel 84 Absatz 1 und 5 oder Artikel 106 Absatz 3, 4 Grundgesetz) die Zustimmungsbedürftigkeit ergibt, hat der Bundesrat auch bei politischen Verträgen ein Zustimmungsrecht. Daß diese Voraussetzungen bei den beiden Vertragsgesetzen gegeben sind, ist bisher nicht einmal behauptet worden. Der Rechtsausschuß befindet sich mit dieser Auffassung in Einklang mit der von ihm und vom Plenum des Bundesrates in 23 Jahren ständig vertretenen Ansicht und mit der Staatspraxis. Die Vertragsgesetze sowohl über den Beitritt Deutschlands zum Europarat, den Gründungsvertrag zur Montanunion, den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zur NATO als auch über den Deutsch/Französischen Vertrag sind mit der bei einfachen Vertragsgrenzen üblichen Klausel ,Die verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrates sind gewahrt* verkündet worden. 361

Herbert G. Marian

Es bestand keinerlei Veranlassung, von der bisherigen Praxis abzugehen und sich der auch von der gesamten Staatsrechtslehre überzeugend abgelehnten These eines einzelnen anzuschließen, daß der Bundesrat eine besondere Schutz- und Kontrollfunktion habe, aus der sich bei Vertragsgesetzen zu politischen Verträgen ein formelles Zustimmungsrecht ergebe. Zusammenfassend darf ich feststellen, daß der Ausschuß keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Verträge feststellen konnte und dem Bundesrat empfiehlt, gegen beide Vertragsgesetze keine Einwendungen zu erheben." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, ratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

Scheel,

führt auf der Bundes-

„Heute aber behaupten zu wollen, wir hätten in diesen Verhandlungen alles gegeben und nichts erhalten, nachdem es uns gelungen ist, die Berlin-Regelung zu erreichen, die völkerrechtliche Anerkennung der Grenzen zu vermeiden und den vertraglichen Gewaltverzicht zur Grundlage unseres Verhältnisses zur Sowjetunion zu machen — das, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich, bescheiden und zurückhaltend, wie ich nun einmal spreche, mit ,unerlaubt' charakterisieren. Ähnliches ist zum deutsch-polnischen Verhältnis festzustellen. Auch der Warschauer Vertrag hat die ursprünglichen polnischen Forderungen und Erwartungen nicht erfüllt und hat sie nicht erfüllen können. Dies gilt insbesondere für den Friedensvertragsvorbehalt. Wir haben jedoch dem polnischen Wunsch, in gesicherten Grenzen zu leben, Rechnung getragen und damit den Weg angetreten aus einer der dunkelsten Epochen in unserem Verhältnis zum polnischen Volk zur Aussöhnung und Zusammenarbeit." „Die Kritiker der beiden Verträge interpretieren die abenteuerlichsten Dinge in die Verträge hinein. Sie sehen gefährliche Dissense, Mehrdeutigkeiten und divergierende politische Begriffsinhalte. Sie sollten sich, meine ich, zunächst einmal darauf konzentrieren, was im Vertrag wirklich an konkreten gegenseitigen Verpflichtungen niedergelegt ist. Bei dem Gewaltverzicht handelt es sich unstreitig um den tragenden Vertragsbestandteil, einen Bestandteil, der einen konkreten normativen Inhalt hat. Die Eindeutigkeit der benutzten Begriffe ist insbesondere durch die Bezugnahme auf die Charta der Vereinten Nationen klar und deutlich abgesichert. ,Drohung mit Gewalt' und ,Androhung von Gewalt' sind völkerrechtlich gebräuchliche Begriffe, die hinreichend bestimmt sind." „Der zweite konkrete Vertragsinhalt ist die Achtung der Grenzen. Sie steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht. Auch hier wiederum gibt es in den Verträgen klare, unzweideutige Formulierungen, für Spekulationen sollte eigentlich kein Raum sein. Manche Kritiker haben dennoch versucht, in die Verträge den Begriff der Grenzanerkennung durch die Bundesrepublik hineinzulegen und die Verträge als Grenzverträge zu apostrophieren. Seltsam ist nur, daß die Verträge nirgendwo von Anerkennung sprechen. Der 362

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sowjetische Außenminister selbst machte klar, daß die Tatsache, daß die Verträge nicht von Anerkennung sprechen, kein Zufall ist. Ich wiederhole seine formelle und verbindliche Erklärung in diesem Zusammenhang. Er sagte: Wir sind Ihnen entgegengekommen in der Grenzfrage, als wir den Begriff Anerkennung fallengelassen haben. Das war für uns — die Sowjetunion — ein sehr komplizierter und politisch schmerzhafter Prozeß. Einige Kritiker haben sich, meine Damen und Herren, sogar zu der Behauptung verstiegen, mit den Grenzartikeln der beiden Verträge verzichte die Bundesrepublik auf deutsches Gebiet und auf die Wiedervereinigung. Da kann man nur fragen: Wo steht denn das eigentlich in den Verträgen? Inzwischen haben Vertreter von Mitgliedern des Bundesrates, die der CDU/ CSU angehören, im Auswärtigen Amt in drei eingehenden Sitzungen zusätzliche Informationen aus den Niederschriften der Verhandlungen und der Vorgespräche erhalten. Sie werden daraus sicherlich auch erkannt haben, wie große Sorgfalt und wie großen Nachdruck die Unterhändler der Bundesregierung darauf verwandt haben, gerade das eindeutig klarzustellen, was von den Kritikern der Verträge jetzt wieder verunsichert wird: daß hier nämlich nicht auf deutsche Gebiete verzichtet worden ist und daß nunmehr vertraglich abgesichert ist, daß unsere Politik der deutschen Einheit nicht mehr als aggressive Politik gekennzeichnet werden kann, sondern daß sie sich durchaus im Einvernehmen mit den Verträgen bewegt. Im Moskauer Vertrag wird lediglich gesagt, daß die Grenzen nicht angetastet werden dürfen und unverletzlich sind; damit sind Gewaltakte ausgeschlossen. Auch die Feststellung, daß keine Gebietsansprüche vorhanden sind, auf Grund deren Änderungen der gegenwärtig bestehenden Grenzlinien verlangt werden können, schließt weder eine auf freiwilligem Entschluß der Beteiligten beruhende einvernehmliche Änderung oder Aufhebung der Grenzen noch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes aus. Der deutsche Rechtsstandpunkt ist in dieser grundlegenden Frage aufrechterhalten und mehrfach abgesichert worden. Ich verweise auf die Präambel, Abs. 3, des Moskauer Vertrages, der die Verbindungen zu den Adenauer-Bulganin-Verhandlungen des Jahres 1955 einschließlich des damaligen Schriftwechsels herstellt; ich verweise auf Art. 4, der die früheren, von den Vertragspartnern abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen — vor allen Dingen den Deutschlandvertrag — unberührt läßt; ich verweise auf den Brief zur deutschen Einheit und den Notenwechsel der Bundesregierung mit den drei Westmächten. Somit ist festzustellen, daß auch in der Grenzfrage zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion kein Dissens besteht. Auch der Warschauer Vertrag kann nicht als Grenzvertrag qualifiziert oder einem Friedensvertrag gleichgestellt werden. Art. 1 dieses Vertrages schafft keine Grenzen. Ausgehend von der wirklichen Lage erklärt die Bundesrepublik Deutschland lediglich, daß sie die Westgrenze Polens, so wie sie verläuft, nicht mehr in Frage stellen wird. Die Entscheidung des gesamtdeutschen Souveräns ist jedoch auch insoweit nicht präjudiziert worden. Der deutsche Rechtsstandpunkt ist auch hier mehrfach abgesichert. 363

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In Artikel 4 des Warschauer Vertrages werden die früher von den Parteien geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen als unberührt bezeichnet. In dem Notenwechsel zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten wird der Vorbehalt bezüglich der endgültigen Grenzfestsetzung in einer friedensvertraglichen Regelung aufrechterhalten. Dabei ist wichtig, daß dieser Notenwechsel der polnischen Seite vor Unterschrift des Vertrages formell zur Kenntnis gebracht wurde, ohne daß Widerspruch erhoben worden wäre. Zwar ist die Haltung der polnischen Regierung und die der Bundesregierung über den rechtlichen Ausgangspunkt der Grenzaussage nicht konform. Aber eine konforme Haltung über den rechtlichen Ausgangspunkt herbeizuführen, war nicht unsere Absicht bei der Vertragsverhandlung. Für die beiden Vertragsparteien reichte die Ubereinstimmung über die im Vertrag niedergelegte Feststellung, daß nämlich die Oder-Neiße-Linie die polnische Westgrenze bildet, aus. Mehr konnte schlechterdings von einem Vertragswerk, das am Beginn eines Normalisierungs- und Entspannungsprozesses stehen soll, nicht erwartet werden. Lesen wir doch nicht mehr in diese Grenzartikel hinein, als sie wirklich aussagen! Hier spricht die Bundesrepublik nur für sich selbst, für niemanden sonst. Ihre Hoheitsgewalt erstreckt sich nur auf das Gebiet innerhalb ihrer Grenzen. Das war nie anders — wenn manche das vielleicht auch anders empfunden haben —, aber es war nie anders, und es wird nie anders sein. Verfügungen über Grenzen außerhalb ihres Hoheitsbereichs kann sie, die Bundesrepublik, nicht treffen. Wenn es zu Verhandlungen über eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland kommen sollte, so wird sich eine Einigung nur ergeben können, wenn alle Parteien — und zu diesen Parteien wird auch Polen gehören — dem Ergebnis einer solchen Einigung zustimmen. Selbst die Kritiker des Warschauer Vertrages sollten sich jetzt einmal überlegen, was sie mit ihren Positionen in der Frage der polnischen Westgrenze heute und in aller Zukunft noch in der praktischen Politik anfangen wollen. Die Alternative zum Warschauer Vertrag ist allein die Fortsetzung des Immobilismus im Verhältnis der beiden Länder zueinander." „Meine Damen und Herren, ein besonders verwirrender Bereich der Spekulation um diese Verträge sind ihre sogenannten Konsequenzen für die Gesetzgebung der Bundesrepublik und für die Individualrechte der Deutschen. Audi hier sollte die Grundregel gelten, daß Verträge aus ihrem Wortlaut heraus zu interpretieren sind. Weder der Moskauer noch der Warschauer Vertrag befassen sich mit diesen Individualrechten. Insbesondere betrifft die Grenzfeststellung des Artikels 1 des Warschauer Vertrages nicht die Rechte von Privatpersonen. Diese Rechte waren nicht Gegenstand der Vertragsverhandlungen, und der Vertrag enthält darüber bewußt keine Bestimmung. Ich habe darüber vorsorglich in der letzten Plenarsitzung in der Nacht vom 13. auf den 14. November 1970 in Warschau folgende Erklärung abgegeben: Durch den Abschluß dieses Vertrages gehen keiner Person Rechte verloren, die ihr nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetzen zustehen. 364

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Dabei ist der polnischen Delegation auf eine entsprechende Frage ausdrücklich erläutert worden, daß sich diese Erklärung insbesondere auch auf die Staatsangehörigkeit bezieht. Die polnische Seite hat diese Erklärung zur Kenntnis genommen und ihr nicht widersprochen. Diese Erklärung bezieht sich darüber hinaus auf die Vermögensrechte der Vertriebenen und alle anderen Individualrechte, die Personen nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetzen zustehen. Zwar können, von der Bundesrepublik her gesehen und unter Vorbehalt der auf ganz Deutschland bezogenen Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte, diese Gebiete jenseits der Oder/Neiße nach dem Inkrafttreten des Warschauer Vertrages nicht mehr als Inland betrachtet werden. Der Wechsel der Inlandsqualität des betroffenen Gebietes ändert jedoch nach dem vorgesagten nichts an den bestehenden Individualrechten." „Nun komme ich zu einem Argument, das eine ernste Prüfung verdient. Ein von mir sonst sehr geschätzter Kollege aus den Reihen der Opposition hat am 4. Februar in einer angesehenen Wochenzeitschrift geschrieben — ich habe schon zwei lobende Bemerkungen gemacht —, die Teilung Deutschlands werde — und das begründe seine schwersten Bedenken gegen den Moskauer Vertrag — durch diesen Vertragsabschluß vertieft. Was kann denn — so frage ich — den Zustand der Teilung über das Maß hinaus vertiefen, das wir seit mehr als 25 Jahren kennengelernt haben. Die Teilung Deutschlands hängt doch nicht davon ab, ob die Zentralafrikanische Republik die DDR anerkennt oder nicht. Die Teilung Deutschlands vollzieht sich doch hier in Deutschland seit mehr als 25 Jahren. Wir waren und sind doch ohnmächtige Zeugen dieses Vorgangs, der in seiner historischen Dimension ohne Vergleich ist." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Ministerpräsident Dr. K o h l (Rheinland-Pfalz) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Die Verträge von Moskau und Warschau — das weiß jeder in diesem Hause — sind nicht nur ein Instrument der Bonner Politik, der Bonner Außen- und Ostpolitik, deren Ziele Entspannung und Frieden wir alle in diesem Hause teilen. Sie sind gleichzeitig — und niemanden kann das angesichts der Klarheit der östlichen Sprache erstaunen — Instrument der sowjetischen Außen- und Westpolitik, deren Ziele — das haben Sie, Herr Bundesaußenminister, soeben wieder deutlich gemacht — auch nach Auffassung der Bundesregierung unseren freiheitlichen und nationalen Interessen zuwiderlaufen können. Um es hier klar zu sagen — und dies ist keine Pflichtübung —: In dieser Frage kann man davon ausgehen — und das weiß auch die Bundesregierung —, daß wir alle in Deutschland ohne Ausnahme der politischen Herkunft nach dem Ausgleich und dem Frieden mit unseren westlichen Nachbarn, nach der Begründung der Freundschaft — ich denke hier insbesondere an unseren französischen Nachbarn — nun auch Frieden und Ausgleich und, wenn möglich, bald freundnachbarsdiaftliche Beziehungen zu unseren Nachbarn in Mittel- und Osteuropa anstreben und wollen. Dies gilt ganz besonders — aus vielen Gründen, die mit der Last und der Schuld der jüngsten deutschen Geschichte zusammen365

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hängen — für unsere polnischen Nachbarn. Aber, meine Damen und Herren, wer das sagt und diese Verträge dennoch kritisch betrachtet, macht keine Politik des ,Spritz mich und mach mir den Pelz nicht naß', sondern er macht genau das, was von ihm nach der Verfassung dieses Landes verlangt wird: er betrachtet nüchtern und abwägend Schritt für Schritt. Die Ostverträge — und dies gilt ganz besonders für den Moskauer Vertrag — kranken nach unserer Auffassung an einem schweren, vielleicht sogar lebensgefährlichen Übel. Diese Krankheit heißt Mehrdeutigkeit oder Dissens. Ihre Symptome sind die Versuche beider Seiten, die Kautschukbegriffe und zweilichtigen Formulierungen noch vor der Ratifikation hier bei uns durch einseitige Auslegungen abzusichern. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie dürfen versichert sein, daß wir, die CDU/CSU in der Bundesrepublik, aus unserer nationalen Verantwortung heraus Ihre Bemühungen um die Absicherung unserer Reditsauffassungen und Interessen überhaupt nicht erschweren wollen. Im Gegenteil! Aber, meine Damen und Herren, was sind das für Entspannungsverträge, die schon im Vorstadium eine komplizierte juristische Absicherungspolitik gegen den angeblichen Entspannungspartner notwendig machen?! Das Thema der Mehrdeutigkeit ist von großer Bedeutung. Es berührt die Fundamente unserer internationalen Glaubwürdigkeit und berührt gleichzeitig die Fundamente des künftigen Friedens in Europa. Ich greife dieses Thema ohne jede Polemik auf und erinnere daran, daß sich auch die Bundesregierung der ihm innewohnenden Problematik wohlbewußt ist. Sie, Herr Bundesaußenminister, haben noch vor dem Abschluß des sogenannten Meinungsaustausche Bahr-Gromyko im Bundestag erklärt — ich darf wörtlich zitieren —: Die Bundesregierung wünscht, mit der Sowjetunion Erklärungen über einen Gewaltverzicht auszutauschen, die zugleich ein ausgewogeneres Verhältnis mit wachsendem Vertrauen auf beiden Seiten herstellen. Ein offener oder versteckter Dissens müßte dieses Verhältnis erheblich belasten. Über den Inhalt der Begriffe muß deshalb volle Klarheit bestehen. Ich kann dem eigentlich fast nichts hinzufügen. Nach dieser außerordentlich wichtigen Zusicherung ist es jetzt unsere Pflicht, hier und im Bundestag in den kommenden Wochen diese Verträge daraufhin zu prüfen, ob sie offene oder versteckte Dissense von politischer Bedeutung und langfristiger Wirkung enthalten. Wenn das Wort des Bundesaußenministers, dem wir immer noch nachdrücklich zustimmen, Richtschnur deutscher Vertragspolitik sein will und sein muß, ergibt sich eine zwingende Konsequenz: Wir können aus Verantwortung für den Frieden Verträgen nicht zustimmen, die den Keim künftiger Konflikte deutlich in sich tragen. Mehrdeutige Vertragstexte, besonders unter rivalisierenden Partnern, sind nach aller geschichtlicher Erfahrung Grundlage neuen Unfriedens und zusätzlicher Spannung. Im Falle der Ostverträge bedeutet dies: Ihr Modus-vivendi-Charakter, den die Bundesregierung nachzuweisen versucht, muß zweifelsfrei aus den Vertragstexten selbst hervorgehoben. Es müssen Verträge sein, in denen der verbindliche und vorbehaltlose Verzicht auf Gewalt bei der Lösung strittiger Fragen für beide Seiten das zentrale Element ist. Modus vivendi bedeutet weiterhin, daß 366

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die strittigen Fragen in ihrer politischen Substanz nach Auffassung beider Seiten offenbleiben und erst bei einer endgültigen Friedensregelung beigelegt werden. Das heißt, es muß völlig klargestellt sein, daß Verträge über Gewaltverzicht von keinem Vertragspartner als Abmachung über anderweitige Verzichte, insbesondere Rechtsverzichte, ausgelegt werden können. Der Versuch der Bundesregierung, sich angesichts der Mehrdeutigkeit des Moskauer Vertragstextes durch den ,Brief zur deutschen Einheit4 sowie einen Notenwechsel mit den drei Westmächten abzusichern, wird von uns voll gewürdigt und als solcher unterstützt. Aber, meine Damen und Herren, allein die Tatsache dieses Versuches geht doch offensichtlich von der Überlegung aus, daß unser sowjetischer Partner den Vertrag gegen unsere Rechtsauffassungen und Interessen auslegen könnte. Zahlreiche Äußerungen hoher und höchster Repräsentanten der Sowjetunion seit Abschluß des Moskauer Vertrages zeigen, daß auch unser sowjetischer Partner bestrebt ist, über dessen Auslegung in seinem Sinne keinen Zweifel zu lassen." „Im Falle eines Vertrages der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion kommen noch zwei Faktoren hinzu, deren sich jeder, der hier darüber spricht, bewußt sein muß: Erstens. Das Machtgefälle zwischen der Großmacht Sowjetunion und der Bundesrepublik steht außer Diskussion. Dies bedeutet nach aller geschichtlicher Erfahrung bei einem Auslegungsstreit, daß der stärkere Partner seine Macht mit Hilfe von Druck und Drohung ins Spiel bringt. Wollen wir zwischen uns und der Sowjetunion politisches Mißtrauen abbauen, so sind Klarheit und Offenheit auf beiden Seiten ein unerläßliches Erfordernis. Zweitens. Auf uns Deutschen lastet seit Jahrzehnten der Verdacht, daß wir Verträge nicht ernst genug nehmen, daß wir zu ihrer schnellen Revision neigen oder daß wir sogar ein vertragsbrüchiges Volk seien. Die jüngste deutsche und europäische Geschichte hat leider zu diesem Bild mit beigetragen. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit behauptet wird, die Vertragstexte seien juristisches Beiwerk, der politische Effekt sei das Wesentliche, so geraten wir schnell wiederum in die Nähe des Vorwurfs mangelnden Vertragsernstes. Wenn wir uns anschicken, mit der Sowjetunion einen bedeutenden politischen Vertrag abzuschließen, so müssen auch unsere Partner von Anfang an völlige Gewißheit haben, daß wir, der deutsche Partner, diesen Vertrag bestimmt einhalten werden. Aber dann müssen wir genau wissen, wozu wir uns nach Auffassung beider Seiten in einem solchen Vertrag verpflichten. Und hier sei auch das noch deutlich herausgestellt: Gerade wir als CDU/CSU in der Bundesrepublik legen Wert auf diese Auffassung, weil wir der Meinung sind: ,pacta sunt servanda', und weil, wenn diese Verträge ratifiziert werden, jede spätere Bundesregierung natürlich im Sinne des eben Zitierten an diese Verträge gebunden ist. Dies gilt selbstverständlich auch für eine von der CDU/ CSU geführte Bundesregierung. Die Diskussion der letzten Monate, zuletzt in den Ausschüssen des Bundesrates, hat unsere Sorge vermehrt, daß die Verträge durch fundamentale Widersprüche und Zweideutigkeiten belastet sind, und zwar durch Dissense, die die Natur dieser Verträge betreffen. Handelt es sich, wie die Bundesregierung 367

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nachzuweisen versucht, um Modus-vivendi-Vereinbarungen, um Gewaltverzichte, die die strittigen Probleme nur beschreiben, aber weder materiell noch formell präjudizieren? Oder handelt es sich, wie die Mitglieder des Warschauer Paktes behaupten, um Verträge, die wesentliche Streitfragen im Verhältnis zwischen uns und den osteuropäischen Staaten zu deren Gunsten endgültig regeln? Bei einem so weittragenden Ereignis wie den Ostverträgen darf niemand den Eindruck gewinnen, geprellt oder getäuscht zu werden, weder das deutsche Parlament noch unsere Vertragspartner in Ost- und Mitteleuropa." „Wie sehr unsere Sorge um einen künftigen Interpretationsstreit begründet ist, illustriert ein bemerkenswertes unverdächtiges Zeugnis aus den letzten Tagen. Die amtliche polnische Presseagentur gab in ihrem englischsprachigen Auslandsdienst am 21. Januar 1972 den folgenden Text einer Warschauer Zeitschrift wieder: Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann vorausgesetzt werden, daß die Regierung von Bundeskanzler Brandt und Vizekanzler Scheel unter dem Druck der Opposition und in Ubereinstimmung mit der politischen Philosophie, die wir nicht teilen, versuchen wird, die Verträge auf ihre Weise zu interpretieren. Der Kampf um die eindeutige Auslegung dieser Verträge wird das nächste Stadium des diplomatischen Ringens in Europa sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor allem meine Herren Mitglieder der Bundesregierung, die fünf Länder, für die ich den Entschließungsantrag eingebracht habe, machen schwere politische Bedenken und rechtliche Zweifel gegenüber den Verträgen von Moskau und Warschau in aller Offenheit geltend. Ich verstehe, daß die Bundesregierung und auch die Koalitionsparteien über die Eindringlichkeit, mit der wir unsere Bedenken gegen die Verträge vorbringen, nicht gerade erfreut sind. Das parlamentarische Ringen um die Verträge — das muß heute deutlich ausgesprochen werden — darf nicht dazu führen, unser Volk in Friedensfreunde und kalte Krieger aufzuspalten." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Landesminister Dr. Ρ o s s e r (Nordrhein-Westfalen) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Mit der Grenzfeststellung in Artikel I des Warschauer Vertrages hat die Bundesrepublik nicht auf eigene Rechtsansprüche verzichtet, denn die Ostprovinzen waren Teile des Deutschen Reiches, aber nicht Teile der Bundesrepublik Deutschland. Über das endgültige Schicksal der Oder-Neiße-Gebiete soll nach dem Potsdamer Abkommen erst in einem Friedensvertrag mit Deutschland entschieden werden. Diese friedensvertragliche Regelung mit Deutschland haben die Westmächte gegenüber der Bundesrepublik in Art. 2 des General- oder Deutschlandvertrages ausdrücklich sich vorbehalten. Mit dem Warschauer Vertrag gibt allerdings die Bundesrepublik ihren bisherigen Rechtsstandpunkt auf, daß die Oder-Neiße-Gebiete weiterhin deutsche, von der Volksrepublik Polen nur verwaltete Gebiete seien. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat diesen Punkt mit besonderer Sorgfalt geprüft, weil in unserem Land die meisten Heimatvertriebenen — 368

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

mehr als 2,6 Millionen Menschen, d. h. mehr als ζ. B. das Bundesland SchleswigHolstein insgesamt Einwohner hat — wohnen. Aus folgenden fünf Gründen erhebt Nordrhein-Westfalen gegen den Warschauer Vertrag keine Einwendungen: 1. Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges haben nach der bedingungslosen deutschen Kapitulation nicht nur die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen, sondern in ihrer Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 auch festgestellt, daß sie die Grenzen Deutschlands später festlegen werden. In Ausführung dieser Erklärung wurde im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 die Stadt Königsberg und der nördliche Teil Ostpreußens der Sowjetunion zugesprochen'. Der südliche Teil Ostpreußens und die übrigen deutschen Gebiete ostwärts der Oder und Neiße einschließlich der früheren Freien Stadt Danzig, wurden der Verwaltung des polnischen Staates unterstellt, wobei die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens im Friedensvertrag erfolgen sollte. Gleichzeitig wurde bestimmt, daß die Oder-Neiße-Gebiete kein Teil der sowjetischen Besatzungszone seien. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zum Saargebiet. Das Saarland war nach Kriegsende zunächst Teil der französischen Besatzungszone und wurde erst 1946 durch einseitige Entscheidung Frankreichs von dieser getrennt. Die Oder-Neiße-Gebiete haben dagegen niemals zum sog. Vierzonen-Deutschland gehört, auf das sich die Kompetenzen des Alliierten Kontrollrates erstreckten. 2. Die Sowjetunion und Polen haben von Anfang an die Auffassung vertreten, daß der Friedensvertragsvorbehalt sich nur auf die endgültige ,Markierung' beziehe, d. h. auf die Absteckung des genauen Verlaufes einer schon festgelegten Grenze im einzelnen. Polen hat deshalb die Verwaltung der deutschen Ostprovinzen mit dem Willen zur Annexion übernommen. Die Proteste der Westmächte gegen den polnischen Annexionswillen sind von Jahr zu Jahr schwächer geworden und schließlich ganz verstummt. Ausschlaggebend für diese Haltung war die Tatsache, daß — wie die Konferenzergebnisse von Teheran, Yalta und Potsdam beweisen — der Wille der Alliierten nicht auf Rückgabe der OderNeiße-Gebiete an Deutschland nach beendeter polnischer Verwaltung, sondern auf Adjudikation, d. h. auf Zuweisung an Polen gerichtet war. 3. Die Westmächte sind der Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer Heimat nicht nur nicht entgegengetreten, sondern haben mit den polnischen Behörden die Einzelheiten des Abtransportes vereinbart und den Transportraum zur Verfügung gestellt. Sie haben auch der Besiedelung der deutschen Ostprovinzen durch Polen nicht widersprochen. Nichts spricht dafür, daß die Westmächte die Vertreibung der Deutschen nur als vorübergehend angesehen haben. 4. In den Vertreibungsgebieten leben heute Millionen Polen, die zu einem großen Teil dort geboren sind und dieses Land als ihre Heimat betrachten. Dem Unrecht der Vertreibung der Deutschen kann und darf nicht neues Vertreibungsunrecht folgen. 5. Es gibt keine Absichtserklärung, geschweige denn eine Garantie der Alliierten, Deutschland in den Grenzen von 1937 wiederherzustellen. In den letzten 24

Königsberg

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Herbert G. Marxian

15 Jahren hat es aber in steigendem Umfang Äußerungen westlicher Politiker aller Richtungen gegeben, daß die Oder-Neiße-Linie die polnische Westgrenze sei. De Gaulle ζ. B. hat seit 1939 mehrfach offiziell und zuletzt bei seinem Besuch in Polen die Endgültigkeit dieser Grenze betont. Wir alle wünschen eine verstärkte Zusammenarbeit der europäischen Länder. Sie kann, auch im Bereich der EWG, nicht erreicht werden, wenn die Bundesrepublik weiterhin Gebiete als deutsch reklamiert, die nach Auffassung selbst verbündeter Regierungen integrale Bestandteile des polnischen Staates sind. Mit dieser Stellungnahme erkennen wir die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat nicht als rechtmäßig an. Polen hatte 1945 weder einen historischen noch einen moralischen Anspruch auf die deutschen Ostprovinzen und erst recht nicht auf die Vertreibung der Menschen. Wenn wir das Geschehene hinzunehmen bereit sind, so um der Friedenssicherungspflicht willen, die uns Deutschen nach zwei Weltkriegen ganz besonders obliegt. Eine Änderung der territorialen Lage wäre nur durch einen Krieg denkbar, den wir alle verabscheuen und der zudem unser Untergang wäre. ,Das große Karthago', mahnt uns Bert Brecht, ,führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten/" (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Ministerpräsident Dr. S t o l t e n b e r g (Schleswig-Holstein) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Auch andere Aussagen in der Rede des Herrn Außenministers scheinen mir in einem gewissen Widerspruch zu vorherigen Erörterungen zu stehen, auch zu manchem — ich fühle mich an die Vertraulichkeit gebunden —, was die Regierung in den Ausschüssen des Bundesrates gesagt hat. Wenn der Herr Außenminister etwa zum sehr bedeutenden Thema des Interventionsrechts hier in kräftigen Formulierungen sagt, dieser sowjetische Standpunkt der Ungleichheit in der Gewaltverzichtsfrage sei im Moskauer Vertrag aufgegeben worden, dann empfehle ich ihm nodi einmal seinen eigenen Text, Seite 121 des Protokolls des Auswärtigen Ausschusses, nachzulesen, das ich aus Gründen der Vertraulichkeit nicht zitiere. Aber ich sage deutlich, daß dort eine abweichende und differenzierte Darlegung zu diesem Thema gegeben worden ist: eine Reduzierung des Interventionsanspruches nämlich. Das ist wahr! Wir alle haben ein Interesse daran, eine positive Interpretation aus unserer Sicht vorzunehmen. Aber das, was Sie und die Regierungsvertreter dort gesagt haben, deckt nicht den klassischen Kernsatz, den Sie hier vor der deutschen Öffentlichkeit formuliert haben." „Die Bundesregierung spricht seit dem Herbst 1969 von den beiden deutschen Staaten, fügt aber hinzu, daß sie füreinander nicht Ausland sein können. Sie hat in dem in Moskau paraphierten Teil — Punkt VI des Bahr-Papiers — mit der Sowjetunion die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen grundsätzlich vereinbart, betont aber zugleich, daß für sie eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht in Betracht kommt. Statt dessen sollen zu ihr »völkerrechtlich wirksame Beziehungen' hergestellt werden. 370

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Dies ist ein Unterschied, den man sicher mit großem juristischem Scharfsinn begründen kann, der aber für eine weitere Öffentlichkeit und, wie mir scheint, für viele Politiker und Juristen außerhalb Deutschlands schwer verständlich ist. Sie hat sich in dem schon erwähnten paraphierten Text des Bahr-Papiers zur — idi zitiere — ,Achtung der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompetenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen 4, verpflichtet. Zugleich will sie jedoch — von uns darin nachdrücklich unterstützt — an der einen deutsdien Staatsangehörigkeit festhalten und das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen weiterhin vertreten. Das Edio aus dem Osten, aber auch leider weithin aus dem Westen, macht deutlich, daß diese wesentlichen Einschränkungen und Vorbehalte der Bundesregierung außerhalb unserer Grenzen nur sehr schwer verständlich zu madien sind. Die Neigung wädist leider, die Verträge entgegen den klaren Aussagen der Bundesregierung doch als Teilungs- und Anerkennungsverträge zu werten. Die Texte der Verträge spiegeln im einzelnen die Widersprüche und Spannungen wider. Die unterschiedliche Interpretation bestimmter, mühsam gefundener Formulierungen ist seit ihrer Unterzeichnung noch deutlicher geworden. Es kann sich — ich unterstreiche das noch einmal, Herr Außenminister — in der Tat nicht darum handeln, daß sich irgend jemand in der Bundesrepublik diese negativen Interpretationen zu eigen macht. Nur können wir in einer politischen Situationsbeschreibung und Bestandsaufnahme nicht daran vorbeigehen, daß andere sie verwenden und eines Tages möglicherweise gegen uns verwenden. Es ist nicht zu übersehen, daß dies auch für manche Äußerungen aus dem westlichen Lager gilt. Am deutlichsten wird der Dissens — der Gegensatz — in der Frage der Grenzen sichtbar, die natürlich unmittelbar mit dem kurz behandelten Problem der völkerrechtlichen Situation und der Zuordnung der beiden Teile Deutschlands zusammenhängt. Die Bundesregierung hat immer wieder erklärt: Die Formulierungen in Art. 3 bzw. I der beiden Verträge von der territorialen Integrität' und der Unabhängigkeit der Grenzen' sind lediglich ein Ausdruck des Gewaltverzichts, keine völkerrechtliche Festschreibung der Grenzen als solche. Und das würde in der Tat ein Friedensvertragsvorgriff mit den bekannten verfassungsrechtlichen Konsequenzen bedeuten. Sie hat dann zur Oder-Neiße-Linie hinzugefügt, hier sei die Bundesrepublik gebunden, aber eine künftige gesamtdeutsche Regierung habe durchaus die rechtliche Möglichkeit, die Grenzfrage wie alle anderen Themen bei den Verhandlungen über einen Friedensvertrag zur Erörterung zu stellen. In ganz klarem Widerspruch dazu erklärte der stellvertretende polnische Außenminister Winiewicz im November 1970 in Bonn, nach Auffassung seiner Regierung habe auf Grund des Warschauer Vertrages niemand jetzt un^I in Zukunft die Möglichkeit, die Grenzfrage erneut zu behandeln. Dieser offenkundige Gegensatz ist vor allem aus verfassungsrechtlichen Gründen schwerwiegend. Ich will hier nicht die Frage erörtern, ob es ein realistisches politisches Ziel der Deutschen sein kann, die deutsch-polnische Grenze in einer friedlichen Diskussion erneut anzusprechen und in Frage zu stellen. Mir geht 24*

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es um den verfassungsrechtlichen Tatbestand, daß es nicht möglich ist, dort in amtlichen Äußerungen eine Interpretation vorzunehmen, und dies hier zu bestreiten. Das kann die Quelle neuer Spannungen sein." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2. 1972) Bundeskanzler B r a n d t

führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar

u. a. aus:

„Nach der Rede von Herrn Kollegen Stoltenberg möchte ich drei Punkte noch einmal aufgreifen, die der Herr Bundesaußenminister heute morgen in seiner Einführungsrede schon behandelt hat. Ich muß noch einmal ein Wort zum Gewaltverzicht sagen, auch weil die Ausschußerörterung dazu erwähnt worden ist, und natürlich, weil der Gewaltverzicht überhaupt der zentrale Bestandteil der beiden Verträge ist. Ich darf also noch einmal festhalten: Die Vertragspartner haben bestimmt, daß sie sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und internationalen Sicherheit von den in der Charta der UN niedergelegten Zielen leiten lassen, demgemäß ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich in ihren gegenseitigen Beziehungen gemäß Art. 2 der Charta der Drohung mit Gewalt oder Anwendung von Gewalt enthalten werden. Die UdSSR hat damit zweifelsfrei darauf verzichtet, die sogenannten Feindstaatenklauseln der Charta der Vereinten Nationen im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland geltend zu machen. Es gibt keinen Vorbehalt der UdSSR, es besteht weder ein offener noch ein versteckter Dissens. Herr Kollege Stoltenberg hat auf das Protokoll des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Bundesrates, Seite 121, verwiesen und fairerweise gesagt, er wolle die Vertraulichkeit der Beratungen respektieren. Die Regierung kann natürlich das, was sie dort gesagt hat, wenn sie es für zweckmäßig hält, auch hier wiederholen. Ich will dies tun, damit hier nichts im unklaren bleibt. Ich bitte, zunächst einmal eine frühere Seite zur Hand zu nehmen. Für die, die es nachher noch einmal anschauen: es ist die Seite 47. Dort hat der Bundesaußenminister das, was ich soeben vortrug, dargelegt. Dann ist in der Aussprache am Nachmittag — das andere war am Vormittag — Herr Bundesminister Scheel auf dort vorgebrachte Bemerkungen eingegangen und hat gesagt — er wurde nämlich gefragt, was Herr Falin, damals noch Abteilungsleiter, Reisenden aus der Bundesrepublik in einer Unterhaltung erklärt hatte —: Was Herr Falin gesagt hat, deckt sich mit dem, was ich heute morgen dazu ausgeführt habe: daß das Verhältnis der Sowjetunion zur Bundesrepublik sich durch diesen Vertrag allein auf der Basis der Nichtanwendung und Nichtandrohung von Gewalt ergibt, und daß in der Tat damit die Art. 53 und 107 für das Verhältnis der beiden Staaten zueinander nicht angewendet werden können. Er hat von »Überlagern' gesprochen. Das ist völlig richtig, solange der Vertrag Gültigkeit hat. 72

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

— Überlagern der Bestimmungen der UN-Charta, was auch die westliche Auffassung ist. — Jetzt kommt der Zuruf: ,Solange wir uns wohlverhalten!4, und darauf sagte der Bundesaußenminister : Nein, solange wir uns vertragskonform verhalten. Es ist selbstverständlich, daß man Verträge, die man abschließt, hält. Ich weiß nicht, was hieran unklar ist. Ich darf zweitens im Anschluß an die Ausführungen, die Herr Kollege Stoltenberg dazu gemacht hat, was die Grenzen angeht, noch einmal betonen: Es kann nicht deutlich genug gemacht werden, daß die im Moskauer Vertrag angesprochenen Grenzen nicht, wie man unterstellt, anerkannt werden, sondern daß gesagt wird, die Grenzen dürfen nicht angetastet werden, sie sind unverletzlich. Und die Feststellung, daß keine territorialen Ansprüche vorhanden sind, auf Grund deren Änderungen der gegenwärtig bestehenden Grenzlinien verlangt werden könnten, schließt weder eine auf freiwilligem Entschluß der Beteiligten beruhende einvernehmliche Änderung oder Aufhebung von Grenzen aus, noch steht sie einer Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes entgegen. Der deutsche Rechtsstandpunkt ist abgesichert, und der sowjetische Außenminister hat diese Auffassung auf Wunsch noch einmal bestätigt. Auch im Warschauer Vertrag schafft Art. I keine Grenzen, sondern die Bundesrepublik erklärt darin, daß sie die polnische Westgrenze nicht mehr in Frage stellen will. Und zu dem dritten Punkt: Es ist verschiedentlich vorgebracht worden, daß die Sowjetunion unter Berufung auf die vereinbarte Unverletzlichkeit der gegenwärtigen Grenzen aller Staaten in Europa versuchen könnte, einen Beitrag der Bundesrepublik Deutsdiland zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft hin zu einer politischen Union zu verhindern. Der deutsch-sowjetische Vertrag bestimmt in seinem Art. 4, daß die früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge und Vereinbarungen von ihm nicht berührt werden. Das heißt, daß die Sowjetunion, als sie diesen Vertrag unterzeichnete, von der Existenz unserer vertraglichen Bindungen in der Europäischen Gemeinschaft und den damit verbundenen politischen Zielsetzungen ausging. Auf diese sogenannte europäische Option bezieht sich ja denn audi das, was Außenminister Gromyko am 29. Juli 1970 gegenüber Bundesminister Scheel erklärt hat und was in der Anlage 1 zur Denkschrift zum deutsch-sowjetischen Vertrag wiedergegeben worden ist. Die westeuropäische Position und die Position der Bundesrepublik Deutschland werden nicht gestärkt, sondern geschwächt, wenn man dies nicht würdigt, sondern zu entwerten trachtet. Meine Damen und Herren, unser Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Verträge nicht berührt. Die Sowjetunion weiß, daß diese Bundesregierung — und sicher jede Bundesregierung — an dem Ziel festhält, durch friedliche Bestrebungen dem deutschen Volk die Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dies ist durch das Schreiben des Bundesaußenministers an Außenminister Gromyko völlig klargestellt. Außerdem verweist die Präambel des Vertrages auf den Briefwechsel aus dem Jahre 1955 und nimmt Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen und den dort in Artikel 1 verankerten Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts. Artikel 4 des Vertrages stellt klar: 373

Herbert G. Marian

frühere Verträge werden nicht berührt, also auch nicht die Verträge, die wir mit den Westmächten geschlossen haben. Gerade weil die sowjetischen Auffassungen bekannt waren, kam es doch darauf an, einen Vertrag zu schließen, der unser friedliches Streben nach deutscher Einheit und europäischer Gemeinschaft dem jahrelang erhobenen Vorwurf der Friedensstörung entzieht. Es ist auch gefragt worden, ob die Bundesregierung mit der Grenzaussage im deutsch-polnischen Vertrag einen Hebel für die Wiedervereinigung aus der Hand gegeben hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Ob es je einen solchen Hebel gegeben hat, will idi jetzt nicht untersuchen. Die Haltung der Staatengemeinschaft zur deutsch-polnischen Grenze ist bekannt. Ich habe auch darauf schon verwiesen. Ich sage hier nur eines in vollem Ernst: Wer das Schiff der deutschen Einheit mit der Fracht der alten Grenzen belastet, der wird damit rechnen können, daß es seinen Hafen nie erreicht. So sehe ich dies. Die Bundesregierung hat schon unter meinem Amtsvorgänger feierlich ihr Verständnis für den Wunsch Polens nach gesicherten Grenzen ausgedrückt. Wir haben dies innerhalb der bestehenden rechtlichen Begrenzungen getan, nämlich im Rahmen jener Begrenzungen, die sich ergeben aus der Teilung Deutschlands, aus dem Fortbestehen der Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und aus unseren bestehenden vertraglichen Verpflichtungen. Polen hat diese rechtlichen Gegebenheiten akzeptiert. Sie haben in dem bekannten Notenwechsel mit den Alliierten zum Vertrag und in Artikel IV des Vertrages selbst ihren Niederschlag gefunden." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1973) Ministerpräsident K ü b e l vom 9. Februar u. a. aus:

(Niedersachsen) führt auf der Bundesratssitzung

„Die bisherigen Darlegungen zeigen, daß das Thema dieser Stunde internationale Maßstäbe hat und in seinen inneren Voraussetzungen und politischen Möglichkeiten weit über die Dimensionen hinausgreift, die etwa ein Bundesland hat. Aber das sollte gerade uns hier im Bundesrat, so meinen wir, nicht hindern, Perspektiven anzufügen, die sich in einem Bundesland wie bei uns in Niedersachsen in besonderer Weise ergeben. Wir haben in der gesamten Ausdehnung unseres Landes zum Osten die Grenze mit dem Stacheldraht und dem Minengürtel vor Augen. Meine eigene Wohnung liegt knapp 900 m von dieser Grenze entfernt. Wir haben in Friedland das Tor der Heimkehrer und Umsiedler aus dem Osten. Das Nachkriegsschicksal Deutschlands hat Niedersachsen zu einem Flüchtlingsland gemacht. Nahezu jeder vierte Einwohner stammt aus den Gebieten ostwärts der Oder und der Neiße. Deshalb ist es kein Wunder — es ist eigentlich eine Pflicht für midi, dies zu sagen —, daß wir uns mit dem Schicksal und den Sorgen dieser aus jenen Gebieten Vertriebenen besonders verbunden fühlen. Ich weiß nicht, wieweit es der Öffentlichkeit bekannt ist, wieviel persönliche Beziehungen von denen, die bei uns sind, zu Verwandten und Bekannten in der früheren Heimat auch heute noch gepflegt werden. Wir in Niedersachsen messen deshalb den Erleichterungen, die die Verträge für unsere östlich von Oder und Neiße zurückgebliebenen Landsleute bringen, ein besonderes Gewicht bei. 374

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Es ist erwähnt worden — ich will es wiederholen —, daß 1971 nach Abschluß des Warschauer Vertrages rund 25 000 Personen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße in die Bundesrepublik übergesiedelt sind. Das sind fünfmal soviel wie im Jahre 1970. Wir teilen, weil wir es einfach wissen, die Zuversicht des Herrn Bundeskanzlers, daß diese Zahl weiter wachsen wird. Wer diese Ubersiedler einmal im Grenzdruchgangslager in Friedland gesprochen hat, ihre Genugtuung, ihre Freude erlebt hat, jetzt mit Verwandten, Freunden, früheren Nachbarn bei uns wieder zusammenzusein, der weiß, daß man der Bundesregierung Unrecht tut, wenn man ihr, wie CDU und CSU es tun, vorwirft, sie habe die Fürsorgepflicht gegenüber diesen Menschen verletzt. Wir meinen, daß es keine nachhaltigere Art als die gab, dieser Fürsorgepflicht eben durch den Abschluß dieser Verträge gerecht zu werden. Die Opposition kann nicht in Abrede stellen, daß diese Verträge im Interesse der Menschen liegen, die noch zu uns kommen möchten, und im Interesse derer, die auf sie warten. Mir scheint, daß die Beurteilung der Verträge, wie sie von deren Kritikern vorgenommen wird, offenkundig besonders unter drei Mängeln leidet. Einmal ist sie zu stark an nationalstaatlichen Denkweisen orientiert. Sie erachtet den Wert der Verträge als Beitrag zur Verständigung und Aussöhnung mit östlichen Nachbarländern als zu gering. Zum anderen sieht sie nicht — Herr Posser, ich bin ganz besonders von diesem Teil Ihrer Darlegungen beeindruckt — die besondere Verpflichtung, die uns auf Grund der Verbrechen Hitlerdeutschlands auferlegt ist. Es ist die Verpflichtung — lassen Sie mich das auch aussprechen —, die polnischen Nachbarn nicht nur als Angehörige eines fremden Staates zu betrachten, sondern auch als Menschen, die eben, wie viele unter uns, außerordentlich gelitten haben und die nun endlich — das ist aus der ganzen polnischen Geschichte heraus verständlich — von der Ungewißheit befreit werden möchten, wo Grenzen sind und ob ihre derzeitige Ruhe, ihr derzeitiger Friede etwa wieder gestört wird. Und schließlich — das ist der dritte Grund, den ich sehe — nährt die Opposition Illusionen über die Möglichkeiten gegenwärtiger und zukünftiger deutscher Außenpolitik. Unsere aus dem Osten zu uns gekommenen Mitbürger verdienen aber eine Politik, die sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet weiß, die keine Luftschlösser baut, die sich um das Erreichbare bemüht — eine Politik, die die Realitäten kennt, und zwar genausogut, wie wir sie kennen. Wer mit völlig illusionären Forderungen und Zielsetzungen zu experimentieren versucht, handelt nicht verantwortungsbewußt gegenüber denen, die in einer gemeinsamen beispielhaften Aufbauleistung bei uns ihre zweite Heimat gefunden haben und sich hier eingelebt haben. Angesichts der menschlichen Tragweite erhält unsere heutige Entscheidung im Verhältnis zu den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen eine moralische Kategorie und Qualität. Dessen sollten wir uns hier alle bewußt sein. Die Interessen der Bevölkerung bei uns in den östlichen Nachbarländern sind in den Grundlagen, um die es hier geht, gleich. Sie sind nicht gegeneinander gerichtet. Das 375

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hat auch die Opposition heute als ihre Auffassung hier zu verstehen gegeben. Es ist ihr Interesse, das Interesse Europas, aus alten historischen Verstrickungen herauszufinden. Mit den Verträgen wird ein Prozeß der Entspannung, der Normalisierung eingeleitet, der eines Tages, so hoffen wir, wenigstens die Chance bietet, daß Deutsche hüben und drüben nicht mehr durch Mauer und Stacheldraht getrennt sind. Wir wissen, daß mit den Verträgen — das ist alles gesagt worden — die Spaltung nicht verewigt wird und daß keine deutsche Option auf Wiedervereinigung aufgegeben wird. Auf den Brief zur deutschen Einheit vom 17. August ist hingewiesen worden. Ich kann auch diesen Brief nur als eine Grundlage für unsere positive Einstellung zu den Verträgen bezeichnen. Wir geben mit unseren Entscheidungen keine Positionen auf. Wir meinen aber, daß Forderungen und Ordnungsprinzipien im Leben der Völker wenig nützen, wenn sie in absehbarer Zeit nicht erfolgreich durchgesetzt werden können. Obzwar ich selber nicht Vertriebener oder Flüchtling bin, habe ich wohl doch ein Recht dazu, zu sagen, daß ich im Namen auch einer Mehrheit dieser Kreise spreche, wenn ich Ihnen für Niedersachsen das sage, was Sie ohnedies wissen: Wir werden diesen Verträgen zustimmen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Ministerpräsident D r . F i 1 b i η g e r (Baden-Württemberg) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Es gibt und es gäbe ostpolitische Initiativen, die ergriffen werden könnten, wenn letzten Endes diese Verträge nicht zum Tragen kamen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ostpolitische Verträge mit der Sowjetunion unter Zeitdruck, unter Zugzwang und unter Hektik auszuhandeln — das setzt uns von vornherein in eine so ungünstige Situation, daß wir das Optimale, das herauszuholen ist, von vornherein verschenken. Es ist doch eine Tatsache, die nicht nur die Historiker kennen, sondern die bei uns gerade landläufig ist, daß die Sowjetunion einer der allerzähesten Verhandler ist und daß der Faktor Zeit für sie eine entscheidende Rolle spielt. Wir haben diesen Faktor bei diesen Verhandlungen allein zu unserem Nachteil eingesetzt und uns damit in eine Position begeben, von der unser Partner wußte, daß die Deutschen aus diesen oder jenen Gründen zu baldigen Abschlüssen kommen wollen, glauben kommen zu müssen, und sie haben das ausgenutzt. Wir haben nicht das Recht, der Sowjetunion deswegen einen Vorwurf zu machen, sondern den müssen wir an eine andere Adresse richten. Und noch eines! Man sollte nicht gerade in einem Zeitpunkt Verträge abschließen, in dem es besonders ungünstig ist. In der Zwischenzeit, meine Damen und Herren, hat sich im Fernen Osten etwas bewegt, was unsere Position, wäre sie heute noch offen, sicherlich nicht verschlechtern würde, sondern unter Berücksichtigung des Faktors Zeit ganz bestimmt von uns bei Vertragsverhandlungen mit zum Tragen gebracht werden könnte." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) 376

Zeittafel Minister A r n d t u. a. aus:

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

(Hessen) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar

„Diese Politik der einseitigen Rechtsverwahrungen dient nicht der Rechtsverwirklichung. Sie läßt lediglich die politische Entwicklung in einen Zustand erhöhter Spannung hineintreiben. Da sie den Kampf um die behaupteten Rechte mit allen Risiken einer internationalen Friedensstörung nicht wagen kann, verflüchtigt sie sich in eine illusionäre und deklamatorische Position, der die Möglichkeit genommen ist, von einer neu ausgehandelten Rechtsbasis her auf die widrige Wirklichkeit politisch einzuwirken. Das ist — ich gebe das zu — wahrhaft Verzichtspolitik, nämlich Verzicht auf Politik. Will die Opposition eigentlich die Unterschrift der Sowjetunion unter einen Vertrag, der den europäischen Frieden sicherer macht, oder will sie es nicht? Oder will sie — wie früher einmal — die Wiedervereinigung mit der Forderung belasten, die Gebietshoheit der Bundesrepublik müsse auf das deutsche Territorium in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 ausgedehnt werden? Keine Politik in der deutschen Frage ist so unvernünftig wie jene, die in einem Medium der Geschichtsrevision und der Realitätsverleugnung auf dem schmalen Grat zwischen Illusion auf der einen Seite und Friedensstörung auf der anderen Seite betrieben wird. Es ist ein Gebot politischer Vernunft, daß wir uns im Vertrag über die Normalisierung unserer Beziehungen zu Polen im Rahmen unserer staatlichen Kompetenz über den bloßen Gewaltverzicht hinaus verpflichten, daß die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens künftig respektiert. Dabei — das ist heute morgen betont worden — legitimiert dieser Vertrag nicht das geschehene Unrecht der Vertreibung. Er begründet auch keine neuen Territorialrechte Polens. Herr Kollege Stoltenberg hat sich heute morgen auf die Ausführungen des polnischen Vizeaußenministers Winiewicz bezogen. Ich meine, daß man sich nicht auf die Ausführungen eines polnischen Vizeministers beziehen sollte, sondern auf den tatsächlichen Rechtsstatus, so wie er durch die Verträge und das Grundgesetz der Bundesrepublik gegeben ist und wie er sich außerdem aus dem internationalen Recht eindeutig ergibt. Eine Abtretung deutschen Staatsgebiets ist schon deshalb nicht vorgenommen worden, weil die Bundesrepublik weder aus eigenem Recht noch als Sachwalter eines künftigen deutschen Gesamtstaates eine Gebiets- oder Verfügungshoheit über die früheren deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie besitzt. Ein Rechtstitel auf die Ostgebiete steht der Bundesrepublik nach dem Völkerrecht und nach der übereinstimmenden Auffassung der Vier Mächte nicht zu. Die Grenzfeststellung enthält vielmehr nur Bindungen, die von der Bundesrepublik als solcher in eigenem Namen übernommen werden, das heißt, ein wiedervereinigtes Deutschland wird rechtlich durch den Vertrag nicht gebunden. Diesen Standpunkt hat die Bundesregierung in den Vertragsverhandlungen zutreffend bekräftigt. Dies ergibt sich im übrigen auch aus dem eindeutigen Wortlaut des Artikels 146 des Grundgesetzes. 377

Herbert G. Marzian

Der Warschauer Vertrag schafft die Rechtsbasis für eine Aussöhnung mit dem polnischen Volk und für die Normalisierung der staatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen. Eine solche geregelte Form des friedlichen Zusammenlebens zwischen Deutschen und Polen wäre nicht möglich, wenn die Bundesrepublik gleichsam als Rechtswahrer des Deutschen Reiches einen territorialen Revisionsanspruch geltend machen würde. Wenn die Opposition trotz dieser eindeutigen rechtlichen und politischen Situation die Grenzfrage weiterhin offenhalten will, dann muß sie sich fragen lassen, was damit erreicht werden kann, wenn kein Staat und auch kein Verfassungssatz den Anspruch der Bundesrepublik auf die Ostgebiete unterstützt und Gewalt als Mittel zu ihrer Wiedergewinnung ohnehin ausscheidet: Nichts, außer dem permanenten Risiko der Friedensstörung und der ständigen Verunsicherung der Weltpolitik, ob Deutschland sich mit den Kriegsfolgen abgefunden habe." „Mir erscheinen die Einwände nicht vernünftig. Sie sind außerdem phantasielos und — das ist politisch eigentlich entscheidend — sie sind für die deutsche Position außerordentlich schädlich, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens. Sie richten sich gegen die deutschen Interessen, weil sie geradezu mit selbstzerstörerischem Eifer nach Möglichkeiten der Vertragsdurchbrechung fahnden. Z w e i t e n s , weil die Hegemonie der Sowjetunion in Osteuropa eine Folge des Hitlerkrieges ist. Wer diesen Hitlerkrieg mit den Ostverträgen etwa nachträglich gewinnen möchte, setzt damit die Freiheit und den Frieden aufs Spiel. Abwegig ist d r i t t e n s die Spekulation, die Bundesrepublik hätte mit dem berühmten langen Atem, mit Geduld, im Bündnis mit der Zeit die Grenzklauseln vermeiden und einen vertraglichen Vollstreckungstitel etwa für die Wiedervereinigung sichern können. Herr Kollege Filbinger hat gesagt, daß die Zeit nicht reif sei, daß die Zeit ungünstig sei; und er hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Sowjetunion die Zeit eben als einen Begriff in ihre Politik mit eingestellt habe. Herr Kollege Filbinger, überlegen Sie einmal, ob in den vergangenen 26 Jahren die Zeit für uns gearbeitet hat, oder für wen denn sie in dieser Frage gearbeitet hat. Sie werden sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, daß es — wenn wir dieses Mittel der Zeit einsetzen, das heißt keine zügige vertragliche Vereinbarung suchen — dann weiter gegen uns läuft, daß unsere Position dadurch noch schlechter wird. V i e r t e n s haben die Vertragskritiker keinen glaubhaften ostpolitischen Gegenweg aufweisen können, weder in grundsätzlicher noch in methodischer Hinsicht." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Ministerpräsident D r . G o p p e l vom 9. Februar u. a. aus :

(Bayern) führt auf der Bundesratssitzung

„Man hat Bayern eine allzu große Sorge um das Grundgesetz und seine Einhaltung vorgeworfen. Bayern hat 1949 aus Sorge um Deutschland das Grund378

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

gesetz abgelehnt, weil es ihm zu zentralistisch erschien. Seit aber dieses Grundgesetz in Kraft ist, hat der Freistaat Bayern alles getan, eben diesem Grundgesetz Geltung zu verschaffen und es zu erhalten. Heute — in Sorge um Deutsdiland — fragt Bayern, ob dieses Grundgesetz nicht durch die Verträge von Moskau und Warschau in seiner Vorläufigkeit für ganz Deutschland und in seiner Gültigkeit für die völkerrechtliche Substanz Deutschlands in Frage gestellt wird. Das Grundgesetz geht von der Identität und dem Fortbestand Deutschlands über den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen hinaus in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 aus. Das Grundgesetz wollte keinen Staat neben Deutschland schaffen, sondern einen Staat für Deutschland. Es wollte kein Nebendeutschland bilden, sondern eine demokratische Staatsform für das ganze Deutschland, wenn auch die Wirksamkeit dieser Staatsform zunächst an jener Demarkationslinie endet, die einem Teil Deutschlands das demokratische System vorenthält. Die Bundesregierung trennt nach unserer Auffassung in ihrer Beurteilung der Moskauer und Warschauer Verträge Deutschland von der Bundesrepublik Deutschland. Sie behandelt Deutschland in den Grenzen von 1937 so, als gebe es statt dessen die Bundesrepublik, die DDR, den — wie es in der ersten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses hieß — weißen Fleck Berlin und die unter polnischer oder sowjetrussischer Verwaltung stehenden Gebiete östlich von Oder und Neiße, Ostpreußen nicht zu vergessen. Gegenüber unseren Bedenken, ob die Verträge von Moskau und Warschau nicht etwa wie in einem Friedensvertrag Gebiete Deutschlands abtreten, wendet die Bundesregierung ein, solche Entscheidungen seien der Bundesrepublik verwehrt; sie gehörten allein in die Zuständigkeit des Gesamtsouveräns und der Vier Mächte. Mit dieser Argumentation hebt die Bundesregierung die Bundesrepublik aus Deutschland heraus, separiert sie die Bundesrepublik gleichsam auf nur noch sich selbst. Was, so fragen wir, bleibt eigentlich von Deutschland? Wer spricht für Deutschland als Ganzes? Wer kann dann für Deutschland als Ganzes noch sprechen, ohne diesen Verträgen untreu zu werden? Wer ist dann noch von den anderen Völkern und Staaten legitimiert, auf die nationale und staatliche Einheit Deutschlands — die wir doch eigentlich über alle Parteien hinweg gemeinsam wollen — politisch und völkerrechtlich mit aller Geduld, aber auch mit allem festen Willen hinzuwirken? Wenn wir die Verträge ratifizieren, geben wir — so fürchte ich — diese Legitimation freiwillig auf — eine Legitimation, die in unserem Grundgesetz verbrieft und von der freien Welt akzeptiert ist." „Es beschwichtigt diese unsere Befürchtungen in keiner Weise, wenn die Bundesregierung sagt, die Verträge von Moskau und Warschau seien keine Grenzanerkennungsverträge, sondern Abkommen über einen Gewaltverzicht, in dem dessen Gegenstand beschrieben werde. Wer als Beschreibung des Gegenstandes jenes Gewaltverzichts bezeichnet ist, erweist sich bei genauem Zusehen als in das Gewand des Gewaltverzichts gekleidete Anerkennung deutscher Grenzen. Das ist die Substanz dieser Verträge, und diese Substanz richtet sich gegen die Substanz des Grundgesetzes, wie sie zweifellos von den Schöpfern des Grundgesetzes und bisher einhellig von allen Organen der Bundesrepublik einschließlich des Bundesverfassungsgerichts verstanden worden ist. 379

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Diese Wirkung der Verträge ist es, die uns Sorge bereitet, eine Sorge von historischer Dimension. Wir warnen vor der beklemmenden und gespenstischen Aufspaltung unseres Vaterlandes in Teile, die der bestehenden wirklichen Lage entsprechen, und in einen deutschen Gesamtsouverän Deutschland als Ganzes." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1973) Senatspräsident K o s c h n i c k vom 9. Februar u. a. aus:

(Bremen) führt auf der Bundesratssitzung

„Ich gehöre zu der Generation, die gerade noch — gewissermaßen als letzte Spende — am Krieg teilgenommen und die nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft erlebt hat, was Aufbau heißt. Wir wissen, wie sehr wir uns bemüht haben, den Weg zum Westen, zu einer freundschaftlichen Verständigung zu gehen. Ich weiß auch, wieviel schwieriger es war und ist, in Polen, in der Sowjetunion und auch in Israel Verständnis für ein neues Deutschland zu finden. Ich wüßte nicht, ob ich, wenn ich Russe, wenn ich Israeli oder wenn ich Pole wäre, den Mut hätte, wirklich jetzt schon solche Vereinbarungen mit der Bundesrepublik abzuschließen. Einige drüben haben den Mut; sie glauben an einen neuen, besseren Weg auch hier bei uns. Auch ihnen — ich meine jetzt, den Kräften in der Sowjetunion und in Polen — würden wir die Arbeit erheblich erschweren, wenn wir nicht selbst sichtbar machten, daß wir wirklich die Absicht haben, Frieden zu schaffen und einen neuen Weg der Verständigung zu finden. Aus diesem Grunde bitte ich persönlich darum, daß wir bei aller Kontroverse die Positionen der Länder und auch der beiden großen Gruppierungen im Bundestag etwas nüchterner abstecken. Ich darf für den Senat der Freien Hansestadt Bremen folgende Erklärung abgeben. Bremen erklärt zu dem Entwurf der Gesetze zum Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR sowie zum Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen sein Einverständnis. Nach gründlicher Prüfung der Rechtslage ist der Senat zu der Auffassung gelangt, daß die Ostverträge mit dem Grundgesetz in Einklang stehen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2. 1972) Ministerpräsident Dr. R ö d e r vom 9. Februar u. a. aus:

(Saarland) führt auf der Bundesratssitzung

„Die saarländische Landesregierung ist in diesem Hause leider die einzige geblieben, die nach Art. 23 GG auf Grund des Beschlusses eines frei gewählten Parlaments ihren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erklären konnte, weil Frankreich unser Selbstbestimmungsrecht anerkannt hat. Das war eine große Geste der französischen Regierung. Ich will nicht behaupten, weil es falsch wäre, Herr Bundesaußenminister, daß die Verhältnisse im Westen und im Osten unseres Vaterlandes die gleichen seien oder daß sie auch nur ähnlich wären. 380

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In einem Punkte aber, meine ich, kann der Vorgang der Wiedervereinigung im Westen und sollte er für ihre Entscheidungen lehrreich sein, nämlich in der Wahl des richtigen Zeitpunkts. Es kann kein Zweifel sein: hätte die damalige Bundesregierung beispielsweise im Jahre 1950 versucht, eine vertragliche Regelung mit Frankreich herbeizuführen, hätte das Saarland keine Chance gehabt, als Bundesland heute in diesem Hause vertreten zu sein, weil eine Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik unter den damals gegebenen Bedingungen einfach nicht möglich war. Selbst 1954 war noch nicht ein gleich gutes Verhandlungsergebnis zu erzielen, wie 1956, eben weil unser gegenseitiges Vertrauensverhältnis nodi nicht das gleiche war. Sie fragen nach Alternativen, und Sie fragen zu Recht danach. Eine wäre nach meiner Meinung gewesen, mit Geduld auf jede nur mögliche Weise das Vertrauen der östlichen Völker zu uns zu vertiefen. Da kann man nicht sagen, wenn man nicht ungerecht sein will, das hieße abwarten und zugleich Maximalforderungen erheben. Es wäre ungerecht, uns gegenüber so zu formulieren, die wir glauben, daß solche Kontakte auf allen Gebieten, wo sie möglich sind, gesucht werden müssen, auf wirtschaftlichem, auf kulturellem, auf technischem Gebiet, und wo auch immer, um dann auf der Grundlage des wiedergewonnenen Vertrauens vertragliche Regelungen herbeizuführen, die, wie wir glauben, unter den dann vorhandenen Bedingungen besser sein könnten als die vorliegenden vertraglichen Vereinbarungen, denen die Saarländische Landesregierung bis zur Stunde noch nicht zustimmen kann." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Der Erste Bürgermeister S c h u l z sitzung vom 9. Februar u. a. aus:

(Hamburg) führt auf der Bundesrats-

„Nun ist gegen die Verträge der Vorwurf erhoben worden, sie seien zu hastig und zu schnell verhandelt und auch zu schnell abgeschlossen worden. Der Vorwurf ist durch nichts begründet. Wer aber — ich sage das im Zusammenhang mit den Beratungen im Auswärtigen Ausschuß dieses Hauses — Verträge, wer Vereinbarungen mit der Sowjetunion erst dann abschließen will, wenn es keinen Dissens in den Grundsätzen der Poltitik mehr gibt, erst dann, wenn beide bereit sind, die gleichen Begriffe in der gleichen Weise zu interpretieren, der muß seine vollständige Abstinenz in jeder nach Osten gerichteten Außenpolitik dann auch deutlich erklären. Dies ist für jede Einzelperson im Lande möglich, dies ist auch für kleine politische Gruppierungen mögliche; aber dies ist auf die Dauer nicht für eine Partei durchzuhalten, die 20 Jahre die Führungsposition in der deutschen Regierung wahrnahm und ja Ansprüche auf die Zukunft stellt." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2. 1972) Der Regierende Bürgermeister S c h ü t z ratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

(Berlin) führt auf der Bundes-

„Der Vertrag von Moskau und der Vertrag von Warschau stehen in sich. Sie sind für die Bundesrepublik Deutschland die wünschenswerte und die notwen381

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dige Ergänzung zu ihrem Eingebundensein in den Westen. Sie haben ihren Eigenwert, und sie haben ihr Eigengewicht. Ihr Sinn ist, die Bundesrepublik Deutschland zu sichern. Es gibt kein Argument, das ein Nein zu beiden Verträgen rechtfertigen würde. Berlin sagt deshalb uneingeschränkt Ja zu diesen beiden Verträgen Das Land Berlin bejaht beide Verträge aber ganz besonders darum, weil es selbst, weil seine über zwei Millionen Bewohner durch das Ja zu diesen Verträgen die Inkraftsetzung des Berlin-Abkommens erleben werden. Wir in Berlin können in einem Nein zum Moskauer und zum Warschauer Vertrag nur ein Nein zum Abkommen der Vier Mächte über Berlin sehen. Und es muß jeder hier und über diesen Raum hinaus wissen: dies kann sehr leicht ein Nein zu Berlin und zu den Interessen der Berliner sein. Das klingt nüchtern, vielleicht auch hart, aber unter dem Strich ist es genau dies und nichts anderes." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, ratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

Scheel,

führt auf der Bundes-

„Aber wenn wir gerade von Demagogie und der Gefahr demagogischer Formulierungen und auch demagogischer Diskussionen sprechen, dann darf ich darauf hinweisen, daß es auch ein doch verantwortlicher Politiker der CDU war, der in den letzten Tagen, auch nicht etwa ganz ohne zeitlichen Zusammenhang mit dieser Diskussion, in sehr spektakulärer Form wieder einmai, zum wiederholten Male, die Frage aufgeworfen hat, wie es denn mit den Reparationsverpflichtungen sei, die durch diese Verträge begründet werden könnten. Herr Präsident, wir kennen die Rechtslage. Wir wissen, daß das Londoner Schuldenabkommen diese Dinge völlig geklärt hat, und unsere Vertragspartner kannten diese Rechtslage offenbar auch. Denn naturgemäß haben Reparationsprobleme bei den Verhandlungen überhaupt keine Rolle gespielt, und wir sind auch von niemandem dieser Partner danach gefragt worden, abgesehen davon, daß da jedenfalls einer vor aller Welt vor längerer Zeit schon solche Forderungen auf alle Ewigkeit als von ihm aus nie zu stellen bezeichnet hat. Aber: Ist man sich eigentlich nicht darüber im klaren, daß man durch immer wieder vorgebrachte Fragen dieser Art, nachdem Bundesregierung und andere Stellen zum xten Male gesagt haben, daß aber auch nicht ein Komma davon wahr sein kann — ist man sich nicht darüber im klaren, daß man durch Wiederholung einer solchen Frage möglicherweise irgend jemand mal auf den Gedanken bringen könnte, wenn es ernsthafte Politiker in der Bundesrepublik gibt, die so denken, müsse vielleicht tatsächlich rechtlich etwas daraus zu konstruieren sein? Das ist ja geradezu eine Einladung, über so etwas nachzudenken. Ich kann einfach nicht verstehen, daß es ernsthafte Leute bei uns gibt, die das betreiben, was ja sicherlich nicht für uns selbst eine positive Entwicklung sein könnte." „Die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pflaz, Saarland und Schleswig-Holstein haben einen Antrag gestellt, in dem sie ihre schwerwiegenden politischen und rechtlichen Bedenken in zwölf Punkten zusammenfassen. 382

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Sie erklären, daß sie es vom weiteren Verlauf des Verfahrens und von der Beantwortung der zwölf Fragen abhängig machen, wie sie sich zum Gesamtergebnis stellen wollen. Ich will es jetzt unternehmen, zu diesen zwölf Fragen etwas zu sagen. Zu Punkt 1: Die tragenden Vertragsinhalte, nämlich Gewaltverzicht und Grenzrespektierung, sind eindeutig und klar formuliert. Die Befürchtungen, daß die Verträge ,zu einem Instrument sowjetischer Einmischung in die deutsche Innenpolitik werden' könnten, teilt die Bundesregierung nicht; im Gegenteil, der klare Wortlaut des Moskauer Vertrages ist eindeutig gegen eine Politik der Pression. Für die Stabilität unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind wir selbst verantwortlich. Die Verträge und die Berlinregelung werden zur Stabilität der Bundesrepublik wesentlich beitragen, weil sie unserem Verhältnis zur Sowjetunion und Polen eine solide Grundlage und eine Perspektive konstruktiver Zusammenarbeit geben. Sie ersetzen die langjährige Deutschland- und Berlinpolitische Frustation in unserer Öffentlichkeit durch neue Möglichkeiten des friedlichen Ausgleichs. Zu Punkt 2: Der Moskauer Vertrag gefährdet nicht eine Wiedervereinigung in Freiheit auf dem Wege der Selbstbestimmung. Im Gegenteil. Eine Fortdauer der Konfrontation in Europa und die Fortsetzung des Immobilismus in der Deutschlandfrage hätten die Teilung schließlich so vertieft, daß das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zum bloßen Buchstaben geworden wäre. Die Bundesrepublik hätte sich in Europa und der Welt isoliert. Der Moskauer Vertrag bestätigt nicht die Staatlichkeit der DDR. Er fügt den Tatsachen nichts hinzu. Er beschreibt die wirkliche Lage. Die DDR hat sich als Staat in Deutschland entwickeln können; und die Regierungserklärung der Bundesregierung hat das ja im Oktober des Jahres 1969 ganz eindeutig gesagt und von diesem Tatbestand Kenntnis genommen. Schuld an dieser Entwicklung ist nicht der Moskauer Vertrag. Er mußte davon ausgehen, was ist. Auch wird in dem Vertrag nicht die Damarkationslinie zwischen der Bundesrepublik und der DDR anerkannt, wie es in diesen Bedenken formuliert wird. Das behauptet nicht einmal unser Vertragspartner, die UdSSR. Wir achten diese Grenze. Wir verzichten auf Gewalt. Daß Kommunisten die Wiedervereinigung lieber unter kommunistischen Vorzeichen vor sich gehen lassen möchten, sollte uns doch wohl nicht überraschen. Wir haben da allerdings andere Vorstellungen. Sie werden durch den Moskauer Vertrag nicht beeinträchtigt. Zu Punkt 3: Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR oder einer besonderen Staatsangehörigkeit für die in der DDR lebenden Deutschen könnte nur durch eine entsprechende Willenserklärung der Bundesregierung vollzogen werden. In dem Moskauer Vertrag steht darüber nichts. Im Gegenteil, wir haben mit der sowjetischen Regierung in einer der Absichtserklärungen Übereinstimmung erzielt, daß eine vertragliche Regelung mit der DDR angestrebt werden sollte, ohne die völkerrechtliche Anerkennung zu verlangen. Seit den Moskauer Verhandlungen steht denn auch nicht mehr die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung zur Diskussion, sondern die vertragliche Regelung der Beziehungen 383

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zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unter Berücksichtigung der besonderen Lage in Deutschland und des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen. Zu Punkt 4: Wir haben auch im Zusammenhang mit dem Warschauer Vertrag unseren Friedensvorbehalt abgesichert. Die polnische Seite hat dem nicht widersprochen. Die zuständigen drei Westmächte haben bestätigt, daß ihre friedensvertraglichen Vorbehalte voll gewahrt worden sind. Zu Punkt 5: Den in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden Deutschen wird auf Grund der Verträge keinesfalls die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Die Bundesregierung erfüllt ihre Fürsorgepflicht gegenüber diesen Deutschen, indem sie das Verhältnis zu Polen vertraglich regelt, Regierungsgespräche über die Probleme dieser Menschen ermöglicht und darauf achtet, daß die Bereitschaft der polnischen Regierung zur Umsiedlung voll genutzt wird. Sie glaubt, daß durch eine Fortdauer des bisherigen Spannungszustandes im Verhältnis beider Länder der Fürsorgepflicht nicht entsprochen werden kann. Zu Punkt 6: Die beiden Ostverträge beeinträchtigen nicht die Rechte und Verantwortungen der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und die Verpflichtungen der Drei Mächte aus dem Deutschland-Vertrag in ihrem rechtlichen Bestand. Die Verträge selbst schließen dies aus. Die drei Westmächte — Sieger von 1945 und heute unsere wichtigsten Alliierten — haben selbst niemals einen Zweifel daran gelassen, daß sie auch weiterhin von dem Bestand dieser Verantwortung ausgehen. In der Präambel des Viermächte-Abkommens über Berlin sprechen die vier Sieger von 1945 gemeinsam nicht nur von ihren Vier-Mächte-Rechten, sondern auch von ihren Vier-Mächte-Verantwortlichkeiten; dies in jüngster Zeit und nach der Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau. Das letzte Kommunique der NATO-Ministerratstagung weist ausdrücklich darauf hin. Es kann also keine Rede davon sein, daß die Verantwortungen der Vier Mächte obsolet geworden seien oder die Verträge dazu beitrügen, sie gegenstandslos zu machen. Zu Punkt 7: Es wird offenbar nicht mehr bezweifelt, daß das Viermächte-Abkommen eine befriedigende Grundlage der Berlin-Regelung insgesamt ist. Es ist zu begrüßen, daß sich die Opposition insofern nach offenbar sehr langer Prüfung der Auffassung der Bundesregierung angeschlossen hat. Auch die Berlin-Regelung insgesamt mit ihren innerdeutschen Ausführungsvereinbarungen ist befriedigend. Daß die Berlin-Regelung insgesamt und damit auch diese deutschen Ausführungsvereinbarungen die Verbesserungen bringen, deren Gewährleistung die Bundesregierung als Voraussetzung für die Einleitung des Ratifizierungsverfahrens betrachtete, wird die zukünftige Praxis und die Zustimmung, die diese Praxis bei der Bevölkerung finden wird, beweisen. Im Augenblick sollte es genügen, darauf hinzuweisen, daß die drei Westmächte dem Ergebnis der Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung der DDR sowie zwischen dem Senat von Berlin und der Regierung der DDR zugestimmt haben. 384

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Zu Punkt 8: Was den sogenannten sowjetischen Interventionsanspruch auf Grund der Artikel 53 und 107 der UN-Satzung angeht, so kann ich das Insistieren der Opposition nicht mehr recht verstehen. Wir haben alle notwendigen Auskünfte erteilt. Wir haben die entsprechenden Passagen der Niederschriften der Verhandlungen und Vorgespräche offengelegt. Was will man denn eigentlich noch, wenn die sowjetische Regierung in einem feierlichen Vertrag une i n g e s c h r ä n k t auf die Androhung und Anwendung von Gewalt der Bundesrepublik Deutschland gegenüber verzichtet und sich vertraglich verpflichtet, alle Streitfragen im gegenseitigen Verhältnis a u s s c h l i e ß l i c h mit friedlichen Mitteln zu lösen? Was will man denn eigentlich noch, wenn der sowjetische Außenminister das audi noch formell so präzisiert, daß keinerlei Vorbehalte bestehenbleiben? Von Kontroll- und Mitbestimmungsrechten der Sowjetunion nach dem Potsdamer Abkommen in innerdeutschen Angelegenheiten ist weder im Vertrag etwas enthalten noch in den Verhandlungen etwas ausgeführt worden. Zu Punkt 9: Wenn die Sowjetunion bestrebt sein sollte, wie das in diesem Punkt gesagt wird, die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften in eine politische Union zu verhindern, dann kann sie das auf jeden Fall nicht unter Berufung auf den Moskauer Vertrag tun. Der sowjetische Außenminister hat dies für alle möglichen Zweifler in den Verhandlungen formell klargemacht, indem er ausführte: Wenn Staaten freiwillig ihre Vereinigung beschließen oder Grenzen korrigieren, so wäre es der Sowjetunion nicht eingefallen, hier zu kritisieren, denn dies sei der Ausdruck der Souveränität und gehöre zu den unveräußerlichen Rechten der Staaten und Völker. Wer hier Fragen stellt, so sagte er, sehe Probleme, die keine sind. Im übrigen ist der Zusammenschluß Europas nicht nur ein Anliegen der Bundesrepublik, sondern auch ein Anliegen unserer Partner. Sie jedoch begrüßen den von uns abgeschlossenen Vertrag. Sie haben offenbar die Befürchtungen nicht, die die Opposition in diesem Punkte hier anmeldet. Mir scheint, daß die Bundesregierung und ihre Partner mit dem notwendigen Selbstvertrauen an die gemeinsame Aufgabe herangehen. Europa zu bauen und in diesem sich entwickelnden Europa den Ausgleich mit dem Osten zu suchen. Zu Punkt 10: Es ist unerfindlich, wieso die Opposition behaupten kann, die Bundesregierung habe sich angemaßt, in dem Moskauer Vertrag alle Grenzen in Ost- und Südosteuropa zu legalisieren und dadurch die hegemoniale Stellung der UdSSR in diesem Raum zu festigen. Was steht denn im Vertrag? Ich habe es eben noch einmal durchgelesen. Da steht, daß beide Partner alle Grenzen in Europa achten und als unverletzlich betrachten; nicht mehr. Zu Punkt 11: Die Bundesregierung hat für die Sache der Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen in Deutschland in ihrer noch kurzen Amtszeit alles getan, was ihr möglich war. Ist denn die Berlin-Regelung nicht ein großer Fortschritt? Der Berliner Regierende Bürgermeister hat eben im einzelnen darüber gesprochen. Haben wir nicht im Post-, im Fernsprech- und im Fernmeldeverkehr substantielle Verbesserungen und vertragliche Sicherungen erreicht? Die Verhandlungen über die Verbesserungen in anderen Kommuni25

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kationsbereidien gehen ja weiter. Wir reden nicht über mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen, sondern wir handeln. Zu Punkt 12: Daß die Verträge isolationistischen Tendenzen in den USA Vorschub leisten und zu einer Verringerung der Präsenz der US-Streitkräfte in Europa und damit zu einer Schwächung der NATO führen könnten, ist eine durch nichts zu belegende politische Behauptung. Im Gegenteil: Die Harmonisierung der Entspannungspolitik der Vereinigten Staaten und der übrigen Bündnispartner mit der Politik der Bundesregierung hat die Festigkeit der Allianz gestärkt, hat die Divergenzen und Mißhelligkeiten, die vorher hie und da bestanden, ausgeräumt. Wer wollte denn behaupten, daß das Bündnis heute nicht in einem soliden Stadium seiner Entwicklung ist und daß die abgestimmte Entspannungspolitik dies auch für die Zukunft in bestmöglicher Weise gewährleistet? Die Ausführungen der alliierten Regierungen sind hierfür Beweis genug. Ich darf auch hier nur einen einzigen Satz aus der gemeinsamen deutschamerikanischen Erklärung vom Dezember 1971 vorlesen, in der es heißt: ,Der Präsident wiederholte, daß die amerikanischen Verpflichtungen in Europa unverändert gelten und daß insbesondere keine Verminderung der amerikanischen Truppenstärke in Europa erfolgen wird/ α (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12.2.1972) Staatsminister D r . H e u b 1 (Bayern) führt auf der Bundesratssitzung vom 9. Februar u. a. aus:

„Nun gestatten Sie mir einige Bemerkungen im Namen der Antragsteller. Wenn ich als aufmerksamer Beobachter, der einigermaßen mit dem Sachverhalt vertraut ist, diese Debatte retrospektiv an mir vorüberziehen lasse, dann muß ich eine erste Feststellung treffen, und die heißt: Eine Fülle neuer Argumente gab es wohl weder für die eine noch für die andere Seite. Zweitens. Herr Bundesaußenminister, es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß eine Frage nur deshalb, weil sie eine Antwort erhalten hat, auch eine befriedigende Antwort bekommen hat, und deshalb als Frage nicht weiterhin im Räume bleibt. Drittens. Wenn ich mir ansehe, wie die Antworten auf die Fragen lauten, dann komme ich zu folgendem Ergebnis: Die einen sagen, in den Verträgen mit Moskau und Warschau sei ein Modus vivendi rechtlicher und territorialer Art enthalten; die anderen sagen, sie sähen es als substantiellen oder essentiellen Gewaltverzicht — also im Sinne eines Verzichts auf Territorien von unserer Seite, und zwar für immer — an, und wehren sich geradezu — ich habe Pressestimmen des Auslandes bei mir — gegen die Interpretation, es handelt sich wiederum wie 1967, 1968 und 1969 nur um einen formalen Gewaltverziditsvertrag. Aber ich bin in meiner Erkenntnis heute einen Schritt weitergekommen, und zwar durch die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers, der sagte, in den generellen Prinzipien bestehe selbstverständlich auf Grund der politischen Ver386

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schiedenartigkeit auch ein Dissens, während es nur auf die konkreten Sachverhalte ankomme — wobei dann jedesmal offen ist, was generelles Prinzip und was konkreter Sachverhalt ist und der Konsens im Grunde genommen eigentlich nur im Optimismus, in der Phantasie — ohne Illusion — besteht. Wenn idi uns einbeziehen darf: In einem Punkt, Herr Bundesminister, gibt es wirklich eine Übereinstimmung: Es handelt sich um Verträge. Nur diese Tatsache allein ist uns leider zu wenig, um darauf einen sicheren Weg in eine wirklich friedliche Zukunft zu bauen. Darf ich es Ihnen an einem Beispiel sagen: Ich unterstütze Ihr Bemühen, Herr Bundesaußenminister, in bezug auf die Vereinigung Europas, und zwar horizontal als auch vertikal. Ich unterstütze — und die CDU/CSU mit Ihnen — jedes Bemühen, aus dieser Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Zehn auch eine politische Union zu machen, und zwar so schnell wie möglich und nicht erst für künftige Generationen. Aber Sie kommen doch aus dem Dilemma nicht heraus, daß Sie in Art. 1 des Moskauer Vertrages Begriffe wie ,Normalisierung der Lage in Europa1 und »Entwicklung friedlicher Beziehungen unter den europäischen Völkern' haben und daß selbst nach der Interpretation des Herrn Bundeskanzlers auf Grund der politischen Verschiedenartigkeit der Zielsetzungen und Systeme sowjetische Westpolitik etwas anderes ist als unsere Westpolitik. Sie sind doch der Gefahr ausgesetzt, daß die Sowjetunion Ihnen sagen wird: Sie haben diesen Art. 1 des Vertrages als generelle Überschrift für alle konkreten Bemühungen unterschrieben, und Sie müssen sich an unsere Vorstellungen halten. Da kommt nun unser Bedenken, nämlich wir alle, Regierung und Opposition, müssen uns sagen lassen: pacta sunt servanda. .Wir können uns angesichts der realen Machtverhältnisse das Interpretationsrisiko nicht leisten; es birgt die Gefahr, daß wir neuen Spannungen ausgesetzt sein werden. Im übrigen, Herr Bundesminister, ich sehe ganz deutlich, daß wir uns nicht nur in einer Phase der Interpretation anläßlich der Ratifikation, sondern bereits in einer Phase der Interpretationsdifferenzen zwischen uns und den östlichen Nachbarn befinden, und zwar hinsichtlich der Tragweite des Gewaltverzichts, hinsichtlich der Frage der deutschen Einheit, hinsichtlich der Frage der Selbstbestimmung des deutschen Volkes und hinsichtlich der Frage der Anerkennung der Grenzen, also der Frage: substantieller oder formeller Gewaltverzicht. Das entnehme ich der Presse der osteuropäischen Nachbarn. Ich wäre sehr dankbar, wenn die Bundesrepublik jede Gelegenheit wahrnähme, jeden Dissens und jede Mißinterpretation auszuschließen. Dabei kann sie sich auch auf die Hilfe der Opposition verlassen. Nun habe ich gehört — und mancher von Ihnen, meine Damen und Herren» mag sich das denken —: Was hilft dieses Angebot der Opposition, wenn durch unsere Interpretation möglicherweise dem anderen Partner, der eine abweichende Vorstellung hat, in die Hand gearbeitet würde? Dazu darf ich Ihnen doch einmal etwas ganz Einfaches sagen. Sagen Sie uns bitte klar, eindeutig und unmißverständlich: Wo gibt es bei diesen Verträgen einen totalen Konsens zwischen den Vertragspartnern Sowjetunion, Polen und Bundesrepublik? Dann 25·

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wissen wir, daß unsere Interpretation den Konsens der beiden mit Sicherheit nicht stören kann. Oder sagen Sie uns bitte: Wo gibt es den Dissens? Dann werden wir Ihnen bei der Interpretation helfen. Aber Sie müssen uns sagen, worum es geht, und dürfen nicht bei diesen allgemeinen Formulierungen bleiben. Und ein Drittes. Sie sagen, wir müßten die Realität der Politik, wie sie sich 1945 ergeben hat, anerkennen. Idi erkenne absolut an, daß die Sowjetunion eine Siegermacht dieses zweiten Weltkrieges ist und daß daraus auch politische Konsequenzen zu ziehen sind. Es gibt aber nicht nur die Realität der Menschlichkeit, und, Herr Bundesaußenminister, es genügt uns — und zwar nicht aus nationalistischen, sondern aus humanitären, menschlichen Gründen — nicht, daß Sie sagen: Jetzt finden Gespräche zwischen der Bundesregierung und der polnischen Regierung statt, um die Ausreise deutscher Staatsbürger aus Polen zu ermöglichen. Wenn es sich bei diesem Vertrag um ein ausgewogenes Verhältnis handelte, wäre es doch, wenn ich schon die von Ihnen gewählte rechtliche Interpretation der polnischen Westgrenze zugrunde lege, selbstverständlich, daß die Frage der Option der Deutschen und die Frage der in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Grundforderungen auf Sprache, auf Schule, auf Religionsausübung, auf kulturelle Betätigung Bestandteil dieses Vertrages wären, damit das Zusammenleben der Völker auf einer neuen und menschlichen Grundlage möglich würde. Nur davon auszugehen: wir ratifizieren den Vertrag, und dann kommt sozusagen im Automatismus der Selbstverständlichkeit jenes Klima, das dann die Menschlichkeit erlaubt, die man in den Vertrag nicht aufgenommen hat, heißt doch in der Politik: Trümpfe aus der Hand geben in der Annahme, dann komme die Konsequenz von selber. Diesen Optimismus — verzeihen Sie — kann ich nicht teilen." „Dazu lassen Sie mich noch eine, idi meine, sehr politische Bemerkung machen. Gehört wirklich diese Spaltung Deutschlands zu den automatischen Konsequenzen des Hitler-Krieges und den Ergebnissen des Jahres 1945? Meine Damen, meine Herren, die Sowjetunion als Besatzungsmacht — unbestrittenermaßen ja. Aber wir haben ja vier Besatzungsmächte in der Bundesrepublik gehabt, und — darauf will ich hinaus — die Spaltung Deutschlands in zwei unterschiedliche Systeme in West und Ost wurde im Grunde genommen am 21. April des Jahres 1946 vollzogen, als SPD und KPD zwangsweise zur SED vereinigt wurden. Ich frage mich: Gehört es zu den automatischen Konsequenzen des Zweiten Weltkrieges, daß die antifaschistischen, demokratischen Kräfte der Sozialdemokraten, der Liberaldemokraten und der CDU keine Möglichkeit der Mitwirkung bei der Gestaltung dieses Teils Deutschlands in ihrem Sinne mehr hatten? Ich bin nicht in der Lage, eine solche automatische Zwangsläufigkeit anzuerkennen, und ich habe, wenn ich auf den Einsatz der Menschen von damals zurückblicke, um es ganz vorsichtig auszudrücken, große Hemmungen und Bedenken, in diesem Vertrag ein mögliches Mittel zur Verwirklichung der Wiedervereinigung in Freiheit zu sehen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) 388

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Auf der B u n d e s r a t s s i t z u n g vom 9. Februar bringen die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland und SchleswigHolstein eine E n t s c h l i e ß u n g ein. Sie wird mit 21 gegen 20 Stimmen angenommen. Die Entschließung hat den folgenden Wortlaut:

.1. Der Bundesrat stimmt mit der Bundesregierung überein, daß eine Verständigung mit den osteuropäischen Staaten mit dem Ziel, die Entspannung zu fördern und den Frieden zu sichern, eine der zentralen Aufgaben der deutschen Politik ist. Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg zum Abbau des gegenwärtigen Mißtrauens ist der Abschluß von Verträgen mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen, in denen beide Seiten auf die Anwendung und Androhung von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen verzichten — wie es schon in der Gewaltverzichtserklärung der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Oktober 1954 und der Friedensnote der Bundesregierung vom 25. März 1966 zum Ausdruck gebracht worden war — und die politische, wirtschaftliche, technologische und kulturelle Zusammenarbeit verbessert wird. II. Eine Politik des Friedens, der Verständigung und des Ausgleichs setzt voraus, daß 1. es entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes vorrangiges Ziel bleibt, die nationale und staatliche Einheit des deutschen Volkes zu wahren und in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden; 2. die Gemeinschaft der Völker des freien Europa erhalten und zielstrebig zu einer politischen Union ausgebaut wird; 3. das atlantische Verteidigungsbündnis als Garant der Sicherheit und Freiheit nicht beeinträchtigt wird; 4. im Hinblick auf eine dauerhafte europäische Friedensordnung die Spannungsursachen schrittweise abgebaut und Maßnahmen zur gegenseitigen Rüstungskontrolle und ausgewogenen Abrüstung eingeleitet werden; 5. eine völkerrechtliche Anerkennung eines zweiten deutschen Staates nicht in Frage kommt und 6. seine Aufnahme in die UNO deswegen nicht gefördert werden sollte; 7. die Bindungen zu Berlin aufrechtzuerhalten, zu festigen und weiter zu entwickeln sind. III. Ausgehend von diesen Grundsätzen wird das schwierige Werk des Ausgleichs mit unseren östlichen Nachbarn nur dann auf die Dauer Frieden und Entspannung fördern, wenn es auf der Grundlage gesicherter Gleichberechtigung der Vertragsteile beruht, von einem ausgewogenen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung getragen ist und beharrlich und ohne Hektik betrieben wird. 389

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Die Verträge von Moskau und Warschau lassen ernsthaft daran zweifeln, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Die Verträge begegnen schwerwiegenden politischen und rechtlichen Bedenken vor allem in folgenden Punkten: 1. Es besteht die ernste Gefahr, daß die Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten der Verträge in allen entscheidenden Punkten, die durch Äußerungen von östlicher Seite in der letzten Zeit besonders offenkundig geworden sind, die Verträge zu einem Instrument sowjetischer Einmischung in die deutsche Innenpolitik werden lassen. 2. Es ist nicht auszuschließen, daß durch den Moskauer Vertrag eine Wiedervereinigung in Freiheit auf dem Wege der Selbstbestimmung des deutschen Volkes dadurch gefährdet wird, daß in diesem Vertrag die Staatlichkeit der DDR bestätigt und die Demarkationslinie als Grenze anerkannt wird. Die in der Anlage der Denkschrift der Bundesregierung zum Moskauer Vertrag wiedergegebene Äußerung des sowjetischen Außenministers in den Vertragsverhandlungen legt den Schluß nahe, daß nach den Vorstellungen der Sowjetunion die deutsche Einheit nur unter kommunistischen Vorzeichen zu verwirklichen ist. 3. Es ist nicht sichergestellt, daß die Bundesregierung nach Abschluß des Vertrages mit der Sowjetunion eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR und die Anerkennung einer besonderen Staatsangehörigkeit für die in der DDR lebenden Deutschen vermeiden kann. 4. Es ist zu befürchten, daß die beiden Verträge eine endgültige — auch einem wiedervereinigten Gesamtdeutschland gegenüber wirksame — Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze enthalten, insbesondere auch deshalb, weil in beiden Verträgen ein ausdrücklicher und klarer Friedensvertragsvorbehalt fehlt. 5. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auf Grund der Verträge den in den OderNeiße-Gebieten lebenden Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wird und die Bundesrepublik Deutschland ihre Fürsorgepflicht gegenüber diesen Deutschen verletzt. 6. Es ist zu befürchten, daß die beiden Verträge wesentliche Elemente eines Friedensvertrages vorwegnehmen und damit die Vier Mächte de facto aus ihrer Verantwortung für Deutschland als Ganzes weitgehend entlassen. Vor allem ist nicht auszuschließen, daß eine grundlegende Position bisheriger deutscher Politik, nämlich die Verpflichtung der drei Westmächte auf das Ziel eines wiedervereinigten Deutschlands auf freiheitlich-demokratischer Grundlage, ausgehöhlt wird. Nicht zuletzt wegen der Diskrepanz im Wortlaut der Erklärungen des deutschen und des sowjetischen Außenministers vom 6. August 1970 einerseits und der Note der Deutschen Botschaft in Moskau an die drei Westmächte vom 7. August 1970 andererseits ist zu befürchten, daß zwar die Rechte, nicht aber auch die korrespondierenden Verpflichtungen der Siegermächte bestehen bleiben. 7. Es ist nicht überzeugend dargetan, daß die zwischen der Bundesregierung, dem Senat von Berlin und der Regierung der DDR abgeschlossenen ergänzen390

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

den Vereinbarungen zum Viermächte-Abkommen diejenige befriedigende Berlin-Regelung enthalten, die die Bundesregierung als Voraussetzung für die Ratifizierung der Verträge bezeichnet hat. Nicht einmal der durch das Viermächte-Abkommen gezogene Rahmen wurde ausgefüllt. 8. Es ist unklar, ob die Sowjetunion völkerrechtlich verbindlich darauf verzichtet hat, aus den Art. 53 und 107 der Charta der Vereinten Nationen weiterhin ein Interventionsrecht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber abzuleiten, und ob sie Kontroll- und Mitbestimmungsrechte nach dem Potsdamer Abkommen in innerdeutschen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt. 9. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Sowjetunion auch unter Berufung auf Wortlaut und Geist des Moskauer Vertrages versuchen wird, die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften zu einer politischen Union zu verhindern. 10. Es ist nicht ersichtlich, welche Legitimation die Bundesrepublik Deutschland besitzt, in einem Vertrag mit der Sowjetunion außer den Deutschland selbst berührenden Grenzen auch alle übrigen Grenzen in Ost- und Südosteuropa zu legalisieren und dadurch die hegemoniale Stellung der Sowjetunion in diesem Raum zu festigen. 11. Es ist ferner nicht ersichtlich, welche Fortschritte die Verträge bringen in Richtung auf mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Ideen als Grundlage einer künftigen europäischen Friedensordnung, die ohne Beseitigung von Mauer, Minen und Stacheldraht und ohne Aufhebung des unmenschlichen Schießbefehls undenkbar ist. 12. Es ist zu befürchten, daß die Verträge isolationistischen Tendenzen in den USA Vorschub leisten und zu einer Verringerung der Präsenz der US-Streitkräfte in Europa und damit zu einer Schwächung der NATO führen. Sollten diese Fragen im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht eindeutig geklärt werden, so wird der Bundesrat die Vertragsgesetze aus politischen und verfassungsrechtlichen Gründen ablehnen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. 2.1972) Präsident N i x o n führt in seinem außenpolitischen Bericht vor dem Kongreß am 9. Februar u. a. aus:

„Wir waren bestrebt, jene Tendenzen in der Sowjetpolitik zu fördern, die auf die Bereitschaft hindeuteten, einen Wandel durch evolutionäre Prozesse anzustreben. Deshalb erklärte ich schon zu Beginn meiner Regierungszeit in aller Öffentlichkeit, daß es unser Ziel sei, von der Konfrontation zu Verhandlungen überzuleiten, und daß sich unsere Beziehungen zur Sowjetunion in Verfolg dieser Politik nach vier Grundsätzen orientieren würden: — Wir würden die Sowjetunion nach ihrem Handeln in bezug auf die Kernprobleme beurteilen, die uns trennen. In Verhandlungen würden wir eine versöhnliche Haltung einnehmen, die jedoch nur von konkreten Maßnahmen, nicht aber von Annahmen bezüglich sowjetischer Absichten bestimmt werden könnte. 391

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— Unser Ziel war ein bedeutender Fortschritt in den uns trennenden Streitfragen, nicht aber eine oberflächliche Veränderung im Klima der amerikanischsowjetischen Beziehungen. Am 4. März 1969 schlug ich Berlin, die Beschränkung der strategischen Rüstungen, den Nahen Osten und Vietnam als Gebiete vor, auf denen Fortschritte erzielt werden sollten. — Wir würden keine Vorbedingungen stellen. Wir würden jede einzelne Frage für sich beurteilen. Wir gingen jedoch davon aus, daß Anpassung ein Prozeß ist und daß die Regelung einer wichtigen Frage mit Sicherheit die Aussichten für die Regelung anderer Fragen verbessern und ein Fehlschlag die Aussichten auf umfassendere Fortschritte überschatten würde. — Eine beiderseitige allgemeine Selbstbeschränkung wäre entscheidend wichtig. Wollte die eine oder andere Seite versuchen, erhebliche Vorteile gegenüber der anderen zu erlangen, so würde dies zwangsläufig zu Gegenaktionen führen, die darauf abzielen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dies wiederum würde jeden Fortschritt gefährden, der bereits erreicht worden ist, und die Aufgabe unendlich erschweren, Ubereinkünfte bezüglich spezifischer Fragen zu erzielen, die uns trennen. Im Jahre 1969 wurde ein Anfang gemacht. Es wurden Verhandlungen über Berlin »und über die Beschränkung der strategischen Rüstungen eingeleitet. Es fanden Gespräche über die Lage im Nahen Osten statt. Ein Fortschritt aber ergab sich nur langsam, wenn überhaupt. Die widerstreitenden Tendenzen in der sowjetischen Politik wurden offenbar. Die Sowjets erstrebten eine Entspannung in Europa ohne Verminderung der Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten. Sie ermutigten zu einer günstigen Wendung in den sowjetisch-deutschen Beziehungen, während sie in den Viermächte-Verhandlungen über Berlin einen hartnäckigen Standpunkt einnahmen. Unter diesen Umständen konnte eine umfassende Diskussion über die Sicherheit in Europa nicht stattfinden; die wiederholten sowjetischen Forderungen nach Abhaltung solcher Gespräche erwiesen sich eher als ein Manöver zur Spaltung des Westens denn als Ausdruck des Wunsches, Interessenkonflikte zu lösen." „Diese Administration hat eine Lösung der politischen Fragen, die Europa teilen, als ein entscheidend wichtiges Ziel ihrer Außenpolitik betrachtet. Vor drei Jahren waren die Ost-West-Beziehungen praktisch erstarrt. Es fanden verhältnismäßig wenige Ost-West-Verhandlungen statt; es wurde wenig oder gar kein Fortschritt in Richtung auf eine Lösung der großen Fragen gemacht. Eine leichte Besserung des Klimas der Beziehungen in den Jahren 1967 und 1968 wurde durch die Invasion der Tschechoslowakei schnell zunichte gemacht. Es gab keine feste Basis für eine Bewegung in Richtung auf eine Entspannung. Einige unserer Verbündeten strebten eine Entspannung in bilateralen Kontakten mit dem Osten an; es war jedoch klar, daß die meisten bilateralen Fragen Teil eines umfassenderen Zusammenhangs europäischer Sicherheitsfragen waren. Der Sowjetunion durfte nicht die Möglichkeit gegeben werden, eine selektive Entspannung anzubieten und die Beziehungen zu einigen westlichen Ländern zu verbessern, zu anderen jedoch nicht. Der Zusammenhalt des Westens muß somit der Grundpfeiler unseres Strebens nach Entspannung sein. Wir und unsere Verbündeten haben die Pflicht, ein392

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ander in ausreichendem Maße zu konsultieren, um sicherzustellen, daß unsere Anstrengungen einander ergänzen und daß unsere Prioritäten und großen Zielsetzungen im wesentlichen die gleichen sind. Es gibt bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR — SALT und mein bevorstehendes Gipfelgespräch zum Beispiel. Aber, wie ich seit meinem Amtsantritt immer wieder unterstrichen habe, die Koordinierung mit unseren Verbündeten ist eine unerläßliche Voraussetzung der bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen, die ihre Interessen berühren. Bei SALT haben wir unsere Verbündeten gewissenhaft in jeder Phase konsultiert. Nach der Ankündigung des Moskauer und des Pekinger Gipfels haben meine Gipfelgespräche mit verbündeten Staatsmännern den Einklang unserer Diplomatie vor diesen Reisen sichergestellt. Unsere Verbündeten können genauso wenig ein Veto gegen die amerikanische Politik einlegen wie wir gegen die ihre, aber ich konnte ihnen versichern, daß wir keine Abkommen auf ihre Kosten abschließen würden. Ein weiterer Grundsatz, den ich schon seit langem hervorgehoben habe, ist der, daß es nur durch Verhandlungen über konkrete Probleme zu einer Entspannung kommen kann. Eine freundliche Atmosphäre ist nicht genug. Politische Konflikte, die ungelöst bleiben, würden unweigerlich erneut aufflammen und die Atmosphäre vergiften. Wie ich schon auf der 20. Jahrestagung des Nordatlantischen Bündnisses im April 1969 sagte: ,Es genügt nicht, abstrakt über europäische Sicherheit zu reden. Wir müssen die Elemente der Unsicherheit kennen und wissen, wie man sie beseitigt/ Deshalb haben wir Verbündeten die wichtigsten Probleme in den Ost-WestBeziehungen in Europa angesprochen: — Das Bündnis brachte zum Ausdruck, daß die Aussichten auf Entspannung radikal verbessert werden könnten, wenn es uns gelänge, die Spannungen um Berlin — Brennpunkt einer Dauerkrise seit 1948 — abzubauen. — Wir stimmten darin überein, daß eine konstruktivere sowjetisch-amerikanische Beziehung integraler Bestandteil einer Verringerung der Spannungen in Europa ist. Deshalb nahmen die Vereinigten Staaten die Verhandlungen im Rahmen von SALT vor dem Hintergrund enger alliierter Konsultationen auf. — Die NATO schlug erneut Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenreduzierungen in Europa vor und begann die sorgfältige und wichtige Vorbereitungsarbeit einer Analyse der damit zusammenhängenden Probleme. — Die Bündnispartner berieten darüber, ob und wie eine umfassende europäische Konferenz, wie sie der Warschauer Pakt vorgeschlagen hatte, als ein Forum dienen könnte, um die wesentlichen Probleme europäischer Sicherheit konstruktiv anzusehen. Deutschland und Berlin. Vorangegangene Perioden einer Entspannung in Europa erwiesen sich entweder als illusorisch, weil manche Nationen sich nicht mit den zentralen Fragen der Teilung Deutschlands und Berlins befassen wollten, oder weil die Versuche, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, erneut in die Sackgasse und zur Konfrontation führten. Wenn es in den siebziger Jahren zu einer Verringerung der Spannung kommen sollte — und ich war überzeugt, 393

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daß dies der Fall sein konnte —, dann mußte sich das in neuen Anstrengungen zur Lösung dieser Probleme erweisen. Deshalb forderte ich bei meinem Besuch in West-Berlin im Februar 1969, den Spannungen um Berlin ein Ende zu machen. Bundeskanzler Brandt schlug vor, die Beziehungen seines Landes zu seinen östlichen Nachbarn durch neue vertragliche Beziehungen zu normalisieren. Es war in erster Linie Aufgabe der westdeutschen Regierung, einen Weg zu finden, um die deutsche nationale Frage anzugehen. Gleichzeitig waren die Fragen, die mit der Teilung Deutschlands zusammenhingen, Gegenstand natürlicher und direkter Sorgen seitens aller europäischen Mächte, und vor allem haben die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion besondere Rechte und Verantwortlichkeiten bezüglich Berlins. Die beiden Schlüsselprobleme — Westdeutschlands Beziehungen zu seinen östlichen Nachbarn und die Vier-Mächte-Beziehungen in Berlin — waren somit organisch miteinander verbunden. Der sowjetisch-deutsche Vertrag von 1970 konnte für sich allein die Situation in Mitteleuropa nicht normalisieren, wenn man Berlin ignorierte. Die Teilnehmer an den Berlin-Verhandlungen sahen sich einem Gewirr von unvereinbaren Rechtsstandpunkten, Verwaltungspraktiken und politischen und wirtschaftlichen Interessen gegenüber, die sich in zwei Jahrzehnten angesammelt hatten. Die Ideallösung — die Wiedervereinigung Berlins — war nicht erreichbar. Andererseits war es für uns nicht akzeptabel, West-Berlin als eine separate politische Einheit zu behandeln, die ihrer natürlichen Bindungen zur Bundesrepublik oder der Sicherheitsgarantie der drei Westmächte beraubt wäre. Die Verhandlungspartner überwanden den Engpaß im Jahre 1971, indem sie die Standpunkte bezüglich des politischen oder rechtlichen Status der Stadt ausklammerten und sich statt dessen auf neue praktische Regelungen konzentrierten, um die Situation der Westberliner zu verbessern und bestimmte Reibungspunkte zu beseitigen. Die Viermächte-Vereinbarung über Berlin, die am 3. September 1971 unterzeichnet wurde, war eine richtungweisende Leistung: — Die sowjetische Garantie des ungehinderten und begünstigten Zivilverkehrs zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik ist eine zentrale Tatsache des Abkommens und eine wesentliche Verbesserung. — Es ist keine Veränderung im juristischen Status der Westsektoren Berlins eingetreten: Sie verbleiben unter der Autorität der drei Westmächte, die sich gemeinsam mit der UdSSR in die Verantwortung für die Stadt als Ganzes teilen, und sie werden weiterhin, wie in der Vergangenheit, nicht als konstitutiver Teil der Bundesrepublik angesehen. Gleichzeitig hat die Sowjetunion formell anerkannt, daß die lebenswichtigen Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik aufrechterhalten und entwickelt werden. — Die Sowjetunion hat sich damit einverstanden erklärt, daß die Kommunikationen zwischen West-Berlin und Ost-Berlin sowie der Deutschen Demokratischen Republik und die Besuchsrechte der Westberliner verbessert werden. Es wurde ferner vereinbart, daß, sofern nicht die Sicherheit und der Status der Stadt berührt sind, die Bundesrepublik die Westsektoren Berlins im Ausland 394

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vertreten darf und daß internationale Abkommen und Vereinbarungen, die die Bundesrepublik sdiließt, auf die Westsektoren ausgedehnt werden können. — Die drei westlichen Alliierten haben der Errichtung eines sowjetischen Generalkonsulats und zusätzlicher sowjetischer Handelsbüros in den Westsektoren zugestimmt, die bei den zuständigen Behörden der drei Westmächte akkreditiert werden. Das impliziert keine Veränderung des Status von Berlin; die sowjetische Präsenz in den Westsektoren unterliegt auch weiterhin der Autorität der Alliierten. Konferenz

über Sicherheit

und Zusammenarbeit

in Europa. Wenn das Berlin-

Abkommen mit der Unterzeichnung des Viermächte-Sdilußprotokolls in Kraft tritt, wird dies einen diplomatischen Prozeß in Gang setzen. Eine Berlin-Vereinbarung ist nach Auffassung der Westmächte eine Vorbedingung jeder umfassenderen europäischen Verhandlung: Sie würde den Weg zu möglichen Regelungen anderer europäischer Sicherheitsfragen ebnen, die sämtlich von der Berlin-Situation berührt werden; sie würde auch eine Bereitschaft der sowjetischen Seite offenbaren, konkrete Regelungen zu erreichen.

Eine Frage, der sich der Westen jetzt gegenübersieht, ist der sowjetische Vorschlag einer Konferenz sämtlicher europäischer Länder zuzüglich der Vereinigten Staaten und Kanadas, um Probleme der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu erörtern. Wenn eine solche Konferenz sorgfältig vorbereitet wird und substantielle Fragen aufgreift, sind die Vereinigten Staaten dafür. Es liegt nach meinem Dafürhalten auch im langfristigen Interesse der Sowjetunion, daß eine Konferenz auf diese Weise produktiv und nicht nur als Forum für Reden und freundliche Atmosphäre genutzt wird. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir eine klare Vorstellung davon besitzen, welche Fragen eine solche Konferenz angehen kann und welchen konkreten Beitrag zur Sicherheit sie zu leisten vermag. Deshalb beabsichtigen wir, die einschlägigen Fragen europäischer Sicherheit und Zusammenarbeit erschöpfend mit unseren Verbündeten zu erörtern und aufeinander abgestimmte westliche Positionen zu entwickeln. Dann werden wir, falls das Berlin-Abkommen bis dahin vollzogen ist, bereit sein, multilaterale Sondierungsgespräche mit anderen in Frage kommenden Teilnehmern aufzunehmen. Die Konferenz, wie sie seitens des Warschauer Paktes definiert wird, würde sich mit zwei Hauptthemen befassen: einer gemeinsamen Deklaration gegen die Anwendung oder Androhung von Gewalt und einer Vereinbarung zur Ausweitung der Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem, kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet. Eine bloße Atmosphäre der Entspannung wäre unseres Erachtens nicht nur deshalb unzureichend, weil sie nicht von Dauer wäre, sondern auch weil es schwierig ist, Maßnahmen zu bewerten, die im Namen einer so vagen Zielsetzung vorgeschlagen würden. Im übrigen wären allgemeine Deklarationen, über deren Interpretation man sich erheblich streiten könnte, illusorisch, ja vielleicht sogar gefährlich. Es genügt nicht, der Zusammenarbeit rein theoretisch zuzustimmen. Wie wird die Zusammenarbeit in der Praxis aussehen? Wird sie 395

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größere Freizügigkeit zwischen den europäischen Völkern in Ost und West einschließen? Wie würde eine Konferenz Wirtschaftsbeziehungen fördern, die über diejenigen hinausgehen, die es durch bestehende Einrichtungen und Mittel bereits gibt? Kurz, echter Fortschritt verlangt beharrliches Bemühen um Entspannung in einer Art und Weise, die diese real und dauerhaft machen, auch wenn dies mehr Zeit und mehr Anstrengungen erfordert. Beiderseitige

und ausgewogene Truppenreduzierungen

(MBFR). Im Sommer

1968 schlug als erste die NATO beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen vor. Als ich 1969 mein Amt übernahm, stellte idi fest, daß das Bündnis umfassendere Vorbereitungen und Analysen hinsichtlich der damit verbundenen technischen und politischen Problemkomplexe benötigte. Ehe wir verhandeln, müssen wir uns über das Motiv für einen beiderseitigen Truppenabbau klar werden. Manche sehen darin eine Reaktion auf einen innenpolitischen, haushaltmäßig bedingten Druck in den Vereinigten Staaten, einseitige Truppenverringerungen vorzunehmen; manche unterstützen ihn als Ersatz für eine Konferenz über europäische Sicherheit; wieder andere streben eine MBFR-Vereinbarung als Demonstration der politischen Entspannung an. Keiner dieser Wege hilft uns, die prinzipielle Frage zu beantworten: Was für ein Abkommen über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung wollen wir? Hier geht es um den Kern des Sicherheitsproblems in Europa; uns bleibt daher keine andere verantwortungsbewußte Wahl, als ein Abkommen nach dem Kriterium unverminderter Sicherheit zu bewerten. Auf diese Weise tragen wir wahrhaft zu einer Entspannung bei. Symbolische Reduzierungen, die keinerlei militärische Bedeutung hätten, oder ein MBFR-Abkommen, das lediglich die Unsicherheit vergrößert, würden wenig nützen. Wir müssen uns die große Mühe machen, nach Formeln zu suchen, die echte und faire Reduzierungen bringen.

Unsere innerhalb der amerikanischen Regierung durchgeführten Analysen, an denen jetzt unsere Verbündeten beteiligt sind, werden in dem Kapitel Rüstungskontrolle* dieses Berichts dargelegt. Das Bündnis wird diese Vorbereitung gemeinsam zu Ende führen. Es wird keine bilateralen Verhandlungen über MBFR zwischen den USA und der UdSSR geben. Beziehungen zu Osteuropa. Die gemeinsame Erklärung nach meinem Treffen mit Staatspräsident Tito in Washington am 30. Oktober 1971 hat unserer festen Überzeugung Ausdruck verliehen, daß »ein dauerhafter Friede und echte Sicherheit untrennbar sind und nur in Europa als Ganzem, nicht aber lediglich in dem einen oder anderen Teil Europas, erreicht werden können". Fast während der ganzen Nachkriegszeit waren die Beziehungen zwischen Ostund Westeuropa eingeschränkt. Die Beziehungen zu Osteuropa waren durch unsere Konflikte mit der Sowjetunion beeinträchtigt. Das war unnatürlich. Die Länder Europas haben untereinander alte politische, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen. Nachdem die Kräfte des Wandels begonnen haben, die politische Erstarrung der Nachkriegszeit zu lockern, sind sowohl in West- wie in Osteuropa neue 396

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Erwartungen und Hoffnungen aufgelebt. Die Vorteile einer Lockerung müssen beiden Seiten zugute kommen. Die Sowjetunion hat ein Redit auf ihre eigene Sicherheit. Aber weder ein dauerhafter Friede noch eine Ära der Zusammenarbeit in Europa können auf Prinzipien aufgebaut werden, die den Kontinent teilen und die Souveränität seiner Länder sowie die Freiheit seiner Völker verletzen. Wir lassen uns in unserer Einstellung dazu von den folgenden allgemeinen Prinzipien leiten: — Jeder Staat in Europa hat das souveräne Recht, eine unabhängige Politik zu verfolgen und dementsprechend unser Freund zu sein, ohne deswegen der Feind eines anderen zu sein. — Die Anwendung oder Androhung von Gewalt seitens der Sowjetunion in Osteuropa kann nur zu europäischen Krisen führen. Sie ist daher unvereinbar mit einer Entspannung in Europa und einer Entspannung in den amerikanischsowjetischen Beziehungen. — Wir wollen die Schwierigkeiten in den Beziehungen der osteuropäischen Staaten zu ihren Verbündeten nicht komplizieren; aber dennoch gibt es vielfältige Möglichkeiten zur wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Zusammenarbeit auf der Basis der Gegenseitigkeit. Die osteuropäischen Länder selbst können das Tempo und das Ausmaß der Entwicklung ihrer Beziehungen zu den Vereinigten Staaten bestimmen. Wir haben diese Prinzipien in neuen konstruktiven Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Osteuropa unter Beweis gestellt. Ich bin der erste amerikanische Präsident, der jemals Rumänien und Jugoslawien einen Besuch abgestattet hat. Unsere Beziehungen zu diesen beiden Ländern sind begründet auf gegenseitigem Respekt, auf Unabhängigkeit und auf souveräner Gleichberechtigung. Wir teilen die Uberzeugung, daß dies die Grundlage für die Beziehungen zwischen Staaten ungeachtet des Unterschieds oder der Ähnlichkeit der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Systeme sein sollte." (USIS Bonn) Staatspräsident P o m p i d o u erklärt vor der Presse im Elysée-Palast in Paris am 12. Februar nach Abschluß der deutsch-französischen Konsultationen u. a.:

„Das erste war die Frage der Beziehungen zum Osten. Hier haben wir festgestellt, daß es zwischen der Politik der Bundesregierung und der französischen Politik in diesem Bereich einen vollkommenen Gleichklang gibt. Ich konnte dem Herrn Bundeskanzler noch einmal die vorbehaltlose Unterstützung Frankreichs für die Politik, die der Herr Bundeskanzler auf diesem Gebiet verfolgt, bekräftigen. Gemeinsam haben wir unser Interesse daran bekundet, dai die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schnellstmöglich zusammentritt." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 16. 2.1972) 397

Herbert G. Marzian Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, W e h n e r , führt in einem Interview mit dem Polnischen Fernsehen am 12. Februar u. a. aus:

„Frage: Welche Bedeutung wird Ihrer Meinung nach das Inkrafttreten des Vertrages vom 7. Dezember 1970 für den Prozeß der Normalisierung zwischen unseren Ländern haben? Antwort: Erstens, und das möchte ich eingangs betonen, wird eine Last von den Gemütern vieler Menschen in der Bundesrepublik genommen, weil sie sehen, daß das, was getan werden sollte, um die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zu regeln, erledigt worden ist. Zweitens wird sich niemand finden, der behaupten könnte, daß man mit dem Vertragsabschluß noch hätte warten können. Drittens wird dies vor allem für die jungen Menschen in der Deutschen Bundesrepublik von Bedeutung sein, die von dem gespensterhaften Druck der Vergangenheit, die nicht ihre eigene Vergangenheit war, befreit worden sind. Das sind drei wohl wesentliche Elemente. Qualitative Folge dieses Vertrages wird die Möglichkeit sein, gegenseitige Kontakte aufzunehmen und einander besser zu verstehen." (Radio Warschau I, 12. 2.1972) „Frage: Herr Fraktionsvorsitzender! Die polnische Bevölkerung ist ein bißchen enttäuscht, daß die Ratifizierungsprozesse der beiden Verträge mit Moskau und Warschau sich so in die Länge ziehen, besonders weil man in Polen einiges über die Angriffe der revisionistischen und rechtsextremistischen Kräfte gegen die Verträge weiß. Wie sehen Sie, Herr Wehner, die Perspektiven der Ratifizierung der beiden Verträge? Antwort: Wir sind jetzt in den parlamentarischen Gang der Ratifikation des Vertrages von Warschau und des Vertrages von Moskau eingetreten. Daß es solange gedauert hat, ist nicht darauf zurückzuführen, daß wir es nicht früher hätten machen können oder wollen, sondern daß uns daran gelegen hat, eine von den vier für den Status der Stadt Berlin verantwortlichen Regierungen unterzeichnete Regelung des künftigen Verhältnisses Berlins zu den beiden deutschen Staaten zu haben. Die haben wir, d. h. wir sind nun dabei, die Verträge von Warschau und Moskau zu ratifizieren. Frage: Was sagen Sie, Herr Fraktionsvorsitzender, über den Entwurf des Gegenvertrages, der letztens im Namen der CSU von Franz Josef Strauß vorgelegt wurde? Antwort: Dieser Vertrag kommt selbst nach der Aussage von Parteigängern der Herren Strauß und Barzel anderhalb Jahre zu spät, um überhaupt noch diskutiert werden zu können. Er hat lediglich deklaratorischen Wert. Übrigens, Polen kommt darin nicht vor. Frage: Wie wurde dieser Entwurf von der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik ausgelegt? Antwort: Er wurde erstens nicht ernst genommen und zweitens wurde sehr schnell anerkannt, daß das ein Versuch des Franz Josef Strauß war, den Op398

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positionsführer im Bundestag, der gerade zu der Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika war, ein wenig unter Druck zu setzen. Als dieser zurückkam, sagte er, wir werden dies als ein Diskussionsmaterial verwenden. Das müssen sie unter sich ausmachen. Für die parlamentarische Behandlung, für die Öffentlichkeit ist es ohne Bedeutung." (Radio Warschau, deutschsprachig, 13.2.1972) Der Bundesminister der Justiz, D r . J a h n , führt vor der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen in Pforzheim am 17. Februar über das Thema „Ist die Ostpolitik ein Rechtsproblem? — Zur politischen und rechtlichen Bewertung der Ostverträge" u. a. aus:

„Ich nehme die Gelegenheit, gewissermaßen zwischen zwei Runden, gern wahr, um noch einmal mit Blick auf die zwölf politischen und rechtlichen Bedenken der Opposition und im Ausblick auf die Bundestagsdebatte einige sachliche Informationen zu geben. Aus dem bisher Gesagten ist hoffentlich schon deutlich geworden, daß auch für den Bundesjustizminister die West-Ost-Politik kein Rechtsproblem ist oder sich auf Rechtsfragen reduziert. Natürlich müssen im Zusammenhang mit den Verträgen auch rechtliche Fragen, vor allem völkerund verfassungsrechtlicher Art, bedacht werden. Aber die Verträge geben doch in erster Linie eine politische Weidienstellung für die Zukunft Europas, für den Frieden in diesem Teil der Welt und für den geschichtlichen Prozeß der Einheit der deutschen Nation." „Kern der Verträge ist die Vereinbarung des Gewaltverzichts — und eben nicht, wie manche glauben machen wollen, Friedensvertragsersatz, endgültige Regelung der Deutschlandfrage, Anerkennung der Teilung. Von diesen Dingen steht in den Verträgen nichts — weder in noch zwischen den Zeilen. Wir haben das in den Verhandlungen mit großer Sorgfalt vermieden und den Vertragspartnern nicht leicht abringen können. Wir Deutschen selbst sollten nicht in selbstzerstörerischer Lust das alles wieder aufs Spiel setzen. Was ist vereinbart? Die Vertragspartner sind übereingekommen, sich in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und internationalen Sicherheit von den in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Zielen leiten zu lassen, demnach ihre Streitfragen a u s s c h l i e ß l i c h mit friedlichen Mitteln zu lösen und sich in ihren gegenseitigen Beziehungen gemäß Artikel 2 der Charta der Drohung mit Gewalt und der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Diese Begriffe sind völkerrechtlich eindeutig abgesichert und hinreichend bestimmt. Für eine unterschiedliche Auslegung ist kein Raum. Ein Dissens besteht auch nicht im Hinblick auf die sogenannten Feindstaatenartikel 53 und 107 der Satzung der Vereinten Nationen. Diese Bestimmungen räumten der Sowjetunion als Siegermacht — ebenso wie den anderen Siegermächten — ein Interventionsrecht der Bundesrepublik gegenüber ein. Zwar bestehen diese Artikel der Form nach fort. Sie könnten übrigens beseitigt werden nur durch eine Änderung der Satzung der Vereinten Nationen. Doch hat die UdSSR mit dem Moskauer Vertrag zweifelsfrei darauf verzichtet, die 399

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Feindstaatenklausel uns gegenüber geltend zu madien. Es gibt keinen Vorbehalt der Sowjetunion. Solange wir uns im Sinne des Moskauer Vertrages vertragskonform verhalten, ist für die Artikel 53 und 107 der UN-Charta kein Raum. Insoweit ist die völkerrechtliche Lage nicht anders als gegenüber den westlichen Siegermächten. Es besteht also weder ein offener noch ein versteckter Dissens. Das ist auch noch einmal durch eine Bestätigung des sowjetischen Außenministers ausdrücklich klargestellt. Der zweite zentrale und konkret ausformulierte Vertragsinhalt ist in beiden Verträgen die Achtung der Grenzen in Europa. Diese Bestimmungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht. Denn wer auf Gewalt verzichtet, will ja auch davon absehen, Grenzen mit Gewalt zu ändern. Die Kritik, die in diesen genau umschriebenen Artikeln eine Grenzanerkennung, oder gar den Verzicht auf deutsches Gebiet oder auf die Wiedervereinigung erblickt, liest aus den Verträgen heraus, was in ihnen nicht steht. Nur auf Grund solcher Fehlinterpretationen konnte es auch zu der mittlerweile sehr viel leiser gewordenen verfassungsrechtlichen Diskussion kommen, zu der ich hier ein paar Worte sagen möchte. Die Verträge stehen im Einklang mit dem Wiedervereingungsgebot des Grundgesetzes, von dem die Präambel unserer Verfassung spricht. Insbesondere beeinträchtigen die Bestimmungen der Verträge das Wiedervereinigungsgebot nicht, in denen es um die uneingeschränkte Achtung der territorialen Integrität, die Unverletzlichkeit oder Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen in Europa geht. Der Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes bezieht sich nicht auf einen genau beschriebenen Deutschlandbegriff, etwa auf das Deutschland in den Grenzen von 1937. Nicht die Wiederherstellung eines bestimmten territorialen Zustandes, sondern die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit liegt der Präambel zugrunde. Auch an anderen Stellen des Grundgesetzes ist das Gebiet Deutschlands nicht unter Hinweis auf die Grenzen von 1937 beschrieben. Die Verfassung nimmt vielmehr die tatsächlich nach dem Kriege im Jahre 1949 vorgefundene territoriale Lage auf und läßt offen, welche Gebiete ein wiedervereinigtes Deutschland umfassen soll. Nur in einer Übergangsvorschrift, nämlich in Art. 116 Abs. 1 GG, wird auf die Grenzen von 1937 Bezug genommen. Dabei handelt es sich jedoch unstreitig um eine Bestimmung, die persönliche Fragen der Staatsangehörigkeit regeln soll, nicht aber irgendwelche Gebietsfragen klären kann. Sie ist wegen der besonderen staatsangehörigkeitsrechtlichen Notlage der deutschen Volkszugehörigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit geschaffen worden. Wie und in welcher Weise das Wiedervereinigungsgebot zu verwirklichen ist, muß sich deshalb nach den jeweiligen tatsächlichen und politischen Möglichkeiten bestimmen. Es kommt nicht von ungefähr, daß der Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes seit langem politisch wie rechtlich im Hinblick auf die Uberwindung der deutschen Teilung, d. h. für das Gebiet der ehemaligen vier Besatzungszonen und der vier Sektoren von Berlin, begriffen wird. Für die Gebiete jenseits von Oder und Neiße bestand durch die völkerrechtlichen Akte der Siegermächte von jeher eine besondere Lage. In der Berliner 400

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Erklärung vom 5. Juni 1945 haben die Vier Mächte besondere Rechte und Vorbehalte in bezug auf Deutschland als Ganzes geltend gemacht, dies wurde in einer Reihe weiterer Abkommen konkretisiert. Die Westmächte und die Sowjetunion haben sich in ihren Verträgen diese Rechte stets vorbehalten. Darin ist an keiner Stelle eine Gebietsgarantie für das Deutschland in den Grenzen von 1937 enthalten. Es heißt vielmehr in der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, daß die Alliierten später die Grenzen Deutschlands oder irgendeines Teiles Deutschlands oder irgendeines Gebietes, das gegenwärtig einen Teil deutschen Gebietes bildet, festlegen würden. Soweit die beiden Staaten in Deutschland betroffen sind, schließen die Bestimmungen in den Verträgen, die die Unverletzlichkeit oder Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen regeln, eine friedliche Wiedervereinigung in freier Selbstbestimmung nicht aus. Im Gegenteil sind sie unter den gegenwärtigen Umständen der einzig realistische Weg, die deutsche Frage offenzuhalten und so die Voraussetzungen für eine Wiedererlangung der deutschen Einheit wenigstens nicht zu verschlechtern. Aber auch die von den Siegermächten offengehaltene Frage nach den späteren Grenzen Deutschlands wird durch die Verträge nicht beeinträchtigt. Die im Moskauer Vertrag angesprochenen Grenzen werden nicht ,anerkannt'. Der Begriff ,Anerkennung' wird im gesamten Vertragswerk bewußt und im Einvernehmen mit den Vertragspartnern sorgfältig — der russische Außenminister Gromyko sagte hierzu: für uns ein sehr komplizierter und politisch schmerzhafter Prozeß — vermieden. Die Grenzen werden lediglich für ,unantastbar' und ,unverletzlich' erklärt. Dies macht deutlich, daß die Grenzfrage nicht vom Grundgedanken des Gewaltverzichts isoliert werden kann. Bei der heute in Europa gegebenen Lage wäre ein Gewaltverzicht unredlich, der nicht die in den Verträgen getroffenen Aussagen zu den Grenzfragen machte. Auch im Warschauer Vertrag ist dies im Grunde nicht anders. Zwar hat die Bundesregierung anders als im Moskauer Vertrag hier erklärt, daß sie für die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze ansieht. Sie hat damit dem Wunsch des Vertragspartners nach gesicherten Grenzen entsprochen — von denen schon der damalige Bundeskanzler Kiesinger in der Regierungserklärung vom Dezember 1966 sprach —, dies aber nur nach der für die Bundesrepublik gegebenen Lage und auch nur in den rechtlichen Grenzen getan, die sich aus der Teilung Deutschlands, dem Fortbestehen der Viermächte-Verantwortung, dem Vorbehalt einer friedensvertraglichen Regelung und unseren bestehenden vertraglichen Verpflichtungen ergeben. Die polnische Seite hat diese Vorbehalte akzeptiert. Auch der Streit über die deutsche oder russische Textfassung des Wortes unverletzlich' bringt niemand weiter. Sowohl die internationale Vertragspraxis als auch eine das gesamte Vertragswerk einbeziehende völkerrechtliche Interpretation rechtfertigen es nicht, die Erklärungen über die Grenzen in den Verträgen mit dem Begriff ,unveränderlich' auszulegen. Der deutsche Rechtsstandpunkt ist in dieser grundlegenden Frage mehrfach abgesichert und ausdrücklich klargestellt worden. Der Moskauer Vertrag nimmt ausdrücklich Bezug auf die Ergebnisse der Adenauer-Bulganin-Verhandlungen des Jahres 1955 bei 26

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der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen. Damals wurde in einem Briefwechsel klargestellt, daß das Ziel der Wiedervereinigung durch die Vereinbarung nicht beeinträchtigt werde. In Artikel 4 des Moskauer Vertrages wird festgelegt, daß die früheren von den Vertragspartnern abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Vereinbarungen und Verträge — hierzu gehört im Rahmen unserer westlichen Bündnisverträge vor allem der Deutschland-Vertrag — unberührt bleiben. Bundesaußenminister Scheel hat weiterhin bei der Vertragsunterzeichnung in Moskau den Brief zur deutschen Einheit übergeben, der ohne Gegenvorstellung entgegengenommen wurde. Der sowjetische Außenminister hat in den Verhandlungen am 29. Juli 1970 zu dieser Frage Äußerungen gemacht, die am 13. Dezember 1971 als Teil der Vertragsmaterie veröffentlicht wurden. Audi hieraus geht hervor, daß die Sowjetunion freiwillige Grenzkorrekturen als Ausdruck der Souveränität ansieht und in der Wiedervereinigung als einer zukünftigen Perspektive der deutschen Politik keine Vertragsverletzung sieht. Der Moskauer Vertrag schließt also weder eine auf freiwilligem Entsdiluß der Beteiligten beruhende einvernehmliche Änderung oder Aufhebung der Grenzen, noch die Wiedervereinigung aus. In der Grenzfrage besteht zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion kein Dissens. Und schließlich stellt die Erklärung über die Grenzen kein rechtliches Hindernis für die freiwillige Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands dar, ist also auch im Einklang mit dem Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes. Der Warschauer Vertrag enthält auch keine Abtretung deutschen Staatsgebietes. In ihn darf nicht mehr hineingelesen werden, als er tatsächlich enthält. Er ist weder ein Gebietsübertragungsvertrag, noch enthält er eine endgültige Grenzregelung — er kann also auch nicht mit einem Friedensvertrag gleichgestellt werden. Der Warschauer Vertrag begründet nicht die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Er knüpft vielmehr hinsichtlich der polnischen Westgrenze an die tatsächliche und völkerrechtliche Lage an, wie sie sich nach dem Krieg ergeben hat. Ausgehend von dieser Lage erklärt die Bundesrepublik lediglich, daß sie die Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellen wird. Dies ist gewiß eine schmerzliche Regelung. Sie war aber angesichts der Vorentscheidungen der Siegermädite, wegen der Entwicklung in den letzten 25 Jahren und wegen der Aussichtslosigkeit einer Revision dieser Folgen des Zweiten Weltkrieges erforderlich, um überhaupt eine Normalisierung und eine friedliche Entwicklung inmitten Europas einleiten zu können, an der sich die Bundesrepublik Deutschland beteiligt und die ohne sie nicht vorstellbar ist. In den Verhandlungen hat die Bundesregierung klargestellt, daß sie nur für die Bundesrepublik und nicht für Deutschland als Ganzes handeln könne. Die Entscheidung eines gesamtdeutschen Souveräns ist nicht vorweggenommen worden. Dies war auch im Hinblick auf die Rechte der Alliierten notwendig. In Artikel 4 des Warschauer Vertrages werden die früher von den Vertragspartnern geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen als unberührt bezeichnet. In dem Notenwechsel zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten wird der Friedensvertragvor402

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behalt der Alliierten auch bezüglich der endgültigen Grenzfestlegung aufrechterhalten. Dieser Notenwechsel ist der polnischen Seite vor Vertragsunterzeichnung formell zur Kenntnis gebracht worden, ohne daß Gegenvorstellungen erhoben wurden. Die Hoheitsgewalt der Bundesrepublik erstreckt sich nur auf das Gebiet innerhalb unserer Grenzen, Verfügungen über andere Grenzen kann sie nicht treffen. Sie kann deshalb und wegen der entgegenstehenden Viermächte-Verantwortung auch keine rechtlich wirksame Abtretung der Oder-Neiße-Gebiete vornehmen. Eine Fülle von Spekulationen hat sich um die Frage des Selbstbestimmungsrechtes gerankt. Die Bundesregierung hat in den Ostverträgen und den dazu abgegebenen Stellungnahmen ihr politisches Ziel und den moralischen Auftrag des Grundgesetzes in seiner Präambel, das Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen zu verwirklichen, verankern können. Der Moskauer Vertrag nennt mit den Zielen und Leitlinien der Satzung der Vereinten Nationen über das friedliche Zusammenleben der Staaten auch Artikel 1 Nr. 2 der UN-Charta, in dem die Entwicklung freundschaftlicher, auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker aufgebauter Beziehungen zwischen den Nationen als Ziel angegeben wird. Audi der Brief zur deutschen Einheit und die Erklärungen des Außenministers der Sowjetunion, Gromyko, sagen ausdrücklich, daß die Bestimmungen des Moskauer Vertrages der deutschen Option nicht entgegenstehen. Im Brief des Bundesaußenministers wird wörtlich festgestellt, daß dieser Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in f r e i e r Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dieser Vorbehalt ist von der Sowjetunion ohne Widerspruch entgegengenommen worden und damit völkerrechtlich wirksam. Mit den Ostverträgen wird daher das Selbstbestimmungsrecht keinesfalls aufgegeben, sondern im Gegenteil erneut bekräftigt. Mit der Hinnahme der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze hat die Bundesregierung auch kein völkerrechtliches Unrecht sanktioniert, wie manche Kritiker behaupten. Wir haben — auch in den Vertragsverhandlungen — stets den Standpunkt vertreten, daß die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten völkerrechtswidrig war. In seiner Fernsehansprache aus Warschau anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages hat der Bundeskanzler vor der Weltöffentlichkeit erklärt: ,Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte: Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder Gewalttaten rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren.' Dennoch müssen wir — wenn es um Rechtsfragen geht — zur Kenntnis nehmen, daß es einen völkerrechtlich verbindlichen Anspruch auf Rückkehr in die alte Heimat nicht gibt. Das Heimatrecht ist keine allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts. Zudem leben heute in den Ostgebieten Millionen Polen, die zum größten Teil dort geboren sind und dieses Land auch als ihre Heimat be403

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trachten. Dem Unrecht der Vertreibung der Deutschen kann und darf nicht neues Vertreibungsunrecht folgen. Ein Wort muß noch zu den Bedenken der Opposition gesagt werden, durch die Verträge würden den Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße Individualrechte, insbesondere die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Auch hier gilt es wieder, den Text genau zu lesen. Keiner der beiden Verträge befaßt sich mit Individualrechten. Die Grenzfeststellung im Warschauer Vertrag betrifft nicht die Rechte von Privatpersonen. Dies haben wir in Warschau eindeutig klargestellt. Der Bundesaußenminister hat vor Abschluß des Warschauer Vertrages insbesondere unter Hinweis auf die Staatsangehörigkeitsfrage erklärt, daß durch diesen Vertrag keiner Person Rechte verloren gehen, die ihr nach den geltenden Gesetzen der Bundesrepublik zustünden. Diese Erklärung ist unwidersprochen geblieben. Der Warschauer Vertrag bewirkt auch nicht mittelbar einen Verlust der Staatsangehörigkeit. Zwar ist richtig, daß die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Gebiete nach Inkrafttreten des Vertrages nicht länger als Inland behandeln kann. Deutsche in diesen Gebieten, die künftig f r e i w i l l i g auf Antrag die polnische Staatsangehörigkeit erwerben, werden nach unserem Recht als deutsche Staatsangehörige ausscheiden. Wer jedoch diesen Antrag nicht stellt, bleibt deutscher Staatsangehöriger. Allen Deutschen, denen schon bisher — auf Antrag — die polnische Staatsangehörigkeit verliehen worden ist, bleibt darüber hinaus auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Da bislang die Oder-NeißeGebiete nicht als Ausland galten, waren die dort lebenden Deutschen zumeist zugleich polnische und deutsche Staatsangehörige. Dieser Tatbestand bleibt bestehen. Er kann wegen der strengen Regeln des Staatsangehörigkeitsrechts auch nicht nachträglich oder gar rückwirkend geändert werden. Ein Optionsrecht für die in Polen lebenden Deutschen ist nicht vereinbart worden, weil der Warschauer Vertrag keine nachteiligen staatsangehörigkeitsrechtlichen oder sonst individualrechtlichen Folgen hat. Im übrigen stellt der Vertrag eben keinen Friedensvertrag dar. Er regelt einen Modus vivendi, der zu einer Normalisierung der Beziehungen führen soll. Die Lage der Deutschen in Polen ist bei den Vertragsverhandlungen ausgiebig erörtert worden. Es ist auch gelungen, eine praktische Verständigung für die Fragen der Umsiedlung zu finden. Die ,Humanitäre Information' der polnischen Regierung verbessert und erleichtert die Familienzusammenführung und sichert den deutschen Volkszugehörigen die Möglichkeit der Ausreise zu. Immerhin sind — nachdem die Ausreise in den letzten Jahren fast völlig zum Erliegen gekommen war — im vergangenen Jahr auf Grund dieser Information und obwohl der Warschauer Vertrag noch nicht ratifiziert ist, 25 000 Aussiedler von Polen in die Bundesrepublik gekommen. Wir sollten nicht so tun, als ob das gar nichts wäre. Das Ergebnis der WarschauReise von Herbert Wehner zeigt zudem, wie sehr sich das Klima zwischen uns und Polen auf Grund des Vertrages bereits verändert hat und Verbesserungen erwarten läßt. Und wir stehen erst am Anfang. Nun ist in den letzten Tagen wieder einmal das Schreckgespenst von Reparationen an die Wand gemalt worden. Dieses Geschäft mit der Angst der Bun404

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desbürger ist nicht nur leichtfertig, es schadet auch den deutschen Interessen zutiefst. Wie ist denn die Rechtslage wirklich? Sowohl die Sowjetunion als auch Polen haben verbindlich auf die Zahlung von Reparationen verzichtet. Wir haben diese Frage auch nodi einmal ausdrücklich in den Vertragsverhandlungen geklärt. Die polnische Seite hat dabei auf die Erklärung der polnischen Regierung vom 24. August 1953 verwiesen, wonach sie mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet hat. Der polnische Verhandlungsführer hat dabei ausdrücklich festgestellt, daß der Reparationsverzicht sich auf ganz Deutschland und nicht etwa nur auf die DDR beziehe und Reparationsforderungen gegenüber der Bundesrepublik deshalb nicht in Betracht kämen. Gleiches gilt gegenüber der Sowjetunion, die schon im Potsdamer Abkommen erklärt hat, daß die Reparationsansprüche der UdSSR durch Entnahme aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden sollten. Im Verhältnis zur DDR hat die Sowjetunion durch die Moskauer Erklärung vom 22. August 1953 ebenfalls mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die deutschen Reparationsleistungen vollständig verzichtet. In den deutsch-sowjetischen Verhandlungen hat die sowjetische Seite irgendwelche Reparationsforderungen auch nie gestellt. Die Bundesregierung ist auch nicht bereit, Reparationsforderungen zu erfüllen, audi nicht unter dem Deckmantel von Wiedergutmachungsleistungen. Individuelle Wiedergutmachung an Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bleibt hiervon unberührt." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 19. 2.1972) Der Erste Sekretär des Z K der P V A P , G i e r e k , führt in einer Wahlrede in Kattowitz am 21. Februar u. a. aus:

„Wir haben unseren Beitrag dazu geleistet, daß sich Europa zur Zeit der in seiner Geschichte längsten Periode des Friedens erfreut. Zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrags haben wir die Unverletzlichkeit und Dauerhaftigkeit der politischen und territorialen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges garantiert. Zu den entscheidenden Fragen, die wir gemeinsam mit den anderen Ländern unserer Gemeinschaft ständig vorgetragen haben, gehört auch die Forderung nach der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen in Europa, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze. Der letzte und in der Tat einzige Staat, der diese Grenze in Frage stellte, nämlich die BRD, hat diese nun in den Verträgen von Moskau und Warschau anerkannt. Wir bezweifeln nicht, daß diese Verträge ratifiziert werden, denn dies liegt nicht nur im einseitigen Interesse der sozialistischen Unterzeichnerstaaten, sondern in noch größerem Maße im multilateralen lebenswichtigen Interesse der europäischen Nationen und Staaten, einschließlich der BRD. Wir sind überzeugt, daß trotz der Opposition revanchistischer Kreise der Prozeß der Normalisierung in Mitteleuropa weitergehen wird, daß er auch eine gerechte Regelung der zwischen der BRD und der Tschechoslowakei be405

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stehenden Probleme auf der Basis der Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an sowie die Anerkennung — in Einklang mit dem Völkerrecht — des sozialistischen deutschen Staates, der DDR, einschließen wird." (Ost-Informationen, 22. 2.1972) Bundeskanzler B r a n d t führt am 23. Februar im Deutschen Bundestag im Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 u. a. aus:

„Von den sechs Punkten, mit denen ich den vorjährigen Bericht zur Lage der Nation abschloß, haben sich die drei letzten erledigt. Die drei ersten will ich hier ausdrücklich bekräftigen. Erstens. Das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen. Zweitens. Die deutsche Nation bleibt auch dann eine Realität, wenn sie in unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist. Drittens. Die auf Bewahrung des Friedens verpflichtete Politik der Bundesregierung erfordert eine vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur DDR. Die in den 20 Punkten von Kassel niedergelegten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die für uns gültige Grundlage für Verhandlungen. Die Erfahrung des zurückliegenden Jahres hat gezeigt, wie stark unsere Politik in den westlichen Gemeinschaften verankert ist und daß sie einen eigenen Beitrag zum Abbau von Spannungen zwischen Ost und West zu leisten vermag. Der amerikanische Präsident hat kürzlich davon gesprochen, daß 1971 eine Reihe von — ich darf ihn zitieren — ,Durchbrüchen zum Frieden erzielt worden sind*. Ähnlich wie die Vereinigten Staaten hat — so sieht es die Bundesregierung — auch die Bundesrepublik Deutschland aufgehört — ich darf wieder zitieren —, ,auf Grundlage der Gewohnheiten von gestern zu reagieren, und damit begonnen, die Realitäten von heute und die Chancen von morgen zum Gegenstand ihres Handelns zu machen'." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , führt vor dem Deutschen Bundestag am 23. Februar bei der Einbringung der Ratifizierungsgesetze für die Verträge von Moskau und Warschau u. a. aus:

„Meine Damen und Herren, der Kern unserer Ost-West-Politik, das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland, wird von diesen Verträgen na-

türlich beeinflußt. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, ob die Perspektive der Einheit Deutschlands mit den Verträgen verbessert oder ob die Spaltung Deutschlands vertieft wird. Diese Debatte gibt Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Nicht nur dieses Parlament, sondern das ganze deutsche Volk hat ein Recht auf diese Antwort; denn die deutsche Frage bleibt für uns — und ich meine, für uns alle — im Mittelpunkt unserer Entspannungs- und Friedenspolitik. 406

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Diese Bundesregierung würde jedoch ihre Pflicht in bedenklicher Weise verletzen, wenn sie es unterlassen würde, auf die möglichen Folgen einer Ablehnung der Verträge hinzuweisen. Die Bundesregierung muß mit dem gebotenen Ernst die Frage nach der Alternative stellen — das ist eine Frage, die zu beantworten die Opposition uns schuldet. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf des Abg. Stücklen.) Denn welches wäre der Wert eines ablehnenden Votums, wenn es nicht abgesichert wäre durch eine tragfähige und erfolgversprechende Alternative? (Beifall bei den Regierungsparteien.) Lassen Sie mich zum Inhalt der Verträge Stellung nehmen. Erstens. Die Verträge enthalten einen umfassenden Gewaltverzicht. Danach ist nicht nur die Anwendung von Gewalt, sondern auch die Drohung mit Gewalt ausgeschlossen. Dieser Ausschluß gilt für alle Aspekte der gegenseitigen Beziehungen zwischen den Vertragspartnern. Er bedeutet, daß alle Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen sind. Worin liegt die politische Bedeutung dieses Gewaltverzichts? Die Sowjetunion kann sich jetzt nicht mehr wie noch 1969 auf ein angebliches Interventionsrecht aus den Artikeln 53 und 107 der Satzung der Vereinten Nationen berufen. Das wurde ausdrücklich durch den sowjetischen Außenminister bestätigt. (Abg. Stücklen: Wo steht es im Vertrag?) — Nun, das steht im Vertrag in Art. 2, man braucht ihn nur einmal durchzulesen. Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wir können ihn doch auch lesen!) Zweitens. Diese Verträge enthalten eine Aussage über die Grenzen. Sie schaffen keine Rechtsgrundlagen für bestehende Grenzen und enthalten keine Stellungnahme zur Entstehung dieser Grenzen. Sie enthalten aber Verpflichtungen. Im deutsch-sowjetischen Vertrag verpflichten sich die Partner, die Grenzen als unverletzlich zu achten. Das bedeutet, sie können nicht mit Gewalt geändert werden. Eine friedliche und einvernehmliche Änderung der Grenzen ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Das hat der sowjetische Außenminister ebenfalls ausdrücklich bestätigt. Ferner haben in dem deutsch-sowjetischen Vertrag beide Seiten erklärt, daß sie keine Gebietsansprüche haben. Das entspricht unserer bisherigen Politik. Die Bundesrepublik hat auch in der Vergangenheit keine Gebietsansprüche geltend gemacht, weder auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße noch auf das Gebiet der DDR. Die Einheit Deutschlands wird nur dadurch erreicht, daß die Bundesrepublik das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zur Grundlage einer solchen Entwicklung macht. (Abg. Stücklen: Wo steht das im Vertrag?) Daß eine Politik, die darauf abzielt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dém das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, nicht gegen diese Bestimmungen des Vertrages verstößt, ergibt sich — um das zu beantworten — aus dem Brief zur deutschen Einheit, den ich anläßlich der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages an den sowje407

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tischen Außenminister riditete. Dieser Brief wurde von der sowjetischen Seite ohne Widerspruch entgegengenommen. (Zurufe von der CDU/CSU.) Im deutsdi-polnischen Vertrag ist die Aussage zur Grenze konkretisiert. Diese Aussage stellt klar, daß die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellt. Dies bedeutet, daß die Gebiete jenseits dieser Grenze von der Bundesrepublik Deutschland für die Dauer ihrer Existenz als polnisches Staatsgebiet zu betrachten und zu respektieren sind, wenngleich eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland noch nicht zustande gekommen ist und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes fortbestehen. Diese Grenzregelung hat nichts mit den Individualrechten der Deutschen, die in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße leben, zu tun. Diese Rechte

waren nicht Gegenstand der Verträge. Ich habe, um das klarzustellen, in den Verhandlungen förmlich erklärt, daß niemand durch den Vertrag Rechte verliert, die ihm nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland zustehen. Der deutsch-polnische Vertrag schafft allerdings kein Optionsrecht für die Deutschen jenseits von Oder und Neiße. Im Zuge der Verbesserung unserer Beziehungen zu Polen eröffnet er uns jedoch die Möglichkeit, uns für diese Deutschen zu verwenden. Drittens. Beide Verträge enthalten eine Bestimmung, in der klargestellt wird, daß früher geschlossene Verträge der Vertragspartner nicht berührt werden. Das gilt auch, wie unseren Vertragspartnern bekannt ist, für den DeutschlandVertrag, den wir mit unseren drei westlichen Verbündeten abgeschlossen haben. Dort heißt es, daß sich die Unterzeichnerstaaten darüber einig sind, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, und daß sie sich weiterhin darüber einig sind, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß. Damit ist klargestellt, daß die Bundesrepublik nur für sich, nicht für einen gesamtdeutschen Souverän sprechen kann. Ferner ist gesichert, daß die Rechte der Vier Mächte hinsichtlich Deutschland als Ganzes unberührt bleiben. Viertens. Beide Verträge enthalten schließlich als Ziel der Vertragspartner die Normalisierung der Beziehungen. Diese Normalisierung soll sich auf alle Bereiche in den gegenseitigen Beziehungen erstrecken. Sie ist das eigentliche politische Ziel der Verträge, das in die Zukunft weist. Die Rechte und Verpflichtungen aus den Verträgen sind eindeutig formuliert. Sie geben keinen Anlaß zu einem Dissens zwischen den Vertragspartnern. Völkerrechtliche Verträge sind grundsätzlich von ihrem Wortlaut her auszulegen; ihre Auslegung kann nicht über das hinausgehen, worüber zwischen den Vertragspartnern Einigung erzielt worden ist. Auch die Verpflichtungen hinsichtlich der Respektierung der Grenzen sind eindeutig. Entspannung und Normalisierung, meine Damen und Herren, sind die Grundpfeiler des politischen Prozesses in Europa, der von beiden Seiten in Europa 408

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getragen wird und dessen Ziel die Erhöhung der Sicherheit in Europa ist. Davon werden natürlich spezifische politische Zielvorstellungen, die die jeweiligen Vertragspartner haben mögen und die sie vielleicht auch mit den Verträgen verbinden, nicht berührt. Diese Zielvorstellungen sind ebensowenig in den beiden Verträgen wie in anderen völkerrechtlichen Verträgen Gegenstand der Regelung. Sie konnten es auch gar nicht sein. Es liegt in der Natur des Menschen begründet, daß er den Wunsch nach Entspannung und Frieden in ruhigen Zeiten nicht so deutlich bekundet wie in Augenblicken der Krise. Konrad Adenauer wußte, wovon er sprach, als er am 20. November 1958, auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise, zum sowjetischen Botschafter Smirnow sagte: Oberstes Ziel jeglicher Politik muß es sein, eine Entspannung der Weltlage anzustreben. Demgegenüber hat alles andere zurückzutreten! Wir, die Abgeordneten des Bundestages, sollten uns solcher Einsichten nicht nur entsinnen, wenn eine Krise vor der Tür steht oder sie schon ausgebrochen ist. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Diese Bundesregierung hat jedenfalls vom ersten Tage ihrer Regierungszeit an ihr Sinnen und Trachten auf die Verwirklichung einer Entspannung zwischen Ost und West in Europa gerichtet. Entspannung entsteht nicht dadurch, daß man von Entspannung redet und sich vielleicht auch einer gemäßigten Sprache bedient. Entspannung ist nur dort möglich, wo ein Minimum an Vertrauen entsteht, wo die Vernunft langsam die Oberhand über Vorurteile und Mißtrauen gewinnt. Aber da gibt es — so wird man einwenden — die ungelösten Probleme, die uns der Zweite Weltkrieg beschert hat. Wie wollen wir zu Entspannung kommen, wenn sich die Probleme als unlösbar erweisen, wie die Erfahrung von mehr als 25 Nadikriegsjahren gezeigt hat? Meine Antwort ist einfach: Gerade weil wir es in unserem Verhältnis zu Osteuropa mit Fragen zu tun haben, die heute — heute — unlösbar sind, brauchen wir Entspannung und Zusammenarbeit. In der gefährlichen Welt, in der wir leben, können wir nicht immer sicher sein, daß sich die Entspannung einstellt, wenn wir sie gerade brauchen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, D r . B a r z e l , Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

führt in der

„Wer — für den Fall der Ablehnung der Verträge — ein Desaster* an die Wand malt — wie dies auch Herr Kollege Scheel soeben zu tun beliebte —, der unterstellt damit der Sowjetunion Absichten, welche diese selbst weit von sich weist. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.) Wir befürchten ein solches ,Desaster* nicht — nicht nur, weil das Bündnis den Frieden sichert und die Demokratie, also das unbeeinflußte Recht, ja oder nein zu sagen, sondern ebenso, weil den sowjetischen Staatsmännern unsere Position im einzelnen genau bekannt ist und man es dort als Verleumdung zurückweist, 409

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uns etwa jetzt oder künftig zu bedrohen. Man weiß in Moskau — wie in Washington, London und Paris — sehr gut, daß das Vertragswerk für uns als ein Modus vivendi zustimmungsfähig werden könnte, und zwar durch drei Punkte: 1. durch eine positive Einstellung der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinsdiaft, 2. durch die Aufnahme des Selbstbestimmungsredits in das Vertragswerk sowie 3. durch die verbindlich vereinbarte Absicht, in Deutschland Freizügigkeit stufenweise herzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diese drei Punkte gehören zusammen. Sie sind eine Einheit. Und man weiß, daß diese Position für uns audi morgen gelten wird, sei es, daß andere darauf zurückkommen wollen, sei es, daß die Seiten der demokratischen Verantwortung hier wechseln. (Zurufe von der SPD.) Die Bundesregierung legt, entgegen ihren eigenen früheren verbindlichen Erklärungen, ein Vertragswerk zur parlamentarischen Zustimmung vor, das unvollständig ist, weil es den Kern der Probleme, die Lage der Deutschen in Deutschland, weder regelte noch löst. Wer Grenzfragen beantworten will, muß die Grenzen für die Menschen erträglicher machen. Das geschieht durch dieses Vertragswerk nicht. In den Verträgen fehlt die Verpflichtung beider Seiten, die von ihnen beabsichtigte Politik, insbesondere den Gewaltverzicht, auch in eine Beziehung zum Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes zu setzen. Schließlich muß das Vertragswerk im Zusammenhang mit der Europapolitik und mit der Weigerung der Sowjetunion, die Europäischen Gemeinschaften zu akzeptieren, gesehen werden. Das Vertragswerk gefährdet angesichts dieser fortbestehenden Weigerung die Grundlagen unserer europäischen Politik. Meine Damen und Herren, auch wir gehen natürlich davon aus — um eine Kritik von draußen jetzt aufzunehmen —, daß die Haltung der Sowjetunion gegenüber der Europäischen Gemeinschaft nicht Gegenstand dieser Vertragstexte sein kann. Aber die Bundesregierung hätte, so meinen wir, als eine der notwendigen Gegenleistungen, zumindest als eine den Vertrag begleitende politische Absichtserklärung — es gibt doch deren so viele —, die Zusage der Sowjetunion erstreben und erreichen müssen, mit der EWG zusammenarbeiten zu wollen. Ohne diese Zusage hätte die Bundesregierung, wie wir sehr nachdrücklich meinen, sich niemals verpflichten dürfen, dafür einzutreten, daß der sowjetische Plan einer gesamteuropäischen Konferenz beschleunigt verwirklicht wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) Damit ist ein Stück des deutschen Gewichts in eine Waagschale geworfen, das wir in der Waagschale der Beschleunigung des Zusammenschlusses des freien Europa sehen wollen. Diese gesamteuropäische Konferenz ist doch nur dann nützlich und sinnvoll, wenn sie frei ist von allen Absichten, etwa die Europäische Wirtsdiaftsgemein410

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schaft oder das Bündnis zu beeinträchtigen, zu zerstören oder zu ersetzen. Wir haben leider allen Anlaß, davon auszugehen, daß diese Absicht bei den Initiatoren der Konferenz verstärkt besteht. Deshalb sagen wir zu diesem Thema, das hier angesprochen ist: Eine gesamteuropäische Konferenz darf nicht Rivalität und Spaltung festigen, sondern muß konkret zur Versöhnung beitragen, die Zusammenarbeit verbessern und die freieren Begegnungen durch alle Grenzen ermöglichen. Bei Teilnahme der USA, Kanadas und der EWG, bei guter Vorbereitung und einer Tagesordnung mit konkreten Punkten wären wir bereit, eine europäische Sicherheitskonferenz zu unterstützen. Aber wir lehnen es ab, durch eine solche Konferenz etwa zu einer sachlich unbegründeten Euphorie der Entspannung beizutragen, an deren Ende es unmöglich wäre, die Verteidigungsbeiträge zu erbringen. Deshalb würde an deren Ende die Selbstaufgabe des Westens durch e i n s e i t i g e Abrüstung ebenso stehen wie die Möglichkeit der Sowjetunion, über einen europäischen Sicherheitsrat Veto gegen die Politik der Vereinigung des freien Europa einzulegen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir werden also an der Haltung der Sowjetunion zur Frage der EWG feststellen können, ob sich bei ihr der Wille zur Zusammenarbeit so stark durchgesetzt hat, daß sie wenigstens an dieser Stelle dem Willen nach Vorherrschaft hier einmal nicht den Vorrang gibt. Der zweite Punkt betrifft das Selbstbestimmungsrecht. Die zentrale Frage dieses Vertragswerks ist, ob es nur beschreibt oder ob es festschreibt, ob es, wie man überall in der Welt hört, eine endgültige Regelung oder nur eine vorläufige Regelung, also einen Modus vivendi, enthält. Die Frage heißt, ob aktive Deutschlandpolitik möglich bleibt oder ob sie etwa aus dem Bereich der praktischen Politik in den der politischen Belletristik verschoben wird. Meine Damen und Herren, solche Fragen wären überhaupt nicht zu stellen, wenn im Vertragswerk selber das enthalten wäre, was ausdrücklich Inhalt des Abkommens mit der Sowjetunion vom 13. September 1955 war. Konrad Adenauer und Bulganin waren übereingekommen — ich zitiere, und zwar nicht aus einem Brief, der irgendwie das Tageslicht zu scheuen hat, sondern aus einem Abkommen, das von beiden ausdrücklich unterschrieben wurde —: daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und damit auch zur Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes — der Wiederherstellung eines deutschen demokratischen Staates — verhelfen wird. Der jetzt vorliegende Vertrag enthält nicht nur nichts zur Frage des Selbstbestimmungsrechts und der Wiedervereinigung, sondern er beendet ausdrücklich die eben zitierte vertragliche Verpflichtung. Zum Beispiel hier haben Sie, Herr Bundeskanzler, der Sie uns immer sagen, Sie hätten nichts aufgegeben, hier haben Sie konkret etwas aufgegeben, nämlich die gemeinsame Verpflichtung mit der Sowjetunion, Deutschlands Einheit herzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Leider wahr!) 411

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So fehlen — und bei dieser Vorgeschichte ist das Fehlen jetzt natürlich eine besonders bedeutende Tatsache — die Einbeziehung des Selbstbestimmungsredits und das Ziel der Wiedervereinigung im Vertrag. Dieser Mangel wiegt schwer. Die vier Interpretationen, die dazu veröffentlicht wurden, heilen ihn nicht, sondern machen ihn nodi schlimmer. Ich stimme dem früheren Generalsekretär der NATO, Brosio, zu, der kürzlich, am 20. September 1971 — da war er noch im Amt —, in London im Zusammenhang mit dieser Politik von einem ,hohen Preis* sprach; denn es sei — so sind seine Worte — ,kein Erfolg, wenn die Anwendung eines der Grundprinzipien der freien Welt, nämlich des Redits auf Selbstbestimmung der Völker, auf unbestimmte Zeit verschoben wird'. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Dies ist das Wort eines erfahrenen Diplomaten. Nun hat zwar die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, die später eine Rolle spielen wird, dazu ein paar Worte gefunden, die, wenn sie im Vertrag stünden, uns erfreuen würden. Aber sie stehen eben nicht im Vertrag, (Abg. Stücklen: Das ist es ja!) und es gibt dafür audi keine Bestätigung der Sowjetunion. Deshalb soll sich hier niemand darüber hinwegtäuschen, daß in diesem Vertragswerk nun nicht nur das eine herausoperiert ist, sondern daß eben jeder Hinweis auf die wirkliche Realität fehlt, nämlich die, daß es unverändert ein deutsches Volk gibt, das aus einer großen Kultur heraus lebt, das eine Sprache spricht, eine Vergangenheit hat und den Willen zu einer gemeinsamen Zukunft hat. Das fehlt. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nun ist die Auffassung der Sowjetunion zu diesen Fragen klar und eindeutig; sie ist uns gut bekannt. Da ich mir aber diese Auffassung nicht zu eigen mache, da ich hier nichts gegen die Interessen einer künftigen Deutschlandpolitik interpretieren werde, verzichte ich darauf, hier dazu mehr auszuführen. In den vertraulichen Ausschüssen wird das freilich geschehen müssen. Wir werden dort, Herr Kollege Scheel, nicht nur mitteilen, was wir sowjetischen Gesprächspartnern gesagt haben, sondern auch, wenigstens dem Inhalt nach, die Antwort, die dann gegeben worden ist. Dort werden Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Kollege Scheel, uns allen reinen Wein einsdienken müssen; denn die Verniedlichung des Vertragsinhalts, so wie sie der Herr Außenminister im Bundesrat vorgenommen hat, als er am 9. Februar 1972 diese Politik als ,den vertraglichen Gewaltverzicht auf der Grundlage des territorialen Status quo, als Ausgangspunkt für Entspannung und Zusammenarbeit* charakterisierte, diese Verharmlosung grenzt an Verschleierung des Inhalts dieser Politik, die doch in der ganzen Welt völlig anders verstanden wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wenn Sie dafür einen Zeugen brauchen, zitieren Sie auch dieses Wort des Herrn französischen Staatspräsidenten, Herr Kollege Scheel, damit hier alles auf dem Tisch liegt. 412

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Ginge es nämlich um einen gegenseitigen Gewaltverzichtsvertrag, um einen Gewaltverzichtsvertrag mit dem Inhalt: wir wollen als Deutsche friedlich und in Freiheit zusammenleben, und wir verzichten darauf, dieses Ziel mit Gewalt zu erreichen, so würden wir dem zustimmen, weil das unsere Politik ist. Einen solchen Vertrag haben doch frühere Regierungen vorgelegt. Aber die Politik dieser Regierung ist eben nicht nur, wie sie uns einzureden versucht, Gewaltverzichtspolitik, auch nur noch temporär ,überlagerte', was die Sowjetunion betrifft, sondern sie ist etwas ganz anderes. Sie haben sich doch, Herr Bundeskanzler, verpflichtet — das sind andere Dinge als Gewaltverzicht —, die DDR als zweiten deutschen Staat in die UNO zu bringen. Sie sind doch die Verpflichtung eingegangen, die innere Souveränität der DDR anzuerkennen. Was heißt »innere Souveränität der DDR'? Das sind all jene Tatbestände, die wir vorher beklagten. Sie haben sich verpflichtet, das Moskauer Konzept der gesamteuropäischen Konferenz zu unterstützen. Dann haben Sie auf der Krim einem Kommuniqué zugestimmt, in dem von der deutschen Frage nicht mehr die Rede ist. Und als ich Sie wegen der Kasseler 20 Punkte ansprach, dort fehle das Selbstbestimmungsrecht, haben Sie dies zurückgewiesen, weil dort auf die Menschenrechte abgehoben sei. Wir haben gesagt: gut, wenn das so gemeint ist. Aber inzwischen haben Sie kein Kommuniqué mehr, in dem von den Menschenrechten und der ungelösten deutschen Frage die Rede ist, meine Damen und meine Herren. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das sind eben die zwei Wahrheiten, mit denen hier gearbeitet wird: die eine für die Kommuniques nach außen, die andere hier im Innern, wo man von der Nation spricht durch den gleichen Kanzler, der zu Beginn seiner Regierung sagte, von Wiedervereinigung zu sprechen habe er sich abgewöhnt. Sie haben Verträge geschlossen, in denen nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch das Ziel der Wiedervereinigung weder genannt noch gewahrt ist, in denen der illegale Gewaltvorbehalt der Sowjetunion nicht beseitigt, sondern nur »überlagert' wird, in denen Sie der Sowjetunion gegenüber alle europäischen Grenzen garantieren — ein Ausflug in Großmannssucht mit ungeahnten Konsequenzen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Mit den Einlassungen des Außenministers sind einige Fragen aufgeworfen, die vor der Schlußabstimmung sicher für jedes Mitglied dieses Hauses klar und unmißverständlidi werden beantwortet sein müssen. Es sind dies vier Fragen, die zu diesem Punkt hier gehören. Erstens. Hat die Sowjetunion endgültig und ausschließlich darauf verzichtet, unsere Politik der friedlichen Wiedervereinigung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts künftig nicht mehr als aggressiv zu bezeichnen? Zweitens. Ist etwa das Fehlen jeder Bezugnahme auf die Lösung der deutschen Frage — anders als in früheren Verträgen — die Geschäftsgrundlage dieses Vertragswerkes? 413

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Drittens. Regelt etwa der Vertrag die Beziehungen Bonn-Moskau abschließend und ausschließlich und so, daß dazu eben nun nichts mehr gehört, was mit Deutschland als Ganzem zu tun hat? Viertens. Regelt etwa das Vertragswerk alles so, daß ein späterer Friedensvertrag das lediglich zu bestätigen' haben wird? Oder ist etwa diese Auffassung irgendwann im Laufe der Gespräche, Unterhaltungen oder Verhandlungen in Moskau von einem Mitglied dieser Regierung oder einem ihrer Beauftragten erklärt worden? Die Antwort auf die letzte Frage bedeutet zugleich — damit Sie wissen, um was es hier geht — die Antwort zu Art. 79 des Grundgesetzes." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2. 72) Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, W e h η e r , führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

„Meine Damen und Herren, wir ergänzen mit der Entscheidung, vor der wir stehen und über die in den Ausschüssen vieles gesagt werden wird, die Westverträge durch diesen Vertrag und durch den Warschauer Vertrag, der, richtig gesehen, eine Entwicklung unseres Verhältnisses zu Polen einleiten wird, das, historisch und moralisch betrachtet, dem Verhältnis entsprechen kann, das wir zu unserem westlichen Nachbarn Frankreich gefunden haben. Das ist eine gewisse Verwandtschaft zu der Kategorie der Bedeutung dieses Vertrages. Idi danke an dieser Stelle der Regierung für die Begründung, die sie zu dem Ratifikationsgesetz zum Warschauer Vertrag gegeben hat. Die war, auch was das Geschehene betraf, das früher zwischen diesen beiden Völkern stand, richtig getroffen. Die Bundesrepublik — und das liegt in der Natur unserer Grenzen — wird die Westgrenzen Polens, die Oder-Neiße-Linie, nidit in Frage stellen. Ich hoffe, vielleicht sollte ich auch sagen, idi wünsche, daß man auch einmal über die Frage der deutschen Selbstbestimmung wird sprechen können. Wer aber diese Diskussion mit der offenen Oder-Neiße-Linie belasten oder befrachten möchte oder es tut, schafft die negative Garantie, daß über Selbstbestimmung nie konkret gesprochen werden wird. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Da gibt es noch manches Schmerzliche, auch zu der Frage der Familienzusammenführung und der Gewährung von Ausreisegenehmigungen gibt es noch manches Schmerzliche, nur wissen diejenigen bei Ihnen, die nicht nur Negatives sammeln, sondern die auch versuchen, es zu heilen oder zumindest zu mildern oder den Ursachen zu Leibe zu gehen, daß immerhin im vergangenen Jahr 26 237 Menschen gekommen sind. Das ist die höchste Zahl seit dem Jahre J 959. Dazu kommen noch Ausreisen in die DDR, die nach demselben Verfahren erfolgen, aber nach dort, weil dort Familienangehörige sind. Es darf erwartet werden, daß die Schwierigkeiten, die mancherorts Ausreiseantragstellern bereitet worden sind, auszuräumen sind. Je beharrlicher, aber auch je weniger forsch wir in dieser Frage am Mann bleiben, um so größer sind die Aussichten, daß vielen geholfen werden kann. 414

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Es darf aber audi erwartet werden, daß erweiterte Besuchsreisemöglichkeiten eröffnet werden, so daß manche Härten zumindest gemildert werden können. Die Tatsache ζ. B., daß zu Beginn des Jahres 1972 infolge einer Vereinbarung der drei Staaten Polen, CSSR und DDR Besuchsreisen ohne Paß- und Visumvorsdiriften möglich geworden sind und von mehr als 1 Million Menschen genutzt wurden, ist in Polen sowohl wegen der großen Zahl derer, die davon Gebrauch gemacht haben, als auch deswegen, weil alles reibungslos und, wie sie sagten, ohne Inzident verlief, beachtet worden: Deutsche und Polen, so sagten sie, können also miteinander umgehen, ohne daß es zu Schwierigkeiten kommt. Das alles ist als ein gutes Omen für den sich schließlich auch mit uns, der Bundesrepublik, entwickelnden Reise- und Touristenverkehr gewertet worden." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23.2. 72) Der Abgeordnete D r . Κ i e s i η g e r ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

„Der Herr Außenminister hat heute früh einen merkwürdigen Satz gesprochen. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Nicht nur einen!) Er hat den Satz gesprochen: Entgegengesetzte politische Ziel Vorstellungen werden durch die Verträge nicht berührt/ Herr Außenminister, jetzt drehe ich den Satz um: Aber die Verträge werden durch entgegengesetzte politische Zielvorstellungen berührt, qualifiziert, interpretiert, ausgebildet und in der Welt durchgesetzt. Dies ist doch die Wirklichkeit! (Beifall bei der CDU/CSU.) Deswegen sagen wir: es geht hier nicht nur um Vertragstexte, sondern es geht um das Ja und Nein zu einer ganz bestimmten Politik in einer ganz bestimmten Situation unserer Welt. Diese Vertragstexte schweben ja nicht in der Luft, sondern sie stehen in der Realität der politischen Macht, der politischen Ideologie, des politischen Willens und des politischen Handelns eines übermächtigen Verhandlungs- und Vertragspartners, dem gegenüber alle Behutsamkeit, alle Klugheit, alle Zähigkeit, alle Festigkeit am Platze wären. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir haben nicht umsonst von allem Anfang an die Hektik der Verhandlungen kritisiert. Das gehört zur Methode, zur Solidität. Was in aller Welt hat diese Regierung gezwungen, die Verhandlungen über den Tisch zu jagen, so rasch wie möglich irgendeinen Erfolg oder Scheinerfolg vorzuweisen? Was hätte uns gedrängt, das zu tun und dabei möglicherweise erhebliche Verhandlungschancen zu versäumen? Wenn es, Herr Außenminister, wahr wäre, daß in den Vertragstexten selber keine Ungenauigkeiten, Unsicherheiten und Ansätze zum Dissens vorlägen — sie liegen audi in den Vertragstexten vor —, dann läge der Dissens eben gerade in den politischen Gegensätzen, und der ist doch für uns, der ist doch für Deutschland, der ist doch für Europa entscheidend. (Beifall bei der CDU/CSU.) 415

Herbert G. Marzian

Vizepräsident Frau Fundee: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmid? Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU): Bitte sehr! Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Herr Kollege Kiesinger, würden Sie meiner Unwissenheit abhelfen und mir die Stellen nennen, über die Dissens besteht? Dr. h.c. Kiesinger (CDU/CSU): Darf idi Sie z.B. daran erinnern, Herr Kollege Schmid, daß im Locamo-Vertrag (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Idi spreche von den Verträgen!) — ja, ich spreche über den Wortlaut, den man in völkerrechtlichen Verträgen anzuwenden pflegt — die Unverletzlichkeit der Grenzen (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) zwischen Deutschland und Frankreich und Deutschland und Belgien niedergelegt war, daß mit diesem Wort ,Unverletzlichkeit' ganz einwandfrei die Anerkennung, die Endgültigkeit dieser Grenzen gemeint und gewollt war und daß dies der Grund war, warum sich Stresemann gegen eine entsprechende Regelung nach Osten gewandt hat. Dies ist z.B. ein Ausdruck, Herr Kollege Schmid (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Damit ist die Frage noch nicht beantwortet!) — doch —, der eine Interpretation offenläßt. Und die unterschiedliche Interpretation haben Sie ja wohl gehört. Wie viele Male müssen sowjetrussische Politiker, Jounalisten, führende Männer von drüben uns noch sagen, daß für sie diese Angelegenheit eine causa finita ist, daß die Grenzen endgültig seien? Wenn nur Herr Honecker dies triumphierend in seiner Rede verkündet hätte, nähme ich das noch nicht so ernst; aber maßgebliche Vertreter der Sowjetunion haben es getan. (Beifall bei der CDU/CSU.) Auch der Satz von Herrn Breschnew in seiner Rede in Alma-Ata, daß das Ergebnis dieser Verträge die Bestätigung der Ergebnisse des ,großen vaterländischen Krieges' sei, kann doch gar nicht anders gedeutet werden, als daß er die Dinge für endgültig entschieden hält. Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Ich komme auf die Locamo-Verträge zurück. Erinnern Sie sich nicht, wie ich es tue, daß das Motiv der Briten, sidi nicht an eine Garantie für die polnische Westgrenze zu binden, war, daß man die Verhältnisse im Osten für zu unsicher und für zu konfliktreich hielt und man nicht in einen Konflikt hineingezogen werden wollte? Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Kollege Professor Schmid, ich kann jetzt nicht mit Ihnen in einen historischen Rückblick über jene schwierige Zeit eintreten. Aber ich glaube mit Sicherheit sagen zu können: Stresemann ließ sich nicht darauf ein, weil er die Dinge im Osten nicht endgültig so akzeptieren wollte, wie sie standen. (Beifall bei der CDU/CSU.) 416

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Das zu dieser Frage. Es ist eben das Schlimme: wenn es schon keinen Dissens oder keinen Ansatz zum Dissens, vor dem ja der Außenminister selbst gewarnt hat, in den Vertragstexten gäbe, dann war es doch eine ganz unverzeihliche Sünde dieser Regierung, daß sie nicht von Anfang an mit aller Energie gegen die Fehlinterpretation dieser Verträge nicht nur durch die Sowjetunion, sondern auch durch die westliche Welt angegangen ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir haben uns da keinen Vorwurf zu machen. (Abg. Dorn: Sie selbst haben die Interpretation geliefert!) Vielleicht darf ich den Herrn Bundeskanzler bitten, mir einen Augenblick Aufmerksamkeit zu schenken. Ich habe zweimal in diesem Hause Ihnen, Herr Bundeskanzler, die Frage gestellt, ob die Interpretation Ihrer Politik richtig sei; einmal war es ein bekannter ,Spiegel4-Artikel, ein anderes Mal war es ein Artikel im ,Time Magazine*. In beiden wurde Ihnen unterstellt, daß Sie den Status quo als das Ergebnis des zweiten Weltkrieges endgültig anerkannt hätten, nicht etwa unter Vorbehalten irgendwelcher Art. Ich habe Sie zweimal in diesem Hause gefragt, und zweimal sind Sie mir die Antwort leider schuldig geblieben."

»Wenn ich heute Äußerungen des französischen Staatspräsidenten mit denen seines Vorgängers vergleiche — erlauben Sie mir diese ganz kurze Rückschau —, dann erschrecke ich. In meinen Unterhaltungen mit Präsident de Gaulle war zwar immer klar, daß er mir die alte französische Forderung auf Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze vortrug, obwohl er mir entgegenkam, als ich ihm eines Tages sagte: ,So einfach ist das nun wahrhaftig nicht; so einfach war es auch für Sie nicht, Algerien abzutrennen; das hat Frankreich bis in die Grundfesten erschüttert. Vielleicht waren Sie der einzige Franzose, der das konnte — auf Grund Ihrer großen Verdienste/ Er sagte: Nun gut, lassen wir das dahingestellt, ob ich es allein konnte; aber auch ich hätte es nicht gekonnt, wenn nicht die französische Nation es bei sich selbst schon so beschlossen gehabt hätte, und anders kann es auch bei Ihnen nicht sein. — Dies war zur Oder-NeißeFrage ein erstes Entgegenkommen in einer zähen Aussprache, die ich mit ihm darüber hatte. Was die Wiedervereinigung anlangt, hörte ich aus seinem Munde immer erneut — und ich mußte es ihm glauben durch die Art, wie er es vortrug —, daß wir uns in der Frage der Wiedervereinigung auf niemanden sicherer und fester verlassen könnten als auf Frankreich, da die Wiedervereinigung des deutschen Volkes auch im wohlverstandenen Interesse Frankreichs liege. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wie anders klang die Bemerkung Herrn Pompidous in seiner Pressekonferenz, als er über den ,Marsch zur Anerkennung* sprach und dabei bemerkte, Frankreich habe sich aus Freundschaft zur Bundesrepublik dabei zurückgehalten! Sein Vorgänger hat sich nicht zurückgehalten. Sein Vorgänger hat mir diese Versicherung abgegeben, und sein Vorgänger hat in Rußland den dortigen 27

Königsberg

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Herbert G. Marzian

Machthabern klipp und klar die deutsche Spaltung als etwas Widernatürliches dargestellt. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich sage dies — und ich könnte noch manches andere nennen — einfach aus dem Grunde, weil mit Redit von einigen meiner Freunde gesagt worden ist, daß die Politik der Regierung die Gefahr in sich birgt, daß man draußen nicht deutscher als die Deutschen sein will und sein kann. Eine ganze Welt, eine ganze freie Welt 20 Jahre lang dabei zu halten, uns bei einem so schwierigen Problem wie dem deutschen durch dick und dünn zu unterstützen, das war eine große politische Leistung, meine Damen und Herren.44 (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2. 72) Bundeskanzler B r a n d t am 23. Februar u. a. aus:

führt in der Debatte des Deutschen Bundestages

„Wer sich mit den Verträgen im übrigen ernsthaft befaßt, der sieht, daß sie nur einen wirklichen Verzicht enthalten, und das ist der Verzicht auf Gewalt. Wer hier logisch argumentieren wollte, der müßte hinzufügen, daß der Verzicht des Stärkeren noch schwerer wiegt als der des Schwächeren. Traumverträge gibt es nicht, oder nur in einer eingebildeten Welt. Insgesamt beinhalten diese Verträge

ein ausgewogenes Verhältnis

von Leistung und Gegenleistung.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) An erster Stelle steht hier die Berlin-Regelung. Herr Barzel hat uns heute morgen vorgeworfen — und Herr Kiesinger hat daran angeknüpft und sinngemäß dasselbe gesagt —, die Politik dieser Bundesregierung führe nicht zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Abhängigkeit. (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Ich sage dazu: diese Bundesregierung betreibt eine Politik der Vernunft und des Ausgleichs der Interessen. Der Außenminister hat bereits im Bundesrat dargestellt — es lohnt sich, dies nachzulesen —, auf welche Forderungen die Sowjetunion uns, der Bundesrepublik Deutschland gegenüber, verzichtet hat, um zu dem Vertrag zu kommen. Das Ergebnis der Verhandlungen mit Moskau war in der Tat eine Verständigung über einen beiderseitig akzeptablen Text. Der Vorwurf der Abhängigkeit ist leichtfertig. Begibt sich etwa der Präsident der Vereinigten Staaten in Abhängigkeit, wenn er über die Begrenzung strategischer Rüstungen verhandelt oder wenn er in Peking Verhandlungen führt? (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist ganz etwas anderes!) Hat der Vertrag zwischen Frankreich und der Sowjetunion etwa eine Abhängigkeit Frankreichs begründet? (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Frankreich hat auf nichts verzichtet!) Hier liegt eine Verwechselung mit den Verpflichtungen vor, die selbstverständlich beide Seiten auf Grund vertraglicher Beziehungen übernehmen. Wie gesagt: der Verzicht auf Gewalt und der Verzicht auf Interventionsrechte sind 418

Zeittafel

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Verpflichtungen, welche die Sowjetunion uns gegenüber eingeht und die unsere Abhängigkeit — hier greife ich das Wort ,Abhängigkeit* auf — von den Folgen des zweiten Weltkrieges vermindern und damit unseren politischen Handlungsspielraum vergrößern." „Meine Damen und Herren, 27 Jahre nach Kriegsende ist nun endlich die Zeit gekommen, unsere Beziehungen zur Sowjetunion und zu Osteuropa auf eine neue Grundlage zu stellen. Niemand kann doch sagen, daß das zu früh sei. Auch wenn die Sowjetunion keine Siegermacht des zweiten Weltkrieges wäre, auch wenn sie keine besonderen Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Deutschland als Ganzes hätte, das politische und das wirtschaftliche Interesse der Bundesrepublik Deutschland würden eine Politik der Verständigung gebieten. Unser Mitspracherecht

in den internationalen

Angelegenheiten,

uns, die Westeuropa berühren, kann nur zur Geltung gebracht werden, wenn wir möglichst gute Beziehungen auch zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Staaten unterhalten. Unsere Außenpolitik kann, um den Kollegen Wehner zu zitieren, auf einem Bein stehen, aber nur auf zwei Beinen gehen. (Beifall bei der SPD.) Um so mehr gilt dies unter den veränderten weltpolitischen Bedingungen, mit denen wir es zu tun haben. Der Versuch, den wir jetzt machen, entspricht dem Gebot der politischen Vernunft. Würden wir ihn nicht unternehmen oder würden wir ihn scheitern lassen, so würde nicht nur eine große Chance vertan werden. Wir würden uns vielmehr isolieren. Wir würden unter dieser Isolierung leiden und deshalb ganz zwangsläufig schon sehr bald einen neuen Versuch machen müssen, dann allerdings unter wesentlich erschwerten Bedingungen. Ich kann verstehen, daß mancher in unserem Lande diesen Verträgen, die ich mir auch schöner hätte vorstellen können, mit Skepsis begegnet. Nach der langen Zeit des kalten Krieges und nach den vorhergegangenen schrecklichen Erfahrungen, welche die Völker miteinander haben machen müssen, ist ein großes Maß an negativen Gefühlen übriggeblieben. Wir alle zusammen müssen uns aber davon befreien, wenn wir gemeinsam eine friedliche Zukunft gestalten wollen. Es geht jetzt um unseren Beitrag dazu. Die Sorge um den Frieden und die Bemühungen für den Frieden sind gewiß nicht nur Sache einer Partei oder einer Koalition. Auch ich bezweifle nicht, daß alle Seiten dieses Hauses den Frieden wollen. Aber dann muß man wie auf anderen Gebieten, wo man grundsätzlich gar nicht auseinander ist, um das streiten, was der eine und was der andere für notwendig hält. Und ich sage, man muß auch, wenn man es für notwendig hält, für das einstehen, was viele heute noch für unpopulär halten. Ich glaube, man hilft unserem Volk, indem man auch dafür einsteht. Verständigung ist heute nicht mehr abstrakt, sondern nur konkret zu betreiben. Das wird eine konkrete Entscheidung in diesem Hohen Hause verlangen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, D r . B a r z e l , Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

führt in der

„Herr Bundeskanzler, es ist etwas anderes, ob man Realitäten sieht, ob man sie erkennt, ob man von ihnen ausgeht soweit ist doch alles klar — oder ob 27·

419

die

Herbert G. Marian

man sich bereit findet, sie aufzuschreiben und sie so aufzuschreiben, daß eine Chance der Veränderung nicht mehr besteht. Das ist dodi die Frage, die hier gestellt werden muß, und auf diese Frage sind Sie bisher nicht eingegangen, schon gar nicht befriedigend. Herr Bundeskanzler, ich möchte auf den Vorwurf zurückkommen, den Sie gegen midi persönlich erhoben haben, als Sie meine Bemerkung — wohl am Schluß meiner Rede — kritisierten, daß dieses Vertragswerk nidit zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Abhängigkeit führe. Ich mödite hierfür gern eine Begründung geben und diese Begründung zunächst wie folgt formulieren: Aber wir raten zur Vorsicht gegenüber jenen, die einst in berechtigter Sorge den Stillstand der deutschen Frage bedauerten, aber jetzt zu dem falschen Schluß kommen, man müsse die Spaltung erst zementieren, um sie dann besser überwinden zu können. Das wäre ein gefährlicher Trugschluß. Die Übernahme der von der sowjetischen Politik gepflanzten Formeln von der Anerkennung der Realitäten, womit von der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie über die völkerrechtliche Zementierung des Ulbricht-Regimes als eigenen unabhängigen deutschen Staat bis zum Herausbrechen des freien Berlin aus dem freien Westen die gesamte sowjetische Deutschlandpolitik gemeint ist, würde nicht zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in gesicherter Freiheit führen, sondern zur Festigung einer unter falscher Flagge segelnden Kolonialherrschaft auf deutschem Boden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das, meine Damen und Herren, ist dafür die Begründung, und dies ist ein Wort von Fritz Erler, gesprochen auf dem Karlsruher Parteitag der SPD 1964." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2. 72) Der Vorsitzende der FDP-Fraktion, M i s c h n i c k , des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

führt in der Debatte

„Der Kern des Vertrages mit der UdSSR sind — das ist hier angesprochen worden — die Artikel über den Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der Grenzen. Die CDU/CSU hat mehrfach behauptet, dieser Vertrag — das ist heute noch nicht in die Debatte eingeführt worden, wird aber voraussichtlich noch eingeführt werden — widerspreche insbesondere dem Art. 3 des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten abgeschlossenen Deutschlandvertrags. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist es, daß der deutsch-sowjetische Vertrag keine friedensvertragliche Regelung der deutschen Grenzen vorwegnimmt. Er bestätigt vielmehr die uneingeschränkte Gültigkeit früher abgeschlossener Verträge. Die Attacken, die dagegen geritten werden, sind alles Scheinattacken, denn Sie haben hier tatsächlich keinen Gegner vor sich. Der Vertrag enthält nicht das, was Sie behaupten. Außerdem ist durch den Uberleitungssatz in Art. 2 und durch den Art. 4, nämlich die NichtVerletzung bestehender Verträge, sichergestellt, daß der deutsch-sowjetische Vertrag eben keine friedensvertragliche Regelung vorwegnimmt. Ferner ist sichergestellt, daß die Verantwortung der Vier Mächte 420

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

für ganz Deutschland nicht berührt wird und daß die Festlegung des Art. 3 ein eindeutiger Gewaltverzicht ist. Nun wird die Frage gestellt: Ist denn das Ganze für uns tragbar, wird damit nicht noch in irgendeiner Weise etwas endgültig festgelegt? Hier muß ich Sie daran erinnern, daß die Regierung Adenauer anläßlich des Beitritts der Bundesrepublik

Deutschland zur NATO

am 3. Oktober 1954 in einer offiziellen

Note an die drei Westmächte folgendes festgestellt hat — ich zitiere wörtlich-:

Insbesondere verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland, die Wiedervereinigung Deutschlands oder die Änderung der gegenwärtigen Grenzen der Bundesrepublik niemals mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen und alle zwischen der Bundesrepublik und anderen Staaten gegebenenfalls entstehenden Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen. Das, was damals, 1954, von Adenauer erklärt worden ist, entspricht genau dem Inhalt der Verträge, die wir hier vorgelegt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Denkste!) — Wenn Sie sagen, das sei nicht der Fall, kann ich nur feststellen, daß Sie die Verträge entweder nicht gelesen haben oder wider besseren Wissens bewußt immer wieder falsche Behauptungen aufstellen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Was die Auslegung betrifft, wissen Sie ganz genau, daß der Verdacht, hier sei das Grundgesetz verletzt worden, von einer Reihe Staats- und Völkerrechtlern in aller Deutlichkeit zurückgewiesen worden ist. Ich erinnere nur an das, was Professor Kriele dazu gesagt hat, ohne das hier im einzelnen vorzulesen. Sie sagen immer, Unverletzlichkeit bedeute, daß die Grenzen nicht verändert werden könnten. Genau das ist falsch. Richtig ist vielmehr, daß die Sowjetunion solche Forderungen und eine Reihe anderer zwar früher aufgestellt hat, daß diese früheren Forderungen aber gerade durch diesen Vertrag vom Tisch gewischt sind." „Ich habe diesen Punkt deshalb so breit ausgeführt, weil Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU draußen im Lande im Gegensatz zu dem, was hier gesagt wird, gerade die Frage der Unverletzlichkeit der Grenzen als einen der entscheidenden Punkte herausstellen und die Menschen immer wieder glauben machen wollen, daß mit dieser Bestimmung eine einvernehmliche Änderung der Grenzen, eine Veränderung der Grenzen durch gemeinsames Handeln zweier Staaten, ausgeschlossen sei. Gerade das ist nicht ausgeschlossen. Mit diesen Verträgen ist jede Grenzveränderung, die einvernehmlich geschieht, weiterhin möglich. (Abg. Stücklen: So wie Gromyko mit Polen? — Verehrter Herr Kollege Stücklen, wenn Sie sagen: so wie Gromyko mit Polen, (Abg. Stücklen: Mehrmals schon geändert!) 421

Herbert G. Marzian

kann ich nur sagen: wenn Sie die politische Arbeit einer deutschen Bundesregierung so beurteilen, dann richten Sie sich damit selbst. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine Damen und Herren, es ist auch die Forderung aufgestellt worden, in dem Vertrag müsse die Selbstbestimmung aufgeführt werden. Es wird behauptet, diese Verträge ignorierten die Selbstbestimmung. Das trifft nicht zu. In diesem Vertrag ist durch den Bezug auf die Präambel der Charta der Vereinten Nationen und durch den Brief klargestellt worden, daß das Selbstbestimmungsrecht nicht eingeschränkt wird. Durch keinerlei materiellen Beweis können Sie hier der Behauptung Nahrung geben, daß wir mit diesen Verträgen das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Frage stellen. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Haben die Russen die Bresdinew-Diktrin im Vertrag aufgegeben?) — Verehrter Herr Kollege Kiesinger, Sie sagen, die Russen hätten die Breschnew-Diktrin nicht aufgegeben. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ich habe gefragt!) — Ich habe nicht gesagt, daß sie sie aufgegeben haben. Ich stelle nur fest, daß die Behauptung falsch ist, wir könnten unser Ziel, die deutsche Einheit zu erreichen, vertraglich nicht weiter verfolgen. Es wurde sogar behauptet, wenn wir das täten, wäre das vertragswidrig. Diese Behauptung ist falsch. Sie sagen dann, der Brief, den der Bundesaußenminister heute zitiert hat, habe keine rechtliche Bedeutung, er sei nicht relevant, er sei nicht ausreichend. Ich darf Sie daran erinnern, was Bundeskanzler Adenauer in der 101. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages am 22. September 1955 zur Wirksamkeit des Briefes sagte, den er damals überreichen ließ. Er hat damals im Deutschen Bundestag wörtlich gesagt: Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine deutsche Rechtsverwahrung. Für eine solche ist eine einseitige Erklärung der Bundesregierung ausreichend. Diese Erklärung muß nur der anderen Seite zugegangen sein. Dies ist geschehen, und die deutschen Vorbehalte sind damit völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklärung muß nicht etwa, um völkerrechtlich wirksam zu sein, von der Gegenseite angenommen werden. So hat Adenauer zu dem damaligen Brief im Bundestag Stellung genommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat damals nichts verhökert!) — Sie sagen: Er hat damals nichts verhökert. Jetzt geht es um die Frage: Ist die Wirksamkeit eines solchen Briefes für Sie etwa davon abhängig, ob Sie selbst in der Regierung sitzen oder nicht? Die Auslegung kann doch nur die gleiche sein. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine Damen und Herren, auch bei dem deutsch-polnischen Vertrag geht es nicht darum, Grenzen endgültig anzuerkennen oder, wie es manchmal in den öffentlichen Diskussionen gesagt wird, begangenes Unrecht, auch an den Vertriebenen, etwa zu legitimieren. Es geht doch nicht darum, eine Aufrechnung 422

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

des Unrechts vorzunehmen. Es geht nur darum, mit diesen Verträgen den Versuch zu machen, die Lage in Europa zu verbessern. Die Regierung der Volksrepublik Polen ist sich auch bewußt, daß die Regierung der Bundesrepublik keine rechtsverbindlichen Erklärungen für einen möglichen gesamtdeutschen Souverän abgeben kann. Der damalige stellvertretende polnische Außenminister Winiewicz hat im November 1971 vor der Gesellschaft für auswärtige Politik in Bonn wörtlich gesagt — eine Reihe Kollegen haben daran teilgenommen — : Dieser Vertrag bindet nur die Bundesrepublik Deutschland. Ob wir jemals zu einer friedensvertraglichen Regelung für Gesamtdeutschland kommen, ist zur Zeit eine rein hypothetische Frage. Auf Befragen hat Herr Kollege Schröder dazu gesagt: ,Das hat er sehr geschickt gesagt, und das können wir akzeptieren'. Wenn Sie das akzeptieren, dann muß aber doch auch endlich Schluß sein mit der Behauptung, mit diesem Vertrag würden endgültige Grenzregelungen vorgenommen. Auch dieser Vertrag läßt Deutschen und Polen die Möglichkeit offen, über diese Frage zu verhandeln, wenn sich diese Möglichkeit aus der weiteren Entwicklung ergibt. Nun ist schon davon gesprochen worden, daß die Ausfüllung des deutschpolnischen Vertrages von beiden Seiten bereits versucht worden sei, daß hier die Familienzusammenführung in Gang gesetzt worden ist, über deren Tempo man unterschiedlicher Meinung sein mag. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das glaube ich nicht! Da sind wir doch alle einer Meinung, Herr Mischnick!) — Natürlich sind wir unterschiedlicher Meinung gegenüber Polen. Das ist doch wohl so. — Wir müssen selbstverständlich immer wieder um Verständnis für unser Drängen bitten, allen Ausreisewilligen möglichst schnell die erforderliche Genehmigung zu erteilen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Abgeordnete S t ü c k l e n ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Vertragsentwurf — das ist der Vertragsentwurf, den die CSU erarbeitet hat und der allen Abgeordneten zugegangen ist — bezieht sich ausdrücklich auch auf die Ergebnisse der Verhandlungen, die Bundeskanzler Adenauer 1955 in Moskau geführt hat. Adenauer hatte am 14. September 1955 gegenüber Bulganin erklärt: 1. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sowjetunion stellt keine Anerkennung des derzeitigen beiderseitigen territorialen Besitzstandes dar. Die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten. 2. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnisse zur Vertretung des deutschen Volkes in inter423

Herbert G. Marzian

nationalen Angelegenheiten und in bezug auf die politischen Verhältnisse in denjenigen deutschen Gebieten, die gegenwärtig außerhalb ihrer effektiven Hoheitsgewalt liegen. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das war nodi ein Text!) In unserem Vertragsentwurf haben wir auf diese Erklärung Adenauers gegenüber Bulganin Bezug genommen, und zwar in der Präambel. Herr Außenminister Scheel, der entscheidende Unterschied zwisdien Ihrem Brief, den Sie an den Außenminister Gromyko gerichtet haben und in dem es um das geht, was in dem zweiten Punkt des Adenauer-Briefes angesprochen ist, und dem Brief Adenauers an Bulganin ist folgender: Der Brief ist Ihnen nicht vor die Füße geworfen worden, er ist also angenommen worden und sicherlich irgendwo abgelegt, und dabei hat es sich mit Ihrem Brief! Der Brief Adenauers an Bulganin dagegen ist ausdrücklich von Bulganin bestätigt und beantwortet worden; Bulganin bezieht sich insbesondere auf den Absatz, in dem von dem Recht des deutschen Volkes auf die staatliche Einheit die Rede ist." „Die Sowjetunion sieht in dem Moskauer Vertrag eine endgültige Lösung von Sachfragen. Dafür gibt es Stimmen aus der Sowjetunion und aus dem kommunistischen Machtbereich, aus dem Machtbereich des Warschauer Paktes. Es ist eben nicht interessant genug, daß Herr Mischnik hier eine andere eindeutige Auslegung vertritt. Ich versage es mir, hier Zitate anzuführen, angefangen vom Bundeskanzler und von Kurt Schumacher, der in einer Erklärung zum Ausdruck gebracht hat: ,Die Sozialdemokraten haben als erste erklärt, daß sie niemals die Oder-Neiße-Linie anerkennen/ Ich verzichte auch darauf, in vollem Umfange das Zitat zu bringen, in dem Herr Brandt, Herr Wehner und Herr Ollenhauer anläßlich des Sdilesier-Treffens erklärt haben, Verzicht sei Verrat. Ich möchte auch nicht das Zitat von Ihnen bringen, Herr Kollege Wehner, in dem Sie gesagt haben, wer auf diese Gebiete verzichte, sei ein Strolch. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Ich möchte aber ein Zitat hier vortragen — und das muß ich wörtlich bringen — über die Grenzfrage. So sagte Bundeskanzler Brandt, damals Parteivorsitzender, noch nicht Außenminister: ,Uber die Grenz frage wird sich eine von der SPD gebildete Bundesregierung nicht äußern und auch keinen Verzicht anbieten/ Und das in Pirmasens am 23. Mai 1965. Ich frage mich nur: Wenn die Versicherungen von gestern so schnell vergessen sind bei diesem Bundeskanzler, wie lange gelten dann seine Beteuerungen von heute?" „Im Moskauer Vertrag sind demgegenüber Begriffe enthalten, die wörtlich aus sowjetischen Noten, Reden und Memoranden abgeschrieben sind. Ich erwähne z.B. ,Normalisierung der Lage in Europa*. Dieser Begriff ist wörtlich abgeschrieben aus dem sowjetischen Memorandum an Bonn vom 12. Oktober 1967. (Abg. Wehner: Haben Sie selber gelesen?) Das bedeutet nach Moskauer Urteil die Beseitigung alles dessen, was den Normen des Potsdamer Abkommens in der bekannten sowjetischen Auslegung noch nicht entspricht und was der Breschnew-Doktrin und dem uneingeschränkten russischen Kontrollanspruch zuwiderläuft. 424

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Weiter heißt es im Moskauer Vertrag, daß man ,νοη der in diesem Räume bestehenden wirklichen Lage' ausgehen wolle. Dies ist wörtlich abgeschrieben aus dem sowjetischen Memorandum vom 21. November 1967. In sowjetischer Auslegung deckt dieser Begriff alle sowjetischen Thesen und Forderungen, die auf eine rechtsgültige Stabilisierung des gegenwärtigen russischen Herrschaftsraumes sowie auf die Ausweitung des sowjetischen Einflusses auf West-Berlin und Westdeutschland abzielen. Weiter heißt es im Moskauer Vertrag: ,Wenn niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet.' Dies ist wörtlich abgeschrieben aus der Rede Breschnews in Moskau vom 12. Juni 1970. Im Moskauer Vertrag werden durch diese und andere Formulierungen in Artikel 3 insbesondere auch diejenigen Grenzen als unverletzlich sanktioniert, die 1939 über die Köpfe der betroffenen Völker hinweg im Hitler-Stalin-Pakt festgelegt wurden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich frage: Ist es Aufgabe der Bundesregierung, auch Grenzen von Gebieten für unverletzlich zu erklären, die während oder nach dem Kriege von der Sowjetunion annektiert wurden und in keiner unmittelbaren Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland standen oder stehen? (Beifall und Zurufe von der CDU/CSU.) Ich frage weiter: Kann es Aufgabe der Bundesrepublik sein, den Hitler-StalinPakt von 1939 zumindest moralisch nachträglich noch zu sanktionieren? (Beifall bei der CDU/CSU. — Pfui-Rufe von der SPD.) Während man gleichzeitig von östlicher Seite die Forderung hört, das Münchener Abkommen von Anfang an für ungültig zu erklären, höre ich keine Forderungen, diesen völkerrechtswidrigen Vertrag mit dem Geheimabkommen vom August 1939 zwischen Hitler und Stalin für ungültig zu erklären. Ferner verlangt der Moskauer Vertrag ,die territoriale Integrität' aller Staaten ,in ihren heutigen Grenzen' zu achten. Auch dies ist wörtlich aus dem sowjetischen Memorandum vom Oktober 1967 abgeschrieben. Weiter heißt es: ,... keine Gebietsansprüche' zu erheben. Dies ist wörtlich aus dem Memorandum vom November abgeschrieben. Schließlich betrachten die Unterzeichner des Moskauer Vertrages ,heute und künftig' die Grenzen als unverletzlich'. Dies ist wieder wörtlich aus dem Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei vom 8. Mai 1970 abgeschrieben. Damit ist wohl hinlänglich bewiesen: dieser Vertrag trägt die Handschrift Moskaus". (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Abgeordnete Dr. S c h r ö d e r ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 23. Februar u. a. aus:

„Erlauben Sie mir in der kurzen Zeit, die bleibt, noch einmal die Gesamtthematik zu behandeln. Ich möchte mit dem Punkt beginnen, von dem ich an425

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nehme, daß er für uns alle hier unsere tiefste Sorge bedeutet, nämlich die Teilung unseres Landes. Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hatte die Freundlichkeit, sich am 9. Februar im Bundesrat mit den Sorgen zu beschäftigen, die ich kürzlich zur Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung dargelegt habe. Sie haben, Herr Bundesminister, Bezug genommen auf meine Feststellung, unser schwerstes Bedenken gegen den Moskauer Vertrag sei es, daß durch ihn die Teilung Deutschlands vertieft werde. Sie haben dazu bemerkt — mich hat das etwas erstaunt —, die Teilung Deutschlands hänge doch nicht davon ab, ob die Zentralafrikanische Republik die DDR anerkenne oder nicht. Sie werden doch nicht im Ernst annehmen, daß das von Ihnen erwähnte Beispiel den Kern unserer Sorge trifft. (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Frage, Herr Bundesminister, um die es hier geht und die nicht mit so leichter Hand vom Tisch gewischt werden darf, ist doch die: Wie wird sich die staatliche Aufwertung, die internationale Etablierung der DDR auf die Teilung Deutschlands auswirken? (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Welche Folgen wird es haben, wenn beide Teile Deutschlands Mitglieder der Vereinten Nationen werden? Welche Konsequenzen werden sich ergeben, wenn die DDR weltweit völkerrechtlich anerkannt sein wird? Was wird sein, wenn unsere Partner beim Deutschlandvertrag, wenn Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika in Ost-Berlin Botschaften errichten werden? Welchen politischen Wert werden dann die feingesponnenen rechtlichen Vorbehalte der Bundesregierung noch haben, einer Bundesregierung übrigens, die den Wert anderer, von uns aufrechterhaltener und wesentlich kräftigerer Rechtspositionen ja sehr gering veranschlagt hat? Auf diese Fragen kommt es an. Die Regierung, so fürchte ich, geht bei ihrer Beantwortung einen Weg, der mit Illusionen gepflastert ist. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, die harte und langwierige Auseinandersetzung um die deutsche Ostpolitik und um die Ostverträge ist ein Vorgang, der für ein demokratisches System normal ist. Die Debatte verlangt von uns allen große Klarheit. Sie braucht sachliche und nicht persönliche Härte. Sie muß der anderen Seite den guten Willen zubilligen, und ,andere Seite' heißt natürlich; vice versa. Wir sollten unter der Voraussetzung sprechen, daß auf beiden Seiten Patrioten stehen, die unter den gegebenen Bedingungen das Beste für unser Land und Volk wollen. Niemand sollte in dieser Diskussion verteufelt werden. Diese Kontroverse darf nicht in einen Glaubenskrieg ausarten. Dabei sollte Klarheit darüber bestehen, daß eine besonders große Verantwortung vor allem die Regierung selbst und die sie tragenden parlamentarischen Kräfte haben, eine besonders große Verantwortung einfach deswegen, weil die Regierung und die sie tragenden parlamentarischen Kräfte die größeren Aktionsmöglichkeiten haben. Das sind aber nicht nur größere Aktionsmöglichkeiten, sondern ist auch eine weitaus größere Verantwortung. 426

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Wir haben, meine Damen und Herren, häufiger gesagt — und möditen es wiederholen —, daß der Versuch der Lösung so schwieriger Probleme besser auf eine gemeinsame Grundlage gestellt worden wäre. Es mag sein, daß die Regierung ursprünglich einmal etwas Derartiges geplant hat. Der Herr Bundeskanzler hat in der Aussprache über die Regierungserklärung 1969 gesagt: Diese Regierung wird in allen Lebensfragen der Nation die Meinung der Opposition nicht nur hören, sondern sie audi in ihre Politik einbeziehen. Nun, meine Damen und Herren, was ist aus solchen Ankündigungen geworden?! (Beifall bei der CDU/CSU.) Leider — ich sage: leider — gab es keine ausreichenden Bemühungen der Bundesregierung um Gemeinsamkeit. Offenbar war die Bundesregierung entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. Im Grunde hatte sie diesen eigenen Weg bereits in der Regierungserklärung von 1969 mit der Formulierung von den »zwei Staaten in Deutschland* beschritten. Die entscheidende Veränderung der deutschen Politik in der jüngeren Zeit liegt also bereits vor der oder in der Regierungserklärung selbst. Wir wollen heute hier mit Klarheit und Nachdruck aussprechen, daß die bis 1969 gemeinsam verfolgte Linie der Ost- und Deutschlandpolitik von der Regierung ohne eine Fühlungnahme und ohne Übereinstimmung mit der Opposition verlassen worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, ich weiß, daß das ein harter Vorwurf ist. Wenn der Außenminister gegenüber diesem Vorwurf darauf verweist, er habe doch audi die Opposition eingeladen, Vertreter zu den Abschlußbesprediungen mit nach Moskau und Warschau zu entsenden, so fällt es bei aller Zurückhaltung, so muß idi sagen, schwer, dieses Argument ernst zu nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Als diese Einladung erging, waren alle entscheidenden Festlegungen bereits getroffen. Aber einen Teil der Dekoration oder ein Stück der Statisterie bei den Schlußakten zu bilden war sicherlich nicht das, was unter gemeinsamer Grundlage und gemeinsamem Handeln verstanden werden sollte. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir haben also als erstes festzustellen, daß die Bundesregierung eine neue Ostund Deutschlandpolitik eingeschlagen hat. Sie selbst verfährt dabei in ihrer Argumentation allerdings nicht einheitlich. Je nach Bedarf hebt sie hervor, daß die frühere Politik in eine Sackgasse geführt habe oder — so sagt sie noch gröber — 20 Jahre lang nichts geschehen sei; erst jetzt werde aktive deutsche Politik nach Osten betrieben. Oder aber sie nimmt für sich in Anspruch, ihre Politik stehe in der Kontinuität und sei die Fortsetzung der früher unter unserer Führung verfolgten Linie. Nun, meine Damen und Herren, von Kontinuität kann sicherlich nicht gesprochen werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) 427

Herbert G. Marzian

Die Politik dieser Bundesregierung hat wesentliche Teile und wesentliche Positionen der früheren Politik aufgegeben oder hat sie auf Formalien reduziert. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Es gibt trotzdem eine Übereinstimmung, die im Interesse unseres Landes sowohl nach draußen wie nach drinnen betrachtet nachdrücklich unterstrichen werden muß. Diese Gemeinsamkeit besteht und muß bestehen bleiben trotz aller Fehler, die gemacht worden sein mögen. Es besteht eine Gemeinsamkeit im Ziel der Ost- und Deutschlandpolitik, wenn man darunter dreierlei verstehen will: Das Festhalten am Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen, friedliche Beziehungen, Verständigung, Zusammenarbeit auch mit den Staaten Osteuropas einschließlich der Sowjetunion und schließlich — das ist der dritte Punkt — den Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt. Dies alles sind Elemente einer Politik, die wir über viele Jahre verfolgt haben. Als Außenminister der Jahre 1961 bis 1966 möchte ich hier mit allem Nachdruck feststellen, daß die genannten drei Ziele, von denen ich hoffe, daß wir nach wie vor in ihnen einig sind, in den Jahren unserer Regierungsführung gegolten haben. Ich möchte gleichzeitig sagen, daß sie nach unserer Meinung weiter gelten und gelten müssen und daß wir im deutschen Interesse alles Erdenkliche tun müssen, diese Überzeugung als eine gemeinsame Uberzeugung von Opposition mit Regierung nach drinnen und draußen festzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wenn ich das nachdrücklich unterstreiche, möchte ich ebenso klar Bemerkungen zurückweisen — es sind Bemerkungen, die im Bundesrat gefallen sind — wie ζ. B. die, daß wir in erstarrrten Denkkategorien, in einer Art ,Maginot-Denken' — so hat es der Außenminister formuliert — befangen gewesen seien. Derlei Unterstellungen und Bemerkungen tragen zur Sachlichkeit der Auseinandersetzung nicht bei. (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Bundesregierung mag für sich in Anspruch nehmen, daß ihre heutige Politik richtig sei. Das ist ihr gutes und von uns nicht bestrittenes Recht. Aber wir wehren uns gegen jede Schwarz-Weiß-Malerei, etwa in dem Stile: hier eine neue Ostpolitik, dort alter Immobilismus! (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Diese Schwarz-Weiß-Malerei dient weder den Interessen unseres Landes noch trägt sie zu einem guten Stil der Diskussion bei. (Beifall bei der CDU/CSU.) Aber lassen Sie mich zu einem etwas heiteren Bild übergehen: Der Herr Bundesaußenminister hat im Bundesrat in Antwort auf Ausführungen von Ministerpräsident Filbinger lange über das Verhalten des Weines gesprochen. Mit dem Zeitfaktor, so meinte er, bei diplomatischen Verhandlungen sei es wie mit dem Wein: Audi da sei die Zeit ein wichtiger Faktor. Es gebe Rotweine — die Verantwortung für diese Feststellung trägt er —, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) 428

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die immer besser würden, je älter sie seien, und die immer besser würden, je länger man damit warte, sie zu trinken. Aber der Bundesaußenminister spricht dann von einem Zeitpunkt des Umschlagens der Weine, wenn man zu lange warte, und kommt dann mit diesem Bild wieder zu den diplomatischen Verhandlungen; wenn man nämlich den rechten Zeitpunkt, die Chance zu verhandeln, nicht nutze, sei sie unwiderbringlich dahin. Nach seiner Behauptung hat die Bundesregierung in den Verhandlungen mit der Sowjetunion und mit Polen genau den Zeitpunkt gewählt, (Bundesminister Scheel: So ist es!) der der geeignetste gewesen sei, um ein Ergebnis zu erreichen, das für beide Seiten akzeptabel sei und auch von beiden Seiten getragen werde. (Zuruf des Abg. Mattidk.) — Das war der Zipfel, über den heute schon gesprochen wurde. Der frühere Bundeskanzler meinte, er sei auf Ihrer Seite nicht erwischt worden. Aber vertiefen wir diese Kontroverse nicht. Das ist in der Tat ein wichtiger Gedanke, der dort ausgesprochen worden ist, Herr Bundesminister. Dieser Gedanke leitet zum Kern der Divergenz hin. War dies der richtige Zeitpunkt, so weitgehende Verträge zu schließen? Wir sagen klipp und klar, daß, wenn wir solche Verträge hätten schließen wollen, das schon Jahre vorher möglich gewesen wäre. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir sprechen aus unserer Beurteilung der künftigen weltpolitischen Entwicklung unsere Überzeugung aus, daß auch zu einem späteren Zeitpunkt ein Vertragsabschluß nicht nur dieser Art, sondern besserer Art möglich geworden wäre. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich habe die Einigkeit im Ziel unterstrichen, aber dieser Einigkeit im Ziel entspricht weder eine Einigkeit über den Weg noch über die Gangart auf diesem Weg. Wie war die Gangart, und durch was war sie charakterisiert? Die Antwort lautet: sie war charakterisiert durch unangemessene Eile, durch den Eindruck von Hektik und durch die Erzeugung von Erfolgszwang. Der Weg ist gekennzeichnet durch die beiden Verträge, und ich stelle nun die Frage: wie sind die Verträge zu bewerten? Die Regierung erklärt ihre Motive an verschiedenen Stellen in folgender Weise. Erstens: Es habe eine Bereitschaft der Sowjetunion zum Arrangement mit uns und zu mehr Zusammenarbeit mit dem Westen überhaupt gegeben, aus Gründen teils innenpolitischer Natur, teils außenpolitischer Art. Die Gründe innenpolitischer Natur werden zurückgeführt auf die Entwicklung der sowjetischen Industriegesellschaft und ihr natürliches Bedürfnis, einen höheren Lebensstandard zu erzielen und sich dafür der möglichen Hilfsquellen des Westens zu bedienen. Unter den Gründen außenpolitischer Art wird häufig das Stichwort China genannt. Übrigens nicht so sehr von uns — daran denke ich jetzt weniger — als von Regierungsseite. Die Regierung sagt weiter — das ist der zweite Punkt —, daß die Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag 429

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zu den weltweiten, insbesondere auch von der NATO verfolgten Entspannungsbemühungen leisten müsse. Zu diesen beiden Argumenten möchte ich sagen: Beide sind als Bewertung wahrscheinlich zutreffend. Als Kommentar muß aber folgendes dazu festgestellt und der Regierung entgegengehalten werden. Erstens: Die Bereitschaft der Sowjetunion zu Abmachungen mit uns war vor, sagen wir, fünf oder sechs Jahren sicherlich geringer als jetzt, ihre Sorgen waren nämlich damals geringer. Wenn also eine gewachsene Bereitschaft der Sowjetunion ihrer veränderten Interessenlage entspricht oder entsprach, so konnte auf unserer Seite mit mehr Geduld, mit mehr Festigkeit und mehr Ausdauer verhandelt werden, statt hastig zuzugreifen, obwohl noch sehr wenig auf dem Tisch lag. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, es ist nicht strittig, daß auch die Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag zur Entspannung leisten soll. Daraus ergibt sich aber keineswegs, daß dieser Beitrag so auszusehen hat, wie dies bei den Ostverträgen der Fall ist. (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Es ist also nicht angängig, daß die Bundesregierung versucht, den Eindruck zu erwecken, als habe sie mit dem Abschluß des Moskauer Vertrages eine einmalige, sozusagen nicht wiederkehrende Gelegenheit genutzt, als seien Verträge des Inhalts, wie sie jetzt vorliegen, der einzig mögliche Entspannungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland. Nach Auffassung der Bundesregierung hat die Sowjetunion, hat aber auch Polen uns gegenüber wichtige Konzessionen gemacht. Sie bestehen oder sollen bestehen in dem Verzicht auf eine formelle völkerrechtliche Anerkennung der DDR, sie sollen bestehen im Verzicht auf eine Anerkennung West-Berlins als selbständiger politischer Einheit, sie sollen bestehen — nach Meinung der Regierung ist das eine Konzession — im Verzicht auf Anwendung der sogenannten Interventionsartikel der UN-Charta gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, worüber heute schon ein paarmal gesprochen wurde. Als wichtige Konzession werden angeführt die Anerkennung des Fortbestehens der Viermächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und schließlich der Verzicht auf die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültiger Westgrenze Polens. Nun, meine Damen und Herren, hier muß klar gesagt oder klargemacht werden, daß die Erfüllung fast aller dieser sowjetischen bzw. polnischen Forderungen der Bundesregierung aus rechtlichen Gründen, d. h. nach der grundgesetzlichen Lage, gar nicht möglich war und ist. Die Bundesregierung hat also nicht etwa der Gegenseite durch geschickte Verhandlungsführung etwas nicht gegeben oder nicht gewährt, was sie hätte leisten können; sie wäre in all diesen Fragen, die ich gerade aufgeführt habe, mit Sicherheit auf die Schranken des Grundgesetzes gestoßen. Dem mußte sie zu entgehen versuchen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Als Vorteile, die weiterhin mit den Verträgen verbunden seien, stellt die Bundesregierung dar: Die Grundlage für den weiteren Ausbau der Beziehungen in 430

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politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, die Aussöhnung mit dem Osten, die Entkrampfung der Beziehungen; sie werde im Laufe der Zeit zur Verwirklichung der Grundrechte in ganz Europa, also auch in ganz Deutschland, führen, ζ. B. zur Wiederherstellung der Freizügigkeit; aus einem geregelten Nebeneinander werde es zu einem Miteinander der beiden Teile Deutschlands kommen; es seien keine endgültigen Grenzregelungen erfolgt, da die Bundesrepublik Deutschland nur sich, nicht aber einen zukünftigen gesamtdeutschen Souverän binden könne; für den weiteren, insbesondere politischen Zusammenschluß Europas sei Voraussetzung, daß die Bundesrepublik Deutschland keine Grenzprobleme im Osten mehr habe. Die Widersprüchlichkeit der beiden letztgenannten Argumente liegt doch wohl klar zutage. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das ändert aber nichts daran, daß sie geläufig wiederholt werden. Bei Würdigung dieser Argumentation der Bundesregierung möchte ich auf einige Punkte hinweisen, die ich für besonders wichtig halte. Die sowjetischen Konzessionen oder die Abwehr sowjetischer Forderungen waren kein Erfolg der Verhandlungsführung, sondern ergaben sich zwingend aus der Rechtslage. Ich denke dabei an die unter anderem von der Regierung in die Materialien eingeführte Bemerkung des sowjetischen Außenministers Gromyko: Wir könnten einen Vertrag machen, der das Kreuz über alle Pläne zur Wiedervereinigung Deutschlands setzen würde. Wir haben nicht die Antwort, die daraufhin von deutscher Seite gegeben worden ist. War dies eine zynische Bemerkung, oder welche Art von Bemerkung war es? Sie können sie in der ersten Drucksache, die vor Ihnen liegt, nachlesen. Ich möchte mit allem Nachdruck betonen, daß ein solcher Vertrag — ,Wir könnten einen Vertrag machen' — mit keiner Regierung der Bundesrepublik Deutschland hätte abgeschlossen werden können, solange das Grundgesetz gilt. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, zu den Interventionsartikeln der UN-Charta ist zu sagen, und zwar schon seit langem: Die Sicherheit unseres Landes beruht nicht auf dem guten Willen der Sowjetunion, sondern auf der Kraft des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, (Beifall bei der CDU/CSU) dem wir angehören dank der Politik, die wir seit vielen Jahren, so darf ich doch wohl sagen, gemeinsam hier betrieben haben. (Abg. Strauß: Allein angefangen haben!) — Ja, ich weiß, Herr Strauß, aber gemeinsam — das andere stimmt schon — für viele Jahre. Die Bundesregierung arbeitet ganz überwiegend mit Hoffnungen und Erwartungen auf die Zukunft. Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß ohne diese Elemente Politik sicherlich nicht möglich ist, da der Politik ihrem Wesen nach etwas Spekulatives innewohnt im Gegensatz zu den exakten Naturwis431

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senschaften, bei denen es sidi um berechenbare, meßbare Größen handelt oder handeln soll; lassen wir das offen. Aber Verträge, die einen wirklichen Interessenausgleich bringen sollen, müssen aus ihrem Text heraus klar und eindeutig für beide Seiten in ausgewogener Weise Vorteile bringen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Zu der optimistischen Betrachtungsweise der Bundesregierung in dieser Beziehung gibt es ein bemerkenswertes Zitat, eine Äußerung, die der Herr Bundesminister des Auswärtigen im Bundesrat am 9. Februar gemacht hat. Idi zitiere: Ist die Perspektive eines guten und konstruktiven Verhältnisses audi zur Sowjetunion für die Bundesrepublik nicht audi eine Gegenleistung? Dazu ist zu sagen: Ein gutes und konstruktives Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, wie wir alle es wünschen, sollte nach unserer Auffassung für beide Seiten vorteilhaft sein. Eine Gegenleistung der Sowjetunion kann ich in der Inaussichtstellung solcher für sie wie für uns nützlichen Beziehungen nicht erblicken. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, dieses Beispiel — Sie können das im Protokoll selber nachlesen, und Sie werden darüber nachdenklich werden — ist aber typisch für die Art und Weise, wie die Bundesregierung zugunsten der Verträge argumentiert. Es bleibt also die Feststellung, daß es schwere Bedenken erwecken muß, wenn die Vorteile von Verträgen weniger auf den Vertragstext als auf Hoffnungen und Erwartungen gegründet werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Dies, meine Damen und Herren, ist um so bedenklicher, als offenbar — und dies hat die Bundesregierung durch ihre eher lapidar klingenden als überzeugenden Erklärungen in keiner Weise widerlegen können — zwischen ihrer Interpretation der Verträge und der Interpretation und Anwendung durch ihre Vertragspartner nicht nur Unterschiede, sondern Gegensätze bestehen. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] Sehr wahr!) Wo liegen die Gegensätze nun wirklich? Die Bundesregierung sagt wieder und wieder, die Verträge sollten zu einem Modus vivendi — oder sagen wir besser: zu einem erträglichen Modus vivendi — führen, sie seien eine Beschreibung der bestehenden Realitäten, eine Beschreibung des Status quo. Das Echo im Osten, teilweise auch im Westen und teilweise auch in der Dritten Welt aber lautet: In Wirklichkeit handelt es sich um eine Anerkennung des Status quo und damit audi der Teilung Deutschlands; es sei eine endgültige Fixierung des Status quo, der sogenannten Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Nun, meine Damen und Herren, damit kein MißVerständnis aufkommt: Ich will hier gleich einfügen, daß ich absolut den Standpunkt vertrete, daß wir Deutschen keine Auslegung der Verträge zu unseren Ungunsten vornehmen sollten, (Beifall bei der CDU/CSU) 432

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uns also nicht einer Argumentationslinie der Gegenseite bedienen dürfen. Das ändert aber doch gar nichts daran, daß wir diese Argumentationslinie Tag für Tag vorgesetzt bekommen, ohne daß das auf den energischen Widerstand der Bundesregierung stieße. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, ich verstehe sehr wohl, daß die Bundesregierung in dieser Frage Zurückhaltung übt. Auf der anderen Seite — und davor kann und darf sie die Augen nicht verschließen — muß sie aber erkennen, daß die Gefahr des Auseinanderklaffens der Auffassungen, also des Dissenses, der Nichtübereinstimmung damit in gefährliche Größenordnungen wächst. (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Ich möchte mich hier auf ganz wenige Beispiele beschränken und zunächst eine Stimme aus dem Westen zitieren, nämlich die Schlagzeile einer angesehenen französischen Zeitung, des »Figaro4, schon vom 4. Juni 1970. Dort heißt es kurz und bündig: Der deutsch-sowjetische Vertrag wird die Teilung Deutschlands feierlich festlegen.

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Was den Warschauer Vertrag angeht, so war die Stimme von Gomulka selbst am 3. Dezember 1970 in Hindenburg zu hören: In diesem Vertrag erkennt die Bundesrepublik Deutschland den endgültigen Charakter unserer westlichen Grenze an Oder und Neiße an. Ich verzichte hier darauf, aus der Rede Breschnews vom August 1970 in AlmaAta zu zitieren; sie lautet auf Anerkennung, nicht Beschreibung.

Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Arndt (Hamburg)? Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU): Bitte sehr» Dr. Arndt (Hamburg) (SPD): Herr Kollege Schröder, würden Sie das Haus freundlicherweise deutlich darauf hinweisen, daß beide Zitate, die Sie eben gebracht haben, vor der endgültigen Festlegung der Vertragstexte liegen? Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU): Nur das erste! Ich will mich wegen des Zeitablaufs nicht unnötig lange aufhalten, aber das erste Zitat liegt vor dem Abschluß und ist deswegen im Grunde noch gefährlicher, weil es in diese Richtung gewiesen hat. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Das zweite Zitat läuft parallel zur Unterzeichnung. (Abg. Dr. Marz [Kaiserslautern] : Der Gomulka wußte ja, wovon er redet!) — Natürlich wußte er, wovon er redet, denn die Sache war ihm ja nahe genug. Die Bundesregierung verweist demgegenüber darauf, daß das Wort Anerkennung in den Verträgen nicht vorkommt. Sie kann aber nicht bestreiten, daß 28 Königsberg

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die dort verwendeten Formulierungen von der östlichen Seite als Ersatzvokabeln gewertet werden. (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) Die Vorbehalte der Regierung sind also zwar formal richtig, aber die politische Wirkung der Abmachungen ist, wie ich das gezeigt habe, dem weithin entgegengesetzt. Es besteht hier ganz offensichtlich die Gefahr — jetzt spreche ich einmal nur von der Gefahr —, daß die formalen Vorbehalte der Regierung als verbale Pflichtübung entwertet werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU): Nein, nicht jetzt. Das ist nicht nur eine Gefahr, meine Damen und Herren, sondern es ist — leider, sage ich — schon Wirklichkeit. Unsere Kritik an den Verträgen beruht daher auf der Befürchtung, daß die Teilung Deutschlands vertieft, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen erschwert wird; daß das im Deutschland-Vertrag niedergelegte Engagement unserer drei großen westlichen Verbündeten, zu einer freiheitlichen Lösung der deutschen Frage beizutragen, mit Sicherheit durch diese Verträge nicht gestärkt, sondern vermindert wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) Dafür ist heute hier schon das eine oder andere Mal die Redewendung gebraucht worden, niemand könne erwarten, daß unsere westlichen Verbündeten etwa deutscher sein würden als die Deutschen selbst und — das ist noch wichtiger — daß sie etwa noch Interessen wahrnehmen würden, die von der Bundesregierung selbst kleiner geschrieben werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wie gespenstisch das ist, sehen Sie, wenn Sie sich eine etwas zurückliegende Äußerung der drei Westmächte anhören. Die Deutschland-Erklärung der drei Westmächte vom 26. Juni 1964 war zum Abschluß des Vertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR verfaßt worden. Dort heißt es: Die drei Regierungen erkennen weder das ostdeutsche Regime nodi die Existenz eines Staates in Ostdeutschland an. Was die Bestimmungen über die Grenzen dieses sogenannten Staates betrifft, wiederholen die drei Regierungen, daß es innerhalb Deutschlands und Berlins keine Staatsgrenzen, vielmehr nur eine ,Demarkationslinie4 und die ,Sektorengrenzen4 gibt und daß aufgrund eben der Abkommen, auf welche in dem Vertrag vom 12. Juni Bezug genommen wird, die endgültige Festlegung der Staatsgrenzen Deutschlands einer Friedensregelung für Gesamtdeutschland vorbehalten bleibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU): Ich möchte zu Ende kommen. Wir befürchten, daß die Ostpolitik langfristig den Zusammenhalt des Westens, das empfindliche Machtgleichgewicht in Europa und damit unsere Sicherheit 434

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gefährdet. Wir haben insbesondere die ernste Sorge, daß die Bindungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten eben nicht intensiviert, sondern daß sie gelockert werden und daß damit die Funktionsfähigkeit der NATO beeinträchtigt wird. Wir befürchten, daß es auf die Dauer gesehen zu einer Machtverschiebung in Europa zugunsten der Sowjetunion - kommt. Wir befürchten, daß sie aus dieser veränderten Situation heraus dem ihr äußerst unbequemen westeuropäischen Zusammensdiluß nach Kräften Steine in den Weg legen wird. Von Regierungsseite wird nun gesagt, wir arbeiteten mit Befürchtungen, während wir ihr gleichzeitig vorwürfen, sie stütze sich auf Hoffnungen und Erwartungen. Dann bezögen sich doch beide auf die Zukunft. Meine Damen und Herren, das mag im ersten Augenblick ganz gut klingen; es ist aber durchaus nicht überzeugend. Die Ausgangspositionen von Regierung und Opposition sind sehr verschieden. Die Regierung hat, wenn wir den Moskauer Vertrag als das Hauptinstrument ansehen, einen Vertrag geschlossen, dessen Vorteile sich für beide Seiten, wie ich vorhin sagte, normalerweise aus dem Vertragstext ergeben sollten. Das heißt also, Leistungen und Gegenleistungen sollten erkennbar in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. In Wirklichkeit hat die Regierung sowjetischen Forderungen, die jahrelang erhoben worden sind, entsprochen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Vertretung der deutschen Interessen ist dadurch nicht leichter geworden. Die Vertretung der deutschen Interessen wird in Zukunft sehr viel mehr Festigkeit, sehr viel mehr Mut und Entschlossenheit erfordern, als die Bundesregierung beim Zustandekommen dieses Vertrages bewiesen hat. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Da sich nun aus dem Vertragstext sicher keine Vorteile, nach seiner östlichen Interpretation sogar schwerwiegende Nachteile für die deutschen Interessen ergeben, versucht die Regierung, den Vertragsabschluß mit Verweisungen auf künftig zu erwartende Entwicklungen zu rechtfertigen. Es tut mir leid, meine Damen und Herren, aber in unseren Augen ist das keine solide Außenpolitik. (Anhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, es ist die Pflicht der Opposition, auf die Mängel, auf die Unausgewogenheit der Verträge und auf die Gefahren, die sich daraus ergeben können, hinzuweisen. Bei Würdigung aller Argumente erscheinen die Risiken, die mit der Ostpolitik der Bundesregierung und mit den Verträgen von Moskau und Warschau verbunden sind, bei weitem größer als die Chancen, die sie bieten können. Zum Schluß nur noch ein Wort zu einer Frage, die viel Unruhe verursacht hat und nodi verursacht und auf die wir eine ganz nüchterne Antwort dringend geben müssen. Von Regierungsseite wie auch von östlicher Seite wird immer wieder mehr oder weniger deutlich auf die angeblich schwerwiegenden Folgen hingewiesen, die mit einem Scheitern dieser Verträge für die Bundesrepublik Deutschland verbunden sein würden. Es sind Ausdrücke wie ,Desaster* und 28·

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»totale Isolierung', die uns dann angeblich drohten, verwendet worden. Der Bundesregierung muß deutlidi gesagt werden, daß sie allein es ist, welche die Verantwortung für eine Politik trägt, die sie allein betrieben hat und betreibt. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Die Bundesregierung nimmt die Chance des Erfolgs für sich in Anspruch. Sie muß auch das Risiko des Scheiterns tragen. (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Wir jedenfalls werden uns von Pressionen nicht beeindrucken lassen. (Wiederholter Beifall bei der CDU/CSU.) Ein Scheitern der Verträge ist ein Desaster nur für die Bundesregierung, die sie abgeschlossen hat. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Ich bin der Überzeugung, daß die Interessen Deutschlands ohne diese Verträge besser wahrgenommen werden können. (Lebhafter, langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 171. Sitzung, 23. 2.1972) Der Abgeordnete D r . M a r x ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 24. Februar u. a. aus:

„Noch zur Zeit der Großen Koalition hat die Sowjetunion unsere auf Selbstbestimmung, Freiheit und Wiedervereinigung ausgerichtete friedliche Politik wider besseres Wissen als »aggressiv* bezeichnet. Der Bundeskanzler rühmt sich heute, daß solche Diffamierungen seit seiner Moskauer Unterschrift weggefallen seien. Wir müssen ihn fragen, ob er bedacht hat: Warum wohl? Die kommunistischen Partner haben die Verträge als einen Sieg der konsequenten Politik des sozialistischen Lagers bezeichnet. Sie haben darüber gespottet, daß man, wie sie sagen, ,an den Ufern des Rheins* begonnen habe, »realistisch' zu sein, daß man die ,aggressive' Forderung — die aggressive' Forderung! — nach Selbstbestimmung, Freiheit, Menschenrecht und Wiedervereinigung aufgegeben habe. So versteht man in der Sowjetunion die Verträge, und ich bedaure, daß der Bundeskanzler gestern in seiner Erklärung einen Satz — neben anderen, aber diesen zitiere ich — vorgetragen hat, der diese Interpretation zu stützen scheint. Er sagte nämlich: Unser friedliches Streben nach deutscher Einheit und europäischer Einigung wird durch diese Verträge dem Vorwurf der Friedensstörung entzogen. Mit anderen Worten: man glaubt nicht, daß wir alle von einem Streben nach Frieden und Freiheit erfüllt sind, sondern man nimmt an, daß man Verträge dieser Art braucht, damit die andere Seite gnädig bereit ist, uns zu glauben. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir sagen Ihnen, was Zeitwahl, Ansatz und Durchführung dieser Art von Ostpolitik anlangt, daß sie auf einer verfehlten Ein436

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Schätzung des Gegners beruht, daß sie leichtfertig, daß sie abenteuerlich ist und daher von uns als unverantwortlich angesehen wird. (Abg. Mattick: Anmaßung!) Wir sagen, daß damit die Erfüllung der sowjetischen Wünsche, ihre Hegemonie über Europa zu stärken, erleichtert wird, und wir sehen auch die ersten Auswirkungen, nämlich Angst, Unsicherheit und enorm gesteigerte kommunistische Aktivität im eigenen Land. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Deshalb bekämpfen wir diese Politik. Ich füge hinzu: wir sind auch mißtrauiscb, weil die Bundesregierung draußen und drinnen zu vielen Vorgängen, die diese Politik begleiten, nicht immer die Wahrheit gesagt hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir sind Mißtrauisch, Herr Bundesaußenminister — ich spreche Sie jetzt einmal stellvertretend für die ganze Regierung an —, weil für Sie oft das heute Gesagte schon morgen nicht mehr gilt und weil Sie mit einem ärgerlichen Schulterzucken das abtun, was Sie gestern noch feierlich in Ihren eigenen Festreden verkündet haben." (Beifall bei der CDU/CSU.) „Präsident Looft?

von Hassel: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten

Looft (CDU/CSU): Herr Abgeordneter, idi erlaube mir eine Frage. Hat nicht der FDP-Bundesvorsitzende und jetzige Bundesaußenminister Scheel gestern erklärt, daß auf Grund der Verträge von der Bundesrepublik für die Dauer ihrer Existenz das Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie als polnisches Staatsgebiet anzusehen sei, und hat er nicht gleichzeitig erklärt, daß nur ein gesamtdeutscher Souverän frei sei, erneut über die Ostgrenzen zu sprechen und friedensvertragliche Regelungen darüber zu treffen? Werden nicht durch die Verträge und durch die angeführten Erklärungen des deutschen Außenministers die Sowjetunion und Polen geradezu veranlaßt, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes des gesamtdeutschen Souveräns entgegenzuwirken und beides auf alle Zeiten zu verhindern? Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Kollege Looft, ich glaube, daß das, was Sie in Ihrer Frage ausdrücken, mit Ja beantwortet werden kann. Das hat auch gestern schon hier in der Diskussion eine Rolle gespielt. Es ist auch ganz schlüssig. Wenn idi ζ. Β. sage (Zuruf von der SPD) — idi gebe jetzt Antwort auf eine Frage —, daß diese Regierung und jede andere Bundesregierung hinsichtlich einer Feststellung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze gebunden seien und daß dies erst verändert wird, wenn wir einen gesamtdeutschen Souverän haben, dann möchte ich denjenigen Polen sehen, der daraus für sich noch das Politische vernünftig, gerecht ableitet, er solle dafür sorgen, daß es diesen gesamtdeutschen Souverän gibt." 437

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„Es gibt trotz der hilflosen Gebärde — vielleicht kann ich Ihnen aushelfen, Herr Außenminister — eine Fülle von Widersprüchen, die Sie produziert haben. So sagt ζ. B. der Bundeskanzler, er betreibe eine Politik der Kontinuität. Herr Schröder hat gestern aber im einzelnen gesagt, was dazu auszuführen notwendig war. Aber Sie selbst verwenden doch gern die Formel von der Sackgasse. Was denn nun? Einigen Sie sich doch in der Regierung! Kontinuität oder Sackgasse? Das müssen Sie sagen, wenn Sie über uns urteilen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Einerseits haben Ihre Propagandisten die Formel erfunden — ich sage: die Primitivformel —: 20 Jahre nichts getan! Andererseits urteilen Sie damit eine Politik ab, von der Sie heute sagen, sie sei die Basis Ihrer eigenen Ostpolitik. Einerseits verkünden Sie urbi et orbi, es gebe keinen Dissens, d. h. keinen Widerspruch, keine entgegengesetzte Auslegung in den wichtigsten Vertragsbestimmungen. Andererseits warnen Sie die Opposition, sie solle sich unter keinen Umständen die sowjetische oder polnische Interpretation zu eigen machen, weil das gegen die nationalen Belange verstoße. Also was denn? Gibt es den Dissens oder nicht? (Abg. Stücklen: So ist es!) Einerseits werden diejenigen als übelwollend verleumdet und diffamiert, die nach subtiler Lektüre der amtlichen sowjetischen Zeitungen fürchten, die Grenzfragen seien nicht mehr offen. Andererseits sagen Sie, Herr Außenminister — und zwar dann, Herr Kollege Scheel, wenn Sie so farbig die ,großen Erfolge' Ihrer Westpolitik schildern —, im Westen gehe es nur deshalb voran, weil man keine ungelösten Grenzprobleme mehr habe. Ja, was denn nun? Gibt es jetzt noch offene Grenzen, oder sind das gelöste Grenzprobleme? Auch darauf erwarten wir eine Antwort. Einerseits verwenden Sie das bezeidinende Argument, es sei vor allem der Viermächtevorbehalt, der es uns unmöglich mache, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen. Andererseits erklärt diese Regierung, sie erkenne trotz des Viermächtevorbehalts die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an. Audi hier wieder die Frage: was gilt eigentlich, was sind eigentlich die Prinzipien nach denen Sie diese Politik machen?" „Herr Bundesaußenminister, vor der Bundestagswahl exakt... (Zuruf des Bundesministers Scheel.) Der Bundesaußenminister zuckt mit den Schultern. Ich komme auf das Schulterzucken noch zurück. (Abg. Dr. Apel: Das sind üble Unterstellungen!) Im übrigen kenne ich eigentlich nicht Zwischenrufe von der Regierungsbank, normalerweise erfolgt es aus dem Plenum des Bundestages. (Beifall bei der CDU/CSU.) Aber bitte, Herr Bundesaußenminister, antworten Sie doch! Ich sage: Vor der Bundestagswahl — am 7. Februar 1969 — haben Sie in der Zeitschrift,publik' erklärt — ich zitiere —: 438

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Wir haben mit Polen — das zeigt schon ein Blick auf die Landkarte — gar keine Grenze... (Bundesaußenminister Sdieel: So ist es!) Wir können naturgemäß mit Polen nicht über eine Grenze reden,... Sie haben doch eben gesagt: So ist es! Warum sagen Sie jetzt nicht: So ist es!? (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Bundesministers Scheel.) Ich zitiere weiter: . . . die die DDR — und nicht die Bundesrepublik — mit Polen hat. Sie fügten hinzu: Über die Oder-Neiße-Linie kann nur dann geredet werden, wenn Friedensverhandlungen anstehen... (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) An einer späteren Stelle sagen Sie : Es wäre höchst unlogisch,... Ich gebe zu, Sie haben einmal einen Zwischenruf gemacht, wo Sie sagten, die Politik sei unlogisch! Sie sagten: Es wäre höchst unlogisch, wenn jemand, der den Alleinvertretungsanspruch ablehnt, schon vorher über eine Grenze sprechen würde. (Bundesminister Scheel: Das ist richtig! — Lachen bei der CDU/CSU.) Nach der Wahl haben Sie — sowohl gestern im Bundestag als auch vor einigen Tagen im Bundesrat — erklärt — ich zitiere —: Für die Vertragsparteien reichte jedoch die Übereinstimmung über die im Vertrag niedergelegte Feststellung, daß nämlich die Oder-Neiße-Linie die polnische Westgrenze bildet, aus. Sie haben hinzugefügt, was ich vorhin schon einmal andeutete, daß dies jede künftige Bundesregierung bindet. (Bundesminister Scheel: Ja!) Der Herr Bundeskanzler hat vor der Bundestagswahl, und zwar in seinem Buch »Koexistenz — Zwang zum Wagnis', gesagt — auch hier zitiere ich —: (Zuruf des Bundesministers Scheel.) Es ist unsinnig..., — sagt der Bundeskanzler — ausgerechnet von der Bundesrepublik zu erwarten, daß sie die Oder-NeißeLinie anerkennen soll... (Beifall bei der CDU/CSU. — Bundesminister Scheel: Ja natürlich!) Das würde doch bedeuten, daß sie die Grenze zwischen anderen Staaten anerkennen soll, also etwa wie die Grenze zwischen Österreich und Italien oder die zwischen Norwegen und Schweden... 439

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Nach der Bundestagswahl hat der Bundeskanzler im deutsch-sowjetischen Vertrag — idi sage: als dem übergeordneten, dem bevorrechtigten, dem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag — die Feststellung getroffen, daß die OderNeiße-Linie die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Er hat dann gesagt, daß alle Grenzen in Europa — hier hatte er sich gerade noch dagegen gewehrt, die Grenzen anderer Leute anzuerkennen — heute und künftig unverletzlich, unerschütterlich seien. (Bundesminister Scheel: Ja und? — Abg. Dr. Eppler: Sind Sie anderer Meinung?) Diesen Vertrag legen Sie uns, meine Damen und Herren, heute vor. Sie verlangen von uns eine Zustimmung. Wir aber erinnern Sie an den Satz eines Mannes — ich spreche jetzt zu den Kollegen der SPD —, dessen Bild in Ihrem Fraktionszimmer hängt. Kurt Schumacher hat am 9. Oktober 1951 in Hamburg erklärt — ich zitiere —: Die Anerkennung — es kann sein, daß das einigen nicht paßt; ich merke es, ich höre es; trotzdem zitiere ich ihn — der Oder-Neiße-Linie wird nicht vorgenommen werden. Und Kurt Schumacher fügte hinzu — und ich würde hoffen, daß es seinen Freunden in den Ohren klingt —: Jedes demokratisch gewählte Parlament wird eine solche Zumutung mit erdrückender Mehrheit ablehnen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)e „In unserer Großen Anfrage, meine Damen und Herren, haben wir auf die sehr ernste Situation aufmerksam gemacht, die sich aus dem ganz unterschiedlichen Verständnis

der Verträge

in Moskau und in Bonn ergibt. Die Bundesre-

gierung hat zunächst abgestritten, ftaß e s einen Dissens, einen Widerspruch gebe. In der Antwort auf unsere Große Anfrage sagt sie — ich zitiere —: Über die Auslegung der Verträge... besteht zwischen den Vertragspartnern kein Dissens, der die Bundesregierung veranlassen könnte, in erneute Verhandlungen . . . einzutreten. Was soll dieser Satz? Entweder kein Dissens, dann ist das objektiv falsch; oder es ist — wenn ich nicht Irreführung* sagen will, so deshalb, weil sich die Antwort auf die Große Anfrage im Ton wohltuend von früheren Antworten, die die Regierung gegeben hat, abhebt — eine Zweideutigkeit, Herr Bundesaußenminister. Sie sagen, wenn man den Satz genau liest: Es könnte sein, daß es einen Dissens gibt; aber der ist nicht so, daß wir noch einmal neu verhandeln. — Darum geht es eigentlich und ging es gestern in der Frage von Herrn Schröder, als er das Thema der Zeitwahl und der Verhandlungsmethode ansprach. Sie haben eine Methode gewählt, die der anderen Seite die Möglichkeit bietet, mit Händereiben zu sagen: Türen zu! Mit uns, mit dieser Regierung darüber jetzt nicht mehr. Das ist das eigentlich Schlimme, das ist das eigentlich schwerwiegende Versäumnis, das ist diese schlecht angelegte und durchgeführte Diplomatie. (Beifall bei der CDU/CSU.) 440

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Meine Damen und Herren, es wird an vielen Stellen gesagt: ,kein Dissens'; an anderen wird gesagt, es sei dodi ,alles völlig klar'. Der Bundesaußenminister sagt im Bundesrat — und er tut es in der Form des Ausrufes —: Wo steht denn das? Insoweit erkenne ich durchaus die Verwandtschaft zwischen Herrn Außenminister Scheel und Herrn Achenbach. Er guckt nur auf einen sehr positivistisch und sehr oberflächlich verstandenen Text des Vertrages. Es wird aber dann an anderen Stellen auch eingeräumt, es könne ja auch Mehrdeutigkeit in entscheidenden Begriffen geben, und dann wird gesagt: Na gut, die Kommunisten haben es eben so an sich, daß sie bei vielen Dingen das Gegenteil verstehen. Entscheidend sei, daß die Anwendung der Begriffe auf der eigenen Seite ,gut abgesichert' sei. Diese Beruhigung ist oberflächlich. Herr Bundesaußenminister, sie wird der Tatsache nicht gerecht, daß die sowjetische Seite über jenes Ubermaß an Macht verfügt, das sie, wann immer sie will, wann immer sie es im Kalkül ihrer Politik haben will, (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!) ihrer Interpretation Nachdruck verschafft, das sie in die Lage versetzt, sie durchzusetzen. Es ist für midi mehr als fraglich, ob unsere Bündnispartner ihre Verpflichtungen auch auf Verträge ausdehnen, die sie nicht unterzeichnet und deren gefährliche Mehrdeutigkeit sie nicht zu vertreten haben. — Das ist meine im Ton der Sorge und der Befürchtung vorgetragene Antwort, Herr Bundesaußenminister, auf Ihre Mitteilung, dies alles müsse nur eben ,gut abgesichert' sein. Wir fragen danach, wie die Sowjetunion die Verträge versteht und wie die Sowjetunion sie auslegen will. Wir fragen nicht deshalb — auch dies ist eine Antwort, Herr Kollege Achenbach —, weil wir die Vorstellungen der Sowjetunion übernehmen möchten; dies ganz gewiß nicht. Aber die Fraktion der CDU/CSU empfindet es als ihre erstrangige Pflicht, als ihre politische Pflicht, sich darum zu kümmern, was der Verhandlungs- und Vertragspartner sagt, welches besondere Interesse eigentlich die große Sowjetmacht an diesem Vertrag hat und wie sie ihn in ihre ideologische und imperialistische Politik einordnet." „Dabei ist es — und das ist vorhin auch angeklungen — eine der wichtigsten und vordringlichsten Fragen: Handelt es sich um einen Modus vivendi, also um eine Abmachung auf eine überschaubare Zeit, um eine vorläufige Regelung, oder handelt es sich um etwas Endgültiges? In zahllosen Erklärungen haben die amtlichen Organe der kommunistischen Parteien des Ostblocks festgestellt, jetzt sei der Sdilußstrich gezogen, die Sache sei endgültig. Der Bundeskanzler selbst hat das Bild von dem Blatt gebraucht, das im Buch der Geschichte neu aufgeschlagen worden sei. Und doch haben er und sein Außenminister erklärt, alle wichtigen Fragen seien weiterhin offen, z. B. die Festlegung der Ostgrenze — denn dies sei ja nur eine Beschreibung — oder die Wiedervereinigung. Der Bundeskanzler hat gesagt, er habe in Moskau das Selbstbestimmungsrecht gefordert und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR verweigert; Moskau wisse das alles und habe es akzeptiert. Aber dann frage ich: warum steht von all dem in diesen Verträgen kein einziges Wort? (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)" 441

Herbert G. Marzian

„Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, Sie müssen hier und heute oder morgen (Zuruf von der FDP) — ja, es ist schon nötig —, um aus den tausend gegensätzlichen Deutungen heraus die Problematik zu klären, sagen, was eigentlich mit dem ,Brief zur deutschen Einheit f ist. Dieser Brief, dem die Bundesregierung in ihrer Argumentation eine zentrale oder prinzipielle Bedeutung zumißt, wurde nach der Unterzeichnung in Moskau vom Außenminister an seinen sowjetischen Kollegen, Herrn Gromyko, gerichtet. Es ist ein einseitiger Brief. Die Sowjets weigerten sich, seinen im Vergleich zu dem, was man hier zitiert hat, nämlich den Adenauer-Brief, ohnehin dünnen Inhalt in den Vertrag aufzunehmen." „Meine Damen und Herren, was diesen Brief anlangt, so wünscht die Fraktion der CDU/CSU, Herr Bundesaußenminister, daß Sie auf folgende Fragen klare Antworten geben, weil das für uns alles noch sehr unklar ist: 1. Hat die Sowjetunion in der Sache — ich sage: in der Sache, weil wir den Verbalismus, der hier getrieben wird, langsam satt haben — das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung anerkannt? Wenn ja, wo und durch wen? 2. Wir möchten wissen, ob sie den Brief zur deutschen Einheit und Selbstbestimmung angenommen oder ob sie ihn nur empfangen hat. 3. Wir möchten wissen: Wer hat seinen Empfang bestätigt? Da gibt es verschiedene Versionen. War dies der Chef des Archivs im sowjetischen Auswärtigen Amt oder wer anders? Und warum eigentlich, Herr Bundesaußenminister — Sie haben diesen Brief, wie Sie gestern diesem Hause vorgelesen haben, an den Außenminister der UdSSR addressiert — hat nicht der Adressat des Briefes den Brief beantwortet? (Beifall bei der CDU/CSU.) Der Inhalt dieses Briefes, Selbstbestimmung für alle Deutschen, ist uns wichtig genug, daß der sowjetische Außenminister zumindest bestätigt, er habe ihn zur Kenntnis genommen und ihm nicht widersprochen. (Abg. Stücklen: Warum nicht im Vertrag?) — Diese Frage ist die nächste, Herr Kollege Stücklen. — Wenn es so war, wie Sie gestern und in den Tagen vorher gesagt haben, warum war es so schwer, ihn in den Vertrag aufzunehmen, und wie lautete die Argumentation Ihres sowjetischen Partners, die die Aufnahme in den Vertrag verhinderte? Wir möchten auch gern wissen: Ist dieser Brief — Sie legen ihn uns hier als Teil des Vertragswerkes vor — eigentlich in der Sowjetunion veröffentlicht worden? Herr Bundesaußenminister, war, als die sowjetische Regierung das Vertragswerk vor wenigen Tagen dem Präsidium des Obersten Sowjets zur Ratifikation zugeleitet hat, dieser Brief zur deutschen Einheit mit dabei? Bitte sagen Sie uns ,ja' oder »nein*. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Falls er — ich sage das vorbeugend — nicht dabeigewesen sein sollte, schiebe ich sofort die Frage nach: Warum haben Sie dann nicht dagegen protestiert? (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Strauß: Ist er jetzt bereit, es zu verlangen, wenn es nicht so ist?) 442

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Was in aller Welt will diese Bundesregierung mit einem Brief, den die eine Seite als Vertragswerk versteht, die andere nicht, von dem die Bundesregierung sagt, er sei sehr wichtig, von dem sowjetische Diplomaten einer Reihe von Kollegen in diesem Hause — auch mir — gesagt haben, sie kennten ihn gar nicht; im sowjetischen Außenamt gingen täglich Tausende von Briefen ein, man könne nicht jeden lesen. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Das ist solide Außenpolitik! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) Meine Damen und Herren, wie eigentlich will man — hier paßt das Wort — zu einer solchen Art von Manipulation schweigen? Die Bundesregierung sagt, es gebe keinen Dissens. Ich sage Ihnen: der entscheidende Dissens liegt offenbar schon in der Frage, was eigentlich zum Vertragswerk gehört, was in Moskau und was in Bonn zur Ratifikation vorgelegt werden soll. Sie werden doch zugeben — und ich bitte Sie zuzustimmen, Herr Außenminister —: Dies ist unerträglich für jeden frei gewählten Abgeordneten, der hier seine Pflicht zu erfüllen hat." „Niemand hat deutlicher und, ich sage auch, ergreifender und bewegender die politische und die moralische Szenerie beschrieben als einer der damals so beherzten, kühnen und tapferen Männer an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei. (Zurufe, Pfui-Rufe und beginnende Unruhe bei der SPD.) Auch dieses Zitat werde ich Ihnen nicht ersparen. Es lautet: Immer gibt es die Menschen, die in einer kritischen Stunde anfangen, davon zu reden, man müsse sich mit den Relitäten, mit den Tatsachen, mit den Dingen und mit den Verhältnissen abfinden. (Anhaltende Unruhe bei der SPD.) Dieses Zitat geht weiter: Audi dafür haben wir Deutsche bittere Erfahrungen genug gesammelt. Mit den realen Verhältnissen fanden sich alle diejenigen ab, die 1933 sich dazu entschlossen, ihren Frieden mit Hitler zu machen. Immer wollte man Schlimmeres verhüten. Am Ende lag Deutschland in Trümmern. . . . Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen. Der dies sagte, war Ernst Reuter. (Bravo-Rufe und Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.) Er war früher Kommunist, dann Sozialdemokrat, Regierender Bürgermeister von Berlin; er war ein Demokrat, für den Wahrheit, Frieden und Freiheit über alles gingen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Wenn er tot ist, halten Sie ihn gut!) — Herr Kollege Wehner, auf diesen Zwischenruf... (Abg. Wehner: Ich bin nicht Ihr Kollege!) 443

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— Das mag sein; das ist dann aber auch ein Stück meiner eigenen Entscheidung. (Abg. Wehner: Sehr gut!) Herr Wehner, wir haben Ernst Reuter damals zugestimmt. (Zurufe von der SPD.) Wir stimmen ihm heute zu. (Abg. Wehner: Seitdem er tot ist!) Für die CDU/CSU haben sich die Kategorien des Rechts und der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens nicht verändert. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Erregte Zurufe von der SPD.) Meine Damen und Herren, in allem Ernst: (Zurufe von der SPD: Aufhören!) bei dieser Debatte, die wir hier führen, wo es um die entscheidensten Fragen geht, sage ich noch einmal, daß sich die Kategorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens für uns nicht verändert haben, daß wir an diesen Kategorien diese Verträge messen und daß sie vor diesen Kategorien und unserer politischen Verantwortung nicht bestehen können. (Lang anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD. — Abg. Wehner: Sprotpalast!)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, 24. 2.1972) Der Abgeordnete W i n d e l e n ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 24. Februar u. a. aus:

„Ein Letztes in Erwiderung auf das, was Minister Ehmke hier gefragt hat. Wie alle Ihre Redner hier haben Sie uns nach unserer Alternative gefragt. Nun, meine Damen und Herren, Ihnen liegt, und auf der Tagesordnung verzeichnet, der Antrag der Fraktion der CDU!CSU betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Beratung und Beschlußfassung vor. Das ist unsere Antwort und unsere Alternative zur Lösung dieses Problems. Darin heißt es — und das war die entscheidende Frage von Minister Ehmke —, ein solcher Vertrag solle ausgehend von der Oder-NeißeLinie und vorbehaltlich der friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts einen Modus vivendi schaffen. Darum also geht es uns. Einen Vertrag — und Sie sagen ja, dieser Vertrag sei nur ein Modus vivendi, ohne daß Sie in der Lage sind, diesen Nachweis zu führen —, der diesen Voraussetzungen entspräche, könnten wir unterstützen. Das also ist unsere Alternative." „Lassen Sie mich zum eigentlichen Gegenstand, zu dem ich hier sprechen wollte, übergehen, zum deutsch-polnischen Vertrag. Der Herr Bundeskanzler hat am 7. Dezember 1970 in Warschau einen Vertrag unterschrieben, der in seinem Kern feststellt, daß die Oder-Neiße-Linie die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Meine Damen und Herren, nach Wirksamwerden dieses Vertrages werden Ostpreußen, Hinterpommern, Ostbrandenburg, Oberschle444

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

sien und Schlesien im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung der obersten Gerichte nicht mehr als Inland, sondern als Hoheitsgebiet eines anderen Staates angesehen werden müssen. Der Bundesaußenminister hat gestern erklärt, daß die Oder-Neiße-Gebiete nunmehr als polnisches Staatsgebiet, also als Ausland, zu betrachten sind. Meine Damen und Herren, für eine so weitreichende Entscheidung hatte die Bundesregierung, hatte der Bundeskanzler weder einen Auftrag noch hat er dafür eine überzeugende Mehrheit. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diese Entscheidung über ein Viertel Deutschlands hängt vielleicht von einer einzigen Stimme ab. Die Moskauer Zeitung ,Neue Zeit' spricht davon, daß schon ein schlichter Zufall die Entscheidung gefährden könnte. (Abg. Wüster: Wie bei der Adenauer-Wahl!) — Das vergleiche ich nicht mit der Wahl eines Bundeskanzlers, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir hatten Ihnen zu einem sehr frühen Zeitpunkt vertraulich eine gemeinsame Polen-Politik angeboten. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler glaubten auf eine breite Basis in dieser so schwierigen Frage verzichten zu können. Das war, wie sich heute in aller Deutlichkeit zeigt, eine verhängisvolle Entscheidung, verhängnisvoll nicht für uns, verhängnisvoll vor allem für die künftigen deutsch-polnischen Beziehungen. Sie mögen zwar sagen — das ist in diesem Hause mehr als einmal gesagt worden —: Mehrheit ist Mehrheit! Aber, meine Damen und Herren, hier geht es doch um weit mehr! Hier geht es doch um die Glaubwürdigkeit und um die Tragfähigkeit

unserer Entscheidung

gegenüber

der Geschichte und gegenüber dem polnischen Volk. Herr Bundeskanzler, für diese Politik hatten Sie keinen Auftrag! Im Gegenteil, Ihre Partei hatte noch wenige Tage vor der Bundestagswahl alle Vermutungen über einen beabsichtigten Kurswechsel mit scharfen Worten zurückgewiesen. (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) Noch sechs Tage vor der Wahl wurde im Namen des Parteivorstandes der SPD auf zweifelnde Fragen festgestellt, die Behauptung, daß die SPD die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie fordere, sei eine Diffamierung, (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) eine böswillige Verleumdung; (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) sie müsse auffordern, diese Behauptung zurückzunehmen, da sie wissentlich falsch sei. Heute wissen wir, daß diese Behauptung zutreffend war. Es ist deswegen sicher richtig, wenn man unterstellt, daß die schmale Mehrheit, über die diese Regierung noch verfügt, nur mit der Versicherung erreicht werden konnte, (Abg. Haase [Kassel] : Mit der Täuschung!) daß die damals noch gemeinsame, wenigstens verbal noch gemeinsame Ostpolitik — so hieß es doch — kontinuierlich weiterentwickelt werde. (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Ja! und Hört! Hört!) 445

Herbert G. Marzian

Dieser Vertrag aber, das gilt es hier festzustellen, zerbricht diese Gemeinsamkeit. Wenn Sie das, was Sie jetzt machen, vor der Wahl gesagt hätten, dann sähen, dessen bin ich gewiß, die Mehrheiten in diesem Hause ganz anders aus. (Beifall bei der CDU/CSU.) Warum steht der Bundeskanzler, warum steht die Bundesregierung nicht mehr zu den feierlichen, teilweise geradezu pathetischen Erklärungen zur OderNeiße-Linie früherer Jahre? Es sind einige zitiert worden. Idi könnte seitenlang weiter zitieren; das würde uns hier nicht weiterführen und würde auch nichts ändern. Aber, meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was hat sich denn seit 1969, seit dem Wahltag also, geändert, wenn es sechs Tage vorher noch hieß, es sei eine Verleumdung und Diffamierung, zu behaupten, die Oder-Neiße-Linie solle anerkannt werden? Wir hören dann immer, daß es zu dieser Ostpolitik — das ist ja auch jetzt wieder gesagt worden — keine Alternative gebe, und deswegen, deswegen sei sie richtig. Ich verstehe das nicht. Der Bundeskanzler hat doch selbst als Außenminister der Großen Koalition diese Alternative wenigstens verbal oder, wie Herbert Wehner gestern sagte, unter der Zucht des Kabinetts vertreten. Herr Kollege Wehner, Sie haben diese Broschüre unter eigener Verantwortung herausgegeben, die Dr. Kiesinger gestern zitiert hat, nicht unter Zucht des Kabinetts; Sie hätten sie nicht herauszugeben brauchen. (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Dann lesen S'*e die Geschäftsordnung der Bundesregierung!) — Nein, Herr Kollege Arndt: Jeder Minister führt — das sollten Sie wissen — sein Ressort selbstverantwortlich. Publikationen konnte selbstverständlich der gesamtdeutsche Minister, den es damals noch gab, in eigener Verantwortung herausgeben. Sie zweifeln daran? Dann lesen Sie die Geschäftsordnung der Bundesregierung. Niemand hatte Sie also dazu gezwungen. Es gab damals — wenigstens verbal — noch eine gemeinsame Politik und eine Alternative. Wenn Sie jetzt — seit Herbst 1969 — sagen, es gebe keine Alternative mehr, muß ich doch fragen: Hat uns etwa diese Politik dahin gebracht, daß wir jetzt auf einmal keine Alternative mehr haben? Davon muß man doch ausgehen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Der Herr Bundeskanzler hat es für richtig gehalten, deutsch-polnische Grenzfragen nicht zwischen Deutschen und Polen, sondern zunächst zwischen Deutschen und Russen zu regeln. Meine Damen und Herren, das entspricht einer unheilvollen Tradition, die in Polen unvergessen ist. (Abg. von Thadden: Sehr richtig!) Vor genau 200 Jahren wurde die erste polnische Teilung zwischen Österreich, Preußen und Rußland besiegelt. Exilpolnische Zeitungen wissen zu berichten: in eben jenem Katharinensaal des Kreml, in dem später der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister und vor Ihnen, Herr Bundesaußenminister, Herr Ribbentrop einen Vertrag über polnische Grenzen unterzeichneten. Doch das ist leider nicht der einzige Zusammenhang zwischen den Verträgen von 1939 und dem von 1970. (Abg. Petersen: Gromyko!) 446

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Herr Bundeskanzler, Sie haben — so wenigstens sehen es die Völker des Ostens — in Moskau alle heutigen Grenzen in Europa als unerschütterlich und unveränderlich bestätigt — und damit auch jene polnisch-sowjetische Grenze des Hitler-Stalin-Paktes, die die Polen Wilna und Lemberg kostete. (Abg. Haase [Kassel] : Die russische Aggression nach Polen — Litauen, Estland, Lettland!) —Ja, natürlich, noch einiges mehr. Ich spreche hier über das deutsch-polnische Verhältnis. Sie wissen, was das für jeden national- und geschichtsbewußten Polen auch heute noch bedeutet. Unter solchen Begleitumständen ist die Hoffnung auf einen deutsch-polnischen Ausgleich nicht sehr wahrscheinlich. Der Herr Bundeskanzler hat den Warschauer Vertrag zum Bestandteil des übergeordneten Moskauer Vertrages, des Generalvertrages gemacht. (Abg. Dr. Barzel: Ganz genau!) Die in Moskau paraphierte Absichtserklärung unterstreicht das ganz eindeutig, denn sie spricht von einem einheitlichen Ganzen aller Verträge. (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Aber nicht von der Uberund Unterordnung!) — Ich habe Ihnen eben die Interpretation des Bundesaußenministers gebracht, wie er dieses einheitliche Ganze versteht oder mindestens verstand. Sie wissen, daß selbst kommunistische Politiker darum ringen, die zuletzt in der CSSR blutig bestätigte Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten abzuschwächen. Der Herr Bundeskanzler hat mit der Regelung der deutsch-polnischen Grenzfragen über die Köpfe der Polen hinweg diese Doktrin de facto hingenommen und bestätigt. Wie können wir glauben, das trage zur Aussöhnung bei? Auch hier war der Bundeskanzler gewarnt. Auch hier hat er sich über diese Warnungen hinweggesetzt. (Abg. Matthöfer: Unsinn!) — Das ist kein Unsinn. (Abg. Matthöfer: Natürlich!) Darüber wird, wenn einmal die Dokumente zugänglich sind, auch die Öffentlichkeit mehr erfahren. (Beifall bei der CDU/CSU.) Was die Polen selbst, soweit sie sich frei äußern können, zu dieser Politik sagen, kann man täglich der polnischen Exilpresse entnehmen. So schreibt ζ. B. ,Narodowicz' am 13. August 1970, der Moskauer Vertrag erwecke schmerzliche Erinnerungen an den sowjetisch-deutschen Vertrag direkt vor dem letzten Krieg, oder die angesehene Pariser ,Kulturac im November 1970 — wörtliches Zitat — : Obwohl es natürlich gewesen wäre, daß die Garantien der Unantastbarkeit der Westgrenzen Polens vor allem in Warschau deponiert würden, hat Brandt diese Garantien an Moskau überwiesen. Das Ergebnis dieser Operation: wie früher der Gehorsam gegenüber der UdSSR mit der Gefahr der deutschen Revanchisten motiviert wurde, so wird er jetzt mit der Tatsache begründet, daß die Garantien in der Hand der sowjetischen Regierung liegen. 447

Herbert G. Marzian

Das waren nur zwei Stimmen aus der Fülle ähnlicher Kommentare. Der Herr Bundeskanzler und viele mit ihm, die das harte Los der Emigration geteilt haben, werden die Bedeutung derartiger Meinungsäußerungen besonders zu würdigen wissen. Auch jene waren mit dem Herrn Bundeskanzler damals vor einer Diktatur geflohen. Sie haben auf ihre Weise damals auch als Emigranten gegen die Gewaltherrschaft in ihrem Heimatland gekämpft, genauso wie es Polen heute im freien Westen versuchen. Ich bin überzeugt, in diesem Haus gibt es niemanden, der nicht Verständigung, der nicht Aussöhnung mit dem polnischen Volk will. Aber bisher waren wir uns doch, meine ich, darüber einig, daß wir unseren Frieden mit dem polnischen Volk suchten und nicht mit denen, die es unterdrücken. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir alle wissen um die Opfer von Auschwitz, und wir schämen uns dessen, was dort im Namen von Deutschen geschehen ist. Wir wissen aber auch, was später mit den Uberlebenden von Auschwitz geschah und was heute noch mit ihnen in Polen geschieht. Wir wünschten, daß auch dazu ein Wort gesagt worden wäre. Wir hoffen, daß der Herr Bundeskanzler demnächst bei seinem Besuch in Israel dazu ein Wort sagen wird. Aber noch etwas anderes gehört zur ganzen Wahrheit. Es gab nicht nur die Verbrechen von Auschwitz, es gab nicht nur Verbrechen von Deutschen, sondern es gab auch Verbrechen an Deutschen. Es gab auch Lamsdorf, wo Polen Schreckliches an Deutschen taten, und es gab auch Katyn, wo Stalin Tausende von polnischen Offizieren ermorden ließ. Die Namen Auschwitz, Lamsdorf und Katyn stehen für viele. Sie stehen für eine europäische Tragödie ohnegleichen, die sich nie wiederholen darf. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wer aber Aussöhnung anstrebt, der muß die ganze Wahrheit sagen und die ganze Wahrheit ertragen können. Nun kann es natürlich sein, daß man mir entgegenhält, ich verwechsele Ursache mit Wirkung. Nein, meine Damen und Herren! Kollege Wehner hat gestern völlig zu Recht gesagt: in der Geschichte gibt es keine Stunde Null. Deswegen fängt eben auch die deutsch-polnische Geschichte nicht mit dem Uberfall Hitlers und Stalins auf Polen an. Wenn man schon über Ursachen und Wirkungen sprechen will, dann muß man auch jene Ursachen und Wirkungen mit bedenken, die nach dem ersten Weltkrieg das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen unheilvoll vergifteten. Volksabstimmungen, an die man sich nicht hielt, willkürlich gezogene Grenzen auf Landkarten, die Frieden schaffen sollten, Versuche — auch damals schon —, das Selbstbestimmungsrecht durch Gewalt zu ersetzen, eine nationalistische Minderheitenpolitik, die natürlich nationalistische Gegenreaktionen auslöste, — das alles gehört mit zu dieser Vorgeschichte. Herr Kollege Wehner hat gestern vor unbilligen Vergleichen gewarnt, vor allem vor einem Vergleich mit Versailles. Ich glaube, er hat recht. Man kann hier keine unmittelbaren Vergleiche ziehen. Aber man sollte wenigstens aus Fehlern lernen dürfen. Schließlich war es Theodor Heuss, der schon 1932 448

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

sagte: ,Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen Bewegung ist nicht München, sondern Versailles/ (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Herr Bundesaußenminister, es war Ihr Vorgänger im Amt des Vorsitzenden der FDP, Thomas Dehler, der 1950 bestätigte, daß der Aufstieg Hitlers weitgehend eine Folge des Versailler Vertrages gewesen sei. Insoweit gehört dieses Problem mit in unsere Betrachtung, (Beifall bei der CDU/CSU) eben weil die Geschichte keine Stunde Null kennt. Heute stehen wir vor der Frage, ob wir diesmal ohne Zwang eine ähnliche Lage — das Selbstbestimmungsrecht ignorieren, Striche auf Landkarten machen und Menschen aussiedeln oder vertreiben — hinnehmen wollen. Ich meine, die Erfahrungen der Vergangenheit sollten uns schrecken. Recht muß Recht bleiben. Wer aus Unrecht Recht werden läßt, der schafft böse Beispiele für die Zukunft, (Beifall bei der CDU/CSU) auf die sich dann auch andere berufen können — nein: inzwischen ja schon berufen. Denken Sie an Israel oder an Irland. Wann je in der Geschichte hat das Ziehen von Strichen auf Landkarten und das Wegschaffen von Menschen Frieden, Entspannung und Versöhnung gebracht? Betrachten wir doch alle Brand- und Krisenherde, die die Politiker heute beschäftigen! Sie sind alle die Folge von ungelösten Problemen, von Problemen, die man nur auf die nächste Generation verschoben hat, statt sie in Geduld einer Lösung des Ausgleichs zuzuführen. (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Nachdem wir diese geschichtlichen Erfahrungen haben, ist es uns, glaube ich, nicht mehr erlaubt, die Probleme von heute wieder einmal auf die nächste Generation zu verschieben, weil wir nicht die Kraft und nicht die Geduld haben, (Zurufe von der SPD) eine Lösung des echten Ausgleichs zu schaffen, (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Warum stimmen Sie dann nicht zu?) nicht nur — das geschieht doch mit diesen Verträgen — eine Sanktionierung von Gewalt und Anektion. Ein Frieden, der nicht auf dem Recht, sondern auf dem Unrecht beruht, kann nach unseren geschichtlichen Erfahrungen nicht von Dauer sein, und die bloße Aufrechnung von Schuld hilft uns bestimmt nicht weiter. (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Schuld gibt es auf beiden Seiten, wenn auch das Ausmaß unterschiedlich ist und wir den geringsten Anlaß haben, unseren Teil von Schuld zu verkleinern oder zu bagatellisieren. Aber Aussöhnung kann es doch nur dann geben, wenn alle Beteiligten ihr Maß an Schuld erkennen

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Königsberg

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und wenn alle Beteiligten zu einem Neubeginn bereit sind. Auch dazu hätten wir vom Herrn Bundeskanzler ein offenes Wort erwartet. Vielleicht kommt es noch. Die polnischen Bischöfe, an ihrer Spitze Kardinal Wyszyinski, wagten dies, obschon sie wußten, wie die polnische Regierung reagieren würde. Sie schrieben in ihrer Botschaft an die deutschen Bischöfe im Jahre 1965 wörtlich: Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland eine äußerst bittere Frucht des letzten Massenvernichtungskrieges zusammen mit dem Leid von Millionen von Flüchtlingen und vertriebenen Deutschen. Sie erwähnten dann die Vertreibung auch der Polen aus den polnischen Ostgebieten, und sie schlossen mit dem bewegenden Satz von der gegenseitigen Vergebung: ,... gewähren Vergebung und bitten um Vergebung/ Die scharfe Reaktion der Warschauer Regierung formulierte der damalige Ministerpräsident Cyrankiewicz : eine solche Bitte um Vergebung, so sagt er, sei für das polnische Volk beleidigend und für seine Würde erniedrigend; das polnische Volk habe nicht um Vergebung zu bitten. Noch bedeutungsvoller ist ein anderer Satz in derselben polnischen Bischofsbotschaft. Darin wird uns Deutschen — ganz bestimmt nicht ohne Absicht — mitgeteilt, daß in allen Freiheitskämpfen während der polnischen Unterdrükkungszeit die Devise der Polen war: ,Für eure und unsere Freiheit'. Meine Damen und Herren, es stünde uns wohl an, dieses Wort genau zu bedenken und zu prüfen, was heute damit gemeint ist: ,Für eure und unsere Freiheit.' (Beifall bei der CDU/CSU.) Vizepräsident Sieglerschmidt?

Dr. Schmid: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten

Windelen (CDU/CSU): Bitte! Sieglerschmidt (SPD): Herr Kollege Windelen, stimmen Sie mit den Vorstellungen der polnischen Bischöfe, mit denen Sie sich hier so solidarisiert haben, auch hinsichtlich der polnischen Westgrenze überein? Windelen (CDU/CSU): Herr Kollege Sieglerschmidt, ich habe Ihnen vorhin schon die Antwort auf die Frage nach unserer Alternative gegeben. Die deutschen Vertriebenen haben auf diese Botschaft der polnischen Bischöfe positiv reagiert, und sie waren zu Gesprächen auf dieser Ebene bereit. Das ist audi meine Antwort. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wisdinewski: Das war keine Antwort!) — Herr Kollege Wischnewski, ich muß eine Antwort an die Mehrheit dieses Hauses richten. Wenn einzelne sie nicht verstehen, bin ich bereit, sie einzeln zu informieren. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich meine, daß die Forderung der polnischen Bischöfe, nicht nur für die eigene, sondern auch für die Freiheit der anderen einzutreten, nicht nur eine 450

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Forderung von Christen, sondern auch eine Forderung von Demokraten sein müßte. (Beifall bei der CDU/CSU.) Es ist vor allem eine Mahnung an uns, die wir diese Freiheit noch haben. Die Warschauer Regierung erklärte zur Bischofsbotschaft, es gehe nicht um Vergebung und Versöhnung, sondern es gehe — so wörtlich — um die wiedergewonnenen polnischen Westgebiete. Die Absicht ist klar. Wenn es sich nur um wiedergewonnene polnische Gebiete handelt, dann wäre ein deutscher Verzicht kein Opfer und könnte nicht zum Ausgleich führen. Es wäre dann zusammen mit der Vertreibung nur die Wiedergutmachung eines historischen Unrechts, mehr nicht. Ich will mich hier mit dieser These nicht auseinandersetzen. Sie ist historisch falsch, unhaltbar, auch für ernsthafte polnische Historiker kein Gegenstand der Auseinandersetzung. Ich habe diese Aussagen hier erwähnen müssen, weil an ihnen der unüberbrückbare Gegensatz zwischen der Auffassung der polnischen Regierung und der Auffassung der polnischen Bischöfe ganz deutlich wird. Man wird sagen: Die polnischen Bischöfe haben wohl kaum eine Legitimation. Meine Damen und Herren, jeder Kenner Polens und der polnischen Geschichte weiß, daß die katholische Kirche und die Bischöfe in Polen mit weit größerem Recht für das polnische Volk sprechen können als die derzeitige polnische Regierung. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ministerpräsident Cyrankiewicz, Parteichef Gomulka und Außenminister Jedrychowski wurden trotz des Warschauer Vertrages ihrer Posten enthoben. Wenige Tage nach ihrem größten Triumph brach ein Aufstand polnischer Arbeiter aus, ein Aufstand, von dem der »Spiegel* unter der Uberschrift berichtete: ,Die Volksregierung mordet ihr Volk/ Die wirtschaftlichen Sorgen in Polen waren also weit größer für die Menschen dort als die Befriedigung über die Grenzgarantie des Warschauer Vertrages. Ich meine, auch das sollte uns zu denken geben. Nun, meine Damen und Herren, zur Auslegung des Grenzartikels des Warschauer Vertrages. Der Herr Bundeskanzler hat uns hier und an anderer Stelle wohl mit Blick auf Karlsruhe erklärt, es handle sich bei der Grenzanerkennung um einen Modus vivendi. Aber in aller Welt wird der Eindruck erweckt — das ist hier im Laufe der Debatte oft genug betont worden —, wir meinten in Wirklichkeit doch Anerkennung. Mit Blick auf Polen spricht der Bundeskanzler wieder von Anerkennung. Aber er läßt sich den Rückweg offen, es sei in Wirklichkeit doch ein Modus vivendi gemeint. Genau das ist es, meine Damen und Herren, was wir eine zwiespältige und unglaubwürdige Politik nennen,, die besonders bei den Polen Mißtrauen und Zweifel auslösen muß. (Beifall bei der CDU/CSU.) Der Herr Bundeskanzler hat vor seiner Unterschrift gewußt — und die Polen haben es immer wieder mit Nachdruck betont —, daß in den Augen Warschaus die Teilung Deutschlands damit endgültig besiegelt sei. Dennoch ist unterzeichnet worden und erklärt worden, der Friedensvertragsvorbehalt sei 29*

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selbstverständlich gewahrt und der Vertrag beinhalte keine endgültige Grenzanerkennung. Eine solche Politik kann weder den inneren noch den äußeren Frieden sicherer machen. Die Polen befürchten natürlich, wir meinten es nicht ehrlich. Bei den Vertriebenen umgekehrt wird ein Funken und ein Rest von Hoffnung genährt, von der dodi jeder weiß, daß sie bei Fortsetzung dieser Politik völlig unrealistisch wäre. Warum sagt man nicht offen, was das politische Ziel in Wirklichkeit ist? Nur mit Rücksicht auf Karlsruhe? Warum werden Spekulationen weiter Tür und Tor geöffnet? Jeder kennt doch die vielen ablehnenden Äußerungen des Bundeskanzlers und vieler Kabinettsmitglieder zur Anerkennung der Oder-NeißeLinie noch vor wenigen Jahren. Sie sind doch nodi gar nicht so alt. Manche wissen, daß der Herr Bundeskanzler dennoch gleichzeitig im Ausland ganz anderes sprach und eben jene Anerkennung, die er im Innern so hart ablehnte, im Ausland in Aussicht stellte. Meine Damen und Herren, was damals unvereinbar nebeneinander stand, das kennzeichnet leider auch heute nodi die Interpretation des Warschauer Vertrages. So wird man nicht Verständigung, so kann man nicht Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen schaffen. Eine solche Polenpolitik ist deswegen zwiespältig und fragwürdig. Sie täuscht entweder die Polen oder die Deutschen. Es ist eine Politik, die eher den Keim zu neuen Konflikten legt, statt endlich alte Konflikte zu beseitigen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das, meine Damen und Herren, ist genau keine Politik, die den Frieden sicherer macht. Der Herr Bundeskanzler sagt — und der Herr Außenminister hat es bestätigt —, eine gesamtdeutsche Regierung sei an diesen Vertrag nicht gebunden. Damit steht doch fest: Wenn ein wiedervereinigtes Deutschland mit einer gesamtdeutschen Regierung die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in Frage stellen kann, dann wird selbst ein freies Polen diese Wiedervereinigung zu verhindern suchen. Damit aber würde das deutsch-polnische Verhältnis erneut belastet. Deswegen ist der Warschauer Vertrag weit mehr als ein Grenzvertrag. Er ist zugleich auch ein Vertrag zur Erschwerung der deutschen Wiedervereinigung.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Audi das gilt es in aller Deutlichkeit zu erkennen, wenn man zu diesem Vertrag votieren soll. Der Herr Bundeskanzler sagt immer, er möchte den Frieden sicherer machen. Aber hier muß man doch fragen, meine Damen und Herren: Wer stört denn eigentlich den Frieden? Das sind doch nicht wir, die wir längst auf Gewalt und auf Drohung mit Gewalt verzichtet haben. Das sind doch nicht wir, die wir uns nur auf das in der UNO-Charta verbriefte Recht berufen. Den Frieden gefährdet doch, wer die Weltherrschaft mit allen Mitteln anstrebt und das jeden Monat und jede Woche erneut offen ankündigt. (Beifall bei der CDU/CSU.) 452

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Man braucht doch nur nachzulesen, was Herr Breschnew sagt und was das ,Neue Deutschland' täglich schreibt, meine Damen und Herren. Mit welchem Recht verlangt eigentlich Moskau von uns, daß wir sein gewaltsam gebildetes Imperium nunmehr als unabänderlich garantieren? Das wäre doch nichts anderes als eine späte Rechtfertigung auch der Eroberungspolitik Hitlers, der 1939 gemeinsam mit Stalin Polen überfiel und damit Recht durch Macht ersetzte. (Beifall bei der CDU/CSU.) Der Bundeskanzler hat selber auf diesen unleugbaren Zusammenhang in einem Aufsatz vom 22. Januar 1940 hingewiesen. Er schrieb damals: Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg in Gang zu setzen. (Abg. Haase [Kassel] : Sehr richtig!) Durch diese Politik ist die Sowjetunion ein Bundesgenosse des Nazismus geworden. Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schlaga? Sdolaga (SPD): Herr Windelen, Sie erwähnten jetzt zum wiederholten Mal die Beteiligung der Sowjetunion oder, besser gesagt, Stalins an der Okkupation Polens im Jahre 1939. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir diese Dinge, obwohl sie seinerzeit im Namen des deutschen Volkes geschehen sind, überhaupt nicht zu vertreten haben, auch nicht im Sinne der Identitätstheorie? Und halten Sie es nicht wirklich für ein bißchen armselig und moralisch und politisch unzulässig, die Schandtaten, die seinerzeit begangen worden sind, dadurch relativieren oder verniedlichen zu wollen, daß man ständig auf Komplicen verweist? Windelen (CDU/CSU): Herr Kollege Schlaga, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie diese Frage nicht zu stellen brauchen. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD: Anmaßung!) — Lesen Sie doch das Protokoll nach! Das ist keine Anmaßung! Meine Damen und Herren, es hat doch wirklich keinen Sinn, hier dauernd zu sprechen und sehen zu müssen, daß all die Erklärungen, die man hier abgibt, noch in der gleichen Rede wieder in Frage gestellt werden. Es hat doch keinen Sinn, so zu diskutieren. Das zweite: Setzen Sie sich doch mit Ihrem Bundeskanzler selber auseinander, der diesen Satz, den ich wiederholen möchte, im Jahre 1940 völlig zutreffend geschrieben hat. Es ist Willy Brandt, nicht Heinrich Windelen, der schrieb: Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg in Gang zu setzen. Durch diese Politik ist die Sowjetunion ein Bundesgenosse des Nazismus geworden. Dies und nichts anderes wollte ich hier festgestellt haben, (Beifall bei der CDU/CSU. Abg. Rawe: Wohlgemerkt, Willy Brandt!) 453

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Nun, meine Damen und Herren, sagt man uns immer — und das war ja auch wesentlicher Inhalt der Ausführungen von Minister Ehmke vorhin —, hier gehe es um Realitäten. Nun, Hitler war genauso eine Realität, wie es Stalin war und wie es Breschnew heute ist. Hätten wir uns und, so frage ich Sie, hätte sich die freie Welt denn audi mit Hitler abfinden sollen? Lassen Sie midi in diesem Zusammenhang zitieren, was der Erlanger Ordinarius und Schweizer Staatsbürger Professor Ernst Heuss schon 1965 im Zusammenhang mit der evangelischen Denkschrift zum Thema Realitäten' sagte: Damit nämlich etwas zur vollen Realität werden kann, muß es vor allem von den Mitmenschen akzeptiert werden. Wird es das nicht, dann hat das Geschaffene keine Chance, eigentliche Realität zu werden, sondern stellt bestenfalls eine Episode dar. Was also erst Realität ausmacht, ist das Akzeptieren und Anerkennen. . . . Nur so besteht z. B. die Hoffnung, daß das Grauenhafte, das mit dem Wort Auschwitz verbunden ist, gleichsam eingemauert wird, nachdem die Menschheit deutlich genug gezeigt hat, daß sie so etwas nicht akzeptiert. Er fährt dann fort: »Grenzveränderungen hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben und wird es auch in Zukunft geben. Bis 1939 aber waren solche Grenzverlegungen nicht mit entsprechenden Transplantationen der Bevölkerung verbunden/ Hier liegt der eigentliche Bruch mit dem christlich-abendländischen Denken, also nicht in der Oder-Neiße-Linie, sondern darin, daß man die Menschen wie Kühe von einer Weide auf die andere treibt. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diese Realität ist es, mit der sich Menschen nicht abfinden können und nicht abfinden dürfen. Unter dem Vorzeichen des Kommunismus, meine Damen und Herren, können wir den Warschauer Vertrag nicht als Beitrag zum Frieden ansehen. Er dient lediglich dazu, den gewaltsamen Vormarsch des Kommunismus bis an die Elbe nachträglich zu sanktionieren und festzuschreiben. Weshalb nach Auffassung von Honecker der Frieden durch die Ostverträge sicherer wird, das sagte der SED-Chef am 6. Januar dieses Jahres. Er sagte: ,Der Frieden ist also sicherer geworden, weil der Sozialismus an Stärke gewonnen hat. Mit einem Wort, das internationale Kräfteverhältnis hat sich weiter zu unseren Gunsten verändert/ Meine Damen und Herren, wir befürchten, genauso wird es sein. Der Kommunismus wird mit den Ostverträgen noch eine Handhabe bekommen, daß diese Art von Frieden künftig für ihn noch sicherer werden könnte. Das aber liegt weder im Interesse der Polen noch im Interesse der Deutschen. — Ich möchte eigentlich jetzt zum Ende kommen, auch im Interesse der Zeitökonomie. Der Bundeskanzler hat sich in der Emigration bitter beklagt, daß die schwächliche Politik der Westmächte eine der entscheidenden Ursachen dafür ist, daß es heute in Deutschland keine aktive politische Opposition gibt. Das ist sicher völlig richtig. Aber muß er diesen Satz nicht heute auch gegen seine Politik gelten lassen? (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Politik des Nachgebens kann doch nur einer Festigung der Einparteienherrschaft jenseits des Eisernen Vorhangs dienen, und sie muß doch jedefrei454

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heitliche Regung, jede Opposition jenseits des Eisernen Vorhangs zutiefst entmutigen. Können wir das wollen, meine Damen und Herren? Ich war, Herr Kollege Mattick, sehr bestürzt über Ihren Beitrag und das Zitat, das Sie kürzlich schon einmal in einem gemeinsamen Podiumsgespräch gebracht haben, das Zitat von Winston Churchill aus dem Kriegsjahr 1944, ein Zitat des Kriegspremiers Churchill zur Stützung Ihrer These, hier in diesem Saal und zu dieser Politik. Idi möchte es wenigstens durch ein Zitat des gleichen Churchill ergänzen dürfen, aus einer Zeit, als es darum ging, zum Frieden zu kommen und nicht mehr Krieg zu führen. Er erklärte am 16. August im britischen Unterhaus folgendes wörtlich: Idi muß meine Meinung zu Protokoll bringen, daß die provisorisdie Westgrenze, die Polen zugebilligt worden ist und die ein Viertel des pflügbaren Landes von Deutschland in sich schließt, keine gute Vorbedeutung für die Zukunft Europas hat. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Hier ist, glaube ich, ein Fehler gemacht worden, wobei die provisorische polnische Regierung weit über das hinausging, was Notwendigkeit und Gleichwertigkeit erfordern. Meine Damen und Herren, ich weiß wirklich nicht, ob es für einen deutschen verantwortlichen Politiker vertretbar ist, zur Stützung seiner Politik auf extrem negative Äußerungen ausländischer Staatsmänner zurückzugreifen, die während des Krieges gemacht wurden, und die positiveren Äußerungen im Zusammenhang mit der Friedensregelung hier zu unterschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wenn es um den Frieden geht, dann bekenne ich mich zu dem Kommentar der hier sdion einmal zitierten exilpolnischen Zeitung ,Narodowiec' vom 17. Dezember 1970. Die Zeitung schrieb zum Aufstand in Polen kurz nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages wörtlich folgendes. (Abg. Corterier: Sie bringen hier bloß immer Zitate!) — Sagen Sie das doch bitte Ihren Freunden, die hier lange Passagen mit Zitaten bestritten haben! Und das zweite: Ich glaube, in diesem Hause sollte jeder frei sein, das zu sagen, was er für richtig hält, und nicht das, was Sie für richtig halten. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diese Zeitung schrieb: Gut an dieser großen Tragödie — des Aufstandes in Polen — ist, daß sie Polen, . . . Europa und die Welt daran erinnert, daß ein solcher Friede dem europäischen Kontinent keine Sicherheit bringen würde. Es muß all denen unangenehm auffallen, die im Westen bereit sind, die Unfreiheit halb Europas zu billigen, um auf der anderen Seite Ruhe und Sicherheit zu haben. Es zeigt sich, daß die Sicherheit ganz Europas sehr eng damit verbunden ist, ob ganz Europa frei ist oder nidit, . . . weil sie nicht vom Schicksal und den Verkehrsmöglichkeiten einer Million Einwohner von halb Berlin abhängt, son455

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dem von der Freiheit von 100 Millionen Europäern aus dem östlichen Teil dieses Kontinents. Das, meine Damen und Herren, ist audi unsere Meinung. Deswegen lehnen wir Verträge ab, die weder Frieden nodi Aussöhnung bringen, die Unrecht und Gewaltherrschaft sanktionieren und den Menschen drüben nichts, aber audi gar nichts bringen. Vizepräsident Dr. Schmid : Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner? Windelen (CDU/CSU): Bitte schön! Wehner (SPD): Würden Sie, verehrter Herr Kollege Windelen, mir sagen, ob Sie die Auffassung, die ich im folgenden zitiere, auch als die Ihre ansehen? Sie beginnt mit der Feststellung: Ich möchte einige Friedensaufgaben nennen, die mir innerhalb der katholischen Kirche der Bundesrepublik besonders dringlich zu sein scheinen: 1. An die erste Stelle gehört zweifellos, und zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständigung und Versöhnung mit Polen. Wie immer man zu dem Vertrag stehen mag, über den gegenwärtig verhandelt wird, — diese Aufgabe ist und bleibt gestellt. Ich freue mich in diesem Zusammenhang, daß aus dem Kreis der polnischen katholischen ZNAK-Gruppe eine Einladung an das Präsidium von Pax Christi zu einem Besuch in Polen ergangen ist, und möchte an dieser Stelle herzlich dafür danken. (Zurufe von der CDU/CSU.) — Da Sie sich so freuen: Das sind Worte von Kardinal Döpfner — wörtlich zitiert. Ich wollte, weil sich Herr Windelen jetzt — wozu idi ihm das Recht nicht bestreite — auf ein polnisches Emigrantionsblatt berief, nur fragen, wie er sich zu dieser Auffassung von Julius Kardinal Döpfner stellt. Windelen (CDU/CSU): Ich glaube, daß es auf dieser Grundlage keine Schwierigkeiten und keine Probleme gibt, zu einer Verständigung zu kommen. Herr Kollege Wehner, wenn Sie sich ebenfalls — und davon muß ich doch ausgehen, wenn Sie das hier zitieren — mit dieser Auffassung identifizieren, dann jedenfalls sollten wir uns in der Polenfrage auf eine gemeinsame Linie einigen können. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] Sie sind doch dazu eingeladen!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat am 4. Dezember 1970 einstimmig einen Entschließungsantrag eingebracht, der unsere Alternative zum Warschauer Vertrag deutlich macht. Er geht von den Grundpositionen aus, die bis vor wenigen Jahren noch von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam vertreten wurden. Die Diskussion und Abstimmung darüber werden zeigen, wieviel von dieser Gemeinsamkeit noch verblieben ist. Wir sind überzeugt, daß eine Politik auf der Grundlage dieser Entschließung dem inneren und äußeren Frieden dienen würde. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, 24. 2.1972) 456

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Bundesminister G e n s c h e r

führt in der Debatte des Deutschen Bundes-

tages am 24. Februar u. a. aus:

„Herr Kollege Windelen, Sie haben gesagt, daß diese Verträge das Unrecht und die Gewaltherrschaft sanktionieren, was doch wohl heißen soll, daß sie die Gewaltherrschaft in Polen sanktionieren, weil dort eine kommunistische Regierung die Verantwortung trägt. Wenn das so ist, dann müssen Sie fairer weise sagen, daß Sie auf Ostpolitik mit allen kommunistischen Staaten so lange verzichten wollen, wie dort kommunistische Regierungen sind. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Konrad: Und auf Fernostpolitik!) Ich finde auch, daß es ein unzulässiger Vergleich war, ein Verhältnis zwischen den Verhandlungen des Außenministers des ,Dritten Reiches' Ribbentrop und den Verhandlungen herzustellen, die der Außenminister des demokratischen Nachkriegsstaates Bundesrepublik Deutschland geführt hat. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Jene Verhandlungen, meine Damen und Herren, waren ein Meilenstein auf dem Weg, der dazu führte, daß Millionen deutscher Menschen am Ende dieses Krieges ihre Heimat verloren haben, (Beifall bei den Regierungsparteien) und die Verhandlungen, die der heutige Außenminister geführt hat, sollen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich so etwas in Europa nicht mehr wieder holt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir scheint, daß in dieser Debatte, die ja auch die Lage der Nation behandeln soll, zuwenig für die Menschen gesagt worden ist, die eigentlich diesen Krieg zweimal verloren haben, nämlich für jene, die für diesen Krieg mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen mußten, für jene, die etwas bewirkt haben, was viel mehr als das andere, worauf wir auch stolz sind, die Bezeichnung ,deutsches Wunder* verdient, das deutsche Wunder nämlich, das darin bestand, daß in einem Land, zerbombt, ausgehungert und mit Millionen von Flüchtlingen überflutet, nicht ein neuer Nationalismus entstand, sondern daß die Vertriebenen und die Flüchtlinge mit an die Arbeit gegangen sind und dieses demokratische Deutschland aufgebaut haben. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich sage das hier, weil manchmal mit einer gewissen Leichtigkeit auch über das hinweggegangen wird, was diese Menschen bewegt und was sie bewegen wird, gerade angesichts einer Debatte über das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen. Nur finde ich, daß diese staatspolitische Leistung und Haltung, die die Vertriebenen gezeigt haben, ihnen auch das moralische Recht gibt, von jeder Fraktion des Deutschen Bundestages zu erfahren, ob sie jetzt oder in Zukunft eine reale Chance dafür sieht, daß diese Gebiete jemals zu Deutschland zurückkommen. Ich glaube, daß das ein Gebot der Ehrlichkeit ist, und ich will diese Frage 457

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für mich an dieser Stelle beantworten. Meine Damen und Herren, sowenig es in den Jahren seit 1945 vergangenen Regierungen, solchen, an denen wir beteiligt waren, und solchen, zu denen wir in Opposition standen, möglich war, diese Gebiete zu Deutschland zurückzubringen, so wenig wird es auch künftigen Regierungen möglich sein. Das gehört bei einer Diskussion über die Lage der Nation mit dazu, wenn man sagt: Wir wollen die ganze Wahrheit sagen, und wir wollen auch die ganze Wahrheit ertragen können. So gesehen ist nichts verschenkt, und so gesehen ist auch nichts vergeben worden. Zur ganzen Wahrheit, meine Damen und Herren, gehört auch etwas anderes. Herr Kollege Windelen hat davon gesprochen, daß wir den Frieden mit dem polnischen Volk suchen. Ich denke, das können wir alle für uns in Anspruch nehmen. Ich denke, ich kann hier auch feststellen, daß es uns allen lieber wäre, wenn wir diese Verhandlungen mit einer demokratischen Regierung in Polen hätten führen können. Aber in einem Punkte, meine Damen und Herren, wollen wir auch jede Illusion fallenlassen: Im polnischen Volk wie in anderen Völkern, die unter kommunistischer Regierung leben müssen, gibt es Menschen, die sich zu dieser Regierung bekennen, und — wie wir meinen — viel mehr Menschen, die in Opposition zu dieser kommunistischen Regierung stehen. Aber in einer Frage sind sich alle Polen einig: sie sind sich darin einig, daß sie nicht bereit sind, diese Gebiete wieder aufzugeben. (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD und der FDP. — Abg. Wehner: Sehr wahr!) Das wissen wir aus den Erklärungen nicht nur der Exilpolitiker, die ja auch zitiert worden sind; wir wissen es nicht nur z.B. von den Verantwortlichen der katholischen Kirche in Polen; wir wissen es auch aus den Erklärungen nichtkommunistischer Politiker, die sich unmittelbar nach Kriegsende oder auch in den letzten Kriegsjahren dazu in Freiheit haben äußern können. Ich glaube also, daß es nicht die ganze Realität, nicht die ganze Not der Nation, die sich in diesem Verlust der Heimat für Millionen unserer Mitbürger widerspiegelt, erschöpft, wenn man nur sagt: es gibt draußen unter unseren Verbündeten nicht einen einzigen, der diese Ansprüche unterstützen würde; nein, es gehört auch dazu, zu sagen, daß es — doch ganz unabhängig davon, wie Polen regiert wird und regiert sein wird — darüber keine Meinungsverschiedenheit gibt. Vizepräsident

Dr. Schmid : Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Genscher, Bundesminister des Innern: Bitte schön! Petersen (CDU/CSU): Herr Minister Genscher, würden Sie mir vielleicht helfen: Wie würden Sie eine Frage beantworten, die von Menschen, die heute in Polen leben, wiederholt an mich gestellt wurde, die Frage, was eigentlich Oder und Neiße zu suchen hätten in einem Vertrag, der von der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion in Moskau abgeschlossen worden ist? Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Abgeordneter, ich will Ihnen dazu auch ein Wort sagen, weil dies ja auch in der Kritik des Kollegen Windelen angeklungen ist. Ich wundere mich eigentlich, daß diese Frage und auch die 458

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Kritik aus Ihren Reihen kommt. Denn ich habe über viele Jahre, in denen meine Partei dafür eingetreten war, man solle ζ. B. Verhandlungen mit OstBerlin suchen, man solle versuchen, Kontakte mit Warschau aufzunehmen, gerade aus Ihrem Lager immer gehört, das sei alles ganz unsinnig; nicht mit Schmidtchen müsse man reden, sondern mit Schmidt, und das sei Moskau. (Zustimmung bei Abgeordneten der Regierungsparteien.) Aber ich will mir diese Argumentation nicht zu eigen machen. Nur wundert es mich, daß die Frage von Ihnen so gestellt wird. Dem Vertrag mit der Sowjetunion lag der politische Wille zugrunde, daß wir einen Beitrag zum Frieden in Europa leisten wollen, indem wir die Grenzen in Europa nicht in Frage stellen, indem wir auf diese Weise einen Punkt, der doch in der Vergangenheit durch Aufrechnung und Gegenaufrechnung immer wieder Ursache von Konflikten gewesen ist, aus dem Wege räumen. Und es wäre eine Illusion gewesen, über Grenzen in Europa und über ihr Nichtinfragestellen mit der Sowjetunion eine Vereinbarung abschließen zu wollen und dabei jene uns Deutsche doch bis ins Innerste berührende Frage aus einem solchen Abkommen auszuklammern. Das allein ist der Grund dafür. (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Aber ganz logisch war das nicht!) Nun hat der Kollege Windelen an die Adresse des Bundeskanzlers die Kritik gerichtet oder die Frage gestellt, wann er denn etwas sagen wolle zu den Fragen des Rechts, zu dem Unrecht, das in diesem Bereich geschehen sei. Herr Kollege Windelen, ich will für alle, die es vergessen haben, hier etwas wiederholen, was der Bundeskanzler vor einiger Zeit gesagt hat: Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, was ich Ihnen zu Hause — das war an die Bürger in unserem Lande gerichtet — auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte. Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht anerkennen oder rechtfertigen. Er bedeutet nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legitimieren. Meine Damen und Herren, das hat er nicht irgendwo gesagt, audi nicht in einer Wahlversammlung, sondern er hat es in einer Fernsehansprache aus Warschau am 7. Dezember 1970 gesagt. Ich kann mir keinen Ort in Europa denken, wo er deutlicher, glaubwürdiger und eindrucksvoller das hätte sagen können, was wir zur Rechtsfrage zu sagen haben. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Nein, meine Damen und Herren, hier wird nicht das Recht verleugnet, und hier ist auch das nicht angebracht, was Herr Kollege Marx heute morgen in einer sehr indirekten Form, die der Klarstellung bedarf — vielleicht war sie auch sehr direkt —, zum Ausdruck gebracht hat. Er hatte Ernst Reuter zitiert. Ich wiederhole das Zitat: Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu kämpfen. Dann hat er ein Stück weiter gesagt, für die CDU/CSU hätten sich die Kategorien des Rechts und der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens nicht verän459

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dert. Meine Damen und Herren, hätte es dem Kollegen Marx nicht gut angestanden, das als eine gemeinsame Haltung aller Fraktionen des Bundestages zu sagen, oder sollte das heißen, daß es hier welche gibt, für die das nicht mehr gilt? Wir möchten für die Bundesregierung und für die sie tragenden Fraktionen in Anspruch nehmen, daß die Kategorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens, gegründet auf das Grundgesetz dieses freiheitlichen Staates, unverändert gelten und daß das auch die Grundlage dieser Politik ist, die heute hier zur Diskussion steht. (Beifall bei den Regierungspartien.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, 24. 2.1972) Der Abgeordnete Dr. S t r a u ß ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 24. Februar u. a. aus:

„Nach dem, was von deutscher Seite geschehen ist zur Vernichtung des Selbstbestimmungsrechts, in Zwischeneuropa, in dem Raum zwischen der damaligen Sowjetunion und dem damaligen Deutschen Reiche, und nach dem, was geschehen ist zur Unterdrückung der menschlichen Freiheit in diesem Bereiche, muß jede deutsche Politik ihre Rechtfertigung legitimieren durch ihren Beitrag zur Wiederherstellung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und der Freiheit der Menschen in diesem Bereiche, (Beifall bei der CDU/CSU) auch wenn diese Politik unbequem und in den Augen der Bundesgenossen nicht immer und nicht unbedingt gefällig ist, auch wenn sie von Seiten der kommunistischen Diktatoren als ,aggressiv' verschrieen wird, und daran scheiden sich eben die Geister. Deshalb stellen wir die Frage: Dienen diese Verträge der Versöhnung, dem Selbstbestimmungsrecht, der Freiheit? Ich sage das hier nicht als rhetorische Floskel, etwa nur um nein zu sagen, weil die Regierung ja sagt, oder umgekehrt. Ich sage aus meiner tiefsten inneren Uberzeugung heraus — und darüber sollte man nicht lachen, Herr Kollege —, daß diese Verträge weder der Versöhnung noch dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen noch der Freiheit des Individuums dienen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wer sich auf die Verbrechen der Machthaber des Dritten Reiches auch an Deutschland und an anderen beruft, kann Verträge mit kommunistischen Regierungen nicht automatisch als Akte der Versöhnung mit den von ihnen beherrschten Völkern in Anspruch nehmen." „Ich gehöre nicht ins Land »Utopia* und huldige nicht etwa der Vorstellung, daß im Falle einer Friedenskonferenz, an der ein deutscher Staat, vertreten durch eine legitimierte deutsche Regierung, als gleichberechtigter Partner teilnehmen kann, die anderen uns fragen werden, wo wir die deutsche Ostgrenze haben wollen, um dann gefälligst unsere Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Zu diesen Utopisten gehören wir nicht. Aber die Frage der Versöhnung mit den Polen, mit unseren polnischen Nachbarn, an der uns sehr liegt, reicht tiefer 460

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als die Frage der auf der Oberfläche liegenden Unterstützung ihrer gegenwärtigen Machthaber, die die Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung als Mittel zur Stärkung ihres Systems haben wollen. Darin liegt der Unterschied. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes über kurz oder lang zu mehr Freiheit für die Menschen und mehr Selbstbestimmungsrecht für die Nationen führen wird? Das ist doch die Frage, die als ein Motiv immer mit diesen Verträgen verbunden wird." „Darf ich eine andere Frage stellen, nicht an die Regierung, eine Frage an uns alle: Warum lobt die Sowjetunion die Politik Brandts und denunziert die Politik Kiesingers als aggressiv, wenn die Politik Brandts die kontinuierliche Weiterentwicklung der Politik Kiesingers ist? (Beifall bei der CDU/CSU.) Warum war die eine aggressiv — Sie kennen sie so genau, daß wir sie hier nicht im einzelnen zu erörtern brauchen —, und warum wird die andere mit einem lobenden Prädikat bedacht? Hier liegt die Grenze, wo die Gemeinsamkeit von der heutigen Bundesregierung und den sie tragenden politischen Kräften leider verlassen worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Sowjetunion zieht aber auch insgesamt die Zügel innerhalb ihres Machtbereiches straffer. Kontakt und Zusammenarbeit nach außen als Gegenleistung für die Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes werden verbunden mit verschärfter Unterdrückung im Innern. Das ist kein Widerspruch, wie manche glauben, sondern das ist in sich für die sowjetische Machtdoktrin logisch und konsequent. Den Einwohnern des Machtbereichs der Breschnew-Doktrin wird somit doppelt vor Augen geführt, daß die Außenwelt Selbstbestimmungsrecht und Freiheit für sie abgeschrieben hat und gleichzeitig der Druck der Herrschaft im Innern verschärft wird. Gerade angesichts dieser Vorgeschichte muß jede deutsche Ostpolitik daraufhin geprüft werden, ob sie geeignet ist, das Unrecht wiedergutzumachen, das deutsche Politik am Selbstbestimmungsrecht der Völker und an der Freiheit der Menschen begangen hat. Politik der Verträge allein ist nicht Versöhnung mit den Völkern, sondern Befriedigung der Wünsche ihrer kommunistischen Regime nach ungestörter Herrschaftsausübung, (Beifall bei der CDU/CSU) ungestört auf Grund politischer Besitzstandsgarantie und erleichtert durch wirtschaftliche Ergänzung von Seiten der kapitalistischen Außenwelt. Es ist und bleibt ein Mysterium der Bundesregierung — nicht ein Ministerium, sondern ein Mysterium —, wie bei diesem unbestreitbaren Sachverhalt ihre Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen, mit denen sie diese Verträge begründet, in Erfüllung gehen sollen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, 24. 2.1972) 461

Herbert G. Marzian Bundesminister S c h m i d t führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 24. Februar u. a. aus:

„1967 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger das gestern schon von Herbert Wehner zitierte Wort von der ykrittschen Größenordnung Deutschlands f gesagt, das durchaus richtig ist. Die Passage endete damals mit dem Satz: ,Man kann das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozeß der Uberwindung des Ost-West-Konflikts in Europa/ Ich stimme dem zu; das war damals richtig, und es ist auch heute noch richtig. Die erste Konsequenz aus diesem Satz, Herr Dr. Kiesinger, ist die, daß wir diesen von Ihnen genannten Prozeß der Uberwindung des Ost-West-Konflikts einmal realistisch betrachten. Es ist ja nicht nur ein Prozeß, der uns betrifft, sondern es ist ein Prozeß, der von vielen gemeinsam beeinflußt wird. Nun einige Tatsachen zu dem sich tatsächlich abspielenden Prozeß. Erstens. Für die Vereinigten Staaten wie für die Sowjetunion wie für unsere Nachbarn in Ost und West sind die aus der andauernden Teilung Deutschlands erwachsenden Problemen die hauptsächliche Ursache für die Sorge um den Frieden in Europa. Diese Probleme sind einerseits Folgen des von Hitler total geführten und total verlorenen Krieges, sie sind andererseits Folgen der sich von 1945 an ergebenden Konfrontation der Siegermächte. Zweitens. Gerade wir Deutschen müssen aber auch einer anderen Erkenntnis ins Auge sehen. Die Nachbarn Deutschlands in Ost und West sind weit eher geneigt, sich mit der Teilung Deutschlands abzufinden, als zuzulassen, daß derjenige Teil Deutschlands, mit dem sie durch ein Bündnis verknüpft sind, in den Bereich des anderen Bündnisses hinüberwechselt. Kollege von Weizsäcker hat von diesen Problemen gesprochen. Alle unsere Nachbarn halten zwar den jetzigen Zustand für nicht normal und womöglich für eine Bedrohung des Friedens und ihrer Sicherheit, aber ein vereinigtes Deutschland und vor allem der Prozeß bis hin zu einem vereinigten Deutschland erscheint den meisten unserer Nachbarn noch gefährlicher, weil er das Gleichgewicht der Macht in Europa und damit den Frieden gefährden könnte. Siehe Dr. Kiesingers Wort über das kritische Gewicht oder die kritische Größe. Drittens. Gleichwohl fühlen viele unserer Nachbarn auch die historische Anomalie der Trennung Deutschlands und mehr noch der Teilung Europas insgesamt. Manche wären möglicherweise bereit, dann an einer Vereinigung Europas und damit Deutschlands mitzuwirken, wenn sie eine Art Garantie dafür hätten, daß der zu diesem Ziel hinführende Prozeß unter Kontrolle gehalten und daß seine Risiken eingegrenzt und kalkulierbar gemacht werden können. Viertens. In der Bundesrepublik Deutschland hat es lange gedauert, ehe klar wurde, daß die beiden Teile der Nation nur dann wieder zueinander kommen können, wenn auch Europa wieder zusammenwächst. Vielen in unserem Lande fällt es heute noch schwer, zu begreifen, daß dies keineswegs von den Deutschen allein bewirkt werden kann, sondern daß ein Zusammenwachsen in Europa nur möglich ist, wenn beide Weltmächte und die ost- und westeuropäischen Staaten und das deutsche Volk in seinen beiden Teilen dies wollen. Mit anderen Worten und verkürzt ausgedrückt: eine Wiederherstellung der 462

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Identität Europas ist nur möglich, wenn dies auch von Moskau, audi von Warschau, auch von Ost-Berlin gewollt wird. Fünftens. Die Kontinuität

des westlichen

Verteidigungsbündnisses,

die Solida-

rität der europäischen mit den nordamerikanischen Partnern waren und bleiben Grundlage unserer Politik innerhalb dieses Prozesses. Eine manchmal aufgetretene Überbetonung unserer Sicherheit hat allerdings in manchen Phasen der Nachkriegspolitik zur Unbeweglichkeit der Regierung hier in Bonn beigetragen. Heute wissen wir, daß NATO und EWG den westlichen Teil Europas von sowjetischer Dominanz in kritischen Zeiten haben freihalten können, daß sie aber mit ihrer bis spät in die 60er Jahre verfolgten starren politischen Strategie nicht der Vereinigung Europas und unseres Landes haben dienen können. Sie werden das auch in Zukunft kaum tun können, und erst recht nicht wird ohne unsere eigene Initiative etwas bewegt. Herr Dr. Schröder hat in einer Rede, auf die mein Freund Kurt Mattick heute morgen schon zurückkam, vor dem CDU-Parteitag schon 1965 in Düsseldorf — ich komme noch mal auf die Rede zurück — öffentlich daran gezweifelt, daß die Zeit für uns arbeite. Sechstens. Je mehr aber wir in Bonn uns selbst in unserer Außenpolitik bewegen, desto mehr könnten unsere Nachbarn in Ost und West in Besorgnis geraten, nämlich dann, wenn wir versuchen wollten, uns allein zu bewegen. Deshalb unternehmen wir zu keinem Zeitpunkt dieses Prozesses einen isolierten Schritt, sondern diese Regierung achtet sehr sorgfältig darauf, daß ihre Bewegung eingebettet bleibt in das Gesamtvorhaben der Partner unseres Bündnisses. Die Beweise für diese Gemeinsamkeit, welche die Oppositionsredner nicht sehen wollen, liegen dokumentarisch in einer ganzen Kette von Ministerratsbeschlüssen der Allianz öffentlich vor. Diese Kommuniqués des Ministerrats der Allianz über zwei, drei Jahre beschreiben den wichtigsten Teil — ich benutze noch einmal Dr. Kiesingers Worte — ,des Prozesses der Überwindung des Ost-West-Konfliktes'. Unsere Politik verwirklicht sich im Rahmen der Möglichkeiten, die hier gegeben sind, im Rahmen der Wandlungen der internationalen Beziehungen überhaupt." „Diese Bundesregierung hat 1969 aus der vorgefundenen, nicht von ihr geschaffenen, sondern historisch gewachsenen Situation die Konsequenzen gezogen, und zwar von der Lage aus, die sie 1969 antraf. Dabei war und bleibt das Gleichgewichtsprinzip

der oberste Leitsatz unserer Außen- und Sicherheitspolitik.

prägt die Haltung der Bundesregierung zum nordatlantischen Bündnis, zu den großen Nuklearmächten, zu dem notwendigen Versuch, Sicherheit bei geringerer Rüstung zu erhalten. Er prägt aber auch unsere Haltung bei dem Versuch der Bundesregierung, Verständnis und Ausgleich mit der Sowjetunion, mit den Völkern des europäischen Ostens zu erreichen. Für diese Politik muß gelten: Wer seine eigene Politik unter den Schutz des Gleichgewichts stellt, darf nicht versuchen, andere aus diesem Gleichgewicht herauszubrechen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das heißt für unsere Entspannungspolitik

gegenüber dem Westen

wie dem

Osten ganz konkret: 1. Es kann im osteuropäischen Bereich nichts Wesentliches ohne die Mitwirkung Moskaus geschehen. So ist die Lage heute. 463

Er

Herbert G. Marzian

2. Die Regierungen in Warschau, Ost-Berlin, Prag und in anderen osteuropäischen Hauptstädten haben gleichwohl eigene Interessen, eigenen Willen, eigenes Gewidit. 3. Es wäre jedoch töricht und gefährlich, Keile zwischen die Staaten des Paktes treiben zu wollen, gefährlich nicht nur für uns, sondern für den Frieden überhaupt. Es wäre genauso töricht und für Entspannung und Zusammenarbeit gleichermaßen gefährlich, wenn jemand unseren Willen zum friedlichen Miteinander als ein bloß taktisches Manöver interpretieren wollte, wie das einige — ich erinnere micht genau — vor zehn Jahren gegenüber dem Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei gemacht haben. (Beifall bei der SPD.) Es ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man den ernsten Willen eines anderen in eine taktische Wendung umfälscht." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 172. Sitzung, 24. 2.1972) Der Abgeordnete D r . Z i m m e r m a n n ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„Der Herr Verteidigungsminister hat gestern gesagt — und das war für mich vielleicht der wesentlichste Teil seiner Aussage —: Den Drei Mächten war es lästig, für die deutsche Wiedervereinigung zu sein; (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) sie waren es leid. Nun, meine Damen und Herren, ich habe auf der Internationalen Wehrkundetagung vor zwei Wochen auf Diskussionsbeiträge zweier sehr bedeutender französischer Kollegen geantwortet, ich hätte die französische Politik nie — nicht unter de Gaulle, nicht vorher und nicht nachher — im Verdacht gehabt, daß Frankreich ein begeisteter Anhänger einer nationalen deutschen Wiedervereinigung im Herzen Europas gewesen wäre, heute wäre oder später sein würde. Diesen Verdacht, sagte ich, hätte ich niemals gehabt; und mit vielen Schattierungen gilt das auch für weite Teile der amerikanischen und britischen Politik. Aber um so größer ist die Leistung, um so höher ist sie zu bewerten, daß es der deutschen Politik 20 Jahre lang gelungen war, die Alliierten, unsere ehemaligen Gegner, auf das Ziel der deutschen Wiedervereinigung festzulegen, das sie vertraglich zugesichert haben und das sie in diesem Zeitraum in den letzten 20 Jahren ununterbrochen bekräftigt haben. (Beifall bei der CDU/CSU.) Gerade weil das so war — Herr Dr. Gerhard Schröder, der hier sitzt, weiß, warum es so war und wie schwierig es vielleicht manchmal gewesen ist —, hätte man diese Vertragspartner nicht mit dieser Leichtfertigkeit aus ihren Verpflichtungen entlassen dürfen, wie das in den letzten Monaten jetzt geschehen ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) 464

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Die Politik dieser Bundesregierung — wenn das riditig ist, was Helmut Schmidt gesagt hat: es war ihnen lästig, sie waren es leid — hat sie endgültig davon befreit, dafür besorgt sein zu müssen. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dorn: Eine ganz üble Unterstellung!)

Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege Dr. Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel? Dr. Zimmermann (CDU/CSU): Ja, bitte sehr! Dr. Apel (SPD): Herr Kollege Zimmermann, Sie haben sidier audi dieses gestern sdion sehr oft benutzte Büchlein. In diesem Büchlein werden sie sicherlich audi den Schriftwechsel zwischen der Bundesregierung und ihren drei westlichen Alliierten und damit audi zur Kenntnis genommen haben, daß sich durch den deutsch-sowjetischen Vertrag nichts, aber auch überhaupt nichts in den Bindungen zwischen den Alliierten und der Bundesregierung geändert hat. (Abg. Rawe: Sdimidt hat es selbst gesagt! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) Dr. Zimmermann (CDU/CSU): Lieber Herr Apel, Sie entschuldigen, wenn idi sage, diese Intervention verstehe ich nun wirklich nicht. Die verstehe ich überhaupt nicht, denn Sie wissen dodi so gut wie ich, entweder kann man so argumentieren wie Helmut Schmidt, (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) daß es also lästig ist, wir es leid sind und wir damit nichts mehr zu tun haben wollen, oder man kann so argumentieren wie Sie, aber beides zusammen, das geht nun wirklich nicht! (Beifall bei der CDU/CSU.) Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege Zimmermann, gestatten Sie eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Apel? Dr. Zimmermann (CDU/CSU): Ja. Dr. Apel (SPD): Können Sie sich vorstellen, Herr Kollege Dr. Zimmermann, daß es einen sehr wesentlichen Unterschied zwischen Deutschland als Ganzem in den Grenzen von 1945 und der Festlegung auf Deutschland in den Grenzen von 1937 und der Haltung der westlichen Alliierten dazu gibt? (Zurufe von der CDU/CSU.) Dr. Zimmermann (CDU/CSU): Ο ja, Sie dürfen mir glauben, daß mir die Grenzen von 1937 und die von 1945 außerordentlich bewußt sind; ich hoffe, auch der Regierungskoalition zu jeder Stunde und zu jeder Minute. Sie wissen, was ich damit meine." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) 30

Königsberg

465

Herbert G. Marzian Bundeskanzler B r a n d t

führt in der Debatte des Deutschen Bundestages

am 25. Februar u. a. aus:

„Zweitens. Herr Kollege Barzel sollte, so meine ich, bestätigen, daß er sich in bezug auf den Briefwechsel Adenauer-Bulganin vom September 1955 geirrt hat. (Sehr wahr! bei der SPD.) Er hat gemeint, der Vertrag vom 12. August 1970 in Moskau beende die Wirkungen aus dem soeben genannten Briefwechsel. Die Regierung hat dargelegt, daß das Gegenteil richtig ist. Dies bedeutet natürlich nicht, Herr Kollege Barzel, daß Adenauer und Bulganin mit deutscher Einheit dasselbe gemeint haben. Davon sind sie damals nicht ausgegangen, davon gehen wir heute nicht aus. Aber was damals festgehalten wurde, ist nicht untergegangen, und dies muß man bitte zur Kenntnis nehmen, wenn man die deutschen Interessen in diesem Zusammenhang nicht schwächen will." „Viertens. Da in den drei Punkten, die Herr Barzel zur Vorbedingung für eine positive Würdigung der Verträge genannt hat, von territorialen Fragen nicht die Rede war, wäre es gut, gemeinsam mit der Opposition feststellen zu können, daß die Bundesrepublik Deutschland keine territorialen Ansprüche zu stellen hat. Meine Damen und Herren, was immer dazu außerhalb dieses Hauses gesagt worden sein mag, es würde helfen, wenn die Opposition hierzu wenigstens das bestätigte, was die Regierung der Großen Koalition gemeinsam ausgesprochen hat: Diese Bundesrepublik Deutschland hat keine territorialen Ansprüche; sie geht von den Grenzen aus, mit denen wir es zu tun haben." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. B a r z e l , Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

führt in der

„Es ist dann, Herr Bundeskanzler, von dem Briefwechsel, den auch der Kollege Ehmke gestern einen Vertrag genannt hat — das ist es ja auch —, zwischen Adenauer und Bulganin die Rede gewesen. Wir haben diese Debatte im Vergangenen Jahr schon einmal gehabt. Die Bundesregierung hat damals meiner Auffassung nicht widersprochen. Ich will mich jetzt gleichwohl erneut damit auseinandersetzen, und zwar an Hand der amtlichen Dokumente: Hier ist der amtliche Band über den Briefwechsel damals. Der Vertrag Adenauer-Bulganin vom 13. September 1955 enthält drei Absätze. Der dritte Absatz ist der, um den es hier geht; ich verlese ihn: Die Bundesregierung geht hierbei davon aus, — entsprechend hat die Sowjetunion das ja bestätigt — daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und damit auch zur Lösung des gesamten nationalen Hauptproblems des deutschen Volkes, der Wiederherstellung der Einheit eines deutschen demokratischen Staates, verhelfen wird. Diese Erklärung tritt in Kraft, sobald... 466

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Das ist der Text. Es kann also niemand bestreiten, daß Gegenstand der deutschsowjetischen Beziehungen bei ihrer Aufnahme auch die Bezugnahme auf die Lösung der ungelösten deutschen Frage war, — und das nicht irgendwie, sondern mit der präzisen Aussage der Wiederherstellung

der Einheit eines deut-

schen Staates. Das, meine Damen und Herren, ist die Basis. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Und das steht im Schlufikommuniqué!)

Wenn Sie sich jetzt mit Verantwortlichen der Sowjetunion unterhalten, werden sie Ihnen sagen, zu dieser Frage hätten sie keine Erklärung mehr abzugeben, weil der j e t z t vorliegende Vertrag alles a b s c h l i e ß e n d regele. In diesem Vertrag steht in der Präambel — idi zitiere aus dem amtlichen Buch, das die Bundesregierung selbst dazu vorgelegt hat — im dritten Absatz: In Würdigung der Tatsache, daß die früher von ihnen v e r w i r k l i c h t e n vereinbarten Maßnahmen, insbesondere der Abschluß des Abkommens vom 13. September 1955 über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, günstige Bedingungen für neue wichtige Schritte zur Weiterentwicklung und Festigung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaffen haben. Ich zitiere diese Präambel nicht nur, weil damit — im Vertragstext — noch einmal bewiesen wird, daß es auch früher Beziehungen und alle möglichen günstig beurteilten Dinge von der Sowjetunion gab, (Abg. Rösing: Das hat Herr Ehmke gestern unterschlagen!) sondern auch deshalb, weil darin — das ist dodi der Trick dieses Vertragswerks — das Wort ,verwirklicht' eingefügt ist. Die deutsche Einheit hat nicht verwirklicht werden können; (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Das hat Herr Ehmke unterschlagen!) also hat doch die Bundesregierung hier das Fehlen dieser damaligen Geschäftsgrundlage der Aufnahme der Beziehungen jetzt vertragskräftig verändert. Das ist doch die Lage. Dieses Fehlen bezeichnen sowjetrussisdie Gesprächspartner doch als die Geschäftsgrundlage dieses Vertrages. Das ist die Wirklichkeit, und daran kann keiner vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Bundeskanzler, wenn Sie dieser völlig unwiderlegbaren Ansicht über das, was Sie verabredet haben, nicht zustimmen würden, hätten Sie selbst doch längst in den Debatten des vergangenen Jahres hierher kommen können, Sie hätten dafür sorgen können, daß die Sowjetunion irgendeine Bestätigung für die schönen Worte gibt, die Sie hier im Hause finden, die nur nirgendwo in den Texten oder in den Kommuniqués niedergelegt sind. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Bundeskanzler, Sie haben dann noch einmal das Problem der — wie Sie es nennen — territorialen Forderungen' aufgeworfen. Ich möchte Ihnen dazu folgendes sagen, — auch als ein Stück der Antwort auf den Kollegen Ehmke, 30·

467

Herbert G. Marzian

wobei ich nicht genau weiß, ob er gefragt hat, um Antworten zu bekommen, denn als mein Kollege Windelen sie ihm gab, war er ja nicht anwesend. (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, ich antworte wie folgt. Wir sehen die Realitäten in Deutschland, auch die, die uns nicht passen. Wir sehen auch, daß die DDR existiert. Aber für uns ist diese Realität so, wie sie ist, eben nicht annehmbar. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nun, Herr Bundeskanzler, hoffe ich, wird dies verstanden werden: Die ausdrückliche Aufnahme des Selbstbestimmungsrechtes in den Vertragstext und nicht das Fehlen einer früher vorliegenden Vereinbarung über die Herstellung der deutschen Einheit hätte doch das ganze Vertragswerk nicht nur in anderem Lichte erscheinen lassen, es nicht nur anders interpretierbar gemacht, sondern das Vertragswerk hätte einen anderen Inhalt gehabt. Wenn in dem Vertrag an irgendeiner Stelle stünde: die deutsche Einheit ist noch durch Selbstbestimmung herzustellen, wäre doch ganz unmißverständlich und ohne jede Interpretationsnotwendigkeit klar, daß alle Grenzerklärungen Beschreibungen und nicht endgültige Festlegungen sind. Das ist doch der Punkt, Herr Bundeskanzler. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nun sagt die Regierung — und das ist noch eine wichtige Frage — hier im Hause, obwohl sie es draußen nicht sagt und nicht beweisen kann, das Ganze sei doch nur eine Beschreibung der Lage, wie sie jetzt sei, und das Ganze sei ein Modus vivendi. Und so ist es dann auch gegenüber einigen Alliierten vorgetragen worden. Wir müssen doch jetzt feststellen, daß beide Partner dieses Vertrages dem Vertragswerk einen ganz anderen Inhalt geben, als diese Regierung ihn hier darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ist es denn vielleicht nicht die Pflicht der Opposition, wenn das Haus hier zustimmen soll, vorher zu prüfen, was hier wirklich zur Abstimmung steht? Das muß doch geprüft werden. (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Denn wenn dies nicht klar ist, Herr Bundeskanzler, dann wird nicht das eine oder andere flüchtige Wort des einen oder anderen uns helfen, wenn neuer Konflikt entsteht wegen der Dissense, wegen der mangelnden Einigkeit in diesem Vertrag. Deshalb wird dies zu klären sein. Es wird hier zu klären sein, und es wird in den Ausschüssen zu klären sein. Der Kollege Scheel wird dort sicher Gelegenheit nehmen, die Antworten seiner sowjetrussischen Gesprächspartner auf die Passagen vorzutragen, die er hier im Hause über seine eigenen Ausführungen gemacht hat. Wir wenigstens werden den Stand unserer Erkenntnisse aus solchen Gesprächen vortragen. Und dann wollen wir noch einmal sehen: Bekommen Sie von Ihren Partnern in irgendeiner Weise eine Bestätigung für die Thesen, die Sie hier mündlich und zum Teil — in der Antwort auf die Große Anfrage — auch schriftlich von sich geben? Das ist doch 468

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

die Frage. Sie reden darüber, aber Sie erhalten dies nicht als eine gemeinsame Auffassung bestätigt." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) Der Abgeordnete D r . C z a j a ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„Drei Fragenbereiche zum Warschauer Vertrag möchte ich ansprechen, nadidem Herr Bundesminister Ehmke gestern den Versuch machte, nicht diese Fragen, die bereits anklangen, zu beantworten, sondern neue Fragen für die Zeit nach einem möglichen Inkrafttreten des Vertrages zu stellen. Die erste Frage lautet: Wie wurden denn — gestatten Sie mir diese Frage, nachdem so oft polnische Interessen, die wir auch zu sehen haben, angesprochen wurden — die berechtigten Interessen

der Ostpreußen, der Westpreußen,

der Brandenburger,

der

Pommern, der Schlesier und der Obersdolesier in diesem Vertragswerk vertreten? Darauf muß doch eine deutsche Regierung auch antworten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Steht im Vertrag die Beschreibung eines Zustandes oder eine endgültige Verpflichtung zu Lasten Deutschlands? Unzählige offizielle polnische Aussagen berufen sich auf die Endgültigkeit. Die Bundesregierung gibt zu, der Warschauer Vertrag ist mehr als nur ein Verzicht auf militärische Gewalt oder auf die Drohung mit Gewalt. Die Bundesrepublik, so heißt es, solle sich endgültig verpflichten, audi für den Fall, daß sie an friedensvertraglichen Regelungen mitwirken kann. Das hat nicht zuletzt der Herr Bundesaußenminister wiederholt sehr klar ausgeführt. Das bisher auch in zahllosen deutschen Gesetzen, auch noch vor ein, zwei Jahren, als deutsches Inland behandelte Gebiet soll nach einer eventuellen Ratifikation Ausland sein. Minister Posser aus Nordrhein-Westfalen sagte im Bundesrat ausdrücklich, die Bundesrepublik gebe ihren bisherigen Standpunkt auf. Wie kann man dann behaupten, daß nichts Substantielles bezüglich dieser Teile ganz Deutschlands und bezüglich unserer Heimat geschehen sei? Wie kann man dann behaupten, daß über unsere Heimat nicht mitverfügt worden sei? Kann sich denn die Bundesregierung einerseits in Übereinstimmung mit den Verbündeten und mit vielen internationalen Verträgen dazu bekennen, in die Rechte und Pflichten des Deutschen Reiches als dessen frei organisierter Teil eingetreten zu sein, aber gleichzeitig in entscheidenden Fragen Deutschlands, wenn es um Staatsgebiet und Grenzen geht, erklären, man handle da eben nicht für Deutschland? Darf man einer erträglichen Heilung einer völkerrechtswidrigen Annektion durch einen tragbaren Ausgleich zu Lasten Deutschlands vorgreifen, indem man alle diese Gebiete heute und für künftig als deutsches Ausland festschreibt? Alle früheren Bundesregierungen und alle führenden Sprecher der großen demokratischen Parteien — Adenauer, Schumacher, Brentano, Erler, Ollenhauer, Brandt und Wehner — haben offiziell bis 1968, ja, bis 1969 erklärt, die Bundesrepublik Deutschland solle und dürfe vor einem Friedensvertrag 469

Herbert G. Marian

kein politisches Mandat für eine solche Festschreibung beanspruchen. Herr Bundesaußenminister, waren das, was gerade auch die Führung der SPD bis 1968 verkündete, nur erstarrte Denkkategorien und Illusionen? War das nicht vielmehr Ausdruck jener gemeinsamen politischen Klugheit der großen demokratischen Parteien, die eben alle deutschen Fragen für eine umfassende Regelung auf dem Verhandlungstisch halten wollten und halten zu müssen meinten?" „Sie haben uns gefragt, was wir zur Offenhaltung der deutschen Frage meinen. Ich darf diese Frage zunächst zurückstellen und fragen, was Sie damit gemeint haben, (Abg. Katzer: Es ist keiner da! Nur der Außenminister ist da!) als Sie uns gefragt haben. Ich darf mich dabei auf das Schreiben der drei Westmächte an die Bundesregierung zum Moskauer Vertrag beziehen. In diesem Schreiben wird ausdrücklich betont, daß das sogenannte Londoner Übereinkommen vom 12. November 1944 und die Berliner

Erklärung

vom 5. Juni

1945 unberührt blieben und unberührt bleiben müßten. In dem Protokoll vom 12. November 1944 zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion — ich habe den Auszug hier vor mir liegen; es ist eine Urkunde in bezug auf die bevorstehende bedingungslose Kapitulation Deutschlands — über die Besatzungszonen in Deutschland steht unter Ziffer 11 in Satz 1 : Deutschland, innerhalb der Grenzen, wie sie am 31.12.1937 bestanden haben, wird zum Zweck der Besatzung in drei Zonen geteilt. Dann kommt die Ostzone, die genau beschrieben ist, einschließlich der von Polen verwalteten Gebiete. Herr Bundeskanzler, die Westmächte haben Ihnen im August 1970 ausdrücklich mitgeteilt, daß das nicht berührt werden dürfe. Sie haben heute, uns fragend, von anderen Grenzen gesprochen. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Stehen Sie noch zu diesem Londoner Protokoll und zu dem, was unberührt bleiben muß? (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich frage Sie weiter: Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß bei der Übernahme der Besatzungsgewalt am 5. Juni 1945 die Regierungen der Besatzungsmächte ausdrücklich erklärt haben — auch darauf haben sich die USA, Frankreich und Großbritannien im August 1970 berufen —: Die Übernahme der Regierungsgewalt und der Besatzungsgewalt in diesen Zonen zu den genannten Zwecken bewirkt nicht die Annektierung Deutschlands und keines Teiles Deutschlands? Stehen wir heute nodi zu dieser Auffassung, zu der sich die vereinigten Verbündeten 1970 bekannt haben?" „Sie haben bisher immer wieder — und dies habe ich begrüßt — einem Ausgleich zwischen Polen und Deutschen das Wort geredet. Der Herr Bundeskanzler hat noch im November des vergangenen Jahres in einem Interview in ,Publik' geschrieben, daß er selbst, der Bundeskanzler, noch vor einigen Jahren an Verhandlungen

über Änderungen der jetzigen

Oder-

Neiße-Linie zugunsten der Deutschen — wohl im Sinne eines nationalstaatlichen Mittelweges; das steht nicht darin, so verstehe ich es aber — 470

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

teilgenommen habe. Experten und zahlreiche ausländische Politiker wissen genau, daß noch viel später, nach diesem vom Bundeskanzler erwähnten Gesprächszeitpunkt, Herr Chrsuditschow Gomulka lange Zeit unter Druck setzte, damit er große Teile der Oder-Neiße-Gebiete an Ulbricht zu dessen Aufwertung abtrete und neutralisiere. Dies wollen wir nicht. Aber — und das kann nicht geleugnet werden — noch 1967 hat der Herr Bundeskanzler als damaliger Bundesaußenminister im ,Bulletin' unter der bezeichnenden Uberschrift »Grundlagen einer europäischen Friedensordnung' auch andersgeartete, Herr Ehmke, nicht nationalstaatliche Maßstäbe des Ausgleichsfür Ost-Deutschland in einer freien föderalen Ordnung der europäischen Staaten genannt. Damals schrieb er, es könne nicht so bleiben, wie es derzeit in den Oder-Neiße-Gebieten sei, und es könne nicht so bleiben, wie es dort der zweite Weltkrieg hinterlassen habe. Gerade in der ostdeutschen Frage seien nationalstaatliche Grenzen zu beseitigen. Nur ein wirksames, europäisch konstruiertes Volksgruppenrecht in umstrittenen Gebieten und praktizierte Menschenrechte seien eine wirkliche Grundlage eines Ausgleichs. Ein Jahr später hat der Herr Bundeskanzler, der jetzt nicht anwesend ist (Zurufe: Doch! — Heiterkeit.) — Desto mehr erbitte ich Ihre Antwort darauf. Ein Jahr später also 1968, haben Sie, Herr Bundeskanzler, als Außenminister der Großen Koalition vor der Fraktion der CDU/CSU das, was ich soeben zitiert habe, als Ziel Ihrer Politik auf weite Sicht bezeichnet. Nun die Frage: darf man den Weg zu einem föderalen Ausgleich in umstrittenen Gebieten so rasch aufgeben? Kann man die Grundlagen einer Friedensordnung so rasch abschreiben? Dies ist die Frage, auf die Sie antworten sollten. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich stelle die Frage, weil sie unser Problem aufs tiefste berührt." „In der Denkschrift zum Vertrag sagt die Bundesregierung, sie habe bekräftigt, daß ein wiedervereinigtes Deutschland durch den Vertrag nicht gebunden werde. Der Bundesaußenminister sprach in diesem Zusammenhang jüngst von einem frei gewählten deutschen Souverän. Abgesehen davon, daß man durch solche Verträge Polen nicht zusätzlich noch zu einem entschiedenen Gegner gegen das Zustandekommen eines solchen deutschen Souveräns machen sollte, fragen wir: Hat die Bundesregierung auch bekräftigt, daß man in der Bundesrepublik Deutschland in Freiheit und aktiv vertragliche Änderungen der ungerechten und unausgewogenen Vertragsgrundlagen zugunsten ganz Deutschlands gewaltlos und mit friedlichen Mitteln vertreten könne? Offenlassen kann doch für Deutschland nur heißen: so oder besser bei Verhandlungen und Abkommen. Wenn aber Änderungen zulässig sind, muß man in Frieden und Freiheit dafür wirken können. Die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit darf dieses Streben, ja dieses Verfassungsgebot nicht ausschließen; denn der Parlamentarische Rat hat im Grundgesetz vorgesehen, daß der Beitritt anderer Teile Deutschlands, in den Grenzen von 1937 nach Möglichkeit gefördert und alles unterlassen werden muß, was dies evident erschwert oder verhindert. Das ist ein Ausgangspunkt. Das muß nicht der Zielpunkt sein. Aber den Mittelweg muß man offenlassen. 471

Herbert G. Marzian

Herr Bundeskanzler, Sie können nicht hinter das, was im Londoner Abkommen vom 12. November 1944 steht, auf das sich die Westmächte in dem Schreiben an Sie berufen haben, zurückgehen. Sie müssen auch — und dies ist entscheidend — nachweisen können, daß Sie die soeben angesprochene grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit den Verhandlungspartnern im Vertragswerk selbst deutlich gemacht haben, da man sich im Völkervertragsrecht nicht einfach auf innerdeutsches Verfassungsrecht berufen kann." „Wir stellen diese Fragen zweitens auch wegen der tiefen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die individuellen Rechte von Millionen Deutschen. Wenn man solche großen Gebiete als Ausland festschreibt, kann man nicht mit einem Schulterzucken sagen, Herr Bundesaußenminister, es seien keine bestehenden personalen Rechte verlorengegangen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Sie müssen uns hier sagen, was zur zumutbaren Wiederherstellung, zur Heilung verletzter Rechte von Ihnen getan worden ist. Wenn das beiderseits nicht möglich war, Herr Bundesaußenminister, wenn die Verletzung personaler Rechte blieb, wie sie war, ja, wenn sie durch den Wandel der Inlandsqualität vergrößert und vertieft wurde — denn das deutsche öffentliche und private Recht soll ja für diese Menschen, auch wenn sie hier sind und dingliche Werte drüben haben, nicht mehr zur Anwendung kommen —, dann durfte man einen solchen Vertrag nicht jetzt und so nicht abschließen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Dann wurde nicht einmal im menschlichen Bereich eine echte Friedenstat gesetzt. Ich gebe zu: wenn Sie auch nicht die früheren Vertreibungstatbestände legitim anerkannten — das rechne ich Ihnen an, aber wir mußten viele Stunden und Sitzungen mit Ihnen darum ringen —, so haben Sie doch die Folgen dieser Vertreibung insbesondere für die Zukunft ohne Rechtsverwahrung hingenommen und damit für die Zukunft die Folgen legalisiert. Die Aufarbeitung des Unrechts der Massenvertreibung und der Ansatz zur zumutbaren Wiederherstellung der Menschenrechte in Freiheit fehlen jedenfalls! Meine Damen und Herren, das ist ein einmaliger Vertrag in der deutschen Vertragsgeschichte, weil mehr als 100 000 qkm als Ausland festgestellt wurden und für die betroffenen Menschen im Vertrag nichts vereinbart worden ist, (Beifall bei der CDU/CSU) weder für diejenigen, die nach der Vertreibung hier leben, noch für diejenigen, die sich als Deutsche dort befinden. Wird nicht durch den Wandel der Inlandsqualität das bisher nur durch Gewalt der Besatzungsmacht behinderte Menschenredit der Freizügigkeit

im deutschen

Inland, wie es bisher war, für

hiesige Heimatvertriebene, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Zusammenhang damit auch in Art. 1 unseres Grundgesetzes garantiert wird, abgeschrieben, da ein Menschenrecht auf Freizügigkeit im Ausland bisher trotz der Menschenrechtskonvention nicht kodifiziert ist? Soll für einen hier lebenden Deutschen, der seine in in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden deutschen Verwandten nach 1972 472

als

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

beerbt, nur das polnische konfiskatorische Erbrecht gelten, oder ist dieses polnische Erbrecht schon seit 1945 bindend? Gab es die klare, das Faustrecht — das Wort stammt von Ihnen, Herr Wehner — nicht hinnehmende Rechtsverwahrung gegen die Massenvertreibung als Verwahrung gegen eine schwere Verletzung des Besatzungsrechts und des Völkergewohnheitsrechts oder als eine Rechtsverwahrung nur gegen eine innerstaatliche Ausweisung aus Polen? Warum sollen die hiesigen Gerichte nur nach polnischem öffentlichem und privatem Recht gegenüber hier befindlichen Deutschen, die Anliegen drüben zu vertreten haben, urteilen? Meine Damen und Herren, vorrangig verlangen die betroffenen Menschen die schrittweise und zumutbare Wiederherstellung a l l e r verletzten personalen Rechte. Viele fragen aber auch, was die Regierung bei der jetzt geforderten Ratifizierung oder bei weiteren langen Verhandlungen mit der Entschädigung der Vermögensverluste

der Ostdeutschen vorhabe. In der Präambel

des Lastenausgleichsgesetzes sind der Übergangscharakter und der Vorbehalt der Rückgabe der Entschädigung des verlorenen Vermögens verankert. Solange die Bundesrepublik sich nicht selbst ihrer politischen und Rechtspositionen in bezug auf unsere Heimat begibt, mag dies gelten. Wenn sie dies aber tut und nicht gleichzeitig ihre Schutzpflichten für das in der Heimat entzogene Eigentum erfüllt, muß sie für die unterlassene Schutzpflicht entschädigen, und zwar vor allen anderen bestehenden wesentlichen Leistungen an das Ausland. Wie steht es um die mehr als eine Million Deutschen in den Oder-NeißeGebieten? Hat man die Durchsetzung der Schutzpflicht nunmehr, da man einen Vertragszustand will, erreicht? Nein, man hat sie nicht erreichen können. Die Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU über die Folgen der Ostverträge gibt zu, daß für die Zeit nach einer eventuellen Ratifikation überhaupt keine vertraglichen Schutzmöglichkeiten für deutsche Staatsangehörige in diesen Gebieten bestehen. Wenn das so ist, dann hätte man so weder politisch noch sittlich, noch verfassungsmäßig die Berechtigung gehabt, Inland zu Ausland zu machen. Es gibt auch eine Treuepflicht des Staates, seinen Bürgern bei so fundamentalen Verträgen diplomatischen Schutz zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ohne die Festschreibung dieser Gebiete als Ausland gab es fast besser funktionierende Handelsabkommen als jetzt. Für die Lieferung von Getreide durften 1957 über 100 000 Deutsche aussiedeln. Damals hat man auf Oberregierungsrats- und Ministerialratsebene verhandelt. Das war das Vierfache von 1971. 1958 waren es 120 000 Deutsche, also das Fünffache der jetzigen Zahl. Auch danach waren die Zahlen noch beachtlich. Sie gingen 1969/70 im Vorfeld dieser Verhandlungen zurück, damit dann für 1971 — nicht von unserer, sondern von anderer Seite — etwas vorgezeigt werden konnte. Seit Oktober 1971 gehen die Zahlen wieder rasch zurück. Die Familienzusammenführung erfuhr keine Verankerung im Vertragswerk. Man beschränkte sich, wie es in der Denkschrift wörtlich heißt, auf eine einseitige Information. Dabei ist die Wiederherstellung

grundlegender

Menschenrechte keinerlei Vor-

leistung. Keine Option, kein Recht auf freie Entfaltung der kulturellen Interessen des deutschen Lebens, der einzelnen und der Volksgruppe! Kein Recht auf freien Gebrauch der Muttersprache in der Erziehung, in der öffentlich473

Herbert G. Marzian

keit, im religiösen Bereich! Kein freier Zusammenschluß in den Vereinen, kein Recht auf freie Berufswahl, kein Recht auf Freizügigkeit und freies Zusammenleben der Familien, keinerlei Wahrung deutscher Grundrechte! Meine Damen und Herren, was antworten wir auf die Tausende von Briefen derer, die zum 10. oder 15. Mal Antrag auf Aussiedlung gestellt haben, denen das aber abgelehnt wurde, die arbeitslos gemacht wurden, die keine Arbeitsabgabebescheinigung bekommen, die in der Öffentlichkeit und im Gottesdienst nicht deutsch reden dürfen, die aber Spießruten laufen müssen, um sich zu rechtfertigen, daß sie sich als Deutsche zur Aussiedlung bekannt haben? (Beifall bei der CDU/CSU.) Wie wollen Sie nach der Ratifikation jenen dort lebenden Deutschen, die, wie unser Innenminister angibt, unter Zwang die polnische Staatsangehörigkeit beantragen müssen, den Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit wie bisher sichern? Ist es nicht die vorrangige sittliche und politische Pflicht, bei Abschluß internationaler Verträge die am meisten bedrängten Staatsangehörigen zu schützen? Können wir zu einem neuen übersteigerten Nationalismus deshalb schweigen, weil der Nationalsozialismus nodi viel Brutaleres begangen hat, zu dem ich nie geschwiegen habe, gegen das idi mich damals, als es einzutreten galt, gestellt habe? Ich habe dann auch das Recht, nicht zu schweigen, wenn deutsche Rechte und Menschenrechte gebrochen werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das Stiften von Frieden kann man nicht von der Verwirklichung der Menschenrechte trennen. Zum Friedenstiften trägt jener bei, der auch zur Verwirklichung der Menschenrechte beiträgt. Wäre es für den humanitären Bereich nicht sinnvoll gewesen, mit Polen den Wortlaut der UNO-Konvention über die bürgerlichen und politischen Menschenrechte als vorerst zweiseitig geltenden Vertrag schon jetzt zu vereinbaren? Ich wollte noch auf das Verhältnis zwischen unseren Bündnisverträgen und den jetzt zur Debatte stehenden Verträgen eingehen. Dazu fehlt die Zeit. Ich möchte nur die Frage auf werf en: Müßten wir nicht täglich, wie es Adenauer noch tat, unsere Verbündeten daran erinnern, daß auch in Zukunft ohne Einfügung berechtigter deutscher Interessen und einen für die Deutschen tragbaren Ausgleich in das Werk europäischer Einigung eine echte, auf Dauer bestehende europäische Befriedung nicht aussichtsreich erscheint? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich so gegen die politischen und die rechtlichen Tendenzen dieses Vertrages gesprochen habe, so lehnen wir keineswegs den glaubwürdigen, dauerhaften, tragbaren und gerechten Ausgleich mit dem polnischen Volk

ab.

(Abg. Konrad: Ja, was ist das?) Ein Vertrag, der dem einen alles gibt und dem anderen alles nimmt, ist ein reiner Siegfrieden und auch für das polnische Volk nicht glaubwürdig. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nirgends in Polen herrschte Begeisterung über die Unterschrift. Acht Tage danach kam es zu Unruhen wegen der wirtschaftlichen Existenznot. Diese Existenznot wurde also nicht überschattet durch die Begeisterung über einen 474

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

nationalen Erfolg. Viele Polen wollen auch nicht ihren Staat wie eine Schachfigur von Ost nach West verschoben sehen. Viele in Polen fürchten, daß sich ihre großen Nachbarn wieder über die Köpfe des polnischen Volkes hinweg diesmal unter russischer Führung geeinigt haben. Alle an dem Vertrag mitwirkenden Politiker in Polen sind inzwischen in der Versenkung verschwunden. Es ist kein gutes Omen für diesen Vertrag. Dem polnischen Volk ist mehr mit der Uberzeugung geholfen, daß viele Deutsche eingesehen haben, daß sie ebenso um ihre eigenen Rechte ringen müssen, wie sie gleichzeitig — das tue ich, und dazu bekenne ich mich ja wiederholt öffentlich — des Nachbarvolkes Würde, Lebens- und Entfaltungsrechte und sein Sicherheitsbedürfnis zu achten haben. Vielleicht ist für beide nicht eine nationalstaatliche Restauration in alten Formen möglich. Viele Ostdeutsche wissen, daß einmal eine in Freiheit denkbare Zusammenarbeit der Deutschen in ihren Heimatgebieten nur möglich ist in Formen der gemeinsamen Wiederaufbauarbeit und schrittweisen Ausschaltung früherer Irrtümer und Gegensätze. Im Augenblick ist aber für Polen eine eindeutige, von breitesten Schichten der Bevölkerung getragene Garantie gegen jede Gewalt — auch da möchte ich mich offen zu einer Frage von Herrn Ehmke bekennen —, verbunden mit einer rascheren wirtschaftlichen und technologischen Hilfe — ich sage das sehr bewußt, und ich sage das nur auf meine Verantwortung —, auch unter finanziellen Opfern, aber nicht nur zu Lasten der Ostdeutschen, glaubwürdiger als dieser Vertrag. Die Heimatvertriebenen, die besonders unter dem Grauen des Krieges gelitten haben, wollen einen wirklichen Frieden. Wir wissen auch um die Großmachtstellung Rußlands; wir achten seine Interessen, jedenfalls solche, die die Selbstbestimmung und die Freiheit anderer und unseres eigenen Volkes nicht bedrohen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wenn eine wirkliche Befriedung und nicht nur eine Hegemonie unter dem Zwang der weltpolitischen Ereignisse an dieser europäischen Flanke Rußlands einmal im ureigensten Interesse dieser Großmacht liegen würde — idi glaube, das ist möglich —, könnte Mittelosteuropa und Ostdeutschland ein Raum gesicherten und in Freiheit sicheren Zusammentreffens und Wettbewerbs vieler Interessen werden. Durch diese Verträge wird das Buch der Geschichte für eine wirkliche Aufarbeitung jahrhundertealter Gegensätze, für eine enge Zusammenarbeit in einer wirklich freiheitlichen europäischen Friedensordnung zwischen Deutschen und Polen nicht geschlossen. Wir werden uns, solange uns die Freiheit gegeben ist, um die Ablehnung ungerechter Verträge, aber auch um Recht und Gerechtigkeit für die anderen und für die Deutschen bemühen. Wir werden — komme es bei der Ratifizierung wie immer — im legalen Ringen um eine friedliche Wendung zu einem wirklichen, zu einem tragbaren, zu einem gerechten und ehrlichen Ausgleich verharren; denn, meine Damen und Herren — das sage ich in Realismus: nichts ist endgültig geregelt, es sei denn für die beteiligten Völker einigermaßen gerecht geregelt! (Beifall bei der CDU/CSU.)a (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) 475

Herbert G. Marzian

Der Abgeordnete D r . S c h m i d (SPD) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„So hat man zunächst einmal dieses Deutschland in eine Reihe von Staaten zerreißen wollen. Das hat man aufgegeben. Weitgehend war es Stalin, der sich dagegen gestellt hat mit dem bekannten Wort, das deutsche Volk werde weiter bestehen. Er hat das nicht um unserer blauen Augen willen gesagt, sondern weil er geglaubt hat, daß die sowjetische Idee, wenn sie sich einmal in einem Teil Deutschlands festgesetzt habe und dieser Teil Deutschlands ein Teil des größeren einheitlichen Deutschlands geworden sei, sich mit den dahinterstehenden Machtansprüchen in dem ganzen Deutschland durchsetzen werde. Das war ohne Frage sein Wille. Aber er kam nur zum Teil durch. Mit der Zentralverwaltung Deutschlands und deutschen Staatssekretariaten unter Kontrollratsaufsicht wurde es nichts, weil sich die Franzosen dagegen gewehrt haben, auch nicht um unserer blauen Augen willen, sondern weil sie der Meinung waren, ein Deutschland in der Form des deutschen Bundes von 1815 sei für sie, sei für Europa und sei für die Welt besser als ein Deutschland im Stil des 19. Jahrhunderts oder des beginnenden 20. Jahrhunderts. So ist das gewesen, und das sollten wir nicht vergessen. Die Alliierten gingen aber weiter. Sie haben auch den geographischen Raum bestimmt, innerhalb dessen sich die Dinge, die auf Deutschland Bezug haben, sollten vollziehen können. Nach den Potsdamer Beschlüssen ging Ostpreußen an Rußland, das Land östlich von Oder und Neiße wurde, wie es hieß, unter polnische Verwaltung gestellt. Diese Teile Deutschlands wurden nicht dem Kontrollrat unterstellt, sondern nur das Deutschland abzüglich dieser Teile. Es war von vornherein klar, daß Deutschland f im Zukunftssinne nur sein sollte, was sich innerhalb der Grenzen, die durch das Potsdamer Abkommen festgelegt wurden, befand. Nun können Sie sagen: Das ist ein Vertrag unter Dritten, res inter alios acta. Das ist richtig. Aber leider Gottes gilt der Vertragscharakter nur für das Verhältnis zwischen den Siegern, die dieses Abkommen geschlossen und angenommen haben. Uns gegenüber ist es ein Akt hoher Hand, ein Akt der Sieger auf der Grundlage des Instituts der debellatio. Das ist eine bittere Sache. Aber wir sollten den Versuch machen, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Abgeordneten Dr. Gradi?

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Dr. Gradi (CDU/CSU): Herr Kollege Professor Schmid, bei Ihren geschichtlichen Betrachtungen möchte ich Sie fragen, ob Sie in Ihre Bewertung der Nachkriegssituation und des Potsdamer Abkommens in bezug auf die Beschreibung des deutschen Gebiets, mit dem man vielleicht in Zukunft zu rechnen haben würde, nicht einbeziehen wollen, daß 1. die endgültige Grenzregelung tatsächlich einem Friedensvertrag überlassen worden ist und daß 2. die westlichen Alliierten — was mir in diesem Zusammenhang wesentlich erscheint — einen sehr exakten Unterschied gemacht haben in ihrem Verhalten zu dem Teil Ostdeutschland, der der Sowjetunion zugewiesen worden ist, nämlich dem nördlichen Ostpreußen, und den anderen Teilen Ostdeutsch476

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lands. Erinnern Sie sich, daß die westlichen Alliierten in dem Potsdamer Abkommen ausdrücklich gesagt haben, daß sie bei einem Friedensvertrag die Uberweisung des nördlichen Ostpreußens an die Sowjetunion unterstützen würden, daß sie es aber abgelehnt haben, dies auch für das ganze übrige Ostdeutschland zu sagen? Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Herr Kollege Gradi, was Sie sagen, ist eine halbe Wahrheit und nicht die ganze Wahrheit. Es ist völlig richtig, daß man einen Unterschied zwischen Ostpreußen, das an Rußland kam, und den Polen zugedachten Gebieten gemacht hat. Wenn Sie aber die Papiere und die Memoiren der Beteiligten lesen, werden Sie feststellen, daß die Regelung durch den Friedensvertrag nur den Sinn haben sollte, die Adjudikation vorzunehmen, d. h. gewissermaßen die grundbuchmäßige Eintragung. Keiner war der Meinung, daß dieses Gebiet irgendwann einmal an Deutschland zurückgegeben werden könnte. Sogar der Gutwilligste dieser Leute, Präsident Truman, schreibt dies in seinen Memoiren. Ich glaube, es besteht kaum ein Grund, daran zu zweifeln, daß es so gemeint gewesen ist. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Herrn Abgeordneten Dr. Czaja?

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Czaja (CDU/CSU): Könnten Sie in diesem Zusammenhang, Herr Professor Schmid, aber bestätigen, daß der amerikanische Außenminister Byrnes in seinem Buch ,Offen gesagt* über diese Konferenz wörtlich schreibt: Während der Diskussion über die polnischen Ansprüche und die Frage der Anerkennung der polnischen Verwaltung dieses Gebiets während der Besetzung wiederholte der amerikanische Präsident immer wieder, daß keine territorialen Veränderungen vor der Friedenskonferenz vorgenommen werden sollen und dürfen. Und können Sie unterstützen, was er weiter sagt: Angesichts dieser Vorgänge ist es schwer, jemandem guten Willen zuzugestehen, der behauptet, die polnische Westgrenze sei auf der Konferenz festgelegt, oder ein Versprechen über die Art der künftigen Grenzziehung sei gegeben worden. Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Ich würde mich freuen, Herr Czaja, wenn die Mächte sich so verhalten hätten. Sie haben sich aber nicht so verhalten, sondern sie haben die Grenzziehung des Potsdamer Abkommens ihrer praktischen Politik unterlegt, bis zum heutigen Tage. Das bedauere ich sehr — glauben Sie mir das. Mir ist es eine schmerzliche Sache, mir vorzustellen, daß Immanuel Kant aus Kaliningrad sein soll und Jakob Böhme kein Deutscher, und Eichendorff aus Wroclaw sein soll; das ist mir sehr schmerzlich, glauben Sie mir das. Aber einige Lebenserfahrung und einiges Studium der Geschichte haben midi gelehrt, daß die Geschichte gelegentlich mit einer schweren Axt die Wunschbilder der Menschen und in die Rechte der Menschen hineinhaut und dem einen zuteilt, was den anderen Leiden schafft. Das gehört mit in das Tragische der Geschichte. Es ist eines ihrer essentiellen Merkmale, daß die Dinge in ihrem Bereich nicht im Sinne der Vernunft zugehen, auch nicht im Sinne der Hegeischen Vernunft mit der berühmten List der Idee. 477

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Die vier Besatzungszonen — ich sagte es chon — wurden der Obergewalt des Kontrollrats unterstellt; Ostpreußen, Oder-Neiße-Linie nicht. Alles, was Deutschland staatlich betreffen sollte, wurde in diesen Rahmen eingezwängt." „Die Präambel des Grundgesetzes trägt diesen Dingen Rechnung; sie spricht davon, die Einheit herzustellen, den nationalen Bestand zu erhalten, die Wiedervereinigung zu betreiben, sei uns aufgegeben. Was dachten wir damals? Es ist ganz gut, wenn man sich das überlegt. Ich war mit allen meinen Kollegen — ohne Unterschied der Partei — der Meinung: in einigen Jahren werden wir es geschafft haben, daß wir uns durchsetzen gegenüber dem, was im Osten herrscht; daß es sich der Osten nicht mehr wird leisten können, die Politik zu betreiben, die er jetzt betreibt, denn die Deutschen drüben werden es ihm nicht erlauben, sie werden sich dagegenstellen, aktiv dagegenstellen. Ich war der Meinung: zur Wiedervereinigung kommen wir in einigen Jahren dadurch, daß die Russen einsehen, daß es keinen Sinn mehr habe, sich so zu verhalten, wie sie es tun; die Übermacht des Westens, auch die militärische, das Monopol der Atombombe der Amerikaner werde sie schließlich weichklopfen. Dann würden sie einsehen, daß es auch für sie vorteilhafter sei, es den Deutschen allein zu überlassen, zu bestimmen, wie sie politisch leben wollen. Das war ein Irrtum. Der Sputnik und auch noch einiges andere, das sich ereignete, hat diese Illusion beseitigt. Es kam dann über roll-back und containment dazu, daß der Bundesrepublik angeboten wurde, sich in den werdenden atlantisch-europäischen Block einzementieren zu lassen. Damals habe ich midi dagegen gewehrt. In meiner ersten Rede in Straß bur g im Jahre 1950, die ich nach Churchil gehalten habe, habe ich gesagt, warum: wenn wir das halbe Deutschland in einen Militärblock einzementieren, den die Sowjetunion als feindlich gegen sich gerichtet betrachtet, dann werden wir niemals von den Sowjets das Einverständnis bekommen, daß es in Deutschland zu gesamtdeutschen freien Wahlen kommt. Das waren die Gedanken, aus denen heraus sich meine Freunde gegen gewisse europäische Vorhaben gewandt haben, — nicht weil sie nicht europäisch sind; ich glaube, keiner von uns wird sich vorhalten lassen müssen, daß er gegen Europa sei. Deswegen haben wir der Montanunion widersprochen. Deswegen haben wir auch den Remilitarisierungsplänen widersprochen, nicht weil wir gegen die Landesverteidigung gewesen wären, sondern weil wir der Meinung waren: je mehr wir uns als halbes Deutschland ,atlantisch* verfestigen, desto weniger werden wir das ganze Deutschland bekommen. Ich vergesse nicht den Zuruf, den mir in Straßburg ein von mir hochgeschätzter dänischer sozialdemokratischer Abgeordneter gemacht hat: Lieber Herr Schmid, wir haben lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb! So dachten die Menschen, so dachten sie noch weithin, und ich habe mir diese Dinge gemerkt und habe midi danach verhalten. Eine Zeitlang waren wir nodi der Meinung, es sei vielleicht dodi nodi möglich, mit dem Gedanken ,Die Deutschen machen es allein* voranzukommen. Es gab Versuche unsererseits. Ich habe hier von diesem Platz aus den Deutsdj478

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land-Plan der SPD vertreten, von dem Gedanken ausgehend, von unten her den Versuch zu machen, gemeinsame Institutionen zu schaffen, um dann schließlich am Ende weiterzukommen. Auch das hat sich als unmöglich erwiesen. Es kam zu einer Reihe von Verfestigungen, und schließlich wurde der Weg dadurch blockiert, daß die damalige Bundesregierung erklärte: Wir verlangen auf jeden Fall, daß auch ein wiedervereinigtes Deutschland die freie Wahl seiner Bündnisse habe, es also wählen könne zwischen der NATO, Europa usw. (Abg. Rösing: Akt der Selbstbestimmung!) Da war es mir klar: Wenn das der Standpunkt der Regierung ist und sich dieser Gedanke durchsetzt, ist es aus mit der Hoffnung, daß die Russen je einmal bereit sein könnten, zuzustimmen, daß sich die Deutschen im Wege einer Volksabstimmung zu einem Staate zusammenschlössen, der eine eigene Politik mit dieser Eventualität macht." „Es war eine gute Sache, unseren Nachbarn einen Gewaltverzichtsvertrag anzubieten, der Sowjetunion und Polen. Ich meine: in erster Linie Polen; denn — Sie mögen das halten wie Sie wollen — ich empfinde diesem Staat, diesem Volk gegenüber eine tiefe deutsche Schuld. Jeder von Ihnen wird das tun. Aber wenn wir das tun, müssen wir bereit sein, der Tiefe des polnischen Traumas Rechnung zu tragen. Dieses Trauma, mag es uns passen oder nicht, besteht, die Furcht, es könnte wieder einmal zu einer Teilung kommen, zu einer vierten oder fünften oder sechsten Teilung, man könne, wenn von uns aus nichts geschehe, nicht sicher leben. Natürlich ist es moralisch nicht zu verantworten, die Bevölkerung ganzer Gebiete auszutreiben. Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Aber um ein altes Wort zu variieren: Die Geschichte und die Natur lieben nicht zärtlich, sondern sie gehen oft sehr hart mit uns um. Ich sprach von den Axthieben, die die Geschichte gelegentlich in das hineinschlägt, was uns lieb und wert ist. Wenn wir das nicht verändern können, verändern können mit Mitteln der Gewalt — und die haben wir nicht und die wollen wir nicht — oder ändern können dadurch, daß unsere Bundesgenossen mit uns einen Druck auf andere ausüben, dann bliebe nur übrig, im Schmollwinkel zu bleiben oder weiter in der Mentalität des kalten Krieges zu verharren und schließlich zu verholzen und zu versteinern. Das wäre das schlimmste, was uns passieren könnte. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Es wird gesagt, wir hätten damit deutsches Gebiet weggegeben. Gewiß, dieses Gebiet war ein Gebiet, das Deutsche besiedelt und bevölkert haben. Ich halte nichts davon, daß man zurückgeht in die Vorgeschichte und die Töpfe befragt, die man in den Gräbern der Vorzeit findet und verraten, ob hier Sdinurkeramiker oder die Glockenbecherleute gesiedelt haben; das nehmen die Polen für sich in Anspruch. Ich bin der Meinung, daß man zu den Zeiten zurückgehen muß, die man übersehen kann, die sichtbar weiterwirken. Ohne jede Frage ist dies deutsches Land gewesen. Aber es ist eben abgehackt worden mit dieser schlimmen Axt, von der ich sprach. Das Recht darauf, das wir haben, das moralisch-historische Recht ist eben, wie die Juristen des Römischen 479

Herbert G. Marzian

Rechts sagten, ein Jus nudum geworden, ein Recht, das noch der Idee nach besteht, aber dem kein Substrat mehr zugrunde liegt. Auf ein Jus nudum zu verzichten ist kein Verzicht." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) Der Abgeordnete Dr. M e n d e ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„Meine Damen und Herren, eine zweite Frage betrifft die Menschenrecbte in den Gebieten ostwärts der Oder-Neiße-Linie. In dem deutsch-polnischen Vertrag und in den Verhandlungsunterlagen, die auch hier in unseren Papieren liegen, hat man seinerzeit von einigen Zehntausend gesprochen, die eine Umsiedlung beantragen würden. Inzwischen liegen fast 300 000 Registrierungen vor. Deutsche und internationale Beobachter schätzen diejenigen, die sich in Schlesien, Ostpreußen, Pommern, Westpreußen zum Deutschtum noch bekennen, auf etwa eineinhalb Millionen Menschen. Am Vorabend dieser Debatte haben wir in einer Rede Eduard Giereks, des Chefs der Kommunistischen Partei Polens, am 21. Februar 1972 in Kattowitz folgendes vernommen. Diese Rede fand unmittelbar nach Ihrem Zusammentreffen, Herr Kollege Wehner, in Warschau mit Eduard Gierek statt. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Sie werden sicher Gelegenheit haben, das Zitat, das ich jetzt bringe, aus Ihren Gesprächen mit Gierek zu widerlegen oder zu bestätigen. Denn nur eines kann gelten, entweder ist noch alles offengehalten, oder es ist es nicht. Herr Gierek sagt: Zu den entscheidenden Fragen, die wir gemeinsam mit den anderen Ländern unserer Gemeinschaft ständig vorgetragen haben, gehört auch die Forderung nach der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen in Europa, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze. Der letzte, in der Tat einzige Staat, der diese Grenze in Frage stellte, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, hat diese nun in den Verträgen von Moskau und Warschau anerkannt. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Das, meine Damen und Herren, ist die polnische und sicher auch die sowjetische Auslegung dieser Verträge von Moskau und Warschau. Es erhebt sich hier die Frage: Wie will die Bundesregierung ihrer Fürsorgeund Obhutspflicht gegenüber den Menschen gerecht werden, die drüben in den ostdeutschen Gebieten nicht die Erlaubnis zu einer Umsiedlung erhalten werden, (Zuruf von der CDU/CSU: Die schikaniert werden!) die dort also verbleiben müssen? Analog zu den Menschenrechten, für Minderheiten, die in allen kommunistischen Staaten des Ostens außer in Polen eingeräumt werden, muß doch das Mindeste sein, daß das Menschenrecht, die deutsche Sprache zu gebrauchen, deutsche Schulen zu besuchen, deutsche Gottesdienste zu veranstalten, deutsche kulturelle Institute zu gründen, jetzt nachträglich durch Verhandlungen den in den Ostgebieten verbleibenden 480

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heimattreuen Schlesiern und Ostpreußen zuteil wird, damit wenigstens auf diesem Gebiet das menschlich Erträgliche für die dort Verbleibenden erreicht werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU.) Denn, meine Damen und Herren, wie sehr die Deutschen, die herauswollen, bereits Schikanen, Nötigungen, Erpressungen und Diffamierungen unterworfen werden, wissen Sie alle. Dieses Thema hier zu erörtern würde der Sache nicht dienlich sein. Wir hoffen noch auf die bessere Einsicht der polnischen Behörden. Es ist besser, Einsicht zu zeigen und sich an den Menschenrechten der Charta der Vereinten Nationen auch gegenüber den dort verbleibenden polnischen Staatsbürgern deutschen Volkstums zu orientieren, als es erst so weit kommen zu lassen, wie es leider in Danzig und Stettin durch Versäumnisse und mangelnde Einsicht des Gomulka-Regimes gekommen ist. Ein letztes! Dieser Debatte, Herr Wehner, hören auch meine Landsleute in Schlesien zu. Ich bekenne mich zu meiner Heimat Schlesien. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich bekenne mich zur Geschichte Schlesiens! Ich bin im Schatten des heiligen Berges, des Annabergs in Groß-Strehlitz, aufgewachsen, und in meine Kindheitserinnerungen fallen, im Jahre 1921, die großartige Abstimmung für Deutschland und der Terror der polnischen Aufständischen. Ich sage hier, von diesem Platz, meinen Landsleuten, die uns hören und die über unsere Verhältnisse besser Bescheid wissen, als mancher hier glauben mag, (Beifall bei der CDU/CSU) ich sage den Landsleuten, die uns über den Rundfunk hören: Die größte Partei der Bundesrepublik Deutschland, die hier mit fast der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages vertreten ist, wird ihre Fürsorge- und Obhutspflicht für die Landsleute in Schlesien, für unsere Deutschen in Schlesien, Ostpreußen,

Pommern niemals preisgeben, weil wir den Menschenrechten mehr verpflichtet sind als der Macht und dem Opportunismus. (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der FDP. — Gegenrufe von der CDU/CSU.)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1973) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

führt in der Debatte des

„Zunächst zur Einordnung unserer Politik in dieses Bündnis. Wir wissen, daß die letzten Deutschland-

und Berlin-Verhandlungen

der Vier Mächte 1959

stattgefunden haben, und sie offenbarten einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen West und Ost in der Deutschlandfrage. Die Dinge in Deutschland haben sich danach noch verhärtet. Die Mauer wurde gebaut, die Resignation nahm zu. Im August 1962 hat dann die Bundesregierung unter starkem persönlichen Anteil des damaligen Bundesaußenministers Dr. Schröder den drei Westmächten den Vorschlag gemacht, eine neue Deutschland-Initiative vorzubereiten und 31

Königsberg

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audi in Gespräche darüber mit der Sowjetunion einzutreten. Es setzte damals — die Kollegen, die das miterlebt haben, werden sich erinnern — ein mühsames und wenig erfreuliches Tauziehen um diese Deutschlandinitiative zwischen den westlichen Regierungen, insbesondere aber auch zwischen den drei Westmächten und der Bundesregierung ein. Der deutsche Plan wurde immer wieder zu erneuter Prüfung hin- und herverwiesen und erhielt am Ende in der gemeinsamen Deutschland-Erklärung der drei Westmächte vom 12. Mai 1965 ein — nun lassen Sie mich das ruhig einmal etwas hart sagen — peinliches Begräbnis, noch nicht einmal erster Klasse. In dieser Deutschland-Erklärung nämlich hieß es, die drei Westmächte hätten mit der Bundesregierung das deutsche Problem und die Aussichten für eine Wiederaufnahme von Erörterundieser Frage mit der sowjetischen Regierung erneut geprüft. Dann folgt der Satz, der wichtig ist: Die Möglichkeiten, — so sagen die drei Westmächte — in dieser Frage an die sowjetische Regierung heranzutreten, werden unter Berücksichtigung der Aussichten, dabei zu nützlichen Ergebnissen zu gelangen, weiterhin geprüft. Auf deutsch hieß das dodi, meine verehrten Damen und Herren: Die Vorstellungen der Bundesregierung in ihrer Deutschlandinitiative wurden von den drei Westmächten als unrealistisch angesehen. Die Bundesregierung hat damals sehr viel Energie darauf verwandt, die Drei Mächte zu einer Unterstützung ihrer Politik zu bewegen, und es kam sogar zu Spannungen und auch offenen Friktionen. Ich will das hier nicht im einzelnen erwähnen. Damals gelang es nicht, eine Ostpolitik in Gang zu setzen, die im Westen abgestützt war. Heute ist das gelungen, meine Damen und Herren. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Erlauben Sie mir die ganz zurückhaltende Frage: Wessen Weg war mit Illusionen gepflastert, der Weg, der zu dieser Deutschland-Erklärung damals geführt hat, oder der Weg, der zur Berlin-Regelung und zu den ersten Vereinbarungen mit der DDR über Erleichterungen für die Menschen geführt hat? (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Barzel: Waren Sie nicht in der Regierung Erhard, die Passierscheine hatte?) -Ja. (Abg. Dr. Barzel: Danke!)" „Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Erstens. Zwischen Opposition und Regierung bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Zielsetzung der Ostpolitik. Audi die Opposition wünscht Entspannung., Frieden und Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten. Lediglich einzelne ihrer Vertreter sehen in einer solchen Zusammenarbeit eine Stärkung der dortigen Regierungen zu Lasten ihrer Völker. (Abg. Dr. Jahn [Braunschweig] : Das ist bösartig! — Abg. Dr. Barzel: Stimmt nicht — Abg. Rawe: Gar nicht wahr! Hat niemand gesagt!) 482

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Zweitens. In den Methoden, um zu diesem Ziel zu gelangen, besteht zwischen Opposition und Regierung eine grundlegende Meinungsverschiedenheit. Die Opposition will die Verträge liegenlassen (Zuruf des Abg. Dr. Barzel) oder überhaupt den Sinn solcher Verträge leugnen. (Zurufe von der CDU/CSU: Wir haben gesagt: ,Nicht so'. — Sie haben nicht zugehört!)· Drittens. Die Motive der Opposition für das Warten, für das Liegenlassen, sind verschieden. Einige wollen auf die innerdeutsche Vereinbarung warten, andere auf eine Änderung der westlichen Politik, andere wieder auf eine veränderte Weltlage im Gefolge des chinesisch-sowjetrussischen Konflikts. (Widerspruch bei der CDU/CSU.) Das ist nicht die Auffassung der Bundesregierung. Sie ist der Meinung, daß die gegenwärtige internationale Konstellation die Verträge jetzt erforderlich macht. Die Erfahrungen der deutschen Nachkriegsentwicklung stützen sie in dieser Auffassung. Viertens. Manche Äußerungen in der Debatte, manche Zwischenrufe in der Debatte, (Aha-Rufe bei der CDU/CSU) die interessanter waren als manche Äußerungen, die man als Freudsche Fehlleistungen bezeichnen könnte, bestätigen die Bundesregierung in der Überzeugung, daß es nicht zu früh, sondern allerhöchste Zeit ist, einen Teil unseres Volkes mit den realpolitischen Verhältnissen unserer Welt vertraut zu machen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Fünftens. Die Debatte hat auch gezeigt, wie schwer es für manche Vertreter der Opposition ist, Anschluß zu finden an den Gang und die Veränderungen unserer Welt. (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Jahn [Braunschweig] : Wie überheblich Herr Scheel!) Vieles, was wir hier gehört haben, und alle Zwischenrufe, die ich in den letzten zehn Minuten gehört habe, bestätigen das voll. Vieles hat uns zurückversetzt in die frühen 50er Jahre. Nur aus der Sicht der damaligen Zeit werden solche Ausführungen verständlich. Faustregeln des kalten Krieges tun es einfach heute nicht mehr; (lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien — Zurufe von der CDU/CSU) ich habe es zu Beginn gesagt. — Sie mögen da so viel schreien, wie Sie wollen, meine Damen und Herren! Diese Faustregeln tun es nicht mehr in einer Welt, in der es zwei große Mächte ganz allein in der Hand haben, ob sie mit ihren Mitteln — jeder für sich — diese Welt zerstören wollen oder nicht. (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) Ich wiederhole noch einmal: Eine dieser Mächte ist ein kommunistisches Land; Sie werden daran nicht vorbeikommen, daß sich diese beiden Großen miteinan31'

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der einigen müssen, um den Weltfrieden gemeinsam zu erhalten. Das ist die Grundlage unserer Politik, meine Damen und Herren! (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wer daran vorbeigeht, ist nicht nur ein Illusionist, sondern er nimmt nicht die Verantwortung wahr, die er unserem Volke gegenüber wahrnehmen müßte. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Die Staatsmänner der westlichen Welt, bei den Vereinigten Staaten angefangen, und die Westeuropas haben das erkannt, nur in diesem Hause noch nicht alle Mitglieder. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Pfui-Rufe und weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Sechstens. Wir müssen uns gegen das Überhandnehmen eines gewissen provinziellen Denkens in unserem Lande wehren. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollten hier doch sachlich reden!) Da ist uns mit Monumentalgemälden der internationalen Lage, wie sie Kollege Strauß uns hier vorgeführt hat, nicht geholfen. (Abg. Rawe: Nein, wir brauchen eine neue Regierung! Da haben Sie völlig recht!) Wir müssen die Daten der weltpolitischen Lage objektiv und präzise analysieren, ja, aber wir müssen sie in unserer Politik berücksichtigen, meine Damen und Herren, (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zuruf von der CDU/CSU: Das tun Sie allein?!) Siebtens. Die Opposition wird es in der nächsten Zeit nicht leicht haben, (Lachen bei der CDU/CSU) sie wird erst einmal ihre internen Widersprüche auflösen müssen, wenn sie nach innen und nach außen ihren Wert als Gesprächspartner behalten will. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Klären Sie erst einmal die Widersprüche auf zwischen dem, was Sie vor und nach der Wahl gesagt haben!) — Nun, ich bin nicht so pessimistisch, was die Opposition angeht, weil die sich doch in gewisser Weise auf die Elastizität ihres Parteivorsitzenden verlassen kann. Es wird, so meine ich, Ihnen manchmal Schwierigkeiten machen, seine Züge alle nachzuvollziehen. (Abg. Rawe : Aber er hält das, was er verspricht, anders als Sie vor und nach der Wahl!) — Ja, das kann er leicht halten. Wir werden es gleich sehen. Er wird jedoch von seinem Vielleicht von der Berlin-Regelung über sein Nein nach der BerlinRegelung und dem ,So nicht' vor dieser Debatte über ein mögliches ,Hier auch* nach der Ratifizierung weiter bis hin zu einem Ja gehen können. (Abg. Dr. Barzel: Nein!) 484

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Wir unsererseits werden hingegen hier und jetzt in Verantwortung ja sagen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Sie ärgern sich doch nur, weil wir hier so geschlossen stehen!) Es ist nicht unser Problem, selbstverständlich. Aber die Opposition wird sich die Frage stellen müssen, wie sie diese Schwierigkeiten überwindet. Demgegenüber hat die Konzeption der Bundesregierung sich auch in dieser Debatte behaupten können, ja sie ist gefestigt aus der Debatte herausgegangen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen und Zurufe von der CDU/ CSU. — Abg. Rawe: Gucken Sie mal Ihre paar Männekes an! — Abg. Windelen: Fröhlicher Mensch, nicht!?) Diese Konzeption beruht auf folgendem. Erstens. Die Verwirklichung

des Gewaltverzichts

auf der Grundlage des terri-

torialen Status quo entspricht dem Wunsch unseres Volkes, das nicht nur den Frieden, sondern auch Klarheit über die Ausgangsgrundlage seiner Politik wünscht. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Zweitens. Die Unverletzlichkeit der Grenzen gewinnt im Zeitalter der nuklearen Konfrontation grundlegende Bedeutung für die Erhaltung des Friedens. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Drittens.

Praktische

Zusammenarbeit

zwischen Staaten

unterschiedlicher

Gesellschaftsordnung eröffnet für die Beziehungen der Staaten und Völker eine neue Dimension. Sie schafft Vertrauen, wo vorher Mißtrauen herrschte. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Haste gedacht!) Sie schafft gegenseitiges Interesse, wo vorher nur Rivalität herrschte. Sie hebt den Lebensstandard der Völker und hilft damit den Menschen. Viertens. Das Problem der Teilung Deutschlands ist eingebettet in diese Zusammenhänge. Es ist der Kern unserer Ost-West-Politik in Europa. Ziel bleibt das Recht auf Selbstbestimmung aller Deutschen. Der praktische Weg dahin ist Entkrampfung, menschliche Erleichterung und Zusammenarbeit, ausgehend vom Status quo. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Siehe Honecker!) Wenn die Teilung Europas gemildert wird, dann kann die Teilung Deutschlands nicht vertieft werden. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] Schöne Illusion!) Fünftens. Die Bundesrepublik Deutschland bezieht die Stärke für eine solche Politik aus ihrer freiheitlichen demokratischen Ordnung. Diese wird sie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht nur verteidigen — hier stimme ich ganz dem Kollegen Katzer zu —, sondern in der friedlichen Konkurrenz mit anderen zu höchsten Leistungen entwickeln. (Beifall bei den Regierungsparteien.) 485

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Sedistens. Die zügige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und ihre Erweiterung sind eine Voraussetzung für den Erfolg dieser Politik. Die Bundesregierung wird wie bisher die Politik der europäischen Einigung aktiv vorwärtstreiben." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) Der Abgeordnete Dr. S c h r ö d e r ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„Ich habe vorgestern an die Regierung ein paar Fragen gerichtet, die leider jetzt durch den Kollegen Scheel nicht beantwortet worden sind. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wie vieles andere! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: War nicht anders zu erwarten!) — Nicht alles wird sofort beantwortet. Wir werden auf die wichtigsten Fragen zurückkommen. Aber was ich angeführt habe, belegt die Sorge, die wir hinsichtlich des möglichen Tieferwerdens der Teilung unseres Landes haben. Es war dies: Nicht die Frage der Anerkennung der DDR durch die Zentralafrikanische Republik ist der entscheidende Punkt, sondern die Frage, was sich durch die jetzige Politik der Bundesregierung bis hin zu den Vereinten Nationen etwa an der Teilung unseres Landes vertiefen, ändern mag. Meine Damen und Herren, das ist eine Frage, die nicht leichtzunehmen ist. Ich habe dem Sinne nach gesagt — das waren meine ersten Sätze —: Wenn eines Tages tatsächlich ein französischer Botschafter in Ost-Berlin sitzt, vielleicht etwas später ein britischer Botschafter und vielleicht nodi etwas später ein Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika, wenn das eintreten sollte, meine Damen und Herren, dann ist das nicht etwa der unabwendbare Gang der Geschichte, dem wir uns hier anzupassen hätten, sondern dann ist es eine klare Folge der Politik der heutigen Bundesregierung. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Die Zeit ist zu kurz, um gründlich genug auf alles einzugehen, was hier vorgetragen worden ist. Ich möchte nur noch ganz wenige Anmerkungen machen. Zu dem Kollegen Schmidt, der leider im Augenblick nicht da ist, möchte ich sagen, daß ich ihn um den Optimismus beneide, den er hier ausgedrückt hat. Ich sage das bei aller Respektierung von gutem Willen usw. usw. Trotzdem beneide ich ihn um den Optimismus. Idi vermag diesen Optimismus nicht zu teilen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das Problem, um das es geht, ist die Frage: Wie können wir ein mühseliges, prekäres Gleichgewicht erhalten, ohne Substanz zu opfern? Das ist doch die Frage, um die es geht und über die eingehender wird gesprochen werden müssen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) 486

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Der Abgeordnete D r . F r h r. v. W e i z s ä c k e r ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 25. Februar u. a. aus:

„Denn ich habe gestern gesagt, und ich sage heute: 1871 brachte uns eine Nation mit allem Licht und allem Sdiatten. Ich sage nicht: es war die beste, sondern ich sage: es war die einzige Form des deutschen Nationalstaates. Sie ist es, die unser Bewußtsein geprägt hat, und keine andere. Dieses Bewußtsein ist es, an das angeknüpft werden muß von dem, welcher sagt, seine Politik wolle die staatliche Einheit der Nation wahren. Das sagt doch Ihre Regierung. Mit diesem Bewußtsein müssen wir pfleglich umgehen, sonst gefährden wir das Ziel, das Ihre Regierung verkündet und das wir unterstützen, nämlich, die Einheit der Nation zu wahren. Da ist es nun meine Erfahrung und meine Meinung, daß bei Ihnen, bei der Sozialdemokratie, die Neigung besteht, die Nation, wie sie nun einmal ist, weniger zu würdigen als zu kritisieren, und zwar als Nation zu kritisieren, weil sie diese oder jene ihrer gesellschaftlichen Zielsetzungen noch nicht oder nicht erfüllt, und das empfinde ich eben als eine Gefahr für die Nation. (Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Eppler, wenn Sie es schon für richtig befunden haben, über die Entstehung einer kirchlichen Denkschrift über Deutschland hier vor dem Deutschen Bundestag zu berichten, einer Denkschrift, an der niemand so intensiv wie wir beide gearbeitet hat, dann lassen Sie mich nur noch eines ergänzen. Den Streitpunkt, den ich eben hier erwähne, hatten wir beide auch schon damals. Sie und ich hatten jeder seine Wünsche und seine Vorschläge zur Beurteilung dessen, was die Nation ausmacht. Sie waren schon damals, wie ich fand, in der Gefahr, die Nation mit zuviel gesellschaftspolitischer Kritik und Zielsetzung zu befrachten. Aber wir wollten gemeinsam der deutschen Nation nützen und nicht schaden. Deshalb haben wir uns damals geeinigt, und ieder hat vom anderen ein Stück übernommen. Wir werden in diesem Haus der Nation und dem Deutschsein dann wieder nützen, wenn wir wieder den Weg dorthin finden, eine Politik für diese deutsche Nation im ausdrücklichen Willen dieser Gemeinsamkeit zu suchen und zu tragen." (Beifall bei der CDU/CSU.) „Heute geht es nun um Ihre Vertragspolitik. Diese Vertragspolitik empfinden wir — lïerr Scheel, ich muß es wiederholen — als nicht solide, weil sie nicht eindeutig und nicht vollständig ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) Drei Punkte dazu: Erstens. Wenn Selbstbestimmung und staatliche Einheit Ihr Ziel sind, dann dürfen Sie in keinem Vertrag und in keiner Absichtserklärung daran Zweifel aufkommen lassen. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Diese Zweifel werden aber eher größer als kleiner, wenn Sie einem Vertrag einen dazu noch nie bestätigten Brief hinterherschreiben müssen, und zwar 487

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doch offenbar gerade deshalb, weil Sie darüber verhandelt haben, es aber nicht möglich geworden ist, dies zum Vertragsinhalt selbst werden zu lassen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wenn Selbstbestimmung und Einheit Ihr Ziel sind, dann müssen Sie jeder Interpretation — zumal bei unseren Verbündeten — entgegentreten, wenn sie davon abweicht. Und das ist nicht geschehen. Es ist nicht unser Vorwurf, daß Sie die Unterstützung der Alliierten für Ihre Politik suchen, um sich vor dem eigenen Volk darauf stützen zu können. Das ist ja Ihre Pflicht. Unser Vorwurf aber ist, daß diese Unterstützung u. a. mit einer Politik gewonnen werden soll, die Sie dann vor der eigenen Öffentlichkeit anders darstellen, als sie, wie Sie ganz genau wissen, zuvor bei den Verbündeten verstanden worden ist. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Ollesch: Das, was Sie sagen, ist unredlich! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Gehen Sie nicht auf Herrn Ollesch ein ! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Zweitens. Mit dem Moskauer Vertrag sollen die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik normalisiert werden. Das ist auch unser Ziel. Aber eine solche Normalisierung muß doch in dem Bewußtsein geschehen, daß die politische Zukunft der Bundesrepublik untrennbar mit der politischen Zukunft der Europäischen Gemeinschaft verknüpft ist. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Und es ist nun einmal nicht möglich, unser Verhältnis mit einem Vertragspartner zu normalisieren, solange dieser gleichzeitig eben diese Gemeinschaft für eine Anomalie erklärt. (Beifall bei der CDU/CSU). Drittens. Daß Sie den Willen haben, mit der Regelung innerdeutscher Beziehungen den Menschen drüben zu helfen, den Menschen, die von der Teilung besonders betroffen sind, das bwzweifelt hier niemand. Aber wir sehen nicht, daß Sie hierzu den richtigen Weg gehen. Denn Sie haben dieses Kernstück jeder deutschen Politik — anders überdies als von Ihnen angekündigt — von Ihren übrigen Schritten gelöst, und nun sind Sie in der Gefahr, einen Vertrag zur Regelung der Rechtsbasis für den Beitritt zweier deutscher Staaten in die UNO schließen zu müssen, ohne zugleich verbindliche Fortschritte für die Freizügigkeit

zielen.

von Menschen, Ideen und Informationen

zu er-

(Beifall bei der CDU/CSU.) Es gibt kein entspanntes und normalisiertes Europa, solange in seiner Mitte die Abgrenzung bleibt und wächst. Dies sind unsere entscheidenden Bedenken." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 25. 2.1972) 488

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Bundeskanzler B r a n d t führt in einer Rede vor Bundeswehrangehörigen in U l m am 25. Februar u. a. aus:

„Im Zusammenhang mit den in diesen Tagen heftig diskutierten Verträgen, die der Normalisierung der Beziehungen mit der Sowjetunion und mit der Volksrepublik Polen dienen sollen, ist auch über die sicherheitspolitischen Aspekte dieses Teils unserer Außenpolitik diskutiert worden. Gelegentlich ist gefragt worden, ob denn nicht die Bundesregierung künftig E n t s p a n nung groß, vielleicht zu groß, V e r t e i d i g u n g aber klein, vielleicht zu klein schreiben werde. Dazu sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Von einem solchen Mißverhältnis kann überhaupt keine Rede sein ! Die Verträge mit den Staaten des Warschauer Pakts reduzieren in keiner Weise unsere solide Verankerung im Westen, im Atlantischen Bündnis und in der Westeuropäischen Gemeinschaft. Das, was wir dem hinzufügen — so wie andere etwas als Ergebnis der gemeinsamen Überlegungen im Bündnis hinzugefügt haben — soll m e h r , nicht w e n i g e r Sicherheit bringen. Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, die Elemente dieser Verträge — Verzicht auf Gewalt, Respektierung des territorialen Status quo, wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit — auf die Weise in eine Gleichung einzusetzen, daß sie gegen andere Sicherheitsfaktoren aufgerechnet werden: Das Aufrechterhalten des militärischen Gleichgewichts bildet unverändert den Kern unserer Sicherheitspolitik. Sicherheit oder Entspannung wäre lebensgefährlich. Sicherheit und Bemühungen um eine Entspannung heißt die Politik, die wir mit den anderen im Bündnis gemeinsam zu entwickeln bemüht sind. Dies bedeutet praktisch, daß wir weiterhin — in den eigenen Verteidigungsanstrengungen nicht erlahmen — uns für die Erhaltung der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa einsetzen und — in der Entspannungspolitik des Westens eine konstruktive Rolle spielen wollen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 29. 2.1972) Der polnische Außenminister O l s z o w s k i Pomorska" vom 26. Februar u. a.:

schreibt in der

„Gazeta

„Der VI. Parteitag der PVAP hat deutlich gezeigt, daß die unerläßlichen Voraussetzungen für die Verwandlung Europas in einen Raum des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit geschaffen worden sind. Die Verträge zwischen der Sowjetunion und der BRD sowie zwischen Polen und der BRD sind wesentliche Komponenten dieses Prozesses, dessen Ausgangspunkt die Anerkennung der Unverletzbarkeit der Nachkriegsgrenzen auf diesem Kontinent ist. Diese Verträge haben es ermöglicht, das Vierer-Abkommen über Westberlin und entsprechende Abkommen zwischen den Regierungen der DDR und BRD sowie zwischen der Regierung der DDR und dem Westberliner Senat zu erreichen. 489

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Eine baldige Ratifizierung der Verträge mit der Sowjetunion und Polen durch den Bundestag und ein erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen zwischen der Tschechoslowakei und der BRD über die Anerkennung der Ungültigkeit des Münchner Vertrags von Anfang an durch die BRD würden den Prozeß der Normalisierung in Europa beschleunigen. Die Zulassung der DDR und BRD zu den Vereinten Nationen und die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Einklang mit dem Völkerrecht und der Koexistenz der Nationen unter gleichen Rechten wird die europäische politische Situation auf der Basis des Nachkriegs-Status-quo stabilisieren." (Gazeta Pomorska, 26. 2.1972) Der Vorstand der L a n d s m a n n s c h a f t 27. Februar die folgende Erklärung ab:

Ostpreußen

gab am

„1. Beide Verträge, so heißt es, würden ,den Frieden sicherer machen4; sie seien keine endgültige Regelung, sondern beschrieben nur einen derzeitigen Zustand. Lediglich ein vorläufiger modus vivendi werde begründet. Tatsächlich sollen die Verträge die Verpflichtung begründen, ,daß niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet', ,die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten', ,heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich' zu betrachten, ,keinerlei Gebietsansprüche' (gegen die Volksrepublik Polen) zu haben ,und solche auch in Zukunft nicht' zu erheben, und verbindlich festlegen, ,daß die bestehende Grenzlinie' — die OderNeiße-Linie — ,die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet'. Niemand in der Sowjetunion oder in Polen, kaum jemand in der westlichen Welt hat die Verträge daher als vorläufige Regelung verstanden. Übereinstimmend wird aus den Verträgen vielmehr die endgültige und freiwillige Teilung Deutschlands geschlossen. 2. Inhalt und Folgen der Ostverträge werden den deutschen Staatsbürgern durch die prophetische Versicherung vernebelt, Normalisierung, Entspannung, Sicherheit, Frieden und Versöhnung würden erreicht werden. Wer aber nur nach dem konkreten Inhalt dieser klangvollen Worte fragt oder gar Zweifel an den Verträgen und ihrer künftigen Wirkung äußert, der wird als unbelehrbarer Friedensstörer, als ,kalter Krieger' verleumdet. 3. Politik wird für Menschen gemacht, so wurden wir immer wieder belehrt. Dennoch sprechen die Verträge von Moskau und Warschau mit keinem Satz von den betroffenen Menschen oder gar von den gleichberechtigten Staatsbürgern, zu deren Rechtswahrung die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist. 4. Diese Rechtswahrung für Mitbürger und überhaupt ein Gemeinschaftsbewußtsein aller Deutschen werden seit langem durch Resignation und eine Agitation ersetzt, die das östliche Deutschland mit seinen Menschen zu stören490

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dem politischem Ballast stempelt. Er sei abzuwerfen, damit der Wohlstand geruhsam genossen werden könne. Vielen Leuten in der Bundesrepublik werde ,eine Last von den Schultern genommen', sie würden ,vom Alptraum der Vergangenheit befreit', so Wehner in Warschau. Das wurde jetzt zum amtlichen Standpunkt einer Staatsführung, die nicht mehr für ganz Deutschland verantwortlich sein will. Denn andernfalls hätte der Bundeskanzler unmöglich am 9. Februar 1972 vor dem Plenum des Bundesrates sagen können: ,Wer das Schiff der deutschen Einheit mit der Fracht der alten Grenzen belastet, der wird damit rechnen können, daß es seinen Hafen nie erreicht.' 5. Am gleichen Tage behauptete der Bundesaußenminister erneut, durch den Abschluß der Verträge gingen ,keiner Person Rechte verloren'. Auch sei ,keine völkerrechtliche Anerkennung der bestehenden Grenzen ausgesprochen', es werde, nirgendwo' von ,Anerkennung' gesprochen. Die Bundesrepublik Deutschland erkläre lediglich, daß sie die Westgrenze Polens so wie sie verläuft, ,nicht mehr in Frage stellen' werde. Trotzdem bestätigt der Minister in der gleichen Rede, daß ,nach dem Inkrafttreten des Warschauer Vertrages' Schlesien und Oberschlesien, die östliche Mark Brandenburg, Ostpommern, Westpreußen und das südliche Ostpreußen ,nicht mehr als Inland betrachtet werden'. Eine offenbar bewußt unklare Formulierung! 6. Dieser Außenminister der Bundesrepublik Deutschland vergaß das nördliche Ostpreußen, den Raum von Königsberg, den der Warschauer Vertrag nicht betrifft und der für ihn anscheinend bereits zu Rußland gehört. Er verschwieg aber audi, ob der fast gleichlautende Vertrag von Moskau künftig bewirkt, daß ebenfalls Mitteldeutschland und Ost-Berlin ,nicht mehr als Inland betrachtet werden'. Für die Bundesregierung sind Ostpreußen, Schlesien oder Mitteldeutschland fremdes Staatsgebiet, also Ausland, und keineswegs Niemandsland. Trotzdem ändere sich ,nichts an den bestehenden Individualrechten', behauptet der Außenminister. Denn ,diese Rechte waren nicht Gegenstand der Vertragsverhandlung, und der Vertrag enthält darüber bewußt keine Bestimmung'. Geraubtes Eigentum der vertriebenen ostdeutschen Mitbürger soll also angeblich fortbestehen, obwohl es nach dem Willen der Bundesregierung künftig im eigentumsfeindlichen Ausland liegt! 7. Die deutsche Staatsangehörigkeit unserer Mitbürger im südlichen Ostpreußen — an das nördliche Ostpreußen wird nicht mehr gedacht — sei durch den Warschauer Vertrag nicht berührt worden, so versichert uns der Außenminister, weil er mündlich auf diese Rechte hingewiesen habe, die im Vertrage selbst verschwiegen wurden. Die Information der Regierung der Volksrepublik Polen' widerlegt diesen Standpunkt. Sie kennt nämlich keine deutschen Staatsbürger, sondern will nur aus ,humanitären Gründen' eine »Familienzusammenführung' gestatten. Die Entscheidung über die Ausreise aber hängt ausschließlich von polnischem Ermessen ab, von »polnischen Gesetzen und Rechtsvorschriften', von der polnischen Entscheidung, ob der ostdeutsche Antragsteller »unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit' ist. Nicht die deutsche Staatsangehörigkeit 491

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unserer Mitbürger also begründet ihr Recht auch nur auf Ausreise, es hängt vielmehr allein von polnischer Willkür ab. Daher spricht eine verantwortungslose Nachrichtengebung auch schon von ,Ubersiedlern aus Polen4, obwohl es Ostpreußen oder Schlesier sind. 8. Das ,Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Verträge nicht berührt', versicherte der Kanzler dem Bundesrat. Das wird behauptet, auch wenn es den Tatsachen widerspricht. Denn die Massenvertreibungen von Millionen gleichberechtigter Mitbürger wurden weder in Moskau nodi in Warschau erwähnt. Denn Ostpreußen, Pommern oder Schlesien sollen ohne Anhörung ihrer Menschen zu Ausland erklärt werden, und Mitteldeutschland mit OstBerlin steht das gleiche bevor. Deutschland also wird nach Ratifikation der Verträge nicht mehr bestehen. 9. Mit aufwendiger Polemik wurden die Redite Deutschlands und seiner Menschen als Formelkram' und jeder Hinweis auf sie als ,Bloße Juristerei' abgetan oder mit dem Bemerken lächerlich gemacht, ,die Weltgeschichte sei kein Amtsgericht'. So wurden die Rechte von Staat und Bürgern im eigenen Lande bekämpft, bis nur noch rechtswidrige ,Realitäten', aber keine rechtmäßigen Interessen die Politik bestimmten. Jetzt plötzlich ist keine Spitzfindigkeit zu formalistisch, ist kein juristisches Argument zu weit hergeholt. Sie werden vorgetragen, wenn sie nur eine Aufgabe erfüllen: Die Ostverträge als unbedenklich und als politischen Gewinn ja als patriotische Tat zu rühmen. Mit den Ostverträgen wird über die freiheitlich-rechtsstaatliche Zukunft Deutschlands entschieden. Niemand ist unbeteiligt! Alle demokratischen Bürger sind aufgerufen, gemeinsam ihr Vaterland um der persönlichen Freiheit willen zu erhalten. Niemand lasse sich einreden, er könne auf Kosten seiner Mitmenschen aus Ost- und Mitteldeutschland für sich friedliche Ruhe im ungeschmälerten Wohlstand gewinnen. Kein Deutscher dürfte vielmehr künftig noch mit Sicherheit, mit der Wahrung seiner Menschen- und Bürgerrechte rechnen, wenn er heute gleichgültig den Rechtsbruch an Mitbürgern zuläßt. Parlamente, Parteien und Regierung handeln nur stellvertretend für alle. Ihre Verantwortung ist verspielt, wenn ihnen staatstreue Bürger das Vertrauen entziehen. Das geschieht, sobald Deutschland ohne Zwang vertraglich geteilt und damit die Gleichberechtigung seiner Menschen freiwillig zerstört wird."

(Das Ostpreußenblatt, 4. 3.1972) Der polnische Außenminister O l s z o w s k i Bromberg am 1. März u. a. :

erklärt in einer Wahlrede in

„Man sollte jedoch die Möglichkeiten nicht verniedlichen, die dem Imperialismus immer noch zur Verfügung stehen. Weil der Imperialismus nicht in der Lage ist, diese Möglichkeiten global einzusetzen, provoziert er lokale Kriege, die eine potentielle Bedrohung für den Weltfrieden darstellen. Die amerikanische Aggression auf der indochinesischen Halbinsel und die Unterstützung und Ermutigung der zionistischen Imperialisten in Israel sind ein Beispiel 492

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hierfür. Der Imperialismus wagte es nicht, den Frieden in Europa zu verletzen. Die Kräfte des Sozialismus sind auf diesem Kontinent stark und vereint. Die Tätigkeit der Warschauer Vertragsstaaten für die Anerkennung des durch die Niederlage des Dritten Reiches in Europa entstandenen territorialen und politischen Status quo seitens der BRD ist erfolgreich beendet worden. Das Scheitern der Politik der Revanchisten in der BRD hat die Entwicklung und Konsolidierung realistischerer Tendenzen in der BRD-Gesellschaft beschleunigt. In den in Moskau und Warschau 1970 abgeschlossenen Verträgen erkannte die BRD die Unverletzlichkeit der in Europa bestehenden Grenzen an, darunter auch die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Die BRD bestätigte den endgültigen Charakter der an Oder und Neiße bestehenden polnischen Grenze, die im Potsdamer Abkommen festgelegt wurde." (Ost-Informationen, 2. 3.1972) I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 3. März werden Anfragen des Abgeordneten E n g e l s b e r g e r (CDU/ CSU) beantwortet:

„Vizepräsident Dr. Jaeger: Die Fragen 96 und 97 des Abgeordneten Möhring werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Die Fragen 98 und 99 des Abgeordneten Dr. Schmude wurden bereits vom Bundesminister des Innern beantwortet. Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Engelsberger auf: Wie ist die Aussage der Bundesregierung, daß durch die Ostverträge die Grenzen nicht festgeschrieben, sondern nur beschrieben würden und ein wiedervereinigtes Deutschland an diese Grenzregelung nicht gebunden sei, in Einklang zu bringen mit dem Kommentar der ,Prawda' zum Gewaltverzichtsvertragsentwurf der CSU, daß »revanchistische Kräfte in der Bundesrepublik... auch weiterhin in der Bevölkerung die Illusion anheizen möchten, daß eine Abänderung der europäischen Grenzen möglich sei'? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Präsident, ich beantworte die Frage wie folgt: Das angeführte Zitat findet sich in der ,Prawda* vom 4. Februar 1972 und lautet wörtlich: Und so ist der ,Entwurf' unter Berücksichtigung der Forderungen revanchistischer Kräfte in der Bundesrepublik erstellt worden, die auch weiterhin unter der Bevölkerung Illusionen über die Möglichkeit einer Umgestaltung der europäischen Grenzen entfachen möchten. Dieses Zitat steht ausdrücklich in bezug zu dem im Vertragsentwurf der CSU gebrauchte Wort Demarkationslinie'. Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Wiedervereinigung — und was sich daraus für die innerdeutsche Grenze ergibt — in einem längeren politischen Entwicklungsprozeß angebahnt werden muß, an dessen Ende ein Zustand des Friedens steht, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Der ,Prawda'-Artikel polemisiert offensichtlich nicht gegen eine solche Konzeption, sondern knüpft an politische Vorstellungen zu dieser Frage an, die auch wir heute nicht mehr als realistisch bezeichnen können. 493

Herbert G. Marzian

Im übrigen würde es die Bundesregierung nicht für richtig halten, sich zu jeder Pressestimme des kommunistischen Machtbereichs zu äußern. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Engelsberger.

Engelsberger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist der Kommentar in der ,Prawda' zum Gewaltverzichtsvertragsentwurf der CSU, wo eine künftige Abänderung der europäischen Grenzen als Illusion bezeichnet wird, nicht ein Beweis dafür, daß unsere östlichen Vertragspartner davon ausgehen, daß durch die Ostverträge die Grenzen unwiderruflich festgeschrieben sind, und warum versucht die Bundesregierung, gegenüber Parlament und deutscher Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, daß nach Inkrafttreten der Verträge eine spätere Korrektur der Grenzen möglich sei? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich bedauere, daß Sie meine Antwort vorhin nicht zur Kenntnis genommen haben. Ich habe Ihr Zitat richtiggestellt. Sie haben das Zitat, daß Sie gebraucht haben und das nicht ganz zutreffend war, hier eben noch nicht einmal verwandt. Es handelt sich bei dem Begriff der Illusion in dem Zitat tatsächlich um ,Illusionen in der Bevölkerung', was die gesamte deutsche Frage betrifft. Ich habe keinen Anlaß, meiner Antwort von vorhin hier etwas hinzuzufügen. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage, Abgeordneter Engelsberger.

Engelsberger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist durch das in den Ostverträgen gewählte Wort, daß die Grenzen auch nach einem Friedensvertrag unverletzlich seien, das nach dem russischen Originaltext noch viel schärfer als »unverbrüchlich' und »felsenfest' übersetzt werden kann, nicht einerseits der Forderung der Sowjets Rechnung getragen worden, daß damit kein Anspruch von deutscher Seite besteht, die Grenzen jemals wieder zu verändern, andererseits aber der Versuch unternommen worden, die Verfassungskonformität der Verträge auf deutscher Seite zu erreichen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, der deutsche Text des Vertrages ist der authentische Text. Ich bin nicht in der Lage, hier im Augenblick russische Semantik zu betreiben. Die Frage ist auch hier in diesem Hause längst klargestellt worden. Aber eines möchte ich nun doch sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zu dem, was Sie in Ihrer Frage als Meinung mitgeteilt haben, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß Grenzen unverletzlich sind und daß sie nur in gegenseitigem Einvernehmen verändert oder aufgehoben werden können. Das gilt selbstverständlich auch für Grenzen, die in irgendeinem Friedensvertrag irgendwann einmal festgelegt worden sind. Wir glauben, daß der Gewaltverzicht ein umfassender Gewaltverzicht sein muß, wenn er überhaupt einer friedlichen Entwicklung dienen soll. Ein relativer Gewaltverzicht, wie ich aus einigen Reden in diesem Hause in der letzten Woche gehört habe, ist eben im Grunde genommen kein wirklicher Gewaltverzicht und dient nicht dem Frieden, sondern führt zur weiteren Konfrontation. (Beifall bei der SPD.) 494

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Vizepräsident Dr. Jaeger: Idi komme zur Frage 101 des Abgeordneten Engelsberger : Wie beurteilt die Bundesregierung die Meinung der polnischen Nachrichtenagentur PAP, daß es zwischen den sozialistischen Ländern und der Bundesrepublik Deutschland Differenzen über die Interpretation der Ostverträge gebe und der Kampf um die eindeutige Auslegung das nächste Stadium des politischen Ringens in Europa sein werde und erst dann von einer Erfüllung der Verträge gesprochen werden könne, wenn die Bundesregierung die Interpretation des Ostens erfülle? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Ihre Frage, Herr Abgeordneter, beruft sich ohne weitere Angaben schlicht auf — idi zitiere — ,die Meinung der polnischen Nachrichtenagentur

PAP*. Ich

kann deshalb nur vermuten, daß Sie sich auf eine Meldung des englischsprachigen Dienstes dieser Agentur vom 21. Januar 1972 beziehen, die in den vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebenen ,Ostinformationen' am 24. Januar in deutscher Übersetzung abgedruckt wurde. Dabei, Herr Abgeordneter, handelt es sich allerdings nicht um eine Stellungnahme oder um eine Meinungsäußerung der polnischen Presseagentur, sondern um einen Auszug aus einem Artikel der polnischen katholischen Wochenzeitung ,Kierunsk ΐ — die der Pax-Bewegung nahesteht —, der die Ratifizierungsaussiditen für die Ostverträge behandelt, wobei auch von einem Kampf um die Auslegung der Verträge die Rede ist. Gegenüber den Spekulationen eines polnischen katholischen Kommentators kann ich nur erneut feststellen, was in der Ratifizierungsdebatte eingehend und wiederholt dargelegt wurde: Maßgebend für die Bundesregierung sind die Texte der beiden Ostverträge und der dazugehörenden Dokumente. Die Bundesregierung hat deshalb keine Veranlassung, sich mit Meinungen einzelner osteuropäischer Zeitungskommentatoren auseinanderzusetzen. Vizepräsident

Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Engelsberger.

Engelsberger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Sowjets in diesem Zusammenhang häufig die polnische Presse benutzen, um ihre Ansichten zu publizieren, und daß diese Meldung der polnischen Nachrichtenagentur PAP nicht die Ansicht eines einzelnen Journalisten wiedergibt — dies wäre gegen jede Gepflogenheit in kommunistischen Staaten —, so daß man dieser Meldung große Bedeutung beimessen muß? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, ich habe die Meinung der Bundesregierung über die Bedeutung hier mitgeteilt. Aber daß die Sowjetunion ausgerechnet die polnische Pax-Bewegung zur Verbreitung ihrer Ansichten einschalten sollte, das wäre für mich in der Tat eine Neuigkeit. (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien.) Im übrigen darf ich hinzufügen, daß es in Polen in bestimmten Fragen keinen Unterschied nach Ideologien gibt, sondern daß es hier einen allgemeinen polnischen Standpunkt gibt. Audi das ist in der Debatte hier dargelegt worden. 495

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Vizepräsident berger.

Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Engels-

Engelsberger (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wird durch die Meldung der polnischen Nachrichtenagentur PAP nicht zum Ausdruck gebracht, daß die osteuropäischen Länder die Ostverträge anders beurteilen als die Bundesregierung, daß sie auf ihrer Interpretation bestehen und nur bereit sind, diese zu akzeptieren, und daß die Sowjets erst von der Erfüllung des Vertrages sprechen, wenn die Bundesregierung die einseitigen Interpretationen Moskaus akzeptiert? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, wir haben diese Fragen in einer dreitägigen Debatte behandelt. Ich bedauere, daß Sie sich an dieser Debatte nicht beteiligt haben, denn Sie hätten dort Gelegenheit gehabt, diese Fragen im Dialog mit dem Minister zu stellen. Ich möchte Ihnen aber, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, noch einmal sagen — ich habe es hier wiederholt, und zwar auch Ihnen gegenüber, getan —, daß diese Verträge rechtlich Modus-vivendi-Charakter haben, daß aber die Meinung auf polnischer Seite, die Rückgabe der Gebiete östlich von Oder und Neiße scheide für alle Polen auch in einer Friedensvertragsregelung aus, einen politischen Standpunkt wiedergibt, den die polnische Seite, gleich welcher Couleur, seit 1945 unverändert vertreten hat. Daß die Verträge keine Friedensverträge sind und deswegen auch nicht zur Änderung dieser Meinung beitragen können, ist in diesem Hause nun weiß Gott gründlich genug dargelegt worden.4 (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung, 3. 3.1972) Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Dr. F r a n k , führt in einem Artikel „Zielsetzungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen europäischer Sicherheitsverhandlungen" in der Zeitschrift „Europa-Archiv" u. a. aus:

„Die aktive und positive Haltung der potentiellen westlichen Teilnehmer zur KSZE bedeutet natürlich nicht, daß sie die Zielsetzungen der östlichen Seite übersehen: — rechtliche und politische Konsolidierung des Status quo durch Fixierung der ,Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs4; — Verminderung der Rolle der Vereinigten Staaten in Europa; — Hemmung der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft; — aber auch Wunsch nach stärkerer Teilhabe an der Wirtschaft und der Technologie des Westens; — Entlastung in Europa in Anbetracht der Entwicklung auf dem asiatischen Kontinent. Man muß also auf westlicher Seite im Auge behalten, daß nach sowjetischen Vorstellungen die mit einer KSZE verfolgte gesamteuropäische Perspektive als eine Alternative zur westeuropäischen Integration und zur Zusammenarbeit 496

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im Rahmen der NATO gedacht ist. Mit oder ohne KSZE wird der Westen ständig die Grundlagen seiner Politik gegen Herausforderungen dieser Art zu sichern haben. Die Atlantische Allianz, dies zeigt sich in der Zusammenarbeit und Konsultation innerhalb des Bündnisses schon heute, wird durch ihre gemeinsame Bewältigung an Kohäsion und Stärke nur gewinnen. Die Mehrzahl der Bündnispartner wie auch die Bundesregierung haben niemals einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß Fortbestand und Festigung des Atlantischen Bündnisses unabdingbare Voraussetzungen für jegliche erfolgreiche Entspannungspolitik — auch im Rahmen einer KSZE — sind." „Die Punkte, die voraussichtlich die Tagesordnung einer KSZE bestimmen werden und auf die sich die Bundesregierung in enger Abstimmung mit den Verbündeten vorbereitet, sind die folgenden: — die gemeinsame Definition von Grundsätzen zwischenstaatlicher Beziehungen einschließlich eines Gewaltverzichts; — militärische Aspekte der Sicherheit; — Maßnahmen zur Förderung wirtschaftlich-wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit, des Umweltschutzes und der kulturellen Beziehungen; — darüber hinaus legt der Westen besonderen Wert auf die schrittweise Liberalisierung des Austausches von Personen, Ideen und Informationen. Ich möchte hier nicht auf die zahllosen Einzelgesichtspunkte eingehen, die in diesen breit angelegten, auch von der östlichen Seite angesteuerten Themenbereichen eine Rolle spielen. Ich möchte lediglich darauf verweisen, daß Impulse der Zusammenarbeit etwa auf dem Gebiet der wirtschaftlich-wissenschaftlich-technischen Kooperation oder des erweiterten menschlichen Austausches in ihrer tiefgreifenden langfristigen Bedeutung erkannt werden sollten. Das bedeutet aber nicht, daß irgend jemand im Westen Illusionen hinsichtlich der zu überwindenden politischen und sachlichen Schwierigkeiten hege. Im Gegenteil, die zur Vorbereitung der KSZE erforderlichen eingehenden Analysen zeigen mit aller Deutlichkeit, wo die Hindernisse und neuralgischen Punkte einer stärkeren Zusammenarbeit in west-östlicher Richtung liegen. Aber wir sollten uns auch über den großen Wert aller Anstrengungen in dieser Richtung im klaren sein und die Konferenz — sie wird ja in absehbarer Zeit kommen — zielstrebig in dieser offensiven Weise, dabei aber mit der gebotenen Vorsicht und mit wachem Sinn für das Mögliche auszunutzen suchen." „Ich habe unter den möglichen Tagesordnungspunkten der KSZE die gemeinsame Definition von Grundsätzen zwischenstaatlicher Beziehungen genannt. Hier kommt es der Bundesregierung darauf an, die nach ihrer Uberzeugung unverzichtbaren rechtlichen Grundlagen für die Beziehungen zwischen Staaten zu formulieren und ihr gemeinsames inhaltliches Verständnis festzulegen. Es sind dies vor allem die Grundsätze der souveränen Gleichberechtigung, der politischen Unabhänggikeit, der territorialen Unversehrtheit, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates unabhängig von seinem politischen oder sozialen System, schließlich das Recht der Völker, ihr eigenes Schicksal frei von äußerem Zwang zu gestalten. 32

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Diese Grundsätze sind damit ganz unmittelbar ein Element der Stabilität, ohne das die Vertrauensbasis für eine echte Entspannung nicht entstehen kann. Die strikte und unzweideutige Respektierung dieser grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien würde jeglicher Doktrin einer begrenzten Souveränität widersprechen und sie unmöglich machen. Es ist das erklärte Ziel nicht nur der Bundesregierung, sondern aller Partner des Atlantischen Bündnisses und darüber hinaus weiterer europäischer Staaten, durch die bindende Formulierung solcher Grundsätze zwischenstaatlicher Beziehungen einen Schritt zu größerer Sicherheit in Europa zu tun. An diesem Punkt wird bereits deutlich, daß über europäische Sicherheit und Zusammenarbeit nicht sinnvoll gesprochen werden kann, ohne daß auch über die Probleme der militärischen Sicherheit und die Gefahren der militärischen Konfrontation gesprochen wird. Hier wird der Zusammenhang sichtbar, der zwischen KSZE und MBFR besteht. Beide Projekte sind Bestandteile des Versuchs, von der Konfrontation über Verhandlungen zu einem tragfähigen Modus vivendi zwischen Ost und West zu kommen." (Europa-Archiv 1972, 5 vom 15. 3.1972) Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, D r . C z a j a , Rede am 11. März in der Bonner Beethovenhalle u. a. aus:

führt in einer

„Dieses unser Ringen entspricht der satzungsgemäßen P f l i c h t des BdV. Wir haben einzutreten für die Selbstbestimmung, die Menschenredite, das Recht auf die Freiheit und für einen gerechten Frieden für Deutschland. Menschenredite, Selbstbestimmung, ein erträglicher Frieden und ein tragbarer Ausgleich stehen auch einem besiegten Volk zu! Diesen berechtigten Forderungen entsprechen die Ostverträge nicht. Sie nehmen uns a l l e s , was der Ostblock schon 1945 wollte und damals nicht zugesprochen erhielt, und geben nichts für die Deutschen und für die Menschen! So kommt man nicht zur Verständigung und zur Versöhnung! Deshalb sind wir gegen die Verträge. Nachdem wir lange gebohrt haben, gibt nun die Regierung zu: Unsere Heimat, Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Oberschlesien sollen für die Bundesrepublik Deutschland in Z u k u n f t A u s l a n d sein. Ausland für unsere Behörden, für die Gerichte, für den Unterricht. Mit der zu erwartenden, durch Formeln nur schlecht verschleierten Ungültigkeitserklärung des Münchner Abkommens von Anfang an will man auch da das Recht auf die Heimat und das Selbstbestimmungsrecht an der Wurzel treffen; und man wird damit auch den Weg zu ungeheuren Wiedergutmachungsforderungen öffnen!" „Diese Verträge machen den Frieden keineswegs sicherer. Die Bundesregierung behauptet selbst — um die Verfassungswidrigkeit der Verträge zu verschleiern —, daß sie angeblich einen Friedensvertrag nicht vorbereiten sollen. Dennoch schreibt man die Grenzen fest. Das Festschreiben der vielfachen Teilung Deutschlands, das Fortbestehen der Mauer, das Fehlen jeder Garantie für die Menschenredite, das alles dient nicht einer wirklichen Entspannung. 498

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Eine Entspannung ist auch im Ostblock nicht zu sehen. In Rumänien, in der Tschechoslowakei, in Polen herrschen Spannung und Resignation. Jugoslawien wird ein neuer Spannungsherd. In der gelenkten Presse des Ostblocks scheidet man die Deutschen in gute und böse Menschen; wer gegen die Verträge ist, der ist böse und wird verketzert. Hierzulande aber wollen die lautesten Rufer nach Versöhnung und Verständigung alle Lasten und Opfer den Ostdeutschen aufbürden. Eigene O p f e r vermögen diese R u f e r bisher n i c h t a u f z u w e i s e n . Jahrzehntelang haben die Vertriebenen schwerste Opfer gebracht. Diejenigen, die uns alle Opfer aufbürden wollen, sollten einmal zwei Jahre unter den gleichen Lebensumständen wie ihre Kollegen im Ostblock dort mit ihnen arbeiten; sie würden dann sehr viel klarer die wirkliche Lage sehen; sie würden verstehen, welche tatsächlichen Gegensätze aufzuarbeiten sind. In der Diskussion um die Verträge streitet man zuviel um nicht beweisbare Zukunftshoffnungen und prüft zu wenig, was im gleichermaßen verbindlichen deutschen und russischen oder polnischen Text steht! Nicht umsonst wird die Einsicht in die Aufzeichnungen und Protokolle vor dem Zustandekommen der Verträge verweigert. Um hierzulande zu beschwichtigen, macht man Erklärungen und Denkschriften zu den Verträgen. Auch wenn sie den Vertragsgesetzen an das Parlament beigefügt oder vorausgeschickt werden, können sie an der vertraglichen und völkerrechtlichen Tragweite der Verträge nichts ändern. Zwischen den innerstaatlichen Beschwichtigungen und der Auslegung der Verträge durch die Vertragspartner im Ostblock klafft ein unüberbrückbarer Abgrund. Sie wimmeln von Gegensätzen und Dissensen. Man behauptet, man habe nur eine Ubergangslösung, einen Modus vivendi, geschaffen; man habe Gewaltverzichtsverträge, nicht Grenzverträge abgeschlossen. Im Widerspruch dazu gibt man aber auch seitens der Regierung zu, daß der Warschauer Vertrag über einen Gewaltverzicht hinausgeht; daß sich die Bundesrepublik für heute und künftig verpflichten soll, die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze zu achten und zu schützen. Dies selbst dann, wenn die Bundesrepublik an friedensvertraglichen Verhandlungen beteiligt wäre. Es ist ganz einfach widersinnig, behaupten zu wollen, daß hier nicht zu Lasten Deutschlands über deutsches Territorium verfügt wurde! Man behauptet, der freie Teil Deutschlands könne fallweise für ganz Deutschland, aber wie ζ. B. bei den Verträgen nur für sich selbst, für die Bundesrepublik handeln. Ganz abgesehen davon, daß man dies beweisen müßte, ist es absurd, daß der freie Teil Deutschlands in einer der wichtigsten Fragen für ganz Deutschland, in der Frage des Staatsgebietes und der Grenzen, vor der Verantwortung für ganz Deutschland kneift. Es ist erschütternd zu sehen, wie sehr man diese Vertretung von ganz Deutschland ausschließlich den Siegermächten zuschieben möchte und wie wir damit immer mehr in die Situation eines besetzten Landes geraten. Gleichzeitig ermuntert man indirekt unsere Verbündeten zu einer völkerrechtlichen Anerkennung dieser Grenzen. Wir verlangen, daß dieser freie Teil D e u t s c h l a n d s in den e n t scheidenden Fragen wieder die Interessen von ganz D e u t s c h l a n d v e r t e i d i g t . Kein Wunder, wenn viele im 32*

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Westen jene Hypotheken abzuschütteln versuchen, die ihnen frühere Regierungen zusammen mit dem westlichen Bündnis für ganz Deutschland auferlegt und abgerungen haben. Besonders betroffen sind die Ostdeutschen durch den Warschauer Vertrag. Im polnisdien Text, der gleichermaßen gilt, soll sich die Bundesrepublik Deutschland zur bedingungslosen, ohne Rücksicht auf irgendjemanden einzuhaltenden Hochachtung des Territoriums Polens jenseits von Oder und Neiße für heute und künftig verpflichten. Sie unterwirft sich weiterhin der Geltung von Abmachungen, die Deutschland betreffen und die von Dritten ohne Mitwirkung der Deutschen geschlossen wurden. Dies bezieht sich vor allem auf das Potsdamer Protokoll. Seit Jahren wird dieses Protokoll von der Sowjetunion dahingehend ausgelegt, daß die darin nach russischer Ansicht vereinbarte Form der Demokratisierung* in der Bundesrepublik nicht vollzogen sei. Es sei eine Friedensstörung, daß hier angebliche Faschisten, Militaristen, Revanchisten, die Kapital- und Monopolherren nicht aus Staat und Gesellschaft beseitigt seien. Ständig wird das von Pankow, Warschau und dem Kreml wiederholt. Parallel zu dieser bedingungslosen Hochachtung vor dem Territorium und der Unberührbarkeit der Grenzen wird im russischen Text des Moskauer Vertrages der Frieden nur dann als sicher bezeichnet, wenn niemand die nach sowjetischer Auffassung bestehenden gegenwärtigen Grenzen, wie es dort wörtlich heißt, ,in Frage stellt'. Obwohl im deutschen Text von Antasten die Rede ist und nicht von Infragestellen, sprachen in der jüngsten Bundestagsdebatte sowohl der Außenminister als auch der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungspartei im Sinne des russischen Textes von Nicht-mehr-Infragestellen der Oder-Neiße-Linie. In der Note der Sowjetunion vom 5. Juli 1968 an die Bundesrepublik Deutschland will die Sowjetunion alle diejenigen, die das tun, ausdrücklich als Friedensstörer und als politische Aggressoren bezeichnet wissen. Man will uns auch die innere Meinungsfreiheit und die Vertretung der Interessen ganz Deutschlands durch solche zweiseitigen Verträge nehmen. Gegenüber dem Vertragspartner kann nicht auf innerdeutsches Verfassungsrecht verwiesen werden, wenn man es nicht in die Verhandlungen selbst eingeführt hat. Schon hat der polnische Vize-Außenminister Willmann — allerdings ist er inzwischen anderswohin versetzt worden, wie ja fast alle Architekten des Warschauer Vertrages auf polnischer Seite — die Änderung aller deutschen Gesetze, in denen von Vertreibung die Rede ist, und das Ausmerzen der Vertreibungstatbestände aus den deutschen Schulbüchern und aus dem Unterricht, also eine klare Geschichtsklitterung, verlangt. Er hat ferner die politische Eliminierung der Vertriebenenverbände gefordert. Man sagte, bei den Verhandlungen sei bekräftigt worden, Gesamtdeutschland sei dadurch nicht gebunden. Aber man hat bisher nicht bestätigt, ob bekräftigt wurde, daß auch in Zukunft, also nach einer von der Regierung geforderten, von uns abgelehnten Ratifizierung, in der Bundesrepublik Deutschland a k t i v mit friedlichen und politischen Mitteln die Verbesserung ungerechter Z u s t ä n d e für ganz Deutschland angestrebt und vertreten werden kann, ohne als Friedensstörer gebrandmarkt zu werden! 500

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Die Bundesregierung will unsere Heimat nicht mehr als deutsches Inland ansehen. Das hat tiefste Wirkungen auf unsere p e r s ö n l i c h e n und unsere Menschenrechte. Ein offener Gegensatz zwischen den Vertragspartnern besteht darüber, ab wann dies gilt. Nach polnischer Auffassung sei der Gebietsübergang sogar nach dem Potsdamer Protokoll 1945 erfolgt. Erfolgte das Unrecht der Vertreibung dann im deutschen Inland oder im polnischen Inland? Ab wann soll vor deutschen Gerichten das kommunistisch beeinflußte polnische Privat- und öffentliche Recht für Belange hier wohnender Deutscher mit Eigentum und Liegenschaften in den Oder-Neiße-Gebieten gelten? Ab wann gilt das konfiskatorische polnische Erbrecht für Erbschaften aus den Gebieten? Für die personalen, die Menschen- und Eigentumsrechte, für die Grundfreiheiten der Deutschen wurde in diesen Verträgen überhaupt nichts Positives vereinbart. Man versucht, sich mit der Erklärung aus der Schlinge zu ziehen, durch die Verträge würden die personalen Rechte der Deutschen nicht geändert. Aber es geht ja um Heilung und Wiederherstellung verletzter Menschen- und Grundrechte! Bisher gab es keine diplomatischen Beziehungen und keine völkerrechtlichen Verträge mit denen, die uns Menschen- und Grundrechte verweigern. Aber jetzt, wo man Verträge schließt, müßten eben erste Schritte zur Wiederherstellung der Rechte und zu ihrer Heilung getan werden. Es ist ein einmaliger Vorgang in der Vertragsgeschichte, daß bei der Feststellung eines solchen Gebietes als Ausland weder Option, weder Familienzusammenführung, noch Staatsangehörigkeit, noch Rechte auf Muttersprache und Erziehung der Kinder noch die Rechte auf kulturellen Zusammenschluß der Deutschen in den OderNeiße-Gebieten geregelt worden sind. Die Schutzpflichten gegenüber den hier lebenden Deutsdien und gegenüber den Deutschen in den Heimatgebieten wurden damit seitens der Regierung schwer verletzt. Es gibt eine Treuepflicht des Staates auch gegenüber seinen Bürgern. Hier ist gegen Sitte, Anstand und Grundgesetz gehandelt worden! Aber wir sagen schon heute, daß, wenn es wider unser Bemühen zur Ratifizierung käme, wir nicht nur mit legalen Mitteln anstreben wollen, diese ungerechten Verträge zu ändern, sondern daß wir auch mit Entschiedenheit die Vorrangigkeit der Entschädigung der Deutschen vor allen Wiedergutmachungsleistungen an das Ausland fordern. Der Lastenausgleich ist auch nur eine unzureichende Überbrückungsmaßnahme, wie schon seine Präambel besagt. Aber wenn man zur Normalisierung der Verhältnisse kommen will, dann darf man in keiner Weise die Versagung der Schutzpflicht für deutsche Staatsangehörige auf sich nehmen, und das hat man leider hingenommen. Man hat sich nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Schutzpflicht für deutsche Staatsangehörige in den Oder-Neiße-Gebieten nicht gesichert. Audi dies verstößt gegen das Grundgesetz. Aber ich möchte zu aktuellen Dingen noch einen Satz sagen. Es sind sehr harte und rauhe Töne heute durch den Rundfunk an unser Ohr gedrungen. Lassen Sie mich hier ganz klar sagen, wenn es um Menschenrechte geht, dann darf nicht g e h o l z t werden. Das wären ja bürgerkriegsähnliche Zustände, wenn man der Vertretung von Menschenrechten in einer solchen Sprache versuchen würde zu begegnen. Und die Menschen in den 501

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Betrieben landauf, landab, sie sollen uns in unseren Menschenrediten unterstützen. Das A und Ο jeder sozialen Bewegung liegt darin, die Mensdienredite zu schützen." „Man fragt uns immer nach Alternativen. Wir sagen ja zu einem beiderseits garantierten Gewaltverzicht, zu vertieften menschlichen, wirtschaftlichen und technologischen Beziehungen — auch unter finanziellen Opfern, allerdings nicht nur der Ostdeutschen. Pragmatische Fortschritte auf nahe Sicht sind bei den genannten Gegenständen auch für unsere Nachbarn wichtiger als vieldeutige Formeln. Auf weite Sicht muß aber die Regelung aller Fragen, die Deutschland in den Grenzen von 1937 und das Recht auf die Heimat betreffen, für einen t r a g b a r e n und gerechten A u s g l e i c h , sei es im nationalstaatlichen Sinn, sei es in einer bündischen freiheitlichen, europäisch garantierten Ordnung in umstrittenen Gebieten, solange offenblieben, bis der Ostblock im Wandel der weltpolitischen Lage bereit ist, einen solchen Ausgleich im ureigensten Interesse zu vereinbaren und einzuhalten. Dabei wollen wir selbstverständlich auch die Achtung der Würde und der Rechte unserer Nachbarn wahren. In einer geänderten Weltlage könnte unsere Heimat und könnte Mitteleuropa ohne neue Unmenschlichkeiten ein Raum wirklicher gemeinsamer Zusammenund Aufbauarbeit und des Wettbewerbs der Völker und Volksgruppen werden. Wir übersehen keineswegs, daß Rußland eine Großmacht ist und daß auch sie berechtigte Interessen hat. Aber diese Interessen können nicht die Freiheit und die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung anderer Völker vernichten. Wir unterschätzen auch die militärische Stärke der Sowjetunion nicht. Aber von der militärischen Intervention ist sie dann zurückgeschreckt, wenn die betroffenen Partner klar und geschlossen und die Bündnisse, die sie schützen, fest waren. Dies hat sich in Krisen um Berlin und Kuba gezeigt. Die großen amerikanischen Gewerkschaften CIO and AFL und zahlreiche amerikanische republikanische Politiker sprechen davon, daß durch die Verträge das Vertrauen und die Sicherheit in die Zukunft Europas erschüttert werden. Auch unsere Freunde im Westen wollen nur überschaubare und für West und Ost ausgewogene Teilregelungen. Von den Verbündeten hat sich der britische Außenminister gegen die übertriebene Eile und Hektik der Ostpolitik und gegen die Kapitulation vor der sogenannten friedlichen Koexistenz ausgesprochen. Großbritannien hat auch die Folgerungen mit der Ausweisung von über hundert Spionen gezogen. Der französische Staatspräsident Pompidou fragt dagegen mit ironischem Unterton, warum man im Westen darüber böse sein sollte, daß die Bundesrepublik in der Festschreibung der Teilung vorausgeht. Er denkt wohl daran, daß man von der Verpflichtung für deutsche Interessen befreit werde, auf denen Adenauer noch eindeutig als Grundlage des Westbündnisses bestand! Die Festigung der westeuropäischen Einigung ist nötig; aber in sie muß wieder das eingebunden werden, was früher ihr unlösbarer Bestandteil war: Unterstützung der berechtigten Anliegen auch der Deutschen, ihrer Menschenrechte und eines gerechten Ausgleichs für Deutschland. Die Entlassung unserer Verbündeten aus diesen Verpflichtungen muß gestoppt werden! Im übrigen ist die Weltpolitik in Fluß geraten!" (Deutscher Ostdienst 1972, 10/11 vom 18. 3.1972) 502

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Der Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, D r . H u ρ k a , führt in einer Rede am 11. März in der Bonner Beethovenhalle u. a. aus:

„Beide Verträge enthalten eine endgültige und völkerrechtlich verbindliche Aussage über ganz Deutschland. Im Vorgriff auf den Friedensvertrag, wann auch immer dieser möglich sein wird, sollen die Teilung Deutschlands sanktioniert, Teile von Deutschland abgetrennt und abgetreten werden. Weder das Recht auf Selbstbestimmung noch die elementaren Menschenrechte sind Gegenstand der Verträge von Moskau und Warschau. Mit den Verträgen hat Deutschland in den Grenzen von 1937 aufgehört zu bestehen. Was die kommunistische Gegenseite seit Jahr und Tag unablässig behauptet, ohne daß bis heute von uns, den freien Deutschen, und von unseren Bundesgenossen dem zugestimmt worden wäre, soll nunmehr auch deutscherseits bestätigt und obendrein bekräftigt werden. Zu dieser Besiegelung der Zerschlagung Deutschlands hat die Bundesregierung kein Mandat. Es gibt kein Mandat vom Wählerwillen dazu, denn 1969 war auch nicht der kleinste Zipfel dieser Anerkennung der Demarkationslinien als Grenzen in Deutschland und dieser Zustimmung zu der sowjetrussischen Konzeption von Deutschland zu erkennen. Wäre man mit der Vorankündigung solcher Verträge 1969 in den Wahlkampf gezogen, hätte das Wahlergebnis sicherlich ganz anders ausgeschaut. Noch einmal muß darum gesagt werden: Der Wähler ist 1969 mit ganz anderen, mit falschen Parolen von den beiden jetzt regierenden Parteien gewonnen worden. Wer redlich sein will, sollte sich, bevor er nach meinem Mandat fragt, erst einmal über die Stimmen Rechenschaft ablegen lassen, die durch diese Parolen 1969 und auch durch mich für die Regierungspartei gewonnen worden sind. Aber es gibt auch kein Mandat vom Grundgesetz her. Entsprechend dem Verfassungsgebot soll Deutschland erst noch vollendet, nicht aber in seiner gegenwärtigen Teilung fixiert werden. Da es sich in beiden Verträgen um Grenzverträge handelt, nehmen sie in Anspruch, auch wenn das aus verfassungsrechtlichen Gründen offiziell geleugnet oder zumindest verbrämt wird, friedensvertragliche Regelungen vorwegzunehmen. Da aber friedensvertragliche Regelungen verfassungsändernden Charakters sind, wäre notwendig, die Verfassungskonformität durch eine Zweidrittelmehrheit herzustellen. Schon heute, da wir uns noch mitten in der Auseinandersetzung um die Ostverträge befinden, muß auf diesen Widerspruch zwischen den Verträgen von Moskau und Warschau einerseits und unserem Grundgesetz andererseits unmißverständlich hingewiesen werden. Die Behauptung, daß all das, was in den Verträgen steht, nur für die Bundesrepublik Deutschland, nicht aber für ein wiedervereinigtes Deutschland gilt, ist offenbar nur für den innenpolitischen Gebrauch in Umlauf gesetzt worden, vor allem wohl deswegen, um vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bestehen zu wollen. Dieser sogenannte gesamtdeutsche Souverän ist eine Fiktion, eine Erfindung. Unsere Vertragspartner gehen ohnehin von den zwei Staaten in Deutschland aus. Für sie besteht gar kein gesamtdeutscher Souverän als politische Absicht oder Möglichkeit. Außerdem muß gefragt werden: Warum sollten unsere Vertragspartner überhaupt ein Interesse daran haben, daß es 503

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jemals zu einem gesamtdeutschen Souverän kommen könnte, wenn dieser gesamtdeutsche Souverän wieder in Frage stellen würde, was heute durch das Wort der Bundesrepublik Deutschland Eigentumstitel geworden ist? Hier ist das Wort des Bundesaußenministers schon ehrlicher, wenn er sagt, daß ζ. B. Polen die Gewißheit erhält, niemand in Deutschland werde die OderNeiße-Linie als Grenze in Frage stellen. Wie aber kommen wir dazu, so muß gefragt werden, etwas nicht mehr in Frage zu stellen, worüber erstens nodi kein Friedensvertrag endgültig entschieden hat, worüber zweitens die Volksrepublik Polen bis heute lediglich einen Besitzanspruch erhebt, aber keinen Eigentumstitel hat, drittens was seine gegenwärtige Existenz ausschließlich dem kommunistischen Expansionismus und polnischen Nationalismus verdankt? Wenn Expansion, Annexion und Nationalismus unter Hitler vom Übel und Verbrechen waren, und sie waren es, dann sind Expansion, Annexion und Nationalismus auch heute vom Übel und Verbrechen. Gerade wir als Demokraten sollten hier scharf zu unterscheiden wissen, weshalb es unbegreiflich bleibt, daß gerade Demokraten, denen der Widerstand gegen Hitler selbstverständliche Pflicht gewesen ist, die Pflicht in der Auseinandersetzung mit den Fakten, die der Kommunismus gesetzt hat, mit den Realitäten des Unrechts und einseitigen Machtvollzugs, hintenansetzen und vergessen. Annexion bleibt Annexion, ganz gleich, wer sich dieser Annexion schuldig gemacht hat. So wie heute das Wort von den unzumutbaren extremen Vorleistungen, wie es gestern noch zu hören war, nicht mehr gelten soll, so schweigt man heute offiziell auch zu den unseren Landleuten daheim verweigerten Menschenrechten, zu den Schikanen, denen die Aussiedlungswilligen daheim Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat ausgesetzt sind, zu der restriktiven Ausführung der sogenannten Information, die seitens der Bundesrepublik Deutschland immer als Bestandteil des Vertrages von Warschau betrachtet und behandelt worden ist. Wenn die Obhutspflicht einer jeden Bundesregierung für alle Deutsdien innerhalb Deutschlands in den Grenzen von 1937 ernst gemeint war und ist, dann muß endlich beim Namen genannt werden, was den Deutsdien in Oberschlesien und Ostpreußen widerfährt. Seit Herbst vorigen Jahres ist der Bundesregierung ein Papier bekannt, in dem polnischerseits Maßnahmen zur Verhinderung oder zumindest Verlangsamung der Aussiedlung niedergelegt worden sind. Noch nicht einmal der dafür zuständige Bundestagsausschuß hat bisher davon etwas erfahren. Um so häufiger wird indes unsere Öffentlichkeit mit beschönigenden Berichten, die alles andere denn die Wahrheit enthalten, abgespeist. Warum werden die wahren Verhältnisse bezüglich der Aussiedlungsprozedur verschwiegen, warum stimmen die Berichte von daheim sowenig mit dem überein, was hierzulande verlautbart wird. Daß Diktaturen um der Propaganda willen Lügen verbreiten, ist hinlänglich bekannt. In der Demokratie sollte aber zuerst der Wahrheit die Ehre gegeben werden, ehe Propaganda getrieben wird. Wir wollen die Wahrheit über die Aussiedlung wissen, wir hier und die Deutschen in der Heimat! Aber man speise uns nicht damit ab, daß man erklärt, nach einer möglichen Ratifizierung der Verträge werde alles besser werden. An Wunderwaffen zu glauben, haben wir uns alle längst abgewöhnt! 504

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,Menschenrechte halten wir für unveräußerlich', so ist es soeben erst wieder höheren Orts verkündet worden. Wo aber bleiben die Menschenrechte? Sind sie nicht bereits längst veräußert worden, indem man sie erst gar nicht in den Vertragstext eingefügt hat und sie auch heute gegenüber der Volksrepublik Polen erst gar nicht in Anspruch genommen werden?" (Deutscher Ostdienst 1972, 10/11 vom 18. 3.1972 Bundeskanzler B r a n d t 17. März u. a. aus:

führt vor der Pressekonferenz in Stuttgart am

„Ich will nur feststellen: Es wäre verhängnisvoll, wenn wir uns von einer Politik abbringen ließen, die auf nichts anderes abzielt, als die Freundschaft mit dem Westen durch Verständigung mit dem Osten zu ergänzen. Ich rechne mit der Mehrheit — so wie wir die Mehrheit in 200 voraufgegangenen Fällen erzielt haben —, wenn Anfang Mai im Bundestag über die Verträge abgestimmt wird. Die Wahlen hier in Baden-Württemberg entscheiden mit darüber, ob diese Entscheidung durch den Bundesrat respektiert oder angefochten wird. Jeder sollte wissen: Die Verträge sind wichtig für Frieden und Zusammenarbeit in Europa, für die außenpolitische Position der Bundesrepublik, nicht zuletzt für Berlin. Die Gefahren einer Vertrauenskrise und einer Isolierung müssen abgewendet werden. Denn dies wäre die Rückkehr in eine Vereinsamung Deutschlands, in der das Leben eiskalt würde." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21. 3.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , führt in einer Erklärung vor der Pressekonferenz in Stuttgart am 17. März u. a. aus:

„Vielleicht darf ich nun ein Wort zu einem aktuellen Problem sagen. Sie kennen die offizielle Mitteilung der sowjetischen Regierung über den Brief zur deutsdien Einheit. Herr Dr. Schröder nannte diese Mitteilung der sowjetischen Regierung rechtlich unerheblich. Ich hätte ihm etwas mehr Gespür dafür zugetraut, daß diese Mitteilung politisch von erheblicher Bedeutung ist. Ich habe während der Moskauer Verhandlungen im Sommer 1970 den sowjetischen Außenminister auf unser politisches Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit nachdrücklich hingewiesen, und ich habe ihm dann den Brief zur deutschen Einheit angekündigt, in dem wir sagten, daß wir eine Politik betreiben, die auf einen Zustand des Friedens in Europa gerichtet ist, in dem Deutschland durch freie Selbstbestimmung seine Einheit wiederfinden kann. Das sowjetische Außenministerium hat den Eingang dieses wichtigen Briefes bestätigt, übrigens im Gegensatz zu dem Eingang des einseitigen Briefes von Konrad Adenauer im Jahre 1955, der nicht bestätigt worden ist. Die Sowjetunion hat unseren Feststellungen, die in diesem Brief getroffen wurden, nicht widersprochen; das steht ebenfalls im Gegensatz zu dem Verhalten im Jahre 505

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1955, wo unmittelbar anschließend durch die Regierung der Sowjetunion dem Inhalt dieses Briefes in allen Punkten widersprochen worden ist. Die rechtliche Bedeutung unseres Briefes als Instrument, das zu dem Vertragswerk gehört, ist vollkommen unbestritten. Die völkerrechtliche Wirkung einer solchen einseitigen Feststellung hatte im übrigen Dr. Adenauer im Jahre 1955 im Deutschen Bundestag erläutert. Insofern brauchten wir auf die Frage der Opposition zur völkerrechtlichen Bedeutung meines Briefes über die deutsche Einheit nur zurückzugreifen auf die Erläuterungen, die Bundeskanzler Adenauer zu einer Rechtswirkung eines solchen Briefes im Deutschen Bundestag abgegeben hatte. Dies mag mitgeholfen haben, daß diese Rechtswirkung nicht bestritten wird. Sie ist aber auch weltweit nicht bestritten. Insofern hat Herr Dr. Schröder recht, wenn er sagte, daß die zusätzliche Mitteilung rechtlich nicht erheblich sei; denn die rechtliche Wirkung dieses Briefes ist bekannt. Die sowjetische Regierung ist bereit, das hat sie uns in ihrer Mitteilung zur Kenntnis gebracht, dem Obersten Sowjet im Verlauf der Ratifikationsberatung in Moskau von diesem Brief Kenntnis zu geben. Wer die politische Bedeutung dieses Vorgangs nicht sehen kann, der will sie möglicherweise nicht erkennen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21. 3.1972) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 17. März eine Anfrage des Abgeordneten E n g e l s b e r g e r ( C D U / C S U ) schriftlich wie folgt:

„Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom 17. März 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Engelsberger (CDU/ CSU) (Drucksache VI/3243 Frage A 102): Warum hat die Bundesregierung die Erklärung des sowjetischen Deutschlandexperten Valentin Bereshkow, daß die Nichtratifizierung der Ostverträge ,schlimme Folgen' haben und die Möglichkeit sogar eines ,heißen Krieges' nicht ausschließen würde, nicht sofort und energisch als unzulässige Einmischung in die politische Entscheidungsfreiheit eines souveränen Staates und eines frei gewählten Parlaments zurückgewiesen, und muß nicht die wiederholte Beteuerung der Bundesregierung, ,die Verträge werden ratifiziert', als Ursache für die sowjetische Haltung gesehen werden? Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie sich, wenn es erforderlich wird, gegen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland zu wehren weiß. Das gilt ganz besonders für die Entscheidungsfreiheit des Deutschen Bundestages. Bundesminister Genscher hat erst kürzlich gegenüber der Presse zum Ausdruck gebracht, daß er ,bestimmte ausländische Stimmen* zur Haltung der Opposition gegenüber den Ostverträgen für unangebracht und unangemessen' halte. Allerdings mehren sich auch im westlichen Ausland die Stimmen, die sehr unglückliche Folgen voraussagen, falls die Verträge scheitern sollten. Die Bundesregierung hält es nicht für sachlich gerechtfertigt, derartige Äußerungen in 506

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jedem Einzelfall als Einmischung in die inneren Angelegenheiten unseres Landes zurückzuweisen. Auch unsere Politiker und unsere Presse nehmen für sich in Anspruch, politische Entscheidungen in anderen Ländern zu kommentieren und gegebenenfalls recht weitreichende Betrachtungen über die Folgen derartiger Entscheidungen anzustellen. Im Falle des sowjetischen Deutschlandexperten Bereshkow lagen widersprüchliche Meldungen über seine Äußerungen in Berlin (West) vor. Die Berichte von dpa und der Berliner ,Morgenpost' (Springer) wichen voneinander ab. Das Auswärtige Amt hat sich sofort um eine authentische Unterrichtung über die Äußerungen Bereshkows bemüht. Sie sehen danach weit weniger bedenklich aus, als es aufgrund der ersten Presseberichte den Anschein hatte." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 179. Sitzung, 17. 3.1972) Der Generalsekretär des Z K der KPdSU, B r e s c h n j e w , führt in einer Rede auf dem 15. Kongreß der sowjetischen Gewerkschaften am 20. März in Moskau u. a. aus:

„Europa steht gleichsam an der Schwelle einer neuen Etappe. Die Ideen des Friedens, der Sicherheit und der Entwicklung einer umfassenden vielfältigen Zusammenarbeit finden bei einer immer größeren Anzahl von Staaten Anerkennung und Unterstützung. Die Friedensinitiativen sozialistischer Länder haben geholfen, eine Situation zu schaffen, in der es möglich wird, die Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom praktischen Standpunkt aus zu untersuchen. Die Lösung dieser Fragen ist eine Aufgabe von großem historischem Ausmaß. Eine wichtige Rolle muß dabei die europäische Arbeiterklasse, darunter auch ihre Gewerkschaften, spielen. Im Interesse der europäischen Sicherheit haben wir, wie Sie wissen, vorgeschlagen, eine gesamteuropäische Staatenkonferenz einzuberufen. In Europa gibt es wohl keine Staaten mehr, die sich nicht zu dieser oder jener Form zur Durchführung einer Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit geäußert haben. Diesem Vorschlag hat Kanada zugestimmt. Wie aus einem Bericht Präsident Nixons an den amerikanischen Kongreß zu ersehen ist, unterstützen auch die USA deren Einberufung. Nun gilt es, über die Fristen der Abhaltung der Konferenz zu entscheiden und gemeinsam die Hauptrichtungen ihrer Arbeit festzulegen. Ihre diesbezüglichen Vorschläge haben die sozialistischen Länder in der Deklaration über Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dargelegt, die auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags in Prag angenommen wurde. Die sozialistischen Länder setzen sich konsequent für die Entwicklung gegenseitig vorteilhafter Beziehungen mit den Staaten des kapitalistischen Teils Europas ein. Auch auf diesem Gebiet sind spürbare Resultate erzielt worden. Das gilt besonders für Frankreich, Finnland und die skandinavischen Länder. Wesentliche positive Veränderungen treten in unseren Beziehungen zu der Bundesrepublik Deutsdiland ein. Sie sind möglich geworden dank der Unterzeichnung des Vertrags zwischen der UdSSR und der BRD wie auch des Vertrags zwischen Polen und der BRD. 507

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Zur Zeit ist der Ratifizierungsprozeß für diese Verträge im Gange. Die entsprechenden Beratungen finden im Obersten Sowjet der UdSSR, im Sejm der Volksrepublik Polen und in den legislativen Organen der BRD statt. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Ratifizierung des Vertrags zwischen der UdSSR und der BRD ein qualitativ neues, bedeutend fruchtbares Stadium in der Entwicklung der sowjetisch-westdeutschen Beziehungen auf den verschiedensten Gebieten herbeiführen würde. Das würde unserer Meinung nach nicht nur den Interessen der UdSSR und der BRD entsprechen, sondern auch eine sehr große Bedeutung für die Festigung des Friedens in Europa haben. Rund um die Ratifizierung der Verträge ist in der Bundesrepublik ein recht scharfer Kampf entbrannt. Es fanden sich Politiker, die gegen die Verträge auftreten und sogar bestrebt sind, schon die Möglichkeit einer wirklichen Versöhnung und der Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der BRD und den sozialistischen Ländern in Zweifel zu ziehen. Worauf sind nun die Gegner der Verträge aus? Sie machen aus ihren Plänen kein Hehl. Ihrer Meinung nach sind die Verträge nicht gut, weil darin die Unverletzbarkeit der europäischen Grenzen festgelegt wird, und sie deuten an, diese Vertragsartikel sollten ,revidiert1 werden. Ist es aber etwa nicht klar, daß die Gegner der Verträge für Verhandlungen über eine Grenzrevision keine Gesprächspartner haben und haben werden? Das ist sowohl heute als auch in Zukunft kein Diskussionsgegenstand. Die Grenzen der sozialistischen Länder sind unverrückbar, und die Verträge spiegeln in dieser Hinsicht nur die bestehende Realität wider. Die Gegner der Verträge verhehlen nicht, daß sie die Souveränität der DDR schwächen möchten. Auch in dieser Hinsicht möchten sie die Vergangenheit wiederbeleben. Die Deutsche Demokratische Republik geht bereits seit fast einem Vierteljahrhundert zuversichtlich den sozialistischen Weg. Sie ist ein aktiver Teilnehmer am heutigen internationalen Leben. Wer dies nicht sehen und die erforderlichen Konsequenzen nicht ziehen will, kann seine Politik nur in eine Sackgasse führen. Es ist längst an der Zeit, zu begreifen, daß es keine wirkliche Normalisierung der europäischen Lage gibt und geben kann, wenn die Stellung der DDR als unabhängiges souveränes sozialistisches Land nicht in vollem Maße berücksichtigt wird. Die BRD steht jetzt vor einer schwerwiegenden Entscheidung, die die Geschichte ihres Volkes und die Einstellung der anderen Staaten zu ihr auf viele Jahre hinaus bestimmen wird. Das ist die Wahl zwischen Zusammenarbeit und Konfrontation, zwischen Entspannung und Verschärfung der Spannungen, letzten Endes die Wahl zwischen der Politik des Friedens und der des Krieges. Was die Sowjetunion betrifft, so gehen wir an die Verbesserung der Beziehungen zur BRD aufrichtig und ernst heran, obwohl dies für unser Land aus begreiflichen Gründen keine einfache Frage ist. Im Gedächtnis der Sowjetmenschen ist noch die Erinnerung an das Elend des vergangenen Krieges und die Leiden lebendig, die die hitlerfaschistische Aggression unserem Volk zugefügt hat. Wir sind aber der Ansicht, daß die schwere Vergangenheit nicht für immer ein unüberwindliches Hindernis für die Entwicklung unserer Beziehungen zu Westdeutschland bleiben darf. Wir ziehen es ferner in Betracht, daß die 508

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Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung für eine Verbesserung der Beziehungen mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern eintritt." (Neues Deutschland, 21. 3.1972) Der polnische Ministerpräsident J a r o s z e w i c z am 29. März u. a. aus:

führt vor dem Sejm

„Polen ist bei seinem Bestreben nach Festigung der Sicherheit in Europa und nach der Entfaltung der gesamteuropäischen Zusammenarbeit bereit, mit allen Regierungen und politischen Kräften zusammenzuarbeiten, die sich von analogen Absichten leiten lassen. Die zunehmenden Wandlungsprozesse bahnen sich einen Weg trotz der noch aktiven Gegner der Entspannung und Normalisierung der Beziehungen. Dieser positive Prozeß kommt vor allem in der Anerkennung der in Europa bestehenden Grenzen zum Ausdruck, was in den Verträgen vollzogen wurde, die zwischen der Sowjetunion, Polen und der Bundesrepublik unterzeichnet wurden. Von wichtiger Bedeutung ist das Abkommen der vier Großmächte über Westberlin, das Abkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik sowie zwischen der DDR und Westberlin. Ein Beweis für die Billigung der von den sozialistischen Staaten gemachten Vorschläge zur Schaffung eines Sicherheitssystems ist die allgemeine Unterstützung für die Idee der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit sowie die Aktivierung der bilateralen Beziehungen, darunter politischer Kontakte, unter den europäischen Staaten. Wir erwarten, daß die zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Sowjetunion und Polens unterzeichneten Verträge ratifiziert und in Kraft treten werden. Das liegt, wie davon gestern von dieser Tribüne der 1. Sekretär der PVAP, E. Gierek, sprach, nicht nur im Interesse der Normalisierung der Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern und der Bundesrepublik, sondern auch im Interesse der Sicherheit der Völker und Staaten Europas. Die Einstellung zu den Verträgen ist ein Maßstab des Herangehens an die Schlüsselprobleme des Friedens, der Sicherheit und der Zusammenarbeit. Gegen die Verträge auftretende politische Kräfte und einzelne Politiker in der Bundesrepublik müssen sich klar darüber sein, daß das Setzen auf die Karte des Kalten Krieges den Entspannungsprozeß in Europa hemmt. Sie führen die eigene Öffentlichkeit irre, wenn sie verkünden, daß es Möglichkeiten einer Neuverhandlung über die abgeschlossenen Verträge gäbe. Eine solche Möglichkeit gibt es nicht, da man den Verlauf der Ereignisse nicht rückgängig machen und auch nicht auf Angelegenheiten zurückkommen kann, die schon längst entschieden worden sind. Diejenigen, die demagogische Behauptungen über die Möglichkeiten eines Feilschens mit Polen aufstellen, vergessen, daß das polnische Volk für seine Freiheit und Unabhängigkeit den höchsten Preis gezahlt hat, daß die Grenze an der Oder-Neiße wie auch die Grenze der sozialistischen Gemeinschaft an der Elbe und Werra unverletzlich sind und immer völlig gesichert bleiben werden." (Ost-Informationen, 30. 3.1972) 509

Herbert G. Marzian Bundeskanzler

Brandt

führt in einem Interview mit der Moskauer

Zeitung „Iswestija" am 5. April u. a. aus:

„Frage: Die Regierung der BRD hat an das Parlament die Verträge mit der UdSSR und mit der Volksrepublik Polen zur Ratifikation zugeleitet. Der Ministerrat der UdSSR unterbreitete seinerseits dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR zur Ratifikation den am 12. August 1970 in Moskau unterzeichneten Vertrag mit der BRD. Was können Sie, Herr Bundeskanzler, über die Entwicklung des Prozesses der Ratifizierung in der BRD sagen und wann rechnet man in Bonn mit seinem Abschluß? Antwort: Es gibt im Prozeß der Ratifizierung gewissermaßen zwei Ebenen. Die zuständigen Ausschüsse des Parlaments beraten die Verträge intern mit großer Sorgfalt. Jeder Satz, jedes Wort wird auf seine Bedeutung abgeklopft und diskutiert, unter rechtlichen und politischen Gesichtspunkten. Zusammenhänge mit anderen außenpolitischen Entwicklungen und Verpflichtungen werden eingehend erörtert. Gleichzeitig wird eine öffentliche Debatte geführt. Sie hat einen Umfang und eine Leidenschaftlichkeit, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland nur selten erlebt haben. Ähnlich war es bei der Debatte über die Westverträge in den frühen fünfziger Jahren. Nachdem der erste Durchgang im Bundes r a t und die erste Lesung im Bundes t a g im Februar erfolgt waren und die Ausschüsse im April ihre Arbeiten abgeschlossen haben werden, wird es in der ersten Mai-Woche zu der eigentlichen politischen Entscheidung im Bundestag kommen. Es ist kein Wunder, daß über den Vertrag von Moskau eine so umfassende und leidenschaftliche Auseinandersetzung stattfindet. Dies entspricht der Bedeutung des Vertrages. Dies macht deutlich, daß mit dem Vertrag wirklich ein neues Blatt in der Geschichte der Beziehungen zwischen unseren Staaten aufgeschlagen werden soll. Die Geschichte der Feindseligkeiten und des Mißtrauens wirkt nach, auf beiden Seiten. In der Sowjetunion sind die Leiden des Krieges gewiß nicht vergessen. Bei uns kommen die Fragen hinzu, die sich aus der Teilung der deutschen Nation ergeben. Im Grunde geht es jedoch um die Frage, ob wir auf beiden Seiten die Kraft und den Mut haben, einen Grundstein des Vertrauens zu legen und darauf ein Gebäude sachlicher Zusammenarbeit zu errichten. Ich bin überzeugt, daß über die Prüfung vieler Einzelheiten und Formulierungen hinweg der Ratifizierungsprozeß sich immer mehr auf die Grundfragen konzentrieren und zuletzt darüber entschieden wird. Frage: Wie stellen Sie sich die Entwicklung der Beziehungen der BRD mit der Sowjetunion nach der Ratifikation des Vertrages vor? Antwort: Ich unterscheide drei Phasen. Die Zeit vor der Unterzeichnung des Vertrages war, um es milde zu sagen, durch schlechte Beziehungen gekennzeichnet. Seit der Unterzeichnung des Vertrages haben die führenden Männer auf beiden Seiten bereits begonnen, ihre Absichten zu normalen und guten Beziehungen in die Tat umzusetzen. Die Gespräche, die ich im September vergan510

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

genen Jahres mit Generalsekretär Breschnew in Oreanda hatte, sind dafür ein Beispiel. Nach der Ratifizierung werden wir eine solide Grundlage für die weitere Entwicklung haben. Es wird ein großer Fortschritt sein, wenn die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion ohne sensationellen Anstrich sein werden, wie man es zum Beispiel für die Beziehungen zwischen Frankreich und der Sowjetunion sagen kann." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 7. 4.1972) Bundesminister Prof. Dr. E h m k e führt auf dem Jugendpolitischen Kongreß des Deutschen Bundesjugendrings in Stuttgart am 6. April u. a. aus:

„Ebenso wie die Kirchen haben die Jugendorganisationen in der BRD seit vielen Jahren Vorarbeit für die Aussöhnung mit den osteuropäischen Völkern geleistet. Als die sozialistische Jugend Berlins und danach die Gewerkschaftsjugend sowie die Landesjugendringe ihre ersten Fahrten nach Auschwitz und Lidice unternahmen, setzten sie Zeichen für den Willen junger Deutscher zur Verständigung, ohne zu verdrängen, was vorausgegangene Generationen angerichtet hatten. Bahnbrechend für die Bereitschaft zur Aussöhnung waren die Denkschrift der EKD über ,Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinem östlichen Nachbarn* vom November/Dezember 1965, der Briefwechsel zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen im November/Dezember 1965 und schließlich das Memorandum des sogenannten jBensberger Kreises* zum deutsch-polnischen Verhältnis vom 2. März 1968. Um die Vorarbeit der Jugend und der Kirchen namentlich bei der Aussöhnung mit dem polnischen Volk zu würdigen, hat der Bundeskanzler im Dezember 1970 Vertreter von Jugendorganisationen eingeladen, ihn zur Unterzeichnung des Vertrags mit der Volksrepublik Polen nach Warschau zu begleiten. Vertreter der evangelischen und der katholischen Jugend sind der Einladung ebenso gefolgt wie Vertreter der Gewerkschaftsjugend und anderer Jugendorganisationen.** (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 7. 4.1972) Die S c h l e s i s c h e L a n d e s v e r s a m m l u n g verabschiedet auf ihrer Plenarsitzung vom 8.—9. April zu Stuttgart die folgende Erklärung:

„Die Schlesische Landesversammlung fordert in Übereinstimmung mit der Landsmannschaft Schlesien die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, den von der Bundesregierung zur Ratifikation vorgelegten Verträgen mit der sowjetischen Regierung und der Regierung der Volksrepublik Polen die Zustimmung zu versagen. Unaufgefordert und freiwillig trifft die Bundesregierung in den am 12. August 1970 in Moskau und am 7. Dezember 1970 in Warschau unterschriebenen Ver511

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trägen Feststellungen, die zumindest von den Vertragspartnern verstanden werden als Verzicht auf Ost- und Westpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, die Grenzmark Posen/ Westpreußen, Nieder- und Oberschlesien, auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes, auf die Wiederherstellung Deutschlands in dem von allen Siegermächten in den Potsdamer Erklärungen gesetzten Rahmen, entgegen den Vereinbarungen mit unseren Verbündeten im Deutschlandvertrag und vor allem gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, auf die Anwendung anerkannter Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte, auf die Möglichkeit in friedensvertraglicher Regelung die Folgen des Krieges endgültig und sachgerecht zu beseitigen. Die Bundesregierung drängt damit mehr als 1,1 Millionen deutsche Mitbürger aus dem deutschen Staatsverband hinaus. Sie überläßt diese Deutschen ohne Sicherung der Menschenrechte fremder Oberhoheit. Sie überantwortet damit auch die in Unfreiheit lebenden Mitbürger Mitteldeutschlands dem ihnen aufgezwungenen kommunistischen Regime. Die Schlesische Landesversammlung und die Landsmannschaft Schlesien erklären vor dem deutschen Volk, den Regierungen der Staaten, mit denen Deutschland von 1939 bis 1945 Krieg geführt hat und den Institutionen der Weltfriedensorganisationen, insbesondere den Vereinten Nationen : Schlesien ist ein Teil Deutschlands, das als Völkerrechtssubjekt nach den Erklärungen von Potsdam vom 2. August 1945 fortbesteht. Die in Nieder- und Oberschlesien lebenden Deutschen sind deutsche Staatsangehörige ! Wir freien Schlesier erklären: Keine Regierung und kein Parlament besitzen das Recht, über Schlesien oder über unsere in Schlesien lebenden Landsleute zu verfügen. Wir Schlesier erinnern den Deutschen Bundestag an seine mit Zustimmung des Bundesrates abgegebene einmütige, heute noch geltende Erklärung vom 13. Juni 1950: ,Niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preiszugeben oder eine Politik des Verzichts zu treiben. Die Regelung dieser wie aller Grenzfragen Deutschlands, der östlichen wie der westlichen, kann nur in einem Friedensvertrag erfolgen, der von einer demokratisch gewählten deutschen Regierung als ein Vertrag der Freundschaft und der guten Nachbarschaft mit allen Nationen baldigst geschlossen werden muß/ Diese Rechtswahrung für Schlesien wissen wir eingebunden in das gesamtdeutsche Nachkriegsschicksal. Unser Ziel ist die Wiederherstellung der Einheit 512

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Deutschlands in Frieden und Freiheit und seine Einbeziehung in eine freiheitlich-demokratische europäische Gemeinschaft. Dabei werden wir nach Kräften zu einem friedlichen Ausgleich mit unseren östlichen Nachbarvölkern beitragen. Wir wissen, daß die durch die Nachkriegsentwicklung unter die Hegemonie der Sowjetdiktatur geratenen Völker zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ebenfalls ihre demokratische Selbstdarstellung in einem freien Europa anstreben und handeln auch in Verantwortung für die Freiheit aller unterdrückten Völker. Dauerhafter Friede erwächst nur aus der Sicherheit des Rechts!" (Der Schlesier, 13. 4.1972) Der sowjetische Außenminister G r ο m y k o führt vor den außenpolitischen Ausschüssen der Obersten Sowjets der Sowjetunion über den Moskauer Vertrag am 12. April u. a. aus:

„Der Hauptsinn des Vertrags zwischen der UdSSR und der BRD", sagte Gromyko, „besteht darin, daß er die erforderliche politische Grundlage für eine radikale Wende in den sowjetisch-westdeutschen Beziehungen, für die allseitige Entwicklung dieser Beziehungen schafft. Das würde den lebenswichtigen Interessen sowohl der Völker der UdSSR und der BRD wie auch der anderen europäischen Völker entsprechen, die nach Entspannung, nach Gewährleistung des Friedens und Sicherheit streben. Kein Zufall, daß die Unterzeichnung des Vertrags überall in der Welt weitreichenden positiven Anklang auslöste. Die Unterzeichnung des Vertrags war für die Sowjetunion keine einfache Angelegenheit. Um die volle Bedeutung dieses Schrittes und das grundsätzlich Neue, das sich aus ihm ergibt, richtig einzuschätzen, lohnt es sich, in die Vergangenheit zurückzublicken und sich daran zu erinnern, wie sehr die Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD im Ergebnis der von Hitler-Deutschland gegen unser Land vom Zaune gebrochenen Aggression belastet waren und wie sie sich in der Nachkriegszeit gestalteten." „Die Politik der regierenden Kreise der BRD war bekanntlich vom Augenblick der Entstehung dieses Staates an auf die Untergrabung der Grundlagen der europäischen Sicherheit gerichtet, verfolgte das Ziel, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges einer Revision zu unterziehen. Die Politik vergiftete beständig das Klima in Europa und erschwerte die Bemühungen der europäischen Völker um die Festigung des Friedens und der Sicherheit auf dem Kontinent. Die Politik dieser Kreise der BRD, die sich auf die Wiederrichtung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 orientierten, mußte zwangsläufig einen entschiedenen Widerstand und eine Gegenwirkung seitens derjenigen auslösen, die für den Frieden eintraten und mit der Waffe in der Hand gegen die faschistischen Aggressoren gekämpft hatten. Begreiflicherweise blockierten derartige Bestrebungen die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik und ließen sowohl im Osten als auch im Westen ein berechtigtes Mißtrauen der BRD gegenüber entstehen. 33

Königsberg

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Es war eine hoffnungslose und von vornherein zum Scheitern verurteilte Politik. Europa war nicht gewillt, sein Schicksal mit den Plänen derjenigen zu verknüpfen, denen die Revanchegier auch heute den Verstand nimmt, die im Banne der durch die historische Entwicklung längst durchkreuzten und durch die Völker abgelehnten Begriffe leben. Trotz des Widerstandes der Kreise, die als Träger revanchistischer Ansichten auftreten, bahnte sich die Entspannung den Weg. Dieser Prozeß begann ohne die BRD und gegen die BRD. Der Moskauer Vertrag war in diesem Sinne, was die BRD anbelangt, ein verspäteter Tribut an das, was schon vor vielen Jahren geschehen mußte, wenn in der Politik der BRD der notwendige Schuß Realismus vorhanden gewesen wäre." „Die Sowjetunion hat schon früher wiederholt ihre Bereitschaft zu einer Normalisierung und Verbesserung der Beziehungen mit der Bundesrepublik bekundet. Wodurch ist damals eine Einigung verhindert worden? Sie wurde dadurch verhindert, daß sich Kräfte, die die Politik der BRD einschließlich ihrer Europa-Politik bestimmten, weigerten, die grundlegenden Realitäten des heutigen Europa anzuerkennen. Eben diese Realitäten bilden aber die Basis, auf der die Sowjetunion und die Bundesrepublik miteinander friedlich koexistieren und im Interesse des Friedens zusammenarbeiten können. Die Vergangenheit in der Politik machte sich auch im Verlauf der Verhandlungen über den Vertrag bemerkbar, aber letzten Endes triumphierte der Realismus. Der Vertrag bildet die unter den gegenwärtigen Verhältnissen einzig mögliche Bilanz zwischen den Interessen beider Partner. Er fixiert das Gemeinsame in ihrem Standpunkt, das sich im Ergebnis der schwierigen und langwierigen Verhandlungen herauskristallisiert hatte. Der Vertrag fußt voll und ganz auf dem Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten. Ich verstoße nicht gegen die Wahrheit, wenn ich sage, daß dieses Prinzip darin konsequenter und exakter verkörpert ist als in einer Reihe anderer wichtiger von der Bundesrepublik abgeschlossener Verträge. Das ist schon allein daraus ersichtlich, daß weder die eine noch die andere Seite etwas, was sie faktisch besitzt, preisgibt. Die Sowjetunion erhält auf Kosten der BRD nichts hinzu, und die BRD erhält ihrerseits nichts auf Kosten der Sowjetunion oder anderer sozialistischer Länder hinzu. Als Grundlage wird die reale Situation genommen, die auch ohne den Vertrag bestand und die weder von der Anerkennung noch von der Nichtanerkennung, durch wen es immer sei, abhängt. Der Vertrag ist nicht gegen Drittländer gerichtet und fügt den Freunden und Verbündeten der Vertragspartner keinen Schaden zu. Er steht in Einklang mit dem Trachten der Völker der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland nach friedlicher Zusammenarbeit und dient den langfristigen Interessen der Festigung der europäischen Sicherheit." Sodann befaßte sich der Redner eingehend mit dem konkreten Inhalt des Vertrags. Er stellte fest, daß das Kernstück des Vertrags die Verpflichtungen der Parteien in der territorialen Frage bilden, wie sie in Artikel drei dargelegt sind. In diesem Artikel heißt es, daß die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland „heute und künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachten, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrags verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volks514

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

republik Polen bildet, und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsdien Demokratischen Republik*, und daß „sie keine Gebietsansprüche gegen irgend jemand haben und solche in Zukunft auch nicht erheben werden." Das sind Bestimmungen von grundsätzlicher Bedeutung, denn die Grenzfrage ist im Grunde genommen die Frage des Krieges oder des Friedens, das Zentralglied der europäischen Sicherheit. Nur wenn die Standpunkte der Parteien in dieser Frage klar und eindeutig sind, kann von der Gestaltung der Beziehungen zur BRD auf einer zuverlässigen Grundlage des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses die Rede sein. Laut Artikel zwei des Vertrages verpflichten sich beide Seiten, ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen und sich in Fragen, die die Sicherheit in Europa und die internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Die Sowjetunion, betonte Gromyko, ließ sich auf die Verpflichtung über die Nichtanwendung von Gewalt in den Beziehungen mit der BRD ein, weil sie sich vom Wunsch leiten ließ, in den Wechselbeziehungen mit diesem Staat eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Dabei wurde in Betracht gezogen, daß die BRD laut Vertrag die Verpflichtung einging, sich an den bestehenden Grenzen nicht zu vergreifen, die europäischen Realitäten anzuerkennen, sich in die Angelegenheiten anderer Staaten nicht einzumischen, ihre Interessen zu respektieren, kurz und gut, Verständnis für die Notwendigkeit an den Tag legte, den europäischen Frieden zu festigen. Die Sowjetunion folgte immer strikt diesen Prinzipien und will auch künftig so handeln. „Die große Bedeutung des Vertrags von Moskau", verzeichnete Gromyko, „besteht unbestreitbar auch darin, daß er zur Durchsetzung des Prinzips des Gewaltverzichts im gesamteuropäischen Maßstab durch Übernahme entsprechender vertraglicher Verpflichtungen beiträgt. Die Sowjetunion und die Bundesrepublik gehören bekanntlich zu den hochentwickelten Industriestaaten der Welt. Kein Zweifel, daß man durch Vereinigung der Anstrengungen bei der Ausnutzung der dem Industrie- und Wirtschaftspotential der UdSSR und der BRD, dem Reichtum ihrer nationalen Kulturen innewohnenden Möglichkeiten große Vorteile für die Völker unserer Länder, aber auch der anderen europäischen Staaten erzielen könnte. Diesem wichtigen Umstand trägt der Moskauer Vertrag, in dem die „Entschlossenheit beider Partner" zur Verbesserung und Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen ihnen . . . einschließlich der wirtschaftlichen Beziehungen sowie der wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Verbindungen „zum Ausdruck gebracht wird, voll und ganz Rechnung". Gromyko verwies dabei auf solche Richtungen dieser Zusammenarbeit wie den Abschluß von umfangreichen langfristigen gegenseitig vorteilhaften Wirtschaftsabkommen und Kontrakten, den Ausbau der Kooperierung in der Produktion, die eventuelle Beteiligung auf gegenseitig vorteilhafter Grundlage der Firmen aus der Bundesrepublik am Abbau von Bodenschätzen in der UdSSR 33*

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und der damit zusammenhängenden Errichtung neuer Industriekomplexe, den großzügigen Austausch von wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, darunter auf dem Gebiet der Weltraumforschung, der elektronischen Datenverarbeitung usw., die beträchtliche Erweiterung des Handelsverkehrs. „Im Zuge der Verhandlungen", stellte ferner Gromyko fest, „wurde in einer Reihe von Fragen der europäischen Politik gegenseitige Verständigung erzielt, was in einem besonderen Papier, in einer Einigung über die Absichten der Parteien, seinen Niederschlag gefunden hat. Bei dieser Einigung handelt es sich namentlich um die Gestaltung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland auf Grundlage der vollen Gleichberechtigung und ohne Diskriminierung, um Schritte, die zur Aufnahme der BRD und der DDR in die UNO beitragen sollen, um die Regelung zwischen der BRD und der CSSR, der mit der Ungültigkeit des Münchner Abkommens zusammenhängenden Fragen." Sodann unterrichtete der Außenminister die Mitglieder der Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten beider Häuser des Obersten Sowjets der UdSSR über den Brief des Außenministers der Bundesrepublik, den die sowjetische Seite am 12. August 1970, am Tag der Vertragsunterzeichnung, erhalten hat und in dem die Ansichten der westdeutschen Seite in Fragen der Selbstbestimmung dargelegt wurden. Die Deputierten machten sich mit dem Wortlaut des Briefes vertraut. „In den seit Unterzeichnung des Vertrags von Moskau verstrichenen mehr als anderthalb Jahren", meinte Gromyko, „bestätigte sich voll und ganz, wie rechtzeitig und richtig der von der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland im August 1970 vollzogene Akt war. Die Vertragsunterzeichnung übte bereits sowohl auf die Lage in Europa wie auch vor allem auf die Beziehungen der BRD zu einer Reihe von sozialistischen Ländern einen günstigen Einfluß aus. Nach dem Vertrag von Moskau wurde der Vertrag der BRD mit Polen unterzeichnet, ein Vertrag, der die Grundlage für die Normalisierung und Entwicklung der Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten schafft." (Sowjetunion heute, Bonn, Mai 1972) Bundesminister Prof. Dr. E h m k e schreibt in einem Beitrag für die Gewerkschaftspresse unter der Uberschrift „Opposition und Ost-Ver träge" u. a.:

„Nationalistische Phrasen vom »Ausverkauf Deutschlands' oder dem ,SuperVersailles' können Argumente nicht ersetzen. Die ängstlichen Beschwörungen, keine Unterschrift in Moskau zu leisten, bevor das Berlin-Abkommen gesichert sei, haben sich als gegenstandslos erwiesen, die eindeutige Interpretation des sowjetischen Außenministers zur Frage der sogenannten Interventionsklauseln der Satzung der Vereinten Nationen hat audi die Diskussion darüber praktisch beendet und die Behauptung von Reparationen und anderen Milliardenbeträgen, die die Verträge uns kosten würden, ist mit Recht bald von niemandem mehr ernstgenommen worden. 516

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Diese Liste ließe sich fortsetzen. Aber wichtiger scheint mir, was gegenwärtig die Argumentation der CDU/CSU kennzeichnet. Da gibt es zunächst das Ausweichen vor einer klaren Antwort auf zwei grundsätzliche Fragen: — Ist die Opposition dafür oder dagegen, daß die deutsche Politik künftig vom territorialen Status quo ausgeht? — Ist die Opposition im Ernst gegen das Berlin-Abkommen? Von der ersten Frage hängt ab, was die Vertriebenen einerseits und die Polen andererseits — aber auch unsere Verbündeten — aus den widersprüchlichen Äußerungen der Opposition herauslesen dürfen. Verlangt sie die Ostgebiete zurück oder hat sie verstanden, daß eine derartige Politik das Ende jeder Hoffnung auf Entspannung in Europa und auf jeglichen Fortschritt in der deutschen Frage wäre? Von der zweiten Frage hängt ab, ob die Opposition es mit ihrer Forderung nach Sicherheit für Westberlin und nach Erleichterungen im geteilten Deutschland ernst meint. Am 3. November 1970 hat die Bundestagsfraktion der CDU/ CSU vier Forderungen an eine befriedigende Berlin-Regelung gestellt: Sie müsse — den Berlinern Vertrauen geben, — die Zugänge störfrei machen, — die Zusammengehörigkeit des freien Berlin mit dem freien Deutschland garantieren durch Sicherung der gewachsenen Bindungen, die Anwesenheit des Bundes in Berlin und die Vertretung der Westsektoren nach außen durch die Bundesregierung, — die Beseitigung der Diskriminierung der Westberliner im innerstädtischen und internationalen Verkehr enthalten. Dies alles und noch mehr wird nach Inkrafttreten des Viermächte-Abkommens und der deutschen Ausfüllungsvereinbarungen erreicht sein. Aber die Opposition sagt »nein* statt zu ihrem Wort zu stehen und die von ihr selbst genannten Voraussetzungen als erfüllt zu bezeichnen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 13.4.1972) I n der F r a g e s t u n d e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 14. April wird eine Anfrage des Abgeordneten G i u l i n i wie folgt beantwortet:

„Vizepräsident Frau Funcke: Keine weiteren Zusatzfragen. Dann rufe ich die Frage 118 des Herrn Abgeordneten Giulini auf: Kann die Bundesregierung mit der UdSSR verbindlich vereinbaren, daß die Erwähnung des Artikels 2 der Uno-Charta auf die Gesamtverbindlichkeit der Uno-Charta hinweist und damit auch das in dieser Uno-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht aller Völker und ihrer Menschen? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordneter, es ist eines der Ziele der Vereinten Nationen — ich zitiere, 517

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freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichheit und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln. So, wie ich es zitiert habe, sagt es Art. 1 Nr. 2 der Charta der Vereinten Nationen.

Wenn die Bundesrepublik Deutschland und die UdSSR in Art. 2 des Moskauer Vertrages, der diesem Hohen Hause zur Zustimmung vorliegt, vereinbaren, daß sie sich — ich zitiere — in ihren gegenseitigen Beziehungen sowie in Fragen der Gewährleistung der europäischen und internationalen Sicherheit von den Zielen und Grundsätzen, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, leiten lassen werden, so ist damit die Achtung vor dem Grundsatz der Gleichheit und Selbstbestimmung der Völker auch im gegenseitigen Verhältnis beider Staaten in bezug genommen. Ebenso bestätigt die Bezugnahme auf die Ziele und Grundsätze der Charta im zweiten Präambelabsatz, daß das Selbstbestimmungsrecht auch bei der Gestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen gilt. Der in Ihrer Frage, Herr Abgeordneter, angesprochene Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen behandelt demgegenüber die Grundsätze, nach denen die Vereinten Nationen und ihre Mitglieder in Verfolg der in Art. 1 der Charta dargelegten Ziele handeln. Hierher gehören insbesondere die Verpflichtung zur friedlichen Streitregelung, Art. 2 Nr. 3, das Gewaltverbot, Art. 2 Nr. 4, und das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Art. 2 Nr. 7 der Charta der Vereinten Nationen. Art. 2 der Charta ist deshalb in Art. Satz 2 des Moskauer Vertrages, der den eigentlichen Gewaltverzicht enthält, besonders hervorgehoben worden. Eine bilaterale Vereinbarung mit der Sowjetunion über die Gesamtverbindlichkeit der UNO-Charta erschien der Bundesregierung dagegen nicht angezeigt; denn die Charta der Vereinten Nationen insgesamt mit allen ihren Rechten und Pflichten kann nur für die Mitglieder der Vereinten Nationen verbindlich sein. Sie kann für die Bundesrepublik Deutschland also nur dadurch verbindlich werden, daß wir den Vereinten Nationen beitreten.* (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 181. Sitzung, 14. 4.1972) Der V I . Kongreß der O s t d e u t s c h e n Landesvertretungen verabschiedet am 15. April in Bad Godesberg eine Resolution, die folgenden Wortlaut hat: „Wir stellen fest:

Moskau wertet die Ostverträge als Anerkennung seiner Vorherrschaft über andere Völker und seiner imperialistischen Eroberungen. Warschau sieht sich als Souverän Ostdeutschlands bestätigt. Ost-Berlin nutzt die Aufwertung als ,zweiter deutscher Staat* hinter dem Schein jederzeit widerrufbarer humaner Gesten zu verstärkter politischer Abgrenzung. Durch die Ostverträge werden Demarkationslinien zu Grenzen; damit verfestigen sie die Teilung Deutschlands und Europas. 518

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Sie legalisieren die Verletzung von Menschenrechten und überlassen Millionen unserer Mitbürger wie audi unserer osteuropäischer Nachbarn der Willkür kommunistischer Diktaturen. Die Bundesregierung weist sowjetische Einmischung nicht zurück, sie bedient sich der Drohung ,Frieden oder Krieg', um das Selbstbewußtsein des eigenen Volkes zu schwächen, um Angst an die Stelle von Vernunft und Beharrlichkeit zu setzen. Sie wehrt dagegen nicht jenen Kräften, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Die Bundesregierung handelt unverantwortlich: Sie verweigert die Einsichtnahme in die Verhandlungsunterlagen und täuscht die Öffentlichkeit mit der Behauptung, die Ostverträge stellten lediglieli eine vorläufige Regelung dar. Die Bundesregierung will sogar mit kleinster parlamentarischer Mehrheit über Schicksalsfragen der Nation entscheiden. Sie entzieht sidi der Pflicht, für ganz Deutschland und alle seine Mensdien zu handeln. Gemeinsam mit allen staatsbewußten Bürgern werden wir audi künftig dem Verfassungsgebot folgen und für jene Deutschen, denen mitzuwirken versagt ist, handeln, um in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Daher fordern

wir:

Achtung vor dem Grundgesetz und damit entschlossenen Kampf für die Selbstbestimmung der Deutschen statt Anerkennung fremder Gewalttat, Wahrung der inneren Freiheit und des inneren Friedens in unserem Rechtsstaat, eine Außenpolitik für ganz Deutschland und alle seine Bürger in voller Loyalität zu den Zielen des freien, vereinigten Europas, die Ablehnung der Ostverträge in der vorliegenden Fassung. Wir sagen Ja zum Frieden aber Nein zur Unfreiheit!"

(Deutscher Ostdienst 1972, 15 vom 5. 5.1972) Das Präsidium des B u n d e s d e r V e r t r i e b e n e n nimmt zur ostpolitischen Erklärung der 25 führenden evangelischen Theologen und Laien wie folgt Stellung:

„Die Befürwortung der Ratifizierung der Ostverträge durch einen Kreis hochgestellter Amtsträger und prominenter Laien der evangelischen Kirche dient nicht dem Frieden und der Versöhnung, sondern stiftet Unfrieden und Zwiespalt im deutschen Volke. Die Erklärung fällt der Stellungnahme des Rates der EKD in den Rücken, der sich Enthaltsamkeit in der Sache der Ostverträge mit der Begründung auferlegt hat, daß die Kirche nicht in der Lage sei, Voraussetzungen und Folgen der Ostpolitik besser zu beurteilen als die zur Entscheidung berufenen Politiker. 519

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Obwohl die Befürworter der Ostverträge ihre Stellungnahme als private Meinung ausgeben, berufen sie sich auf ,die Kirche', insbesondere auch auf die EKD-Denkschrift über ,die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn' (Ostdenkschrift) vom Jahre 1965, die sie zum Teil mit angeregt und unterzeichnet haben. Diese Denkschrift ging kalt über das den Vertriebenen angetane Unrecht hinweg und redete zwar wortreich von der Verbesserung der Eingliederung, ohne daß die Verfasser indes bis heute irgendeinen Beitrag in dieser Richtung geleistet haben. Die Folge waren jahrelang anhaltende leidenschaftliche Auseinandersetzungen, Spaltungstendenzen und Kirchenaustritte, insbesondere aus den Reihen der enttäuschten Vertriebenen. Nachdem sich die Synode von der Denkschrift des EKD-Rates weitgehend distanziert hatte, fanden klärende und nützliche, bis in jüngste Zeit anhaltende Gespräche zwischen der neuen EKD-Führung und dem BdV über Grundsatzfragen einer konstruktiven Friedenspolitik statt. Die parteiische Stellungnahme der fünfundzwanzig Protestanten zu Gunsten der Anerkennungsverträge, wiederum ohne Rücksicht auf die von den Verträgen besonders hart getroffenen Vertriebenen, trägt nicht zur Klärung der Lage und zur Verständigung dieser beiden großen gesellschaftlichen Gruppen bei. Der BdV gibt jedoch der Erwartung Ausdruck, daß sich die verantwortungsbewußten und besonnenen Kräfte in der EKD gegenüber den opportunistischen und Zwiespalt säenden Kräften zu Nutzen und Frommen des inneren und äußeren Friedens durchsetzen werden. Die Unterzeichner des Aufrufs haben zur weiteren Polarisierung in unserem Volke, dazu auch innerhalb der Kirche, beigetragen und der Sache des inneren Friedens im Volk und in der Kirche einen schlechten Dienst erwiesen. Das liegt nicht im christlichen Auftrag. Der Spaltung der EKD in Gesamtdeutschland droht nunmehr, die Spaltung in der Bundesrepublik zu folgen." (Deutscher Ostdienst 1972, Nr. 14 vom 15. 4.1972) Bundeskanzler B r a n d t am 16. April u. a. aus:

führt in einem Interview mit dem Südwestfunk

„Frage: Sie haben Ihre Bereitschaft angedeutet, daß der Bundestag bei der Ratifizierung der Ostverträge eine Grundsatzerklärung über den deutschen Standpunkt abgeben könne, die freilich keine neue Präambel sein solle und auch keine Resolution, wie Sie gesagt haben, wohl im Sinne eines deutschen Selbstbetruges. Wozu soll eine solche Erklärung dienen und wem soll sie nützen? Antwort: Ich habe nicht einen Vorschlag für die Regierung gemacht. Ich habe eine Idee erörtert, die vielleicht aufgegriffen wird. Ich weiß es nicht. Vielleicht wird sie im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages oder durch zwei Fraktionen noch aufgegriffen werden; das kann ich nicht übersehen. Ich kam nicht erst jetzt, sondern schon vor einiger Zeit zu dieser Idee, weil manche in der Diskussion gesagt haben, das, was man Ostpolitik nennt, müsse im Verhältnis zu den sonstigen tragenden Elementen unserer auswärtigen Politik deutlich ge520

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macht werden, wie auch, wenn man so will, die Einordnung dessen, was man Ostpolitik nennt, in die Westpolitik, in die übrigen tragenden Elemente unserer Politik. Dies könnte man, wenn man es will, in einer Grundsatzerklärung viel besser und viel deutlicher als in einer nodi so schönen Präambel sagen. Dies ist ja eine andere Form, über die viel diskutiert worden ist, wogegen idi aber mehrere Bedenken habe; denn der Vertrag hat schon eine Präambel, und es käme dann noch eine Präambel vor die Präambel, mit dem Nachteil außerdem, daß diese natürlich nur einseitig sein könnte, denn in ihr könnte man das, was über den Zusammenhang zwischen West- und Ostpolitik zu sagen ist, nicht so deutlich sagen." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 18.4.1972) Das B u n d e s k a b i n e t t

verabschiedet am 19. April die folgende Er-

klärung:

„1. Entstellte Bruchstücke aus den Gesprächsauf Zeichnungen der Verhandlungen von Moskau sind durch kriminelle Akte des Vertrauensbruchs und der Fälschung an die Öffentlichkeit gelangt. Die Opposition hat diesen Vorgang politisch unterstützt, insbesondere ihr Führer Dr. Barzel. Die Bundesregierung verurteilt dies aufs schärfste. 2. Die Bundesregierung wiederholt: Es gibt keine geheimen, zwischen den beiden Regierungen abgestimmte Protokolle oder sonstige geheimen Vereinbarungen. Wer dies behauptet, lügt. Zum Vertragswerk von Moskau gehören der Vertrag selbst, der Brief des Bundesaußenministers zur deutschen Einheit sowie der Notenwechsel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westmächten. Diese Texte sind schon vor Jahr und Tag veröffentlicht worden. Sie sind jedermann jederzeit zugänglich. 3. Die Opposition ist vor Beginn der Verhandlungen des Bundesaußenministers ebenso wie die SPD- und FDP-Fraktion schriftlich aufgefordert worden, einen Vertreter zu den Verhandlungen nach Moskau zu entsenden. Die Opposition hat dies abgelehnt. Sie hat sich somit geweigert, sich von Anfang an über den Gang der Verhandlungen zu unterrichten und darauf einzuwirken. 4. Dessen ungeachtet ist die Opposition über den Vertragsinhalt und die Vertragsverhandlungen umfassend unterrichtet worden. Diese Unterrichtung ist durch Beamte geschehen, die selbst an den Verhandlungen teilgenommen haben und unter Amtseid stehen. Sie haben in den Ausschüssen des Bundesrats und des Bundestags erschöpfend und wahrheitsgemäß Rede und Antwort gestanden. Wer entstellten und verfälschten Bruchstücken von Papieren mehr Glauben schenkt als diesen loyalen Beamten, der erschüttert das Vertrauen in unseren Staat und disqualifiziert sich. 5. Besonders schwerwiegend ist, daß die jüngsten Veröffentlichungen Äußerungen der sowjetischen Verhandlungspartner einbeziehen, konkret solche von Mi521

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nisterpräsident Kossygin und Außenminister Gromyko. Wer solche Äußerungen unautorisiert und entstellt wiedergibt, belastet die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland. 6. Die Opposition unter Führung von Herrn Dr. Barzel hat sich in den letzten Tagen zunehmend auf das kriminell beschaffte Material gestützt. Es ist unvermeidlich, daß sie sich dadurch in den Verdacht bringt, gemeinsame Sache mit Fälschern und das Gemeinwohl gefährdenden Fanatikern zu machen. Das Minimum an Gemeinsamkeit zwischen den politischen Parteien, ohne das die Bundesrepublik nicht bestehen kann, wird dadurch in Frage gestellt. 7. Die Bundesregierung bedauert diese, unser aller Ansehen beeinträchtigenden Handlungen. Sie appelliert an jeden Bürger, sich von solchen Machenschaften zu distanzieren und seinen persönlichen Beitrag zu leisten, damit der innenpolitische Frieden und der außenpolitische Handlungsspielraum des Landes gewährleistet bleiben. Die Bundesregierung hat durch ihre Entspannungspolitik erste greifbare Erfolge erzielt. Die Verträge von Moskau und Warschau sind erste Schritte auf dem Wege zum Abbau der Spannungen und zum Beginn einer Zusammenarbeit unter allen europäischen Völkern. Die ganze Welt sieht darin unseren Beitrag zu einer stabilen, gesicherten Friedensordnung. Dies darf nicht aufs Spiel gesetzt werden." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 21. 4.1972) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, D r . B a r z e l , Debatte des Deutschen Bundestages am 26. April u. a. aus:

führt in der

„Und zu Moskau: Wir übersehen nicht die geringfügige Bewegung Moskaus und Ost-Berlins auf einen Teil unserer Forderungen hin. Dies sind Zeichen dafür, daß hier nicht mit Geduld ausverhandelt worden ist. Dies sind Zeichen eines nicht voll ausgenutzten Handlungsspielraums und Folgen der Festigkeit und der Geschlossenheit der CDU/CSU in diesem Hause. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe, Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen, allen Anlaß, davon auszugehen, daß die Sowjetunion zwischen dem Scheitern der Verträge und dem Hinausschieben der Entscheidung sehr wohl unterscheidet. Die nachhaltige Gesprächsbereitschaft der Sowjetunion mit jeder deutschen Bundesregierung in der Zeit vor dem Scheitern ist ebenso unbestreitbar wie der Wille, auf jeden Fall ein Arrangement zu bekommen. Ich beziehe mich auf das, was der Kollege Schröder früher von dieser Stelle gesagt hat. Und es ist doch so, Herr Bundeskanzler, daß Ihr engster Mitarbeiter dies auch sehr gut weiß und sagt. Herr Bahr gestern: ,Es wird bei einem Erfolg des CDU-CSU-Mißtrauensvotums zunächst einen Stopp in den Verhandlungen mit der DDR geben/ — Dies ist klar. Eine neue Regierung braucht ein paar Wochen, sich hier vorzustellen. Dies heißt »zunächst'. Aber es wird weiter gesprochen, und es wird hier, meine Damen und Herren — daran kann kein Zweifel sein — weiter Friedenspolitik gemacht werden." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 182. Sitzung, 26. 4.1972) 522

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l ,

führt in der Debatte des

Deutschen Bundestages am 26. April u. a. aus:

„In diesem Zusammenhang soll noch einmal gesagt werden, weil Herr Dr. Barzel darauf eingegangen ist, daß in der Tat die Verträge, die wir mit der Sowjetunion und mit Polen abgeschlossen haben, Verträge sind, die man mit dem Begriff Modus vivendi charakterisieren kann und charakterisieren muß. Das ist nicht etwa ein Gedanke, der ganz neu ist. Ich erinnere mich daran, daß nach der Berlin-Krise, nämlich dem Bau der Mauer und dem anschließenden krisenhaften Zustand 1962, der damalige Bundeskanzler Adenauer in seinem Gespräch mit Kennedy, als er seine Reise in die Vereinigten Staaten machte, zum erstenmal gerade den Gedanken mit einem westlichen Partner besprochen hat, ob man nicht mit Hilfe eines Gewaltverzichtsvertrages das Problem der Grenzen einschließlich der DDR und der Berliner Frage, soweit das mit ,Grenze' zu bezeichnen ist, in der Art eines Modus vivendi regeln könne, solange es keinen Friedensvertrag gebe. Genau das haben wir getan, denn es ist ja unbestreitbar: es gibt keinen Friedensvertrag, und niemand hat behauptet oder wird behaupten, daß die Verträge, die wir abgeschlossen haben, Friedensverträge seien. Niemand kann das behaupten oder wird das behaupten. Und was ist'dann das, was wir abgeschlossen haben, sonst als eine Regelung, die unter den Begriff Modus vivendi zu fassen ist?" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 182. Sitzung, 26. 4.1972) Der Abgeordnete D r . S c h r ö d e r Bundestages am 27. April u. a. aus:

führt in der Debatte des Deutschen

„Wir sind hier sicherlich nicht in einer zweiten Vertragsdebatte. Ich muß aber zwei Dinge herausgreifen, die gestern vom Bundeskanzler und Bundesaußenminister zwischen vielen anderen Tehmen behandelt worden sind. Der eine Streit geht um die Frage, ob die Verträge von beiden Seiten in derselben Weise aufgefaßt werden. Sie hängt eng mit der Frage der Einsichtnahme in die Unterlagen zusammen. Diese bestehen, wie wir von dem Bundeskanzler selbst wissen, aus zwölf Aktenordnern, sind also nicht etwariesig.Ursprünglich hatte sich die Regierung gerühmt, mehr genaue Information und wirkliche Einsicht zu gewähren als irgendeine Regierung vor ihr. Heute sträubt sie sich dagegen unter Berufung auf die angebliche internationale Praxis und die Gefährdung ihrer internationalen Handlungsfähigkeit. Sie verschweigt, daß ihr von uns angeboten worden ist, die Einsichtnahme unter Geheimschutz zu vollziehen. Die Regierung hat aber selbst Stücke aus den Unterlagen in der Ratifizierungsdrucksache veröffentlicht. Ich stütze mich hier auf die Bundestagsdrucksache VI/3156. Dort heißt es zur Frage der Anerkennung der Grenzen — Äußerung des sowjetischen Außenministers —: Zur Frage der Anerkennung der Grenzen: Wir sind Ihnen entgegengekommen in der Grenzfrage, als wir den B e g r i f f Anerkennung fallen gelassen haben. Das war für uns ein sehr komplizierter und politisch schmerzhafter Prozeß. 523

Herbert G. Marzian

Nun hören Sie ein einziges weiteres Zitat aus den von der Bundesregierung selbst veröffentlichten Unterlagen. Es sind hier die Ost-Informationen vom 13. April. Dort wird Gromyko im Obersten Sowjet von dem Abgeordneten Abusow gefragt: Einige Vertreter der CDU/CSU haben erklärt, daß der Vertrag zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland sich auf Bestimmungen bezüglich des Verzichts auf Gewaltanwendung beschränken sollte. Was könnten Sie zu dieser Auslegung der Frage sagen? Die Antwort Gromykos: Der Vertrag wäre für die Sowjetunion einfadi sinnlos, wenn sich sein Inhalt auf die Verpflichtung der Vertragspartner beschränken würde, auf Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung zu verzichten, während die Bundesrepublik Deutschland fortfährt, die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen der Bundesrepublik Deutschland in Europa in Frage zu stellen. Die Normalisierung der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Ländern ist nur auf der Grundlage der Anerkennung und Respektierung der europäischen Realitäten durch die Bundesrepublik möglich. Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, daß Sie diese Zitate so sorgfältig angehört haben, wie das die Sache verlangt. Sie zeigen ganz klar den Weg, den die Bundesregierung vor Moskau und in Moskau gegangen ist. Wir wollen die Sache jetzt nicht im Licht der Verfassung weiter beleuchten. Ich bin mir auch wegen morgen und übermorgen der Notwendigkeit bewußt, möglichst d i e Auslegung zu wählen, die die deutschen Interessen am ehesten wahrt, auch unter Umständen, für die wir zwar keine eigene Verantwortung tragen, aber als Deutsche möglicherweise haften müssen. Jedem sollte jetzt verständlich sein, daß sich die Opposition nicht damit zufrieden geben kann, daß ihr die Regierung Auskunft zu geben bereit ist. An den Kern ist eben nicht oder nicht mehr durch Auskunft, sondern nur durch die tatsächliche Einsichtnahme in die genannten zwölf Ordner heranzukommen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 183. Sitzung, 27. 4. 1972) Bundeskanzler B r a n d t am 27. April u. a. aus:

führt in der Debatte des Deutschen Bundestages

„Lassen Sie mich gleich ein Wort hinzufügen zu den zahlreichen Sympathiekundgebungen dieser Tage, für die ich mich herzlich zu bedanken habe. (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) Ich habe gestern gesagt — und ich meine, dies sei verstanden worden —, worüber nur hier im Bundestag entschieden werden kann und was gleichwohl die Meinung der Bürger aus gegebenem Anlaß bedeutet. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn man aus obrigkeitsstaatlicher Gesinnung von der Straße spricht oder wenn man, wie es in einer Parteiverlautbarung geschehen ist, den Frauen und Männern, die sich anders als nur vor dem Fernsehapparat zu ihrer Regierung bekennen — so stand es in einer Parteiverlautbarung; ich finde es eine Schande —, ein Bratkartoffelverhältnis zur Demokratie unterstellt. (Pfui-Rufe von der SPD.) 524

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Bei denen, die sich dieser Tage zu Wort melden, handelt es sich um mündige Bürger und um engagierte junge Menschen, ohne die unser Staat sehr viel ärmer sein würde. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Der Beschluß der CDU/CSU, die Regierung stürzen zu wollen, entspricht einer Möglichkeit, die die Verfassung bietet, und er ist sowohl machtpolitisch als auch psychologisch nicht schwer zu verstehen. Wenn Sie mir zum letzteren ein Urteil erlauben: Dies ist der Versuch einer Flucht nach vorn, heraus aus der Unverantwortlichkeit eines sterilen Nein zu Schicksalsfragen unseres Volkes, aber mit dem Risiko des Hinein in eine Verantwortung, deren Bitterkeit Sie spüren würden. Denn Dr. Barzel und seine Freunde würden in diese Verantwortung ja nur gelangen, wenn ihnen das Ja von ein paar Mitgliedern dieses Hohen Hauses zufallen sollte, von denen man würde sagen können, sie hätten ihre Gewissenhaftigkeit bis zur Unkenntlichkeit strapaziert. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU: Pfui — Unerhört!)" (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 183. Sitzung, 27. 4.1972) Der polnische Außenminister O l s z o w s k i über den Vertrag von Warschau u. a. aus:

führt im Sejm am 27. April

„Der Text des Abkommens ist den Abgeordneten des Hohen Hauses und der ganzen Bevölkerung bekannt. Ich beschränke mich daher nur darauf, an seine wichtigsten Bestimmungen zu erinnern. Der sachliche Inhalt des Abkommens wird von seinem Titel, seiner Einleitung und seinen vier Artikeln ausgedrückt. Die Einleitung knüpft an die Vergangenheit an und stellt u. a. fest, daß Polen das erste Opfer des Zweiten Weltkrieges war. Sie führt dann die Motive an, von denen sich die vertragschließenden Seiten leiten ließen. Dies sind — die Notwendigkeit der Gewährleistung einer friedlichen Zukunft für die neue Generation, die in beiden Ländern seit der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auf gewachsen ist; — das Bestreben zur Schaffung dauerhafter Grundlagen für die friedliche Koexistenz und die Entwicklung normaler guter Beziehungen zwischen beiden Staaten; — das Bestreben nach der Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa. Ein wichtiger Teil der Einleitung ist die gemeinsame Uberzeugung der vertragschließenden Seiten, daß die grundlegenden Bedingungen des Friedens die Unantastbarkeit der Grenzen und die Respektierung der territorialen Integrität sowie der Souveränität aller Staaten Europas in ihren gegenwärtigen Grenzen sind. Einen zentralen Platz nehmen im Vertrag die Beschlüsse über die polnische Westgrenze, die Unantastbarkeit der Grenzen und der Verzicht auf territoriale Ansprüche ein. Dies ist für uns das grundlegende Anliegen. Wir standen kon525

Herbert G. Marzian

sequent auf dem Standpunkt, daß vom Abschluß eines Vertrags mit der Bundesrepublik Deutschland keine Rede sein kann, der irgendwelche Zweifel bezüglich der Unantastbarkeit und des endgültigen Charakters unserer Westgrenze offenließe. Der Abschluß eines Vertrags, welcher nur den Verzicht auf Gewaltandrohung und -anwendung enthalten würde, wäre verfehlt. Wir unterscheiden uns von der Brandt-Regierung nicht in der Erkenntnis der Notwendigkeit der Respektierung des Prinzips des Verzichts auf Gewalt und Gewaltandrohung in den internationalen Beziehungen. Wir waren uns immer der riesigen Bedeutung dieses Prinzips und seiner Respektierung in den zwischenstaatlichen Beziehungen bewußt. Eine gewöhnliche Bekräftigung dieses Prinzips im Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland würde jedoch in unsere Beziehungen keine neuen Elemente einbringen. Der Gewaltverzicht gewinnt seinen eigentlichen Sinn und seine Bedeutung nur auf der Grundlage der Anerkennung der Unantastbarkeit der Grenzen und der Respektierung der territorialen Integrität. Die Feststellung, die die Haltung der vertragschließenden Seiten zur polnischen Westgrenze zum Ausdruck bringt, ist in Artikel I enthalten und lautet wie folgt: ,Die Volksrepublik Polen und die Bundesrepublik Deutschland stellen übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie, deren Verlauf in Kapitel 9 der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der Lausitzer Neiße und die Lausitzer Neiße entlang bis zur Grenze mit der Tschechoslowakei festgelegt worden ist, die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet/ Hier verdienen folgende Elemente unterstrichen zu werden: 1. Die vertragschließenden Seiten stellen übereinstimmend fest, daß die polnische Westgrenze in Kapitel 9 des Potsdamer Abkommens geregelt worden ist. 2. Die vertragschließenden Seiten stellen übereinstimmend fest, daß die bestehende Grenzlinie die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen darstellt. Dies bekräftigt den Umstand, daß die bestehende Grenze eine festgelegte und gefestigte Staatsgrenze darstellt. Die Feststellung bezüglich des Verlaufs und des Charakers der polnischen Westgrenze wurde zusätzlich durch Beschlüsse bekräftigt, die die Unantastbarkeit der Grenzen, die Respektierung der territorialen Integrität und den Verzicht auf territoriale Forderungen vorsehen. Diese Beschlüsse wurden weiter mit der Feststellung bekräftigt, daß sie für beide Seiten jetzt und in Zukunft verbindlich sind und ferner, daß beide Seiten keinerlei Gebietsansprüche gegeneinander haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. Die Bestimmungen des Artikels I des Vertrags beseitigen das Haupthindernis, welches bisher die Normalisierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland verhinderte. Artikel I I bestimmt, daß die Grundlage der gegenseitigen Beziehungen die Ziele und Grundsätze sein werden, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt worden sind. Hier handelt es sich auch um solche Prinzipien wie 526

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

die souveräne Gleichheit der Staaten, die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen auf dem Boden des guten Willens, die friedliche Schlichtung von Streitfällen, das Verbot der Gewaltandrohung und -anwendung. In Artikel I I I haben sich die vertragschließenden Seiten verpflichtet, »weitere Schritte zur vollen Normalisierung und umfassenden Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen (zu) unternehmen1. Auf diese Weise wurde die Ubereinstimmung der Ansichten zum Ausdruck gebracht, daß das Inkrafttreten des Vertrags und seine Verwirklichung die weitere Entwicklung der polnisch-westdeutschen Beziehungen bedingt. Im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrags werden beide Seiten bestrebt sein, die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten zu intensivieren, was — wie betont worden ist — im gemeinsamen Interesse beider Seiten liegt. Der Vertrag bestimmt die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Jede der vertragschließenden Seiten besitzt frühere vertragliche Verpflichtungen. Diese früheren Verträge dürfen durch diesen Vertrag nicht beeinträchtigt werden. Daher stellt Artikel IV des Vertrags fest, daß er die früher von den vertragschließenden Seiten unterzeichneten und auch andere auf sie bezogene Verträge nicht berührt. In dieser Feststellung ist die Verbindlichkeit der Verträge über die Festlegung der Westgrenze Polens (Potsdamer Abkommen, Abkommen von Görlitz) enthalten, was bedeutet, daß die bilateralen und multilateralen Bündnisse und andere von Polen mit den sozialistischen Ländern unterzeichneten Abkommen in keiner Weise geschwächt werden. Dieses sind die Hauptbestimmungen des Vertrags, der in seinem Wortlaut als dauerhafte Grundlage für die gemeinsamen Beziehungen bezeichnet wird. Hohes Haus, ich möchte nachdrücklichst betonen, daß der Vertrag die einzige annehmbare Plattform für unsere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland darstellt. Wir sind an dem Inkrafttreten des Vertrags interessiert und sind bereit, in gutem Willen seine Bestimmungen zu verwirklichen. Im Einklang mit Artikel I I I des Vertrags werden wir weitere Schritte unternehmen, um die Zusammenarbeit zu erweitern und eine volle Normalisierung in den Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland herbeizuführen. Wir werden aber niemals und mit niemandem irgendwelche Verhandlungen aufnehmen, die auf die Schwächung oder Unterhöhlung der Bestimmungen des Vertrags ausgerichtet sein würden." „Die Unterzeichnung des Vertrags zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland wurde sowohl von der Öffentlichkeit und den Regierungen Europas als auch durch viele Übersee-Staaten mit Genugtuung und Hoffnung begrüßt. Der Vertrag wurde als wichtiger Schritt auf dem Wege der Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa, als Ankündigung der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen anerkannt. Dieser Vertrag steht im Einklang mit der heute allgemeinen Bestrebung der Völker Europas und der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Regierungen nach Entspannung, nach der Liquidierung der Folgen und Überbleibsel des 527

Herbert G. Marzian

Kalten Krieges, nach der Überwindung der künstlichen Barrieren, die unseren Kontinent spalten, und nach der Einleitung des Aufbaus eines Systems der Sicherheit, das einen dauerhaften Frieden und eine harmonische Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Staaten gewährleisten würde. Bei der Entwicklung der positiven Prozesse in Europa spielten die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft, die Festigung ihrer politischen, ökonomischen und militärischen Position, ihre konsequente friedliche Außenpolitik auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz und der Zusammenarbeit mit den Staaten anderer gesellschaftlicher und ökonomischer Systeme eine entscheidende Rolle. Der Prozeß der Entspannung und Entwicklung der Ost-West-Beziehungen in Europa wurde ohne die Bundesrepublik Deutsdiland und sogar — wie bereits betont worden ist — entgegen der Politik der Bundesrepublik Deutschland eingeleitet. Die gegenwärtige Brandt-Scheel-Regierung sowie die realistisch eingestellten Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland verstehen, daß im Interesse der Bundesrepublik Deutschland selbst ihre Einbeziehung in die Strömung der Entspannung und Zusammenarbeit in Europa liegt. Wir hatten wiederholt Meinungsunterschiede in einigen Problemen, doch wir nehmen eine wohlwollende Haltung zu allen denjenigen Anstrengungen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ein, die darauf ausgerichtet sind, einen Beitrag für die Entspannung und Normalisierung in Europa zu leisten. Ein Ausdruck dieser Politik der Regierung der Bundesrepublik Deutschland war die Unterzeichnung der Verträge mit der Sowjetunion und mit Polen. Der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 besitzt eine grundlegende Bedeutung für die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den sozialistischen Ländern. Seine Bedeutung beruht darauf, daß er die Anerkennung der Unantastbarkeit der gegenwärtigen territorial-politischen Landkarte Europas zum Fundament der Normalisierung und Entwicklung der gesamteuropäischen Beziehungen gemacht hat. Der Moskauer und der Warschauer Vertrag haben, obwohl sie noch nicht in Kraft getreten sind, bereits viele positive Folgen für die Lage in Europa gezeigt. Vor allem wurde die allgemeine Tendenz zur Entspannung in unserem Erdteil gefestigt. Zwischen den vier Großmächten wurde eine Vereinbarung in der Frage West-Berlins unterzeichnet. Die erfolgreiche Verwirklichung dieser Verembarungen wird viele Spannungsquellen in dieser neuralgischen Region Europas beseitigen. Das günstige Klima für die Einleitung der Vorbereitung einer gesamteuropäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit hat sich gefestigt. Es gibt gegenwärtig alle Voraussetzungen dafür, um zur Phase der praktischen Vorbereitungen dieser Konferenz überzugehen, deren Einberufung von allen interessierten Regierungen befürwortet wird. Die Unterzeichnung der Verträge hat die Grundlagen für bedeutsame positive Veränderungen in den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten geschaffen." (Europa-Archiv 1972, 13, D 315—318) 528

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Der polnische Außenminister O l s z o w s k i „Prawda" vom 27. April u. a.:

schreibt in der Moskauer

„Unter den neuen politischen Bedingungen, die sich in Europa gestalten, ist die Unterzeichnung der Verträge von Moskau und Warschau möglich geworden. Wesentlichstes Merkmal dieser Verträge ist die Anerkennung des in Europa bestehenden Status quo, der im Ergebnis des von Hitler-Deutschland entfesselten und verlorenen Krieges entstanden ist. Eine Ablehnung der Verträge im Bundestag würde die weitere Entwicklung des Entspannungsprozesses in Europa erschweren. Mit einer Ablehnung der Ratifizierung der Verträge würde sich die Bundesrepublik Deutschland selbst aus diesen Prozessen ausschließen, was negative Folgen für diesen deutsdien Staat haben müßte. Der gegenwärtig stattfindende Prozeß der Normalisierung der Beziehungen in Europa, der sich auf die bestehende politische und territoriale Lage stützt, kann und sollte die Ausgangsbasis für die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit und Zusammenarbeit auf unserem Kontinent sein. Wir tragen dabei auch der realen Situation Rechnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa entstanden ist, im einzelnen den hier stattfindenden wirtschaftlichen Integrationsprozessen wie auch den bestehenden Verbindungen zwischen den kapitalistischen Staaten Europas und den USA und Kanada." (Prawda, 27. 4.1972) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , veröffentlicht im „Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung" eine Mitteilung über die Unterrichtung der Opposition über Verhandlungen und Inhalt der Verträge von Moskau und Warschau und der Berlin-Abkommen, in der es u. a. heißt:

„I. 1. Überparteiliche

Außenpolitik

In den westlichen Demokratien ist es eine althergebrachte Tradition, daß die Parteien in den grundlegenden Prinzipien und Zielen der Außenpolitik Solidarität wahren. Diese selbstauferlegte Regel dient der Stabilität des Gemeinwesens und damit zugleich den Parteien (in den Vereinigten Staaten sog. bipartisanship'). Das Bemühen der Parteien um Einhaltung des Konsensus in den Grundfragen der Außenpolitik ist in Ländern mit eingespielter parlamentarischer Tradition zudem gepaart mit der Einsicht in die Notwendigkeit des Kompromisses bei der Verfolgung außenpolitischer Ziele und getragen von der selbstverständlichen Achtung vor dem Gesetz. Die Solidarität der bipartisanship' bindet Regierung und Opposition. Sie verlangt von der Regierung das notwendige Maß an Unterrichtung und Konsultation des innenpolitischen Dialogpartners. Sie verlangt andererseits von der Opposition Loyalität in den Grundsätzen und Verständnis gegenüber den Rechten und Pflichten der Regierung. Insbesondere die Erhaltung der Handlungsfähigkeit der außenpolitischen Exekutive, die nicht durch ein Übermaß an Kon34 Königsberg

529

Herbert G. Marzian

trolle (etwa durch undifferenzierte Offenlegung von Verhandlungsniederschriften) gefährdet werden darf, ist eine Spielregel, die nicht ohne außenund innenpolitischen Schaden verletzt wird. 2. Das Verhalten Opposition

der CDU-geführten

Bundesregierungen gegenüber der

Die CDU-geführten Bundesregierungen haben seit Bestehen der Bundesrepublik und insbesondere in der Ära Adenauer die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Exekutive — vor allem der auswärtigen Gewalt — mit großem Nachdruck betont. Sie haben aus dieser Haltung heraus die parlamentarische Opposition nur über Grundzüge und notwendigste Details ihrer Außenpolitik unterrichtet. 3. Die Ausgangslage am Anfang der Amtszeit der gegenwärtigen Bundesregierung

Ein wesentliches Motiv des Zustandekommens der Großen Koalition war die Überzeugung der Beteiligten gewesen, Fragen von großer nationaler Bedeutung gemeinsam lösen zu müssen. Im Bereich der Ostpolitik kam es jedoch bedauerlicherweise über gewisse — wenn auch keinesfalls zu unterschätzende — Ansätze nicht hinaus. Da die Zusammenarbeit auf diesem wichtigen Gebiet der deutschen Außenpolitik allgemein nicht die ursprünglich gehegten Hoffnungen bestätigte, erwies sich bei aller Kontinuität in den entscheidenden Grundlagen ein neuer Versuch als nötig. Dieses neue Herangehen an eine Politik des ,Modus vivendi' wurde in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 definiert. Es stellte sich die Aufgabe, die gemeinsamen außenpolitischen Grundüberzeugungen der neuen Lage anzupassen. Die Politik des Modus vivendi wurde gleichzeitig auf drei wichtigen Gebieten vorangetrieben: im Verhältnis zur DDR und im Berlin-Bereich, gegenüber der Sowjetunion und Polen. II. Die Beteiligung der Opposition bei den innerdeutschen und Berlin-Verhandlungen

Noch während der Zeit der Großen Koalition wurde die westliche Ausgangsposition für die Berlin-Verhandlungen festgelegt. Die ersten Memoranden der drei Westmächte, die am 677. August 1969 in getrennten Demarchen im sowjetischen Außenministerium übergeben wurden, waren mit der Bundesregierung abgestimmt worden. Bundeskanzler Kiesinger hatte dem Ergebnis der Konsultationen über den Inhalt der Papiere zugestimmt. Die sowjetische Antwortnote vom 12. September 1969 wurde der Bundesregierung von den Alliierten zur Kenntnis gebracht und die Reaktion darauf im Koalitionskreis beraten. Nach dem Beginn der Berlin-Verhandlungen am 26. März 1970 wurde die Opposition über die Ergebnisse der einzelnen Botschaftergespräche detailliert ins Bild gesetzt. Die deutschen Positionspapiere vom 10. Juli und 23. September 1970 wurden ihr ebenso zugänglich gemacht wie das westliche Verhandlungspapier vom 5. Februar 1971 und das sowjetische Verhandlungspapier vom 26. März 1971 sowie das erste gemeinsame Papier der Vier Mächte vom 28. Mai 1971. Dr. Barzel übermittelte seinerseits dem Bundeskanzler eine schriftliche 530

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Darstellung der Überlegungen der Opposition vom 11. September 1970. Die in diesem Papier und später von der Oppositionsführung geäußerten Vorstellungen hat die Bundesregierung in ihren Konsultationen mit den Westmächten berücksichtigt. In der intensiven Verhandlungsphase, die im AprÜ 1971 einsetzte, fanden zahlreiche Gespräche von Vertretern der Bundesregierung mit führenden Abgeordneten der Opposition, insbesondere den Herren Dr. Barzel, Dr. Schröder und Stücklen, statt, in denen sie über Einzelheiten der Botschafter- und Expertengespräche unterrichtet wurden. Von Anfang April bis Ende August 1971 wurden mehr als 15 solcher Gespräche geführt, von denen der Bundeskanzler selbst fünf leitete. Während der Berlin-Verhandlungen wurde der Auswärtige und der Innerdeutsche Ausschuß des Bundestages laufend von hohen Regierungsvertretern informiert. Vor Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens über Berlin erhielt die Opposition eine ausführliche Unterrichtung über das Verhandlungsergebnis anhand des vollen Wortlauts des Abkommensentwurfs. Führende Oppositionspolitiker hatten außerdem Gelegenheit, mit den alliierten Botschaftern das Ergebnis zu erörtern. Vor Beginn der deutschen DurchführungsVerhandlungen fand unter Vorsitz des Vizekanzlers ein eingehender Gedankenaustausch mit der Spitze der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion über die Verhandlungsführung statt. Gemeinsame Ausgangspunkte wurden gefunden und ein Verfahren der laufenden Konsultation vereinbart. Die Opposition war demgemäß zu allen Sitzungen des Kontaktausschusses für die laufende Unterrichtung der Fraktionen über die innerdeutschen Gespräche im Bundeskanzleramt eingeladen (bis zu sechsmal monatlich von September 1971 bis April 1972). Die Unterrichtungen betrafen das Transitabkommen, die Verhandlungen Müller/Kohrt und den allgemeinen Verkehrsvertrag. Die Unterrichtung der Opposition in Berlin durdi den Senat stellte schließlich einen weiteren wichtigen Beitrag zur Ermöglichung einer optimalen Vertrauensbasis dar. Vom 23. September 1970 bis Ende 1971 fanden in Berlin 19 interfraktionelle Arbeitskreisgesprädie statt. In diesen Gesprächen hat der Regierende Bürgermeister bzw. der Bürgermeister die Vorsitzenden der Landesverbände der CDU und FDP sowie die Fraktionsvorsitzenden der drei Parteien im Abgeordnetenhaus von Berlin über die Berlin-Verhandlungen der Vier Mächte und die Bahr/Kohl- und Müller/Kohrt-Verhandlungen laufend unterrichtet. III. Die Beteiligung der Opposition beim Moskauer Vertrag

Die CDU-geführte Bundesregierung unter Bundeskanzler Erhard richtete am 25. März 1966 die sog. Friedensnote an alle Staaten, in der sie der Regierung der Sowjetunion und den Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und jedes anderen osteuropäischen Staates, der dies wünscht, vorschlug, förmliche Erklärungen über den Gewaltverzicht auszutauschen. Dies bekräftigte Bundeskanzler 34·

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Herbert G. Marzian

Kiesinger in seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966. Im Februar 1967 begann der Dialog mit dem sowjetischen Botschafter Zarapkin über den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen. In ihrem Aide Mémoire vom 9. April 1968 erklärte sich die Regierung der Großen Koalition bereit, mit der UdSSR und mit jedem Mitglied des Warschauer Paktes Verhandlungen über die Formulierung von gegenseitigen Erklärungen über den Gewaltverzicht aufzunehmen. Sie ging dabei einer Diskussion der wichtigsten politischen Streitpunkte, darunter der Grenzfrage, nicht aus dem Wege. Sie sagte nämlich in ihrem Aide Memoire vom 9. April 1968, sie gehe davon aus, ,daß die beteiligten Regierungen bei solchen Weisungen über den Inhalt etwaiger Vereinbarungen und über d i e j e n i g e n sonstigen F r a g e n entscheiden werden, über die sie im Zusammenhang mit einem Gewaltverzicht Einvernehmen erzielen wollen'. Weiter erklärte die damalige Bundesregierung, sie erhebe keine ,Gebietsansprüche' gegen irgend jemand. Sie verwahrte sich damit gegen den Vorwurf, daß ihre auf die Uberwindung der Teilung der deutschen Nation gerichtete Politik als ,Territorialansprüche' oder als Revanchismus' mißdeutet wird. Die sowjetische Regierung erklärte am 12. September 1969 ihre Bereitschaft, in Verhandlungen über einen gegenseitigen Gewaltverzicht einzutreten. Damit hatte sich ein erheblicher Teil des Meinungsaustausches mit der Sowjetunion über einen gegenseitigen Gewaltverzicht unter aktiver Mitwirkung der CDU/CSU vollzogen. Nach Übernahme der Regierungsverantwortung blieb die neue Bundesregierung der SPD/FDP-Koalition bemüht, die Gemeinsamkeit der Anstrengungen für einen vereinbarten Gewaltverzicht mit der Sowjetunion zu erhalten. Nachdem die Sowjetunion durch Außenminister Gromyko erklärt hatte, sie sehe sich außerstande, auf der Basis des deutschen Papiers vom 3. Juli 1969, d. h. auf der Grundlage des sog. abstrakten Gewaltverzichts, zu verhandeln, führte zunächst Botschafter Allardt Gespräche mit Außenminister Gromyko über die Grundsätze der künftigen gegenseitigen Beziehungen. Uber diese Gespräche wurde die Opposition unterrichtet. Als am 30. Januar 1970 Staatssekretär Bahr die Gesprächsführung übernahm, wurde die Unterrichtung der Opposition fortgesetzt. Die Fraktionen wurden am 11. Februar 1970, der Auswärtige Ausschuß des Bundestages am 26. Februar 1970, der Auswärtige Ausschuß des Bundesrates am 5. März 1970 unterrichtet. Staatssekretär Bahr informierte darüber hinaus persönlich am 8. und 21. Januar 1970 (vor dem Beginn der Gespräche) Dr. Barzel, am 23. Februar 1970 Dr. Kiesinger, am 19. März, 16. und 24. April 1970 den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages. Die Führung der CDU/CSU-Fraktion (MdB Stoltenberg, Schröder, Gradi, Freiherr zu Guttenberg) wurde nach Abschluß dieser Gespräche, und zwar am 8. Juni 1970, von Außenminister Scheel und Staatssekretär Bahr eingehend ins Bild gesetzt. (Dies geschah noch vor der Beratung im Kabinett und vor der Unterrichtung der drei westlichen Verbündeten.) Staatssekretär Bahr berichtete über Entwicklung und Ergebnis seiner Gespräche, über Gewaltverzicht, Grenzen, das Selbstbestimmungsrecht, die Rechte der Vier Mächte und Berlin. Am 17. Juni 1970 wurde Dr. Barzel im Hinblick auf die bevorstehenden Verhand532

Zeittafel

und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

lungen in Moskau von Außenminister Scheel erneut' konsultiert, ferner der Auswärtige Ausschuß u. a. durch Staatssekretär Bahr. Am 15. Juli 1970 erging an die Vorsitzenden der Fraktionen des Bundestages mündlich und am 19. Juli 1970 in gleichlautenden Schreiben Einladung zur Teilnahme an der Delegation zu den Verhandlungen in Moskau. Die Fraktionen der SPD und der FDP entsandten die MdB Wienand und Achenbach nach Moskau. Die Fraktion der CDU/CSU lehnte ab. In dem Einladungsschreiben hieß es, es sei die Absicht des Außenministers, in Moskau, ausgehend von der Grundlage der bereits geführten Gespräche durch Präzisierung und Einführung zusätzlicher Elemente, einen Vertrag auszuhandeln, der von einer breiten parlamentarischen Basis getragen würde. Selbstverständlich, so hieß es weiter, könne (durch eine Teilnahme) für einen Parlamentarier keine Bindung an ein Verhandlungsergebnis entstehen. Obwohl die CDU/CSU eine Teilnahme an der Delegation ablehnte, bot sie der Bundesregierung einen Burgfrieden während der Moskauer Verhandlungen an, den die Bundesregierung annahm. Dr. Barzel wurde sowohl während der Verhandlungen zum Moskauer Vertrag (am 5. August 1970 durch Bundesminister Ehmke) als auch unmittelbar nach der Paraphierung des Vertrages unterrichtet (am 8. August 1970 durch Staatssekretär Frank). Am 9. August 1970 informierte Bundesminister Scheel die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am 10. August 1970 Bundeskanzler Brandt und Bundesminister Ehmke die Herren Dr. Barzel und Stücklen und am 10. August 1970 Staatssekretär Frank den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages. Im September 1970, also nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrages, wurden weitere 7 Gespräche mit der Opposition über die Ost- und Deutschlandpolitik geführt. Im Oktober waren es 9, im November 8, im Dezember 1970 5 Gespräche. Im Januar 1971 waren es 5, ebensoviele waren es im Februar 1971. Im Jahre 1971 sind insgesamt 77 Unterrichtungen der Opposition über die Ost- und Deutschlandpolitik registriert, davon 11 durch den Bundeskanzler. Im Oktober 1970 forderte Dr. Barzel in einem Schreiben den Bundeskanzler auf, man möge ihm Einblick in die Moskauer ,Verhandlungsprotokolle' gewähren, die zur Sache gehörten. Der Bundeskanzler lehnte dies ab mit der Begründung, eine Offenlegung sämtlicher Gesprächs- und Verhandlungsunterlagen würde die Bundesregierung über den konkreten Fall hinaus in einen den deutschen Interessen schädlichen Konflikt mit ihren Gesprächs- und Verhandlungspartnern bringen. Diese müßten sich auch in Zukunft darauf verlassen können, daß zwar die Grundlagen und Ergebnisse, nicht aber alle Einzelheiten von Gesprächen und Verhandlungen offengelegt werden. Mit Beginn der parlamentarischen Erörterung der Verträge im Januar 1972 im Auswärtigen Ausschuß und im Plenum des Bundesrates und ab Ende Februar 1972 im Plenum und in den drei Ausschüssen des Bundestages hat sich die Diskussion und damit die Unterrichtung der Opposition über alle Aspekte der Verträge im besonderen und der Ost- und Deutschlandpolitik im allgemeinen naturgemäß weiter verstärkt. Nicht gerechnet sind die sehr zahlreichen Kleinen Anfragen der Opposition zu Sonderaspekten dieser Politik und ins533

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besondere die Große Anfrage der CDU/CSU zur Deutschland- und Außenpolitik vom 14. Oktober 1971, die am 11. November 1971 von der Bundesregierung beantwortet und zusammen mit der Vertragsmaterie vom Plenum des Bundestages vom 23. bis 25. Februar 1972 behandelt wurde. Der Bundesrat beriet am 9. Februar 1972 im ersten Durchgang die Ratifikationsgesetze zu den Verträgen von Moskau und Warschau. Er verabschiedete mit 21 gegen 20 Stimmen auf Antrag der von der CDU/CSU geführten Länder eine Entschließung von 7 Voraussetzungen und 12 Fragen, die im Verlaufe des GesetzgebungsVerfahrens geklärt werden sollten. Andernfalls würde der Bundesrat die Vertragsgesetze ablehnen. Diese 7 Voraussetzungen und 12 Fragen wurden am 16. Februar 1972 mit einer Gegenäußerung der Bundesregierung beantwortet. Die Ratifikationsdebatte im Bundestag über die Ostverträge hält nodi an. Sie war schon bisher die intensivste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das Plenum beriet in erster Lesung an drei Tagen. Der Rechtsausschuß tagte insgesamt 66V4 Stunden, der Auswärtige Ausschuß 55 Stunden, während der Bundeskanzler, der Bundesminister des Auswärtigen, die Staatssekretäre Frank, Moersch, Bahr und Beamte des Auswärtigen Amtes Fragen der Abgeordneten beantworteten. Entsprechend einem Ersuchen des Auswärtigen Ausschusses des Bundesrats und auf Grund eines Schreibens des Bundesministers des Auswärtigen an Ministerpräsident Goppel vom 21. Januar 1972 hat der Parlamentarische Staatssekretär Moersch in der Zeit vom 1. bis 28. Februar 1972 zwei Beauftragte der fünf von der CDU/CSU geführten Landesregierungen, die Staatssekretäre Dr. Mertes (Rheinland-Pflaz) und Dorenburg (Schleswig-Holstein), in vier ausgedehnten Sitzungen an Hand der Verhandlungsniederschriften insgesamt 31 Fragen zum Moskauer Vertrag und 9 Fragen zum Warschauer Vertrag beantwortet. Eine größere Zahl weiterer Zusatzpunkte wurde erörtert. Die angeführten Textstellen aus den Niederschriften wurden verlesen. Der Bundesminister des Auswärtigen bot am l.März 1972 dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Dr. Schröder, an, analog zu der Information von Beauftragten des Bundesrates den Abgeordneten Mattidc (SPD), Dr. Kliesing (CDU) und Dr. Achenbach (FDP) als Obmännern an Hand der Verhandlungsnotizen zusätzliche Auskünfte zu erteilen. Die im Auswärtigen Amt gefertigten Niederschriften über die Unterrichtung der Vertreter der von den Unionsparteien geführten Landesregierungen (ohne die verlesenen Texte sind dies 45 Seiten) wurden den Obmännern vom Parlamentarischen Staatssekretär Moersch am 3. März 1972 übersandt. Da der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses auf das Angebot vom l.März 1972 nicht einging, wurde es mit Schreiben des Staatssekretärs von Braun vom 22. März 1972 wiederholt. Hierauf erfolgte bis heute keine Reaktion. IV. Die Beteiligung der Opposition beim Warschauer Vertrag

Die Grundlagen unserer Politik gegenüber Polen, die zum Abschluß des Warschauer Vertrags führte, wurde in der von Bundeskanzler Kiesinger am 13. De534

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zember 1966 abgegebenen Regierungserklärung der Großen Koalition gelegt, in der zum ersten Mal die Feststellung, Deutschland bestehe in den Grenzen von 1937 völkerrechtlich fort, fehlt und in der gleichzeitig das Verlangen des polnischen Volkes, in gesicherten Grenzen zu leben, ausdrücklich anerkannt wurde. Die heutige Bundesregierung hat sich diese Erklärung zu eigen gemacht und hat, darauf aufbauend, im Februar 1970 Vorgespräche mit Polen aufgenommen, nachdem Erklärungen Gomulkas und des polnischen Außenministers Verhandlungsbereitschaft der polnischen Seite hatten erkennen lassen. Vor Aufnahme der Gespräche unterrichtete der Bundesminister des Auswärtigen den Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages in seiner Sitzung vom 29. Januar 1970 über die Verhandlungsaussichten. Über den Fortgang der Gespräche, die am 4. Februar in Warschau eingeleitet und in insgesamt sechs Gesprächsrunden bis Oktober 1970 fortgeführt wurden, wurde der Auswärtige Ausschuß viermal, und zwar in seinen Sitzungen vom 26. Februar, 24. April, 24. September und 28. Oktober 1970 unterrichtet. In seinem Schreiben vom 15. August 1970 an den Oppositionsführer verwies der Bundeskanzler auf die die Ostpolitik betreffenden Teile der Regierungserklärung und betonte die Absicht der Bundesregierung, über den Vertrag mit der Sowjetunion hinaus auch mit Polen und der CSSR vertragliche Vereinbarungen abzuschließen. Neben der gründlichen und laufenden Unterrichtung des zuständigen Ausschusses des Deutschen Bundestags hat die Bundesregierung gerade in der Phase der Vorgespräche mit Polen auch auf die Fühlungnahme und das Gespräch mit den Vertriebenen verbänden Wert gelegt. So fand am 3. Juni 1970 ein Zusammentreffen des Bundesministers des Auswärtigen mit Vertretern des Präsidiums des BdV und verschiedener Landsmannschaften statt. Eine weitere Begegnung Schloß sich am 10. Juni 1970 an, an der für die Bundesregierung Bundesminister Genscher sowie die Staatssekretäre Bahr und Duckwitz teilnahmen. Am 21. Oktober folgte ein Gespräch des Bundesministers des Auswärtigen mit Vertriebenenvertretern. Der Bundeskanzler führte am 30. Oktober unter Beteiligung von Bundesminister Ehmke und Staatssekretär Bahr ein eingehendes Gespräch mit Vertretern des Ständigen Rates der Ostdeutschen Landsmannschaften. Im Sommer und Herbst 1970 besuchten die CDU/CSU-Abgeordneten von Bismarck, Müller-Hermann, Dichgans, Petersen, Höcherl und von Weizsäcker Polen und unterrichteten sich in Gesprächen mit polnischen Politikern über den polnischen Standpunkt. Unmittelbar nach Abschluß der Vorgespräche mit Polen und vor Aufnahme förmlicher Verhandlungen informierte der Bundesminister des Auswärtigen den Oppositionsführer, Dr. Barzel, in einem persönlichen Gespräch am 8. Oktober 1970 über das Ergebnis der Vorgespräche und die Konzeption der Bundesregierung für die Verhandlungen. Am 15. Oktober 1970 verabschiedete die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die über den Stand der Gespräche mit Polen und die Problematik umfassend informiert war, einen ,Beschluß zur Polenpolitik'. 535

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Mit Schreiben vom 16. Oktober 1970 an Dr. Barzel lud der Bundesminister des Auswärtigen auch die CDU/CSU-Fraktion ein, in die Delegation zu den am 3. November beginnenden deutsch-polnischen Verhandlungen einen Vertreter zu entsenden. Die Opposition lehnte dieses Angebot jedoch ab, so daß nur je ein Vertreter der beiden Koalitionsfraktionen zur Warschauer Verhandlungsdelegation gehörte. Nach Abschluß der Warschauer Verhandlungen und vor Unterzeichnung des Warschauer Vertrags erstattete Staatssekretär Frank vom Auswärtigen Amt namens der Bundesregierung dem Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestags in seiner Sitzung vom 3. Dezember 1970 einen Bericht über das Ergebnis der Verhandlungen. Am 4. Dezember 1970 brachte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bundestag einen Antrag betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen ein, in dem sie unter teilweiser Modifizierung ihres im Beschluß vom 15. Oktober 1970 dargelegten Standpunktes erneut zu unserem Verhältnis zu Polen Stellung nahm. Am 10. und 16. Dezember 1970 beriet der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestags auf Grund eines Berichts des Bundesministers des Auswärtigen in einer eingehenden Aussprache den am 7. Dezember in Warschau unterzeichneten deutsch-polnischen Vertrag. In den beiden Sitzungen wurde der Vertrag unter seinen politischen und rechtlichen Aspekten aufs gründlichste erörtert. Im Laufe des Jahres 1971 war der Warschauer Vertrag als Ganzes sowie unter einzelnen Aspekten wiederholt Gegenstand parlamentarischer Behandlung. Zu nennen sind vor allem die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 10. März 1971 betr. Auswirkungen der Ostverträge (Drucksache VI/1945), die die Bundesregierung am 2. April beantworttee (Drucksache VI/2056). Zu grundsätzlichen Fragen auch des Warschauer Vertrags nahm die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 21. Januar (Drucksache VI/1728) auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP zur Außenpolitik der Bundesregierung (Drucksache VI/1638) sowie in ihrer Antwort vom 11. November 1971 (Drucksache VI/2828) auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion betr. Deutschland- und Außenpolitik vom 14. Oktober 1971 (Drucksache VI/2700) Stellung. In den Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses vom 5. März, 2. Dezember 1971 und 24. Januar 1972 berichtete die Bundesregierung über die Entwicklung unserer Beziehungen zu Polen, insbesondere über die Familienzusammenführung im Zusammenhang mit der sog. Information. Daneben hat die Bundesregierung zu zahlreichen Einzelfragen hinsichtlich des Warschauer Vertrags auf parlamentarische Anfragen im Rahmen der Fragestunde ausführliche Auskünfte erteilt. Die Opposition war somit schon vor Beginn des GesetzgebungsVerfahrens zum Warschauer Vertrag, das am 11. Dezember 1971 eingeleitet wurde, mit dem Warschauer Vertrag unter allen Gesichtspunkten vertraut und hat selbst dazu wiederholt Stellung genommen. Das Gesetzgebungsverfahren zum Warschauer Vertrag verlief parallel zu dem unter der Ziffer I I I geschilderten Verfahren zum Moskauer Vertrag, auf die Bezug genommen wird. Ebenso wie der Moskauer Vertrag wurde der War536

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sdiauer Vertrag im Bundesrat und seinen Ausschüssen und in dem noch nicht abgeschlossenen Verfahren vor dem Deutschen Bundestag intensiv beraten. Die Opposition erhielt in derselben Weise wie beim Moskauer Vertrag erschöpfende Auskunft zu allen Fragen und Problemen. Die Beauftragten der CDU/CSU geführten Landesregierungen erhielten in derselben Form Auskunft aus den Verhandlungsniederschriften. Ebenso wie beim Moskauer Vertrag bot der Bundesminister des Auswärtigen dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundetages an, den Obmännern der Fraktionen an Hand der Verhandlungsnotizen zusätzliche Auskünfte zu erteilen. Auch hinsichtlich des Warschauer Vertrags ist bisher keine Reaktion erfolgt. V. Indiskretionen

gegenüber der Presse

Die eindrucksvolle Ubersicht der Unterrichtung der Opposition läßt die Liste von Indiskretionen zur deutschen Ostpolitik, die in die Presse gelangten, um so bedauerlicher erscheinen, zumal die Öffentlichkeit von der Bundesregierung systematisch und unter Einhaltung internationaler Gepflogenheiten unterrichtet worden war: — ,Bild' veröffentlichte am 12. Juni 1970 Teile des ,Bahr-P apiers', ,Quick* am 8. Juli 1970 den vollen Text. — Die ,Welt' veröffentlichte am 23. Juli 1970 einen dem sowjetischen Außenminister Gromyko zugeschriebenen Vertragstext. — ,Bild' veröffentlichte am 11. August 1970 den Text des Vertrages von Moskau vor seiner amtlichen Veröffentlichung. — Geheimtelegramme der Botschaft Washington wurden im April 1971 mehrfach veröffentlicht. — Angaben über ein angebliches Gespräch des sowjetischen Botschafters Falin mit einem deutschen Diplomaten über die Stellung Westberlins erschienen im ,Klartext' im August 1971, in der ,Welt' am 12. April 1972. — Der Text des Viermädite-Abkommens über Berlin wurde vor seiner amtlichen Veröffentlichung in der ,Welt' abgedruckt. — Angaben über ein angebliches Telegramm der Botschaft Moskau erschienen in der ,Welt' vom 10. April 1972. — Aus dem Zusammenhang herausgerissene und gefälschte Auszüge aus den Gesprächsaufzeichnungen von Moskau erschienen in der ,Welt' und der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung' am 18. April 1972. Es soll hier dahingestellt bleiben, in welchem Maße im einzelnen die Benutzung von Material, das auf Indiskretionen beruht, innen- wie außenpolitisch Schaden angerichtet hat. Grundsätzlich wäre jedenfalls zu erwarten gewesen, daß sich die Opposition klar und deutlich von kriminellen Praktiken distanziert hätte, die das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland nach innen und außen schwer beeinträchtigt haben. Im Interesse des gesamten Staatswesens und im eigenen Interesse — nicht zuletzt für den Fall einer späteren Regierungsübernahme — müßte die Opposition vielmehr auf die Unterstützung einer allgemein eingehaltenen Konventions537

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regel der Staatspraxis, die die Vertraulichkeit von Verhandlungsaufzeichnungen schützt, bedacht sein. Schließlich würde die Opposition dadurch zusätzlich die Bewegungsfreiheit der außenpolitischen Exekutive bewahren helfen, die sie in der Vergangenheit so betont hat. VI. Gewaltentrennung

und gemeinsame Verantwortung

Seit dem Anlaufen der Ostpolitik der neuen Regierungskoalition ist die Opposition durch Vertreter der Bundesregierung insgesamt mehr als hundertmal über Fragen der Berlin-, Deutschland- und Ostpolitik vertraulich informiert worden. Dies geschah in erster Linie in den jeweils zuständigen Ausschüssen des Parlaments, aber audi in persönlichen Gesprächen. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU wurde mehr als 30mal unterrichtet, davon etwa zur Hälfte durch den Bundeskanzler selbst. Es ergibt sich also, daß die Regierung mit Gewissenhaftigkeit das Parlament und insbesondere die Opposition unterrichtet und konsultiert hat, wenngleich festgestellt werden muß, daß die Opposition die ihr angebotenen Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft hat. Die zu weitgehende Forderung der Opposition, die Verhandlungsniederschriften in ihrer Gesamtheit offenzulegen, konnte von einer verantwortlichen Regierung nicht erfüllt werden. Nicht zuletzt im Interesse der Gewaltenteilung mußte die Bundesregierung vielmehr den freien Handlungsspielraum der Exekutive und insbesondere die Vertraulichkeit des außenpolitischen Verhandlungsabiaufs schützen. Diese Vertraulichkeit wird von der internationalen Staatspraxis gefordert. Nach wie vor bleibt im innen- wie außenpolitischen Interesse des gesamten Staatswesens zu wünschen, daß die grundsätzliche Übereinstimmung der im Bundestag vertretenen Parteien trotz Meinungsunterschieden über Einzelheiten und trotz Trübungen des innenpolitischen Klimas infolge von Indiskretionen wieder stärker hervortritt. Audi nach der Ratifizierung der Ostverträge wird eine Bundesrepublik Deutschland, die in der Verfolgung ihrer wesentlichen außen- und deutschlandpolitischen Ziele einig auftreten kann, überzeugender wirken als ein durch innenpoltisdie Auseinandersetzungen hierüber geschwächtes Land." (Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 28. 4.1972) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen, M o e r s c h , beantwortet am 28. April eine Anfrage des Abgeordneten R i e d e l ( C D U / C S U ) schriftlich wie folgt:

„Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom 28. April 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Riedel (Frankfurt) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3377 Frage A 77): Ist der Bundesregierung noch bekannt, daß der sowjetische Außenminister in den Verhandlungen mit dem Bundesminister des Auswärtigen am 29. Juli 1970 der Bundesregierung erklärt hat, daß die deutsche Position in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands ,klar* sei, jedoch habe die sowjetische Regierung eine eigene Vorstellung, ,wie die künftige deutsche Einheit beschaffen 538

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sein soll' (Bulletin vom 15. September .1971, Nummer 186, Seite 2017), d. h. daß nach sowjetischem Standpunkt die Wiedervereinigung Deutschlands nur im Sinne der Verwirklichung einer leninistischen Redits- und Gesellschaftsordnung anerkannt werden könne, und was gedenkt bei dieser deutsch-sowjetischen Feststellung, daß man sich nicht einig sei und ohne deutschen Verzicht nie einig sein werde, die Bundesregierung zu tun, um ,auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt' (Brief zur Deutschen Einheit, Jahresbericht der Bundesregierung 1970, Seite 36)? Die sowjetische Regierung hat nicht, wie von Ihnen in Ihrer Frage behauptet, erklärt: daß man sich ohne einen deutschen Verzicht auf unsere Vorstellungen zur Wiedervereinigung in dieser Frage niemals einig werden würde. Zwischen der Sowjetunion und uns bestand lediglich Klarheit, daß die beiderseitigen Vorstellungen zu diesem Thema ζ. Z. nicht übereinstimmen. Dies ist übrigens auch der Grund, weshalb es eine Wiedervereinigung weder heute noch bedauerlicherweise in näherer Zukunft geben wird. Ziel deutscher Politik kann es nach Lage der Dinge nur sein, in einem sich über viele Jahre erstreckenden Prozeß die Gegensätzlichkeit von Auffassungen abzubauen, Vertrauenskapital zu schaffen und auf eine Situation hinzuwirken, in der es auch einer sowjetischen Führung akzeptabel erscheinen könnte, eine Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zuzulassen. Diesem Ziel dienen alle Schritte, die die Bundesregierung in den letzten Jahren getan hat. Die Antwort auf Ihre Frage lautet deshalb: — Die Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, daß die Verträge von Moskau und Warschau ratifiziert werden — Die Bundesregierung wird vertragliche Regelungen mit der DDR treffen, die dem besonderen Verhältnis beider Teile Deutschlands zueinander Rechnung tragen und geeignet sind, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zu erhalten und zu stärken — Die Bundesregierung wird, wo immer dies möglich ist, ihr Verhältnis zu den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten normalisieren und im weiteren Verlauf intensivieren — Die Bundesregierung wird nach wie vor auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Die Wiedervereinigung hat uns keine Bundesregierung nach 1949 bringen können. Auch was die Möglichkeit der jetzigen Bundesregierung anbetrifft ist Nüchternheit und Realismus am Platz. Unbestreitbar jedoch eröffnet uns unsere heutige Politik jenes politische Instrumentarium, das unabdingbare Voraussetzung für jede sinnvolle Deutschlandpolitik darstellt." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 184. Sitzung, 28. 4.1972) Auf der 186. Sitzung des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s am 10. M a i tragen die Abgeordneten D r . Achenbach und D r . Heck für den Moskauer Vertrag und die Abgeordneten D r . Haack und Dipl.-Ing. Bach für den

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Herbert G. Marzian Warschauer Vertrag die mündlichen Berichte über die Beratungen des Auswärtigen Ausschusses über beide Verträge vor. Die schriftlichen Ausschußberichte werden als die Drucksachen V I / 3 3 9 7 (Moskauer Vertrag) und VI/3396 (Warschauer Vertrag), vorgelegt. Bundeskanzler B r a n d t am 10. M a i u. a. aus:

führt in der Debatte des Deutschen Bundestages

„Nun haben wir in den letzten anderthalb Wochen, ich sagte es schon, eine große Anstrengung unternommen und, wie ich meine, eine wichtige Erfahrung gemacht: es ging um den Versuch, uns womöglich über eine breite Zustimmung zu diesen wichtigen Verträgen zu verständigen. Am Freitag vorletzter Woche hatte ich von dieser Stelle aus dargelegt, weshalb ich es einerseits für notwendig hielt, die Entscheidung über die Verträge nicht länger aufzuschieben, und weshalb wir andererseits versuchen sollten, die Entscheidung auf eine breitere Basis zu stellen. Meine Frage war: »Können wir oder können wir nicht im Zusammenhang mit den Verträgen doch nodi zu gemeinsamen Feststellungen in der Außen- und Deutschlandpolitik kommen, um', wie ich sagte, ,anläßlich der Abstimmung über die Verträge in einer gemeinsamen Entschließung dieses Hohen Hauses die außenpolitischen Ziele unseres Landes, in deren Gesamtzusammenhang die Verträge gehören, erneut zu bekunden?' Inzwischen haben zahlreiche Besprechungen zwischen Vertretern aller Seiten in diesem Hause und der Bundesregierung stattgefunden. Ich möchte allen Beteiligten für die Mühe danken, die sie dabei auf sich genommen haben. Wir sind davon ausgegangen, daß der Text der Verträge vorliegt und ebenso die mit ihm verknüpften Dokumente vorliegen. Ich unterstreiche also: es gibt keine Geheimabsprachen. Alles, worüber zu entscheiden ist, wurde veröffentlicht. So sehen es, wie ich verbindlich erklären kann, auch unsere Vertragspartner. Die Interpretation der Verträge muß von dem ausgehen, was unter den Vertragspartnern vereinbart und was von ihnen einvernehmlich in den Kontext, in den Zusammenhang der Verträge einbezogen worden ist. Diese Dokumente liegen dem Deutschen Bundestag vor." „Nun ist in vielstündigen Sitzungen abschließend gestern der Entwurf einer gemeinsamen Entschließung erarbeitet worden. Die Bundesregierung hat sich vergewissert, daß eine solche Entschließung — nicht irgendeine, sondern die, auf die sich die Vertreter der verschiedenen Seiten verständigt haben; diese ohne jede Hinzufügung und ohne jeden Abstrich —, die mit Geist und Buchstaben der Verträge übereinstimmt, die also auch an den sich aus den Verträgen ergebenden Rechten und Pflichten nichts ändert, von unseren Partnern entgegengenommen wird, wenn, wie vorgesehen, die Bundesregierung sie in aller Form übermittelt. Ich möchte hier nicht nur der Ordnung halber feststellen, daß die Sowjetunion und Polen natürlich auch die Denkschriften kennen, mit denen wir im Dezember 1971 die Verträge zur Ratifizierung eingebracht haben. Amtliche Gegenäußerungen sind dazu nicht erfolgt. 540

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Im Zusammenhang mit dem gestern erörterten — wie ich glaubte, ausgehandelten — Projekt einer gemeinsamen Erklärung darf idi noch folgende Feststellungen treffen: Mit der sowjetischen Seite gibt es keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß der Vertrag eine Friedenskonferenz nicht unnötig madie; dazu seien zwei Staaten durch einen bilateralen Vertrag auch gar nicht in der Lage. Die sowjetische Seite hat nodi einmal hervorgehoben, daß der Vertrag nicht in die Sphäre der Vier-Mächte-Rechte vorstoße. Dies hat Außenminister Gromyko vor der Kommission des Obersten Sowjet ausdrücklich erklärt. Aus der Sicht und der Verantwortung der Bundesregierung ist noch festzuhalten, daß die Feststellung, die Verträge schüfen, da sie eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnähmen, keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen, selbstverständlich keine Einschränkung der insbesondere im Warschauer Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland übernommenen Verpflichtungen bedeutet. Ich sage noch einmal — das mag uns ja im Laufe des Tages noch beschäftigen — : Was die Regierung angeht, was die Koalition angeht, es gilt das, was gestern mittag galt. Der Außenminister hat sich hierzu, glaube ich, noch in der Nacht, jedenfalls heute früh gegenüber dem Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU auch schriftlich geäußert. Wir sind gerne während der Mittagspause oder wann immer bereit zu den Auskünften oder den Erörterungen, die im Zusammenhang mit dem eben Vorgetragenen für nützlich gehalten werden mögen. Das, was ich eben hier skizziert habe, stellt — ich sage noch einmal: aus meiner Sicht, aus der Sicht der Regierung — die Ergebnisse der gemeinsamen Bemühungen der letzten Tage dar. Hinter ihnen verbirgt sich eine große Anstrengung, die von allen Beteiligten nötig war, um über manchen Schatten zu springen und zu einem positiven Ergebnis zu kommen im Interesse unseres Volkes, im Interesse der Entwicklung in Europa und einer Politik aktiver Friedenssicherung. Ich will hier nichts verniedlichen oder übertünchen. Aber ich meine, wie immer der Tag noch verläuft und seinen Niederschlag findet, die Anstrengungen der letzten zehn Tage haben sich gelohnt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich möchte mich, zugleich im Namen des Bundesaußenministers Walter Scheel, bei Herrn Dr. Barzel und seinen Freunden in aller Form dafür bedanken, daß sie die Anstrengungen auf sich genommen haben, die damit verbunden waren, ein wesentliches Stück deutscher Politik mit der Regierung, mit den Vorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten so durchzuberaten, daß sich hieraus eine, wie wir hofften und wie ich immer noch hoffe, tragfähige Entscheidungsgrundlage ergeben könnte. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich sage noch einmal: Wie immer bei allen Schwierigkeiten dieser Tage und dieses Tages der Ausgang sein mag, ich denke doch, daß in diesen Tagen an mehr als einer Stelle auch Respekt voreinander gewonnen wurde." 541

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„Mir ist bewußt, wie manchen der Landsleute zumute ist, denen der Schmerz um die alte Heimat gerade in diesem Augenblick wieder bewußt wird, stark bewußt wird, in dem wir uns in aller Form zur Unverletzlichkeit der Grenzen bekennen. Diesen Gefühlen sollte niemand den ehrlichen und großen Respekt versagen. Keinen Respekt habe ich vor solchen, die draußen in ihren Reden nodi immer nicht zugeben wollen, was durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf uns zugekommen ist, was sie uns hinterlassen hat, und die so tun, als könne man weggeben, was man nicht hat. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Ich meine, kein Gruppeninteresse darf so hochgespielt werden, daß auf nationalpolitischem Gebiet Forderungen gestellt und Hoffnungen geweckt werden, die mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen. Ausgleich und Verständigung heißt nicht, daß wir die Spaltung Deutschlands nachträglich als rechtmäßig anerkennen oder auch die Teilung Buropas als unabänderlich betrachten. Verzicht auf Gewalt heißt nicht, auf die friedliche Verwirklichung der Menschenrechte zu verzichten. Unantastbarkeit der Grenzen heißt nicht, sie als feindliche Barrieren zu zementieren." „Nur, niemand darf und wird glauben, daß damit die Ziele unserer Friedenspolitik gegenüber der Sowjetunion und Polen schon voll umschrieben wären. Auf beiden Seiten ist da zu viel an Geschichte, zu viel auch an leidvoller Erfahrung im Spiel, als daß sich dies — das sage ich auch nach dem Vortrag des Kollegen Bach als Mitberichterstatter des Ausschusses — in ein paar noch so wichtigen juristischen Formeln oder Betrachtungen einfangen ließe. Das Jahr 1772 markierte den Beginn einer Politik, die die Existenz des polnischen Staates in Frage stellte. Das Jahr 1972, so hoffen wir, markiert den Beginn einer Epoche, in der die Polen in gesicherten Grenzen leben können. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir wollen und können nicht Unrecht in Recht verwandeln. Aber wir wollen der Kette des Unrechts zwischen den beiden Nachbarvölkern kein neues Glied hinzufügen. (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.) So wie die Geschichte der Deutschen und der Polen verlaufen ist, kann es kein gleichgültiges Nebeneinander geben. Wir werden uns voneinander weg- oder aufeinander zubewegen. Diese Regierung — ich darf sicher hinzufügen: dieses Hohe Haus — will, daß die beiden Völker und in ihnen besonders die jungen Menschen sich finden über die Gräben und die Gräber der Geschichte hinweg. All das gilt auch für die Völker der Sowjetunion. Wir wissen, daß wir es hier mit einer Weltmacht und mit den Interessen einer Weltmacht zu tun haben. Wir wissen, daß wir dieser Weltmacht nicht gegenübertreten können ohne Rückhalt bei unseren Freunden und Verbündeten. Aber wir wissen auch, daß es in der Sowjetunion Millionen von Menschen gibt, für die dieser Vertrag mehr ist als ein juristischer Akt im politischen Kräftespiel. (Beifall bei den Regierungsparteien.) 542

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Dazu gibt es auf beiden Seiten zu viele Wunden. Dieser Vertrag bedeutet, daß wir alte Wunden vernarben lassen und keine neuen aufreißen wollen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Er bedeutet, daß wir überall da zusammenarbeiten wollen, wo dies für unsere Völker und für Europa gut und nützlich ist. Beide Verträge konnten nur nach gewissenhafter Prüfung, ja, nach ernster Gewissenserforschung unterschrieben werden. Wir betrachten sie heute wie damals als den Beweis unserer Reife und des Mutes zum Erkennen der Wirklichkeit. Das Ja zum Vertrag

von Warschau wie zum Vertrag

von Moskau bleibt zu-

gleich ein Bekenntnis zur deutsdien Gesamtgesdiidite. Und ein klares Geschichtsbewußtsein verträgt weder unerfüllbare Ansprüdie noch geheime Vorbehalte. Dies gilt für beide Verträge. Dies gilt für unsere Abmachungen mit der DDR. Die Abstimmung, die uns hier abverlangt wird, soll es bestätigen. Die Entscheidung, vor der das Parlament unserer Bundesrepublik steht, lautet nicht: dieses Vertragswerk oder ein anderes. Die Entscheidung lautet vielmehr: dieses Vertragswerk oder kein Vertrag. (Beifall bei der SPD.) Die Alternative heißt in Ost und West: Erleichterung oder Enttäuschung. Im Osten heißt sie: ermutigte Hoffnungen oder tiefe Erbitterung. Noch niemals hat Europa, nicht nur Westeuropa, ähnlich erwartungsvoll auf den Deutschen Bundestag geblickt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Dabei stellt sich erstens die Frage: Würden unsere Verbündeten, würden unsere atlantischen und westeuropäischen Freunde die Bundesrepublik unterstützen, wenn nach dem etwaigen Scheitern dieser Verträge ein neuer Versuch unternommen würde? Meine Antwort: Die NATO und die anderen westlichen Gemeinschaften haben sich so eindeutig für die Verträge ausgesprochen, daß keine der westlichen Regierungen in naher Zukunft ihre Unterstützung für eine Alternativpolitik bieten könnte. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Zweitens: Ist zu vermuten, daß sich die Richtung westlidier Ostpolitik insgesamt wesentlich ändert? Meine Antwort: Dies ist ganz unwahrscheinlich. Die Richtung, in Washington ebenso erkennbar wie in Paris und London, läuft — da können Sie ,Vietnam' ruhig dazwischensagen — (Zuruf von der CDU/CSU) — ich würde nicht lachen, wenn heute das Wort ,Vietnam' ausgesprochen wird —, (lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien — Zurufe von der CDU/CSU) die Richtung läuft insgesamt, auf unseren Teil der Welt bezogen, auf einen möglichen Abbau der Gegensätze hinaus* Niemand darf neben der starken Tendenz zur Entspannung die starke Gefahr neuer Spannungen verkennen. (Beifall bei der SPD.) 543

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Europa ist bisher davon verschont geblieben, und wir sollten alles tun, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, (Abg. van Delden: Auch Sie allmählich!) um diesen Zustand nicht zu verändern. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Auch dies ist heute zu bedenken. Drittens: Spricht irgendein vernünftiger Grund dafür, daß die sowjetische Führung durch eine negative Haltung gegenüber dem Vertrag zu positiven Reaktionen gegenüber Deutschland bewegt werden könnte? Meine Antwort: Alles spricht für das Gegenteil. Deshalb geht es jetzt auch nicht um irgendeine zusätzliche verbale Konzession Moskaus, sondern um unsere eigene Konzession an die politische Vernunft. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Viertens. Kann man annehmen, daß eine Ablehnung der Verträge unser Verhältnis zu den Staaten zwischen Deutschland und Rußland vorteilhaft beeinflussen würde? Meine Antwort: Genau das Gegenteil würde eintreten. Jede Verschlechterung des west-östlichen Verhältnisses, zumal wenn es auf Ursachen in Bonn zurückgehen könnte, wäre ein Rückschlag für die Politik der Aussöhnung. Fünftens. Ließe sich ein Nein zum Moskauer Vertrag dadurch rechtfertigen, daß man Ja allein zum Warschauer Vertrag sagt? Meine Antwort: Ein solcher Gedankengang beruht auf einer gefährlichen Verkennung der Wirklichkeit. (Zurufe von der CDU/CSU.) In Polen würde man meinen müssen, daß wir nach allem anderen auch noch politische Experimente auf ihre Kosten machen wollten. (Abg. Wehner: Sehr wahr! — Beifall bei den Regierungsparteien — Zurufe von der CDU/CSU.) Damit wäre das deutsch-polnische Verhältnis auf unabsehbare Zeit vergiftet. Die Stellung, das Ansehen unserer Bundesrepublik in der Welt hat an Gewicht gewonnen. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Schon gar nicht dürfen wir uns durch solche rechtsradikalen Phantasten in Gefahr bringen lassen, die zu meinen scheinen, sie könnten den zweiten Weltkrieg doch noch nachträglich gewinnen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Auch nicht durch linksradikale Wirrköpfe. (Zurufe von der CDU/CSU.)" Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, D r . B a r z e l , Debatte des Deutschen Bundestages am 10. M a i u. a. aus:

führt in der

„Meine Damen und Herren, ich möchte noch hinzufügen, daß der Zeitdruck, der hier hergestellt wird, auf den ich auch im einzelnen eingehen werde, doch deutlich macht — das zu sagen müssen Sie mir schon erlauben —, daß auf 544

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seiten der Koalition — Sie werden uns ja sicherlich auch noch etwas ins Stammbuch schreiben — die Zeit des Erfahrungssammeins hinsichtlich der wirklichen parlamentarischen Lage vielleicht doch noch nicht ganz gelangt hat. Denn hier ist eine Situation, wie wir sie heute morgen gesehen haben. Wer trotzdem in dieser ungeklärten parlamentarischen Situation (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ein Vertragswerk, das einen so großen Rang hat, wie die Regierung behauptet, (Zuruf von der CDU/CSU: Unverantwortlich!) heute hier auf jeden Fall zur Abstimmung bringen will, (Sehr gut! bei der CDU/CSU) der handelt nicht nur unverantwortlich hinsichtlich seiner eigenen Einlassung und den Partnern gegenüber; sondern ich füge eines hinzu: dies würde ich auch für unverantwortlich halten im Blick auf den inneren Frieden in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu sage ich nachher noch ein paar Sätze. (Beifall bei der CDU/CSU.) Sie, Herr Bundeskanzler, haben in einer vorsichtigen Form, die ich verstehe und die bei der Lage angemessen ist, den Beitrag der Opposition zu den BerlinAbkommen und zu den anderen Fragen gewürdigt. Das war ein Ton, der, glaube ich, zu dieser Debatte paßte. Ich finde, das muß man audi anerkennen. Aber da möchte ich doch hinzufügen — und dies ist, glaube ich, denen, die es vorher nicht glaubten, in den letzten Tagen deutlich geworden —: Wir haben hier das ,so nicht'

nicht als einen Vorwand

gesagt, sondern wir haben das

gemeint. Das war eine Alternative. Und dann haben wir immer gesagt: keiner fragt uns: ,Wie denn?'. Wir haben das grundsätzlich formuliert. Ich glaube, es kann nun niemand mehr sagen, daß wir die Frage ,wie denn?' nicht beantwortet hätten — vielleicht allerdings noch nicht sichtbar genug für das ganze Haus, weil wir ja noch nicht zum Ende gekommen sind. Aber ich weiß nicht, ob wir zum Ende gekommen sind; das muß der Bundeskanzler wissen. Nun konkret und sehr präzise zu der aktuellen Lage, zunächst in drei Punkten zum Zeitfaktor. Weil es, glaube ich, wichtig ist, im ganzen Hause möglichst viel Klarheit und wechselseitige Information zu geben, benutze ich gern diese Gelegenheit, beim Zeitfaktor von folgendem auszugehen. Unter uns gab es nach der Freitag-Rede des Bundeskanzlers eine Überlegung, ob wir sagen sollten: na, dieser Versuch, etwas Gemeinsames herzustellen, ist doch also nur glaubhaft, wenn die Regierung vorher erklärt, wir stehen unter Zeitdruck, wenn sie also nicht die ganze Zeitplanung vorwegnimmt. Das war die eine Überlegung. Die andere Überlegung, die sich schließlich durchgesetzt hat, war die, zu sagen: nein, versuchen wir, zunächst festzustellen, ob es in zentralen Punkten eine Chance gibt, einander näherzukommen. — Das haben wir dann versucht, freilich in der Hoffnung, daß dann, wenn das Gefühl, man könne sich näherkommen, da sei, im selben Ausmaß der Zeitdruck etwas weniger wichtig würde. Nun, Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in einer vorsichtigen Form Ihre Eindrücke und Wertungen von dem bisherigen Gang dargetan. Es war interessant, wie Sie das werteten. Aber dann können Sie unmöglich hier zugleich diesen 35

Königsberg

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Zeitdruck hinsichtlich der Abstimmung heute aufrechterhalten. Das beides zugleich geht auf gar keinen Fall! (Beifall bei der CDU/CSU.) Es entstand dann immer mehr Hektik mit der wachsenden Gefahr, daß hier Flüchtiges und deshalb Unsolides und deshalb Unverantwortbares entstehen könnte. Ich glaube, dies wäre bei diesem Anlaß besonders unverantwortlich. Auch dieses Parlament sollte, wie das sonst in Deutschland üblich ist, solide Arbeit zu leisten sich bemühen. Diese Gefahr wuchs gestern so an, daß wir heute — und so mußten wir uns gestern entschließen — nur darum baten, angemessene Zeit zu gewähren. Ich will einmal versuchen, dies den Kollegen hier zu klären, weil ich weiß, daß bei Ihnen manche glauben, wenn wir sagten »Zeit*, meinten wir ganz etwas anderes. Gehen Sie mal davon aus, daß sich die Führungen hier im Hause davon überzeugt haben, daß in dieser Lage mit Vorwänden nichts zu wollen ist. Wenn wir sagen ,Zeit', meinen wir: Wir wollen wirklich alles ausloten, um hier etwas erreichen zu können. Das ist der Punkt, und das meinen wir dann auch, und sonst meinen wir damit überhaupt gar nichts. Sonst hätten wir das als Vorbedingung gestellt. Sehen Sie, ich hatte meiner Fraktion gesagt — die Fraktion hat das gewünscht —, daß wir einen ganzen Tag für die Entscheidung brauchen, und so wie das bei uns ist, wünscht dann die Fraktion — ich erzähle das hier —, daß der Vorsitzende dabei ist; mit Recht. Dieser ganze Tag, den wir uns nehmen wollten, verlief so, daß wir uns morgens um andere Sachen kümmern mußten, die mit dem Bemühen zusammenhingen, zusammenzukommen, daß wir uns sogar aufteilen mußten. Die eine Abteilung, Redaktion, machten die Kollegen Strauß und Marx, die andere Abteilung machten Stücklen und ich. Da waren wir ganz verteilt und mußten deshalb der Fraktion Zeit wegnehmen. Dann gab es das Gespräch mit dem Botschafter Falin; das nahm uns zwei Stunden von dem gestrigen Tag. Dann gab es die Entwicklung nachmittags, und da war ich nicht der einzige, der sagte: Jetzt brauchen wir ein bißchen Zeit, um Ruhe zu haben; nicht wahr, Herr Bundeskanzler? Das hat uns wieder zwei Stunden weggenommen. Da können Sie sich ungefähr ausrechnen, was von dem gestrigen Tag, den die Fraktionen ganz zu diskutieren wünschten, für diese Fraktion übriggeblieben ist. Das sollte man hier einmal würdigen. Deshalb sage ich: Wir haben heute morgen darum gebeten, ohne die möglichen Tricks der Geschäftsordnung. Wir haben den Platzvorteil der einen möglichen Stimme — wenn es umgekehrt gewesen wäre, hätten wir heute morgen gewonnen, wie Sie wissen — aufgegeben, weil wir hier wirklich nicht taktieren wollten. Wir meinen das, was wir sagen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Angemessene Zeit wollten wir haben. Warum? Weil es unmöglich war, für alle Kollegen jene Klarheit und jene Übersicht sowie jenen Stand der Information und der Diskussion herzustellen, ohne die kein Abgeordneter seine Gewissensentscheidung mit der ihm gebotenen Sorgfalt treffen kann. (Beifall bei der CDU/CSU.) 546

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In dieser Lage baten wir um Vertagung und erklärte ich gestern abend — das wollte idi dem Kollegen Wehner sagen, weil er seiner Fraktion dazu etwas erklärt hat; das ist nachzulesen und war auch über die Schirme zu sehen —: ,Wer jetzt etwas Vernünftiges erreichen will, muß sich Zeit nehmen. Wir werden uns morgen bemühen, die Sache nicht auf die Tagesordnung zu bringen. Idi selbst gucke nicht mehr durch, und wenn man uns zwingt, morgen zu lesen, dann werden wir mit Nein stimmen müssen/ Das haben wir gestern abend beschlossen und gesagt. Das ist doch eine ganz klare Situation. Es gibt nämlich, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einen Zusammenhang zwischen Zeitplanung und Solidität der Arbeit. Das sollten gerade die Kollegen von uns, die im Gewerkschaftsleben mit Tarifverträgen zu tun haben, wissen. Da gibt es ja Abreden, welche Zeit zumutbar ist. (Unruhe und Zurufe von der SPD.) — Na gut, ich nehme das zur Kenntnis, meine Damen und Herren. — Es gibt also — dies wird keiner bestreiten — einen Zusammenhang zwischen Zeitplanung und Solidität der Arbeit, und das gilt auch für ein Parlament. Die Verfahrensregeln in den Fraktionen und im Hause haben den guten Sinn, daß keiner überfahren wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) Es sind Schutzvorschriften im Hinblick auf Art. 38 des Grundgesetzes. Es gibt auch — und das sage ich, wie ich hinzufüge, auch für mich persönlich, aber sicher für alle — einen Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit und der Verantwortungsfähigkeit. Ich glaube, jeder von uns war einmal in der Lage, sagen zu müssen: ,Du bist jetzt nicht auf der vollen Höhe deiner Leistungsfähigkeit, weil du zu sehr strapaziert bist; in der Lage möchtest du folgende schwere Verantwortung nicht übernehmen/ Das ist eine ganz normale Erfahrung, und gerade das kann doch ein Gesetzgeber nicht für sich selbst leugnen. Wir verantworten doch direkt oder indirekt z. B., daß ein Fahrer eines Omnibusses oder eines Lastwagens bestraft wird, wenn er zu viele Stunden fährt; daß ein Pilot nur dann fliegen darf, wenn er seine Ruhezeiten hatte; daß der Soldat sich nur beschweren darf nach Schlafen und 24 Stunden. Warum räumen wir uns diese selben Vernunftgründe nicht ein und stellen uns unter einen Zeitdruck, bei dem nichts Gutes herauskommen kann? (Beifall bei der CDU/CSU.) Man hat uns diese Zeit von gestern auf heute nicht gegeben. Dies war unverantwortlich. Zweitens zur parlamentarischen Lage: Was hier hineingehört und worüber wir alle nicht reden, obwohl es natürlich wirklich zu den wichtigsten Punkten gehört, will ich mit einem Satz abmachen: Die Bundesregierung hat sich entschlossen, weiterzuregieren, obwohl der Kanzlerhaushalt abgelehnt wurde. Das verantwortet die Regierung selbst. Die Abstimmung von heute morgen weist aus, wie die parlamentarische Lage ist. Sie macht sehr wohl erkennbar, wie heute abend, wenn dieser Zeitdruck bleibt, die Entscheidung zur Sache aussieht. Ich halte es für unverantwortlich, 35*

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daß die Bundesregierung ohne gesicherte Mehrheit diese Diskussion und diese Abstimmung mit einem ungewissen Ausgang für diese wichtige Sache eingeht, — ungewiß nur deshalb, weil hier zwar alle da sind und wir alle wissen, wie jeder denkt, aber keiner weiß, ob plötzlidi — das haben wir doch in diesem Parlament erlebt — einer aus gesundheitlichen Gründen hier nicht mehr ganz mitwirken kann. Meine Damen und Herren, idi füge hinzu, kein internationaler Fahrplan zwingt uns. Wir können dodi nicht übersehen: alle Bündnispartner atmen auf, seit wir uns hier um eine gemeinsame Außenpolitik bemühen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Alle hoffen, daß dies Erfolg hat, und alle Terminplanungen sind demgegenüber absolut zweitrangig. (Beifall bei der CDU/CSU.) Idi fürchte, Herr Bundeskanzler, daß das heutige Drängen auf Entscheidung, wenn es dabei bleibt, auch bei unseren Bündnispartnern Kopfschütteln hervorrufen wird, und dies insbesondere anläßlich des dodi bewiesenen, anerkannten und bestätigten guten Willens der Opposition. Im Volk wird das nidit anders sein. Wir wollen doch bei einem Streit, der bis in die Familien geht, eine Lösung suchen, und wir wollen doch versuchen, das befriedigend zu beenden. Das darf nicht an einer Zeitfrage scheitern. (Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Bundeskanzler, idi habe zu Beginn dieses parlamentarischen Patts gesagt, die Ursache all der Dinge im Parlament, die Ursache des Zerbröckeins der Koalition, des innenpolitischen Klimas, der Kluft, der Sorgen um die politische Stabilität, die Ursache all der Dinge liegt im Streit um die Außenpolitik. Wer hier eine Lösung will, muß nicht an Symptomen kurieren, sondern muß versuchen, dieses Problem von der Ursache aus zu lösen. Das, meine Damen und Herren, ist wichtig, und ich wiederhole den Satz: Für das Richtige ist es nie zu spät. Ich komme nun zum Inhalt dessen — das ist der dritte Punkt —, was hier trotz der Erwägungen meiner ersten zwei Punkte durchgezwungen werden soll. Meine Damen und Herren, ich möchte hier vor dem Hause zunächst als Abgeordneter erklären, daß ich zu dieser Stunde nicht imstande bin, nach den verwirrenden Vorgängen seit gestern nachmittag den Inhalt und das Ausmaß dessen, worüber wir heute unter Zeitdruck abstimmen sollen, so klar, so präzise, so sorgfältig zu erkennen, wie ich es erkennen muß, wenn ich in dieser wichtigen historischen Gewissensentscheidung verantwortlich handeln will. (Beifall bei der CDU/CSU.) Weil dies bei mir so ist, habe ich als Fraktionsvorsitzender meinen Kollegen den Rat gegeben, nein zu sagen, falls man uns heute zur Abstimmung zwingt. Denn wir können zu nichts ja sagen, was wir nicht genau kennen, was wir uns nicht genau haben überlegen und sorgfältig unter uns haben diskutieren können. (Unruhe bei der SPD.) 548

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— Idi bringe das nachher mit der Begründung. Sie sollten sich das wirklich noch anhören; das wäre, glaube ich, schon ganz richtig. Sie können dann hier darauf reagieren, wie Sie es für richtig halten. Ich möchte hinzufügen: Meine Fraktion hat diesen meinen Rat einstimmig angenommen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Und man wird uns im Volk verstehen; denn kein Verantwortlicher unterschreibt einen Vertrag, ohne das Kleingedruckte und die Rückseite wirklich gelesen und verstanden zu haben. (Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Ich weiß — das sage ich an die Adresse der Bundesregierung —, daß die Koalition hier natürlich theoretisch einen Einwand erheben könnte, nämlich den, daß der, der sich in dieser Lage befinde, wie ich sie soeben beschrieben habe, alle Gesprächsangebote der Koalition annehmen müsse. Hierauf möchte ich gleich erwidern. Einmal möchte ich auf den schon betonten Zusammenhang zwischen Hektik, Solidität und Leistungs- und Verantwortungsfähigkeit hinweisen, und ich möchte sagen: auch zur Entgegennahme verantwortlicher Informationen und zu ihrer Verarbeitung braucht man Zeit. Ungeduld und Zeitdrude führen zu nichts Gutem. Heute früh sah es praktisch so aus, daß um 8 Uhr Botschafter Falin dem Kollegen Stücklen und mir die Freundlichkeit erwies, uns einen Besuch abzustatten. Um 8.30 Uhr hatten wir eine Sitzung der Bundestagsfraktion. Für den gleichen Zeitpunkt lag eine Einladung des Kanzlers und des Außenministers zu einem neuen Gespräch vor. Und für 9 Uhr war der Beginn des Plenums vorgesehen. Wer diesen Zeitplan kennt, muß einräumen, daß in ihm für verantwortliche Aufklärung, Information und Meinungsbildung nichts möglich war. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nun hatte ich eigentlich erwartet, Herr Bundeskanzler, daß Sie hier im Hause zu dem entscheidenden Punkt die nötigen und möglichen Informationen geben würden. Das ist nicht — oder bisher nicht — geschehen. Das Zweite, was ich hier anmerken möchte — und das, glaube ich, ist doch ganz wichtig —: Das, was wir hier, ob wir wollen oder nicht, bei im übrigen unveränderter Gegnerschaft zwischen Regierung und Opposition wegen des parlamentarischen Patts ernsthaft versuchen müssen, nämlich eine gemeinsame Außenpolitik herbeizuführen, um auf diese Weise die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zu stabilisieren, gehört — das wird unstreitig sein — zu den menschlich und politisch schwierigsten Unternehmen, die es überhaupt gibt, in einer parlamentarischen Demokratie schon ganz sicher. Mir ist kein Vorgang ähnlicher Art erinnerlich. Dabei spielt natürlich die tatsächliche Chancenungleichheit

zwischen Regierung

und Opposition nicht nur hinsichtlich technischer und anderer Ausstattungen eine Rolle, sondern auch — sagen wir das doch offen — hinsichtlich der Verfassungsvorteile, die der Kanzler gegenüber seiner Koalition hat, während sich 549

Herbert G. Marzian

der Führer der Opposition in allem mit seinen Kollegen sehr viel mehr abstimmen muß, dazu gezwungen ist und dazu mehr Zeit braucht. Wenn diese Chancenungleichheit ausgeglichen werden soll, dann muß mindestens Zeit sein. Ich kann nur sagen: dieses Kapitel der letzten vierzehn Tage wird viel Stoff sein für Politologen, für Juristen, für Soziologen, für Historiker, völlig neue Lehrbücher zu sdireiben über das, was hier geht, und das, was hier nicht geht. Meine Damen und Herren: der Versudi, dieses schwierige Stück zu machen, konnte und kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten, was immer sonst sie trennt und was sie gegeneinander haben, einander glauben. Das ist das Wichtigste. (Beifall bei der CDU/CSU.) Es ist die Basis jedes möglichen Gelingens. Weil es so ist, haben wir folgende Methode und folgenden Inhalt unserer Politik für diese ganze Unternehmung gewählt. Unsere Position ist bekannt. Sie kennen sie aus der ersten Lesung. Idi verzichte, sie in Erinnerung zu rufen. Wir übersehen auch nidit, Herr Bundeskanzler, was inzwischen, auch dank der Festigkeit der Opposition, verändert und verbessert ist. Keine Frage! Weil es also das Wichtigste ist, einander zu glauben, haben wir gesagt: Gehen wir doch hin und schreiben die Worte der Bundesregierung auf — nicht flüchtige Worte, sondern amtliche Worte —, machen das zusammen zu einer gemeinsamen Sache, und dann wollen wir doch einmal sehen, wie wir das als ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland, als eine verbindliche Aussage der Bundesrepublik Deutschland möglichst weit und möglichst stark der Sowjetunion gegenüber verbindlich machen. Das war unsere Politik, und diese Politik war notwendig. Denn wer die Berichte heute morgen gehört hat, weiß, daß das alles um einen Punkt kreist: Ist das, was hier vorliegt, vorläufig, oder ist es endgültig? Dann muß man eben versuchen, hier möglichst viel Klarheit zu schaffen. Wir übergaben also der Bundesregierung das, was wir »Rohmaterial' genannt haben. Ich möchte daraus wenigstens einige Sätze vorlesen, weil sie so wichtig sind. Der erste Punkt dieses Rohmaterials heißt — ich zitiere —: Der Vertrag führt einen Modus vivendi herbei, der die deutsche Frage bis zu einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland offenhält. Quelle dieses Satzes, den wir vorschlugen: die Antwort auf die Große Anfrage

drucksache VI/2828.

der Bundesregierung

der CDU/CSU vom 11. Novenber 1971, Bundestags-

Der zweite Satz: Der deutsche Bundestag bekräftigt erneut, daß das deutsche Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung besitzt und daß die Politik der Bundesrepublik Deutschland eine Wiederherstellung der nationalen Einheit im Rahmen einer europäischen Friedensordnung anstrebt. Quelle: dieselbe wie eben und zusätzlich die Denkschrift zum Vertragswerk. 550

der Bundesregierung

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So geht das weiter. So haben wir insgesamt fünf Punkte — ich will sie hier nicht noch einmal in die Debatte einführen —, die sämtlich aus Sätzen bestehen, die die Bundesregierung über die deutsche Auffassung zum wirklichen Vertragsinhalt hier dem Haus verbindlich gesagt, aufgeschrieben hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das war fair, weil es hieß: Gut, wir müssen einander glauben, sonst kommen wir nicht zusammen. Dies war, glaube ich, fair und war in Ordnung. Ich muß hier sagen, daß es auf unserer Seite zu den schweren Punkten der letzten 14 Tage gehörte und uns natürlich auch Kräfte nahm, daß wir — ich sage dies jetzt ganz ruhig, weil wir uns am Schluß geeinigt haben — zwischendurch immer wieder feststellen mußten, auf welche Art, mit welchen Argumenten man sich auf Seiten der Regierung weigerte, die eigenen Sätze in eine gemeinsame Entschließung zu schreiben. (Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir haben dann schließlich — ich glaube, man sollte erwähnen, daß dies den Kollegen Ehmke, Genscher, Strauß und Marx gelang — gestern einen gemeinsamen Text erarbeitet, dem wir, wenn sonst alles stimmt — darauf komme ich noch —, zustimmen können. Damit komme ich zum Stand der Unklarheit, den ich hier bei aller Diskretion so formulieren möchte. Ich sage zunächst einmal: unser Partner hier in dem Haus ist diese Bundesregierung und nicht die Sowjetunion. Das ist sehr wichtig. Ich habe heute nacht einen Brief des Bundesaußenministers bekommen, von dem ich sehe, daß er inzwischen durch den Kollegen Wehner sowohl dem Inhalt nach wie der Tatsache nach seiner Fraktion gegenüber bekanntgegeben worden ist. Ich will mich dazu hier jetzt nicht äußern. Aber das setzt midi in den Stand, den Inhalt dieses Briefes, Herr Bundesaußenminister, weil er jetzt auf dem Papier der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion mitgeteilt ist — idi will dazu gar nichts sagen —, in die Debatte einzuführen. Da heißt es: ,Was die Bedenken der sowjetischen Seite betrifft'. Ich lasse einmal das Wort ,Bedenken* und nehme es, wie es ist. ,Bedenken' haben Sie formuliert; gut, Sie müssen das wissen, Sie haben da Ihre Rechtsberater; die Worte sind ja jetzt hier alle wichtig. Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 und den zweiten Satz der Ziffer 5. Der letzte Satz der Ziffer 2 heißt: Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Quelle: wieder aus den Regierungsdokumenten. Dazu gab es also Bedenken. Der Sprecher der Bundesregierung, der doch sicherlich nicht ohne den Auftrag des Kanzlers Erklärungen abgibt, erklärte gestern abend, die Sachen, die hier strittig seien oder über die überhaupt geredet werde — das wollen wir einmal offenlassen —, das seien Fragen technischer Details. Mit Verlaub, dies ist für uns ein zentraler Punkt. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) 551

Herbert G. Marian

Wenn ich gestern abend nicht mehr zu Gesprächen zur Verfügung stand, — ich sage hier ganz offen, wie es ist; ich habe midi gefragt: Wo bist du jetzt? Jetzt hast du einen zentralen Punkt, was die Worte der Regierung betrifft, wo wir einstimmig waren, und plötzlich heißt es: Das sind technische Details. Idi wußte nicht mehr, woran ich war. Denken Sie daran: Man muß einander vertrauen und glauben können. (Beifall bei der CDU/CSU.) Es war sidier klug, und es war sicher ein Zeichen guter Nerven, gestern abend nur den Beschluß vorzuschlagen — die Fraktion ist dem einstimmig gefolgt —, heute die Vertagung zu erbitten und in dieser Stunde keinen anderen Besdiluß — vielleicht aus der Fülle des Gemüts und emotionaler Aufladung — zu fassen. Der andere Punkt, der nach diesem Brief strittig war — nach den ,Bedenken* — war der zweite Satz der Ziffer 5. Ich lese ihn vor: Der deutsche Bundestag hält angesichts der Tatsache, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im ganzen noch aussteht, den Fortbestand dieser Rechte und Verantwortlichkeiten für wesentlich. Gemeint sind die Rechte der Vier. Das ist ein fundamentaler Satz. Da steht, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im ganzen noch aussteht. Das ist kein technisches Detail'. (Beifall bei der CDU/CSU.) Sehen Sie, Herr Außenminister, ich frage, nachdem ich erst einen Satz Ihres Briefes vorgelesen habe — haben Sie keine Sorge, idi mache das nidit weiter — : Welches sind die Bedenken, die vorgetragen worden sind? Wie sind sie ausgeräumt? (Bundesminister Scheel: Lesen Sie dodi den Brief vor, sonst werde ich ihn geidi vorlesen! — Bundeskanzler Brandt: Lesen Sie doch alles vor! — Bundesminister Dr. Ehmke: Steht dodi im Brief drin! — Bundeskanzler Brandt: Das ist doch alles Spiegelfechterei hier!) — Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei diesem ernsthaften Bemühen des Oppositionsführers, der auch in dieser Stunde versucht, nicht alle Türen zuzuschlagen, mir Spiegelfechterei vorwerfen, verwahre ich mich von dieser Stelle dagegen. (Lebhafter Beifall und Pfui-Rufe bei der CDU/CSU.) Dann wird mir gesagt: Lesen Sie den Brief vor! Idi mache es dodi. Der nächste Satz heißt: Was den zweiten Satz der Ziffer 5 angeht, konnten sie — gemeint sind wohl die Bedenken — leicht ausgeräumt werden. Durch welche Erklärung und wie, ist in diesem Brief nicht enthalten. (Zurufe von der SPD.) 552

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— Soll ich den Brief hier wirklich ganz vorlesen, oder welchen Brief meinen Sie? (Bundeskanzler Brandt: Ja.) Ich mache das doch. Glauben Sie einmal ganz, was ich hier soeben gesagt habe. Vielleicht kann man auch hier im Parlament noch etwas machen, was sonst nicht geht. Nehmen wir uns die Zeit, wenigstens jetzt einander zuzuhören! Also es geht nun weiter: Zum letzten Satz der Ziffer 2 habe ich dem Botschafter noch einmal bestätigt, daß die Bundesrepublik zu den Verpflichtungen, die sie in Art. 1 des Vertrages mit der Volksrepublik Polen übernommen hat, steht. In diesem Artikel haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der besthenden Westgrenzen Polens Stellung genommen, und zwar aus wohlerwogenen Gründen nicht. Wir sind mit der Volksrepublik Polen aber übereingekommen, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens für die Dauer der Existenz der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in Frage zu stellen. Diese Verdeutlichung, die von mir sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Deutschen Bundesrat im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge vorgetragen worden ist, hat die wünschenswerte Klarheit geschaffen. In einem Gespräch, das ich heute nachmittag mit dem Leiter der polnischen Handelsvertretung, Herrn Kwiatkowski, gehabt habe, habe ich auch ihm den in der Entschließung formulierten letzten Satz der Ziffer 2 im gleichen Sinne interpretiert. Nach dieser Verdeutlichung des Textes erklärt der Botschafter Falin, daß er die unveränderte Entschließung entgegennehmen werde. Ein Widerspruch der sowjetischen Regierung sei nicht zu erwarten. Bleibt doch mithin eine Reihe von Fragen, wie andere Punkte, die hier involviert sind, beantwortet sind, ζ. B. die Frage, Herr Kollege Scheel, auch nach der Ziffer 5, wo es ja nur heißt: ,Das konnte leicht ausgeräumt werden'. Nur muß man wissen: Wie? Denn über eine gemeinsame Entschließung, die nur noch durch einen Brief des Bundesaußenministers zu verstehen ist, den ich heute morgen bekomme und den ich unmöglich bis heute morgen um 9 Uhr in meiner Fraktion diskutieren kann, muß man doch natürlich nachdenken können. Eine Entschließung, zu der es nur eine Interpretation gibt, muß man doch zumindest erörtern können. Ich frage mich nun — dies muß man doch wissen —, mit welchen Erklärungen zu den übrigen Punkten die Bedenken der Sowjetunion ausgeräumt worden sind. Hier kommt es auf jedes Wort an. Das muß man zu den anderen Fragen — zu einer Frage ist es geklärt, Herr Kollege Scheel — lesen können, weil wir doch alle wissen — das haben wir doch nun beim Redigieren der gemeinsamen Entschließung gemerkt —, wie es hier wirklich aufs Wort ankommt. Wir müssen wissen: Welche Interpretation gilt dazu, welchem Inhalt sollen wir also zustimmen? Und es gibt ein anderes! Welchen Rang — und dies bitte ich sehr sorgsam anzuhören; ich habe nicht die Absicht, hier unser aller, ich nehme mich dabei nicht aus, angegriffenes Stabilitätskostüm noch zu überanstrengen, das will ich 553

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nicht —, welchen Rang ist die Bundesregierung selbst bereit dieser Entschließung zu geben? (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Eine sehr wichtige Frage! Denn wir haben dodi gesagt: Zwei Abteilungen, wir nehmen die Worte der Regierung, machen daraus ein gemeinsames Papier, und dies muß auch gegenüber dem Partner verbindlich werden. Das war unsere Einlassung. Gut, nun sind wir bei dem zweiten Punkt. Hier schaue ich nicht durch. Herr Kollege Wehner erklärte heute dazu — und idi zitiere dies; ich glaube, es ist wichtig genug, es kann ja alles aufgeklärt werden —, es handele sich hier um eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages und nicht um ein Dokument der Bundesregierung. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Welche Folgerungen man daraus im Innenverhältnis von Bundestag und Bundesregierung ziehe, sei eine Frage für sich. (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Gemeinsamkeit!) Eine Entschließung des Deutschen Bundestages aber sei nichts, was zum Außenverhältnis der Bundesrepublik

gegenüber anderen Staaten gehöre.

(Widerspruch und Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Das ist die Gemeinsamkeit!) Was ist dann der Rang dieses Papiers? (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir haben der Regierung gesagt: Natürlich machen wir eine Erklärung mit euren Worten, aber es muß in dem erreichbaren Maße — wir wissen, daß wir auch in dieser Situation weder als Deutsche noch als CDU/CSU eine Weltmacht sind — völkerrechtlich relevant werden. Das ist doch die Frage, die wir hier zu stellen haben. Es gibt dann eine andere Mitteilung von gestern, Herr Kollege Scheel — das kommt eben dabei heraus, wenn dies alles zu eilig geht; ich will Ihnen dies überhaupt nicht anlasten —, in der es also hieß: Das kann zwar eine Erklärung werden, aber das ist natürlich nicht die deutsche Interpretation des Vertrages. Was ist es denn dann? Was kommt denn dann zustande?! Das muß doch wohl geklärt sein! Und ohne das zu wissen, soll idi hier heute abstimmen?! Und wollen Sie vielleicht mit diesen unbeantworteten Fragen heute das Patt der Abstimmung und das Ergebnis heute abend in Kauf nehmen!? Das kann doch hier keiner verantworten, meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU.) Mir ist da über angebliche Erklärungen noch viel mehr zugegangen; ich lasse das jetzt weg. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister: Es wäre gut, zunächst eine verantwortliche, ruhig formulierte, mit dem Vertragspartner abgestimmte schriftliche Äußerung vertraulich zu erhalten, aus der sich präzise ergibt, in welcher Form die Bundesregierung die Entschließung des Deutschen Bundestages zum Dokument der Bundesrepublik Deutschland zu machen gedenkt, 554

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schließlich: in welcher Form und mit welchem Inhalt die Sowjetunion dieses Dokument annehmen, was sie damit machen wird und welcher Grad der Verbindlichkeit dadurch unzweideutig entsteht. Mithin: Geltung, Rang und Verwendung dieser Entschließung sind unerläßlich verbindlich zu klären, bevor hier ernsthaft und verantwortbar beraten, diskutiert, nachgedacht und entschieden werden kann. Inzwischen habe ich, Herr Bundeskanzler — ich schildere das, wie es ist —, um 14.30 Uhr einen neuen Brief

des Kollegen

Scheel bekommen, während

meine Fraktion tagte. Die Fraktion war beschäftigt, die Antwort auf die Rede des Bundeskanzlers zu beschließen; das dauert ja auch ein bißchen. Ich bekomme also diesen Brief um 14.30 Uhr und habe ihn inzwischen nach der Fraktionssitzung einmal flüchtig lesen können. Nur ist dies ein Brief, der, wenn ich jetzt aus dem Handgelenk votierte, ganz unverantwortliche Mißverständnisse hier ins Plenum bringen würde. Ich habe nicht einmal Zeit gehabt, auch nur dem Justitiar der Bundestagsfraktion, viel weniger den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, des Innerdeutschen Ausschusses, des Rechtsausschusses und meinen Freunden aus der Führung diesen Text auch nur zuzuleiten, geschweige denn zu beraten. Es kann sein, Herr Kollege Scheel, daß einige ihrer Fragen darin beantwortet sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, muß ich doch diese Fragen mit meinen Freunden ausdiskutieren, um festzustellen: Was ist dazu die verantwortliche Meinung der Fraktion? (Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie und die Verantwortlichen — alle hier sind verantwortlich; da möchte ich es anders sagen —, also Sie und die, die in den letzten Tagen die schwere Aufgabe hatten zu versuchen, für die hier geschilderte Lage eine Lösung zu finden, folgendes so ernst zur Kenntnis zu nehmen, wie wir einander begegnet sind. Und ich möchte das Wort vom Respekt aufnehmen, das Sie, Herr Bundeskanzler, sagten. Dies alles ausreichend zu erklären und mit einer demokratischen Fraktion zu besprechen und zu entscheiden ist heute und morgen nicht möglich. Bestehen Sie, Herr Bundeskanzler, heute oder in dieser Woche auf der Abstimmung ohne die für uns notwendige Zeit der gewissenhaften Prüfung, so werden wir alle, trotz der langen Bemühungen, heute abend ,So nicht!' sagen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 186. Sitzung, 10. 5. 72) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , Deutschen Bundestages am 10. M a i u. a. aus:

führt in der Debatte des

„In dem Zusammenhang haben Sie etwas über die Genesis der gemeinsamen Entschließung gesagt, was den Eindruck erwecken konnte, als wollten wir von Sätzen, die wir früher bei den verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen haben, abrücken. Sie haben davon berichtet, daß Sie eine Zusammenstellung von Zitaten aus Reden und Erklärungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit den Verträgen vorgenommen haben und daß Sie sie zur Grundlage einer gemeinsamen Entschließung machen wollten. Herr Dr. Barzel, bitte, ver555

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Übeln Sie es mir nidit, wenn idi sage, daß wir gemeinsam der Überzeugung sind, daß die willkürliche Aneinanderreihung von Sätzen, die irgendwann einmal ausgesprochen worden sind, noch keinen Sinn ergibt. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lebhafter Widerspruch von der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Das waren Erklärungen der Regierung! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Ich kann aus den letzten zwei Jahren Sätze aneinanderreihen, ohne damit die Ausgewogenheit einer Stellungnahme zu erreichen, ich kann im Gegenteil die ausgewogenen Stellungnahmen sowohl aus Ihren Reihen als auch aus den Reihen der Koalition durdi willkürliche Zusammenfassung einzelner Sätze zerstören. (Zurufe von der CDU/CSU.) Wir stehen zu jedem Satz, den wir in dem Zusammenhang gesagt haben, zu jedem einzelnen Satz, (lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) — zu jedem Satz! (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich wünschte, das würde auch bei Ihnen in allen Fällen so sein. (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir stehen zu jedem Satz. Aber wir können nicht willkürlich herausgegriffene Sätze, ohne andere hinzuzufügen, aneinanderreihen. Dafür muß doch ein vernünftiger Mensch Verständnis haben. (Zurufe von der CDU/CSU.) Nun haben Sie zu den Briefen des heutigen Tages einige Fragen aufgeworfen und hier gesagt, daß Unklarheiten über den gemeinsamen Entschließungsentwurf entstanden seien, nachdem der sowjetische Botschafter gestern nachmittag mitgeteilt habe, in seiner Zentrale bestünden Fragen wegen bestimmter Teile des gemeinsamen Entschließungsentwurfs. Herr Dr. Barzel, warum hat der Botschafter das mitgeteilt? Er hat es mitgeteilt, weil er Gelegenheit haben und nehmen wollte, über die beiden Sätze, um die es sich handelte, mit denjenigen, mit denen er sich mittags darüber unterhalten hatte, erneut zu sprechen. Er hat, wie ich erfahren habe, keine Gelegenheit gehabt, mit Ihnen, Herr Dr. Barzel, darüber zu sprechen, obgleich er darum gebeten hatte. Er hat sich mit mir darüber unterhalten, um mir nämlich die Möglichkeit zu geben, ihn zu fragen, welche Bedenken er denn überhaupt habe. Wenn Sie diese Gelegenheit wahrgenommen hätten, dann hätten Sie also bereits gestern erfahren, welche Fragen es gewesen sind. Ich bin davon überzeugt, daß Sie, Herr Dr. Barzel, diese Bedenken des Botschafters genauso gut wie ich hätten ausräumen können. Sie haben soeben meinen Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, nicht vollständig vorgelesen; das wäre aber nützlich gewesen. Ich habe Ihnen diesen Brief eigentlich nur geschrieben, weil ich glaube, daß es bei dem Stand der vertrauensvollen Unterhaltungen, die wir nun einmal über diese gemeinsamen Versuche haben, richtig gewesen ist, Ihnen etwas über 556

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das zu schreiben, worüber ich mit dem Botschafter gesprochen habe, und weil es nützlich ist, die Versuche, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, nicht dadurch zu stören, daß man unabhängig voneinander vielleicht Unterschiedliches in Gang setzt. Deswegen habe ich Ihnen korrekterweise geschrieben. Ich will den Brief jetzt verlesen: Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Barzel! Ich bedaure, daß wir uns am heutigen Abend nicht sehen konnten, — denn auch ich hatte darum gebeten, Herrn Dr. Barzel zu sehen — zumal ich den Eindruck gewonnen habe, daß durch ein Treffen noch am heutigen Abend manche Unklarheiten, die heute nachmittag entstanden sind, hätten geklärt werden können. Der sowjetische Botschafter ist heute abend mit mir zusammengetroffen, um ein Gespräch über die Bedenken zu führen, die seine Zentrale in Moskau angemeldet hat. Er hat offensichtlich auch versucht, ein solches Gespräch mit Ihnen zu führen. (Abg. Stücklen: Wann? Wieviel Uhr?) Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 . . . Zu dem Zwischenruf möchte ich folgendes sagen: Der Botschafter hat mir bestätigt, daß er bereit gewesen wäre, ab 17 Uhr etwa — ich weiß die Zeit nicht genau, aber ab 17 Uhr hat er sich auch bei mir gemeldet — bis Mitternacht oder bis zum frühen Morgen dieses Gespräch zu führen. In diesen Stunden dürfte Zeit dafür gewesen sein. (Hört! Hört! bei der SPD.) Wem es um die Verantwortung für dieses Volk so ernst ist, der sollte auch abends dafür eine Stunde frei haben. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lebhafte Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Katzer: Unverschämt!) — Ich kann das noch fortsetzen. (Abg. Biehle: Volksverhetzer! — Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, ich möchte den Brief weiter verlesen. (Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU.) — Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie daran unangemessen finden. (Abg. Dr. Müller-Hermann: Unverschämtheit! Eine Unterstellung!) Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Meine Damen und Herren, ich bitte freundlichst, Platz zu nehmen und die Zwischenrufe so zu artikulieren, daß der Redner in der Lage ist, fortzufahren. Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ich verlese den Brief weiter: Die Bedenken bezogen sich auf den letzten Satz der Ziffer 2 und den zweiten Satz der Ziffer 5. Was den zweiten Satz der Ziffer 5 angeht, konnten sie leicht ausgeräumt werden. Zum letzten Satz der Ziffer 2 habe ich dem Bot557

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schafter noch einmal bestätigt, daß die Bundesrepublik zu den Verpflichtungen, die sie in Artikel I des Vertrages mit der Volksrepublik Polen übernommen hat, steht. In diesem Artikel haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der bestehenden Westgrenze Polens Stellung genommen, und zwar aus wohlerwogenen Gründen nicht, die Sie kennen. Wir sind mit der Volksrepublik Polen aber übereingekommen, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens für die Dauer des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in Frage zu stellen. Diese Verdeutlichung, die von mir sowohl im Deutschen Bundestag als auch im Bundesrat im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge vorgetragen worden ist, hat die wünschenswerte Klarheit geschaffen. In einem Gespräch, das ich heute nachmittag mit dem Leiter der polnischen Handelsvertretung, Herrn Piatkowski, gehabt habe, habe ich auch ihm den in der Entschließung formulierten letzten Satz der Ziffer 2 im gleichen Sinne interpretiert. Nach dieser Verdeutlichung des Textes erklärte der Botschafter, daß er die unveränderte Entschließung entgegennehmen werde. Ein Widerspruch der sowjetischen Regierung sei nicht zu erwarten. Jetzt kommt der Satz, auf den es mir ankommt und den Herr Dr. Barzel nicht verlesen hat: Offenbar war bei der sowjetischen Regierung der Eindruck entstanden, als wollten wir durch die Ziffer 2 den Inhalt des Artikels I des Vertrages mit der Volksrepublik Polen nachträglich ändern. Meine Damen und Herren, dieser Eindruck ist natürlich falsch. Mit unserer Entschließung will ja niemand in diesem Hause einen Artikel der abgeschlossenen Verträge ändern. Das waren die Bedenken zur Ziffer 2, die Herr Dr. Barzel genauso hätte ausräumen können wie ich. Was die Bedenken zu der Ziffer 5 angeht, so handelt es sich um nichts anderes als Bedenken dagegen, daß der gleiche Gedanke in einem einzigen Abschnitt zweimal hintereinander — sich überlagernd — ausgesprochen wurde. Die Frage war, ob man es nicht bei dem sehr klaren einmaligen Aussprechen belassen könnte. Nachdem man festgestellt hatte, daß es in der Tat der gleiche Sinn ist, wie er auch in dem dritten Punkt unserer Entschließung zum Ausdruck kommt, nämlich daß darin nichts Besonderes und auch gar nichts Verletzendes liegen sollte, waren auch diese Bedenken auszuräumen. Das hätten wir uns zweifellos einfacher machen können. Wir hätten vermeiden können, daraus gestern eine Halbsensation zu entwickeln, die in der Tat den guten Weg, auf dem wir uns befunden haben, zum Teil wieder in Frage gestellt hat. Ich wäre dafür, daß wir heute alles daran setzen, diesen Weg fortzusetzen. Ich bitte wirklich darum, bei der Diskussion solcher Fragen nicht auf im Fernsehen oder im Rundfunk im Zusammenhang damit gemachte Bemerkungen des einen oder anderen Abgeordneten auszuweichen. Wenn Herr Ahlers gesagt hat, das seien eher technische Fragen, dann hätte er Ihnen auch erklären können, daß er damit nicht etwa die Meinung vertreten hat, es handle sich bei 558

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dem Inhalt dessen, worum es geht, um technische Fragen. Was sollen denn eigentlich diese ewigen Unterstellungen, der eine Kollege nehme eine Frage nicht so ernst wie der andere Kollege? (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich gehe davon aus, daß alle Kollegen von der Oppositionsfraktion alle Fragen, die mit der Selbstbestimmung, alle Fragen, die mit der Freizügigkeit zusammenhängen, genauso ernst nehmen, wie ich sie nehme. Idi erwarte — idi glaube, ich darf das erwarten —, daß audi Sie das tun und nicht rhetorisch immer wieder die Ernsthaftigkeit anderer Kollegen in Frage stellen. Kann man denn das eigentlich nicht an Gemeinsamkeit bekommen? (Zurufe von der CDU/CSU.) — Das war darauf gemünzt, meine Damen und Herren. Jetzt darf ich etwas zu der Prozedurfrage sagen, um auch das gleich, nachdem es Herr Kollege Dr. Barzel hier vorgetragen hat, richtigzustellen. Ich habe Herrn Dr. Barzel und anderen Kollegen — die Adressaten waren eigentlich Herr Professor Dr. Mikat und Dr. Birrenbach — einen Brief geschrieben, in dem ich den Versuch gemacht habe, die komplizierte Prozedurfrage, die nämlich — um jetzt Herrn Wehner in diese Situation mit einzubeziehen — die Entschließung des Bundestages, von der Herr Wehner mit Recht gesprochen hat, zu einem Dokument der Bundesrepublik Deutschland machen wird, präzise zu erläutern. Herr Dr. Barzel — er ist im Moment nicht da — wird mir zugestehen, daß vielleicht gewisse Kommunikationsschwierigkeiten in seiner eigenen Fraktion die Ursache dafür sind, daß (Widerspruch bei der CDU/CSU.) — Lassen Sie midi doch bitte aussprechen! Ich weiß, daß Sie, meine Damen und Herren, über alle Fragen in Zwischenrufen immer Bescheid zu wissen glauben, nachher aber sagen, sie brauchten mehr Zeit, um sich zu informieren. Nun lassen Sie mich doch jetzt einmal informieren! (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Ich darf wohl sagen, daß hier Kommunikationsschwierigkeiten bestanden haben müssen. (Abg. Vogel: Das ist wieder eine Unterstellung!) — Nein, Herr Vogel. Sie machen immer sehr viele Zwischenrufe; die meisten sind aber deplaciert, weil Sie nie abwarten, was der Redner, wenn er etwas ankündigt, anschließend sagt. Ich sage nichts, was ich nicht gleich anschließend belege. Das tue ich nie, das ist gar nicht meine Art. Ich belege jetzt das, was ich gesagt habe. Wenn Sie gewartet hätten, hätten Sie es nicht nötig gehabt, Ihren Zwischenruf zu machen. Ich sagte also: es muß hier eine gewisse Schwierigkeit bestanden haben, denn ich habe in diesem Brief im Kern ja nichts Neues gesagt, sondern nur noch einmal, weil das so kompliziert und so wichtig ist, schriftlich das zusammenzufassen versucht, was ich den beiden Kollegen, die ich als Adressaten soeben genannt habe, in einer sehr intensiven Unterredung mitgeteilt hatte. Wir haben 559

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praktisch alle Phasen, die sich hier ergeben, gemeinsam besprochen, und zwar nicht erst heute mittag, sondern schon gestern nachmittag. Ich bin davon ausgegangen, daß bis heute mittag sogar eine Möglichkeit bestanden haben sollte, sich darüber im Kreise der Fraktionen oder im Kreise von Teilen der Fraktionen eingehend zu unterhalten. Wenn das nicht der Fall gewesen ist, so mag das durchaus verständlich sein, aber es muß nicht unbedingt so gewesen sein. Ich bin davon ausgegangen, daß eine Möglichkeit bestand, in dieser wichtigen Frage bereits die Meinung eines anderen Gremiums zu bilden. Meine Damen und Herren, wir sollten, meine ich, in dieser Phase der Diskussion wirklich den Versuch machen, diesen ganz komplizierten Weg, den wir gehen wollen, nicht dadurch zu erschweren, daß wir auch noch über die reine distanzierte Kritik hinausgehende Betrachtungen einzelner Teile des notwendigen Vorgehens vornehmen. Ich habe versucht, mich dessen zu enthalten und sehr nüchtern auszusprechen, worauf es — und zwar uns gemeinsam — ankommen muß. Ich habe noch nicht zum Vertragsinhalt gesprochen; das wird vielleicht im Laufe der Diskussion noch möglich sein. Lassen Sie mich jetzt zum Schluß zu diesen Prozedurfragen eine allgemeine Bemerkung machen. Die Oppositionsfraktion wendet immer wieder ein, daß sie mehr Zeit braucht. Meine Damen und Herren, ich kann mir vorstellen, wie schwierig die Entscheidung ist, vor der die Oppositionsfraktion steht und vor der jeder einzelne Abgeordnete dieser Fraktion steht. Ich weiß, wie schwierig das ist; ich weiß es ganz genau. Ich weiß auch, daß es das Bemühen der Fraktionsführung und sicherlich der Fraktion ist, eine Entscheidung herbeizuführen, die diesem Staate dient. Das ist ja das Bemühen, das dahinter steht. Der Bundeskanzler hat das heute vormittag nicht umsonst vor dem Deutschen Bundestag herausgestellt. Ich kenne also die Schwierigkeien, aber ich darf nach einem 25 Jahre langen parlamentarischen Leben sagen: Durch Zuwarten werden Schwierigkeiten nicht kleiner, sondern im allgemeinen größer. In der Lage, in der Sie sich befinden, werden Sie jetzt oder heute abend oder morgen oder nächste Woche immer wieder vor die gleiche Entscheidung gestellt werden, und die wird immer wieder den gleichen Schwierigkeitsgrad haben. Ich habe aus meiner parlamentarischen Erfahrung gelernt: Wenn Sie eine Schwierigkeit vor sich sehen, müssen Sie sie ins Auge fassen, und Sie müssen entscheiden. Darum herumgehen oder sie aufschieben zu wollen macht die Sache nicht besser, sondern macht sie meistens noch schwerer." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 186. Sitzung, 10. 5. 72) Der Abgeordnete D r . M a r x ( C D U / C S U ) führt in der Debatte des Deutschen Bundestages am 10. M a i u. a. aus:

„Herr Bundesminister, der Brief, den Sie unserem Fraktionsvorsitzenden haben zukommen lassen, ist verschiedentlich vorgelesen worden. Ich habe jetzt doch noch einige Fragen dazu, und es wäre gut, wenn die Fragen beantwortet würden. 560

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Sie haben in diesem Brief im zweiten Abschnitt gesagt, daß ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter über ,Bedenken* stattgefunden habe, die seine Zentrale aus Moskau gemeldet habe. Sie haben nichts Näheres darüber gesagt, was diese Bedenken beinhalten, und Sie haben dann nur an einer Stelle gesagt, daß es Ihnen gelungen sei, sie leicht auszuräumen. (Abg. Dorn: Das hat er alles vorgetragen!) Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister erinnert sich doch daran, daß der letzte Satz in dem Punkt 2 jener Entschließung, die wir gestern vormittag um 11 Uhr miteinander — und ich glaube, man muß sagen: nach viel Mühe, aber auch nach Investierung von sehr viel gutem Willen, den wir uns gegenseitig bewiesen haben — verabschiedeten, lautet: Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgundlage für die heute bestehenden Grenzen. Sie, Herr Bundesaußenminister, haben in Ihrem Brief aber eine andere Formulierung gebraucht. Auf die muß ich das Haus aufmerksam machen. Sie sagen: In diesem Artikel — und zwar gehen Sie dabei auf den Art. I des deutsch-polnischen Vertrages ein — haben wir nicht zu den rechtlichen Grundlagen der bestehenden Westgrenze Polens Stellung genommen. Herr Bundesaußenminister, die Formulierung, die ich vorher vorgelesen habe, nämlich daß die Verträge ,keine Rechtsgrundlage schaffen', stammt aus Ihrem eigenen Munde, und zwar vom 23. Februar, als Sie hier an dieser Stelle in der ersten Lesung der Ostverträge eine Regierungserklärung abgaben. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ein zweites. Sie haben eben gesagt — weil bei dem Punkt 5 gesagt worden ist, da gebe es zwei Sätze —, man hätte den zweiten Satz eigentlich eliminieren können, weil er sinngemäß enthalte, was im ersten Satz stehe. (Bundesminister Scheel: Und an einer anderen Stelle!) Ich muß deshalb, Herr Außenminister, noch einmal den ganzen Punkt 5 verlesen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb um Aufmerksamkeit, weil, wie ich noch einmal wiederhole, der Außenminister behauptete, daß beide Sätze in ihrem Sinn übereinstimmen. Es heißt — ich zitiere : Die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin werden durch die Verträge nicht berührt. Und nun kommt der zweite Satz. Er lautet: Der Deutsche Bundestag hält angesichts der Tatsache, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im Ganzen noch aussteht, — der Ton liegt also auf ,noch aussteht' — den Fortbestand dieser Rechte und Verantwortlichkeiten für wesentlich. Herr Bundesaußenminister, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir hätten in dem, was wir das Rohmaterial genannt haben, Sätze losgelöst und Sätze herausgerissen. Idi möchte gern wissen, ob wir hier einen einzigen Satz in einer 36 Königsberg

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unkorrekten Weise zitiert haben, so daß der Sinn dessen, was Sie, Herr Außenminister, haben sagen wollen, verfälscht worden ist. Sie werden doch bitte folgendes zugeben: Wenn in diesem Hause eine Fraktion eine Große Anfrage einbingt und die Bundesregierung ihre Antwort vorlegt, ist dies ein Akt von hoher Bedeutung; da kann man nicht den Versuch madien, diesen Akt der Antwort und die im einzelnen offenbar doch wohlüberlegte und von einem ganzen Heer von fachkundigen Beamten geprüfte Antwort auf die Große Anfrage herunterzuspielen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, die Sätze, die wir zitiert haben, sollten eine HÜfe sein, und ich darf bitte in aller Ruhe nodi folgendes sagen: sie sollten eine Hilfe sein, damit wir mit dem beginnen können, was doch offenbar beide Seiten dieses Hauses wünschen, nämlich die Konturen einer gemeinsamen Außenpolitik miteinander zu diskutieren, wo immer möglich, zu formulieren und dann auch dabei zu bleiben. Herr Außenminister, es hat die Fraktion der CDU/CSU viel Kraft und viel Selbstverleugnung gekostet, daß wir alle bereit waren, kein einziges Wort unserer eigenen Wertung zu sagen, daß diese Fraktion vielmehr bereit war, nur die Äußerungen der Regierung zu zitieren. (Beifall bei der CDU/CSU.) Damit aber dies ganz klar ist, meine Damen und Herren: Die Fraktion der CDU/CSU kann in dieser schwierigen Frage nicht noch hinter das zurückgehen, was die Regierung in diesem Hause erklärt hat. Dazu können Sie uns nicht bekommen! (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, die Diskussion über Zeitfragen, die soeben aufgekommen ist, hängt ja nicht mit dem Verlauf der seit eineinhalb Jahren dauernden Debatte, sondern mit der Tatsache zusammen, daß es den Anschein hatte und noch hat, daß sich gestern ganz bedeutende Einreden oder Veränderungen ergeben haben. Man kann der Fraktion der CDU/CSU nicht zumuten, daß sie sidi zu diesen Dingen im einzelnen und verantwortlich äußert, wenn sie nidit weiß, was hinter den Kulissen gespielt wurde." Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 186. Sitzung, 10. 5. 72) Bundeskanzler B r a n d t am 10. M a i u. a. aus:

führt in der Debatte des Deutschen Bundestages

„Ich habe großes Verständnis dafür, daß jeder von uns — der eine einmal mehr, der andere einmal weniger — in dem Geschäft, in dem wir stecken, an einen Punkt kommt, wo er sagt: jetzt möchte ich eigentlich, daß idi die Chance bekomme, dies mit einem gewissen zeitlichen Abstand zu überlegen. Ich sage das, obwohl idi auch um Verständnis dafür bitte, daß ich bisher nicht habe sehen können, daß andere in diesem Staat wesentlich mehr zu tun haben als der Bundeskanzler. Das habe ich in diesen Tagen auch gemerkt. (Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien.) 562

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Es ist doch so, Herr Kollege Barzel: Jetzt haben wir Mittwoch, 17 Uhr. Vor 24 Stunden und dann vor 22 Stunden habe ich die Frage aufgeworfen, ob dies nidit — gestern nachmittag, gestern abend — der Zeitpunkt sei, sich zusammenzusetzen. Ich beschwere mich nicht. Ich sage: Im Grunde ist es, gemessen an dem sonst sachlichen Kontakt, den wir miteinander gefunden hatten, natürlich ein — wie immer die Regierungsverhältnisse geordnet sind — ungewöhnlicher Vorgang in einem demokratischen Staat, daß, wenn der Regierungschef sagt: wollen wir uns nicht zusammensetzen, das nicht möglich ist. Heute früh war es mit dem Terminkalender schwierig. Wir hatten 8.30 Uhr vorgeschlagen. Sie hatten die Fraktionssitzung. Ich habe gefragt: Können wir nicht über Mittag miteinander reden? Wir hätten die Pause verlängern können. Das wäre bestimmt nicht an mir gescheitert. Jetzt haben wir also seit 24 Stunden nicht miteinander geredet, sondern reden hier vor denen, die zuschauen und von der Tribüne des Bundestages zuhören, miteinander auch über diese technischen Vorgänge einschließlich der Briefe, die der Herr Außenminister teils an Herrn Kollegen Barzel, teils an die Kollegen Birrenbach und Mikat geschickt hat. Meine Damen und Herren, idi höre das mit dem Zeitdruck ja heute nicht zum erstenmal, (Sehr wahr! bei der SPD) sondern das höre ich zu genau demselben Vorgang jetzt seit zwei Jahren. Immer ist irgend etwas wegen Zeitdruck, was so nicht sein sollte. In bezug auf diese Tage hier wäre zunächst einmal festzustellen: Um die Jahreswende, seit vielen Monaten, waren sich alle Beteiligten mit dem Bundesrat — mitgeteilt an die Regierungen anderer Länder, nicht nur die Partner — einig: Anfang Mai soll gelesen werden. Das kann keiner Zeitdruck nennen. (Abg. Stücklen: Da hatten Sie die Mehrheit! — Abg. Dr. Barzel: Das ist doch erst Ende April passiert! — Abg. Stücklen: Da hatte er keine Mehrheit mehr!) Jetz kommt aber das Konkrete: Wenn die Lage so wäre — was ja auch hätte sein können—, daß die Regierung sagt: Sie — die Opposition — erwarten von uns zu Recht, daß wir erklären: Wenn der Bundestag eine Entschließung annimmt, muß diese auf eine solche Weise zu einer Aussage, zu einem Instrument der Bundesrepublik Deutschland werden, daß es dazu keinen Widerspruch gibt — sonst hat das Ganze ja keinen Sinn —, hätte es ja sein können, daß die Regierung gesagt hätte: wollen wir uns den oder den Punkt nicht noch enmal anders überlegen? Da gibt es z. B. einen Punkt, bei dem ich die Fassung des vorigen Entwurfs aus vielerlei Gründen für besser hielt. Aber genau diese Lage ist nicht eingetreten, und ich möchte, daß die Kollegen der Union dies auch begreifen: Regierung und Koalition erwarten nichts anderes, als daß wir zu dem stehen, was wir gestern mittag miteinander vereinbart hatten. Nichts anderes! (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) 36*

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Kein Satz, kein Wort, kein Punkt und kein Komma wurde geändert. Dies ist kein Zeitdruck. Es geht um genau denselben Text. Was gibt es da groß zu beraten? (Abg. Stücklen: Was sagt Herr Wehner dazu?) Jetzt nehme ich einmal das Beispiel, das Herr Kollege Marx hier hineinbringt. Das ist doch nicht in Ordnung. Bei dem Punkt 5 — das Ding liegt hier ja gar nicht verteilt vor; wir reden insofern also auch immer über ein Sdiattendokument —, wo die Frage aufgeworfen wurde: muß ein Gedanke, der in der Resolution an zwei anderen Stellen steht, audi hier stehen, haben wir gesagt: Ja, da haben wir uns mit den Kollegen von der CDU/CSU geeinigt, deshalb bleiben wir dabei. Warum muß dann Herr Kollege Marx jetzt zu diesem Abs. 2 so argumentieren, als sei das eine Streitfrage? (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Als Antwort auf den Außenminister!) — Der Außenminister hat doch nur erklärt, welches Argument der Partner dazu vorgebracht hat. Die Regierung hat das vertreten, worauf wir uns geeinigt hatten. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Vizepräsident Dr. S chmitt-VOckenhausen : Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel? — Bitte! Dr. Barzel (CDU/CSU): Herr Bundeskanzler, es wäre gut, glaube idi, wenn Sie dem Haus die Frage beantworten könnten, ob es richtig ist, daß wir über die Entschließung einig waren, idi in meiner Rede die Zustimmung dazu erklärt habe, wenn sonst alles stimmt, daß das aber einen offenen Punkt betraf, den ich hier als den entscheidenden in die Debatte eingeführt habe. Brandt, Bundeskanzler: Dies kann ich nicht sehen. (Abg. Dr. Barzel: Wir waren gestern mittag nicht einig, Herr Bundeskanzler! Das wissen Sie doch!) Die Entschließung gilt. Wenn allerdings jemand geglaubt haben sollte, er könne durch die Entschließung den Vertrag ändern, dann haben wir auf falscher Grundlage verhandelt. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Deshalb mußte es zweifelsfrei klargestellt werden, daß, insbesondere was die Pflichten aus dem Warschauer Vertrag angeht, weil es da mit um die Grenzfrage geht, der Entschließung insoweit keine den Vertrag entwertende Deutung gegeben werden darf. Das mußten wir doch ehrlicherweise machen. Das hat der Kollege Scheel in seinem Brief dargestellt. Ich habe es in meiner Rede heute vor der Mittagspause, die ja alle gehört haben, dargestellt. Nun noch eine Bemerkung, was den weiteren Ablauf angeht. Ich habe nicht für Fraktionen zu sprechen. Aber ich würde es — wenn die Anregung gestattet ist — zunächst einmal für eine gute Idee halten, wenn man in einer nicht ganz knapp bemessenen Unterbrechung der Plenarsitzung nicht nur in den Fraktionen, wo man es für notwendig hält, sondern auch miteinander das bespräche, wovon ich soeben redete. Ich sage, es gilt, was gestern mittag galt. 564

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Aber wenn das noch notifiziert werden soll — wir haben sonst dieser Tage eine Menge von Notifizieren gesprochen —, dann muß das ja möglich sein. Meine Damen und Herren, der Gedanke der Vertagung führt mich zu der Bemerkung: Irgendwann werden die Kollegen ohnehin entscheiden müssen, Stellung nehmen müssen. Jeder von uns wird das, gestützt auf die Entscheidung, die er getroffen hat, draußen vor seinen Wählern uhd in den Gemeinschaften, in denen er wirkt, zu vertreten haben. Idi würde es nicht für gut halten, wenn, statt in der Sache zu entscheiden, eine prozedurale Klammer gebaut würde, die von der klaren Entscheidung in der Sache selbst wegführt. Man kann eine Sache auf zweierlei Weise bekämpfen, einmal indem man nein sagt und sich durchsetzt, wenn man das kann. Man kann eine Sache auch bekämpfen, indem man sie zerfasert, zerredet und abwertet. Diesem letzteren Verfahren können wir uns aus meinem Verständnis unserer Interessen nicht zustimmen, sondern dem müssen wir widersprechen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 186. Sitzung, 10. 5. 72) Der Abgeordnete Prof. Dr. S c h m i d (SPD) gibt im Deutschen Bundestag am 17. M a i bei der 3. Lesung der Ratifizierungsgesetze für die Verträge von Moskau und Warschau eine Erklärung der SPD-Bundestagsfraktion ab, in der er u. a. ausführt:

„Unsere geschichtliche Vergangenheit und die geographische Lage im Herzen Europa verpflichten uns, einen eigenen deutschen Beitrag zur Sicherung des Friedens zu leisten. Die vorliegenden Verträge bezeugen den Friedenswillen der Bundesrepublik Deutschland, verankern den wechselseitigen uneingeschränkten Gewaltverzicht der Vertragspartner, sind die Ausgangsposotion für weitere Verträge mit den Ländern Osteuropas und bilden die Voraussetzung für den Übergang zu einem friedlichen Nebeneinander und möglichen Miteinander. Der deutsch-sowjetische Vertrag führt die Bundesrepublik Deutschland in den Prozeß einer Politik der Kooperation ein, die im Interesse einer friedlichen Entwicklung zwischen beiden Teilen Europas von den Weltmächten eingeleitet worden ist. Mit dem Warschauer Vertrag wird ein Schlußstrich unter die leidvolle Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses in der Vergangenheit gezogen. Die Wunden, die der zweite Weltkrieg geschlagen hat, sind noch nicht verheilt. Europa wird nur gesunden, wenn die Feinde von gestern wieder zusammenfinden. Eine Aussöhnung verlangt unseren beiden Völkern die Überwindung bitterer Gefühle ab. Die Bundesrepublik Deutschland wird nach diesem Vertrag die Oder-NeißeLinie als Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellen. Dieser Schritt wird zu einer allmählichen Aussöhnung zwischen Deutsdien und Polen beitragen. Unseren Landsleuten aus den früheren deutschen Ostgebieten hat der zweite Weltkrieg ein besonderes Opfer auferlegt. Sie sind aufgerufen, den Weg der beiden Völker in eine glücklichere Zukunft mit zu bahnen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5. 72) 565

Herbert G. Marzian Der Abgeordnete D r . Κ i e s i η g e r ( C D U / C S U ) gibt im Deutsdien Bundestag am 17. M a i bei der 3. Lesung der Ratifizierungsgesetze für die Verträge von Moskau und Warschau namens der CDU/CSU-Fraktion eine Erklärung ab, in der er u. a. ausführt:

„Die gpU/CSU-Fraktion hat in einer der längsten und intensivsten Beratung in ihrer Geschichte beschlossen, sich in ihrer großen Mehrheit bei der Abstimmung über die Zustimmungsgesetze zum deutsch-sowjetischen und zum deutschpolnischen Vertrag der Stimme zu enthalten. Wäre es bei der Lage, in der wir uns bei der ersten Lesung der Verträge befanden, geblieben, so hätte die CDU/CSU-Fraktion am heutigen Tage ihre Haltung bei der ersten Lesung bestätigen müssen. Damals, Ende Februar, hat die CDU/CSU-Fraktion durch alle ihre Redner ihre ablehnende Haltung geschlossen zum Ausdrude gebracht und begründet. Unsere Hauptsorge war, daß durch die Politik der Bundesregierung und die von ihr abgeschlossenen Verträge die deutsche Frage in der Substanz nicht offenbleiben, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes gefährdet und der Vorbehalt eines gesamtdeutschen Friedensvertrages entwertet werde. Ich muß in aller Klarheit feststellen, daß diese Sorgen nicht einfach geschwunden sind. Aber in der Zwischenzeit hat sich eine politische Lage entwickelt, bei der sich herausgestellt hat, daß die Bundesregierung im Deutschen Bundestag über keine sie tragende Mehrheit mehr verfügt. In dieser Lage sah sich die Regierung veranlagt, im Blick auf die Ostverträge nach einem gemeinsamen Weg mit der Opposition zu suchen. Über zwei Jahre glaubte die Regierung, diesen Weg allein gehen und auf eine Zusammenarbeit in diesen Lebensfragen der Nation mit der Opposition verzichten zu können. Die Opposition war zu einer solchen Zusammenarbeit immer bereit. Sie ist deshalb auch sofort auf das späte Angebot des Bundeskanzlers eingegangen. Es wurde eine gemeinsame Entschließung erarbeitet, die dem Hohen Flause vorliegt. Diese Entschließung enthält folgende wesentliche Klarstellungen. Erstens. Die Verträge dienen der Herstellung eines Modus vivendi, d. h. eines geregelten Übergangszustandes, der eine abschließende, gerechte Regelung der zentralen Fragen der Sicherheit und des Friedens in Europa nicht präjudiziert. Zweitens. Die Verträge nehmen einen Friedensvertrag nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlagen für die heute bestehenden Grenzen. Drittens. Das Redht des deutschen Volkes

auf Selbstbestimmung

wird durch

die Verträge nicht berührt. Die Lösung der deutschen Frage wird nicht präjudiziert. Eine friedliche Politik der Wiederherstellung der nationalen Einheit des deutschen Volkes steht nicht im Widerspruch zu den Verträgen. Viertens. Unser Verteidigungsbündnis

und die politische

Einigung

Europas

werden nicht behindert. Regierung und Opposition sind sich in dem Ziel einig, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stufenweise zu einer politischen Union fortzuentwickeln. Fünftens. Die Deutschen dürfen in Deutschland von gesicherten Fortschritten in der Freizügigkeit für Menschen, Ideen und Informationen nicht ausgeschlossen werden. 566

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

Die CDU/CSU-Fraktion mißt dieser Resolution und dem dazu vereinbarten Verfahren eine hohe politische und rechtliche Bedeutung zu. Dieser Umstand hat sie heute zu ihrem Entschluß bestimmt, durch ihre Enthaltung einerseits kein Scheitern der Verträge herbeizuführen, andererseits das Ja aller Parteien des Deutschen Bundestages zu der gemeinsamen Entschließung zu erreichen, die wir als eine verbindliche Grundlage der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft betrachten sollen." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5. 72) Der Bundesminister des Auswärtigen, S c h e e l , destag am 17. M a i u. a. aus:

führt im Deutschen Bun-

„Die ernsthaften Anstrengungen von uns allen, die Argumente der Opposition und die gemeinsame Entschließung, die von allen drei Fraktionen im Deutschen Bundestag eingebracht wurde, sollten dem Vertragswerk eine breitere Mehrheit verschaffen. Die Bundesregierung würdigt ohne Vorbehalte und ohne Hintergedanken die politische Leistung des Oppositionsführer* in diesen schweren Wochen. Seine Bemühungen hätten es verdient gehabt, von seiner Fraktion honoriert zu werden. (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Ist doch unsere Sache! — Abg. Dr. Hammans: Das geht Sie gar nichts an!) Doch leider ist das nicht geschehen. Wir bedauern das aus einem sachlichen Grunde: weil die gemeinsame Entschließung, der die CDU/CSU ja zustimmen wird, wie Herr Dr. Kiesinger ja soeben gesagt hat, durch die angekündigte Enthaltung bei der Abstimmung einfach an Wert verlieren wird. Das wird man ja wohl nüchtern und objektiv feststellen dürfen. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) Wir, meine Damen und Herren, werden uns an unseren Teil der Gemeinsamkeit halten. Die Entschließung des Deutschen Bundestages, die von allen Fraktionen eingebracht wurde, wird dem Vertreter der Sowjetunion als ein Dokument der Bundesrepublik Deutschland, das sich die Bundesregierung zu eigen macht, förmlich übergeben. Man kann davon ausgehen, daß sie dem Präsidium des Obersten Sowjet, das das Ratifizierungsverfahren noch nicht abgeschlossen hat, bekannt wird und daß ihre widerspruchslose Entgegennahme jenen bedeutenden Tatbestand unterstreicht, den die Bundesregierung immer wieder betont hat: daß die Entschließung nicht im Widerspruch zu den Verträgen steht. Die Verträge, die hier zur Abstimmung vorliegen, nehmen keine friedensvertragliche Regelung für Deutschland vorweg. Sie sind also weder ein Teil- noch ein Ersatzfriedensvertrag. Wir haben uns bei den Verhandlungen an den Richtpunkten des Grundgesetzes orientiert, und wir haben klargestellt, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin fortbestehen. Doch die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Art. I des Warschauer Vertrages verpflichtet, die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens nicht in Frage zu stellen. Dies gilt ohne Einschränkung, solange es die Bundesrepublik 567

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Deutschland gibt. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit gegenüber dem polnischen Volk, dies jetzt zu sagen, und es ist ebenso ein Gebot der Ehrlichkeit gegenüber den Vertriebenen in unserer Bevölkerung und ihren Kindern, die für viele von uns die Hauptlast des verlorenen Krieges getragen haben." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5.1972) Die F r a k t i o n e n der C D U / C S U , SPD und F D P bringen im Deutschen Bundestag zur 2. Beratung und Schlußabstimmung der Ratifizierungsgesetze für die Verträge von Moskau und Warschau eine E n t s c h l i e ß u n g ein, welche den folgenden Wortlaut hat:

„Der Bundestag wolle beschließen: Im Zusammenhang mit der Abstimmung über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 12. August 1970 und dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 erklärt der Deutsche Bundestag : 1. Zu den maßgebenden Zielen unserer Außenpolitik gehört die Erhaltung des Friedens in Europa und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Die Verträge mit Moskau und Warschau, in denen die Vertragspartner feierlich und umfassend auf die Anwendung und Androhung von Gewalt verzichten, sollen diesen Zielen dienen. Sie sind wichtige Elemente des Modus vivendi, den die Bundesrepublik Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn herstellen will. 2. Die Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland in den Verträgen eingegangen ist, hat sie im eigenen Namen auf sich genommen. Dabei gehen die Verträge von den heute tatsächlich bestehenden Grenzen aus, deren einseitige Änderung sie ausschließen. Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen. 3. Das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung wird durch die Verträge nicht berührt. Die Politik der Bundesrepublik Deutschland, die eine friedliche Wiederherstellung der nationalen Einheit im europäischen Rahmen anstrebt, steht nicht im Widerspruch zu den Verträgen, die die Lösung der deutschen Frage nicht präjudizieren. Mit der Forderung auf Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts erhebt die Bundesrepublik Deutschland keinen Gebiets- oder Grenzänderungsanspruch. 4. Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die fortdauernde und uneingeschränkte Geltung des Deutschlandvertrages und der mit ihm verbundenen Abmachungen und Erklärungen von 1954 sowie die Fortsetzung des zwischen der Bundesrepublik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 13. September 1955 geschlossenen Abkommens von den Verträgen nicht berührt wird. 568

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und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie

5. Die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin werden durch die Verträge nicht berührt. Der Deutsche Bundestag hält angesichts der Tatsache, daß die endgültige Regelung der deutschen Frage im Ganzen noch aussteht, den Fortbestand dieser Rechte und Verantwortlichkeiten für wesentlich. 6. Hinsichtlich der Bedeutung der Verträge verweist der Deutsche Bundestag darüber hinaus auf die Denkschriften, die die Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften zusammen mit den Vertragsgesetzen zum Moskauer und Warschauer Vertrag vorgelegt hat. 7. Die Bundesrepublik Deutschland steht fest im Atlantischen Bündnis, auf dem ihre Sicherheit und ihre Freiheit nach wie vor beruhen. 8. Die Bundesrepublik Deutschland wird die Politik der europäischen Einigung zusammen mit ihren Partnern in der Gemeinschaft unbeirrt fortsetzen mit dem Ziel, die Gemeinschaft stufenweise zu einer Politischen Union fortzuentwickeln. Die Bundesrepublik Deutschland geht dabei davon aus, daß die Sowjetunion und andere sozialistische Länder die Zusammenarbeit mit der EWG aufnehmen werden. 9. Die Bundesrepublik Deutschland bekräftigt ihren festen Willen, die Bindungen zwischen Berlin (West) und der Bundesrepublik Deutschland gemäß dem Viermächte-Abkommen und den deutschen Zusatzvereinbarungen aufrechtzuerhalten und fortzuentwickeln. Sie wird auch in Zukunft für die Lebensfähigkeit der Stadt und das Wohlergehen ihrer Menschen Sorge tragen. 10. Die Bundesrepublik Deutschland tritt für die Normalisierung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ein. Sie geht davon aus, daß die Prinzipien der Entspannung und der guten Nachbarschaft im vollem Maß auf das Verhältnis zwischen den Menschen und Institutionen der beiden Teile Deutschlands Anwendung finden werden." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5. 72) A m 17. M a i stimmt der D e u t s c h e

Bundestag

auf seiner 187. Sit-

zung über die Verträge von Moskau und Warschau ab. I n namentlicher Abstimmung wurden für den Moskauer Vertrag 248 JaStimmen, 10 Nein-Stimmen abgegeben, 238 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Zum Warschauer Vertrag wurden abgegeben 248 Ja-Stimmen, 17 NeinStimmen, 231 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Die Entschließung der drei Fraktionen zu den Ostverträgen wurde mit 491 Ja-Stimmen angenommen, 5 Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Die C D U / C S U - F r a k t i o n bringt bei der 2. Beratung und Schlußabstimmung der Ratifizierungsgesetze für die Verträge von Moskau und

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Herbert G. Marzian Warschau einen E n t s c h l i e ß u n g s a n t r a g den Wortlaut hat:

ein, welcher den folgen-

„Der Bundestag wolle beschließen: Der Bundestag stellt fest, daß das Recht aller Deutschen einschließlich der Vertriebenen und Flüchtlinge auf Freizügigkeit vom und zum angestammten Wohnsitz und zur freien und angemessenen Entfaltung in ihrer Heimat (als einzelner und in Gruppen) im Sinne der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen, der europäischen Menschenrechtskonvention und der wiederholten einstimmigen Beschlüsse des Sicherheitsrates der UN durch die Vertragsgesetze zum Moskauer und Warschauer Vertrag weder verletzt noch behindert werden kann und darf. Durch die Verträge dürfen Vertreibungen weder legitimiert noch legalisiert werden." (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 187. Sitzung, 17. 5. 72) Der Antrag wird an den Auswärtigen Ausschuß sowie an den Rechtsausschuß und den Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt G E S C H I C H T E DES HABERBERGS „Haben wir den Berg!" soll König Ottokar ausgerufen haben, als er den Haberberg im Süden des neuzugründenden Königsberg besetzte. So will es wenigstens der brave Chronist und Pfarrer Hennenberger. Dies ist natürlich eine an den Haaren herbeigezogene Erklärung. Selbstverständlich kommt der Name von dem Hafer, der auf dem Berge wuchs, genau wie der des Haberturms des Schlosses, in dem der Hafer gespeichert wurde. Etymologisch haben wir bei den „Huben" den gleichen Vorgang. Längst heißen sie Hufen. Hier aber hat sich das b erhalten. Wir müssen uns also in der Ordenszeit hier zunächst wogende Getreidefelder denken. Dann gründete der Orden 1378 ein Gärtnerdorf, das allmählich aus 24 Höfen und einem Krug bestand; später war es eine stattliche Herberge, die sich an der Ecke Unterhabersberg und Bähren- ( = Bären) gasse befand, der späteren Kronenstraße. Die Dorfstraße war der spätere Unterhaberberg. Hier auf dem Haberberge hatten die Kneiphöfer ihre Schießstange mit dem Adler auf der Spitze, nach dem sie mit Armbrust und Bolzen schössen. Dieses Vogelschießen wurde von 1351 ab, dem Regierungsantritt des Hochmeisters Winrich v. Kniprode, zur Ertüchtigung seiner Bürger sehr gefördert. Diese Schießstange fiel 1626 dem Bau der neuen Wälle zum Opfer. Sie wurde nicht erneuert, da sich das Armbrustschießen ohnehin überlebt hatte. Herzog Albrecht machte Dorf und Flur Haberberg dem Kneiphof am 2. Februar 1522 zum Geschenk als Dank für die im „Rei ter kriege" geleistete Hilfe. (Verschreibung v. Tage Maria Reinigung im Geh. Ordensarchiv). 1537 erbaute man auf dem höchsten Punkte des Haberbergs eine Kapelle, die, 1601 erweitert, auf dem Behringschen Plan zu sehen ist. Nach ihm und dem Werdenhagenschen Plan von 1626 zu urteilen, war sie nicht sehr groß, sie hatte den achteckigen spitzen Turm im Nordwesten und einen Kreuzgang. Dieser Turm war usprünglich Wachtturm gewesen. Die Kapelle war der heiligen Dreieinigkeit geweiht. Ihr Inneres wird von Caspar Stein 1644 ausführlich beschrieben.

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Kleine Beiträge Aus der Zeit Herzog Albrechts erzählt der Chronist Christoph Falk aus Elbing vom Haberberg folgende derbhumorige Geschichte: „Vier fenlein 1 ) Knechte seyen von dem Hilgenbeile 2 ) ken Kongesberg gekomen in den jor 1557. Auff dem Haberberge haben sie ir leger 3) gemacht, und den suntag vor Michaelis hat der hertzog mesteringe 4) gehalden —. I n das leger vor Kongesberg ist gekomen ein dorfpfaffe aus dem dorf Perschke 5), der hatte in der stad gekoft ein virtel flesch von einem ochsen; wie er in dem loger was, do haben im die knechte das flesch aus dem sacke genomen und im ein todt derfroren weib in den sack gestacht, und lissen den dorfpfaffe domit hemferen®). Der pfaffe ist hemgekomen und hat befohlen, das flesch aus dem sacke zu thun, do haben sie einen todten korper aus dem sacke geschottet. Der pfaffe let 7 ) das todte weib auff seinen wagen und fort in das leger, hadert sich mit den knechten, domit er gezecht hatte, omb das todte weib. Die knechte haben gesaget, sie westen8) von kenem toden nicht; er solde das todte weib begraben, hatte er sie dermort 9 ) om des geldes wille. Zuletest hat der pfaffe das weib lossen in seiner pfar begraben, auf das er frede behilt von den knechte." — Auf dem Friedhofe der Dorfkapelle wurden 1566 die Leichen der drei auf dem Kneiphöfischen Markte hingerichteten Räte Funk, Horst und Dr. Schnell in einer Kaule verscharrt. Die Stelle soll auf dem jetzigen Friedhofe nahe der östlichen Durchstichstelle des Jahres 1927 am südlichen Zaun gewesen sein. Der zu unserer Zeit längst verschwundene Leichenstein trug die Verse:

„Christlicher Leser, wer Du bist Merk auf, wer hier begraben ist! Es waren drey Männer wohlgelehrt Die gerichtet worden mit dem Schwerdt, Der erst Jan Funk, Magister, Ein Prädicant und ein Priester; Der ander Mathis Horst gemeldt, 1) 2) 3) 4) 5) β) 7) 8) 9)

Fähnlein Heiligenbeil Lager Musterung Pörsdiken heimfahren lädt wüßten ermordet

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Kleine Beiträge Ein beretter und frischer Heidt; Der dritte hier Johannes Schnell Im Rechten ein erfahrner G'sell, Waren Fürstlich Räthe alle Drey, Den'n Gott der Herr barmhertzig sey; Woll ihnen und uns allen geben Nach dieser Zeit das ewig Leben". — Inzwischen war vor dem Brandenburger Tor das Schießhaus der Kneiphöfer Schützen entstanden. Hier war es, wo am 14. Juni 1640 der Kurfürst Georg Wilhelm, der in seiner östlichen Herzogsstadt residierte, am Königschießen teilnahm und sich — wenige Monate vor seinem Tode — die Königs würde erschoß. Ihm wurde ein Schützen Willkomm im Werte von 69 Joachimstalern überreicht, und der Professor der Poesie Simon Dach dichtete dazu folgende Verse: „Dieses Wilkom ist dem werthen SchützenOrden Im Kneiphoff Königsberg zu gut gestiftet worden. Da, als Georg Wilhelm selbst der Fürsten Licht und Art Und Held zu Brandenburg, im schissen König ward, Lest jemand sich daraus nach Hoffes brauch beschenken, Der sol der Schützen stets in ehren zugedenken Daneben schuldig seyn, sol wünschen auch darzu Dem Hause Brandenburg, glück, heil und alle ruh". — U m 1750 war an der Stelle dieses Schießhauses, dicht unter dem gegen rauhe Winde schützenden Wall die Maulbeerplantage des Buchbinders Schulz, die indessen trotz guter Erträge später teils wegen der rauhen Winter, teils wegen der zu großen Mühe der Zucht ebenso einging wie die größere Plantage auf der Lomse. Das neue Schießhaus der Kneiphöfer aber wurde 1748 von allen drei Städten gemeinsam benutzt, bis es 1854 auf den Mitteltragheim verlegt wurde. — Das Anwachsen der Gemeinde erforderte einen Kirchenneubau in den Jahren 1653—83, der um die alte Kapelle herumgebaut wurde, um den Gottesdienst nicht zu stören. Diese Kirche stand bis zum 18. Dezember 1747, als der Blitzstrahl eines schweren Wintergewitters sie infolge des starken Sturmes so gründlich verbrannte, daß selbst die Särge in den Grabgewölben vom Feuer verzehrt wurden. Die neue Kirche wurde als weite dreischiffige Hallenkirche erbaut und 1753 geweiht. Ihr Äußeres — die gotisierenden Spitzbogenfenster wurden 573

Kleine Beiträge erst 1853 eingezogen — war schmucklos bis auf ein Spruchband, das sich in deutschen Lettern rings um sie herumzog. Es lautete auf der Nordseite: „Dreiein'ger Gott, dies Haus, das dir gehört, Hat zwar Dein Zorn durch Blitz und Brand zerstört; Doch hat es Deine Gnad* durch milde Hand Auch wiederum gesetzt in diesen Stand!" 1747 den 18. December, 1751 den 11. Oktober. auf der Südseite: „In diesem Stand erhalt es immerdar, Und wend* davon so Feur* als Kriegsgefahr Entzeuch uns nicht des Glaubens Reinigkeit, Da es zu Deinem Dienst nun wieder eingeweiht. 1753 den 5. May e . Innen hatte die dreischiffige Kirche Kreuzgewölbe auf ionischen Säulen aus gotländischem Kalkstein. Die Ausstattung in Weiß, Grün und Gold bildete ein völlig harmonisches Ganzes und war von fröhlichem Rokokogeist erfüllt: Altar (1766), Kanzel (1756), die von Adam Gottlob Casparinis Meisterhand stammende Orgel (1763), Beichtstühle (1765), Liedertafeln, Stuckdecke, zum Teil auch das Gestühl paßten in ihrer prächtigen Schnitzarbeit und ihren würdigen Farben ausgezeichnet zusammen. Der Altaraufsatz kostete 2976 Gulden. Eine schöne Eisenarbeit stellte das zuletzt leider getrennte Gitter vor dem Altar dar. Es stammte aus dem Jahr 1794 und liefert den Beweis, daß die Rokokokunst mindestens im Kunstgewerbe noch über das Jahr 1790 fortlebte. Alle Schönheit legte man in den H e l m des 77 Meter hohen Turmes, der erst 1775 vollendet wurde. Er war in den schönsten Verhältnissen, die ja allgemein das Schönheitsideal des Barocks sind, nach dem goldenen Schnitt erbaut, und die edle säulengeschmückte welsche Haube wurde von einem 2,20 Meter großen, 80 Kilogramm schweren in Kupfer getriebenen und vergoldeten, posaunenblasenden Engel des Königsberger Kupferschmiedes Lorenz Wietander gekrönt. Für ihn wurden 76 Ducaten Goldes verwandt. Er hatte nur einen Flügel, um besser als Wetterfahne dienen zu können. 1820 wurde seine Vergoldung erneuert. Zweimal schlug der Blitz wiederum in den Turm, aber es waren zum Glück nur kalte Schläge; der Schlag von 1783 veranlaßte die Kirchenleitung, den Turm als ersten Kirchturm Königsbergs mit dem 1752 erfundenen Blitzableiter zu versehen. Die Glocken der Haberberger Kirche waren ohne Zweifel von dem Gemüsebau in den benachbarten „Nassen Gärten" beeinflußt, denn sie riefen 574

Kleine Beiträge deutlich: „Gehlmöhre onn Peterzölke"! Eine dieser Glocken von 1763 erhielt 1892 einen Sprung und wurde in der Glockenstadt Apolda ausgetauscht. — 1807, nach der Schlacht bei Preußisch Eylau, wurden die weiten Hallen der Kirche Lazarett für die russischen Verwundeten. Dadurch litt ihre schöne Rokokoausstattung schwer. Als die Franzosen nach der unglücklichen Schlacht von Friedland heranrückten, erfolgte von Rosenau aus die Beschießung Königsbergs; eine der Kugeln traf die südliche Kirchen wand in der Nähe des Turmes; sie stak als beredter Zeuge der Franzosenzeit noch bis zur Vernichtung der Kirche bei den Kämpfen um Königsberg im Frühling 1945 in der Mauer. Eine Tafel neben ihr besagte: „Erinnerung an das französische Bombardement vom 14. V I . 1807". Eine weitere Kugel derselben Beschießung befand sich übrigens in dem Fabrikgebäude in der Vorstädtischen Hospitalstraße, dem früheren Alten Magazin, nahe dem alten Ostbahnhof. A m 16. Juni zog dann der Marschall Soult in die von den preußischen Truppen verlassene Stadt ein. — Viel Interessantes bot der Friedhof. Nach der Schlacht von Pr. Eylau begrub man an der Ostseite des Kirchhofes den russischen Fähnrich Christoph von Saß, einen Balten, der, in der Schlacht schwer verwundet, im Kirchenlazarett starb. Das Grabmal sprach in kyrillischen Buchstaben und im Stil seiner Zeit; die klassizistische gußeiserne Urne auf dem geometrischen Bau ist ein typisches Grabmal der Empirekunst in dem damals modernen Material des Gußeisens. Der Friedhof war früher erheblich größer. Der Durchstich zum neuen Hauptbahnhof im Jahre 1927 beseitigte ein gutes Stück von ihm, sowie das Trainkasino. (Die Kaserne des 1. Train, der „Haberberger Veilchen", war bekanntlich in der Kronenstraße. Sie fiel nach dem 1. Weltkrieg den Wohnbauten zum Opfer). Die bei den Durchsticharbeiten von den Arbeitern freigelegten Gebeine wurden in eine große rechteckige Grube geworfen, auf deren Hügel Irgendjemand, vielleicht einer der Arbeiter, aus kleinen Steinchen den Satz zusammensetzte:

Ob arm, ob reich — Im Tode alle gleich. — Wenn man von der Höhe des Haberberger Friedhofes den Blick herabschweifen ließ auf den Hauptbahnhof und seine Anlagen, so erinnerte man sich wohl des einstigen Haberberger Grundes mit der 52. Feldartilleriekaserne, den Ställen und Reitbahnen, wo die Rekruten lernten, daß das

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Kleine Beiträge Pferd ein wildes Tier sei, mit dem man sich gutstellen müsse. Der Haberberger Grund war einst durch die Ausbeutung von Sandgruben entstanden. Nach der Königsberger Schicksalsnacht am 29./30. August 1944 aber lagen an der Südseite der zerstörten Kirche, nebeneinander gelagert, Leichen der im Phosphorregen der Engländer umgekommenen Königsberger — ein trauriger Anblick, der zu beweisen schien, daß die Erfindungen der Zivilisation nur dazu gemacht werden, um die Menschheit auszulöschen und die Kultur zu vernichten. — Schon von Alters her bestanden die von West nach Ost hinziehenden parallelen Straßen; im Tal der Unter-, auf dem Berge der Oberhaberberg und die Artilleriestraße. Von dieser führten zum Haberberger Grund die beiden Rundteile — einst Rondelle der Befestigungswerke von 1626. Die Fortsetzung des Unterhaberbergs nach Westen war der Alte Garten, der einst mit dem Nassen Garten zusammenhing, bis die Befestigungen von 1626 die Verbindung unterbrachen. Nach Osten trafen sich die drei Straßen im Pferdemarkt, dem späteren Viehmarkt, auf dem erst 1907 die Lutherkirche von Heitmann erbaut wurde. Nach 1856 gab es nur drei Querstraßen: Kronenstraße, Haberberger Neue Gasse und die Sandgassen, bis 1811 „Sandkaulen". Eine weitere Sackgasse führte vom Oberhaberberg nach Norden, an deren westlichem Ende später die Baptistenkapelle lag. Sie hieß Schweizer Grund. I m 19. Jh. war der Zugang etwa ein 5 m breiter Kiesweg, an dem westlich das Backsteinhaus stand, in welchem 1857 Walter Simon, der bekannte Wohltäter Königsbergs, geboren wurde. Er schenkte dies Haus später der Stadt, die es als Pflegeheim benutzte. Der Kiesweg senkte sich zu einem weitläufigen Platz, wo fünf oder sechs Häuser in dem in den Alpen üblichen Baustil standen. Es waren Einzelbauten mit zahlreichen bunten Holzfenstern und Fensterläden, um das Obergeschoß führte der balkonartige Umgang, die Dächer waren flachgieblig — kurz — richtige Schweizerhäuschen. Sie waren in der Tat von Schweizern erbaut, die aus religiösen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen hatten und sich hier auf dem Berge angesiedelt hatten. Nach ihnen hießen Platz und Gegend der Schweizer Grund, zuerst im Volksmund, seit 1884 offiziell. I n unserer Zeit zerteilten diese mit am stärksten bevölkerte Gegend Königsbergs noch sechs weitere Straßen. A n die westliche Querstraße, die Roonstraße, grenzten zuerst der alte Altstädtische, dann der alte Domfriedhof. Doch ehe wir sie besuchen, kommen wir an der Stelle vorbei, wo einst eine Pumpe mit dem Holzbild des Hans von Sagan stand. Die Stelle war

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Kleine Beiträge genau da, wo der Haberberger Kirdihof im Westen aufhörte und die Elektrische Bahn die Schleife machte. Die Pumpe war so mit H o l z verkleidet, daß sie das Ansehen eines pyramidenartigen Häuschens hatte, aus dem nur Pumpenschwengel und Auslaufrohr herausragten. Die Holzfigur auf der Spitze der Pumpenpyramide stellte einen Fahnenträger der Barockzeit (!) vor mit Federhut, eine Fahne in der Rechten, der das verwundete rechte Bein hochhält. Sie war etwa eineinhalb Meter hoch und bunt bemalt. Dort hat der brave Hans lange Wache gestanden. Doch in einer kalten Winternacht Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts verschwand das Standbild spurlos. Vielleicht war es von einem frierenden Haberberger gestohlen, der es verheizte, oder auch von Bubenhänden in den nahen Wallgraben geworfen. Jedenfalls herrschte in Königsberg allgemeine Entrüstung über die unedle Tat — war Hans von Sagan doch eine typisch Königsberger Lokalfigur und gehörte deshalb allen Königsbergern sozusagen persönlich. Daß dieser Verlust nie ganz verwunden wurde, zeigte sich darin, daß der Maurermeister Paul Moschall 1908 an seinem Eckhause Unterhaberberg — Haberberger Neue Gassse N r . 38 ein selbstgefertigtes zwar unkünstlerisches, aber dem Pumpenbilde ähnliches Zementfigürchen Hans von Sagans auf einem Sockel am ersten Stockwerk anbrachte. Energischer aber nahm sich die Schuhmacherzunft der Sache an: sie faßte zur 200-Jahrfeier der Zusammenlegung der drei Städte 1924 den schönen und lokalpatriotischen Entschluß, ihrem Patron und ihrer Vaterstadt ein richtiges schönes Hans von Sagan-Denkmal zu schenken. M a n stellte 12 000,— R - M a r k zur Verfügung und bat den Magistrat, ein Preisausschreiben zu erlassen und das Denkmal nach seinem Ermessen aufstellen zu lassen. Damals war Brachert der tonangebende Bildhauer in unserer Stadt; seinem Einfluß war es zu danken, daß der Zeichenlehrer Ernst Filitz, ein geborener Ponarther, der sich auch bildhauerisch betätigte, den Auftrag von den Preisrichtern Oberbürgermeister D r . Lohmeyer, Prof. Brachert, Prof. Frick, Stadtbaurat Glage, Dr. Goldstein, D r . Pape, Obermeister Hubert bekam. Daß das Denkmal an die edle Barockfront unseres schönen Kneiphöfischen Rathauses angeklext wurde, mochte historisch berechtigt sein, als aber die Hülle fiel, blieb so manchem Königsberger „die Spucke weg" — nicht bloß den braven Schuhmachern, deren gutes Geld es gekostet hatte. Denn man sah einen kleinen, krummen, widerlichen Kerl mit den durch eine breite Nase und weit vorspringende Backenknochen verunzierten Gesichtszügen 37

Königsberg

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Kleine Beiträge eines Kalmücken aus rotem Granit vor sich, der also den heldenhaften Schuster der Rudauer Schlacht verkörpern sollte. Der Ruhm des sagenhaften Schustergesellen war übrigens durch ganz Deutschland gedrungen, wie Dr. Gause in einem wertvollen Beitrag über den Hans v. Sagan-Mythos 1960 darlegte. Dies beweist auch eine Urkunde, die Hermann Bink nach dem letzten Kriege in Bramstedt/Holstein aufgefunden hat: I n der wird von einem zinnernen Kruge der dortigen Schuhmacherzunft erzählt, auf dessen Deckel der wackere Schustergeselle als Kriegsmann abgebildet war. Bei feierlichen Anlässen ging der Krug rundum, und in einem erhaltenen Liede werden Hans von „Sorgens" Taten — so ist sein Name verballhornt — besungen. — Durch ein schönes barockes Portal betrat man den am 9. Dezember 1785 geweihten Domfriedhof. Gleich neben dem Eingang befanden sich Mausoleen älterer Zeit, darunter ein Erbbegräbnis von 1794 mit schönen schmiedeeisernen Rokokogittern, in dessen Gewinden sich bereits der Zopfstil bemerkbar machte. Die ganze Fassade war mit Blech verkleidet, das täuschend angemalt war — ein echt barocker Trug, der auch sonst vorkommt, ζ. B. beim Grabmal Paul I I I . in der Peterskirche zu Rom. Die daneben liegende Grabkapelle des Tobias Pychlau von 1786, gekrönt mit Putten und einer Urne, und die der Hannah Zeise von 1787 hatten — im übrigen verwahrlost — hübsche Rokokotüren. Auf dem Friedhof befand sich auch das Mausoleum der Geschwister Zschock und ihrer Mutter, das von den Vorstehern des Stifts, Carl Neumann, Walter Pirsch und Curt Laubmeyer in bester Ordnung gehalten wurde. Weiter traf man auf das Grabmal des in Karwaiten auf der Kurischen Nehrung am 9. Januar 1776 geborenen, am 30. August 1840 gestorbenen Konsistorialrates und Professors Ludwig Jedemin Rhesa, (eig. Reehse), einen Obelisken, auf dem sein Leben und die ganze Geschichte seines verschütteten Geburtsdorfes kurz erzählt war. Das Grabmal des Oberbürgermeisters Sperling zeigte eine hübsche Kindergruppe. Auch Christian Jakob Kraus (1753—1807), der geistvollste der Freunde Kants, lag hier unter einem schlichten Granitblock begraben. Auf dem benachbarten Altstädtischen Friedhofe aber, der am 26. Januar 1803 eingeweiht wurde, stand das Grabmal des Sohnes des „Magus im Norden", des Direktors des Altstädtischen Gymnasiums Johann Michael Hamann (1769—1813). Es war 1822 von seinen Schülern gestiftet und

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Kleine Beitrge stellte eine in der damals so beliebten Gußeisentechnik gefertigte Empireurne auf abgestumpfter Pyramide dar. Hier schlief auch der Physiologe Karl Friedrich Burdach (1776—1847). I m Jahre 1908 wurde der Direktor des Friedrichskollegs Georg Ellendt, ein für seine Zeit fortschrittlicher Schulleiter und begeisternder Lehrer, hier beigesetzt. Auf dem Domfriedhof befand sich ferner die als geräumiger gemauerter Schacht erbaute Gruft des Generalsuperintendenten und einzigen evangelischen Erzbischofs Ludwig Ernst Borowski (1740—1831), dessen Gemälde von Julius Knorre 1831 in der Neuroßgärter Kirche hing und dessen Herme von Cauer 1907 an ihrer Nordseite aufgestellt wurde, weil er von 1782— 1831 ihr Prediger gewesen war. Borowski war ein herzandringender Kanzelredner und geistvoller Mann, der zu Kants Tafelrunde gehörte und bei König Friedrich Wilhelm I I I . in höchstem Ansehen stand. Uber seine Schlagfertigkeit gibt es viele Anekdoten. Nicht sein kleinstes Verdienst ist eine von Kant selbst noch revidierte Biographie des großen Königsberger Weisen. Nach seinem Tode wurde er auf dem alten Domfriedhof beigesetzt. Als man um 1937 daran ging, die verfallenen Grüfte und Mausoleen beider Friedhöfe, soweit sie historisches und künstlerisches Interesse beanspruchten, wieder herzurichten, beschloß man, den Sarg Borowskis zu öffnen. Unter fachkundiger Leitung von Dr. Erich Bieske und im Beisein vom zweiten Dompfarrer Walter Strazim und einem Herrn vom Domkirchenrat sowie zwei oder drei Arbeitern aus der Fabrik D r . Bieske, Vorstädtische Langgasse N r . 16, geschah dies. Herr Dr. Bieske schildert mir den Vorgang im Brief vom 2. November 1970 so: „Wir hoben die Grabplatte ab, ließen die Leiter hinunter und stiegen ein. Der Sarg war ein großer schwerer Holzsarg, aus Eiche, aber kein Prunksarg, [wie Glaubitt auf S. 487 seines Buches irrtümlich schreibt]. Nach Entfernung des Sargdeckels sahen wir die sterblichen Uberreste des Bischofs. W i r sahen das Skelett im Ornat mit goldenem Bischofskreuz liegen. Es war ein schwarzer gut erhaltener Mantel. Alles Fleisch des Leichnams war durch Verwesung verschwunden. N u r Kopfhaare und Gebiß waren mit dem Schädel gut erhalten geblieben. Das Sarginnere war vollkommen trocken und sauber.' Herr Strazim nahm das Bischhofskreuz mit Kette, um es dem Prussiamuseum zu übergeben. Der Sarg wurde sorgfältig von meinen Arbeitern verschlossen und die Gruft mit der Grabplatte wieder zugedeckt." 37*

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Kleine Beiträge Über das weitere Schicksal des Borowskischen Sarges weiß der Königsberger Bildhauer Paul Kimritz folgendes zu berichten: „ I m Jahre 1944 gab der Dompfarrer Walter Strazim mir den Auftrag, ihm einen Entwurf für einen Eichensarg für die Reste des Erzbischofs Borowski vorzulegen. Ich lieferte einen Entwurf in geraden zeitlosen Formen; ein Tischlermeister in der Hindenburgstraße führte ihn in dicken Eichenbohlen aus. I m Innern des Sarges befand sich 10 cm über dem Sargboden ein Kupferrahmen mit kupfernem Drahtgeflecht. Die an den Sargseiten unsichtbaren Schlitze im Sarg sorgten dafür, daß immer Luft durch ihn ging und so ein frühzeitiges Verstocken des Holzes vermieden wurde. I n den Sarg wurden auf das Kupfernetz freiliegend hineingelegt: der Totenschädel Borowskis, seine Gebeine, Reste des mit schwarzem Samt überzogen gewesenen alten Sarges [wohl das Ornat] sowie das alte Sargschild, auf dem mit vergoldeten Buchstaben Name, Geburts- und Todestag des Verstorbenen angegeben waren. A m Fußende des Sarges schnitt ich dann in plastischer Schrift ein: ,Erzbischof Borowski 1 . Der Sarg kam in das Gruftgewölbe im Hohen Chor des Domes, dessen Eingang rechts vorne w a r " 1 0 ) . — Die beiden Friedhöfe sollten in einem Park umgewandelt werden, doch ist es dazu nicht mehr gekommen, — vielmehr baute man in der letzten Kriegszeit auf dem Altstädtischen Friedhof einen Luftschutzbunker. Infolgedessen kamen die Gebeine derer, um die sich noch Verwandte oder Freunde kümmerten, auf den Friedhof des Rothensteiner Krematoriums. — Literatur Anonymus, „Hans Sagan — der Sagenheld von Rudau". Ostpr. Bl. 21,10 v. 7. I I I . 1970. Bieske, Erich: Briefwechsel mit Verf. Bink, Herrn., „Der Mythos um den Königsberger Schuhmacher Hans von Sagan". Ostdt. Mo.-H. H. 23, 5 v. 11/1957. Oers. y „Hans von Sagan in Holstein". Ostpr. Bl. 1961. Boettichery Adolf: „Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreußen". Bd. 7. Königsberg. Kgb. 1897. Debio-Gall, „Dt.-Ordensland Preußen". München 1952. Falk, Christoph, „Elbingisch-preußisdie Chronik", herausgegeben von Max Toeppen. Leipzig 1878. 10 ) Dort blieb er nicht lange; er wurde 1943 oder 1944 mit dem Prunksarg des Kurfürsten Georg Wilhelm in ein altes Erbbegräbnis der Kirdie Schaaken gebracht (Brief des Dompfarrers Strazim vom 3.11.64 im Besitz des Verfassers). Weiteres Schicksal unbekannt.

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Kleine Beiträge

Flögely C. T. H., „Königsberger Jubel-Chronik zum 600jähr. Jubiläum der Stadt". Kgb. 1855. Ganse, Fritz, „Nachruhm des Hans von Sagan". Ostpr. BL, Jg. 11, 28. 1960. Gusoviusy Paul, „Der Landkreis Samland". Würzburg 1966. Hennenberger, Caspar, „Kurze und einfeltige Beschreibung des Landes Preußen". Königsberg 1584. Karl, G. [Gustav Springer], „Alt-Königsberg im Wandel der Zeiten". Kgb. 1919. Kimritz,

Paul, Briefwechsel mit Verfasser.

Lilienthal, Mich., „Erleutertes Preußen". 5 Bde. Kgb. 1724—-28. 1742. Mühlpfordt y Herb. Meinh., „Der Kneiphöf. Markt und die Brudermordkeule". Ostpr. Warte 3, 2 v. Februar 1954. Oers. y Königsberger Skulpturen von 1255 bis 1945". Würzburg 1970. Oers., „Welche Mitbürger hat Königsberg öffentlich geehrt?" Würzburg 1963. Pirsch, Walter, Briefwechsel mit Verfasser. Prüser, Friedr., „Hans von Sagan auch in Bremen". Ostdt. Mo.-H. 23, 7 v. IV/1957. Skrupke, Ernst, „Der Schweizergrund auf dem Oberhaberberg". Ostpr. Bl. 1964/Dez. Stein, Caspar, „Peregrinator", übersetzt von Arnold Charisius, „Das alte Königsberg". Kgb. 1911.

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Joachim Freiherr von Braun DER G Ö T T I N G E R ARBEITSKREIS Tätigkeitsbericht 1971/72 A m 20. und 21. April veranstaltete der Arbeitskreis die Jahrestagung seines wissenschaftlichen Beirates. Sie fand im großen Saal des „Collegium Albertinum" zu Göttingen statt und wurde vom Präsidenten Prof. D r . Boris Meissner geleitet. Dieser konnte einleitend außer den Mitgliedern des Beirates viele Gäste begrüßen, nämlich Gelehrte mehrerer Universitäten, Vertreter zentraler Bundesbehörden und befreundeter Institutionen, aber auch angesehene Publizisten. Sie alle waren in großer Zahl zu dieser Tagung gekommen, die unter dem Titel: „Friedensvertrag oder Ersatzfriede?" durchgeführt wurde. Bei dieser Begrüßung konnte der Präsident auch bekanntgeben, daß folgende Persönlichkeiten ihrer Berufung in den wissenschaftlichen Beirat Folge geleistet haben: Dr. R. W . Füsslein, Ministerialdirigent a. D., Bonn Dr. Werner Haseroth, Bad Ems Prof. Dr. Friedrich Klein, Münster Dr. Wilhelm Turnwald, Botschafter i. e. R., München Die Tagung selbst wurde durch ein Referat des geschäftsführenden Vorstandsmitgliedes eingeleitet, das grundsätzliche Überlegungen und aktuelles Geschehen unter dem Titel: „Gemeinsinn als Voraussetzung von Frieden und Freiheit" zusammenfaßte 1). I m Anschluß hielt Prof. D r . Boris Meissner den Vortrag: „Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland seit Potsdam" 2 ), der die ostpolitische Entwicklung seit Kriegsende bis zur Gegenwart darstellte und die sowjetischen Friedens-Vorstellungen ins Zentrum der Betrachtung rückte. Beifall und eine vielseitige Aussprache bestätigen das Interesse des Auditoriums. 1) Das Referat ist an anderer Stelle dieses Jahrbuchs abgedruckt. 2) Der Vortrag ist an anderer Stelle dieses Jahrbuchs vollständig abgedruckt.

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Der Göttinger Arbeitskreis A m Nachmittag sprach Jens Hacker, Köln über: „Die Vorstellungen der , D D R ' über eine friedensvertragliche Regelung mit Deutschland" 3 ). Auch dieser Vortrag fand große Beachtung und wurde in einer Diskussion noch lebhaft erörtert. M i t größter Anteilnahme verfolgten die Anwesenden den abschließenden Vortrag dieses Tages. Er wurde von Prof. Dr. Otto Kimminich, Regensburg gehalten und behandelte das Thema: „Zur völkerrechtlichen Wertung der Ost-Verträge" 4 ). Die anschließende Aussprache brachte Zustimmung, Fragen und Ergänzungen. Dem Vortragenden wurde vor allem mit lebhaftem Beifall gedankt. Leider mußte die vielseitige Diskussion vorzeitig abgebrochen werden. Gäste und Beirats-Mitglieder fanden sich am Abend dieses 21. Aprils zum gemeinsamen Essen erneut zusammen. Der Präsident gab der Genugtuung des Arbeitskreises Ausdruck, daß so viele Sachkenner, alte Freunde und neue Gäste gekommen seien, um gemeinsam in einer sorgenvollen Zeit Probleme unseres Landes exakt zu beraten. I h m antwortete in herzlicher und anerkennender Weise für die Gäste Prof. D r . Gerhard Funke, Mainz. A m zweiten Tage (22. April) der Veranstaltung wurde die Sitzung durch den Vortrag von Herbert G. Marzian, Göttingen eingeleitet: „Grundlagen des Friedens — Zum 30. Jahrestag der Erklärung der Vereinten Nationen am 1. Januar 1942" 5 ). Diese zeitgeschichtliche Betrachtung fand großes Interesse und lebhaften Beifall. M i t bewährter Sorgfalt, gestützt auf reiches Quellen-Material in- und ausländischer Herkunft, gab Prof. Dr. Karl O. Kurth, Bonn den „Außenpolitischen Jahresrückblick unter besonderer Beachtung der ostdeutschen Frage". Die Vielzahl der Ereignisse und die erkennbaren Entwicklungen wurden von dem Vortragenden eindrucksvoll und fesselnd zur Geltung gebracht. Dabei wurde immer wieder das weltweite Geschehen mit den Problemen unseres Landes in Zusammenhang gebracht, und die LösungsVersuche der eigenen Politik wurden vor diesem Hintergrund beleuchtet. Beifall und Aussprache bewiesen dem Referenten, daß er das Interesse des Auditoriums gefunden hatte. M i t dem traditionellen „Bohnenmahl" der „Gesellschaft der Freunde Kants" fand die Jahrestagung des Arbeitskreises wiederum ihren Abschluß. 3) Der Vortrag ist an anderer Stelle dieses Jahrbuchs vollständig abgedruckt. 4) Der Vortrag ist an anderer Stelle dieses Jahrbuchs vollständig abgedruckt. 5) Der Vortrag ist an anderer Stelle dieses Jahrbuchs vollständig abgedruckt.

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Joachim Freiherr

von Braun

Die Mehrzahl der Teilnehmer vereinte sich nochmals in diesem Kreise und zur Pflege einer ehrwürdigen Tradition. Pfarrer Johannes Schiller, Roringen bei Göttingen gedachte einleitend der verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft, um dann die Versammlung zu begrüßen und zu Ehren des 248. Geburtstages von Immanuel Kant seine „Bohnenrede" zu halten. Seine Ausführungen stellte er unter den Titel: „Philosophische und theologische Argumente zu Unsterblichkeit und Auferstehung." Sein Amt hatte er damit erfüllt, dabei ein aufmerksames und dankbares Auditorium gefunden 6). Die Silberne Bohne in der anschließend gereichten Torte bestimmte Dr. Friedrich Wilhelm Benninghoven zum neuen „Bohnenkönig". Als Historiker war er Jahre hindurch Mitarbeiter des Staatlichen Archivlagers (Königsberger Staatsarchiv) zu Göttingen und ist als gründlicher Kenner der Geschichte des Deutschen Ordens durch zahlreiche Veröffentlichungen und als scharfer Gegner bewußter Geschichtsklitterung hervorgetreten, die zum Nachteil des Ordens und seiner Leistung laut wurde. Wie es der Brauch befiehlt, wurden die beiden Tisch-Nachbarn zu Ministern berufen, nämlich Wolfgang Koehler, Gesandter i. R., Hamburg und Prof. D r . Roderich Schmidt, Marburg. Z u neuen Mitgliedern der Gesellschaft wurden berufen: Ministerialrat Hartmut Gassner, Bonn Staatssekretär a. D . Volkmar Hopf, Wiesbaden Prof. D r . Richard Nürnberger, Göttingen Prof. D r . Roderich Schmidt, Marburg Arbeitsbericht

1971/72

I n dieser Berichtsperiode — vom 1. April 1971 bis zum 31. März 1972 — konnten 9 neue Titel herausgegeben werden 7 ). Damit erhöhte sich die Zahl der vorgelegten Publikationen auf insgesamt 407. Von den Veröffentlichungen des Berichts-Zeitraums seien nur besonders erwähnt: Das „Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg!Pr." wurde mit seinem Bande X X I I ausgeliefert. Es erschien wiederum im Verlage Duncker ·) Nachrufe, Begrüßungswort und „Bohnenrede" sind an anderer Stelle dieses Jahrbuchs abgedruckt. 7) Siehe Anlage I : Veröffentlichungen des Göttinger Arbeitskreises im Berichtszeitraum.

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Der Göttinger Arbeitskreis & Humblot, Berlin und setzte ebenso die ostdeutsche Bibliographie wie die Zeittafel zur Oder-Neiße-Frage fort. Beides erhöhte den Umfang des Bandes, da eine lebhafte Erörterung von Deutschlands Ostproblem berücksichtigt werden mußte. Bemerkenswert ist überdies, daß zwei wissenschaftliche Abhandlungen des Bandes die Haltung Rußlands zur Reichsgründung vor hundert Jahren beleuchten. Vom „ Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau" wurde der neue Band X V I I wiederum von Duncker & Humblot, Berlin verlegt. Dem Redaktor D r . Hans Jessen ist erneut der vielseitige Inhalt des Bandes zu danken. Aus diesem ist der Rückblick auf die Leistungen der Historischen Kommission für Schlesien während ihres Bestehens von 50 Jahren ebenso hervorzuheben wie die Abhandlung über die Künstlerkolonien im Riesengebirge. Bewegend sind die Erinnerungen des greisen Siegmund Hadda, N e w York an Breslau und an das von ihm geleitete jüdische Krankenhaus dort, an die Zeit von 1906 bis 1943. Sie mögen vor allem auch ein Zeugnis dafür sein, daß Schlesier die einstigen Verbrechen einer totalitären Staatsführung nicht verschweigen, wenn sie von Mitbürgern und Gemeinwesen die Achtung ihrer Rechte erwarten, aber nicht das Ansinnen stellvertretender Sühneleistung. I n der Buchreihe „Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Holzner-Verlag, Würzburg wurden veröffentlicht: „Die Geschichte der Festung Glatz", Eduard Köhl als Band L I .

Arbeitskreis",

von Verwaltungsoberrat a. D . Dr.

„Der Kreis Neustettin, ein pommersches Heimatbuch", zusammengestellt und erarbeitet von Rektor a. D . Franz Steher als Band L H . Gerade dieser Band über einen ostdeutschen Landkreis hat erneut bestätigt, welch lebhaftes Interesse für derartige Publikationen besteht, die Geschichte und Entwicklung eines Verwaltungsbereichs bis zum Zusammenbruch darstellen. Denn während der Herstellung des Buches mußte die Auflage bereits erhöht werden und trotzdem ist sie mit mehr als 3000 Exemplaren durch Subskription fast vollständig in Anspruch genommen worden. Außerhalb der eigenen Buchreihen wurde als Monographie vorgelegt: „Familien- und Erbrecht der Flüchtlinge und Umsiedler". Von Dr. Dieter Pfaff und Dr. Jan Peter Waehler. Diese wissenschaftlichen Referenten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg haben in diesem Bande

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von Braun

eine Fülle von Rechtsgutachten zusammengefaßt. Sie befassen sich alle mit den Problemen, die sich aus den Vertreibungen oder Aussiedlungen während und nach dem Kriege ergeben und zwar gleichermaßen für Betroffene aus dem östlichen Deutschland wie aus dem östlichen Europa überhaupt. Die Sammlung dieser Gutachten wird eine Rechtsprechung erleichtern. Sie braucht künftig nämlich eine schwierige Materie nicht mehr für zahlreiche Einzelfälle mühsam zu klären oder wissenschaftlichen Beistand stets erneut zu erbitten. Die Vorstandsmitglieder Herbert Marzian und Frhr. v. Braun konnten im abgelaufenen Jahr 13 Ansprachen oder Referate halten. D a es sich dabei um völkerrechtliche, historische oder zeitgeschichtliche Themen handelte, konnten stets die Erkenntnisse des Arbeitskreises zur Geltung gelangen. Stets versucht der Arbeitskreis, einen Anteil seiner Publikationen unmittelbar zur Geltung zu bringen. I n der Berichtszeit wurden von ihm insgesamt 2538 Bücher verschickt, Interessenten im Auslande erhielten davon 200 Stück. Inzwischen besteht die Bücherei aus 12 317 Titeln. I n der Berichts-Periode belief sich der Zugang auf 754 Titel. Insgesamt werden im Bestände zur Zeit 1072 polnische Titel geführt, von denen 62 während der Berichtszeit neu aufgenommen wurden. Das Archiv enthält einschlägiges Quellenmaterial über das östliche Deutschland, seine Entwicklung und Werturteile über das Geschehen. Eine Gliederung in 227 Sachgruppen ermöglicht die Benutzung auch für die oft erbetenen Auskünfte. Zur Zeit enthält das Archiv rd. 212 100 Einzelstücke, sein Bestand hat sich also im abgelaufenen Jahre um rd. 11 700 Stücke vermehrt. Das Mikrofilmarchiv sichert noch verfügbare Zeitungsbestände des In- und Auslandes solcher Organe, die im östlichen Deutschland erschienen. I n der Berichtszeit wurde der Bestand um 15 Film-Rollen mit 18 750 Aufnahmen erhöht, die alle den Jahrgängen 1841—1845 von „Schlesische Zeitung" entnommen wurden. Der Gesamtbestand ist inzwischen auf 1073 FilmRollen mit 508 104 Aufnahmen angestiegen. Den Lektoraten der polnischen und tschechischen Presse stehen laufend 41 polnische, 10 tschecho-slo wakische und 2 sowjetisch-litauische Organe für die Auswertung zur Verfügung. Davon stammen 11 polnische und 2 tschechische Organe aus der Emigration, die sie in England, Frankreich, den USA und Deutschland herausgibt. Weitere polnische Periodika werden von auswärtigen Mitarbeitern für den Arbeitskreis ausgewertet.

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Der Göttinger Arbeitskreis Die Auswertungsergebnisse der Lektorate sind die Voraussetzung für eine laufende Berichterstattung und für die Erstellung gesonderter Ausarbeitungen, von denen während des abgelaufenen Jahres 34 über grundsätzliche Themen wirtschaftlicher, rechtlicher oder politischer Art vorgelegt werden konnten. Eine besondere Nachrichtengebung aufgrund der polnischen Presse wurde neu aufgenommen. 372 Periodika werden ζ. Z. von der Sammelstelle der Presse der Heimatvertriebenen erfaßt. Gegenüber dem Vorjahr ist also ein Rückgang um 4 regelmäßig erscheinende Organe festzustellen gewesen, die zum Teil sogar nur durch Zusammenlegung verursacht wurde. Während die landsmannschaftlich gebundenen Periodika kaum sichtbar beeinträchtigt sind — sogar Neuerscheinungen waren zu verzeichnen — , sind Einstellungen fast ausschließlich bei örtlichen Organen der Vertriebenen-Verbände zu erkennen. Die Sammelstelle archiviert ζ. Ζ 310 Zeitungen und Zeitschriften, die für Provinzen, Kreise oder Gemeinden der in Deutschland oder außerhalb seiner Grenzen gelegenen Vertreibungsgebiete erscheinen. Darunter befinden sich auch 6 Zeitungen und Informationsdienste, die landsmannschaftlich gebunden sind und im Ausland herausgegeben werden. Von den archivierten Periodika sind 56 als überregionale Organe zu bezeichnen, die sich schlechthin an die Ostdeutschen und die Heimatvertriebenen wenden. A n allgemeinen in- und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften oder Informationsdiensten werden ζ. Z. 249 laufend verfolgt. 96 dieser Organe werden derzeit überdies archiviert. Für die laufende Arbeit und zur Sicherung einer ausreichenden Information stehen dem Hause daher ζ. Z. insgesamt 621 Periodika zur Verfügung. Redigiert von Herbert Marzian, herausgegeben vom Arbeitskreis, erscheint die Zweimonatsschrift „Ostdeutscher Literatur-Anzeiger" im Holzner-Verlag, Würzburg nunmehr bereits im X V I I I . Jahrgang. Sie dürfte ihre begrenzte, trotzdem vielseitige Aufgabe unverändert erfüllen. So wird erstrebt, Anzeigen und Rezensionen von Neuerscheinungen unseres Aufgabenbereichs möglichst kurzfristig zu veröffentlichen. I n zunehmendem Maße hat sich als notwendig erwiesen, dabei die Auswahl der Titel nicht zu eng zu treffen. Insbesondere mußte die Aufmerksamkeit auch auf Ausarbeitungen und Publikationen gerichtet werden, die allgemein oder grundsätzlich historische, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Fragen behandeln und damit Erkenntnis-Grundlagen für die Erfüllung

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der eigenen Aufgaben bieten. Selbstverständlich wird polnischen Publikationen Beachtung geschenkt.

Anlage I Veröffentlichungen des Göttinger Arbeitskreises, die während der Berichtsperiode erschienen: 335. „Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr.", Band XXII/1972. 336. „Jahrbuch der Schlesischen Friedridi-Wilhelms-Universität zu Breslau", Band XVII/1972. Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis: 337.—338. „Die Geschichte der Festung Glatz". Von Verwaltungsoberrat a. D. Dr. Eduard Köhl. Band LI „Der Kreis Neustettin". Ein pommersches Heimatbuch. Nach Vorarbeiten von Prof. Dr. Heinrich Rogge fi zusammengestellt und erarbeitet von Rektor a. D. Franz Steher. Band LH 339. „Familien- und Erbrecht der Flüchtlinge und Umsiedler. Gutachten zum Internationalen Privatrecht und Staatsangehörigkeitsrecht sowie zum Recht sozialistischer Länder". Von Dr. Dieter Pfaff und Dr. Jan Peter Waehler, Referenten am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht sowie Rechtsanwälte in Hamburg. 340. „Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge". Von Prof. Dr. Günther Grundmann. Sonderdrude. 341. „Fünfzig Jahre Historische Kommission für Schlesien". Von Prof. Dr. Ludwig Petry und Prof. Dr. Herbert Schienger j\ Sonderdruck. 342. „Um Oberschlesiens Selbstbestimmung". Zwei Beiträge von Prof. Dr. J. J. Menzel und Staatssekretär a. D. Dr. R. Vogel. Sonderdruck. 343. „Die deutsch-russischen Beziehungen zur Zeit der Reichsgründung". Zwei Beiträge von Prof. R. Buchner und Prof. R. Nürnberger. Sonderdruck.

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Jahrbuch der Albertus-Uni versität Königsberg/Pr.Bd. XXIII INHALT Seite Philosophische und theologische Argumente zu Unsterblichkeit und Auferstehung, dargestellt im Zusammenhang mit dem Werke Kants. Von Johannes Schiller

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Johann Jacoby in den Reaktionsjahren und der Neuen Ära. Von Edmund Silberner, Jerusalem

16

Grundlagen des Friedens. Von Herbert G. Marzian

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Gemeinsinn als Voraussetzung von Frieden und Freiheit. Von Joachim Freiherr von Braun

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Die Frage des Friedensvertrages mit Deutsdiland seit Potsdam. Von Boris Meissner

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Die Ostverträge und das Problem des Friedens Vertrags mit Deutsdiland. Von Otto Kimminich 121 Die Vorstellungen der DDR über eine friedensvertragliche Regelung mit Deutschland. Von Jens Hacker 139 Zeittafel und Dokumente zur Oder-Neiße-Linie. Februar 1971 bis Mai 1972. Von Herbert G. Marzian 165

Kleine Beiträge: Geschichte des Haberbergs. Von Herbert Meinhard Mühlpfordt

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Der Göttinger Arbeitskreis. Tätigkeitsbericht 1971/72. Von Joachim Freiherr von Braun 582