Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXVIII (1993) [1 ed.] 9783428480616, 9783428080618


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Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXVIII (1993) [1 ed.]
 9783428480616, 9783428080618

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JAHRBUCH DER

ALBERTUS-UNIVERSITÄT ZU KÖNIGSBERG/PR.

1993 BD. XXVIII

Herausgeber: DER GÖTTINGER ARBEITSKREIS

JAHRBUCH DER

ALBERTUS-UNIVERSITÄT ZU KÖNIGSBERG/PR.

BEGRÜNDET VON FRIEDRICH HOFFMANN UND G Ö T Z V O N SELLE

1993 BAND XXVIII

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministers des Innern

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung N r . 444 Umschlag.: W i l l i Greiner, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-2177 ISBN 3-428-08061-0

INHALT Α. Historische und aktuelle Beiträge zu Königsberg und Ostpreußen I. Das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs - Kant und die preußischen Könige Von Dr. Ralf Selbach, Hannover

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II. Aus der Geschichte der Provinzialverwaltung Ostpreußens: Aufgaben und Leistungen der höheren Beamten 1920 bis 1945 "Geschichte" ist fortwirkende Vergangenheit (J. G. Herder) Von Helmut Scheiben, Göttingen

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III. Aktuelle Entwicklungen im Gebiet Kaliningrad/Königsberg Von Dr. Hubertus Neuschäffer,

Plön

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IV. Kaliningrad (Königsberg): Eine russische Exklave in der baltischen Region. Stand und Perspektiven aus europäischer Sicht Von Magdalena Hoff, Hagen und Dr. Heinz Timmermann, Köln

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B. "Bohnenreden" auf den Tagungen der Gesellschaft der Freunde Kants I. Geselligkeit - Philosophie - Humanität. 180 Jahre "Gesellschaft der Freunde Kants" Von Prof. Dr. Rudolf Malter, Mainz

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Inhalt

II. Die Beteiligung der Bundesländer an der Außenpolitik Von Prof. Dr. Walter Rudolf , Mainz

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III. Die Entwicklung der Stellung der Frau seit dem Mittelalter Von Landtagsvizepräsidentin a. D. Ursula Starlinger, Mainz..

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IV. Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht Von Generalkonsul a. D. Rupert S. Dirnecker, Flintsbach

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V. Kants Theorie der Revolution Von Prof. Dr. Thomas M. Seebohm, Bonn

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C. Kleine Beiträge I. Mitteilung über die unveröffentlichte Korrespondenz des Reichsfreiherrn von Stein mit dem Grafen Sergej Uwarow (1813-17) Von Botschaftsrat a. D. Dr. Erich Franz Sommer, München

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"DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG, ODER DAS JAHRHUNDERT FRIEDRICHS" Kant und die preußischen Könige Von Ralf Selbach

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.... Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." In seinem der Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? gewidmeten Aufsatz, der in der Berlinischen Monatsschrift des Jahres 1784 erschien, verneint Kant - anders als zum Beispiel Schiller und er selbst bis dahin - die Frage, ob man in einem aufgeklärten Zeitalter lebe, doch - immerhin - sei das gegenwärtige ein Zeitalter der Aufklärung. Friedrich II., da er es für seine Pflicht halte, in den Dingen der Religion niemandem etwas vorzuschreiben, sondern vielmehr einem jeden hierin volle Freiheit zu gewähren, ist nach Meinung Kants "selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und Jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen." In dieser Hinsicht ist für Kant "dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs". In einer Anmerkung zur Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) heißt es: "Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." Die im Jahre 1787 - und damit nach dem Tode Friedrichs des Großen - erschienene zweite Auflage des Werkes enthält diese Sätze nicht mehr. Nicht das Zeitalter der Kritik, wohl aber die Zeit des öffentlichen Kritisierens scheint für Kant zumindest fürs erste vorbei zu sein.

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Ralf Selbach

Kant, Kind einer ehrbaren, doch unvermögenden Handwerkerfamilie, wurde 1724 im ostpreußischen Königsberg, der ehemaligen Residenz der preußischen Regenten, geboren. Der Vater Friedrichs II., Friedrich Wilhelm I., der 'Soldatenkönig', unter dessen Herrschaft Kant immerhin bis zum Ende seiner Schulzeit gelebt hatte, fand bezeichnenderweise weder in seinen gedruckten Werken noch in seinem umfänglichen literarischen Nachlaß auch nur mit einem Wort Erwähnung. Was soll auch ein Gelehrter zu einem König sagen, der nur einen einzigen akademischen Disput befahl - über die Frage, ob nicht alle Gelehrten Salbader und Narren seien? Kant wächst in den engen und wenig großartigen Kreisen Königsbergs auf und besucht die Lateinschule des Collegium Fridericianum, benannt nach dem 1701 in der Stadt am Pregel gekrönten ersten preußischen König Friedrich I. Friedrich der Große, damals noch Kronprinz, hat Königsberg 1739 einen - allerdings auch nur kurzen - Besuch abgestattet und spöttisch angemerkt, die Stadt, deren "Schutzgötter" Müßiggang und Langeweile seien, könne "besser Bären aufziehen als zu einem Schauplatz der Wissenschaften dienen" - immerhin war die 1544 eingerichtete Albertina preußische Landesuniversität und eine der ersten protestantischen Universitätsgründungen überhaupt. Auch nachdem Friedrich im folgenden Jahr den preußischen Thron bestiegen hatte, änderte sich wenig an seiner abschätzigen Sicht des ostpreußischen Regierungssitzes, und die Besoldung der Professoren blieb armselig, was deren Leidenschaft für die öffentliche Lehre nicht eben förderte, sondern - von den Studenten zu bezahlenden - Privatissima Vorschub leistete. Friedrichs spöttische Verachtung wandelte sich endgültig in Groll, als die Bürger Königsbergs die mehr als vier Jahre dauernde russische Okkupation (1758-1762) während des Siebenjährigen Krieges nicht nur widerstandslos hinnahmen, sondern das gesellschaftliche Leben unter Einbeziehung der geselligen und kulturinteressierten russischen Regierung ganz selbstverständlich und ungestört weiterging. Nur die Adresse der Eingaben änderte sich: Aus dem "Allerdurchlauchtigsten Großmächtigsten König" Friedrich II. wurde die "Allerdurchlauchtigste Großmächtigste Kayserin und große Frau", die Zarin Elisabeth, der Stadt und Lehrkörper der Universität Kant gehörte ihm seinerzeit als Privatdozent an - umstandslos den Treueeid geschworen hatten. De facto wandelte sich wenig mehr als der Wappenvogel. Aus dem einköpfigen preußischen wurde der russische Doppeladler. Die Universität setzte ihren Lehrbetrieb fort, und der Magister Immanuel Kant las in Anwesenheit russischer Offiziere auch über Fortifikation. Einen von Friedrich II. selbst verfaßten Unterricht von der Kriegs-Kunst an seine Generals übrigens hatte Kant in seinem Besitz. Kant hatte sich das Ziel gesetzt, in seiner Heimatstadt Professor der Philosophie zu werden. Einen Ruf an eine andere als die heimische Universität lehnte Kant mehrfach ab. 1756 hatte sich Kant bei Friedrich IL um das seit Jahren ,eΓledigte, Extraordinariat seines akademischen Lehrers Martin

Das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs

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Knutzen beworben - vergebens. Des Kriegsausbruches wegen blieb die Stelle unbesetzt. Nun, im Dezember 1758, unternahm er, als durch Tod wieder eine Vakanz entstand, sogleich einen neuen Versuch und wandte sich mit einem Bittgesuch an die Kaiserin Elisabeth - wieder vergeblich. Die bezahlte Professur erhielt ein älterer akademischer Kollege, der noch länger auf eine Brotstelle hatte warten müssen. 1764 lehnte Kant eine Professur für Dichtkunst, zu deren Pflichten die Abfassung von Grußbotschaften an den König gehörte, ab. So blieb er fünfzehn Jahre ein einfacher magister legens in finanziell unsicheren Verhältnissen. Erst 1770, immerhin schon Mitte vierzig, erhielt Kant die ersehnte Lebensstellung, das Ordinariat für Logik und Metaphysik. Der greise Inhaber dieses Lehrstuhls war verstorben, und Kant hatte sich gleich am folgenden Tag an den ihm gewogenen Minister von Fürst persönlich gewandt - "Ich trete ... in das 47 ste Jahr meines Alters, dessen Zunahme die Besorgnisse eines künftigen Mangels immer beunruhigender macht" - und drei Tage später ein offizielles Gesuch an Friedrich II. gerichtet. Deutlich ist auch in diesem Schreiben die Unruhe des Verfassers und die Dringlichkeit seines Anliegens zu spüren: "Meine Jahre, und die Seltenheit der Vorfälle, die eine Versorgung auf der akademie möglich machen, wenn man die Gewissenhaftigkeit hinzusetzt, sich nur zu denen Stellen zu melden, die man mit Ehre bekleiden kan, würden, im Falle daß mein unterthänigster Gesuch den Zweck verfehlete, in mir alle fernere Hofnung zu künftigem Unterhalte in meinem Vaterlande vertilgen und aufheben müssen." Berlin reagiert diesmal umgehend. Nicht einmal zwei Wochen später paraphiert Friedrich persönlich eine Kabinettsorder und ernennt Kant "wegen deßelben Uns allerunterthänigst angerühmten Fleißes und Geschicklichkeit, auch besonders in den Philosophischen Wißenschaften erlangten gründlichen Erudition, zum Professore Ordinario der Logic und Metaphysic bey der Philosophischen Facultät Unserer Universität zu Königsberg in Preußen", nicht ohne ihn zu ermahnen, daß "Uns und Unserm Königl Hause derselbe treu, hold und gewärtig seyn" und die studentische Jugend "ohnermüdet unterrichten, und davon tüchtige und geschickte Subjecta zu machen, sich bemühen, wie nicht weniger derselben mit gutem Exempel vorgehen" werde, wie es einem "Königl Diener und Professori " anstehe. Nach rund einem Jahrzehnt intensiver Arbeit in finanzieller Sicherheit wird Kant mit der Kritik der reinen Vernunft als der hervortreten, als der er in die Geschichte eingegangen ist: einer der bedeutendsten, ja vielleicht der bedeutendste Philosoph der Neuzeit. Kants neues Amt verlangte nach einer öffentlich zu verteidigenden dissertatio pro loco , einer den Konventionen der Zeit entsprechend in Latein abzufassenden Abhandlung. Kant widmete seine für die weitere philosophische Entwicklung bedeutsame Dissertation von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis dem, der ihm zu einem gesicherten Auskommen verholfen hat - Friedrich II. Bereits 1755, dem Jahr seiner Habilitation, hatte Kant - anonym - eine wichtige Schrift zur Kosmogonie unter dem

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Ralf Selbach

treffenden, doch ein wenig umständlichen Titel Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt fertigestellt und sie, wie Kants zeitgenössischer Biograph, der spätere preußische Erzbischof Ernst Ludwig von Borowski, mitteilt, auf Anraten seiner Freunde und hoffend, so eine weitere Untersuchung seiner Theorie der Entstehung der Welt durch die von Newton entdeckten antagonistischen physikalischen Kräfte zu erreichen, dem "Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Könige und Herrn, Herrn Friederich, König von Preußen", zugeeignet, in dessen Hände sie aber vermutlich nie gelangt ist. Doch stand diese Schrift - der Verleger fallierte während des Druckes - von Anfang an unter einem wenig glücklichen Stern. Sie fand nur geringe Verbreitung. Der Mathematiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert trug 1761 in seinen Kosmologischen Briefen eine ganz ähnliche Theorie vor, ohne von Kants Schrift Kenntnis zu besitzen, so auch 1785 der Astronom Herschel und noch am Ende des Jahrhunderts der Marquis de Laplace. Die Dedikation an Friedrich II. hatte die gewünschte Wirkung nicht getan. Erst in der Mitte des 19. Jahrhundert wurde die Wissenschaft auf Kants Theorie der Weltentstehung aufmerksam. Kants Haltung gegenüber Friedrich II. blieb ambivalent. Er schätzte ihn, nannte ihn in seinen Schriften 'einen großen Monarchen', den 'großen König' - nach dessen Tod im Jahre 1786. Schätzte ihn auch als Poeten: In dem der Ästhetik gewidmeten Teil der Kritik der Urteilskraft (1790) übersetzt er selbst - nie sonst tut dies Kant - ein französisches Gedicht Friedrichs in deutsche Prosa, um es als gelungenes Beispiel von Dichtung vorzuführen, ein Poem, das die "Vernunftidee von weltbürgerlicher Gesinnung" belebe. Doch diskutiert Kant unter den aporetischen 'Casuistischen Fragen' der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre seiner Metaphysik der Sitten (1797) auch das Problem, ob es nicht ein "verbrecherische[s] Vorhaben" sei, wie es Friedrich getan habe, im Krieg Gift zum Zwecke der 'Selbstentleibung' im Falle der Gefangenschaft bei sich zu führen. Ist die Ausführung Selbstword im emphatischen Sinne? In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die er 1798 veröffentlichte, einem Werk, das auf seiner seit dem Wintersemester 1772/1773 gehaltenen Vorlesung über diesen Gegenstand basiert, bejaht er die Frage: Ein "geschärftes Sublimat" - Kant erinnert hierbei an Friedrich, der Gift mit sich führte - zu nehmen, verlangt zwar Mut, da auf Rettung nicht zu hoffen ist, doch ist, der solches tut, ein Selbstmörder - die Tat bleibt "gräßlich" und der Täter macht sich selbst zum "Scheusal". Zum Abschluß eben dieser Schrift warnt Kant in einer Anmerkung - und hier wird die kritische Haltung gegenüber der Pragmatik, nicht Programmatik Friedrichs II. deutlich - vor der Gefahr, daß die Religion zu einem Herrschaftsinstrument der Politik wird "und verleitet, mit Betrug (Staatsklugkeit genannt) zu regieren; wovon jener große Monarch, indem er

Das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs

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öffentlich blos der oberste Diener des Staats zu sein bekannte, seufzend in sich das Gegentheil in seinem Privatgeständniß nicht bergen konnte, doch mit der Entschuldigung für seine Person, diese Verderbtheit der schlimmen Rasse, welche Menschengattung heißt, zuzurechnen." Immerhin, und damit kehren wir zu dem eingangs genannten Aufklärungs-Aufsatz Kants zurück, Friedrich II. ist der "einzige Herr in der Welt", der sagt: "räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!" Ein Zugeständnis, das sich der Herrscher erlauben kann, der ein schlagkräftiges Heer besitzt. Daß Kant sehr genau die Spannung von Wort und Handeln des Preußenkönigs sah, belegt ein nur scheinbar unbedeutendes drucktechnisches Detail, eine Hervorhebung Kants in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795): daß "Friedrich II. wenigstens sagte: er sei bloß der oberste Diener des Staats". Als Friedrich II. am 17. August 1786 starb, war Kant zum erstenmal Rektor seiner Universität. In dieser Funktion ordnete er am 3. September 1786 Landestrauer an. Die akademische Totenrede hat Kant seinem verstorbenen 'großen Monarchen' nicht selbst gehalten, sondern dieses Amt dem 'Professor der Eloquenz' überlassen. In die Trauer mischten sich bald schon Stimmen der freudigen Erwartung des neuen Königs, des Neffen Friedrichs und Thronerben Friedrich Wilhelm II. Die Stimmung jedoch wurde rasch gedämpft: Friedrich Wilhelm II. wollte von "geldzersplitternden Freudenbezeugungen" nichts wissen. Als der neue König in Königsberg eintraf, wurde ihm als Rektor der Universität auch Kant vorgestellt. Der königliche Minister von Hertzberg suchte mehrfach das Gespräch mit dem Philosophen. Die Passage der Biographie Borowskis, die über die dem Philosophen von höchster Stelle entgegengebrachte Hochachtung berichtete, hat Kant, als der Verfasser sie ihm vorlegte, getilgt. De nobis ipsis silemus - Über uns selbst schweigen wir - dieses zum Motto der Kritik der reinen Vernunft gewählte Wort des englischen Staatsmannes und Philosophen Francis Bacon mag seine Haltung erläutern. Dem kirchlichen Festakt und der damit verbundenen Huldigungspredigt des Oberhofpredigers zu Ehren des königlichen Besuches ist Kant, so dürfen wir mutmaßen, ausgewichen - schon am frühen Morgen des besagten Tages schickte er eine Nachricht an seinen Vorgänger im Amt des Universitätsrektors und bat ihn, statt seiner der Feier in der Schloßkirche beizuwohnen. Er, Kant, sei "unpäßlich" und könne "nicht mit". Kanonendonner verabschiedete den abreisenden König. "Den ganzen Vormittag dauerte das Schießen, als wenn die Freude über den Abschied lauter sein sollte als die Ankunft", kommentierte sarkastisch der Königsberger Theologe Johann Georg Hamann. Nicht immer hat Kant den mit seinen universitären Ämtern verbundenen Aufgaben der Huldigung entgehen können, wie beispielsweise das Manuskript einer kleinen am Königsgeburtstag, dem 25. September, des Jahres 1788 gehaltenen akademischen Ansprache - Kant war zum zweitenmal Rektor - belegt.

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Ralf Selbach

Friedrich Wilhelm II. hatte sich in den ersten beiden Jahren seiner Regentschaft als ein moderater Herrscher erwiesen. Mehr und mehr jedoch traten die irrationalen Züge des königlichen Rosenkreuzers hervor. Als der König 1788 Johann Christoph Wöllner, den Friedrich II. seinerzeit einen "betriegerischen und Intriganten Pfafen" genannt hatte, zum Minister der Justiz und Leiter des Geistlichen Departements ernannte, hatte dieser nichts eiligeres zu tun als sogleich ein Religionsedikt ausgehen zu lassen, dem wenige Monate später ein Zensuredikt folgen sollte. Schon im Zusammenhang der Veröffentlichung seiner Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) geriet auch Kant in Konflikt mit der Zensur. Bei der Einsendung des Manuskriptes seines Aufsatzes über Das Ende aller Dinge an den Verleger der Berlinischen Monatsschrift, Biester, im Mai 1794 hatte Kant angemerkt: "Ich eile, hochgeschätzter Freund! Ihnen die versprochene Abhandlung zu überschicken, ehe noch das Ende Ihrer und meiner Schriftstellerey eintritt." Am 1. Oktober 1794 schließlich erging eine von Wöllner paraphierte Kabinettsorder Friedrich Wilhelms II. an Kant, der beschuldigt wurde, er habe seine "Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums mißbraucht". Außerdem habe er gegen seine Pflicht als Lehrer der Jugend verstoßen - 'Gottlosigkeit' und 'Verderber der Jugend', seit der Antike gern gegen unliebsame Philosophen erhobene Vorwürfe. Antwort und Gehorsam wird verlangt: "widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt." Im Braunschweigischen machten sich Freund und philosophischer Gegner Sorgen und boten Kant freundliche Aufnahme an - der Herzog von Braunschweig jedoch, diplomatische Verwicklungen mit Preußen fürchtend, in dessen Abhängigkeit er stand, weigerte sich, gegebenenfalls Asyl zu gewähren. Auch lehnte Kant dankend ab. So dramatisch empfand er seine Situation nicht. Die Erinnerung an den Fall seines geschätzten philosophischen Gegners Christian Wolff, den Friedrich Wilhelm I. 1723 unter Androhung der "Straffe des Stranges" binnen 48 Stunden "die Stadt Halle und alle übrigen Königl. Länder" zu verlassen angewiesen hatte - der Philosoph aber brauchte kaum einen Tag -, dürfte Kant wenig getröstet haben, obgleich jener dann allerdings 17 Jahre später - von Friedrich II. aus dem Marburger Exil und im Triumphzug nach Halle zurückgeführt worden war. Kant sagte zu, sich "aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend" zu enthalten - nicht "auf immerwie er später spitzfindig anmerkte, sondern "nur so lange Se. Maj. am Leben wäre". Ironie der Geschichte: Nicht durch Friedrich II. und seinen Minister von Zedlitz, dem Kant die Kritik der reinen Vernunft gewidmet hatte, erhielt er eine seine besonderen Leistungen in der Lehre anerkennende Zulage seines Professorengehaltes, sondern 1789 durch den in vielem so reaktionären Friedrich Wilhelm II. und Wöllner - "zum Zeichen unserer vollkommenen

Das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs

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Zufriedenheit"! Kant dankt förmlich und betont, nichts als seine "schuldige Pflicht" getan zu haben. Nicht der frankophile Friedrich II., der französischen Gelehrten den Vorzug gab und sich den hochberühmten Voltaire zum Gesprächspartner gemacht hatte, sondern Friedrich Wilhelm II. zeichnete Kant aus, indem er ihn 1786 zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften ernennen ließ, wonach dieser allerdings nie gedrängt hatte. Solche Meriten scheinen Kant nicht sehr wichtig gewesen zu sein, wenngleich er 1797, als er erfuhr, daß ihn die russische Akademie der Wissenschaften in Petersburg, die ihn vier Jahre zuvor aufgenommen hatte, nicht in ihren Listen führte, sogleich einen neuen Dankesbrief aufsetzte, da er vermutete, daß sein Brief, durch den er seinerzeit die Mitgliedschaft dankend angenommen hatte, verloren gegangen war. Wie Kant 1793 in seiner Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht ßr die Praxis schreibt, ist die "Freiheit der Feder - in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung, worin man lebt, durch die liberale Denkungsart der Unterthanen, die jene noch dazu selbst einflößt, gehalten (und dahin beschränken sich auch die Federn einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren), - das einzige Palladium der Volksrechte." Sie zu beschneiden, dieses Korrektiv zu nehmen, heißt folglich, das Menschenrecht zu versehren! Denn, will man nicht den Herrscher, der doch ein Mensch ist, für infallibel halten, was der Vernunft widerspricht, "so muß dem Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst die Befugniß zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen". Und die Freiheit der Feder allein ermöglicht, so ist hinzuzufügen, dem Gelehrten die kosmopolitische Kommunikation. Daß Kant persönlich unter dem ihm auferlegten Publikationsverbot in Religionsangelegenheiten gelitten hat, belegt ein im Februar 1798, kurz nach dem Tode Friedrich Wilhelms II., entstandener Briefentwurf. Kant äußert die Hoffnung, nun "wiederum so weit belebt zu werden daß ich einigen meiner Arbeiten die bisher unter dem Interdict waren oder der Vollendung bedürfen wiederum vornehmen sollte." Im Januar 1798 hatte der neue König, der junge Friedrich Wilhelm III., das Religionsedikt zwar nicht formell, aber faktisch außer Kraft gesetzt. Einst hatte den Magister Kant die unsichere zukünftige Subsistenz bedrückt, im Alter war es das Schweigenmüssen. In aller Deutlichkeit hat Kant in seinem im Oktober 1786 - kaum zwei Monate nach dem Tod Friedrichs II. und als ahnte er das Kommende - in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlichten Aufsatz über die Frage Was heißt: Sich im Denken orientiren? ausgeführt, daß das Verbot von Publikation nicht nur den Bruch eines, wie Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft geschrieben hatte, heiligen Rechtes bedeutet, sondern als eine Destruktion des Denkens überhaupt bewirkend verstanden werden muß: "Der Freiheit zu denken ist ... der bixrgerli-

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che Zwang entgegengesetzt. Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme ...". Als Friedrich Wilhelm II. starb, spürte auch Kant seine immer schon schwachen und im fortgeschrittenen Lebensalter nur durch Selbstdisziplin bewahrten Kräfte schwinden. Und blickte, wie der erwähnte Briefentwurf belegt, nicht ohne Hoffnung auf den "junge[n] König", der als Friedrich Wilhelm III. den preußischen Thron bestieg ...

AUS DER GESCHICHTE DER PROVINZIALVERWALTUNG OSTPREUSSENS: AUFGABEN UND LEISTUNGEN DER HÖHEREN BEAMTEN 1920 BIS 19451 "Geschichte" ist fortwirkende

Vergangenheit (J. G. Herder)

Von Helmut Scheibert

I.

1. Entstehung und gesetzliche Grundlagen

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Die Vorgänger der preußischen Provinzen waren die Kammerdepartements unter Friedrich Wilhelm I., die allmählich eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den Zentralstellen erlangten, woraus sich ein mit Ressortkämpfen belasteter Zustand ergab, dem erst die Gebiets- und Verwaltungsreformen des Freiherrn vom Stein 1808 ein Ende setzten. Hieraus und durch die Gebietsabtretungen infolge des "Wiener Kongresses" entstand die "Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden v. 30.4.1815" mit ihrer Staatseinteilung in Kreise, Regierungsbezirke und Provinzen. Waren auch die letzteren nur staatliche Verwaltungsbezirke, so wurden sie durch

Zur Quellenlage: Außer den "Verwaltungsberichten des Provinzialverbandes Ostpreußen" und dem "Statistischen Handbuch für die Provinz Ostpreußen" von 1938 sind die Archivalien aus dem Landeshaus in Königsberg/Pr. durch Kriegseinwirkung vernichtet. Auch die dem "Staatsarchiv Königsberg/Pr." abgelieferten Reposituren blieben nicht erhalten, (s. a. Helmut Scheibert: Das Königsberger Staatsarchiv in Göttingen, in: Zeitschrift Nordostarchiv, Lüneburg 1970, 3. Jg., Heft 12, S. 22 f). Aus den zwanziger Jahren existiert kein "Jubiläumsband" als zusammenhängende Darstellung wie für andere Provinzen (s. Kurt Jeserich: Die preußischen Provinzen, Bln. 1931, S. 291). Das 1931 vom Landeshauptmann hrsg. Sammelwerk: "Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande" bietet keinen Ersatz dafür. So hat der Verfasser als Sohn des Landesrates Walter Scheibert von einigen Dezernenten wenigstens Hinweise auf deren Tätigkeitsberichte erhalten. 2 Aus: Manfred Schultze-Plotzius: Selbstverwaltung der Provinz Pommern, in: Zeitschrift f. Kommunalwirtschaft, Bln. 1931, Jg. 21, Nr. 12, Sp. 643 ff.

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Helmut Scheibert

das "Allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände vom 5.6.1823" auch kommunale Selbstverwaltungsverbände, freilich mit ständischer Gliederung. Eine als modern zu bezeichnende Provinzialverfassung erhielten zuerst die 1864/66 annektierten Provinzen (ζ. B. das ehemalige Königreich Hannover), wobei "als Trostpflästerchen auf die Wunde der Annexion", wie Bismarck es nannte, die Zuweisung von Dotationen aus der Staatskasse zur Erfüllung besonderer Aufgaben erfolgte, ein Verfahren, das dann durch die Gesetzgebung von 1875 auf sämtliche anderen Provinzen ausgedehnt wurde. Sehr bald erfolgte die Beseitigung der veralteten provinzial-ständischen Verfassung, so daß der Provinziallandtag sich fortan aus gewählten Abgeordneten der Stadt- und Landkreise zusammensetzte. Diese Neuordnung erfolgte zunächst für die östlichen Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen durch die "Provinzialordnung vom 29.6.1875",3 die am 1.1.1876 in Kraft trat. Die Umwälzung von 1918 führte eine Änderung des Wahlrechtes insofern herbei, als diese Abgeordneten lt. Wahlgesetz vom 3.12.1920 in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl von allen wahlberechtigten Einwohnern der Provinz gewählt wurden. Das Dreiklassenwahlrecht wurde abgeschafft.

2. Die Organisation der Provinzialverfassung Gemäß § 1 der Provinzialordnung bildete der Provinzialverband mit allen Kreisen und Ortschaften einen mit den Rechten einer Gebietskörperschaft ausgestatteten Kommunalverband zur Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten. Seine Vertretungskörperschaft war der Provinziallandtag. Die Verwaltungsorgane waren der vom Provinziallandtag gewählte Provinzialausschuß als beschließende und der gleichfalls von diesem Gremium auf zwölf Jahre gewählte Landeshauptmann (früher: Landesdirektor genannt) als ausführende Stelle. Er führte die gesamte laufende Verwaltung und vertrat den Provinzialverband nach außen. Sein ständiger Vertreter war der Erste Landesrat. Bei der Erledigung seiner Amtsgeschäfte bediente er sich der ihm beigegebenen Landesräte und Landesbauräte. Die Staatsaufsicht wurde bis 1933 vom Oberpräsidenten (Behörde: Oberpräsidium) und in höherer Instanz vom Reichsminister des Innern ausgeübt.

In: Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen Staaten, 1875, S. 335 ff. - Die Provinzialordnungen für die Rheinprovinz und für Westfalen gelten prinzipiell auch heute noch für die beiden "Landschaftsverbände" Rheinland und Westfalen-Lippe (s. Landschaftsverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12.5.1953). - Diesen Hinweis verdankt der Verfasser Herrn Staatssekretär a. D. Klaus v. d. Groeben. - Selbst in der Steiermark gibt es wie in allen österreichischen Bundesländern ein "Landhaus" mit Landeshauptmann und Landesräten (s. a.: Der Steiermärkische Landtag, hrsg. v. Präsidenten, Graz 1965).

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

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Im Gefolge des "Gesetzes über die Erweiterung der Befugnisse der Oberpräsidenten vom 15.12.1933",4 wonach der Oberpräsident jetzt auch zum Leiter des Provinzialverbandes und der Landeshauptmann zu seinem ständigen Vertreter bestellt wurden, während dem Innenminister fortan die Staatsaufsicht oblag, sowie im Zuge der angestrebten "politischen Gleichschaltung" aller Behörden im "Dritten Reich" konnte es geschehen, daß der letzte Landeshauptmann, Oberregierungsrat v. Wedelstädt, nicht wie früher vom Provinziallandtag gewählt, sondern 1936 vom Oberpräsidenten 5 und Gauleiter Erich Koch in dieses hohe Amt eingesetzt wurde, während sein langjähriger und überaus erfolgreicher Vorgänger, Landeshauptmann Dr. Blunk, "wegen politischer Unzuverlässigkeit" aus Ostpreußen ausgewiesen wurde. Einmalig in der siebzigjährigen Geschichte dieser Verwaltung ist es auch, daß jetzt keine gebürtigen Ostpreußen mehr sich für die Belange der ostpreußischen Bevölkerung einzusetzen begannen. Ihr Wirken ist aber von relativ kurzer Dauer gewesen, da der Landeshauptmann 1941 zur Wehrmacht einberufen wurde, während der Oberpräsident zu derselben Zeit als Reichskommissar in der Ukraine fungierte. So hat der Erste Landesrat, Dr. Reinhard Bezzenberger, das Landeshaus bis 1945 selbständig geleitet und war bis zuletzt bestrebt, diese Behörde vor den aufkommenden Zentralisierungstendenzen möglichst zu bewahren. Als sichtbaren Ausdruck seiner Selbstverwaltung führte der Provinzialverband ein eigenes Wappen und Farben (s. Titelfoto).

3. Der Aufgabenbereich im Allgemeinen Der Schwerpunkt der provinziellen Selbstverwaltung hatte in der Erfüllung ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturpolitischen Aufgaben gelegen. Seit 1920 erweiterte er sich infolge der neu geschaffenen Grenzlage der Provinz. Als eine der bemerkenswertesten Aktionen ist hier die 1930 von den Landeshauptleuten der Ostprovinzen gemeinsam herausgegebene Denkschrift: "Die Not der Preußischen Ostprovinzen" anzusehen, der größtenteils 4 In: Preußische Ges.-Sammlung 1933, Nr. 79, S. 477: Provinziallandtag und Provinzialausschuß wurden aufgelöst, während der neu geschaffene "Provinzialrat" zur Beratung des Oberpräsidenten de facto gar nicht in Erscheinung trat (s. a. Kurt Kaminski: Die Verwaltung, in: Ostpreußen - Leistung und Schicksal, hrsg. von Fritz Gause, Essen 1958, S. 310 f). Da der Oberpräsident jetzt auch die Befugnisse des Provinzialverbandes in seiner Person vereinigte, firmierte er in dieser Eigenschaft fortan: "Der Oberpräsident (Verwaltung des Provinzialverbandes)"; (s. a. Manfred Schultze-Plotzius: Ein Überblick über die Tätigkeit der Provinzialverwaltung von Pommern, in: Baltische Studien (NF), Hbg. 1962/63, Bd. 49, S. 70 f). Erich Koch wünschte aber, nur mit "Gauleiter" angeredet zu werden. 5 s. a. Karl Teppe: Die preußischen Oberpräsidenten 1933-1945, in: Die preußischen Oberpräsidenten 1815-1945, hrsg. v. Klaus Schwabe ( = Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit,

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Helmut Scheibert

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die Einleitung der vom Reichsrat beschlossenen Osthilfe" und das "Ostpreußenprogramm" zuzuschreiben sind. Hier sei auch die Kriegsopferfürsorge nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt, deren Dezernent Landesrat Scheibert gewesen ist. (Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte).6 Oft erwies sich die Zusammenfassung der Aufgaben von Städten und Kreisen auf provinzieller Ebene schon aus finanziellen Gründen als zweckmäßig; der Provinzialverband besaß aber keine "Kompetenz-Kompetenz" (Weisungsbefugnis).

a) Gesetzlich zugewiesene Aufgaben Das Dotationsgesetz vom 8.7.1875,7 das dem Provinzialverband von Staats wegen Jahresrenten zur Verfügung stellte, enthielt zugleich die Auflage, hierüber nur für bestimmte Zwecke zu verfügen. Hierzu gehörten auf kulturellem Gebiet die Förderung von Vereinen, die der Kunst und Wissenschaft dienen, von öffentlichen Sammlungen und Museen, Erhaltung von Denkmälern und Landesbibliotheken.

b) Freiwillig übernommene Aufgaben Neben der Erfüllung dieser gesetzlichen Verpflichtungen hatte die Provinzialordnung dem Provinziallandtag das Recht zugestanden, über die "im Interesse der Provinz erforderlichen Ausgaben selbst zu beschließen" (§ 37 Provinzialordnung) und damit zu entscheiden, was zur Angelegenheit der provinziellen Arbeit gemacht werden sollte. So galt es jetzt, die jeweiligen Aufgaben der Zeit zu erkennen und auf diesen Gebieten Eigenständiges zu leisten. Das Aufgabenfeld der heutigen "Landschaftsverbände" ist dagegen enumerativ begrenzt.

15), Boppard/Rhein 1985, S. 246 ff und ders.: Provinz, Partei, Staat (Veröffentlichung der Historischen Kommission für Westfalen, 38), Münster 1977, S. 58 ff. 6 s. a. Walter Scheibert: Wohnungs- und Siedlungswesen in Stadt und Land für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene; in: Reichsarbeitsblatt Bln., 6. Jg. (NF), Nr. 5 v. 1.2.1926, S. 82 ff. - In der Kriegswohlfahrtspflege hatte der Provinzialverband bahnbrechend gewirkt, (s. a. Paul Blunk: Die Entwicklung der Provinzialverwaltung in Ostpreußen; in: Deutsche Gemeindezeitung, Bln., 65. Jg., Nr. 8 v. 20..2.1926, S. 58). 7

In: Ges.-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1875, S. 497 ff.

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c) Auftragsangelegenheiten des Reiches und des Landes Preußen Hierzu gehörten u. a. Bau und Unterhaltung der Reichsstraßen, Verwaltung des "Reichsehrenmales Tannenberg", wirtschaftliche Betätigung an der "Ostpreußenwerke AG" 8 und an der 'Ostpreußischen Landgesellschaft" (gemeinnütziges Siedlungsunternehmen) sowie die Landesverteidigung; hier fungierte der Oberpräsident als Reichsverteidungskommissar. Auch das Provinzialschulkollegium war ihm unterstellt.

4. Besondere Leistungen auf einzelnen Gebieten Aus der Fülle der Aufgaben sollen hier nur einige wenige exemplarisch herausgegriffen werden, von denen der Verfasser meint, daß deren eigenverantwortliche Bewältigung durch die höheren Beamten vorbildlich gewesen ist. a) Leistungen auf kulturpolitischem Gebiet 9 Zu allen Zeiten hatte die Kulturarbeit der Provinzialverwaltung im Dienste des Staates mit seinen jeweiligen staatspolitischen Interessen gestanden. Im Gefolge des unglücklichen Ausganges des Ersten Weltkrieges hatte das Grenzland Ostpreußen, wirtschaftlich abgeschnürt vom Mutterland und mit seiner nach Osten hin über 800 km langen offenen Landes- und Reichsgrenze, die ihm zuteilgewordene Berufung, der am weitesten vorgeschobene Eckpfeiler des Deutschtums im Osten zu sein, sehr deutlich und verantwortungsbewußt empfunden: Sein ständiges Ringen gegen kulturelle Überfremdung und die erfolgreich verlaufenen Abstimmungskämpfe in Masuren nach dem Diktatfrieden von Versailles hatten dazu geführt, daß alle seit 1920 geleistete, grenzlandpolitisch bedingte Kulturarbeit eine neue Zielsetzung in Richtung bewußter Deutschtumsarbeit erfahren sollte.

g s. a. Helmut Scheibert: Die Versorgung Ostpreußens mit elektrischer Energie, in: Ostpreußenblatt, Jg. 28, Folge 4 v. 22.1.1977, S. 10. Aus: Walter Scheibert: Aus der Kulturarbeit der ostpreußischen Gemeinden und Gemeindeverbände; in: Deutsche Gemeindebeamtenzeitung, Fachschaft 13, Jg. 43, Nr. 14 v. 11.7.1937, S. 338 f (auch in: Ostpreußenblatt, Jg. 15, Folge 42 v. 17.10.1964, S. 6). 2*

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aa) Vorgeschichtliche Boden- und geschichtliche Baudenkmalpflege Ziel der Bodendenkmalpflege mit ihren untrüglichen Funden der Vorund Frühgeschichte war es, den eindeutigen Beweis dafür zu erbringen, daß Ostpreußen entgegen der von polnischer Seite oft aufgestellten Behauptung, dieses Land sei urpolnischer Boden, in Urgeschichtszeiten nicht von Slawen besiedelt war. Seit der Zeit des Ausgrabungsgesetzes (1913) war der Provinzialverband Träger dieser vorgeschichtlichen Denkmalpflege. In diesem Zusammenhang ist das "Prussia-Museum" als das landeskundliche Museum der Provinz zu nennen, das im Königsberger Ordensschloß eine würdige Unterkunft erhalten hatte und mit seiner vorgeschichtlichen Sammlung ihrem Umfang nach als die größte Provinzialsammlung Deutschlands anzusprechen war (Leiter: Dr. Wilhelm Gaerte). In dem seit 1936 bestehenden "Landesamt für Vorgeschichte" unter der späteren Leitung von Professor Dr. La Baume war der "Atlas der ost- und westpreußischen Landesgeschichte" mit seinen vorgeschichtlichen Siedlungskarten entstanden, dem 1937 noch der Erläuterungsband "Kulturen und Völker der Frühzeit im Preußenlande" von Carl Engel gefolgt war. Um die unbeweglichen Denkmäler, ζ. B. vorgeschichtliche Gräberfelder wie den Prußenhain nahe von Georgenswalde, im Gelände festzuhalten und damit vor der Zerstörung zu bewahren, war man zu einer Bestandsaufnahme (Inventarisation) übergegangen. Bei der Pflege der Baudenkmäler aus Ostpreußens Geschichte standen bei der Bedeutung des Deutschen Ritterordens die von diesem geschaffenen Bauwerke im Vordergrund. Neben den ordenszeitlichen Stadt- und Dorfkirchen waren vor allem die etwa 60 Ordensburgen eindrucksvolle Zeugen der Kulturleistung des Ritterordens im Osten. Diese, soweit sie nur noch in Ruinen oder als im Boden verborgene Fundamente vorhanden waren, vor weiterem Verfall zu schützen sowie die gut erhaltenen Bauwerke zu pflegen und in einigen Beispielen auch in ihrer inneren Ausstattung so herzurichten, daß sie eine lebendige Vorstellung von der kulturellen Höhe deutscher Vergangenheit gaben, wurde zu einer wichtigen Aufgabe ostpreußischer Baudenkmalpflege. Hier seien auch die "Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreußen" genannt, die der Provinzialkonservator Adolf Bötticher von 1892 bis 1898 in acht Bänden inventarisiert hatte (s. a. Teil II).

bb) Museumswesen Die Geschichts- und Altertumsvereine als private Träger von Kunst- und Altertumssammlungen sind die Vorläufer der provinzeigenen Museen gewe-

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sen. Sie wurden vom Provinzialverband gemäß dem Dotationsgesetz nicht nur finanziell unterstützt; man nahm sie vielmehr in eigene Obhut und errichtete ihnen eigene Gebäude. Dabei waren die 29 ostpreußischen Heimatmuseen über ihren Selbstzweck, nur Sammelstätten der engeren Heimatbezirke zu sein, hinausgewachsen; schließlich sollten sie die Grundlage für die wissenschaftliche Erforschung des Landes bilden. Unter dem Vorsitz des Landeshauptmannes hat man sie später zum "Verband der Ostmärkischen Heimatmuseen" zusammengeschlossen, um u. a. den Museumsleitern Gelegenheit zu geben, an verschiedenen Orten museumstechnische Erfahrungen zu sammeln und auszutauschen. Die wertvollen Bestände der "Altertumsgesellschaft Prussia" an vor- und frühgeschichtlichen Funden hatten den Grundstock für das schon erwähnte "Prussia-Museum" gebildet. Eine Besonderheit hatte die Provinz im "Ostpreußischen Freiluftmuseum" in Königsberg aufzuweisen, dessen Entstehung dem Provinzialkonservator Prof. Dr. Dethlefsen zu verdanken ist; er selbst bezeichnete es als "Ostpreußisches Heimatmuseum".10 Nach seiner Fertigstellung im Jahre 1913 ging es in das Eigentum des Provinzialverbandes über. Hier wurde nämlich der in Skandinavien entstandene Gedanke der Freiluftmuseen zum ersten Mal in Deutschland in die Tat umgesetzt: Mit den hier aufgestellten originalgetreuen Nachbildungen von Holzbauten im Maßstab 1:1 sollten die ländliche Wohnkultur und die Arbeitsformen des bäuerlichen Menschen gezeigt werden. Später verlegte man das Museum zur Belebung des Fremdenverkehrs nach Hohenstein nahe beim Tannenberg-Denkmal. Dort kam es als Museumslandschaft besser zur Geltung als in dem eng begrenzten Königsberger Tiergartengelände. Weshalb man sich damals nur mit Nachbildungen begnügt hatte, blieb bis heute unbekannt.

cc) Theaterwesen Auf dem Gebiet des Theaterwesens hatte die Provinzialverwaltung eine ausgesprochen ausgleichende Rolle gespielt, während die Gemeinden und überörtlichen Gemeindeverbände den eigentlichen Mittelpunkt bildeten. So war es den Städten und Gemeinden gelungen, mit dem geringsten Aufwand an Organisation und damit an Geldmitteln die Bespielung der ganzen Provinz sowie der kleinsten Städte sicherzustellen. Die beiden "Städtischen Bühnen" in Königsberg waren bestrebt, unter Wahrung eines überzeugenden künstlerischen Niveaus und mit einer stets aktuellen Spielplangestaltung im-

Aus: Helmut Scheibert: Das Freiluftmuseum im Königsberger Tiergarten; in: Zeitschrift Nordostarchiv, Lüneburg 1971, Jg. 4, Heft 18, S. 28 ff. - Erst 1936 ist in Cloppenburg/Oldbg. das zweite deutsche Freiluftmuseum als "Museumsdorf eröffnet worden; es bestand allerdings nur aus translozierten originalen Bauten.

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mer größere Kreise der Bevölkerung durch verbilligte Vorstellungen der Kunst zuzuführen. Die drei großen Stadttheater in Allenstein, Elbing und Tilsit boten nicht nur ihren eigenen Gemeinden gute Theaterkunst, sondern bespielten auch sämtliche theaterlosen Städte der Provinz nach einem festen Spielplan. Die bespielten Städte übernahmen für jede Vorstellung Garantiesummen oder feste Zuschüsse. Nötigenfalls half der Provinzialverband da mit seinen Mitteln aus, wo auch diese relativ geringen Zubußen die Leistungsfähigkeit kleinster Gemeinden überstiegen. Auch die Landkreise gewährten den Standorttheatern ihres Bezirks von Fall zu Fall Pauschalzuschüsse. Durch diesen finanziellen Lastenausgleich war hier in Ostpreußen eine vorbildliche Gemeinschaftsarbeit erreicht, sodaß gute Theaterkunst jedem interessierten Ostpreußen in Stadt und Land zugänglich war. Für das Stadttheater in Elbing und das Grenzlandtheater in Tilsit hatte der Provinzialverband allein 1935 den Betrag von ca. 7.000 Reichsmark ausgegeben. dd) Richtungswandel der Kulturarbeit unter dem NS-Regime:11 Kennzeichnend für die kulturelle Arbeit bis 1933 war ihre Ausrichtung auf rein zentrale Institute wie Museen, Bibliotheken, Theater und Denkmalschutz, die mit hauptamtlichen Kräften ohne Beteiligung der Bevölkerung geführt und allein amtlich wirksam wurden. Die damalige Arbeit hatte vor allem einer auf die Vergangenheit gerichteten Pflege von Sachgütern der landschaftlichen Kultur gedient, um sie gegen den Einbruch neuzeitlicher zivilisatorischer Einflüsse wirksam zu schützen. Wo private Kräfte nicht ausreichten, schufen Städte, Kreise und Provinzen Einrichtungen, die von Amts wegen tätig wurden. Der Gedanke, daß die Pflege und Erhaltung der Kulturgüter gleichzeitig ein geeignetes Mittel der Volkserziehung sei, lag dem damaligen Staat noch ziemlich fern; er sah sich eher in der Rolle eines Mäzen wie einst die Territorialfürsten. Zur Verwirklichung einer derartigen Zielsetzung wurde im "Dritten Reich" ein einheitlicher nationalpolitischer Einsatz auf kulturellem Gebiet, besonders in der Volkstumspflege, zur Sicherung der nationalen Einheit im Innern und zugleich der Grenzen nach außen angestrebt. Erst viel später, nämlich im Jahre 1936, haben sich die im "Deutschen Gemeindetag" zusammengeschlossenen preußischen Provinzen diese neue Form provinzieller Kulturpflege zu eigen gemacht, indem sie ausdrücklich darin übereinkamen,

s. a. Otto Müller-Haccius: Die preußischen Provinzialverbände im Gefüge des Dritten Reiches; in: 1. Sonderschriftenreihe des kommunalwissenschaftlichen Instituts Berlin, hrsg. v. K. Jeserich; 1.: Aus der Arbeit der preußischen Provinzen, Heft 1, Stuttgart 1936 und: KarlFriedrich Kolbow: Die Kulturpflege der preußischen Provinzen; in: wie vorstehend, Heft 2. Stuttgart 1937.

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ihre Kulturpolitik künftig einheitlich nach den neuen, im Grenzland Ostpreußen zuerst entstandenen Vorstellungen auszurichten. Dabei hatte man im Wesentlichen die Gedanken von Riehl, Löns und Wagenfeld aufgenommen, die sich alle für die Erforschung des Volkslebens durch ein gründliches Studium der Volkskunde mit Geschlechtern, Ständen und Stämmen eingesetzt hatten, sodaß alle Kulturarbeit fortan einen Wandel in Richtung bewußter Volkstumspflege erfuhr und darum bemüht war, auch die Bevölkerung an der Pflege des überkommenen Kulturgutes zu beteiligen. So wurden ζ. B. alte Burgen, Schlösser, Tore und Türme zu neuzeitlichen Schulen und Heimen ausgebaut und damit zu neuem Leben erweckt. Hierfür hatte die Provinzialverwaltung beachtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Aus rein praktischen Gründen erfuhr jetzt auch die vor- und frühgeschichtliche Denkmalpflege eine erhebliche Erweiterung: Durch das Arbeitsbeschaffungsprogramm und den Bau der Reichsautobahn von Elbing nach Königsberg waren Erdarbeiten von gigantischem Ausmaß erforderlich geworden. Hierbei wurden archäologische Funde zutage gefördert, wie sie sich frühere Denkmalpfleger nicht hätten träumen lassen. Die Neubewertung der Denkmalforschung als ein Mittel der Volkserziehung zur Heimatliebe hatte zur Schaffung von Lehreinrichtungen für Vorgeschichte geführt; so waren der Königsberger Universität, mit der man eng zusammenarbeitete, ein besonderes Ordinariat und eine Anzahl Honorarprofessuren gegeben worden. Hier wirkte u. a. der letzte Direktor des Staatlichen Friedrichskollegiums (humanistisches Gymnasium in Königsberg), Prof. h. c. Dr. Bruno Schumacher, und legte das Ergebnis seiner heimatkundlichen Forschungen in dem bis heute grundlegenden Werk: "Geschichte Ost- und Westpreußens" nieder. Auch die Durchführung des sog. Ostsemesters wurde von der Provinzialverwaltung durch Bereitstellung von Stipendien gefördert. Alles in allem stand die Kulturarbeit jetzt auf einer breiteren Basis. So gab es eine besondere "Abteilung für Kulturpflege", deren Dezernent Landesrat Scheibert war.

ee) Das Tannenberg-Nationaldenkmal13 Gerechterweise muß hier festgestellt werden, daß der Provinzialverwaltung die weitere Ausgestaltung dieses Denkmals erst 1935 als "Auftragsan^ s. a. Helmut Scheibert: Die Reichsautobahn in Ostpreußen; in: Ostpreußenblatt, Jg. 19, Fol^e 31 v. 3.8.1968, S. 13. Aus: Joh. Krüger: Bauliche Gedanken um das Reichsehrenmal Tannenberg; in: Osteroder Zeitung, Nov. 1977, Folge 48, S. 602 ff und: Tannenberg - Deutsches Schicksal - Deutsche Aufgabe, hrsg. vom Kuratorium für das Reichsehrenmal Tannenberg; Oldenburg in Oldenburg 1939 und: Schriftwechsel mit Georg Stein.

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gelegenheit des Reiches" übertragen wurde, während das eigentliche Verdienst um den Denkmalsbau dem 1925 gegründeten "Tannenberg-Nationaldenkmalverein e. V." gebührt. Bei der historischen Bedeutung der Schlacht von Tannenberg Ende August 1914 als der einzigen großen Entscheidungsschlacht auf deutschem Boden reifte schon während des Ersten Weltkrieges der Gedanke, den gefallenen Kämpfern eine würdige Gedenkstätte zu schaffen. Darüber hinaus erschien die Errichtung eines solchen Denkmals gerade auf ostpreußischem Boden auch von nationalpolitischer Wichtigkeit: Sollte doch damit auch den Deutschen "im Reich" Gelegenheit gegeben werden, die durch den Versailler Vertrag abgetrennte Provinz nicht zu vernachlässigen. Anfang 1924 wurde ein Denkmalausschuß gebildet. Schon am 31.8. d. J. konnte bei Hohenstein, 3 km vom Dorf Tannenberg, durch GFM v. Hindenburg die Grundsteinlegung erfolgen. Unter 385 Entwürfen hatte sich der Ausschuß für den Stonehenge-Gedanken der Architekten Johannes und Walter Krüger entschieden, nämlich für ein Ringmotiv altdeutscher Opferstätten, d. h. von acht kreisförmig aufgestellten wuchtigen Türmen mit einer achteckigen Ringmauer als Abgrenzung des Ehrenhofes und - mit ihren 38 Torbögen - zur Aufnahme von Gedenktafeln. Die Durchführung dieses Baues wurde 1925 dem "Tannenberg-Nationaldenkmalverein e. V." übertragen (Vors.: Generalmajor Kahns, Schriftführer: Landesrat Scheibert, Schatzmeister: Bankdirektor Henkel).14 Am 18.9.1927 konnte die Einweihung dieses gewaltigsten aller deutschen Weltkriegsdenkmäler stattfinden. Die ganze Welt horchte damals auf, als der inzwischen zum Reichspräsidenten gewählte GFM v. Hindenburg von dieser Stelle aus die Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges überzeugend zurückwies. Ein besonderes Verdienst bei der aus reinen privaten Spenden des ganzen Reiches finanzierten Denkmalsanlage kommt dem 1925 gegründeten "Werbeausschuß" unter der Leitung des Aliensteiner Oberbürgermeisters Zülch 15 und seinem Verkehrsdirektor Georg Stein zu. So wurden ζ. B. Lotterien im ganzen Reichsgebiet veranstaltet. Nachdem bis 1935 die Erweiterung des Ehrenhofes zwecks Aufnahme von Massenveranstaltungen wie der stets groß angelegten Gedenkfeiern durchgeführt und der Umbau von Turm Nr. 5 zum "Gruftturm" für die Sarkophage Hindenburgs und seiner Gemahlin erfolgt war, erklärte Hitler diese 14 s. a. Ernst Vogelsang: Aus der Geschichte des Reichsehrenmales Tannenberg; in: Schriftenreihe Nordostarchiv, Lüneburg 1987, Heft 29, S. 73 ff (u. d. T.: Zwischen den Weltkriegen, Teil II: Kultur im Preußenland der Jahre 1918-1939, hrsg. von Udo Arnold). 15 s. a. Helmut Scheibert: Allensteins großer Oberbürgermeister Georg Zülch (u. d. T.: Sein Lebenswerk galt dem Wohl seiner Stadt); in: Ostpreußenblatt, Jg. 23, Folge 35 v. 26.8.1972, S. 10.

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Weihestätte zum "Reichsehrenmal Tannenberg". Zur Ausgestaltung der das Denkmal umgebenden Landschaft, um es als Krone auf einem breiten Totenhügel wirken zu lassen, konnten jetzt endlich staatliche Gelder eingesetzt werden. Die Provinzialverwaltung erhielt ihre Aufträge künftig vom "Kuratorium für das Reichsehrenmal Tannenberg" in Berlin. Da das Denkmal heute völlig zerstört ist, 16 sei hier auf die ausgezeichneten Abbildungen in dem Buch: "Tannenberg - Deutsches Schicksal Deutsche Aufgabe" hingewiesen, besonders im Hinblick auf die künstlerische Ausgestaltung im Innern des Denkmals (s. a. Fußnoten 13 und 14). Bei der angespannten Wirtschaftslage der vom Reich abgetrennten "Insel Ostpreußen" war die Belebung des Fremdenverkehrs ein wichtiges Anliegen der Provinzialverwaltung, wobei das Tannenberg-Denkmal einen besonderen Anziehungspunkt bilden sollte. So sei hier über das erfolgreiche Wirken der Verkehrsgesellschaft "Tannenberg" mbH näheres berichtet, die im Jahre 1930 von Landesrat Scheibert und dem neuen Bürgermeister von Hohenstein, Georg Stein, gegründet worden war. 17 Nach außen hin setzte eine intensive Werbung durch Presse, Radio und Werbeschriften ein; auch Bahn und Post suchte man, an dieser Werbung zu beteiligen. In Hohenstein selbst baute man die Zufahrtstraßen und Busverbindungen aus. Noch 1939 wurden Gaststätten modernisiert, ein neuer Bahnhof errichtet und das Stadtbild von Hohenstein verschönert. In den Auskunftstellen verkaufte man, um keinen Andenkenkitsch aufkommen zu lassen, masurische Webeteppiche und andere landesübliche Handarbeiten. Auch hatte es seinen guten Grund, ab 1935 das Königsberger Freiluftmuseum hierher zu verlegen. So lernten Hunderttausende die schöne Provinz Ostpreußen näher kennen. Allein 1932, also noch vor der "Machtergreifung", hatte man 58.000 Denkmalsbesucher aus allen Teilen Deutschlands gezählt, die später auch dieses Museum besichtigten. Als eigene Maßnahme dieser Gesellschaft sei hier der stilvoll eingerichtete "Tannenbergkrug" mit seiner sinnvollen Pferdetränke 18 erwähnt, der bald erweitert werden mußte. Auch hatte man die Voraussetzungen für längere Ferienaufenthalte im Schlachtfeldgebiet von Tannenberg geschaffen: Die "Schlagamühle" in der Nähe der sog. Russenfalle hatte man erworben und zu einem Erholungsheim ausgebaut. Am Plautziger See sollte ein groß angelegtes Feriendorf entstehen. Auch des Baues einer Jugendherberge mit

s. a. Gerhard Biell: Das Ende des Tannenberg-Denkmals; in: Osteroder Zeitung, Mai 1989, Folge 71, S. 24 ff und Gert Sailer: Das Ende des Reichsehrenmals Tannenberg; in: Deutsches Soldatenjahrbuch. München 1988, S. 305 ff. 17

18

s. a. Fußn. 14, S. 91 f.

Abgebildet in: "Deutschland über alles - Ehrenmale des Weltkrieges", hrsg. v. Siegfried Scharfe (Blaue Bücher), Leipzig 1938, S. 77

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160 Betten am Mispelsee hatte man sich angenommen. Die Gesellschaft konnte sogar Eigentum an den von ihr zu schaffenden Einrichtungen erwerben, so ζ. B. an dem von dem Danziger Gewerbeoberlehrer Mantau in mühevoller Kleinarbeit angefertigten Leuchtrelief, das für die Besucher des Denkmals stets von besonderem Interesse gewesen ist. Deshalb soll es hier näher beschrieben werden. Es handelte sich um eine ca. 5 m χ 4 m große Reliefkarte von dem Gebiet zwischen Weichsel und Memel mit prägnanten Darstellungen der Seen, Fluren, Wälder, Ortschaften und Verkehrsverbindungen. Schwachstromleitungen mit 4.000 Glühbirnen waren hier eingebaut. Eine rote Glühbirne symbolisierte jeweils eine russische Einheit in Bataillonsstärke, während die deutschen Einheiten durch weiße Glühbirnen bezeichnet wurden. Diese komplizierte Apparatur ließ die Glühbirnen mittels Relaisschaltungen nacheinander aufleuchten, so daß die Bewegungen der einzelnen Truppenteile vor und während der fünftägigen Schlacht in der dargestellten Landschaft erkennbar waren. Die Vorführung mit einem begleitenden Vortrag durch einen alten Tannenbergkämpfer dauerte ca. 40 Minuten. Hierfür war ein Blockhaus mit 200 Sitzplätzen in der Nähe des Tannenbergkruges geschaffen worden. Unzähligen Besuchern wurde somit eine anschauliche Darstellung von dem geschichtlichen Geschehen jener Augusttage des Jahres 1914 vermittelt. In besonderem Maße nahm sich diese Gesellschaft auch der Pflege der im Schlachtfeldbereich angelegten deutschen und russischen Soldatengräber an, tatkräftig unterstützt von der Kreisverwaltung Osterode. Innerhalb der gesamten Denkmalsanlage hatte der uniformierte "Denkmalshauptmann" Fritz Stubenrauch - ebenfalls ein Tannenbergkämpfer - für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

b) Fürsorgeeinrichtungen und Landesfrauenklinik

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Ursprünglich aus dem Landarmenverband hervorgegangen, lag dem Provinzialverband die gesetzliche Verpflichtung ob, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen für die Bewahrung und Pflege der hilfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptischen, Taubstummen und Blinden. Auch war der Provinz die Beschulung blinder und taubstummer Kinder sowie die Heilung von Körperbehinderten zur Pflicht gemacht. In welcher Weise diese Aufgaben erfüllt wurden, darf als vorbildlich bezeichnet werden. Wurden doch hierfür in der ganzen Provinz modern eingerichtete Anstalten geschaffen bzw. un19 Aus: Manfred Graf v. Brünneck: Fürsorgeanstalten in der Provinz Ostpreußen; in: Ostpreußen - seine Entwicklung und seine Zukunft, hrsg. v. Köhrer/Worgitzki, Bln.-Charlottenburg 1922, S. 42 ff (auch in: Ostpreußenblatt, Jg. 16, Folge 7 v. 13.2.1965, S. 6) und: Ostpreußen - 700 Jahre deutsches Land, hrsg. v. Ludwig Goldstein, Königsberg/Pr. 1930, darin: Emil Ploke: Die Hebammenlehranstalt der Provinz Ostpreußen (u. d. T.: Einzelbilder aus Industrie, Handel und Wirtschaft; ohne Seitenzahlen).

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terhalten wie die Heil- und Pflegeanstalten in Allenburg/Wehlau, Kortau und Tapiau für Schwachsinnige, die Provinzialanstalt in Rastenburg für Epileptische, die Carlshöfer Anstalten, die Krüppel-Heilstätte "St. Andreasberg" in Wormditt, die Provinzialtaubstummenanstalten in Königsberg, Tilsit und Rößel sowie die ostpreußische Blindenunterrichtsanstalt und das Bülow von Dennewitzsche Blindenstift 20 in Königsberg, die Krüppel-Heil- und Lehranstalt "Hindenburghaus" daselbst, das Krüppelheim "Bethesda" in Angerburg und das "Dorotheenheim" in Alienstein sowie sieben Provinzialerziehungsheime und 21 konfessionelle Heime im Rahmen der Fürsorgeerziehung Minderjähriger (Der Provinzialverband als Landesfürsorgeverband). Alle diese Anstalten verfügten über größere landwirtschaftliche Betriebe, wo die Kranken sich nützlich machen konnten. Auch Werkstätten mit geprüften Handwerksmeistern waren vorhanden. Auf musischem Gebiet wurde den Patienten ebenfalls so manche Abwechslung geboten. Die Provinzialtaubstummenanstalten hatten in ihrer baulichen Anlage zu den neuzeitlichsten überhaupt gehört. 21

In der Gärtnerlehranstalt Tapiau ließ die Provinzialverwaltung u. a. zur gärtnerischen Betreuung dieser Anstalten jährlich 24 Lehrlinge zu Gärtnern ausbilden und in Gumbinnen besaß sie eine Hebammenlehranstalt. Seit ihrer Verlegung nach Insterburg (1924) führte sie den Namen "Landesfrauenklinik" und wurde zu einer neuzeitlichen Hebammenlehranstalt ausgebaut. Als ein Musterbeispiel für moderne Krankenhausgestaltung soll hier näher darauf eingegangen werden. Zum ersten Mal wurde nämlich der Versuch unternommen, den strengen und kalten Charakter, den Kliniken sonst an sich haben, durch künstlerisch empfundene Farbwirkung und starke Beteiligung des Kunstgewerbes abzugleichen. Neben der Erfüllung aller hygienischen Forderungen sollte der Ausbau der Inneneinrichtungen einen harmonischen Gesamteindruck vermitteln, für den die Kranken sehr empfänglich sind. Die Ärzte wohnten in einem besonderen Trakt wie in einem Heim, dem Tagesbetrieb völlig entzogen. Auch die von den Krankenabteilungen getrennte Schwesternstation trug alle Vorzüge privater Wohnlichkeit an sich, um damit eine volle Erholung von der täglichen Arbeit zu gewährleisten. So wurde erreicht, daß die besondere Gestaltung dieser Klinik einen wohltuenden Einfluß auf die Patienten und auf das Personal ausübte, das mit Freuden 20 s. a. Helmut v. Wedelstädt: Aus der Geschichte der ostpreußischen Blindenunterrichtsanstalt; in: XII. Königsberger Bürgerbrief, hrsg. v. der Stadtgemeinschaft Königsberg/Pr., Leer 1975, S. 7 f. - Nach Absolvierung des Schulunterrichts und des Unterrichts in einem Blindenhandwerk in diesen beiden Anstalten konnten die Blinden auf Wunsch diese räumlich verbundene 21Heim- und Arbeitsstätte behalten. s. a. Μ. Β.: Die Provinzial-Gärtnerlehranstalt in Tapiau; in: Ostpreußenblatt, Jg. 8, Folge 26 v. 29.6.1957, S. 6.

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seiner Arbeit nachging und die gesamte Innenausstattung mit einer Sorgfalt behandelte, wie es sonst in öffentlichen Anstalten nicht immer der Fall ist. Freilich ließ es sich nicht vermeiden, daß die einzelnen Krankenstationen, wie in anderen Kliniken auch, voneinander getrennt waren. Als besonderer Vorzug ist aber hervorzuheben, daß diese Klinik mitten in einem zehn Morgen großen parkähnlichen Garten lag. Durch diese Gartenwirkung wurde die Ausgeglichenheit der Innenausstattung auf das Glücklichste ergänzt. Die Klinik war in der Lage, 160 Schwangere, Wöchnerinnen, Frauenkranke und 80 Säuglinge aufzunehmen, wovon 75 Betten für unentgeltliche Behandlung zur Verfügung standen. Von den jährlich 70.000 Verpflegungstagen mit 210.000 Mahlzeiten konnten 30.000 Portionen gleichfalls unentgeltlich verabreicht werden. 22 DRK-Schwestern waren eingesetzt; 29 weitere Personen besorgten Verwaltung und Hauswirtschaft. Außer dem Direktor waren hier ein Oberarzt, fünf Assistenzärzte, ein Kinderarzt und drei Medizinalpraktikanten tätig. Ferner wurden jährlich 80 Hebammen in Säuglingspflege und fürsorge aus- und weitergebildet. Außer den ostpreußischen Lungenheilstätten an den Stadträndern von Allenstein und Hohenstein besaß der Provinzialverband in der Seeheilstätte Lochstädt eine dicht am Ostseestrand bei dem Badeort Neuhäuser gelegene Heilstätte für mit Tuberkulose bedrohte Kinder. Hier konnten bis zu 200 Kinder aufgenommen werden. Alle diese Institute wurden von Medizinalbeamten geleitet, die, wie die Provinzialbauräte, - im Gegensatz zu den Landesbauräten und Landesräten 22 - nicht gewählt, sondern durch Reglements ernannt und in ihr Amt eingeführt wurden (§ 95 Provinzialordnung). Die Ausgaben auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege beliefen sich allein 1920 auf weit über 6 Millionen Mark bei einem Etat von 20 Millionen Mark. In der Hitlerzeit hat man durch das erweiterte Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und das Jugendherbergswerk auch für die Gesunderhaltung der jungen Menschen Sorge getragen. Auch hierfür waren die Ausgaben des Provinzialverbandes seit 1933 beträchtlich.

Seit dem 15.12.1933 (Oberpräsidentengesetz) wurden auch diese Beamten nicht mehr gewählt, sondern ernannt; sie behielten aber den Status von mittelbaren Staatsbeamten (§ 96 Provinzialordnung).

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c) Schaffung der Landesbank zum Wohl der heimischen Wirtschaft Angesichts des vielseitigen Aufgabenkreises der Provinzialverwaltung 24 war die Schaffung eines eigenen Bankinstitutes zur Besorgung von Kapitalien und Krediten erforderlich geworden. So wurde 1919 die "Landesbank für die Provinz Ostpreußen" gegründet. Sehr bald wuchs sie sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor aus, da ihre Aufgabe darin bestand, ihre Mittel allen Wirtschaftszweigen in allen Teilen der Provinz zur Verfügung zu stellen. Bei der Kreditgewährung ließ sie sich vorwiegend von volkswirtschaftlichen Aspekten im Interesse der Bevölkerung leiten. So wurden ζ. B. die Spareinlagen der ihr angegliederten mündelsicheren Sparkasse ausschließlich der heimischen Wirtschaft zugeführt. Es handelte sich also um eine ausgesprochen bodenständige Bank. Bei der damaligen Durchführung des Osthilfegesetzes" hatte sie die Zentralstelle für die zugunsten der Landwirtschaft eingeleitete Umschuldungsaktion gebildet. Auch die Verwaltung der zur hypothekarischen Beleihung städtischer Grundstücke errichteten "Ostpreußischen Stadtschaft" hatte in den Händen des Vorstandes der Landesbank gelegen. Die Stadtschaft, ein Gegenstück zur bewährten "Ostpreußischen Landschaft", hatte die Hergabe von Hypothekendarlehen durch Ausgabe von Pfandbriefen abzusichern, indem sie speziell sog. Stadtschaftsbriefe austeilte. Hierbei bediente sie sich der Zentralstadtschaft in Berlin, der sie angeschlossen war. Langjähriger Leiter der Landesbank und der Stadtschaft war Generaldirektor Dr. Huck. So war der Provinzialverband auch auf dem Gebiet des Kreditwesens eigene Wege gegangen, die - auf längere Sicht gesehen - zu dem gewünschten Erfolg geführt haben. Über die Leistungen der Provinzialverwaltung seit 1940 soll hier nicht mehr berichtet werden, da sie fortan den Zeitumständen gemäß vorwiegend kriegswirtschaftliche Aufgaben zu erfüllen hatte. Nur soviel sei hier gesagt: Durch das Streben des NS-Regimes nach einem zentralisierten Einheitsstaat wurde sie immer mehr zu einer Auftragsbehörde der Reichsregierung degradiert und damit ihres eigentlichen Wesens als einer dezentralisierten Mittelinstanz mit eigenem Aufgabenbereich entkleidet. Das bewährte "Selbstverwaltungsprinzip" mit seinem eigenständigen Beamtentum mußte schließlich dem "Führerprinzip" weichen, dessen negative Folgen, ζ. B. das Euthanasieprogramm, der Provinzialverwaltung nicht angelastet werden können. Jahrzehntelang hatte man gerade diese Kranken in Fürsorgeanstalten gepflegt und betreut.

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Aus: Paul Blunk: Entwicklung der Provinzialverwaltung; a. a. Ο. S. 59. Der Merksatz: "Arme, Irre und Straßen" dürfte zu eng gefaßt sein.

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5. Schlußbemerkungen Im Rahmen dieser Kurzfassung konnte nur über wenige, aber vorbildlich gelöste Aufgaben dieser Verwaltung berichtet werden. Einen umfassenden Überblick über den gesamten Aufgabenbereich vermittelt aber das "Statistische Handbuch für die Provinz Ostpreußen" (Schloßberg/Ostpr. und Leipzig 1938, S. 272 ff); es war die erste und wohl auch einzige Provinzialstatistik überhaupt. Auch der Haushaltsplan für das letzte Friedensjahr 1938 dürfte recht aufschlußreich sein: An Einnahmen und Ausgaben wurden nämlich nicht weniger als 40.636.000 Reichsmark veranschlagt. Die Frage scheint berechtigt zu sein, woher die höheren Beamten ihre Kraft zur Bewältigung derartig verantwortungsvoller Aufgaben geschöpft haben. K. F. Kolbow hat hierauf eine einleuchtende Antwort gegeben: "Die Kultur - und damit auch die Verwaltung - (Anm. d. Verf.) einer Provinz wächst aus dem Boden ihrer Landschaft und ihrer Bevölkerung". 26 Waren doch diese Beamten durch ihren Beruf in engste Dauerbeziehung zu der sie umgebenden Landschaft und ihrer Menschen getreten. Durch ihr schöpferisches Handeln, verbunden mit tiefem sittlichen Ernst, haben sie zu allen Zeiten eine Elite gebildet und damit beste Tradition preußischen Beamtentums im Grenzland Ostpreußen fortgesetzt. 27 Bis zuletzt hatte am Ende aller Landtagssitzungen im Landeshaus zu Königsberg die Beteuerung gestanden: "Ostpreußen - unsere geliebte Heimatprovinz - sie lebe hoch!". In den letzten Januartagen des Jahres 1945 hat auch diese Behörde ihre vielseitige Tätigkeit zum Segen des Allgemeinwohles kriegsbedingt einstellen müssen. Ihre Beamten sind erst wieder in Neustadt/Holstein an Land gegangen, während der Landeshauptmann in seiner Wohnung eine Meldestelle für sie eingerichtet hatte. Das Landeshaus ging im Inferno unter. Der bereits im "Oberpräsidentengesetz" vom 15.12.1933 angekündigte "Erlaß einer neuen Provinzialordnung" ist nicht mehr erfolgt. Auch die vom NS-Regime seit 1936 geplante Umwandlung der Provinzialverwaltung in eine "Gauselbstverwaltung" - analog zu den späteren Reichsgauen mit ihren Reichsstatthaltern - ist nicht mehr verwirklicht worden: Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte dem zentralistischen "Führerstaat" ein Ende bereitet. Am 25.2.1947 wurde der Staat Preußen mit allen nachgeordneten Behörden von den Alliierten aufgelöst (Kontrollratsgesetz Nr. 46).

2 5 Aus: Provinzialverwaltung Ostpreußen; in: Robert Albinus: Lexikon der Stadt Königsberg/Pr. und Umgebung. Leer 1985, S. 250.

27

Aus: Karl-Friedrich Kolbow: Die Kulturpflege; a. a. O., S. 105.

s. a. Helmut Scheibert: Uber das Personalwesen der Provinzialverwaltung Ostpreußens; in: Zeitschrift Nordostarchiv, Lüneburg 1969, 2. Jg., Heft 6/7, S. 12 ff.

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II. Das Provinzialdenkmalamt in Königsberg/Pr.

Da dem Wirken des Provinzialkonservators für Heimatpflege und Naturschutz eine wesentliche Bedeutung zukam, sei diesem Amt ein besonderer Abschnitt gewidmet. Im alten Ordensland Preußen hatte man sich schon zu Anfang des vorigen Jahrhunderts mit dem Studium der Burgen, Stadtbefestigungen und Kirchen des Ritterordens befaßt. So darf der preußische Leutnant Johann Michael Guise als Vorläufer der amtlichen Konservatoren bezeichnet werden. Seine "Grundrisse der Burgen und der mit Mauern befestigten Städte in Preußen aus der Zeit des Deutschen Ordens" - auf mehr als 500 kleinen Blättchen säuberlich aufgezeichnet - sind für die heimatliche Burgenforschung unentbehrlich geworden. Am 1. Juli 1843 wurde der Baukondukteur Ferdinand von Quast zum "Königlichen Konservator der Kunstdenkmäler der Preußischen Monarchie" ernannt. Schon ein Jahr später hat er in der "Instruktion von 1844" die vielfältigen Aufgaben des Konservators festgelegt. Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der mittelalterlichen Bauwerke des Ordenslandes. Seit 1849 veröffentlichte er in den "Neuen Preußischen Provinzial-Blättern" seine "Beiträge zur Geschichte der Baukunst in Preußen", u. a. eine baugeschichtliche Abhandlung über die Marienburg/Westpr. Von dem geplanten Inventarwerk "Denkmale der Baukunst in Preußen" erschienen nur drei Hefte, die das Ermland beinhalteten (1852-1863). Eine zweite Teil-Bestandsaufnahme in Ostpreußen erfolgte in den Jahren 1854-1857. Die damals an die Geistlichen abgesandten Fragebogen wurden aber von den Pfarrern infolge ihrer mangelhaften kunstgeschichtlichen Bildung recht unzuverlässig behandelt. Bevor auf der Grundlage des Dotationsgesetzes von 1875 und der "Provinzialordnung" aus demselben Jahre endlich in der "Allerhöchsten Kabinettsordre von 1891" die Stelle eines Provinzialkonservators genehmigt wurde, hatte man zunächst "Provinzialkommissionen zur Erforschung und zum Schutz der Denkmäler" geschaffen, die ihrerseits Provinzialkonservatoren - als örtliche Vertreter des Konservators der Monarchie - bestellten. Sie arbeiteten nach wie vor nach der "Instruktion von 1844". Die für Ostpreußen eingesetzte Kommission wählte am 16. Dezember 1891 den Architekten Adolf Bötticher zum Provinzialkonservator. In nur sieben Jahren führte er die Aufnahme der heimischen Bau- und Kunstdenkmäler durch und verwertete sie in seiner achtbändigen Inventarisation, ent28

Provinzialbaurat a. D. Dr. Carl Wünsch hat diesen Beitrag gefördert.

32

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haltend das Samland, Natangen, Oberland, Ermland, Litauen, Masuren, Königsberg sowie einen allgemeinen kulturgeschichtlichen Band. Hierin ist sein Hauptverdienst zu sehen, während seine mangelhaften direkten Beziehungen zu den städtischen und ländlichen Verwaltungsstellen, vor allem zu den Geistlichen, aber auch zu Privatpersonen, die als Eigentümer von Denkmälern an deren sachgemäßer Erhaltung in erster Linie interessiert waren, zu beklagen sind. Als er am 9. Juni 1901 plötzlich starb, war sein Amt für mehrere Monate verwaist. Am 31. Januar 1902 wurde der Regierungsbaumeister Richard Dethlefsen als zweiter Vertreter einer modern organisierten Denkmalpflege zum Provinzialkonservator von Ostpreußen gewählt und blieb bis zum Sommer 1936 im Amt. Seine Verdienste, die er sich in dreieinhalb Jahrzehnten um die Erforschung und Erhaltung der Bau- und Kunstdenkmäler in Ostpreußen erwarb, wurden durch die Verleihung des Titels "Professor" und der Würde eines Dr. phil. h. c. der Königsberger "Albertina" anerkannt. Einen umfassenden Einblick in seine vielseitige Tätigkeit erhält man durch die von ihm alljährlich von 1903-1936 herausgegebenen "Berichte" an die Provinzialkommission in Ostpreußen; bis zuletzt sind sie nach folgendem Schema angelegt: 1.

Bericht (hier wurde u. a. auch über regelmäßige Studientagungen der Berufskonservatoren in anderen Städten berichtet);

2.

Übersicht über die örtlichen Dienstgeschäfte des Konservators (ζ. B. Berichte über Dienstreisen in die Provinz);

3.

Neue Gesetze und Erlasse auf dem Gebiet der Denkmalpflege;

4.

Die Bücherei (hier wurde auch über den Zuwachs von Büchern aus anderen Provinzen sowie über Ankauf und Geschenke berichtet);

5.

Verzeichnis der in der ganzen Provinz eingesetzten Vertrauensmänner (das sind ehrenamtliche Mitarbeiter).

Hier sei auch das von Dethlefsen 1927 herausgegebene "Merkbuch für die Denkmalpflege" erwähnt, das in 160 Leitsätzen in prägnanter Kürze allgemeine Regeln zur Erhaltung und Restaurierung von profanen und sakralen Bau- und Kunstdenkmälern enthält. Sein besonderes Interesse galt der Erhaltung von Bauern- und Bürgerhäusern, der Adelssitze und der in Ostpreußen noch erhalten gebliebenen Holzbauten. Einzelne Typen hiervon wurden im Freiluftmuseum des Königsberger Tiergartens aufgestellt und später aus Raummangel in Hohenstein wieder aufgebaut. Von seinen vielen Veröffentlichungen seien hier nur genannt: "Bauernhäuser und Holzkirchen in Ost-

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

33 29

preußen" (Berlin 1911), "Führer durch das ostpreußische Heimatmuseum" (Königsberg 1913), "Das schöne Ostpreußen" (München 1916), "Stadt- und Landhäuser in Ostpreußen" (München 1918), "Beiträge zur ostpreußischen Glockenkunde" (Königsberg 1919). Bei der Inventarisation der "Bau- und Kunstdenkmäler von Ostpreußen" ist Dethlefsen über die Verzeichnisse Böttichers insofern hinausgegangen, als er ihre Einteilung nach den altprußischen Gauen für unzweckmäßig hielt, weil sie sich nicht mit den einzelnen Regierungsbezirken deckt. So strebte er - nach dem Vorbild der anderen Provinzen - eine Bestandsaufnahme dieser Denkmäler nach den landrätlichen Kreisen und kreisfreien Städten an, jeweils eingeteilt nach den Regierungsbezirken Königsberg, Alienstein und Gumbinnen. Von dieser 1929 begonnenen Neuinventarisation konnte allerdings nur ein einziger Band erscheinen.30 Auch hatte Dethlefsen vor, die älteren Werke der Ingenieurkunst, ζ. B. Windmühlen, in die Bestandsaufnahme einzubeziehen. Von seinem Kunstverständnis zeugt sein ständiger Appell an den restaurierenden Künstler, sich stets von seinem Einfühlungsvermögen in den Geist eines auszubessernden Monumentes leiten zu lassen: Nicht das individuelle Wirken, sondern das Einfügen in das harmonische Ganze hat im Vordergrund zu stehen. Andererseits kämpfte er gegen die zunehmende Verunstaltung durch geschmacklose Reklame, Blechdächer und monotone Überlandleitungen an, weil er den usprünglichen Charakter des Landschaftsbildes gewahrt wissen wollte. Seit 1933 wurde auch die Denkmalpflege als bewußte Deutschtumspflege weiterentwickelt. In dem neu gegründeten "Reichsbund Volkstum und Heimat" waren die früheren Einzelverbände zu den Fachschaften Heimatschutz, Naturschutz, 31 Volksmusik, Volkstanz, Trachtenpflege und Handwerkskultur zusammengefaßt und unter eine einheitliche nationalpolitische Führung gestellt. Trotz des weitgedehnten Aufgabenkreises standen Dethlefsen neben den schon erwähnten Vertrauensmännern nur ein wissenschaftlicher Mitarbeiter (Regierungsbaumeister a. D. Carl Wünsch) und ein technischer Mitarbeiter (Architekt Bruno Zelinsky) zur Seite. Im Sommer 1936 wurde Dr. Berthold Conrades als Nachfolger von Dethlefsen eingesetzt. Da er aber bald nach 1939 zur Wehrmacht einberufen wurde, hat Landesbaurat Hellmuth Friesen bis 1945 die Interessen des Pro-

29

gemeint ist das Königsberger Freiluftmuseum.

Die Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Allenstein, bearb. von Carl Wünsch, Königsb e r g . 1933. Zum Thema "Naturschutz" vgl. G. Zwanzig: Aus der Pionierzeit des Naturschutzes (s. Anhang: Literaturhinweise).

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vinzialdenkmalamtcs wahrgenommen, die vom Provinzialverband stets finanziell unterstützt wurden.

III. Die finanziellen Grundlagen der Provinzialverbände

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Als Einnahmequelle bildete das Steuerwesen das wichtigste Gebiet der gesamten Finanzverwaltung. Grundlage hierfür war das "Preußische Ausführungsgesetz zum Reichsfinanzausgleichsgesetz vom 30.10.1923".33 Hiernach erhielten die Provinzialverbände Anteile an dem dem Land Preußen zustehenden Anteil an der Reichseinkommen- und Körperschaftssteuer sowie aus dem dem Staat für eigene Zwecke verbleibenden Anteil an diesen Steuern eine Staatsdotation. Ferner flössen ihnen Anteile an der Reichskraftfahrzeugsteuer zu. Soweit diese Reichssteuerüberweisungen und die sonstigen laufenden Einnahmen nicht ausreichten, hatte die Deckung durch Erhebung von Provinzialumlagen bei den Stadt- und Landkreisen zu erfolgen. Darüber hinaus sahen sich die Provinzialverbände genötigt, Darlehen und Anleihen aufzunehmen. Demzufolge wurde regelmäßig neben dem Ordentlichen ein Außerordentlicher Haushaltsplan aufgestellt, in den alle größeren, sich auf mehrere Jahre erstreckenden Ausgaben verwiesen wurden. Einschneidende Änderungen enthielt dann das "Preußische Finanzausgleichsgesetz vom 10.11.1938"34 insofern, als der Staat den Provinzen anstelle der Reichssteuer Überweisungen einen festen Betrag von jährlich 70 Millionen Mark als Schlüsselzuweisung zur Verfügung stellte, jeweils bemessen nach Fläche und Einwohnerzahl der Provinzen. Hiervon waren jedoch die hohen Beträge in Abzug zu bringen, mit denen die Provinzialverbände aufgrund der "Kriegswirtschaftsverordnung vom 4.9.1939"35 zu dem vom Land Preußen aufzubringenden Kriegsbeitrag herangezogen wurden. Das Land Preußen bestand aus seinen 12 Provinzen (s. Tabelle!).

3 2 3 3

34 3 5

Aus: Schultze-Plotzius, Manfred: Ein Überblick, a.a.O., S. 74 ff. In: Preußische Ges.-Sammlung, 1923, S. 487. In: Preußische Ges.-Sammlung, 1938, S. 108. In: Reichsgesetzblatt 1,1939, S. 1609.

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

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IV. Der politische Einfluß der Provinzialverbände

Die Provinzialverbände übten auf der Grundlage der Provinzialordnung nicht nur die Selbstverwaltung in ihren Provinzen aus, sondern hatten darüber hinaus bis 1933 auch das bedeutsame Recht, für eine Anzahl öffentlichrechtlicher Organe, ζ. B. den Reichsrat, den Preußischen Staatsrat, den Provinzialrat, die Bezirksausschüsse, die Direktion der Rentenbank und das Finanzgericht Mitglieder zu wählen oder Vertreter in sie zu entsenden. Hierdurch konnten sie einen sehr erheblichen indirekten Einfluß auf viele Verwaltungsangelegenheiten ausüben, die nicht zu ihrem engeren Tätigkeitsgebiet gehörten. Außerdem hatten sie bei der Ernennung der Oberpräsidenten, der Regierungspräsidenten, der Landeskulturamtspräsidenten und der Vizepräsidenten des Provinzialschulkollegiums mitzuwirken. Diese Rechte gaben den Provinzialverbänden auch auf höchster Ebene einen starken politischen Einfluß. Seit 1933 kam es zur Personalunion der meisten Gauleiter mit dem Amt des Oberpräsidenten und somit dem Leiter der Provinzialverbände.

ANHANG

Kurzbiographien der höheren Beamten zugleich ein Überblick über das umfangreiche Aufgabenfeld Die Landeshauptleute

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Dr. h. c. Manfred Graf v. Brünneck-Bellschwitz39 geb. 1.9.1872 Hof Rosenberg/Westpr., gest. 16.5.1957 Baden-Baden. Nach dem Jurastudium Reg. Assessor beim Oberpräsidium in Königsberg/Pr., 1907-1916 Landrat im Landkreis Königsberg/Pr., 1916 Wahl zum Landeshauptmann. In dieser Tätigkeit u. a. Mitbegründer der Ostpreußenwerke AG" zur Elektrifizierung der Provinz. Unter seiner Leitung wurden u. a. die Landesfrauenklinik und die Hebammenlehranstalt in Insterburg errichtet 36

Aus: Paul Blunk: Entwicklung der Provinzialverwaltung, a.a.O., S. 59. Wenn nicht anders vermerkt, hat der Verfasser die seit 1964 mit vielen höheren Beamten geführte Korrespondenz als Material benutzt. 3 7

s. a. Erich Reichelt: Ostpreußens Landeshauptleute, in: Zeitschrift Ostpreußenwarte, Göttingen 1950, Heft 7, S. 10. 39 s. a. Altpreußische Biographie, Marburg 1974 ff., hier: Bd. III, S. 876 f. 3*

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und das "Prussia-Museum" in Königsberg/Pr. von der Provinz übernommen. Er war federführend im "Heimatbund" (nach dem Ersten Weltkrieg gebildeter Zusammenschluß zur Abwehr gegen die auf Abtrennung Ostpreußens vom Reich gerichteten Bestrebungen). 1928 verzichtete er auf die Wiederwahl zum Landeshauptmann. In Würdigung seiner Verdienste wurde ihm von der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. der Titel "Dr. h. c." verliehen. Dr. Paul Blunk 40 geb. 24.2.1880 Garbricken b. Bartenstein, gest. 17.3.1947 Berlin-Charlottenburg. Jurastudium in Königsberg/Pr., 20.5.1904 Ref. Examen, 10.5.1908 Gerichtsassessor-Examen, 15.4.1909 Promotion zum Dr. jur., 1910 Eintritt in die Provinzialverwaltung, 1912 Wahl zum Landesrat, 1920 Wahl zum Ersten Landesrat, 28.1.1928 Wahl zum Landeshauptmann. Er hatte u. a. folgende Nebenämter: Präsident der Landesversicherungsanstalt (LVA), des ostpreußischen DRK und des Landesverkehrsverbandes Ostpreußen, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Landesbank, der Ostpreußenwerke AG, der ostpreußischen Kleinbahngesellschaft, der ostpreußischen Landgesellschaft und der ostpreußischen Heimstätte. Auch war er Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Kantgesellschaft, der Provinzial- und Stadtsynode, des Gemeindekirchenrates der ev. luth. Kirche. Wegen politischer Unzuverlässigkeit und offener Frontstellung gegen den Oberpräsidenten und Gauleiter Erich Koch wurde er am 1.6.1936 zwangspensioniert und aus Ostpreußen ausgewiesen. Veröffentlichung: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande (Königsberg/Pr. 1931). Helmut v. Wedelstädt41 geb. 9.11.1902 Mülheim/Ruhr, gest. 12.4.1988 daselbst. 1922-1925 Jurastudium in Freiburg, München und Münster, seit 1925 Referendar beim Amtsgericht Mülheim, desgl. bei den Regierungen Münster und Köln, 19291932 Reg. Assessor beim Landratsamt und bei der Regierung Königsberg/Pr., 1932-1935 beim preußischen Ministerium des Innern, zuletzt als Oberregierungsrat, 1936 vom Oberpräsidenten als Landeshauptmann eingesetzt, Ende 1941 zur Wehrmacht einberufen. Veröffentlichung: Kommentar zum Deutschen Beamtengesetz v. 26.1.1937 (Berlin 1937).

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s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 866 f. Aus: Robert Albinus: Lexikon der Stadt Königsberg/Pr., a.a.O., S. 333 und: Große Verdienste um Ostpreußen, in: Ostpreußenblatt, Jg. 39, Folge 23 v. 4.6.1988, S. 20. 4 1

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

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Der Erste Landesrat Dr. Reinhard Bezzenberger 42 geb. 26.7.1888 Cranz/Ostpr., gest. 1.9.1963 Karlsruhe. Jurastudium in Königsberg/Pr. und Berlin. 1921 zum Landesrat und 1929 zum Ersten Landesrat gewählt. Er war Vertreter der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft, des Gemeindeunfallversicherungsverbandes sowie im Verwaltungsrat der Landesbank und der Stadtschaft tätig. Auch war er stellvertretender Leiter der LVA. Als ständiger Vertreter des Landeshauptmannes hat er seit 1942 die Provinzialverwaltung und die LVA selbständig geleitet; bei beiden Verwaltungen oblagen ihm folgende Dezernate: Allgemeine Angelegenheiten und Organisation, Personalien, Verkehr mit den Aufsichtsinstanzen und Angelegenheiten der Selbstverwaltungskörperschaften (Stadt, Gemeinde, Kreis). An zentraler Stelle hat er mitgearbeitet im "Deutschen Gemeindetag" und im "Reichsverband der deutschen Rentenversicherungsträger", er war Geschäftsführer des "Königsberger Universitätsbundes e. V." und des "Vereins zur Erhaltung der Marienburg/Westpr.".

Die Landesräte Ulrich Bessel43 geb. 1.9.1883 Bartenstein/Ostpr., gest. 28.3.1947 Gr. Paesna/Leipzig. Jura- und Nationalökonomie-Studium in Königsberg/Pr., Leipzig und Berlin. Ab 1911: Gerichtsassessor bei verschiedenen Staatsanwaltschaften, 1920 Wahl zum Landesrat. Als Anstaltsdezernent unterstanden ihm die Anstalten für Geisteskranke in Tapiau, Allenburg und Kortau, die Trinkerheilanstalt in Stenken, die Blinden- und Taubstummenanstalt in Königsberg/Pr. Anläßlich des 25-jährigen Bestehens des "Ostpreußischen Blindenvereins" wurde er zu dessen Ehrenmitglied ernannt. Bessel hat seine Dezernate bis zur Vertreibung aus Königsberg/Pr. 1945 verwaltet.

Richard Eschment geb. 31.3.1870 Königsberg/Pr., gest. 19.8.1951 Hamburg. Jurastudium in Königsberg/Pr. und Freiburg/Br., als Assessor bei der Stadtverwaltung Kö42 s. a. Altpreußische Biographie, Bd. IV, S. 1083; eine vollständige Abschrift des Lebenslaufes Dr. B. liegt dem Verfasser vor. 3 s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 8 6 .

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nigsberg/Pr. tätig. 1904 Wahl zum Landesrat bei der LVA. Seit 1928 verwaltete er folgende Dezernate: Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, Unfall- und Haftpflichtversicherungsverband, Betreuung des Löbenicht'schen Hospitals sowie Witwen- und Waisenfürsorge. 1937 pensioniert, jedoch von 1939-1945 weiter im Amt. Eschment setzte sich in Königsberg/Pr. für die Freigabe der Festungswälle zum Umgestalten in Parkanlagen für die tuberkulosegefährdete ärmere Königsberger Bevölkerung ein, förderte die Interessen des "Vereins für volkstümliche Heimarbeit" und machte Vorschläge zur Verschönerung der Stadt Königsberg/Pr. Veröffentlichung: "Die Aufgaben der ostpreußischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft".

Dr. Erwin Felsch geb. 27.9.1883 Marienburg/Westpr., gest. 28.1.1945 in Königsberg/Pr. (Freitod). Nach dem Jurastudium Landesassessor in Danzig. 1920 Wahl zum Landesrat bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen. Dezernate: Fürsorgeerziehung, Jugendfragen, Hebammenausbildung. Ihm unterstanden die Fürsorgeerziehungs- und Taubstummenheime der Provinz. Otto Florian gest. 1945 (Freitod in Mecklenburg). Reserveoffizier im Ersten Weltkrieg. Ab 1923 bei der Landesbank in Königsberg/Pr. in der Buchhaltung tätig. Ab 1925 Kassenführer in der Zweigstelle der Landesbank in Insterburg mit Bankvollmacht. Ab 1933 Kassierer bei der Landesbank in Königsberg/Pr. mit Kassenvollmacht. Ferner war Florian seit 1933 Landesrat, u. a. Leiter der Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene.

Dr. Max Gentzen geb. 20.1.1880 Königsberg/Pr., gest. 2.8.1950 Lübeck. Nach dem Studium der Medizin in Königsberg/Pr. war Gentzen ab 1912 Stadtschularzt in Essen, später in Königsberg/Pr.; 1919 als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei in den Provinziallandtag gewählt. 1930 Wahl zum Landesrat; gleichzeitig führte Gentzen bei der LVA das Dezernat für Gesundheitswesen und Seuchenbekämpfung, er blieb aber Medizinalbeamter, u. a. bei der Gaustelle zur Bekämpfung der Rauschgifte. Besondere Verdienste: Tuberkulosebekämpfung, Trinkerfürsorge, Heilstättenwesen, Erholungswesen (Kindererholungsheime in Blumenau, Kl. Hoppenbrück und Cranz-Westende).

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Ernst C. Friedrich Hasse geb. 16.6.1869 Gr. Carwinden/Pr. Eylau, gest. 16.4.1947 Wilhelmshorst/Michendorf bei Berlin; Jurastudium in Königsberg/Pr., Berlin und Leipzig. Ab 1898 Justitiar bei der Landwirtschaftskammer in Königsberg/Pr., ab 1902 bei der Provinzialverwaltung tätig, 1903 Wahl zum Landesrat bei der LVA, 1935 Pensionierung, 1939-1945 Wiedereintritt bei der LVA; Neuaufbau der LVA im Regierungs-Bezirk Zichenau. Jahrzehntelange erfolgreiche Tätigkeit im "Verein zur Errichtung von Lungenheilstätten". Veröffentlichung: "Über die Verhältnisse der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer in Ostpreußen".

Gerhard Loch geb. 16.11.1908 Johannisburg/Ostpr., 1934 Assessor-Examen, zunächst Gerichts-Assessor am Amts- und Landgericht Königsberg/Pr. Am 25.2.1935 Eintritt in die Provinzialverwaltung Ostpreußen; Dezernat: Justitiariat, Leitung der Provinzial-Witwen- und Waisenkasse, des Haftpflichtversicherungsverbandes und der ostpreußischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft. März 1937 Ernennung zum Landesassessor. Okt. 1938 Beförderung zum Landesverwaltungsrat, 30.6.1942 Beförderung zum Provinzial-Oberverwaltungsrat.

Reinhard Nietzki geb. 1.2.1904 Langheim/Rastenburg, gest. 19.6.1965 Bad Orb. Seit 1922 Jurastudium in Königsberg/Pr., ab 1931 Landesassessor bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen. Seit 1933 Landesverwaltungsrat, 1935 Ernennung zum Landesrat. Dezernate: landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (hier stellte Nietzki das Buchungsverfahren auf ein neues System um). Verwaltung des Löbenicht'schen Hospitals, der Ruhegehaltskasse und des Haftpflichtversicherungsverbandes. Mitglied im Gremium des "Reichsverbandes der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft". Im Zweiten Weltkrieg war Nietzki 11 1/2 Jahre in russischer Gefangenschaft und setzte sich dort in über 70 Vernehmungen für seine Kameraden ein.

Gotthold Sack geb. 1898 Korschen/Ostpr., gest. 1963 Düsseldorf. Zunächst Referent beim Oberpräsidenten. 1935 Ernennung zum Landesrat. U. a. Dezernent für das Krüppelwesen. Sack blieb bis 1945 im Amt.

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Walter Scheibert 44 geb. 16.10.1889 Wehlau, gef. 19.1.1944 Luzk/Ukraine. 1908-1912 Jurastudium in Königsberg/Pr., 1921 Landesassessor bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen, 1922 Wahl zum Landesrat. Dezernate: Kriegsbeschädigtenfürsorge, kulturelle Angelegenheiten, Landeskämmerer, Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung. Besondere Verdienste: Förderung des Fremdenverkehrs, der Landesforschung und der Geschichtsvereine, Tätigkeit für die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Schriftführer des Tannenberg-Nationaldenkmalvereins e. V., desgl. beim Verband der Vaterländischen Frauenvereine vom Roten Kreuz, juristischer Berater der "Schwesternschaft Ostpreußen" des DRK beim Neu- und Erweiterungsbau des DRK-Krankenhauses in Königsberg/Pr. (Berthaheim); Geschäftsführer der Verkehrsgesellschaft "Tannenberg" mbH und Mitglied des "Werbeausschusses" in Allenstein, Vorstandsmitglied im "Kuratorium für das Reichsehrenmal Tannenberg". Seit 1941 abgeordnet zum Reichskommissar für die Ukraine in Rowno, dort Hauptabteilungsleiter der Abteilung Haushalt. Am 19.1.1944 auf einer Dienstfahrt von Partisanen ermordet. Posthum zum Landesverwaltungspräsidenten der Zentralverwaltung Ukraine ernannt.

Dr. Heinz Schimmelpfennig geb. 12.3.1905 Arys/Ostpr, juristisches und volkswirtschaftliches Studium, Gerichtsassessor. Ab 1931 juristischer Hilfsarbeiter bei der Provinzialverwaltung und bei der LVA. 1934 Ernennung zum Oberrat und 1936 Ernennung zum Landesrat und zum Vorstandsmitglied der LVA. Derzernate als Landesrat bei der LVA: Renten- und Beitragsdezernat, Vermögensverwaltung und Organisationsfragen, Vertreter des Ersten Landesrates. Im Amt bis 1945. Die Zeitschrift "Berufsgenossenschaft" (Nr. 3 v. März 1965, S. 120) gibt eine Übersicht über Schimmelpfennigs Tätigkeit anläßlich seines 60. Geburtstages.

Die Landesbauräte

Hellmuth Friesen geb. 18.5.1894 Barenhof/Marienburg/Westpr., Studium der Architektur an der TH Danzig, Dipl. Examen mit Auszeichnung. 1924 Staatsprüfung als 44 s. a. Altpreußische Biographie, Bd. II, S. 601 und : Nachruf von M. Hein, in: Zeitschrift Altpreußische Forschungen, Königsberg/Pr. 1943, Jg. 20 [sic], S. 174 und: Fritz Gause: 50 Jahre Historische Kommission, in: ZS für Ostforschung, Marburg 1973, 22. Jg., Heft 4, S. 706.

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Regierungsbaumeister des Hochbaufaches. 1925-1929 mit dem Neubau des Anatomischen Institutes der Albertus-Universität beauftragt. 1930 Ernennung zum Regierungsbaurat. 1935-1939 Hochbaudezernent bei der Regierung in Königsberg/Pr., 1937 Leitung des Um- und Erweiterungsbaues des Regierungsgebäudes in Königsberg/Pr., 1939 Ernennung zum Landesbaurat. Leiter der Hochbauabteilung der Provinzialverwaltung, laufende Bauunterhaltung und Ergänzungsbauten der Provinzial-Heilanstalten, Erziehungsheime und der Verwaltungsgebäude, insbesondere des Landeshauses in Königsberg/Pr. sowie der Krankenhäuser der LVA; Aufbau des ostpreußischen Freiluftmuseums in Hohenstein/Ostpr; 45 1941-1945 stellvertretender Leiter des Provinzialdenkmalamtes.

Otto Heinemann46 geb. 25.5.1865 Langenau/Siegen, gest. 29.1.1945 Königsberg/Pr. (auf dem Weg zum Landeshaus von Bomben erschlagen). Zunächst Techniker und Wiesenbaumeister im Kreis Aachen. Ab 1892 Landesmeliorationsbaumeister in Königsberg/Pr. Ab 1930 Landesbaurat bei der Provinzialverwaltung. Auch nach seiner Pensionierung (1934) bis 1945 in diesem Amt tätig. Besondere Verdienste: Pläne zur Trockenlegung des Moorgebietes in Ostpreußen. Die Meliorationstechnik nahm durch ihn einen bedeutenden Aufschwung. In Zusammenarbeit mit der Landesbank förderte er die Kreditbetreuung der Landeskulturgenossenschaften. Auszeichnungen: 1923 zum Meliorationsrat ernannt, Träger des Hohenzollern'schen Hausordens mit Krone und Schwertern.

Ferdinand Platzmann geb. 14.4.1877 Zürich/Schweiz, gest. 6.6.1961 Münchberg/Oberfranken. Studium an der TH Dresden und Braunschweig. 1903-1905 Regierungs-Bauassessor bei der Sächsischen Staatsbahn in Leipzig. 1905-1908 wissenschaftlicher Assistent an der TH München. 1908-1913 Regierungsbaurat in BerlinEberfelde. 1913-1919 Stadtbaurat in Berlin-Wilmersdorf (hier: Bau von UBahnhöfen im Westen Berlins). 1919-1926 Stadtbaurat in Guben/Niederlausitz. 1926 Wahl zum Landesbaurat bei der Provinzialverwaltung Ostpreußens. 1936 als Gegner des NS-Regimes zwangspensioniert. 1936-1943 Straßenbauplaner und Gutachter bei der Provinzialverwaltung Brandenburg.

45

s. a. Helmut Scheibert: Das Freiluftmuseum; vgl. Teil I, Fußnote 10. s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S.

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Helmut Scheibert

42

Emil Ploke 47 geb. 13.1.1873 Gurkau/Lausitz, gest. 26.12.1940 Königsberg/Pr. Studium der Architektur an der TH Karlsruhe. Ab 1898 bei der Provinzialverwaltung Schlesien in Breslau tätig. 1902 Baumeisterexamen. 1912 Wahl zum Landesbaurat bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen, 1924 Wiederwahl auf 12 Jahre. Ab 1936 mit der Weiterführung seiner Geschäfte beauftragt und bis zu seinem Tode (1940) tätig. Dezernat: Leitung der gesamten Hochbauverwaltung. Unter seiner Leitung entstanden u. a.: Kinderseeheilstätte Lochstädt, Heil- und Pflegeanstalt Riesenburg, Krankenhaus Tilsit, Landesfrauenklinik und Hebammenlehranstalt Insterburg sowie folgende Hotels: Kurhaus Rudczanny/Niedersee mit separatem Gästeheim, "Masurenhäuschen" und Dampferanlegestelle, Gasthaus "Zum goldenen Anker" in Pillau, Tannenbergkrug in Hohenstein/Masuren (" 's ist doch hübsch hier", sagte er oft bei Besichtigungsfahrten). Kurt Rieder 48 geb. 21.8.1893 Leipzig, gest. 14.10.1972 Kiel. Studium des Bauingenieurwesens an der TH Danzig. Ab 1921 Dipl.-Ing., 1924 Ernennung zum Regierungsbaumeister. 1927-1932 örtliche Bauleitung beim Erweiterungsbau des Königsberger Seekanals. 1927-1932 beim Kulturbauamt in Tilsit tätig. Leitung des Ausbaues des Deichverbandes Forst Wilhelmsbruch und Heinrichswalde, Krs. Elchniederung . 1930 zum Regierungsbaurat befördert. 1932-1934 Vertreter des Amtsvorstandes des Kultur- und Wasserbauamtes Lotzen und des Kulturbauamtes II in Königsberg/Pr. 1934-1939 als Landesbaurat Leiter der Wasserwirtschaftsabteilung. 1939-1945 Kriegsteilnehmer. Karl Franz Stahl 49 geb. 21.6.1861 Danzig, gest. 5.7.1925 Königsberg/Pr.; 1886-1890 Ausbildung bei den Königlichen Wasserbauinspektionen I und II in Berlin. 1891 2. Hauptprüfung für das Ingenieurbaufach in Berlin, Ernennung zum Regierungsbaumeister. 1891-1897 Königlicher Regierungsbaumeister im Regierungsbezirk Bromberg. 1905 Verwaltung der Landesbauinspektion Königsberg/Pr., 1911 Königlicher Baurat, 1913 Wahl zum Landesbaurat für Tiefbau bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen; Dezernate: Straßen-, Brücken und Wegebau, Kleinbahnwesen, Planung der Arbeiten für den Ausbau der 47

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 1042. s. a. Helmut Scheibert: Das Masurenhäuschen, in: Ostpreußenblatt, Jg. 16, Folge 32 v. 7.8.1965, S. 20. 49 s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 1063. 4 8

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

43

Überlandzentrale unter Ausnutzung der Wasserkraft und der unterschiedlichen Höhenlage der ostpreußischen Seen. Auszeichnungen: silberne Schinkelgedenkmünze, Gedenkstein in Georgenswalde/Samlandküste. - Interessengebiete: geologische Untersuchungen der Samländischen Steilküste, kunstgeschichtliche Studien mit Prof. Dethlefsen (s. d.); Arbeiten im "Architekten- und Ingenieurverein". Gründer der "Arbeitsgemeinschaft technischer Vereine".

Die Provinzialbauräte

Arno Weger geb. ca. 1900; weitere Daten sind dem Verfasser nicht bekannt.

Dr. Carl Wünsch geb. 5.8.1902 Breslau, gest. 7.8.1992 Hannover. Zunächst Regierungsbauführer bei der Staatsbauverwaltung. 1928 Regierungsbaumeister. Seit 1929 Hilfsarbeiter und - seit 1938 - Provinzialbaurat beim Provinzialdenkmalamt der Provinz Ostpreußen, hier u. a. technischer Leiter bei der Verlegung des Königsberger Freiluftmuseums nach Hohenstein/Ostpr. - Veröffentlichungen: "Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Allenstein" (Königsberg/Pr. 1933); zahlreiche Kurzbiographien für die Zeitschrift "Altpreußische Biographie".

Weitere leitende Beamte

Dr. Berthold Conrades geb. 1901 Hildesheim, im Zweiten Weltkrieg vermißt. Zunächst Hilfsarbeiter beim staatlichen Konservator Dr. Robert Hiecke, Berlin, seit Sommer 1936 Provinzialkonservator bei der Provinzialverwaltung Ostpreußen. - Er war der Nachfolger von Prof. Dr. Dethlefsen (s. d.). Prof. Dr. Richard Dethlefsen 50 geb. 24.8.1864 Grönland b. Ekensund, Krs Sonderburg/Nord-Schleswig, gest. 24.3.1944 Heinrichswalde/Ostpr. Seit 1902 Provinzialkonservator bei 5 0

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 887 f.

44

Helmut Scheibert

der Provinzialverwaltung Ostpreußen, ferner als Staatsbaubeamter Oberbaurat. Besondere Verdienste: Restaurierung des Königsberger Domes, Mitbegründer des Königsberger Freiluftmuseums, Prof. und Dr. h. c. der AlbertusUniversität zu Königsberg/Pr. Dethlefsen wurde verabschiedet 1929 als Oberbaurat und 1936 als Provinzialkonservator (s. a. Teil II: Das Provinzialdenkmalamt). Dr. Wilhelm Gaerte 51 geb. 19.1.1890 Eydtkuhnen/Ostpr., gest. 31.8.1958 Hannover. Als Landesmuseumsdirektor war er viele Jahre lang Direktor des "Prussia-Museums" zu Königsberg/Pr.; er hob die Vorgeschichtsforschung auf eine breite populäre Ebene, war Initiator systematischer Grabungen, deren Ergebnisse Aufschluß über Leben und Brauchtum der alten Prußen - der Urbewohner von Ostpreußen - gaben. Gaerte organisierte ein Netz von begeisterten Mithelfern über die ganze Provinz Ostpreußen. Von 1958-1961 erschienen seine Forschungsergebnisse in zahlreichen Aufsätzen der Zeitschrift "Ostpreußenwarte" (Verlag Göttingen). Dr. Max Hein 52 geb. 7.10.1885 Angerburg, gest. 13.11.1949 Schleswig. Studium der Germanistik und Geschichte. Seit 1911 arbeitete er an den "Monumenta Germaniae Historica". 1921 als Archivar nach Königsberg/Pr. versetzt. Seit 1927 Direktor des Staatsarchives Königsberg/Pr., daneben rege wissenschaftliche Tätigkeit. Seit 1927 Vorsitzender der "Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung". Viele Beiträge von ihm erschienen in der Zeitschrift "Altpreußische Forschungen". Er schrieb auch die "Geschichte der Ostpreußischen Landschaft" (Königsberg/Pr. 1938).

Dr. Günther Herholz geb. 10.2.1899. Seit 1924 Assistenzarzt an der Provinzial-Lungenheilstätte "Frauenwohl" in Allenstein. 1924 Promotion "cum laude". 1926 kommissarische Leitung der Provinzial-Kinderseeheilstätte Lochstädt/Neuhäuser. 1927 zum Chefarzt dieser Heilstätte ernannt. Seit 1931 Direktor der Lungenheilstätte "Frauenwohl". 1939-1945 zusätzlich als Consiliarius zur Durchführung von Operationen an den Provinzial-Lungenheilstätten

5 1

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 913 f.

5 2

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 944 f.

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

45

Wormditt und Hohenstein tätig. Herholz war Mitglied des Forschungskreises der "Albertina". - Veröffentlichungen: in zahlreichen Fachzeitschriften.

Dr. Ewald Huck geb. 26..1892 Stolp/Pommern, gest. 14.9.1978 Frankfurt/M. Jurastudium. 1919 Gerichtsassessor, ab 1921 im Dienst der Provinzialverwaltung Ostpreußen. Huck war Erster Vorstandsbeamter der Landesbank der Provinz Ostpreußen; auch die "Ostpreußische Stadtschaft" wurde von ihm geleitet. Letzte Dienststellung: Generaldirektor der Landesbank und der Ostpreußischen Stadtschaft.

Georg Kaminski (s. Georg Stein) Prof. Dr. Wolfgang La Baume53 geb. 8.2.1885 Würzen, Krs. Grimma/Sachsen, gest. 18.3.1971 Ludwigshafen/Bodensee. 1903-1908 Studium der Naturwissenschaften in Jena und Berlin. 1908 Promotion zum Dr. phil. (sie). 1908-1910 Assistent am Staatlichen Museum für Naturkunde in Berlin, 1911-1923 Museumskustos am westpreußischen Provinzialmuseum in Danzig. 1923-1938 Direktor dieses Museums. 1924-1938 Dozent, später Professor an der TH Danzig. 1938-1945 Direktor des "Landesamtes für Vorgeschichte" in Königsberg/Pr. 1928-1945 Honorarprofessor an der Königsberger Albertus-Universität (Albertina). Prof. h. c. Dr. Ernst Ferdinand Müller 54 geb. 10.3.1889 Schilleninken, Krs. Gumbinnen, gest. 5.11.1957 Frankfurt/M.; Studium der Staatswissenschaften in Freiburg/Br., Leipzig und Königsberg/Pr. 1916 Promotion. Zunächst tätig am Institut für ostdeutsche Wirtschaft an der "Albertina", dann am Statistischen Amt in Stettin, am Statistischen Landesamt Berlin und - seit 1927 - Direktor des Statistischen Amtes der Provinz Ostpreußen sowie Honorarprofessor an der "Albertina". 1938 gab er das "Statistische Handbuch für die Provinz Ostpreußen" heraus. Ab 1939 Direktor des Statistischen Amtes in München, Honorarprofessor daselbst und Leiter des Wirtschaftsamtes ebenda.

5 3

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 988.

5 4

s. a. Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 1026 f.

Helmut Scheibert

46

Georg Stein (vor 1930 Georg Kaminski)55 geb. 4.5.1901 Seubersdorf, Krs. Osterode/Ostpr., gest. 4.10.1988 Bad Homburg v. d. Höhe. Zunächst tätig in Königsberg/Pr. bei der Reichsbahn, beim Landesverkehrsverband und der Stadtverwaltung. Verkehrsdirektor in Alienstein. 1930 zum Bürgermeister von Hohenstein gewählt und dieses Amt bis 1945 verwaltet. Enge Zusammenarbeit mit der Provinzialverwaltung Ostpreußen bei Fremdenverkehrswerbemaßnahmen für Masuren und das Oberland. Aktivierung des "Tannenberg-Nationaldenkmalvereins e. V." sowie Geschäftsführer des "Werbeausschusses" in Allenstein zur Finanzierung des Tannenberg-Denkmals, Mitbegründer der Verkehrsgesellschaft "Tannenberg" mbH, Förderer der Volkskunst und Heimarbeit, ζ. B. durch Einrichtung von Webschulen in Masuren, deren Teppiche und Läufer mit der "Ostpreußenmarke" als Gütezeichen gekennzeichnet waren.

Literaturhinweise,

soweit nicht in den Fußnoten vermerkt:

Altpreußische Biographie, hrsg. von Christian Krollmann, Bd. I und II, Lfg. 1 bis 3, Königsberg/Pr. 1941 bis 1944; von Kurt Forstreuter und Fritz Gause Bd. II, Lfg. 4 und 5 und Band III, Marburg 1967 bis 1975; von Ernst Bahr und Gerd Brausch Bd. IV, Lfg. 1 und 2 mit Interimsregister für Bd. I bis IV, Marburg/Lahn 1984 bis 1989. Paul Blunk: Die provinzielle Selbstverwaltung; in: 80 Jahre Ostpreußische Zeitung; Gedenkausgabe; Königsberg/Pr. vom 31.12.1928, S. 10 f. Das Ostpreußenblatt, Organ der Landsmannschaft Ostpreußen e. V., Hamburg 1950 ff. (seit 1967: Unabhängige Wochenzeitung für Deutschland). Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph v. Unruh, Stuttgart 1983-1988, Bd. I-VI. Die Grenzmark Posen-Westpreußen, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der fünf pommerschen Grenzmarkkreise, Kassel 1987. Jost Enseling: Entwicklung und Bedeutung der preußischen Provinzialverbände und das Problem ihres Fortbestehens als Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen, Diss, jur., Münster 1955. Klaus von der Groeben: Das Land Ostpreußen: Selbsterhaltung, Selbstgestaltung, Selbstverwaltung 1750 bis 1945. (Quellen zur Verwaltungsgeschichte, Nr. 7, hrsg. vom Vorstand des Lorenz-von-Stein-Instituts für Vers. a. Gerhard Biell: Zum Tode von G. Stein, in: Osteroder Zeitung, Mai 1989, Folge 71, S. 90 und Helmut Scheibert: Die Verdienste von Bürgermeister G. Stein (u. d. T.: Anziehungspunkt in historischer Umgebung), in: Ostpreußenblatt, Jg. 43, Folge 39 v. 26.9.1992, S. 10.

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens

47

waltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40); Kiel 1993. Klaus-Dieter Grunwald: Die Provinzialverwaltung und ihre Organe, Diss, jur, Kiel 1971. Kurt Jeserich: Persönlichkeiten der Verwaltung. Berlin, Köln 1991. Kreis- und Provinzialordnungen Preußens nach dem Stande der Gesetzgebung vom 1.11.1927, zusammengestellt von Heinz Maull, Berlin 1928, S. 104 ff. Ewald Ortmann: Die Finanzen des Provinzialverbandes Ostpreußen von 1919 bis 1932, Diss, jur., Königsberg/Pr. 1940. Kurt Otto: Das Verkehrswesen der preußischen Provinzen; in: s. Teil I, Fußnote 11, Heft 4, Stuttgart 1939. Emil Ploke: Vom Bau der neuen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Riesenburg; in: s. Teil I, Fußnote 19,1930 (ohne Seitenzahlen). Erhard Riemann: Das Freilichtmuseum in Hohenstein/Olstynek; in: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde. Marburg/Lahn 1975, Bd. 18. Walter Rohrscheidt: Über Stallupönen und Gumbinnen zum deutschen Vernichtungssieg bei Tannenberg 1914; Braunschweig 1937. Werner Rutz: Stein-Hardenberg'sche Reformen und moderner Landesausbau - dreistufige Gebietskörperschaftsgliederung (u. d. T.: Phasen staatlicher Raumorganisation im ehemaligen Ostpreußen), in: Zeitschrift Nordostarchiv, Lüneburg 1991, Jg. 24, Heft 102, S. 11 ff. Dieter Stüttgen (Bearb.): Ost- und Westpreußen; in: Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945, hrsg. von Walther Hubatsch, Marburg/Lahn 1975, Reihe A, Bd. 1, S. 14. Karl Teppe (Hrsg.): Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Band 25), Münster 1987. Wilhelm Traupel: Das Kredit- und Versicherungswesen der preußischen Provinzen; in: s. Teil I, Fußnote 11, Heft 3, Stuttgart 1938. Günter W. Zwanzig: Aus der Pionierzeit des Naturschutzes in Ost- und Westpreußen (u. d. T.: Anlaß zu berechtigtem Stolz); in: Ostpreußenblatt, Jg. 42, Folge 3 v. 19.1.1991, S. 10.

48

Helmut Scheiben

Das Wappen des Provinzialverbandes Ostpreußen mit der Skizze vom Landeshaus in Königsberg/Pr.

Das abgebildete Wappen zeigte in den Zeiten des Königsreiches den gekrönten preußischen Adler im silbernen Schild, während die Schildhalter kreisförmig von der Kette des schwarzen Adlerordens umgeben waren. Nach 1918 fielen diese königlichen Attribute fort. Das neue Provinzialwappen von 1941 hat sich nicht mehr eingebürgert. Das Landeshaus war ein Buntbacksteinbau aus den Anfängen unseres Jahrhunderts. Später wurden noch zwei Seitenflügel in demselben Baustil angebaut (s. Abb.). Anfang 1945 wurde diese Behörde durch Kriegseinwirkung völlig zerstört. Literatur: Parisius: Siegel- und Wappenführung bei den Behörden in Preußen; in: Preußisches Verwaltungsblatt, Bd. 47, Nr. 28 v. 10.4.1926, S. 287 ff. und: Biegeier, Thilo: Das Reichsehrenmal Tannenberg im < neuen > Wappen der Provinz Ostpreußen; in: Der Herold, Vierteljahrsschrift f. Heraldik, Genealogie u. verwandte Wissenschaften, Bln. 1989, 32. Jg., Bd. 12, Heft 10, S. 257 ff.

4

Stettin

aus: Taschenkalender für Verwaltungsbeamte auf das Jahr 1927, hrsg. v. F. Kühnert, Bln. 1927, S. 138 ff., 166 ff., 248 f.

Münster Kassel Düsseldorf

Siehr Dr. Herbst v. Brünneck Dr. Blunk Dr. Maier v. Hahnke v. WinterfeldtGerhardt Menkin (Landesdir.) Lippmann Naumann v. Zitzewitz Scheck/ Dr. Pentel

337.325 v. Bülow Pietsch Dr. Caspari Niewolinski 3.159.174 Zimmer Wesemann Dr. v. Thaer Dr. Schröter^ 1.372.267 Dr. Proske Dr. Berger Dr. Piontek Hirschberg 3.282.257 Hörsing Dr. Hausmann Dr. Hübener Hennicke 1.538.640 Kürbis Dr. Thon Pahlke Roer 3.215.449 Noske Dr. Kriege Dr. v. Campe 1. Dr. Hartmann (Landesdirek- 2. Dr. Heintze torium) (Schatzräte) 4.809.474 Gronowski Weber Dr. Dieckmann Pothmann 2.403.310 Dr. Schwander Volckart v. Gehren Dr. Schroeder 7.249.244 Dr. Fuchs v. Sybel Dr. Horion Müller, Hubert

1.920.335

Königsberg/Pr. 2.274.798 Berlin 2.615.197

Wilhelm-Universität zu Breslau, Würzburg 1969, Jg. 14, S. 312 ff.

** s. a.: Webersinn, Gerhard: Provinz Oberschlesien. Ihre Entstehung u. d. Aufbau d. Selbstverwaltung, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-

*

X Westfalen XI Hessen-Nassau XII Rheinprovinz

*

Einwohner Oberpräsident Vizepräsident Landeshauptmann Erster Landesrat

Grenzmark Obrawalde Posen/Westpr. bei Meseritz V Niederschlesien Breslau VI Oberschlesien Ratibor VII Sachsen Merseburg VIII Schlesw.-Holstein Kiel IX Hannover Hannover

Pommern

III

IV

Ostpreußen Brandenburg

Sitz

I II

Provinz

Die Provinzialverbände in Preußen:

ihre Oberpräsidenten, Landeshauptleute u. Stellvertreter (Stand 01.11.1926)

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens 49

4* Dr. Blunk

Heinemann Meliorationsrat

Dr. Raabe

Dr. v. Thaer

Stadtrat

Landeskämmerer

Erster Schatzrat

Dr. Hartmann

Landeshptm.

Lohmeyer

Moll

Dr. v. Campe

v. Winterfeldt,

Müller

Landesrat Min.rat a.D.

Schwartz

v. Brünneck

Landeshptm. Landeshptm.

Werner

Landessyndikus

Dr. Horion

Landesrat

Landeshptm. Landeshptm. Landeshptm. Landeshptm. Landesdir. Oberbürgermeister Landeshptm. Mag.-Baurat

Dr. Hübener Dieckmann v. Gehren

Erster Landesrat

Dr. Platzmann

Dr. Jankowski

Stadtmedizinalrat Landesbaurat

Landesrat

Landesrat Kranzbühler Schultze-Plotzius

Eschment

Landesrat

Dr. Neumann Roer

Piontek v. Zitzewitz Landeshptm.

Landrat a. D.

v. Gehren

Häusel Landesbaurat

Landesrat

Dr. Bezzenberger

Landessyndikus

Dr. Felsch Geh. Reg.-Rat Gerhardt

Landesrat

Scheibert

Landesbaurat Landesrat

Ploke

Landesdirektorenkonferenz Königsberg i. Pr. Schloßhof 25. Juni 1926

Die Provinzialverwaltung Ostpreußens 51

AKTUELLE ENTWICKLUNGEN I M GEBIET KÖNIGSBERG/KALININGRAD Von Hubertus Neuschäffer

Im Rahmen einer Tagung über "Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten und ihre Auswirkungen in der baltischen Region", die vom 6. bis 8. Juli 1992 von der "Studiengruppe für gegenwartsbezogene Baltikumforschung" und des Seminars für osteuropäische Geschichte der Universität Bonn in Köln durchgeführt wurde, wurde ein Vortrag dem nördlichen Ostpreußen gewidmet.1 Neben den drei baltischen Republiken zählte das Königsberger Gebiet nach einstiger sowjetischer Vorstellung, vor allem auch in militärischer Hinsicht, zur baltischen Region, die zugleich russifiziert und sowjetisiert werden sollte. Diese Sehweise wird trotz allen Wandels in den letzten drei Jahren bis heute in mancher Weise von Rußland fortgesetzt. Der russischen Sehweise, der historisch bedingten Sehweise der baltischen Anrainer, vornehmlich einer litauischen und dann einer polnischen steht natürlich eine Sehweise Deutschlands zur Seite, die alle von einander sehr verschieden sind. Andererseits ist das Königsberger Gebiet, das nördliche Ostpreußen, in älteren Zeiten als Bindeglied zwischen Ost- und Westeuropa für den baltischen Raum von wesentlicher Bedeutung gewesen. Dies kommt etwa in der Geschichte der im Jahre 1544 gegründeten Universität Königsberg zum Ausdruck, die im 18. Jahrhundert im damaligen Est-, Liv- und vor allem Kurland, dem heutigen Gebiet Estland und Lettland als die baltische Universität schlechthin angesehen worden ist. Diesem Tatbestand wird gegenwärtig etwa durch die Rezeption Kants im Gebiet Kaliningrad und der im Jahre 1994 stattfindenden Jubiläumsfeier anläßlich des 450jährigen Bestehens der Universität Königsberg Rechnung getragen.

1 Vorliegender Aufsatz basiert auf dem Beitrag vom Juli 1992, unter Berücksichtung der neuesten Entwicklung.

Hubertus Neuschäffer

54

Im kulturellen und wirtschaftlichen Sinne seiner Brückenfunktion kann man das nördliche Ostpreußen auch heute zur baltischen Region rechnen. Auffallend, vielleicht mehr noch als bei den drei baltischen Republiken, ist die Entwicklung des Gebiets Kaliningrad von außenpolitischen Faktoren abhängig2. Die Rezeption der politischen Entwicklung der baltischen Region in deren Anrainer-Staaten Polen, den GUS-Staaten, darunter Rußland, und auch in Deutschland wirkt auf die Regierung selbst zurück. Denn neben der faktischen Entwicklung spielen Vorstellungen eine ebenso große Rolle. Zahlreiche Projekte und unterschiedlichste Pläne sind zwar mit Skepsis zu betrachten, aber dennoch durchaus ernst zu nehmen. Ohne die Beachtung dieser historischen und geographischen Bezüge sind die aktuellen politischen Entwicklungen auch im Königsberger Gebiet nicht zu analysieren, denn diese sind auch eine Folge eines schwer zu durchschauenden Konglomerats aus Spekulationen, mehr oder weniger realistischen Projekten und tatsächlichen Ereignissen3. Wenn die weitere Entwicklung in den baltischen Republiken im wesentlichen Maße davon bestimmt sein wird, was im wie auch immer politisch sich entwickelnden Osten geschieht, d. h. in Rußland und den GUS-Staaten, so gilt das umsomehr für das Königsberger Gebiet, das einerseits als Teil Rußlands im politischen Sinne zu diesem Osten gehört, andererseits von der Entwicklung der baltischen Republiken und weiterer Ostseeanrainerstaaten bestimmt sein wird. Die jüngste Entwicklung im Königsberger Gebiet zeigt manche Merkmale, die gleichermaßen in den drei baltischen Republiken zu verzeichnen sind. Unabhängig von deren staatlicher Souveränität setzt die neue russische Regierung bzw. das russische Militär die Militärpolitik der UdSSR fort, die nicht vorsieht, die Konsequenzen aus deren Souveränität zu ziehen, nämlich den sofortigen und völligen Abzug aller russischen Truppen aus den baltischen Republiken zu gewährleisten. 2 Vgl. Darstellungen der jüngeren Entwicklung unter Berücksichtigung der genannten Bezüge: Peter Wörster: Das nördliche Ostpreußen nach 1945. (3 Bde.) Marburg 1978-1980; Hubertus Neuschäffer Das "Königsberger Gebiet". Die Entwicklung des Königsberger Gebiets nach 1945 im Rahmen der baltischen Region im Vergleich mit Nord-Ostpreußen der Vorkriegszeit. Plön 1991; Wilfried Böhm, Ansgar Graw: Königsberg morgen. Luxemburg an der Ostsee. Asendorf 1993. 3 Ein umfassender Aufsatz zu der Entwicklung im Königsberger Gebiet im Rahmen seiner historischen und geographischen Bezüge wird noch 1993 vom Verf. in einem Tagungsband der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Bonn herausgegeben werden. Der Aufsatz beruht auf einem Einführungsreferat des Verf. für die entsprechende Tagung in Bonn, die über das Königsberger Gebiet im Herbst 1992 veranstaltet wurde. Vgl. Tagungsbericht von Ansgar Graw: "Gescheitertes Experiment Kaliningrad. Kulturstiftung konferiert über Situation und Perspektiven Königsbergs." In: Ostpreußenblatt v. 3.12.1992.

Zur aktuellen Entwicklung im Gebiet Königsberg/Kaliningrad

55

Das hat Auswirkungen auf das Königsberger Gebiet. Da auch innerhalb der UdSSR das Königsberger Gebiet im Rahmen des baltischen Militärbezirkes eine zentrale Stelle einnahm, die militärische Präsenz hier besonders auffallend war und die Ostsee zwischen 1945 und 1989, wie es bei dem Militärhistoriker Vegas zu recht heißt, "in ein von der Sowjetunion dominiertes Binnenmeer verwandelt worden war", sind die einstigen sicheren Kommandostellen für den baltischen Militärbezirk in Reval/Tallinn und Baltischport/Paldiski in Estland, in Riga und Libau/Liepaja in Lettland und Memel/Klaipèda in Litauen zwar bisher von Rußland nicht aufgegeben, aber doch unsicherer geworden. Um so größere Bedeutung bekommen die militärischen Kommandostellen im Gebiet Kaliningrad in Tilsit/Sovetsk, Gumbinnen/Gusev und vor allem in Pillau/Baltijsk und Königsberg/Kaliningrad auch in Bezug auf die gesamte baltische Region. In dem Bericht eines Repräsentanten deutschen Wirtschaft, der im Rahmen einer Reise der "Stiftung Königsberg" Ende Mai 1992 zu Verhandlungen zwecks Aufbaus eines wirtschaftlichen Unternehmens im Gebiet Kaliningrad war, heißt es: "Am gleichen Nachmittag wurden wir vom Oberbefehlshaber der Baltischen Flotte, Admiral Egorov, empfangen - eine sehr beeindruckende Persönlichkeit in den Vierzigern. In dem Gespräch schilderte er freimütig, daß ihm durch die Entwicklung der letzten Monate auch die politische Befehlsgewalt für die russischen Verbände im gesamten baltischen Raum zugewachsen sei."4 Bemerkenswert, daß hier im Jahre 1992 ein Vertreter der Militärs davon spricht, daß russische Verbände im gesamten baltischen Raum vorhanden seien! Dieses deckt sich durchaus mit der Entwicklung in Rußland, die durch ein Wiederhervortreten des Militärs in Verbindung mit der Frage der russischen Minderheiten in nichtrussischen Gebieten gekennzeichnet ist. So wurde jüngst auffallend der Zusammenhang zwischen russischer militärischer Präsenz in Moldavien und russischer Minderheit mit ähnlichen Zusammenhängen in den baltischen Republiken verknüpft. So sprach sich beispielsweise der russische Verteidigungsminister Grafcov im Sommer 1992 für die russische militärische Präsenz in den baltischen Republiken aus.5 Und der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte im Baltischen Militärbezirk, Mironov, äußerte dem litauischen Präsidenten Landsbergis gegenüber: "Warum bestehen Sie auf unserem Abzug? Bald wird Litauen eine

4 Nichtveröffentlichter privater Reisebericht vom 31. Mai 1992. Verfasser zugesandt am 16.6.1992 als Kopie. 5 Vgl. dazu Wolf J. v. Kleist. In: Baltische Briefe, 45. Jg. Juni 1992, S. 1

Hubertus Neuschäffer

56

neue Regierung haben - und die wird uns zurückrufen, so wie 1940. Warum sollen wir überhaupt gehen?"6 Diese Beispiele ließen sich fortführen. In einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.6.1992 heißt es wohl zu recht: "Der Aufbau einer Streitmacht in Rußland zeichnet sich durch die Bevorzugung von Militärs aus, die den Untergang der Sowjetunion schwer verkraften und wenig Verständnis für das Streben der anderen Nachfolgestaaten des Imperiums auf Gleichberechtigung und Unabhängigkeit aufbringen." Das Gebiet Kaliningrad als Exklave Rußlands, behaftet mit dem Verdikt eines kommenden Korridorproblems, gleichsam vor einem historischen Hintergrund, der bei aller Andersartigkeit doch ähnliche Fragestellungen wie in der Zwischenkriegszeit aufkommen läßt, etwa jener der Isolierung, spielt aus strategischen Gründen nun eine herausragende Rolle. Das gilt es zu bedenken. Und wenn ein führender Repräsentant der deutschen Wirtschaft zu Wirtschaftsgesprächen in das Königsberger Gebiet reist und zunächst vom Oberbefehlshaber der baltischen Flotte empfangen wird, der im übrigen auch die Unterbringung der Gäste organisiert, so ist das durchaus bezeichnend für die Einstufung der Militärs im Gebiet Kaliningrad. Egorov suche, so heißt es, "ein Gleichgewicht vor allem mit Deutschland und fördert unsere Überlegungen im Königsberger Bezirk. Man merkte seinen politischen Einfluß auch bei den folgenden Gesprächen mit dem stellvertretenden Chef der Gebietsadministration, Herrn Toropov, dem Oberbürgermeister von Königsberg Schipov, dem Rektor der Universität Medwedjev." So ist es nicht verwunderlich, daß die Anrainerstaaten hellhörig sind. In jedem Fall sind die dort festzustellenden Auffassungen ein Teilbereich der aktuellen Entwicklung. Polnische Verwaltung hindert deutsch-russische Verkehrs-Verbindungen; allein der vage geäußerte Plan des Baus einer Autobahn der Nord-Route, der jüngst so benannten "Via Baltica", über Königsberg stieß auf polnische offizielle Bedenken. Walesa hat mit Nachdruck bei seinem Deutschlandbesuch vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß eine wirtschaftliche Beziehung des Königsberger Gebiets zu Deutschland nur unter Einbeziehung Polens stattfinden wird! Man befürchtet offenbar polnischerseits ein Übergehen bei einem Einverständnis Bonn (Berlin)Moskau, das im Gebiet Kaliningrad exemplarisch wirksam werden könnte. Wie fiktiv diese vor dem historischen Hintergrund zu sehende polnische Sicht auch sein mag - es sei daran erinnert, daß Ostpreußen nach 1920 vom polnischen nationaldemokratischen Politiker Roman Dmowski noch ganz für Polen gefordert wurde oder zumindest als Freistaat unter polnischem Ein6

Siegfried Thielbeer: Die Pressionen Rußlands gegen die baltischen Staaten gehen weiter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 13.7.1992. ^ Vgl. Anm. 4

Zur aktuellen Entwicklung im Gebiet Königsberg/Kaliningrad

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fluß - auch im Königsberger Gebiet ist diese polnische Auffassung präsent. Männer wie Egorov und Toporov sähen die Möglichkeiten einer "hanseatischen Lösung" um die Ostsee, was auch immer das heißen mag, und wären bereit, sie zu nutzen. "Das Verhältnis zu Polen und zu den neuen baltischen Staaten wird gespannt bleiben. Man ist aber entschlossen, sich zu behaupten, und sucht Bundesgenossen."8 Zu fragen bleibt bei aller bisher beklagten Passivität der deutschen Regierung in Bezug auf das Königsberger Gebiet dennoch, wie weit unter dieser Voraussetzung Deutschland ohne eine exakte Analyse und genauer Beobachtung der Meinungen der anderen Anrainerstaaten aktiv werden soll und kann? Bestätigt wird der Eindruck, daß man russischerseits bei den eigenen wirtschaftlichen Vorstellungen im Gebiet Kaliningrad auf westliche, vor allem deutsche, materielle Hilfe in Form von wirtschaftlichen Investitionen baut, zugleich sich damit aber auch russischerseits vor vermeintlichem Druck anderer Anrainerstaaten behaupten will - in jener durchaus sowjetisch tradierten Mischung aggressivem imperialistischem Gehabes, das nun im großrussischen Gewand auftritt. Andererseits hat vor einem guten Vierteljahr der litauische Botschafter in den Vereinigten Staaten von sich Reden gemacht, in dem er in einer Zeitschrift äußerte, daß das Königsberger Gebiet am besten zu Litauen geschlagen werden sollte9, einen Gedanken damit aufnehmend, der von litauischer Seite bereits 1920 in Paris ernsthaft erörtert worden ist. Das Gebiet südlich der kurischen Nehrung, in einer Linie von Cranz nach Stallupöhnen, wurde seinerzeit für Litauen gefordert. Man mag das Maß der Ernsthaftigkeit dieser und weiterer spekulativer Äußerungen auf eine gering zu beurteilende politische Ebene reduzieren, zumal sich auch vollkommen diametrale Meinungen anführen ließen. So hat bereits polnischerseits Pilsudski 1928 gegenüber Stresemann geäußert, daß Ostpreußen ein rein deutsches Land sei und nur vier oder fünf Narren Ostpreußen für Polen fordern könnten - damit immerhin seinen Landsmann Dmowski einschließend -, dennoch wird man diese und gegenwärtige Äußerungen in eine Analyse einzubeziehen haben, denn sie sind bei der wirtschaftlichen und ideellen Orientierungslosigkeit in Bezug auf das Königsberger Gebiet durchaus eine sehr ernst zu nehmende Realität. Bei dem jüngsten Besuch des russischen Außenministers Kosyrev in Litauen, wo er zu Gesprächen über das Königsberger Gebiet weilte, wies er auf die vermeintlichen Notwendigkeiten hin, "neuen Bedrohungen unserer Sicherheit zu begegnen." Kosyrew sagte weiterhin: "Das ist umsomehr notwendig, als in Deutschland und in einigen Nachbarländern extremistische

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S. Anm. 4

Vgl. dazu Wilfried Böhm, Ansgar Graw: Königsberg morgen. Luxemburg an der Ostsee. Asendorf 1993. S. 166 ff.

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Gruppierungen bis zum heutigen Tage ihre Annexionspläne nicht aufgegeben haben." Freilich sei, so fügte er an, das Königsberger Gebiet durch die Schlußakte von Helsinki sowie durch Verträge mit Deutschland und Polen geschützt. Ein entsprechender Vertrag mit Litauen werde vorbereitet, dessen bisheriges Nichtvorhandensein für die Verzögerung des Abzugs der russischen Truppen aus Litauen verantwortlich sei. Freilich war schon am 29. Juli 1991 zwischen der Russischen SFSR und der neuen Litauischen Republik ein aus 14 Artikeln bestehender Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit und über sogenannte sozio-kulturelle Verbindungen zwischen Litauen und dem Kaliningrader Gebiet unter Anerkennung der jeweiligen Territorien unterzeichnet worden. Doch das gegenseitige Mißtrauen scheint damit keineswegs erloschen zu sein. Der bisherige russische Truppenabzug aus Litauen erfolgt nicht in Richtung Osten, sondern in Richtung Westen ins Königsberger Gebiet, und ist gekoppelt an Forderungen an gegenüber Litauen, Wohnungen für die russischen Soldaten zu bauen. In der Zeitschrift "Wostok - Informationen aus dem Osten für den Westen", dem offiziösen Organ der russischen Regierung in Deutschland und Nachfolger der Zeitschrift "Sowjetunion heute" wurde in der Ausgabe vom Juni 1992 in einem Artikel mit dem Titel "Altrußland und seine westliche Grenze in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts" im Jargon sowjetischmarxistischer Ideologie mit großrussischer Attitude Unsinn dargeboten, daß man nur noch staunen kann. Nicht nur allergröbste sachlich-zeitliche Fehler finden sich in dem Artikel, etwa wenn es heißt: "Seit dem 10. Jahrhundert zeigten deutsche feudale Ritter Interesse an der baltischen Region," vor allem sticht der ideologisch, politisch motivierte Sachverhalt ins Auge. Es heißt dort: "Ende des 12. Jahrhunderts gelang es ihnen (den deutschen Rittern), die Wenden, baltische Slawen, zu unterwerfen." Und im weiteren Verlauf wird dann die slawisch, sprich russisch-baltische Schicksalsgemeinschaft beschworen, die im baltischen Raum ursprünglich beheimatet gewesen sei. Das ist natürlich falsch. Weder waren die Wenden "baltische Slawen", noch haben die Russen "ursprünglich" im baltischen Raum gelebt. In "Wostok" heißt es weiter: Der deutsche Orden schickte sich an, "litauische und russische Gebiete" zu erobern. Auch ist das falsch. Weiter heißt es dann: "Oft kämpften die Russen Schulter an Schulter mit Esten, Letten und Litauern." Es kann hier nicht darum gehen, auf diesen historischen Artikel in der Zeitschrift "Wostok" weiter einzugehen, zu deren Redaktionsmitgliedern auch der deutsche Politiker Egon Bahr gehört, wie aus dem Impressum hervorgeht. Doch bemerkenswert ist der hier herausgestellte Schulterschluß der Völker des Baltikums und der Russen gegen die westlichen Eroberer. Der 1 0

Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.3.1993

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Artikel ist in noch marxistisch beeinflußter historischer Perspektive gehalten, d. h., daß geschichtliche Sachverhalte auf die Gegenwart übertragen und politisch funktionalisiert werden. In diesem Fall wird eine epochentranszendente slawisch-baltische Waffenbrüderschaft thematisiert und damit werden indirekt und direkt slawische Ansprüche auf das nördliche Ostpreußen wie die ganze baltische Region angemeldet. Im Rahmen der Berichterstattung über die KSZE-Verhandlungen in Helsinki schrieb Thielbeer am 13.7.1992 in der FAZ: "Jelzin beklagte, daß ein aggressiver Nationalismus die alten ideologischen Konfrontationen ersetze. Sein Pressechef Kostikow erläuterte, daß schon immer Russen in Georgien, in Moldova und in den baltischen Staaten gelebt hätten, die sich als ursprüngliche Bevölkerung fühlten. Diese Menschen seien empört, wenn man sie auffordere, das Land zu verlassen, oder sie ihrer Menschenrechte beraube." Und wenn Vladimir Gilmanov, Professor für Germanistik an der Universität in Königsberg/Kaliningrad in einem Aufsatz "Das nördliche Ostpreußen: ein kulturell-politisches Unikum in Europa" im Rahmen ostpreußischer Geschichte hervorhebt, daß "im Verlaufe von Jahrhunderten Deutschland und Rußland gemeinsam auf den politischen Brettern der Geschichte"11 gewirkt haben, so trifft das für das Königsberger Gebiet freilich nicht zu. Im nördlichen Ostpreußen stießen litauisch-deutsch-preußische, deutsch-polnische, deutsch-pruzzische, litauisch-pruzzische oder litauischpolnische Interessen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit aufeinander, russische Einflüsse sind dem gegenüber kaum festzustellen. Freilich gab es auch militärisch-politische Beziehungen, etwa die vierjährige Besetzung Königsbergs durch die Russen während des siebenjährigen Krieges im 18. Jahrhundert (1758-1762), die in der jüngsten Ausgabe der russischen Zeitschrift "Russkij Vestnik" unter dem merkwürdigen Titel "Russijskaja Prussija" 12 behandelt werden. Am Beginn des 19. Jahrhunderts spielten der russische General Bagration, der nicht russischen Ursprungs war, und der preußische General Lestocq, der nicht deutschen Ursprungs war, eine Rolle in den russisch-preußischen Beziehungen während der Napoleonischen Kriege. Aber in Anbetracht der deutsch-litauischen und der deutsch-polnischen Beziehungen sind die russisch-deutschen Beziehungen in Ostpreußen historische Marginalien, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutsam wurden. Im übrigen trug Stalin russischen historischen Vorstellungen durchaus Rechnung, indem er zunächst von den Alliierten im Sommer 1943 das nördliche Ostpreußen für Polen als Kompensation für 1939 von der Sowjetunion annektierte ostpolnische Gebiete forderte, und erst in Teheran die unsinnige These vom ursprünglich russischen Gebiet des nördlichen Ostpreußens aufstellte, das Rußland benö11

Vgl. dazu Böhm/Graw, S. 195, 202, 206.

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V. Volkow: Rossijska Prussija. In: Russkij Vestnik. Nr. 2.1993.

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tige - eine These, die immer wieder aufgegriffen wird, zuletzt auch 1987 in der Zeitschrift "Sowjetunion heute".13 Gilmanov beklagt die heutige mangelnde wirtschaftliche Präsenz der Deutschen im Gebiet Kaliningrad. "In der Verwaltung sind schon zahllose Geschäftsleute bei dem Regierungspräsidenten, Herrn Professor Matotschkin, und dem Oberbürgermeister, Herrn Schipow, vorstellig geworden, um sich über die Chancen und Risiken zu erkundigen. Amerikaner und Japaner, Schweden, Dänen, Niederländer und selbstverständlich Polen, lockt die vielversprechende Zukunft des nördlichen Ostpreußens an. Deutsche Interessenten bilden leider jedoch das Schlußlicht in dieser Besucherliste ... Es geht vor allen Dingen um die Anerkennung des Rückkehrrechtes für die Deutschen" fährt Gilmanov fort und um "die Gewährleistung des Niederlassungsrechtes für die Sowjetdeutschen in Nordostpreußen." In der jüngsten Zeit haben sich nun zahlreiche Rußlanddeutsche auf dem flachen Lande angesiedelt, unterstützt von den Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten, die zum Aufbau des Landes beitragen könnten und bisher in zahlreichen persönlichen Einsätzen sehr viel Hilfe für die Menschen im Königsberger Gebiet gebracht haben. Dieses Kapitel der Rußlanddeutschen im nördlichen Ostpreußen ist freilich nur im Rahmen des gesamten Schicksals der Rußlanddeutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu sehen. Über Nordostpreußen ist in jüngster Zeit vom Göttinger Arbeitskreis eine Veröffentlichung herausgegeben worden 14. Gilmanov stellt sich folgendes vor: "Der Bezirk Königsberg, dieses Gebiet, erhält einen autonomen europäischen Status. Außenpolitisch soll das Königsberger Gebiet von Rußland vertreten werden. Über alle inneren Angelegenheiten, insbesondere "Über sein politisches System und über alle Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik" entscheidet es selbst." Weitere Punkte wären die "Einführung der sozialen Marktwirtschaft", und weiter heißt es: "Für die wirtschaftliche Öffnung des Gebietes wird eine stabile und konvertible Währung eingeführt." Freilich hören hier die Reflexionen auf. Hat Gilmanov mit seiner Äußerung wirklich eine eigene Währung für das Königsberger Gebiet vor Augen, eine andere als für Rußland? Will er zugleich das Gebiet an Rußland geknüpft wissen, als Teil der russischen Republik? Im übrigen plädiert Gilmanov dafür, in Königsberg "die, nicht eine, internationale alleuropäische Universität" einzurichten. Schließlich: "Als Symbol 1 3 Sowjetunion heute. Hrsg. Presseabteilung der UdSSR- Nr. 2, Februar. Köln 1987. "Ein Rundgang durch Kaliningrad." 14 Alfred Eisfeld: Die Russland-Deutschen. München 1992. Der alleijüngsten Ansiedlung der Rußland-Deutschen im nördlichen Ostpreußen ist noch kein eigenes Kapital gewidmet. Aber die jüngste Entwicklung kann durchaus dazu führen, daß die Rolle der Rußland-Deutschen in der Kaliningradskaja Oblast' einer gesonderten Darstellung bedarf.

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der friedlichen deutsch-russischen Zusammenarbeit würde der Wiederaufbau des Königsberger Doms ganz wichtig sein."15 Eine Reise von Vertretern der deutschen Wirtschaft und der "Stiftung Königsberg" führte nach Abschluß von Gesprächen 1992 zur Gründung einer gemischten Gesellschaft mit einem repräsentativen Gebäude, entsprechendem Personal und weitreichenden Verbindungen. Ein Teilnehmer der deutschen Delegation äußerte in seinem Reisebericht vom 31. Mai 1992 die Auffassung: "Der Oblast Kaliningrad ist mit davon abhängig, daß wir das Verhältnis zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion vor allem auf dem Gebiet der Finanzen in Ordnung bringen. Er ist aber ein abgeschlossener, übersehbarer Bereich, in dem man manches in Ordnung bringen kann, das an der Weite Rußlands zu scheitern droht." Am 12. März 1993 wurde in Königsberg/Kaliningrad eine deutsch-russische Begegnungsstätte, ein deutsch-russisches Haus, in Anwesenheit von Politikern und geladenen Gästen aus Deutschland und dem Königsberger Gebiet von Staatssekretär Waffenschmidt eröffnet. 16 Staatssekretär Waffenschmidt ist als Beauftragter der deutschen Bundesregierung für Aussiedler auch zuständig für Fragen Rußlanddeutscher im Königsberger Gebiet. Freilich ist diese Ansiedlung wie weiteres Engagement nicht von Seiten des deutschen Staates eingeleitet worden, sondern vielmehr getragen worden von den Heimatvertriebenen Ostpreußen, wie wohl zu recht auch ein Vertreter der Stadtgemeinschaft Königsberg kritisch hervorhebt. Der Staatssekretär Waffenschmidt wurde jüngst anläßlich seiner Rede bei der Eröffnung des "deutschen Hauses" in Königsberg/Kaliningrad in diesem Sinne von Friedjof Berg von der Stadtgemeinschaft Königsberg heftig kritisiert. 17 Ob alle diese Beurteilungen der Verhältnisse den Kern der Probleme treffen, wird auf Grundlage weiterer Analysen zu erörtern sein. In jedem Fall wird man zur Analyse der aktuellen Entwicklung im Königsberger Gebiet die hier angedeuteten, vielschichtigen Vorstellungen und Äußerungen der baltischen Staaten, insbesondere Litauens, dann Polens und Rußlands sowie Deutschlands in allen ihre historischen und geographischen Bezügen zu berücksichtigen haben. Im September/Oktober 1994 werden in Königsberg/Kaliningrad anläßlich des 450jährigen Jubiläums der Universitätsgründung Feiern stattfinden, die

15 Im Juni 1993 ist in Berlin ein "Königsberger Dom-Bauverein" gegründet worden. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.6.1993. 16

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.3.1993; vgl. auch ebd. 16.6.1993.

^ Vgl. Leserbrief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1.4.1993

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die Bedeutung der historischen Bezüge zur Lösung gegenwärtiger Probleme herausstellen können.18 Für die russische Seite gilt bisher, was Julij Kvicinskij, der einstige sowjetische Botschafter in Deutschland, 1992 festgehalten hat: "Nach dem Zerfall der UdSSR gewinnt das Gebiet Kaliningrad für Rußland eine noch größere Bedeutung als früher. Es besitzt eisfreie Häfen und Tiefwasserstraßen zur Ostsee, die künftig unsere Verluste an Handels- und Kriegsflotten-Basen in Estland, Lettland und Litauen kompensieren könnten. Feste russische Positionen in diesem Raum würden essentiellen Einfluß auf die Entwicklung der politischen und strategischen Lage im Baltikum ausüben, sie würden die direkten Kontakte Rußlands mit den westlichen Staaten und der baltischen Staaten sichern. Dabei sollte die Bedeutung in nordwestlicher Richtung nicht vergessen werden. Die Region könnte auch ein vorzügliches Erholungsgebiet des Gesamtstaates werden, das in der Lage wäre, die verloren gegangenen Erholungsmöglichkeiten in Litauen und an der Rigaer Küste zu kompensieren." 19

18

Besonders die Stadtgemeinschaft Königsberg in der Landsmannschaft Ostpreußen hat sich der Organisation dieser Feierlichkeiten angenommen. 19 Julij Kvicinskij: Kamo gijadeSi, Kaliningrad. Literaturnaja Gazeta vom 12.8.1992; vgl. dazu die Fragestellungen bei Böhm/Graw. Königsberg, S. 23 ff.

KALININGRAD (KÖNIGSBERG): EINE RUSSISCHE EXKLAVE IN DER BALTISCHEN REGION Stand und Perspektiven aus europäischer Sicht Von Magdalene Hoff und Heinz Timmermann

1. Das Internationale Umfeld Die Umbrüche in Osteuropa, die Auflösung des sowjetisch dominierten Bündnissystems und schließlich vor allem der Zerfall der Sowjetunion selbst: All dies hat den Diskussionen über die Zukunft der Region Kaliningrad (Königsberg) neue Nahrung geben. Die zentrale Ursache liegt in dem Umstand, daß das Territorium nach der Herausbildung selbständiger Staaten auf dem Boden der früheren Sowjetunion zu einer Exklave der Russischen Föderation geworden ist - als "Gebiet" (russ. Oblast) Kaliningrad, also als einfachem Verwaltungsbezirk des Gesamtstaates. Die Exklave bildet den am weitesten nach Westen vorgeschobenen Posten Rußlands, ist dabei jedoch von diesem durch Litauen und Weißrußland getrennt und von Ländern umgeben, die sich auf den Weg nach Europa machen.1 Magdalene Hoff ist Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende der ständigen Delegation für die Beziehungen zu den Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Dr. phil. Heinz Timmermann ist Wissenschaftlicher Direktor am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Der vorliegende Bericht ist das Ergebnis einer fact finding mission der beiden Autoren nach Kaliningrad (Königsberg) vom März 1993. 1 Zu Geschichte, aktueller Situation und Perspektiven des Gebiets Kaliningrad vgl. Kaliningrader Gebietsverwaltung (Hrsg.), Kaliningradskaja oblast': svobodnaja ekonomiceskaja zona "Jantar' ("russ./ deutsch/englisch), Kaliningrad 1993; Kaliningradskaja oblast' - Svobodnaja Ekonomiceskaja Zona "Jantar"', Kaliningrad 1992; The Russian Foreign Policy Foundation (Hrsg.), Potential of and Prospects for the socio-economic development of the Kaliningrad Region as part of Russia, Moskau 1992; M. Stolpe, Die Zukunft der Region Königsberg, in: Europa-Archiv (Bonn), Nr. 21/1992, S. 611-618; W. Böhm/A. Graw, Königsberg morgen.

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Verschärft wird diese komplizierte geopolitische Situation durch zusätzliche Probleme in und um Kaliningrad. Die zentralen Fragen lauten: Welches sind die Pläne Rußlands für die Entwicklung seiner Exklave? Wie sehen aus Moskauer Blickwinkel die Perspektiven der Region in einem sich rasch wandelnden internationalen Umfeld aus? Welche Konzeptionen werden von den Verantwortlichen in Kaliningrad selbst entwickelt? Da diese Fragen bis heute keine eindeutige Antwort gefunden haben, wachsen die Spekulationen um die Zukunft des Territoriums. Überlegungen für die Zukunftsperspektiven Kaliningrads, wie sie seitens inoffizieller Kreise aus Rußland und aus Nachbarstaaten der Region zu hören sind, lassen sich in ihren extremen Varianten stichwortartig so umreißen: K. - ein "vorgeschobener Militärposten Rußlands"; K. - eine autonome Republik der Föderation, eingebunden in eine "Euro-Region" oder "Hanse-Region" Baltikum; K. - im Zeichen eines "Kondominiums" der umliegenden Staaten; K. - eine selbständige "vierte Baltenrepublik". All diese Varianten haben in ihrer reinen Form wenig Aussicht auf Verwirklichung - vorausgesetzt, es kommt nicht zu einem dramatischen Zerfall der Russischen Föderation (diese Perspektive bleibt im Folgenden unberücksichtigt). Sie unterstreichen aber die Dringlichkeit von Neuüberlegungen zur Zukunft des Gebiets: Ein Festhalten am Status quo würde Kaliningrad nach Ansicht aller Beteiligten in den wirtschaftlichen Ruin treiben und den gesamten Ostseeraum politisch und militärisch destabilisieren. Damit aber würde nicht zuletzt das Streben der Europäischen Gemeinschaft konterkariert, die Ostseeregion durch wirtschaftliche Unterstützung und differenzierte Anbindung ihrer Länder an die europäischen Kommunikations- und Integrationsprozesse zu stabilisieren. Ein verstärktes Kaliningrad-Engagement der EG dagegen - im Verbund mit Rußland und den anderen interessierten Staaten - könnte einen wichtigen Faktor zur Prävention eines potentiell gefährlichen internationalen Konfliktherdes bilden und die Einordnung des Gebiets in die regionale Kooperation fördern. Positiv für eine solche Strategie ist dabei zu vermerken, daß die offiziellen Positionen der interessierten Staaten gegenwärtig durchaus konvergieren und extreme Varianten nicht favorisieren. Bei allen Akzentunterschieden im Einzelnen lassen sie sich stichwortartig folgendermaßen umreißen: Schaffung einer besonderen Wirtschaftszone Kaliningrad im Bestand der Luxemburg an der Ostsee, Asendorf 1993; J. Kvizinskij, Kamo gijadesi, Kaliningrad?, in: Literaturnaja gazeta (Moskau), Nr. 33,12.8.1992, S. 14. ^ Die Autoren hatten Gelegenheit, hierzu vor Ort Gespräche mit einer Reihe von Politikern, Wissenschaftlern und Militärs zu führen, u. a. mit G. Fjodorow (Prorektor der Universität Kaliningrad), J. Gedsenko (Stellvertretender Chef der Kaliningrader Stadtverwaltung), Admiral Grishanow (Stellvertretender Chef der Baltischen Flotte), I. Kusnezowa (Stellvertretende Leiterin der Kaliningrader Gebietsverwaltung) und W. Toropow (Erster Stellvertretender Leiter der Gebietsverwaltung).

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Russischen Föderation; Einbeziehung des Gebiets in die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Ostsee-Anrainer; Absenkung der Streitkräfte Rußlands auf einen Stand der "vernünftigen Hinlänglichkeit" (Polen und Balten: weitgehende Demilitarisierung); Verhinderung einer "Regermanisierung" des Gebiets im Zeichen eines wiedererstehenden Ostpreußen. Das Interesse aller Beteiligten richtet sich somit auf inneren Wandel des Gebiets und auf seine Öffnung nach außen, nicht aber auf eine Änderung der bestehenden Grenzen. Denn dies würde - so zumindest die offiziellen Positionen - ein gefährliches Präjudiz schaffen und mancherorts dazu anregen, auch andere Grenzen der Nachkriegsordnung Osteuropas in Frage zu stellen. Das Interesse Polens an der Zukunft Kaliningrads konzentriert sich auf zwei Punkte: die Verhinderung einer Vormachtstellung des deutschen Kapitals mit der befürchteten Folge einer "Regermanisierung" sowie die Demilitarisierung des Gebiets - die Aufrechterhaltung der massiven russischen Militärpräsenz wird als potentielle Bedrohung der eigenen Sicherheit wahrgenommen. Warschau ist daher um Intensivierung der polnischen Wirtschaftsaktivitäten in Kaliningrad bemüht und befürwortet ein europäisches Engagement in dem Gebiet. Für Litauen als Transitland zwischen dem "Festland" Rußland und dessen Exklave bildet das Verhältnis zu Kaliningrad eine wichtige Trumpfkarte in seinen Beziehungen zu Moskau. Immerhin deckt Litauen 80 Prozent des Strombedarfs von Kaliningrad. Der Übergang von der nationalistischen Landsbergis-Führung zur gemäßigten Regierung Brazauskas scheint einem Interessenausgleich zwischen beiden Ländern zum Wohle auch von Kaliningrad eher förderlich - im Hinblick auf die Probleme Truppenreduzierung und Sicherheit ebenso wie auf dem Felde wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Deutschland, zu dessen Bestand Ostpreußen über 700 Jahre gehörte 4, zeigt in der Kaliningradfrage gerade deshalb ein niedriges Profil, weil es sich der politischen Sensibilität des Problems bewußt ist. Nach den historischen Belastungen haben gute Beziehungen zu Rußland und Polen eindeutig Vorrang. Daher fördert die Bonner Politik in Kaliningrad weder massive Kapitalinvestitionen noch eine Ansiedlung der aus Rußland und anderen Nachfolgestaaten auswandernden Deutschstämmigen (ohne sich freilich der Bitte um begrenzte Unterstützung für jene ethnisch Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu versagen, die sich aus freien Stücken in dem Gebiet eine neue Existenzgrundlage schaffen wollen).5 In diesem Sinne ist das ^ Vgl. dazu die Hinweise in der Brazauskas-Rede vor dem Europarat, in: Nezavisimaja gazeta (Moskau), 26.5.1993. 4 5

Vgl. dazu im einzelnen Böhm/Graw, a.a.O., S. 27-76.

Vgl. die Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium des Innern, H. Waffenschmidt, anläßlich der Einweihung des Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad vom März 1993, in: Bundespresseamt (Hrsg.), Bulletin (Bonn), Nr. 22,16.3.1993, S. 189f.; siehe 5

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Interesse Deutschlands weder auf unilaterales noch auf bilaterales Handeln (gemeinsam mit Rußland) zu Lasten Dritter gerichtet. Vielmehr wünscht Deutschland, ausgehend von der festen völkerrechtlich-politischen Zugehörigkeit Kaliningrads zur Russischen Föderation, ein stärkeres wirtschaftliches Engagement der EG in dem Gebiet, um von vornherein Quellen von Instabilitäten und Konflikten zu verstopfen, die auf den gesamten Ostseeraum ausstrahlen würden. Überspitzt könnte man sagen: Für Deutschland und alle im Bonner Parlament vertretenen Parteien ist Kaliningrad kein deutsches, sondern ein europäisches Problem.6 Am wenigsten eindeutig ist die Haltung Rußlands zum Komplex Kaliningrad. Zwar stimmen alle einflußreichen politischen Kräfte darin überein, das Gebiet auch in Zukunft als untrennbaren Bestandteil der Russischen Föderation zu erhalten. So stellte Außenminister Kosyrew während eines Besuchs vor Ort unmißverständlich klar: "Das Gebiet Kaliningrad ist ein Knotenpunkt unserer strategischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen im Baltikum. Es bildet einen unveräußerlichen und unbestreitbaren Teil der Russischen Föderation." Uber die innere Ausgestaltung und die äußere Einordnung des Gebiets herrschen jedoch unterschiedliche Ansichten. Die Unklarheit ist Ausdruck der Tatsache, daß in den scharfen Moskauer Machtund Richtungskämpfen der innere Aufbau des Landes (Zentralstaat oder föderal gegliederte Struktur) ebenso umstritten ist wie die internationale Ausrichtung des Landes (europäisch-atlantisch, "eurasisch" oder großrussisch-imperial). Die Bandbreite der russischen Konzeptionen zur Zukunft Kaliningrads ist daher außerordentlich weit, wobei sich diese vielfach überschneiden. Sie reichen von der Absicht, das Gebiet bei Übertragung weitgehender Rechte hinsichtlich seiner inneren Gestaltung und seiner Außenbeziehungen an die lokalen Behörden als freie Wirtschaftszone zu konstituieren (Jelzin-KosyrewLinie) über die Vorstellung einer Kombination begrenzter Freihandelszonen und starker russischer Subventionen (Konzept der Zentristen) bis hin zu Plänen für eine noch festere Anbindung an das "Festland" mit dem Ziel, Kaliningrad nach dem Verlust der baltischen Stützpunkte als militärischen Vorposten Rußlands gegenüber dem als feindlich perzipierten Westen weiter auszubauen (Position der "National-Patrioten"). Umgekehrt sind es paradoxerweise gerade chauvinistische Kräfte wie der Demagoge Shirinowski hierzu auch V. Volkov, Prazdnik Drusba, in: Kenigsbergskij Kurer' (Kaliningrad), Nr. 6, März 1993, S. 6. 6 Die Positionen der Bundesregierung, der Parteien sowie der interessierten politischen und gesellschaftlichen Organisationen finden sich in dem in Vorbereitung befindlichen Bundesinstituts-Bericht von D. Bingen über die deutschen Ansichten zu Stand und Perspektiven der Entwicklungen im Gebiet Kaliningrad.

Cto dumaet ministr Kozyrev, Interview mit dem Außenminister, in: Kenigsbergskij Kur'er, Nr. 6, März 1993, S. 1.

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und in gemäßigterer Weise auch Vertreter der "eurasischen" und der "geopolitisch-imperialen" Denkrichtung in Moskau -, die im Zeichen eines russisch-deutschen Sonderbundes ganz konkrete Angebote an Deutschland bereithalten: Bei gegenseitiger Hilfe werde "die Frage Nordostpreußens und Königsbergs auf jeden Fall im Sinne Deutschlands gelöst", verkündete Shirinowski im August 1992 auf einer Veranstaltung deutscher Rechtsextremisten in Thüringen. Von anderen wird die folgende Variante eines Deals zwischen den "Patrioten Rußlands und Deutschlands als natürlichen Verbündeten" ins Spiel gebracht: Deutschland unterstützt Rußland bei der Wiedereingliederung der Ukraine und Weißrußlands, Rußland gibt dafür Nordostpreußen an Deutschland zurück.9 Die Positionsgewinne von Zentristen und "National-Patrioten" im Moskauer Zentrum haben den Aktivismus der Sonderwirtschaftszonen-Befürworter in der Regierung Rußlands und in der Verwaltungsspitze Kaliningrads mittlerweile gebremst, zumal die Befürchtung wuchs, wirtschaftlichpolitische Privilegien für die Region Kaliningrad könnten Separationstendenzen in anderen Regionen des Landes zusätzliche Nahrung und Legitimation geben. Die Lähmung der Neuansätze für Kaliningrad ist deshalb problematisch, weil die Beibehaltung des Status quo das Gebiet in eine ausweglose, ja gefährliche Lage führen würde. Außenpolitisch geriete Kaliningrad gegenüber seinen nach Europa strebenden Nachbarn zunehmend in die Isolierung und würde von ihnen bei starker russischer Militärpräsenz sogar als Bedrohung empfunden. Im Innern triebe das Gebiet dem Ruin entgegen, wenn einerseits ausländische Wirtschaftsförderung ausbliebe, andererseits aber wie bereits jetzt auch die gewohnten und existenznotwendigen Subventionen aus den Staatsbudget Rußlands mangels Masse nur noch zu einem Bruchteil zuflössen. Aus eigenen Kräften jedenfalls kann das Gebiet aufgrund seiner spezifischen Entwicklungsbedingungen unter sowjetischer Herrschaft nicht überleben. Im Hinblick auf andere Teile Rußlands ist der Jelzin-Führung die Brisanz einer solchen Situation durchaus bewußt: Die Isolierung Sibiriens und des Fernen Ostens von ihrer internationalen Umwelt im Asiatisch-Pazifischen Raum hätte nicht nur äußerst negative Folgen für die Wirtschaftsentwicklungen dieser Regionen, heißt es in dem vom Außenministerium ausgearbeiteten Entwurf für eine "Außenpolitische Konzeption der Russischen Föderation" vom November 1992. Vielmehr werde sie darüber hinaus "Absonderungstendenzen in Sibirien und dem Fernen Osten stimulieren" und damit "ernsthafte Probleme für das Streben Rußlands aufwerfen, die Ungeteiltheit gNach einem Bericht des Spiegel (Hamburg), Nr. 1/1993, S. 37. So N. Lysenko, der Vorsitzende der National-Republikanischen Partei Rußlands, in einem Rundtischgespräch zum Thema "Rußland und Deutschland", in: Nas Sovremennik (Moskau), Nr. 1/1993, S. 141-148, hier S. 145.

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('celostnost') unseres Staates zu wahren und zu stärken". 10 Bei allen Unterschieden in den geographischen Dimensionen, den machtpolitischen Konstellationen und den wirtschaftlichen Voraussetzungen läßt sich nicht übersehen, daß eine Abschottung Kaliningrads von seinem internationalen Umfeld ähnliche Folgen provozieren könnte.

2. Entwicklungsbedingungen und aktuelle Lage in Kaliningrad Im Laufe der Kriegshandlungen wurde Ostpreußen im Frühjahr 1945 von der Sowjetunion erobert. Der südliche Teil, etwa zwei Drittel des Territoriums, fiel an Polen. Der nördliche Teil mit der Hauptstadt Königsberg wurde von der Sowjetunion annektiert und im Frühjahr 1946 als "Kaliningrader Gebiet" dem Bestand der RSFSR zugeschlagen. Mit 15.100 km 2 ist das Gebiet etwa halb so groß wie Belgien. Im Gebiet leben rund 900.000 Einwohner, darunter über 400.000 in der Hauptstadt Kaliningrad. Die 1945 geflohene oder danach vertriebene deutsche Bevölkerung wurde ersetzt durch ethnisch slawische Umsiedler, so daß im Gebiet heute leben: 700.000 Russen, 80.000 Weißrussen, 65.000 Ukrainer, 20.000 Litauer, rund 12.000 Deutsche (die Zahlen schwanken zwischen 4.000 und 22.000), 8.000 Polen sowie eine geringere Zahl von Armeniern, Azeris, Tataren und Angehörigen anderer Nationalitäten.11 Nach Kriegsende hatte der Ausbau Kaliningrads zu einem vorgeschobenen militärischen Vorposten für die Sowjetführung Vorrang vor der zivilen Entwicklung: Bis 1991 war das Gebiet für Ausländer gesperrt, die Verkehrswege zum Westen - über Polen sowie über die Ostsee - blieben unterbrochen. Die Ostseestadt Baltijsk (Pillau) wurde zum Heimathafen der Baltischen Flotte, das Frühwarn- und Abwehrsystem der Luftwaffe zum wichtigen Element des sowjetischen Verteidigungsdispositivs. Paradoxerweise gewann der Militärstandort Kaliningrad nach dem Zerfall der Sowjetunion sowie dem damit verbundenen Verlust der Militärhäfen und -anlagen in den baltischen Staaten für Rußland noch weiter an Bedeutung. Dies gilt um so mehr, als Teile der aus Deutschland und Ostmitteleuropa abziehenden Truppen im Kaliningrader Gebiet angesiedelt oder "zwischengelagert" werden, so daß die Gesamtstärke der heute dort stationierten Truppen von westlicher Seite auf rund 200.000 Offiziere und Mannschaften geschätzt wird (offizielle russische

1 0

Nach dem Manuskript, S. 37.

11

Vgl. hierzu Kaliningradskaja oblast'..., a.a.O., S. 1.

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Angaben: um 100.000). Gemeinsam mit Familienangehörigen ist somit rund die Hälfte der Bevölkerung des Gebiets mit dem Militär verbunden. 12 Die gewaltige Aufblähung des Militärs im Kaliningrader Gebiet, die seinen wirtschaftlichen Aufschwung und seine verstärkte Zusammenarbeit im Ostseeraum konterkariert, ist sicher zeit- und situationsbedingt. Die politische und die militärische Führung vor Ort seien sich jedenfalls darin einig hieß es in Gesprächen mit beiden Seiten -, die Präsenz des Militärs im Gebiet auf eine die Verteidigung gewährleistende Stufe "vernünftiger Hinlänglichkeit" herunterzufahren. Admirai Grishanow, der Stellvertretende Chef der Baltischen Flotte, bestätigte ausdrücklich seine Unterstützung für die Pläne zur Schaffung einer Freien Wirtschaftszone und erklärte die Bereitschaft der Militärs, dabei Teile der militärischen Infrastrukturen für zivile Zwecke zur Verfügung zu stellen. Voraussetzung für die Reduzierung der Flotte - auf etwa ein Drittel des heutigen Bestandes - sei freilich eine kooperative Umwelt sowie die Möglichkeit einer Umschulung der demobilisierten hochqualifizierten Offiziere auf zivile Berufe. Gegenseitige Besuche von Militärs und Marineverbänden der Baltischen Flotte und aus NATO-Ländern (Norwegen, Dänemark, Großbritannien, Deutschland) hätten schon stattgefunden, auch habe man 1992 erfolgreich ein gemeinsames Manöver mit NATO-Einheiten absolviert. Im Hinblick auf Offiziers-Umschulungen stehe man mit Amerikanern im Gespräch (Bankenbereich), mit deutschen Stellen seien entsprechende Kontakte geknüpft. Die eigentlichen Ursachen für die Probleme Kaliningrads liegen jedoch tiefer und werden auch bei einem Abbau der überdimensionierten Militärpräsenz schwer zu bewältigen sein. Gemeint ist die Tatsache, daß die Entwicklung von Gebiet und Stadt fast vollkommen auf die Bedürfnisse des Militärs zugeschnitten ist, die Wirtschaft und die Infrastrukturen im zivilen Bereich dagegen sträflich vernachlässigt wurden. In einer Studie russischer Experten heißt es dazu wörtlich: "Die Grunddisproportionen in der Wirtschaftsentwicklung waren hauptsächlich das Ergebnis der Tatsache, daß die Wahl der sozioökonomischen Entwicklung weder den Bedürfnissen der Bevölkerung der Region selbst entsprach noch den Notwendigkeiten seiner Wirtschaftsentwicklung. Diese war den sektoralen Interessen einiger Kreise vollkommen untergeordnet, die Interessen der Bevölkerung und der Wirtschaft Rußlands insgesamt fanden dabei keine angemessene Berücksichtigung".13 Die Nachteile, die dem Gebiet aus dieser Konstellation entstanden, wurden früher durch hohe Subventionen des sowjetischen Staatshaushalts an das 12 Zur militär- und sicherheitspolitischen Lage Kaliningrads vgl. P. Lange, Das Gebiet Kaliningrad - Wegscheide für Rußlands politische Strategie, in: Europa-Archiv, Nr. 10/1993, S. 289-298. 13 The Russian Foreign Policy Foundation (Hrsg.), Potential and Prospects..., a.a.O., S. 5.

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Gebiet kompensiert. Nach Angaben führender Politiker im Kaliningrader Stadtsowjet erhält das Gebiet heute aus Moskau nur die Hälfte der als notwendig angesehenen Mittel, die Stadt ihrerseits vom Gebiet nur wenig mehr als ein Viertel. Dies schlägt sich in einem dramatischen Niedergang der Wirtschaft Kaliningrads und der sozialen Lage seiner Bevölkerung nieder. Was die Wirtschaft des Gebiets angeht, so scheinen die Verkehrsinfrastrukturen und das Bildungssystem auf den ersten Blick relativ gut entwikkelt. 14 Führende Wirtschaftsbranchen bilden der Fischfang und die Fischverarbeitung (10 Prozent der russischen Produktion); Maschinenbau, Werftindustrie und Elektronik; Zellulose- und Papierindustrie; Landwirtschaft; Förderung und Verarbeitung von Bernstein (90 Prozent der Weltreserven liegen in Kaliningrad). Die Stadt Kaliningrad verfügt über einen Seehafen sowie über einen Flugplatz und ist Knotenpunkt eines - gemessen an Rußland engmaschigen Eisenbahn- und Straßennetzes. Im gesamten Gebiet, dessen Bevölkerung zu drei Vierteln in Städten lebt, gibt es drei Hochschulen, zwölf mittlere Fachschulen und 22 berufsbildende Lehranstalten. Bei näherem Hinsehen trübt sich dieses scheinbar positive Bild jedoch stark ein. 15 Die zentralen Probleme können hier nur stichwortartig genannt werden: - Die industriellen Anlagen sind mit einem Abnutzungsgrad von bis zu 70 Prozent stark veraltet und auf erhebliche Subventionen angewiesen (insbesondere Fang und Verarbeitung von Fisch). - Die stark in den Militär-Industrie-Komplex eingebundenen Bereiche Maschinenbau, Werftindustrie und Elektronik verlieren die Staatsaufträge. Für Konversion fehlen die Mittel, erste Ansätze - ζ. B. die Produktion von Heimcomputern - sind bisher wenig erfolgreich. In bestimmten Industriezweigen (ζ. B. Papier) müssen die Rohstoffe von weither her angeschafft werden - die zu sowjetischen Zeiten erfolgte Standortwahl nach politischen Motiven erweist sich unter den neuen Bedingungen als Falle. - Die Verkehrsinfrastruktur einschließlich des Seehafens und des Flughafens der Stadt Kaliningrad ist stark veraltet. Sie bedarf dringend der Modernisierung, Erweiterung und vor allem des Ausbaus in Richtung Westen (wofür bei Bahn und Straße Ansätze aus deutscher Zeit vorhanden sind). Das gleiche gilt für das Telekommunikationsnetz, dessen Dichte sogar noch unter dem russischen Schnitt liegt. - Große Ausmaße hat die Zerstörung der Umwelt angenommen, insbesondere durch die Zellulose- und Papierindustrie. Das Gebiet liegt hier im 14 Näheres hierzu in: Gebietsverwaltung Kaliningrad (Hrsg.), Kaliningradskaja oblast'..., a.a.O., S. 27 ff.; sowie Kaliningradskaja oblast'..., a.a.O., S. 4 ff. 15 Vgl. hierzu The Russian Foreign Policy Foundation (Hrsg.), Potential..., a.a.O., S. 4 ff.

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unteren Drittel Rußlands. Nicht zuletzt ein radikales ökologisches Umsteuern wird darüber entscheiden, ob es gelingt, den von der Gebietsverwaltung angestrebten Ausbau der Ostseeküste Kaliningrads zu einem Touristenzentrum zu realisieren. - Die Priorität für die Entwicklung des Gebiets zu einem Militärzentrum mit bestimmten großindustriellen Einsprengseln hatte zur Folge, daß die Leicht- und Konsumindustrie, das Bauwesen und die Landwirtschaft stark vernachlässigt wurden. Aufgrund des Verfalls des Dränagesystems, der Übersäuerung der Böden und mangelnder Agrartechnologie kann das früher Überschuß produzierende Gebiet den Nahrungsmittelbedarf seiner Bevölkerung nur noch zu drei Vierteln decken. Die soziale Lage der Bevölkerung im Gebiet Kaliningrad hat sich durch die Kombination der genannten Faktoren in jüngster Zeit dramatisch verschlechtert, und dieser Negativtrend wird sich bei ausbleibender Unterstützung von außen fortsetzen. Zusätzlich zu der in Rußland allgemein drohenden Zunahme von Arbeitslosigkeit (die in Kaliningrad durch Militärabbau weiter verschärft wird) sei hier exemplarisch auf einige Indikatoren verwiesen. Die Löhne im Gebiet liegen mit 88 Prozent erheblich unter dem Durchschnitt Rußlands, die Preise dagegen weit darüber. Die zentralen Investitionen in die Entwicklung von Handel und Gaststättenwesen betrugen 1991 nur 34 Prozent des russischen Niveaus; die entsprechenden Ziffern im Wohnungsbau betrugen 77 Prozent, im Krankenhausbau 35 Prozent, im Dienstleistungsbereich 16 Prozent. 16 Stagnation und Niedergang der Landwirtschaft gefährden die Versorgung der Bevölkerung (einschließlich des Militärs) mit Nahrungsmitteln, zumal mit der Zufuhr aus anderen Landesteilen zumindest im bisherigen Umfang nicht mehr gerechnet werden kann. Die politische Spitze im Gebiet hat den Ernst der Lage offenbar erkannt und sucht nach Auswegen aus dem Dilemma. Vorkämpfer für Reformen und Öffnung nach außen wie der Volksdeputierte Jurij Matotschkin, der nach dem August-Putsch 1991 von Jelzin ernannte Chef der Gebietsverwaltung und einflußreichste Politiker Kaliningrads, haben bei der Realisierung ihrer Konzeptionen jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen - gegenüber der Moskauer Zentrale, aber auch mit Politik und Verwaltung vor Ort. Starke Kräfte im Gebietssowjet leisten im Verein mit Teilen der Verwaltung bei verbaler Zustimmung hinhaltenden Widerstand gegen einschneidende Reformen und eine radikale Öffnung nach außen - aus Furcht vor Einflußverlust, aus Inkompetenz oder aus dem Bemühen heraus, aus bestimmten Projekten persönlichen Gewinn zu ziehen. Viele Reformgesetze verfangen sich daher im Filz der Bürokratie, werden nicht operationalisiert und vor Ort

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The Russian Foreign Policy Foundation (Hrg.), Potential..., a.a.O., S. 5.

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ausgeführt. Dazu heißt es in einem bemerkenswert kritischen Kommentar von russischer Seite: "Leider muß man zugeben, daß unser 'großes Kaliningrader Projekt* noch nicht ausgearbeitet ist. Die Interessen und Prioritäten Rußlands in der Region sind noch nicht genau bestimmt, und die Aktivitäten der verschiedenen Zweige und Ebenen der Staatsmacht sind nur schwach koordiniert." 17 So wird materielle Hilfe von außen - je nach politischer Präferenz aus Rußland oder aus dem Ausland - zwar begrüßt und vielfach geradezu als einzige Überlebenschance angesehen. Diese Hilfe darf jedoch die eingeschliffenen Macht- und Einflußstrukturen nicht antasten und wird daher lieber in Form von cash denn als Know-how-Förderung entgegengenommen. In der Zurückhaltung gegenüber Beratung und Wirtschaftsengagement aus dem Ausland, die wie beim EG-geförderten Nuffield-Landwirtschaftsprojekt zuweilen sogar die Form gezielter Blockadepolitik annimmt, spiegelt sich möglicherweise auch eine gewisse Furcht vor ausländischer (und hier insbesondere deutscher) Überfremdung. Wie stark diese Furcht unter den mittleren und älteren Generationen der Bevölkerung Kaliningrads noch verbreitet ist, läßt sich schwer bestimmen - unter den jüngeren Generationen scheint sie kaum noch vorhanden. Vor diesem äußerst komplexen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hintergrund verwundert es nicht, daß das Projekt zur Schaffung einer Freien Wirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad trotz einschlägiger Erlasse und Gesetzesakte seitens der russischen Regierung und der lokalen Administration nur schleppend vorankommt. Jedenfalls ist es den Erwartungen, die in Nordund Westeuropa in das Projekt gesetzt wurden, bislang nur teilweise gerecht geworden. Symptomatisch hierfür ist der Umstand, daß ausländische Kapitalinvestitionen im Gebiet Kaliningrad bisher nicht mehr als 3 Mio. D M ausmachen. Die rund 200 Joint Ventures stehen überwiegend auf dem Papier, neue zukunftsweisende Produktionsbetriebe sind kaum entstanden.18

3. Freie Wirtschaftszone "Bernstein" Die Pläne und die ersten Ansätze zur Schaffung einer Freien Wirtschaftszone "Bernstein" auf dem Territorium des Gebiets Kaliningrad entstanden im Dialog zwischen Politikern und Wirtschaftlern aus Rußland, aus dem Gebiet selbst und aus dem westlichen Ausland. Das Projekt basiert auf der Grundüberlegung, daß Kaliningrad infolge seiner geographisch günstigen

1 7

M. Borodin/D. Trenin, Perspektivy Kaliningrada, in: Nezavisimaja gazeta, 16.12.1992.

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Vgl. Böhm/Graw, a.a.O., S. 107f.

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Lage unter den neuen Bedingungen zu einem Knotenpunkt wirtschaftlicher Zusammenarbeit im Ostseeraum werden könnte.19 Für Rußland bildet das Gebiet ein wichtiges Tor zum Westen, von dem es nach Konstituierung der Ukraine, Weißrußlands und der baltischen Länder zu selbständigen Staaten geographisch abgetrennt ist. Die aktive Förderung von Reform und Öffnung des Gebiets nach außen würde ein klares Bekenntnis Rußlands zu regionaler und gesamteuropäischer Zusammenarbeit bedeuten und bei konsequenter Verwirklichung dem Lande insgesamt positive wirtschaftliche Impulse geben. Kaliningrad könnte somit "gleichsam zum Versuchsgelände werden, auf dem die Innovationen erprobt und sich dann in weitem Maßstab auf dem Territorium Rußlands ausbreiten".20 Dies scheint die ursprüngliche Einschätzung der Jelzin-Kosyrew-Mannschaft gewesen zu sein. Allerdings verhinderten die zunehmenden Macht- und Richtungskämpfe im Moskauer Zentrum bisher die Verabschiedung klarer und verbindlicher Richtlinien. Für den Westen steht im Vordergrund das Interesse, das Gebiet zu einem integralen Bestandteil wirtschaftlicher und kultureller Kooperation im Ostseeraum zu machen und damit potentielle Instabilitäten in der Exklave und in der Region insgesamt gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Darüber hinaus könnte sich Kaliningrad - so die mit den erwähnten russischen Vorstellungen konvergierenden Überlegungen - zu einem Experimentierfeld für Wirtschaftsreformen sowie zu einem Sprungbrett westlicher Unternehmen zur Erschließung der russischen Binnenmärkte entwickeln. Da das Gebiet nach dieser Konzeption auch in Zukunft einen untrennbaren Bestandteil der Russischen Föderation bildet, bedeutet dies zugleich eine willkommene zusätzliche Anbindung des Landes an Europa. Die Interessen der politisch Verantwortlichen in Kaliningrad selbst sind wie bereits zuvor geschildert - nicht eindeutig. Auf der einen Seite fördert die Mehrheit unter ihnen in enger Abstimmung mit der Regierung in Moskau das Freie-Wirtschaftszonen-Projekt durch Verabschiedung entsprechender Gesetzesakte und Normative. Dazu gehören vor allem das Konzept des Gebietssowjets "Zone freien Unternehmertums im Gebiet Kaliningrad" vom Frühsommer 1990, die Verordnung der russischen Regierung über die Freie Wirtschaftszone vom September 1991, der Beschluß des Obersten Sowjet 19 Vgl. hierzu die in Anm. 1 genannten Beiträge, sowie: D. von der Burg, Freie Wirtschaftszonen (Free Economic Zones) als Wegbereiter der Marktwirtschaft für die frühere Sowjetunion, Forschungsbericht der Stiftung Wissenschaft und Politik, Nr. IP 2771, Ebenhausen 1992, und P. Kirkow, Das Konzept "Freier Wirtschaftszonen" in Rußland, in: Osteuropa (Aachen), Nr. 3/1993, S. 229-243. 20 Gebietsverwaltung Kaliningrad, Kaliningradskaja oblast', a.a.O., S. 10. Ahnlich M. Borodin/D. Trenin, Perspektivy Kaliningrada, in: Nezavisimaja gazeta, 16.12.1992; sowie Hanseregion Baltikum: Bericht der internationalen Studiengruppe. Im Auftrag des Rates von Estland, Tallinn 1992.

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Kaliningrads "Über die Vorzugsbesteuerung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung auf dem Territorium der FWZ 'Jantar'" vom November 1992 sowie das in Vorbereitung befindliche Gesetz der Kaliningrader Gebietsadministration "Über den Status des Gebiets Kaliningrad". All diese Dokumente laufen in ihren Intentionen darauf hinaus, durch Vergünstigungen auf den Feldern Zölle und Steuern sowie Export und Import Kapital und neue Technologien aus dem Ausland zur wirtschaftlichen Modernisierung in das Gebiet zu ziehen. In dem von der Gebietsverwaltung vorbereiteten Statutenentwurf ist darüber hinaus vorgesehen, in Anknüpfung an einschlägige Bestimmungen des Föderationsvertrags vom März 1992 die Kompetenzen Kaliningrads zur inneren Entwicklung und zur Regelung seiner Außenbeziehungen zu erweitern. Letzteres wäre beispielsweise Voraussetzung dafür, daß das Gebiet Kaliningrad von sich aus Anträge an die EG stellen kann etwa im Hinblick auf das TACIS-Programm, aber auch auf Projektförderung durch die Europäische Investitionsbank und die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Auf der anderen Seite fehlt es in wichtigen Bereichen jedoch weiterhin an klaren Ausführungsbestimmungen - von den oben geschilderten inneren Widerständen, der unklaren Kompetenzverteilung zwischen den Behörden und den potentielle Investoren abschreckenden Unsicherheiten der politischen Gesamtkonstellation einmal ganz abgesehen. Insbesondere ist die Rechtslage im Hinblick auf Erwerb oder langfristige Pacht von Eigentum an Grundstükken und Anlagen sowie auf deren freie Weiterveräußerung undurchsichtig. Kurz: Der Mangel an Rahmenbedingungen - Rechtssicherheit, Investitionsschutz, klare Steuerrichtlinien, eine effiziente Verwaltung, schließlich deutliche Zielsetzungen seitens der politischen Instanzen - bildet eine zentrale Ursache dafür, daß sich die mit der Schaffung der Sonderwirtschaftszone Kaliningrad verbundenen Erwartungen bisher nicht erfüllten. Kompetente Beobachter sind sogar der Ansicht, daß das Projekt zum Scheitern verurteilt ist, falls die Entwicklungen so weiterlaufen wie bisher. So ist die wirtschaftliche und soziale Lage in Kaliningrad gegenwärtig von Stagnation und weiterem Abstieg geprägt, was die politische Brisanz der Situation eher steigert. Dennoch wäre es ganz falsch und politisch sogar gefährlich, das Gebiet einfach abzuschreiben und seinem Schicksal zu überlassen. Denn - und das wurde bereits eingangs nachdrücklich betont -: Der Status quo läßt sich auf Dauer kaum halten, so oder so wird es zu Veränderungen kommen. Die Aufgabe besteht daher darin, die Entwicklungen durch Anreize und Förderung behutsam in eine Richtung zu lenken, die das Gebiet in die Lage versetzt, als integraler Bestandteil der Russischen Föderation Anschluß zu finden an die Prozesse regionaler und europäischer Kooperation. Gerade die Europäische Gemeinschaft könnte hier als Akteur, Koordinator und Moderator einen wichtigen Beitrag leisten, zumal sie einen zen-

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tralen Bezugspunkt für die Länder der Region bildet und als Integrationsverbund gleichsam über den Parteien steht. Bei allen geschilderten Problemen sind wichtige Grundvoraussetzungen für eine solche Politik durchaus vorhanden. Dazu gehören: Die günstige geographische Lage des Gebiets; die prinzipielle politische Entscheidung, das Gebiet für das Ausland zu öffnen und ausländischen Partnern mit gesetzlichen Umrissen für eine Sonderwirtschaftszone Anknüpfungs- und Bezugspunkte zu geben; eine modernisierungs- und ausbaufähige Verkehrsinfrastruktur; und last but not least Menschen, die beruflich überdurchschnittlich qualifiziert und an einem Aufschwung ihres Gebiets interessiert sind. Voraussetzung für ein stärkeres Engagement der EG wären allerdings die Vermittlung klarer Zielperspektiven für das Gebiet seitens der zentralen und lokalen Instanzen, die Verabschiedung verbindlicher Ausführungsbestimmungen für die Schaffung der Freien Wirtschaftszone sowie schließlich feste Garantien für kooperatives Verhalten der Verwaltungsinstanzen aller Ebenen bei der praktischen Umsetzung vereinbarter Projekte. Möglicherweise wäre es sinnvoll, diese Punkte in die Verhandlungen mit Rußland über das anvisierte Partnerschafts- und Kooperationsabkommen einzubringen.

4. Was tun? Handlungsoptionen der EG Anläßlich des Hansekollegs vom September 1992 hat der Brandenburgische Ministerpräsident Stolpe betont: "Das Gebiet Kaliningrad war im gespaltenen und verfeindeten Europa eine Militärzone. Es hat im zusammenwachsenden Europa die Chance, ein Friedensort, ein Platz friedlichen Handelns und der europäischen Zusammenarbeit zu werden. Europäische Zusammenarbeit heißt Kommunikation, Kapitalbewegung, freier Handel, ungehinderter Verkehr und kultureller Austausch. Das Zusammenwachsen in Europa braucht Drehscheiben, Knotenpunkte. Das Gebiet Kaliningrad kann das werden." 21 Angesichts der begrenzten Ressourcen der Gemeinschaft geht es hier nicht darum, ein breites Feld denkbarer Aktivitäten der EG in Kaliningrad abzustecken. Vielmehr konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf solche Felder, auf denen Kooperation sinnvoll und zugleich machbar erscheint. Dabei kann die EG in verschiedenen Formen aktiv werden: als Alleingestalter, in Verbindung mit anderen Institutionen wie der Europäischen Entwicklungsbank und der Weltbank sowie mit einzelnen EGMitgliedsländern oder schließlich als Koordinator für Projekte von dritter Seite.

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Europa-Archiv, a.a.O., S. 615.

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Politische Beziehungen. Hier wäre zu prüfen, inwieweit in den Partnerschafts- und Kooperationsvertrag EG-Rußland eine Klausel eingeführt (oder diesem als Annex beigefügt) wird, die die besondere Qualität in den Beziehungen der Freien Wirtschaftszone Kaliningrad zur EG unterstreicht. Der Reiz für Rußland könnte darin liegen, daß das Gebiet - gleichsam im Vorgriff auf die gesamte Föderation - damit Teil des Europäischen Wirtschaftsraums würde. Für das Gebiet selbst würden sich die Gefahren einer Abkopplung von seinen ein Nahverhältnis zur EG suchenden Nachbarstaaten vermindern. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß Rußland und Polen im Rahmen ihres Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrags vom Mai 1992 eine Übereinkunft über spezifische Beziehungen zwischen den nördlichen Wojewodschaften Polens und dem Gebiet Kaliningrad unterzeichnet haben. Dies könnte als ein gewisses Indiz für die Möglichkeit dienen, auch im Rahmen des Abkommens EG-Rußland eine spezifische regionalbezogene Klausel zu verankern. Darüber hinaus wäre an die Errichtung eines Brüsseler Verbindungsbüros in Kaliningrad zu denken, das neben der Aufgabe fachlicher Begleitung EGfinanzierter Projekte die Koordinierung der Unterstützung seitens westlicher Staaten und Institutionen für das Gebiet übernehmen könnte. Die Vielfalt westlicher Projekte und Förderansätze für das Gebiet zeigt, daß ein solcher Koordinierungsbedarf besteht. Auch hier sei auf ein gewisses Präjudiz verwiesen: Polen hat 1992 in Kaliningrad ein Konsulat eingerichtet, Deutschland wird 1994 mit einem ähnlichen Schritt folgen. Schließlich wäre vorstellbar, daß die EG als Impulsgeber mit Rußland, den Ostseeanrainerstaaten und Deutschland in einen Dialog über die Zukunft des Gebiets Kaliningrad eintritt, wenn es die Beteiligten wünschen. Weshalb sollte sie immer erst dann aktiv werden, wenn - wie in JugoslawienKonflikt oder in den slowakisch-ungarischen Disputen über das Donaukraftwerk Gabèikovo - die Fronten bereits hoffnungslos verhärtet sind? Wirtschaftsförderung. Schon heute beteiligt sich die EG über das TACISProgramm an der Förderung der Wirtschaft im Gebiet Kaliningrad - mit der Finanzierung einer Studie über den Ausbau des Flughafens sowie mit dem Nuffield- Projekt zur Qualifizierung der Landwirtschaft. Die Aktivitäten in beiden Bereichen sollten, konstruktive Mitarbeit der lokalen Behörden vorausgesetzt, ausgebaut werden. Die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur mit dem Schwerpunkt "Anbindung an internationale See-, Luft- und Landwege" ist eine zentrale Bedingung für den Aufschwung des Projekts einer Sonderwirtschaftszone sowie deren Integration als russische Euroregion in den Ostseeraum und die euro-

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päischen Zusammenhänge. Unter Hinzuziehung weiterer europäischer und internationaler Finanzquellen (Europäische Entwicklungsbank, Weltbank, etc.) sowie in Ergänzung zu entsprechenden Aktivitäten einzelner EG-Mitgliedsländer wäre an Unterstützung bei folgenden, teilweise bereits geplanten oder angelaufenen Projekten zu denken: Ausbau des Flughafens zu einem internationalen Luftverkehrskreuz sowie des Handelshafens der Stadt Kaliningrad zu einem internationalen Umschlagplatz (hieran zeigen übrigens auch Weißrußland und die Ukraine großes Interesse); Komplettierung und Modernisierung der Bahnverbindung mit europäischer Normalspur bis hin zur Stadt Kaliningrad und zu den Umschlagplätzen an der See; Konversion von Teilen des Marinestützpunkts Baltijsk, nicht zuletzt im Hinblick auf einen Ausbau der Fährverbindungen zu westlichen Ostseehäfen. Zu prüfen wäre auch eine Beteiligung der EG an Projektierung und Ausführung überregionaler Straßenverbindungen - der "Hanse-Autobahn" (St. Petersburg Tallinn - Riga - Kaliningrad - Danzig - Stettin - Hamburg) sowie der "Via "Baltica" (von Finnland über Warschau nach Süden, wobei eine Variante den Einschluß Kaliningrads vorsieht). Bei Umbau und Modernisierung der Wirtschaft könnte sich eine sinnvolle Mitarbeit der EG auf folgende Felder beziehen: Konversion von Anlagen des Militär-Industrie-Komplexes im Bereich Maschinenbau, Elektronik und Werftindustrie, wobei die von der Militärführung angestrebte Eingliederung jener oft hochqualifizierten Offiziere angestrebt werden sollte, die aus dem Militärdienst ausscheiden müssen; Beratung bei der Umrüstung umweltzerstörender Betriebe durch Klär- und Filteranlagen, insbesondere im Hinblick auf die Zellulose- und Papierindustrie; Modernisierung der Hochseefischerei und technische Umrüstung derfischverarbeitenden Industrie, wo mit 60.000 Beschäftigten nach dem Militär die meisten Menschen des Gebiets Arbeit finden. Der Vorteil der Förderung dieses wichtigsten Zweiges der Konsumgüterindustrie läge nicht zuletzt darin, daß sie eine spürbare Wirkung auf das Lebensniveau der Bevölkerung ausüben würde. Das gleiche gilt für die Förderung im Bereich der Landwirtschaft, wo es gemessen an früheren Ergebnissen - große Reserven gibt. Das NuffieldProjekt mit seinen Komponenten Beratung und Agrarmanagement sowie Pilotbetriebe in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte ist vom Ansatz her ein hervorragendes Beispiel für sinnvolle EG-Hilfe. Zugleich demonstriert es aber auch exemplarisch: Hilfe zur Selbsthilfe kann nur dann greifen, wenn sie bei Politik und Verwaltung vor Ort auf Kooperationsbereitschaft trifft. 22 Eine Reihe der im folgenden genannten Projekte konvergieren mit Vorstellungen, wie sie in zwei Expertisen unterschiedlicher Provenienz entwickelt werden: in der Studie der Russian Foreign Policy Foundation, a.a.O., S. 27 ff., sowie in dem Bericht der internationalen Studiengruppe "Hanseregion Baltikum", a.a.O., passim.

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Freie Wirtschaftszone. Zur Überwindung der Lücke zwischen ökonomisch Wünschbarem einerseits und politischen Hemmnissen der Behörden vor Ort andererseits wird von inoffiziellen westlichen - darunter auch amerikanischen - Kreisen vorgeschlagen, das Management Kaliningrads zu internationalisieren oder ein "Kondominium" der umliegenden Staaten über das Gebiet zu installieren (mit der Teilnahme von Rußland, Polen, Litauen, Deutschland, vielleicht auch Schweden und Dänemark). Dies wäre jedoch eher kontraproduktiv ^ da es den ohnehin nicht geringen Widerstand in Moskau und Kaliningrad verstärken und das Sonderwirtschaftszonen-Projekt voraussichtlich torpedieren würde. Das Projekt kann, wenn überhaupt, nur in enger Abstimmung mit den lokalen Instanzen verwirklicht werden. Sie sind es - viel eher noch als die Moskauer Zentrale -, von denen die entscheidenden Impulse und die praktische Implementierung ausgehen müssen. Sollte dies tatsächlich geschehen, wofür die Anzeichen gegenwärtig allerdings nicht besonders günstig stehen, so könnte sich die EG - gemeinsam mit anderen Akteuren - sinnvollerweise auf den Feldern Modernisierung und Ausbau des Telekommunikationswesens sowie Schaffung einer effektiven Marktinfrastruktur im Bereich des Finanz-, Steuer-, Banken- und Versicherungssystems engagieren. Zu prüfen wäre schließlich, inwieweit die EG bei dem technischen Aufbau der Freien Wirtschaftszone helfen kann. Wahrscheinlich empfiehlt sich hierbei ein gradualistisches Herangehen, d. h. die Errichtung zunächst begrenzter Zonen auf dem Gebiet Kaliningrad. Als überschaubare Territorien wären sie geeignet, rasche und problemlose Kontakte zwischen den dort angesiedelten in- und ausländischen Wirtschaftsund Finanzakteuren zu ermöglichen. Hier könnten - nicht zuletzt im Hinblick auf "Joint Ventures" - funktionierende Einheiten entstehen, die dann in das Gebiet und schrittweise auch nach Rußland insgesamt ausstrahlen. Die Sonderzonen könnten eine Schlüsselrolle beim Übergang von einer geschlossenen zu einer offenen Wirtschaft spielen. Wissenschaftlich-kulturelle Beziehungen. Die im Tempus II anvisierte EGHilfe bei der Errichtung einer "Euro-Fakultät" an der Universität Kaliningrad ist vom Ansatz her aus zwei Gründen als sehr positiv einzuschätzen. Zum einen könnte sie mit ihren Bereichen Management, Wirtschaftswissenschaften und Internationales Recht jungen Menschen vor Ort notwendiges Know-how vermitteln, und zum anderen könnte sie zur Integration des Gebiets in den baltischen Raum beitragen, zumal eine analoge Fakultät mit EG-Unterstützung auch in Riga eingerichtet wird. Eine "Euro-Fakultät" wäre geeignet, den Europagedanken in Kaliningrad zu verankern und neue Perspektiven für die dort lebenden Russen aufzuzeigen. Leider kommt das Projekt bis heute nicht recht vom Fleck. Die Gründe dafür sind auch vor Ort schwer zu durchschauen, doch scheinen konzeptio-

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nelle Differenzen zwischen Universität und Gebietsverwaltung ebenso eine Rolle zu spielen wie unterschiedliche persönliche Interessen von Beteiligten.

5. Fazit Die Zukunft der russischen Exklave Kaliningrad steckt voller Gefahren, aber auch voller Chancen - für das Gebiet selbst wie auch für seine internationale Umwelt. Kaliningrad könnte einerseits zu einem im Innern weiter verfallenden Brems- und Störfaktor in der Region werden, sich andererseits aber auch zu einem dynamischen Standort entwickeln, der die wachsende Zusammenarbeit in Ostsee-Europa aktiv fördert. Die Ungewißheiten und Ambivalenzen wurzeln in einer Reihe objektiver und subjektiver Widersprüche. Komprimiert lassen sie sich so zusammenfassen: - In Kaliningrad selbst: Widersprüche zwischen hohem Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte und mangelnder Anwendungschancen; zwischen relativ hohem Industrialisierungsgrad und obsoleten Anlagen; zwischen eindrucksvollen Projekten und Blockade bei ihrer Realisierung; zwischen Plänen der politisch Verantwortlichen zur Öffnung nach außen und Furcht vor Machtverlust und ausländischer Überfremdung. - Im Verhältnis zu Rußland: Kontraste zwischen den Konzepten einer Freien Wirtschaftszone und einer Zone besonderer Förderung durch Rußland; zwischen Kaliningrad als wirtschaftlich-politischem Brückenkopf Rußlands nach Europa und als militärischem Vorposten des Landes gegenüber einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt. - Im Verhältnis zu Ostseeraum und zu Europa: Kaliningrad im Rahmen des Föderationsvertrags als autonomes Wirtschaftssubjekt einer russischen Euroregion einerseits und als ökonomischer und kommunikationshemmender Annex Rußlands andererseits. Die Chancen für Kaliningrad (Königsberg) liegen vor allem darin, daß es sich hier um ein relativ kleines und damit überschaubares Gebiet handelt, in dem klare Regeln und Verantwortlichkeiten geschaffen und umgesetzt werden könnten. Die EG könnte auf einem solch begrenzten, zugleich aber hochempfinglichen Territorium im Verbund mit anderen Akteuren mit minimalem materiellem Einsatz maximale politische Wirkungen fördern. Unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Wahrnehmung der Chancen wäre allerdings ein eindeutiges politisches Engagement der Verantwortlichen vor Ort und in Moskau.

GESELLIGKEIT - PHILOSOPHIE - HUMANITÄT· 180 JAHRE "GESELLSCHAFT DER FREUNDE KANTS" * Von Rudolf Malter

Kants ehemaliger Schüler und Biograph R. B. Jachmann berichtet aus der Rückschau über das gesellige Leben des Philosophen: "Kant besaß die große Kunst, über eine jede Sache in der Welt auf eine interessante Art zu sprechen. Seine umfassende Gelehrsamkeit, welche sich bis auf die kleinsten Gegenstände des gemeinen Lebens erstreckte, lieferte ihm den mannigfaltigsten Stoff zur Unterhaltung und sein origineller Geist, der alles aus einem eigenen Gesichtspunkte ansah, kleidete diesen Stoff in eine neue, ihm eigentümliche Form. Es gibt keinen Gegenstand im menschlichen Leben, über den nicht Kant gelegentlich sprach; aber durch seine Behandlung gewann auch der gemeinste Gegenstand eine interessante Gestalt. Er wußte von allen Dingen die merkwürdigste und lehrreichste Seite aufzufassen; er besaß die Geschicklichkeit, ein jedes Ding durch den Kontrast zu heben; er verstand es, auch die kleinste Sache, ihrem vielseitigen Nutzen und den entferntesten Wirkungen nach darzustellen, unter seinen Händen war das Kleinste groß, das Unbedeutendste wichtig. Daher konnte er sich auch mit jedermann in der Gesellschaft unterhalten und seine Unterhaltung fand ein allgemeines Interesse. Er sprach mit dem Frauenzimmer über weibliche Geschäfte ebenso lehrreich und angenehm, als mit dem Gelehrten über wissenschaftliche Objekte. In seiner Gesellschaft stockte das Gespräch nie. Er durfte nur aus seiner reichen Kenntnisfülle irgend einen beliebigen Gegenstand auswählen, um an ihn den Faden zu einem unterhaltenden Gespräch zu knüpfen... Er war in seiner Unterhaltung besonders bei Tische ganz unerschöpflich. War die Gesellschaft nicht viel über die Zahl der Musen, so daß nur ein Gespräch am ganzen Tische herrschte, so führte er gewöhnlich das Wort, welches er aber sich nicht anmaßte, sondern welches ihm die Gesellschaft sehr gern überließ. Aber er machte bei Tische keinesweges den Professor, der einen zusammenhängenden Vortrag hielt, sondern er dirigierte gleichsam nur die wechselseitige Mitteilung der ganzen Gesellschaft. Einwendungen und Zweifel belebten sein Gespräch so sehr, daß es dadurch bisweilen bis zur größten Lebhaftigkeit erhoben wurde. Nur eigensinnige Widerspre*

"Bohnenrede" in der Gesellschaft der Freunde Kants am 19. April 1985.

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cher konnte er ebensowenig als gedankenlose Jaherrn ertragen. Er liebte muntere, aufgeweckte, gesprächige Gesellschafter, welche durch verständige Bemerkungen und Einwürfe ihm Gelegenheit gaben, seine Ideen zu entwikkeln und befriedigend darzustellen... Merkwürdig ist es, daß Kant sich nicht bloß durch seine Unterhaltungskunst, sondern auch durch sein feines Betragen in der Gesellschaft auszeichnete. Er hatte einen edlen freien Anstand und eine geschmackvolle Leichtigkeit in seinem Benehmen. Er war in keiner Gesellschaft verlegen und man sah es seinem ganzen Wesen an, daß er sich in und für Gesellschaft ausgebildet hatte. Sprache und Gebärden verrieten ein feines Gefühl für das Schickliche und Anständige. Er besaß ganz die gesellige Biegsamkeit und wußte sich in den passenden Ton einer jeden besondern Gesellschaft zu stimmen. Gegen das Frauenzimmer bewies er eine zuvorkommende Artigkeit, ohne dabei das mindeste Affektierte und Gezwungene zu äußern. Er ließ sich gern mit gebildeten Frauenzimmern in ein Gespräch ein und konnte sich mit ihnen auf eine sehr feine und gefällige Art unterhalten. Er erschien überhaupt in der Gesellschaft als ein feiner Weltmann, dessen hohe innere Würde durch eine feine äußere Bildung emporgehoben wurde. Das anständige und geschmackvolle Äußere, welches in einer Gesellschaft herrschte, wirkte gegenseitig auf sein Wohlbehagen und auf seine Unterhaltungsgabe. An einer mit wohlschmeckenden Speisen besetzten Tafel und bei einem guten Glase Wein erhöhte sich seine Munterkeit so sehr, daß er oft über der lebhaften Unterhaltung den Genuß der Speisen vergaß. Daher dauerte auch eine Tafel, an welcher Kant aß, mehrere Stunden, weil er die Tafel nur als ein Vereinigungsmittel, die Unterhaltung aber für den Zweck ansah und den Genuß der Speisen und Getränke nur als eine sinnliche Abwechselung und Erhöhung eines geistigen Vergnügens benutzte... Im dreiundsechzigsten Jahre richtete er seine eigene Ökonomie ein und bat sich selbst seine kleine Tischgesellschaft. Gewöhnlich hatte er einen oder zwei Tischgesellschafter; und wenn er große Tafel gab, so bat er fünf Freunde; denn auf sechs Personen war sein Tisch und seine ganze Ökonomie nur eingerichtet. Bis 1794, solange ich in Königsberg lebte, waren der Geheime Rat v. Hippel, Kriminalrat Jensch, Regierungsrat Vigilantius, Doktor Hagen, Kriegsrat Scheffner, Doktor Rink, Professor Kraus, Professor Pörschke, Professor Gensichen, Bancodirektor Ruffmann, Ober-Stadtinspektor Brahl, Pfarrer Sommer, Kandidat Ehrenboth, Kaufmann Johann Conrad Jacobi, Kaufmann Motherby und mein Bruder, seine gewöhnlichen Gäste, von denen einige in der Woche regelmäßig ein- bis zweimal eingeladen wurden. Einen besondern Zug von Feinheit und Humanität äußerte Kant durch die Art, wie er seine Freunde zu Tische einlud. Er ließ sie nur erst am Morgen desselben Tages zu Mittage bitten, weil er dann sicher zu sein

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glaubte, daß sie so spät kein anderes Engagement mehr bekommen würden und weil er wünschte, daß niemand seinetwegen eine andere Einladung ausschlagen möchte. Ich bleibe gern zuletzt, sprach der liebenswürdige bescheidene Mann, denn ich will nicht, daß meine Freunde, die so gut sind, mit mir vorlieb zu nehmen, meiner Einladung wegen irgendeine Aufopferung machen. Auch den Professor Kraus, wie dieser noch täglich mit ihm aß, ließ er doch jeden Morgen besonders einladen, weil er dieses für eine schickliche Höflichkeit hielt und weil er seinem Gast dadurch Gelegenheit zu geben glaubte, auch nach Gefallen absagen zu lassen. Allgemeine Einladungen auf einen bestimmten Tag, ohne diese höfliche Aufmerksamkeit, die für den Wirt und den Gast gleich nützlich ist, erklärte er für unschicklich. Diese Aufmerksamkeit verlangte er auch von seinen Freunden und rühmte sie sehr an seinem Freunde Motherby, der ihn auf jeden Sonntag besonders einladen ließ, obgleich dieser Tag schon ein- für allemal zur Aufnahme Kants bestimmt war. Als Wirt zeigte sich Kant noch von einer interessanten Seite; er verband dann mit seiner feinen gesellschaftlichen Bildung eine zuvorkommende Aufmerksamkeit und Gefälligkeit und bot alles auf, um seine Gäste auf die angenehmste Art zu unterhalten und zu vergnügen. Er war so aufmerksam auf seine Gäste, daß er sich sogar ihre Lieblingsgerichte merkte und diese für sie zubereiten ließ. Dann forderte er mit einer solchen freundlichen Gutmütigkeit zum Genuß auf und freute sich über den Appetit seiner Gäste so sehr, daß man schon deshalb seiner Tafel mehr wie gewöhnlich zusprach. Man war an seinem Tische auch ganz ungeniert; man äußerte freimütig seine Wünsche und erregte dadurch gerade die größte Freude. Der gefällige Wirt wußte seine Gäste so ganz von allem Zwange zu entbinden, daß ein jeder in seinem eigenen Hause zu leben glaubte. So wie er für den sinnlichen Genuß sorgte, ebenso sorgte er auch für die geistige Unterhaltung seiner Gäste. Gewöhnlich hatte er Briefe oder andere Neuigkeiten aufbewahrt, die er entweder schon vor Tische oder bei der Tafel seinen Freunden mitteilte und woran er das weitere Gespräch knüpfte. Die Unterhaltung an seinem Tische glich im ganzen der Unterhaltung in andern Gesellschaften, nur daß in den Gesprächen bei ihm noch mehr Vertraulichkeit und Offenheit herrschte. Hier sprach noch mehr das Herz mit, hier unterhielt sich der große Mann über seine und seiner Freunde Angelegenheiten; hier sah man, wie der Weltweise sich zur Erholung von seinen anstrengenden Kopfarbeiten alles Zwanges entledigte; hier faßte und verfolgte er frei eine jede Idee, die sich ihm darbot: hier überließ er sich zwanglos einem jeden Gefühl, das aus seinem Herzen flöß, hier erschien Kant ganz in seiner

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natürlichen Gestalt. Und wie liebenswürdig, wie unbeschreiblich liebenswürdig erschien er hier!" 1 Aus dieser von Jachmann anschaulich beschriebenen geselligen Tischrunde Kants ist unsere Gesellschaft hervorgegangen, speziell aus dem Kreis derer, die sich zu Kants letztem Geburtstag am 22. April 1803 als geladene Gäste im Haus in der Prinzessinstraße eingefunden hatten. Seine Geburtstage waren, soweit bekannt, die einzigen Anlässe für Kant, etwas ihn persönlich Betreffendes zu feiern; gewöhnlich lud er aber auch zu diesen Tagen nur einige wenige Vertraute ein, nur 1803, so als nehme er von seiner Gesamtrunde Abschied, waren es über 20 Personen. So sehr Kant indes sich auf diesen Tag gefreut hatte - die Schwäche und Apathie des Greisenalters verhinderten den Genuß, den er sich von dieser ersehnten Gelegenheit, noch einmal seine Freunde um sich zu haben, versprochen hatte. Wir lesen bei Wasianski, seinem engsten Helfer in den letzten Lebensjahren: "Im Frühling seines letzten Lebensjahres, am 22. April, wurde sein Geburtstag im Kreise seiner gesamten Tischfreunde recht anständig und fröhlich gefeiert. Lange vorher war dieses Fest ein ihn erheiternder Gegenstand unserer Gespräche und es wurde lange vorher nachgerechnet, wie weit es noch entfernt sei. Er freute sich lange voraus auf diesen Tag. Aber auch hier bestätigte es die Erfahrung, daß seine jetzigen Freuden mehr in der Erwartung und angenehmen Phantasie bestanden als im Genüsse selbst. Die Hoffnung, seinen alten Freund, den Kriegsrat S., in dessen Gesellschaft er im Hause des verstorbenen G. R. von Hippel so viele frohe Stunden seines Lebens zugebracht hatte, wieder um sich zu sehen, erheiterte ihn ungemein. Schon die Nachricht, wie weit man in Besorgung des zu diesem Feste Erforderlichen gekommen sei, entlockte ihm den frohen Ausruf: Ο das ist ja herrlich! Als der Tag kam und die Gesellschaft versammelt war, wollte er zwar froh sein; hatte aber dennoch keinen wahren Genuß von derselben. Das Geräusch bei der Unterhaltung einer zahlreichen Gesellschaft, der er entwöhnt war, schien ihn zu betäuben, und man merkte wohl, daß es die letzte Versammlung in der Art und zu diesem Zwecke sein würde. Er kam nur erst recht zu sich selbst, als er ausgekleidet in seiner Studierstube mit mir allein war und mit mir über die seinen Domestiquen zu gebenden Geschenke gesprochen hatte. Denn nie konnte Kant froh sein, wenn er nicht andere um sich her zufrieden sah. Daher bestand er bei jeder Spazierfahrt auf ein Geschenk für seinen Diener. Ich wollte ihn nun seine Ruhe genießen lassen und empfahl mich ihm auf die sonst gewöhnliche Art. Er war stets wider alles Feierliche und Ungewöhnliche, wider alle Glückwünsche bei sol-

Reinhold Bernhard Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, in: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. C. Wasianski. Hrsg. v. Felix Groß. Berlin 1912. Reprogr. Nachdr. Darmstadt 1968, S. 177-184 (Auszüge).

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chen Gelegenheiten, besonders aber wider ein gewisses Pathos bei denselben, in dem er immer etwas Fades und Lächerliches fand. Für meine geringe Bemühungen bei Anordnung dieses Festes dankte er mir dieses Mal auf eine ganz unproportionierte Art und durch Äußerungen, die nur sichere Beweise einer ihn übermannenden Schwachheit waren. Vielleicht trug der Gedanke, nun ein so hohes Alter erreicht zu haben, zu seiner Rührung bei und erhöhte seinen Dank zu exaltierten Ausdrücken. Unter dem 24. April 1803 schrieb er in sein Büchelchen: 'Nach der Bibel: unser Leben währet 70 Jahr und, wenn's hoch kommt, 80 Jahr und wenn's köstlich war, ist es Mühe und Arbeit gewesen.2 Den nächstfolgenden Geburtstag erlebte er nicht mehr - es war hoch gekommen, dieses Leben, und Mühe und Arbeit war es gewesen, also doch bei allem Mißtrauen gegenüber irdischem Glück im biblischen Sinne "köstlich". Die Lethargie, die sich über die alten Vertrauten legte, auch über die ihm ferner stehenden Bürger der Stadt, die ihn verehrt hatten, mag wohl auch schuld daran gewesen sein, daß Kants Wohnhaus schon bald nach seinem Tod verkauft wurde - nicht an die Stadt, nicht an einen seiner Gefährten, sondern zur Empörung der ihm Nahestehenden an einen Gastwirt mit Namen Meyer. Immerhin war es trotz der Lamentationen, die ζ. B. Kants Universitätskollege und Tischfreund Hasse anstimmte, vielleicht ein kleiner Trost, daß nun dort, wo Kant dachte, lehrte und lebte, lauter Wirtshauslärm herrschte - wäre nämlich das Haus in den Besitz eines engherzigen Privatmannes gefallen, so hätte die Gründung unserer Gesellschaft nicht mehr in Kants Hörsaal - einem Teil des Wirtsbetriebes - stattfinden können. Das war 1805. Die Initiative ergriff der Sohn von Kants altem, verstorbenem Freunde und Finanzberater Robert Motherby, der Königsberger Arzt William Motherby, der später in der preußischen Erhebungszeit durch seine Kontakte zu Ernst Moritz Arndt in die deutsche Geschichte eingehen sollte. Motherby ließ am 17. April 1805 ein an 22 (andere Angaben: 25) "Freunde und Verehrer" gerichtetes Schreiben zirkulieren, das, wie Unger schreibt, "gewissermaßen die Stiftungsurkunde der Gesellschaft (der Freunde Kants) darstellt".3 Der Text ist Ihnen vielleicht bekannt; ich darf ihn dennoch verlesen:

2 Ehregott Andreas Christoph Wasianski: Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beitrag zur Kenntnis seines Charakters und häuslichen Lebens ..., in: s. Anm. 1, S. 272 f. 3 Rudolf Unger: Zur Geschichte der "Gesellschaft der Freunde Kants" in Königsberg i. Preußen, in: Festgabe. Philipp Strauch zum 80. Geburtstag am 23. September 1932 dargebracht... Hrsg. v. Georg Baesecke und Ferdinand Josef Schneider. Halle 1932, S. 138. - Eine Darstellung der Geschichte der "Gesellschaft der Freunde Kants" im Kontext des gesamten Königsberger Kantgedenkens findet sich in: "Denken wir uns aber als verpflichtet..." Königsberger Kant-Ansprachen 1804-1945. Mit einer Einleitung zur Königsberger Kant-Tradition 1804-1945, hrsg. v. Rudolf Malter. Erlangen 1992, S. 9 ff. ( = Malter 1992).

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"Kant wird als vorzüglicher Denker der Welt unvergessen bleiben - möge Er von uns, die wir ihn handeln sahen, nie vergessen werden! Ich schlage hiermit denen, die das Glück genossen, sich seines Umganges und seiner Freundschaft zu erfreuen, ergebenst vor, zu einem feyerlichen Erinnerungsfeste seines Wertes als Mensch und Freund an seinem Geburtstage, Montag, den 22. April ds., in seiner ehemaligen Behausung sich zu versammeln und hier ein geselliges Mittagsmahl einzunehmen. Die Gesellschaft wird genau die nämliche sein, die Kant selbst, den letzt von ihm verlebten Geburtstag - den 22. April 1803 - zu feyern, um sich berief; sie wird also völlig gleich gestimmt und harmonisch seyn. Die näheren Bedingungen dieser Zusammenkunft in ökonomischer Hinsicht bestehen darin, daß ein jedes Mitglied sein Contingent dazu gibt, welches nach dem Verlangen des billigen Wirts 4 Groschen beträgt, und daß ein jeder der Herren sich den Wein, den er zu trinken wünscht, selbst besorgt und mitbringt." 4 Die Gesellschaft der Freunde Kants übernahm in späterer Zeit in steigendem Maße auch kulturell-philosophische Aufgaben, die Kants Andenken in Königsberg betrafen, wie aber diese Bemerkung zeigt, war (und blieb dann auch) die eigentliche Zielsetzung der Gesellschaft die Fortsetzung der von Kant selbst gepflegten Geselligkeit - mit Gesprächen nun vor allem über ihn - und hiermit der Bewahrung des persönlichen Andenkens an ihn. In dieser Hinsicht und vor allem ihres ausgeprägt lokalen Charakters wegen hat sich die Gesellschaft der Freunde Kants nie als Konkurrent zur 1904 gegründeten "Kant-Gesellschaft e.V." in Halle verstanden, auch in den Zeiten nicht, als in Königsberg eine Ortsgruppe der allgemeinen Kant-Gesellschaft tätig wurde. Die von Hans Vaihinger gegründete Kant-Gesellschaft war im vorhinein eng an die rein wissenschaftliche Kantforschung gebunden: sie sollte Träger-Organisation der 1896 gegründeten Kant-Studien sein und wuchs dann im Laufe weniger Jahrzehnte zur mächtigsten philosophischen Gesellschaft Deutschlands, ja wohl der gesamten Welt, empor, mit Zielen, die sich nur am Rande mit unserer in Königsberg gebundenen Gesellschaft berührten. Auch schon rein äußerlich unterschied sich die 1805 gegründete von der fast genau 100 Jahre später ins Leben gerufenen Gesellschaft Vaihingers: hatte letztere eine juristisch fixierte Satzung, so verzichtete der von Motherby gegründete Zirkel auf alle Statuten - es gab Reglements, die aber sehr lockere Vereinbarungen waren, bzw. festgehaltene Bräuche, die sich aus dem geschichtlich sich verändernden Leben der Gesellschaft ergaben; vereinsmäßigen Charakter hatte der Freundeskreis nie: so blieb es bis auf den heutigen Tag, und das sollte auch weiterhin nicht geändert werden. Was sich organisch ergab und in fast zwei Jahrhunderten sich bewährte, das gilt 4

Zit. bei Malter 1992, S. 9.

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ohne Statuten. Der Organisator nannte sich einfach "Festordner", er besorgte das Lokal, lud ein - so wie es Motherby 1805 begonnen hatte. Die für den wissenschaftlichen Rang der Gesellschaft entscheidend werdende Idee, jede Geburtstagsfeier von einer Rede begleiten zu lassen, kam bereits früh auf. Wann zum ersten Mal eine solche Rede gehalten wurde, läßt sich wohl genau nicht nachweisen; für die Jahre 1806-1809 gibt es keine Akten; im Jahr 1810 hielten Scheffner und Herbart Reden, aber zu einem (noch zu besprechenden) besonderen Anlaß. Döhring nennt für 1811 Prof. Hüllmann als Festredner, dann erst wieder für 1820 Herbart, aber mir liegt eine Geburtstagsrede Pörschkes aus dem Jahr 1812 vor, und in der Bayerischen Staatsbibliothek befindet sich ein meines Wissens bislang noch nicht veröffentlichter handschriftlicher Redetext von Scheffner für die Geburtstagsfeier von 1815. Durch diesen Brauch, der also fast so alt ist wie die Gesellschaft, sind, wie Karl Vorländer treffend schreibt, aus der Gesellschaft der Freunde Kants "eine ganze Reihe zum Teil wertvoller Beiträge zur Biographie oder Philosophie Kants hervorgegangen"5. Festordner bzw. Bohnenkönig und Festredner fielen in den ersten 50 Jahren des Bestehens der Gesellschaft nur selten ineins; Döhrings Verzeichnis, das bis zum Jahre 1905 reicht, zeigt deutlich die Zäsur: etwa seit dem Jahre 1860 sind die Bohnenkönige zugleich auch - in der Regel - die Festredner. Solange es noch nicht Brauch war, daß der Bohnenkönig selber die Rede hielt, lag die Hauptlast der Reden auf einigen Mitgliedern; so wurden vor allem immer wieder der zweite Nachfolger auf Kants Lehrstuhl, Johann Friedrich Herbart, dann sein dritter Nachfolger, Karl Rosenkranz, und dessen Professorenkollege Schubert als Redner herangezogen; von Interesse dürfte sein, daß auch der Gründer William Motherby einmal philosophisch gesprochen hat: 1837 zum Thema der Kant'schen Diätetik ("Über die Kraft (sie!) des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz Meister seiner kranken Gefühle zu werden"). Die Themenvielfalt bis 1905 (bis hierher reicht Döhrings von 1823 an lückenlose Liste) ist eindrucksvoll. Wie die Tischrede so wurde auch das Bohnenkönigtum nicht unmittelbar bei Gründung der "Gesellschaft", sondern ungefähr zur selben Zeit wie die Rednerfunktion eingeführt. Der Vorschlag, durch das Auffinden einer in einer Torte eingebackenen Bohne den neuen Festordner, der dann "Bohnenkönig" hieß, zu ermitteln, stammte von dem berühmten aus Minden gebürtigen Astronomen Bessel, der an der Albertina lehrte und der Gesellschaft seit 1812 angehörte. Der scherzhafte Einfall, der zur festen, bis heute geübten Tradition unseres Kreises gehört, knüpft an altes Volksbrauchtum an. Hans

5 Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Bd. II. 3. Aufl. Hamburg 1992, S. 3348 ( = Vorl.II.).

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Vaihinger informiert darüber in einem Beitrag in den Kant-Studien.6 "In keiner Stadt wohl haben die "Bohnenmale" eine solche Bedeutung erlangt als in Königsberg, in dem man diese uralte Sitte, deren Ursprung sich schwer genau feststellen lässt, mit dem grossen Weltweisen Kant in eine enge Verbindung brachte. Ursprünglich war die Sitte des Bohnenkönigfestes eine ziemlich verbreitete und allgemeine. Berühmte niederländische Maler, ζ. B. Jordaens, Teniers und Stern haben die Lustbarkeiten des Bohnenkönigfestes mit Vorliebe in ihren Gemälden dargestellt. Die Feste wurden früher gewöhnlich am Vorabend vor Epiphanias oder auch an diesem Tage (6. Januar) selbst abgehalten. In Frankreich ist das Fest unter dem Namen "Le roi boit" (Der König trinkt) bekannt. Entscheidend für die Wahl des Königs ist stets der sogenannte Königskuchen oder Bohnenkuchen (gâteau de roi). Sämtliche anwesende Gäste müssen dem Könige huldigen, wofür er hierauf natürlicherweise sie gehörig - freizuhalten gezwungen ist. Bei den Bohnenmählern des vorigen Jahrhunderts wählte sich der "Bohnenkönig" auch eine "Bohnenkönigin", einen "Hofstaat" und Hess sich auf alle erdenkliche Weise bedienen. So oft der König das Glas an den Mund setzte, musste der ganze Hofstaat rufen: "der König trinkt!" und tüchtig Bescheid thun. Wer es nicht that, der wurde gehörig gestraft. Von Frankreich aus bürgerte sich dieser Scherz in den Niederlanden, in England und einigen Gegenden Deutschlands, namentlich am Rhein und in Schlesien ein. Man hat hier somit eine alte und vielverbreitete Sitte vor sich, die aber bei uns in Königsberg eine neue und edlere Bedeutung bekommen hat. Denn während es sich bei der alten Sitte nur um ein scherzhaftes Trinkgelage handelte, der Bohnenkönig lediglich zum Zwecke erhöhter Trinkfröhlichkeit durch das Bohnenloos erkoren wurde, ist es hier eine ernste und schwere Pflicht, welche in der That dem Bohnenkönig zufällt; denn die Bohnenmähler am Geburtstage Kants gehören zu den edelsten und geistig vornehmsten geselligen Veranstaltungen unserer Stadt."7 Nun noch zu einem mit der Bohnenauffindung verbundenen alten Problem, das vielleicht Kants angeregtes Nachdenken provoziert hätte: was geschieht, wenn die Bohne nicht gefunden wird? Nach Döhrings Bericht über die Geschichte der Gesellschaft ist bis zum Jahre 1905 nur einmal die Bohne nicht gefunden worden, die Akten vermerken dies für das Jahr 1833; der Festordner, den man ja nur problematischerweise dann Bohnenkönig nennen konnte, mußte dann durch Stimmzettel ermittelt werden. Wo war die Bohne geblieben? Das Problem ist bis heute ungeklärt. Döhring spekuliert: "Ob ein gräkophiler Kyamophage unter den Festteilnehmern war, oder einer von ihnen das 6 Hans Vaihinger: Königsberger Geburtstagsfeier im Jahre 1897, in: Kant-Studien 2, 1898, S. 372 ff. 7

ebd. S. 374.

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alte pythagoreische Verbot, die Bohne nicht zu essen, verletzte, ist bis heute nicht aufgeklärt. Oberpräsident von Schön führte damals den Vorsitz und schlug mehrere Herren zur Wahl vor, von denen Bessel, der Vater des Bohnen-Königtums, die Stimmenmehrheit erhielt." 8 Im übrigen kann man weiteren Berichten über unsere Gesellschaft entnehmen, daß auch 1937 und - das Datum konnte ich bislang nicht ermitteln - zwischen 1905 und 1937 ein weiteres Mal die Bohne unauffindbar blieb. Eine Frage besonderer Art betraf die Mitgliedschaft in der Gesellschaft. 9 Wer sollte, damit die Tischgesellschaft nicht mit dem Tod der letzten direkten Kantfreunde erlöschte, in die Reihen aufgenommen werden? Versuche der Regulierung des Aufnahmemodus scheiterten in der Folge an der von vornherein gewollten völligen Reglementierungsabneigung der Gesellschaft. 1810 zählte die Gesellschaft 24 Mitglieder, man hatte also bereits seit 1806 zwei weitere Mitglieder kooptiert; 1813 trat Scheffner für eine Begrenzung auf 20 Personen ein; 1828 wiederum beschloß man, sich an die Normalzahl 23 zu halten. Aber dieser von dem ältesten Historiographen unserer Gesellschaft, dem Kommerzien- und Admiralitätsrat Becker "als das organische Gesetz unserer Gesellschaft" 10 bezeichnete Beschluß von 1828, der "für immer gegeben sei"11 wurde nur knappe zehn Jahre befolgt - das wahrhaft organische Wesen der Gesellschaft duldete letztlich keine strenge Regulierung, obgleich man sowohl hinsichtlich der Zahl als auch der Personenauswahl öfter noch Regelungen zu treffen versuchte (so wollte man selbstverständlich gern alte Kantschüler kooptieren und aus diesem Grunde legte auch der Stadtrat Förster 1835 ein Verzeichnis ehemaliger Schüler Kants an - für die biographische Kantforschung wäre diese Liste, ebenso wie für die spinöse Frage nach den Autoren von Vorlesungshandschriften von großem Wert. Sie ist aber wohl mit den Akten verschwunden. 1905 zählte die - eben organisch sich ergänzende - Gesellschaft 77 Mitglieder, später schon einmal 100, z. Zt. sind es ca. 80.). Ein wirklich trauriges Kapitel in der Geschichte unserer Gesellschaft wurde schon anfangs angerührt - es betrifft den Ort des jährlichen Mahles, d. h. Kants Haus. Die Schuld trifft hier die Verwaltung der Stadt Königsberg. Statt, wie es immer wieder gerade von so prominenten Mitgliedern der Bohnengesellschaft wie Karl Rosenkranz gefordert wurde, das Haus durch die Stadt ankaufen zu lassen, nachdem es zuerst dem Wirt Meyer, dann dem Zahnarzt Döbbelin gehörte, überließ man es dem Kaufhausbesitzer Liedtke, g Alfred Döhring: Rückblick auf die ersten hundert Jahre der Gesellschaft der Freunde Kants, in: Altpreußische Monatsschrift 40,1905, S.406. 9 Über die frühesten Mitglieder vgl. Döhring 417 ff. 1 0 Vgl. August Hensche: Kant und die Kantgesellschaft, in: Altpreußische Monatsschrift 4, 1867, S. 245. 11

Vgl. ebd.

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der es, ohne daß die Stadt eingeschritten wäre, 1893 gegen den Protest vieler Bürger abbrechen und an seiner Stelle einen Anbau zu seinem Laden bauen ließ. Als der Gastwirt das Haus des Philosophen weiterverkauft hatte, mußte sich die Gesellschaft neue Trefforte suchen; sie tagte zeitweise im Hotel de Prusse in der Französischen Straße, meist aber im Deutschen Haus. * * *

Überblickt man die Aktivitäten unserer Gesellschaft bis 1945 so lassen sich drei Epochen unterscheiden. Die erste Phase umfaßt die Zeit von 1805 bis ca. 1860. Die ursprünglich sehr persönlich und biographisch an Kant anschließende Gesellschaft gewann schon bald nach ihrer Entstehung durch ihre regelmäßigen jährlichen Vortragsveranstaltungen mit immer häufiger sich anschließender Publikation der Vorträge in den "Neuen Preußischen Provinzialblättern", dann vor allem in der "Altpreußischen Monatsschrift" allgemein-kulturelle und speziell-philosophische Bedeutung für das geistige Leben Königsbergs, ja sicher auch für die deutsche Philosophie. Denn in den Zeiten, als Kant bloße Geschichte geworden zu sein schien, überflügelt durch die an ihn zwar anknüpfenden, im vorhinein aber unter dem Überwindungssyndrom leidenden idealistischen Systematikern mit Hegel als Spitze und seiner Schule als stärkster Phalanx, hielten die Königsberger Kantfreunde sowohl das persönliche Andenken als auch den philosophischen Bezug zu Kant aufrecht. Wenn auch nicht direkt, sq doch sicher auf Umwegen hat unsere Gesellschaft zur Neubelebung der Kantischen Philosophie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen. Zwar ging nicht von Königsberg der Ruf "Zurück zu Kant" aus, doch kamen von dort entscheidende Weichenstellungen: Herbarts und Rosenkranz' Reden und die Ansprachen vieler anderer Festredner und Bohnenkönige dürften eine mehr als lokale Wirkung gehabt haben, vor allem aber hängt die Kantarbeit der Gesellschaft mit der Edition der ersten Kantausgabe zusammen: sie kam zwar (leider) nicht in Königsberg (sondern in Leipzig) heraus, wurde aber von zwei wissenschaftlich exzellenten Mitgliedern unserer Gesellschaft geschaffen: von Rosenkranz,· dem von Hause aus hegelianischen, gleichwohl Kant zutiefst sich verbunden fühlenden Philosophen, und Schubert, dem Bibliothekar und biographischen Kantforscher - beide steuerten zur Ausgabe noch eigene Pionierleistungen bei: Rosenkranz die immer noch unentbehrliche "Geschichte der Kant'schen Philosophie", Schubert die in vielen Einzelheiten überholte, aber gleichwohl immer noch lesenswerte, warmherzig geschriebene, viele verlorene Quellen benützende Kantbiographie. Karl Rosenkranz, den uns vor Jahren unser Mitglied Professor Motekat in einer Bohnenrede in seiner noch immer verkannten Bedeutung vorgestellt hat, nimmt in der Vorrede zur 10-bändigen Werkedition direkt Bezug auf unsere Gesellschaft: H In Königsberg", schreibt Rosenkranz in seiner "Königsberg, im December 1837" datierten "Vorrede

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zur Gesammten Ausgabe", "besteht eine Gesellschaft von Männern, zum Teil noch unmittelbaren Schülern und Freunden Kants, zum Teil von Verehrern desselben, welche den Geburtstag des großen Mannes festlich zu begehen pflegt. Ich habe die Ehre, Mitglied derselben zu sein. 1836 ward mir durch den Präsidenten [sie!] der Gesellschaft der Auftrag, die bei der Feier übliche Rede zu halten. Längere Zeit über die Wahl eines Themas unschlüssig, fiel ich plötzlich darauf, eine Gesamtausgabe der Kantschen Werke als einen literarischen Geburtstag des Weisen in Anregung zu bringen. Man fand den Gedanken vollkommen zeitgemäß.".12 Zwei Jahre später begann die Ausgabe zu erscheinen. Sie brachte Kants Schriften in systematischer Anordnung, vor allem bot sie dem Publikum erstmals eine brauchbare Auswahl von Kantbriefen und Nachlaßreflexionen - all dies ist zwar durch die Akademie-Ausgabe überholt, als Beitrag für die Neubelebung der Philosophie Kants in Deutschland aber von größter Bedeutung. Sehr gut läßt sich die epochemachende Wirkung der Rosenkranz-Schubertschen Ausgabe auch in Schopenhauers Briefwechsel mit Rosenkranz und seinen Emendationsvorschlägen ablesen - Schopenhauer gehörte ja neben Herbart, Fries und Beneke zu den bekannteren Denkern der vorneukantianischen Epoche, die nachdrücklich Kant gegen den Hegeischen Idealismus ins Licht stellten - so später dann auch Weiße und Fichtes Sohn Immanuel Hermann, vor ihnen aber rangieren zeitlich unsere Königsberger geistigen Vorfahren. Unverdrossen hielten diese an ihrem Mentor fest, als er vergessen schien, nicht nur von der philosophischen Welt, sondern auch von der eigenen Stadt. Ein Blick auf die Annalen der Gesellschaft zeigt dies an drei Fällen, in denen unsere Gesellschaft vor Heraufkunft der neuen mächtigen Kantbewegung in den 60er Jahren für Kant tätig geworden war - neben den schon erwähnten Bemühungen um Kants Haus und der epochemachenden Ausgabe sind folgende Fälle zu nennen: 1. Altem Brauch gemäß wurden die Königsberger Professoren an der Nordseite des Domes bestattet - im "Professorengewölbe", unter dem aber nichts anderes zu verstehen war als eine überdachte Fläche, in welche die Särge der Verstorbenen eingesenkt wurden. Auch Kant wurde in dieser mehr als schlichten Form - ohne Gedenkstein und Markierung beigesetzt. Die Gesellschaft der Freunde Kants, an ihrer Spitze als Initiator der Kriegsrat Scheffner, hielt diesen Zustand für unerträglich und sorgte für eine würdige Gestaltung des Grabmals: das Professorengewölbe, das zeitweise als Heuspeicher diente, wurde abgerissen, eine Wandelhalle gebaut, Kants Sarg an die Ostwand gerückt und über ihm ein Gedenkstein mit der von Hagemann geschaffenen Büste errichtet. Es entstand so die Stoa Kantiana, ein offener Wandelgang, an dessen östlip "* Vgl. Immanuel Kant's sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert. Erster Band. Leipzig 1838.

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chem Ende sich in Form einer Kapelle, abgegrenzt von der Stoa durch ein Gitter, die Kant-Gedenkstätte befand. Außen stand zu lesen "Stoa Kantiana", innen war Scheffners Distichon - vor allem für die in der Stoa wandelnden Albertina-Studenten bestimmt - eingeschrieben: "Hier, von den Geistern umschwebt, ehrwürdiger Lehrer der Vorzeit, Sinne, daß, Jüngling, auch dich rühme noch spätes Geschlecht."13 In einer würdigen Feier wurde die Stoa Kantiana eingeweiht, Herbart hielt an diesem Tag die Festrede, der Kriegsrat Scheffner sprach begleitende Worte und Schloß: "Möchte der Anblick dieses prunklosen Monuments jeden, der es sieht und sehen wird, von der Zeitgenossen Liebe und Hochachtung für den großen Mann überzeugen, und ihn aufmuntern, so scharf und richtig zu denken und so lebensweise zu handeln wie Immanuel Kant.".14 2.

Das zweite herausragende Ereignis in der ersten Epoche unserer Gesellschaft war die 100-Jahrfeier von Kants Geburtstag im Jahre 1824. Stiller als damals war es in Deutschland wohl nie um Kant; während 100 Jahre später wiederum nicht nur Deutschland, sondern fast alle Kulturnationen, vorab aber Ostpreußen und Königsberg, geradezu pompös Kants 200. Geburtstag feierten, war es 1824 die Gesellschaft der Freunde, die so gut wie allein festlich das Jubiläum begingen: "Der hundertjährige Geburtstag Kant's 1824 wurde zu einem großen Feste ausersehen, an dem viele Männer aus Stadt und Provinz sich betheiligten. In unseren Akten ist ausführlich mitgetheilt, wie unter umsichtiger Leitung des Tribunals-Rath Ehm dieses Fest mit Gesängen, Festreden, Gedichten und rcichcm äußerem Schmuck in würdiger erhebender Weise begangen wurde. Weiter gaben die Geldüberschüsse aus der Jubelfeier die Mittel zur Vertheilung milder Spenden her. Es wurde daran die Gründung eines dauernden Unterstützungsfonds geknüpft, gebildet durch Jahresbeiträge. Daraus ist als besonders verdienstliches Werk die Unterstützung eines in ärmlichen Verhältnissen lebenden Schwestersohnes von Kant, des Schuhmachers Kröhnert hervorzuheben, der von 1829 bis zu seinem Tode August 1831 monatlich 3 Thlr. erhielt. Nach seinem Tode wurde das noch vorhandene Capital (23 Thlr. 12 Gr. 4 Pf.) seiner Tochter, der verwitweten Klempnermeisterfrau Louise Charlotte Steil Übermacht."15 Vor allem hatte man alle ehemaligen Schüler Kants zur Festfeier eingeladen - und 22 kamen. Professor Rhesa dichtete eine Kantatine, die vertont und aufgeführt wurde, der treue Kantfreund Wasianski dichtete 13

1811. 14

Immanuel Kants Gedächtnissfeyer zu Königsberg am 22sten April 1810. Königsberg

Zit. nach dem Abdruck in: Immanuel Kant zu ehren. Hrsg. von Joachim Kopper und Rudolf Malter. Frankfurt 1974, S. 87. 15 Hensche, S. 346 f.

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wohltönende lateinische Distichen, Herbart hielt die Festrede und Motherby ließ an Kants Haus eine Gedenktafel anbringen. 3.

Zu erwähnen ist schließlich noch die aktive Mitwirkung der Gesellschaft bei der Schaffung des Königsberger Kantdenkmals durch Christian Daniel Rauch. Karl Rosenkranz war es vor allem, der sich für das Denkmal eingesetzt hatte; er verfaßte eine eigene Schrift "Königsberg und der moderne Städtebau", mit der er "Geld für die Vollendung des KantDenkmals" besorgen wollte. 16 In der Gesellschaft hat Rosenkranz zum Kantgeburtstag 1852 bereits "Über das für Kant projektierte Standbild" gesprochen; enthüllt werden konnte es aber erst aufgrund erheblicher Finanzierungsschwierigkeiten am 18. Okt. 1864. Friedrich Wilh. Schubert hielt die Gedächtnisrede; obwohl der König Friedrich Wilhelm IV. als Rektor der Albertina 1852 dadurch sein Interesse gezeigt hatte, daß er einige 1000 Taler gespendet hatte, war niemand vom Königshaus bei der Einweihung des "preußischen" Philosophen zugegen. ***

Die zweite Epoche unserer Gesellschaft (ca. 1860-1945) umgreift die Zeit, die - aus der Sicht der Philosophiegeschichtsschreibung gesehen - die Rückkehr zu Kant und die Auswirkungen dieser Rückwendung bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts umfaßt. Vielfältig wie schon zuvor, also bis etwa 1860, sind die Vortragsthemen - sie umspannen Biographisches, Editorisches, vor allem aber Interpretatorisches zu den verschiedensten Seiten des Kantischen Gedankenoeuvres. Solide Namen der Kantforschung verbinden sich mit den Geburtstagen, vor allem die von Rudolf Reicke, K. Überweg, Emil Arnoldt, O. Schöndörffer, J. Rupp, Walter Simon. In diesen Zeitraum fallen drei große Jubiläen, die in immer breiterer Form in Deutschland und in der Welt begangen wurden - die Gesellschaft der Freunde stand nicht mehr allein, sie erwies sich als eines der vielen Elemente innerhalb der mannigfachen Aktivitäten, die 1881, 1904 und 1924 Kants Denken wieder in die Mitte philosophischer Forschungsarbeit rückten. 1.

1881: In den Rahmen der Vorbereitungen zur Feier der 100. Wiederkehr des Erscheinens der KrV 1881 gehören die Bemühungen unserer Gesellschaft um die Neugestaltung der inzwischen total verwahrlosten und zerfallenen Stoa Kantiana. Kants Gebeine wurden umgebettet, eine gotische Kapelle über seinem Grab erbaut, eine Büste von Siemering schmückte nun den Scheffnerschen Gedenkstein. - In diesen Jahren begannen die Königsberger Kantforscher die Basis für die Akademieausgabe zu schaffen (die als solche freilich noch nicht in Sicht war), aber

16 Karl Rosenkranz: Königsberg und der moderne Stadtbau. Ein Ergänzungsblatt zu den Königsberger Skizzen. Hrsg. zum Besten des Kant-Denkmals. Königsberg 1857, S.3/4.

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ohne Reicke und Arnoldt, regen Mitgliedern unserer Gesellschaft, wäre vieles an der Ausgabe nicht so glänzend geworden - vor allem nicht der von Reicke edierte Briefwechsel. Wesentliche Vorarbeiten zur Vorlesungsedition, die ja erst nach dem 2. Weltkrieg in Angriff genommen werden konnte, gingen von dem anderen "Star" der zur Bohnengesellschaft gehörenden Königsberger Forschergilde, von Emil Arnoldt, aus. 2. 1904: Die Feier von Kants 100. Todestag war das Kantfest des Neukantianismus, nicht nur in Deutschland stand der Stern Kants im Zenit philosophischer Neubesinnung, auch im Ausland. Königsberg beging das Jubiläum mit großem Aufwand. Die Gesellschaft der Freunde Kants "hatte am Todestage Kants in der Stoa Kantiana einen Kranz niederlegen lassen, sonst aber keine Gelegenheit gefunden, an der offiziellen Festlichkeit teilzunehmen".17 Am 22. April gedachte sie nachträglich auch Kants Todestages. Emil Arnoldt hielt die Festrede über die Antinomienproblematik in der "Kritik der reinen Vernunft". Arnoldt blickte in dieser Rede bereits auf das nächste große Kantjubiläumsereignis 1924 und gab der Hoffnung Ausdruck, "daß die dann wohl verstandene und dann neu erstandene Philosophie Kants in dem Geistesleben zunächst der deutschen Nation ein Ferment bilde, das sich in den wissenschaftlichen Forschungen, den religiösen Bekenntnissen, den staatlichen Einrichtungen und den sozialen Bildungen wohltätig und machtvoll auswirkt. 3. 1924: Ob Arnoidts Hoffnung sich erfüllte, läßt sich schwer entscheiden. Das Jubiläum 1924 stand unter Zeichen, die Arnoldt wohl nicht erahnen konnte: ein verlorener Krieg, ein verändertes politisches System, Gebietsverluste, Ächtung durch die westliche Welt - im Kantgedenken 1924, so international auch seine Ausstrahlung war, spielte Kant die Rolle des sehnlichst verlangten geistigen Führers der Nation. Waren es 1904 vor allem die Neukantianer, die Kant als den ihren feierten, so sind es nun fast alle philosophischen, auch politischen und konfessionellen Gruppierungen, die ihre Hoffnung auf geistige Erneuerung in Verbindung bringen mit einer universalen Aktualisierung der Kant'schen Philosophie. Noch nie in der Geschichte der deutschen Philosophie ist ein Denker auf so breiter Basis von heterogensten Richtungen, vor allem auch politischen Gruppen - von den Linken über die Liberalen bis hin zu den allmählich sich ideologisch formierenden Rechten - geehrt worden. Unserer Gesellschaft kam in diesem großen Gefüge von Ereignissen eine zentrale Funktion zu. In der Königsberger Hartungschen Zeitung lesen wir über das "Bohnenmahl": 1 7

18

Zit. nach Malter 1992, S. 22.

Uber den ersten Teil der ersten Antinomie der spekulativen Vernunft, in: Ges. Schriften, Hrsg. v. Otto Schöndörffer. Nachlaß - Bd. II. Berlin 1907, 233.

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"Sonst saßen wir, die 25, bisweilen auch nur 20, ja sogar 15 Mann, in den kleinen, gemütlichen Räumen von Herrlitz oder auch in der gastfreien Totenkopfloge. Es war ein Symposion mehr oder minder gleichgestimmter Geister, deren entfernteste Gegenüber sich zur Not noch miteinander verständigen konnten. Heute der große, von Direktor Lundgreen schön geschmückte große Saal der Stadthallel Also ein Raum, in dem sämtliche Staatskarossen des Kantischen Königsberg hätten auffahren können; ein Raum, in dem selbst die helltönenden Worte des geübtesten Redners hilflos verklangen sprachen bisweilen doch dreihundert geübte Männerkehlen zu gleicher Zeit. - Aber schön war es doch! Republikaner wie Monarchisten fühlten sich bei edlen Getränken und noch edleren Gesprächen wohl. Diese (die Monarchisten), weil sie endlich wieder einmal ein Zepter über sich fühlten; die Republikaner aber, weil der "König" nur der verkappte Präsident einer Republik ist, dessen Herrschaft nicht länger als ein Jahr währen darf... Der bisherige Bohnenkönig, zum ersten und zum letzten Male zur Regierung gelangt, verzapfte seine Thronrede in homäopathischen Dosen. Zunächst, d. h. gleich nach der Suppe, begrüßte Universitätsprofessor Dr. Unger alle Anwesenden unter dem Namen der "Freunde Kants", auch die Ehrengäste, auch die Gäste aus der Nähe und Ferne, die anwesenden Vertreter der Wissenschaft, die Führer des geistigen Lebens, auch der Presse, und die Vertreter des Auslandes - alle als "Freunde Kants". Zuletzt, nicht als letzten, einen Vertreter der Familie Kant, einen Blutsverwandten des Philosophen, einen Nachkommen seiner Schwester, einen Urgroßneffen, dessen Namen der Bohnenkönig freilich nicht verraten durfte." 1 Naturgemäß verband die Mitglieder der Gesellschaft der Freunde Kants vieles mit den Veranstaltungen der anderen Institutionen und den 1924 in Königsberg entwickelten Aktivitäten; so hängt etwa die Arbeit unserer Gesellschaft eng zusammen mit der von der Stadt betreuten Einrichtung der vier Kantzimmer im Stadtgeschichtlichen Museum, auch personell gab es mannigfache Verzahnungen zwischen unserer Gesellschaft und anderen Organisationen, so etwa - wie glücklicherweise auch heute wieder - zwischen der alten Königsberger und der damals noch relativ jungen Kant-Gesellschaft. Deren trauriges Geschick in der knapp 10 Jahre später eintretenden politischen Phase mußte die Gesellschaft der Freunde Kants nicht teilen. Ihr Leben erlosch de facto seit etwa 1936/37 mehr oder minder schnell. Am Kriegsende war von der einstmals größten deutschen, wahrscheinlich sogar weltgrößten Kant-Institution, von wenigen noch intakten Ortsgruppen abgesehen, nichts mehr übrig. Die Bohnengesellschaft dagegen führte ihr immer recht stilles und aufgrund der lokalen Begrenztheit auch politisch nicht weiter bedeutsames Leben fort. Wie treu die Gesellschaft Kant und seiner Va19

Vgl. Malter 1992, S. 26.

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terstadt gegenüber noch in den Tagen war, als der Untergang Königsbergs sich schon überdeutlich abzeichnete, belegt die Tatsache, daß der Bohnenkönig des Jahres 1944, Professor Bruno Schumacher, mit seinen beiden getreuen Ministern am 12. Februar 1945 sich durch die Trümmer der einst so stolzen Haupt- und Residenzstadt durchschlugen und unter Lebensgefahr die russische Artillerie hämmerte bereits auf die Stadt - einen Kranz am Grab des Philosophen niederlegte. Da Königsberg am 10. April 1945 kapitulierte, dürfte dieser Akt der Pietät Kant und all seinen verstorbenen Freunden in der Gesellschaft gegenüber die letzte Handlung gewesen sein, die die Bohnengesellschaft offiziell in Königsberg vollzogen hat. Die infernalischen Zustände der drei kommenden Jahre bis zum Abtransport der deutschen Zivilbevölkerung 1948 hatten nur ein Thema: es hieß bloßes Überleben - umso anrührender ist es, in den Berichten alter Königsberger über jene Tage hin und wieder zu lesen, daß sie sich privat mit Wehmut ihres größten Bürgers, als eines Repräsentanten einer besseren Zeit und eines gesitteten Geistes, erinnerten.

Die dritte Epoche unserer Gesellschaft beginnt bereits ein Jahr nach Schumachers letztem offiziellen Akt. Laut Frhn. von Brauns Bericht im Jahrbuch der Albertus-Universität wurde bereits 1946 in der Göttinger Wohnung des Universitätskurators Hoffmann die Gesellschaft neu begründet: anwesend waren u. a. Nicolai Hartmann und Wilhelm Kamiah. Ich zitiere: "Sogar eine Torte gab es, Frau Kurator hatte sie geschaffen, jeder der Sodalen mußte freilich eine Tüte Mehl mitbringen, man schrieb ja 1946! Die erste Bohne nach neuem Rechte fand Herr Stavenhagen.".20 Was die Gesellschaft alles in den Jahrzehnten ihrer Nachkriegs-Existenz geleistet hat, muß hier nicht erläutert werden. Durch die glückliche Verbindung mit dem Göttinger Arbeitskreis konnte von Anfang an über das Leben der Gesellschaft in den Jahrtüchern der Albertus-Universität berichtet werden. Welche Gesellschaft ähnlicher Art wie die unsere kann auf eine fast ungebrochene 180-jährige Arbeit zurückblicken? In der Tat: wir können mit Genugtuung zurückblicken. Wie eine traditionsbewußte Familie ihrem Urahn in ungebrochener Generationenfolge sich verbunden weiß, so wissen wir uns in direkter Filiation dem Denker Immanuel Kant als dem Stammvater unseres Hauses verbunden, wenn wir uns jedes Jahr anläßlich seines Geburtstages - gutem Familienbrauch gemäß - auf ihn: auf seine Person und auf sein Werk, auf seine säkulare Philosophie und deren Wirkungsgeschichte besinnen. Familienfeste sind anderer Natur als wissenschaftliche Tagungen oder heimaterinnernde Treffen. Familien brau20

Götz von Seile, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, Bd. VII, S. 337.

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chen ihren Zusammenhalt nicht durch Statute zu regeln, ohne daß schon das Chaos ausbräche - und diese Gesellschaft steht eh im Zeichen der Humanität, die Kant selbst als die "Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens, mit der Tugend im Umgange"21 bestimmte. Familien sind freilich stärker als andere menschliche Sozialformen der Zerreißprobe geschichtlicher Katastrophen ausgesetzt, die über Fortbestand oder Untergang entscheiden. Die Apokalypse, die über Königsberg 1945 hereinbrach, und der Stadt ein Jahr später das letzte nahm, was sie hatte: ihren Namen, war die ärgste Zerreißprobe, deren Kants intellektuelle Familie, unsere Gesellschaft, unterworfen wurde. Die Gesellschaft hat dieser Zerreißprobe standgehalten. Wurde ihr auch ihr angestammter geographischer Sitz Königsberg, als der nach Kants Worten "schickliche Platz" für seine eigene und für die Existenz seiner Freunde geraubt - das Reich, das Kant ihr vermachte, das Reich, dessen sie sich im geselligen Umgang Jahr für Jahr versichert: das Reich vorgelebter Weisheit und Humanität: dies Reich wird ihr - wird uns doch bleiben.

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Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 7, S. 277. ebd. S. 121.

DIE BETEILIGUNG DER BUNDESLÄNDER AN DER AUSSENPOLITIK* Von Walter Rudolf

Vorbemerkung In der Gesellschaft der Freunde Kants müßte ein Völkerrechtsjurist, zumal ein Doktorand von Herbert Kraus, seine "Bohnenrede" eigentlich über ein Friedensthema halten. So böte sich an, das Wirken der Vereinten Nationen an den Definitivartikeln von Kants Ewigem Frieden zu messen. Wenn dies nicht geschieht, so deshalb, weil Kants philosophischer Entwurf zum Ewigen Frieden schon Gegenstand der "Bohnenrede" von Herbert Kraus war. Zudem sollte mit der "Bohnenrede" kein Pessimismus verbreitet werden; denn gemessen an den drei Definitivartikeln von Kants Ewigem Frieden bieten die Vereinten Nationen nicht gerade ein erhebendes Bild. Die bürgerliche Verfassung der Mitgliedstaaten der UNO ist nur in den wenigsten republikanisch im Sinne Kants, wonach den Bürgern ein verfassungsmäßiger Anteil an der Staatsgewalt zu gewähren ist. Das foedus pacificum des zweiten Definitivartikels, das alle Kriege auf immer zu endigen sucht, vermag die UNO bisher nicht zu realisieren. Und von dem auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkten Weltbürgerrecht ist die Realität des Fremdenrechts vor dem Hintergrund politischer Flüchtlinge in allen Teilen der Welt weit entfernt. Am ehesten ist die UNO noch dem Schutz der Entwicklungsländer vor imperialistischen Tendenzen verpflichtet. Unter diesen Umständen soll nicht eine unvollkommen gebliebene und insoweit wenig erfreuliche Realität mit dem idealen Konzept Kants konfrontiert, sondern möchte vielmehr ein Gegenstand behandelt werden, dessen Problematik als solche zur Zeit Kants mit der Bildung der Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist. Es geht um das aktuelle Thema der Beteiligung der Bundesländer an der Außenpolitik. Dieses Thema ist aktuell wegen der kontroversen Diskussionen zwischen der Bundesregierung und den Ländern anläßlich des Zustimmungsverfahrens zum Vertrag über die Europäische Akte im vergangenen Jahr, wegen der Errichtung von Vertretungen der *

"Bohnenrede" in der Gesellschaft der Freunde Kants am 3. April 1987. 7*

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Länder in Brüssel und schließlich wegen der häufigen Besuche von Ministerpräsidenten und Landesministern im Ausland. Es ist ein Thema, das übrigens auch Herbert Kraus beschäftigt hat; denn die Stellung der Länder im Gefüge der auswärtigen Gewalt des Bundesstaates war auch Gegenstand seiner rechtswissenschaftlichen Forschungen. Der Vortrag wird in vier Fragenkomplexen erörtern: 1.

die Mitwirkung der Länder bei Verträgen des Bundes mit auswärtigen Staaten;

2.

die eigenen Verträge der Länder mit auswärtigen Staaten;

3.

die Beteiligung der Länder an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften; und

4.

die sonstigen außenpolitischen Aktivitäten der Länder, insbesondere die Errichtung von Vertretungen und die amtlichen Besuche von Ministerpräsidenten und Ministern der Länder im Ausland.

I. Mitwirkung der Länder bei Verträgen des Bundes mit auswärtigen Staaten Eine ausdrückliche Beteiligung der Gliedstaaten eines Bundesstaates an dessen Außenpolitik gibt es nur bei den wenigsten Bundesstaaten. Außenpolitisch stellt sich ein Bundesstaat nicht anders dar als ein Einheitsstaat; denn Teilnehmer am völkerrechtlichen Verkehr der Staaten ist immer der Bund. Aus internationaler Sicht ist es grundsätzlich gleichgültig, wie ein Staat organisiert ist, ob als Einheitsstaat, als Bundesstaat oder als Staat mit autonomen Regionen. Allein die Sowjetunion bildet insoweit eine markante Ausnahme, als zwei ihrer Gliedstaaten, nämlich die Ukraine und Weißrußland, Mitglieder der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen sind. Aber nicht nur in Kiew und Minsk gibt es "Außenministerien", sondern in allen Teilrepubliken der Sowjetunion, die freilich nur wenige Kompetenzen besitzen und mit dem Moskauer Außenministerium kaum zu vergleichen sind. Im übrigen sind solche Landesaußenministerien nichts Neues; denn auch im Deutschen Reich nach 1871 gab es neben dem Auswärtigen Amt in Berlin zunächst noch Außenministerien in einigen deutschen Staaten, die für Beziehungen zu auswärtigen Staaten zuständig waren und erst nach und nach abgeschafft wurden. Unser Grundgesetz bestimmt ausdrücklich, daß die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten Sache des Bundes ist. Verträge mit auswärtigen

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Staaten werden gem. Art. 59 Abs. 1 vom Bundespräsidenten geschlossen, was einer allgemeinen Regel des Völkerrechts entspricht, daß nämlich das Staatsoberhaupt stets Repräsentant seines Staates zum Abschluß von Verträgen ist. Der Bundespräsident bedarf indes bei allen politischen Tätigkeiten der Gegenzeichnung der Bundesregierung, so daß über Verträge mit auswärtigen Staaten tatsächlich der für die Richtlinien der Außenpolitik zuständige Bundeskanzler bzw. im Rahmen seiner Ressortzuständigkeit der Außenminister oder im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt der zuständige Bundesminister entscheidet. Bei Verträgen, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder Gegenstände der Bundesgesetzgebung betreffen, ist ein Bundesgesetz notwendig und damit die Zustimmung des Bundestages und die Mitwirkung und ggf. auch die Zustimmung des Bundesrats als Organ des Bundes, in dem die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Doch damit nicht genug: Auch bei den Verwaltungsabkommen ist der Bundesrat beteiligt, wenn das Verwaltungsabkommen eine Regelung enthält, die der Zustimmung des Bundesrats bedarf, was nicht selten der Fall ist. In allen diesen Fällen entscheidet der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen, so daß eventuell ein vom Vertrag besonders betroffenes Land überstimmt werden kann. Um Länder zu berücksichtigen, deren besondere Verhältnisse durch einen Vertrag berührt werden, bestimmt Art. 32 Abs. 2 des Grundgesetzes, daß diese Länder vor Abschluß eines Vertrages rechtzeitig zu hören sind. Das betroffene Land wird also nicht nur im Bundesrat mit der Sache befaßt, sondern darüber hinaus unmittelbar angehört. Bestritten ist, ob das so betroffene Land dem Vertrage zustimmen muß oder ob sich die Bundesregierung nach der Anhörung über die Auffassung des Landes hinwegsetzen kann. Die Frage ist akut gewesen beim deutsch-französischen Vertrag aus dem Jahre 1962 über die Abtretung des Mundatwaldes, eines knapp 7 km 2 großen unbewohnten Waldgebietes nördlich von Weißenburg/Elsaß, das seit 1815 zu Bayern und somit seit 1871 zum Deutschen Reich und nach der Bildung des Landes Rheinland-Pfalz 1947 zu diesem gehörte. Gegen die Abtretung protestierte das Land Rheinland-Pfalz, das von der Bundesregierung angehört worden war. Die juristische Frage lautet, ob der Bund den Mundatwald ohne Zustimmung des Landes Rheinland-Pfalz abtreten durfte oder nicht. Die Frage brauchte nicht entschieden zu werden, da der einschlägige deutsch-französische Vertrag von 1962 von der Bundesrepublik nicht ratifiziert wurde und damit nicht in Kraft trat. Das Mundatwaldproblem ist inzwischen aufgrund eines deutsch-französischen Notenwechsels von 1984 und eines Bundesgesetzes von 1986 gelöst worden. Die Gebietshoheit über den 1949 von den Alliierten Frankreich übertragenen Wald ist nach deutscher

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Auffassung bei Deutschland verblieben, nach französischer Auffassung an Deutschland zurückübertragen worden. Da der Bund nicht nur Verträge mit auswärtigen Staaten auf den Gebieten schließt, die in seine Gesetzgebungskompetenz fallen, sondern auch auf Gebieten, für welche die Länder die Gesetzgebungskompetenz haben - z. B. auf den Gebieten des Bildungswesens und der Kultur - müssen die Länder auch insoweit beteiligt werden. Hier reicht die Beteiligung über den Bundesrat nicht aus; denn hier handelt es sich um ureigenste Kompetenzen der Länder, die der Bund nur gegenüber dem Ausland, nicht aber innerhalb der Bundesrepublik ausübt. Weil das so ist, darf der Bund nur mit Zustimmung der Länder - und zwar aller Länder - tätig werden. In der Praxis hat sich bisher ein Verfahren bewährt, das zwischen dem Auswärtigen Amt und den Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder 1957 in Lindau abgesprochen wurde. Der Bund beteiligt die Länder vor Abschluß eines Vertrages über Gegenstände der Landesgesetzgebung oder eines Vertrages, der Länderinteressen besonders berührt, indem er sie rechtzeitig über die Vertragsabsicht und sodann über das Ergebnis der Verhandlungen informiert und ihre Zustimmung einholt. Das geschieht im Rahmen einer Vertragskommission, der je ein Beamter jeder Landesvertretung beim Bund in Bonn angehört. Die Vertragskommission wird vom Auswärtigen Amt unterrichtet, ihre Vertreter unterrichten ihrerseits ihre Landesregierungen, die sich wiederum über die Vertragskommission gegenüber dem Auswärtigen Amt artikulieren. Bei Kulturabkommen wird zusätzlich die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder eingeschaltet. Dem Bund kann für den Vertragsabschluß mit dem auswärtigen Staat nur grünes Licht gegeben werden, wenn alle Länder in der Vertragskommission und in der Kultusministerkonferenz zugestimmt haben. Daß dieses Verfahren nicht schnell funktionieren kann, liegt auf der Hand, doch besteht Einigkeit, daß es sich letztlich bewährt hat, wenngleich auch hin und wieder Klagen laut werden, daß die Länder nicht rechtzeitig gehört wurden. Jedenfalls sind Änderungsvorschläge, etwa hier dem Bund größere Kompetenzen zu geben, so wie es auch in allen übrigen Bundesstaaten der Welt der Fall ist, wegen des Widerstands der Länder nicht weiter verfolgt worden. Andererseits ist aber auch eine Anregung der EnquêteKommission Verfassungsreform des Bundestags aus den 70er Jahren, das Verfahren nach der Lindauer Absprache im Grundgesetz zu verankern, in der Versenkung verschwunden. Nach Abschluß des Kulturabkommens durch den Bund sind die Länder, die dem Bund in der Vertragskommission ihre Zustimmung erteilt haben, nach dem Grundsatz der Bundestreue verpflichtet, die nötigen Maßnahmen zu treffen, um das Abkommen auch innerstaatlich vollziehen zu können. Die süddeutschen Länder sind bereits in den 60er Jahren dazu übergegangen, zu

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einem solchen Bundesvertrag über Gegenstände der Landesgesetzgebung zur Ausführung des die Landesgesetzgebung betreffenden Teils eigene Landesgesetze zu erlassen. Um den Landesgesetzgeber, in dessen Zuständigkeit an sich die Materie gehört, rechtzeitig zu beteiligen, pflegt ζ. B. die Landesregierung von Rheinland-Pfalz den Landtag schon ganz frühzeitig über die Vorhaben des Bundes zu informieren und über das Verhandlungsergebnis mit dem auswärtigen Staat zu unterrichten. Der Bund bedient sich im übrigen bei Vertragsverhandlungen durchaus auch des Sachverstandes in den Ländern, indem er Beamte der Länder in seine Verhandlungsdelegation aufnimmt, die im Verkehr mit dem auswärtigen Staat freilich an die Weisungen des Delegationsleiters gebunden sind. Es ginge nicht an, daß die Länder über Beamte in Verhandlungsdelegationen des Bundes gegenüber dem Ausland Außenpolitik betreiben.

II. Eigene Verträge der Länder mit auswärtigen Staaten Im Gegensatz zu den meisten übrigen Bundesstaaten der Erde erlaubt unser Grundgesetz den Ländern, mit auswärtigen Staaten selbst Verträge abzuschließen, soweit den Ländern die Gesetzgebung zusteht. Eine so weitgehende Zuständigkeit von Gliedstaaten eines Bundesstaates besitzen sonst nur noch die Schweizer Kantone, die Unionsrepubliken der UdSSR und die Staaten der USA, und demnächst die österreichischen Bundesländer. Verträge der Länder bedürfen freilich der Zustimmung der Bundesregierung. Dadurch wird eine Art von Aufsicht über das Vertragsschließungsrecht der Länder durch den Bund gewährleistet. Die zwischen dem Bund und den Ländern juristisch unentschiedene Frage, ob über Gegenstände der Landesgesetzgebung nur die Länder - so deren Auffassung - oder auch die Länder neben dem Bund - so die Meinung des Bundes - Verträge schließen können, ist durch die Lindauer Absprache entschärft und kann also in der Praxis offen bleiben. Von ihrem Vertragsschließungsrecht haben die Länder nur wenig Gebrauch gemacht. Schleswig-Holstein, Bremen und Hessen haben bislang überhaupt keine Verträge mit auswärtigen Staaten geschlossen. Hamburg hat einen Vertrag mit Liberia über die Einrichtung einer medizinischen Forschungsstation unterzeichnet, Niedersachsen mit der Volksrepublik China gemeinsame Protokolle über die weitere Zusammenarbeit vereinbart und Berlin mit Frankreich ein Abkommen über das französische Gymnasium geschlossen. Die übrigen Länder, nämlich Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Nordrhein-Westfalen, sind mit ihren Nachbarstaaten vertragliche Beziehungen über nachbarschaftliche Zusammenar-

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beit auf unterschiedlichen Gebieten eingegangen - ζ. Β. des Natur- und Umweltschutzes und des Rettungswesens. Bei den Vertragsverhandlungen können sich die Länder der Hilfe des Bundes bedienen, weil sie selbst über keinen auswärtigen Dienst verfügen. In Österreich sieht eine Verfassungsänderung vor, daß die Bundesländer Verträge mit auswärtigen Staaten durch den Bundespräsidenten abschließen. Betrachtet man sämtliche völkerrechtliche Verträge der deutschen Länder, dann stellt man sehr schnell fest, daß die Länder auch auf ihrem ureigensten Feld der Gesetzgebung das Vertragsschließungsrecht dem Bund überlassen haben, der vor allem die Kulturabkommen abschließt. Es sind meist Angelegenheiten örtlicher und regionaler Zusammenarbeit auf nicht gewichtigen Gebieten, über die die süd- und westdeutschen Länder Verträge abgeschlossen haben. Außenpolitisch fallen diese Verträge nicht ins Gewicht. Neben diesen völkerrechtlichen Verträgen gibt es Abmachungen der Länder mit auswärtigen Staaten, die juristisch schwer einzuordnen sind. Da sind einmal Partnerschaftsabmachungen zu nennen, die wohl überhaupt keine rechtlichen Verbindlichkeiten enthalten, also gleichsam in einer außerrechtlichen Sphäre liegen, so ζ. B. zwischen Bayern und Kroatien, einer jugoslawischen Teilrepublik, oder zwischen Rheinland-Pfalz und Burgund, einer Region des französischen Einheitsstaates. Kroatien und Burgund können aufgrund der jugoslawischen bzw. französischen Verfassung überhaupt keine völkerrechtlichen Verträge abschließen. Diese Partnerschaftsabmachungen sind vergleichbar den Absprachen über Städte- und Universitätspartnerschaften, deren rechtlicher Gehalt gleich Null ist, die aber trotzdem partnerschaftliche Kooperation und internationale Freundschaft nicht nur zwischen den Amtsträgern, sondern meist auch zwischen weiten Teilen der Bevölkerung in einer Weise gefördert haben, wie wir es uns vor einer Generation kaum hätten vorstellen können. Der Umfang internationaler Zusammenarbeit auf dieser unteren Ebene ist geradezu imponierend, wenn man bedenkt, daß allein in Rheinland-Pfalz mit seinen 3,8 Mio. Einwohnern über 200 Gemeinden und Gemeindeverbände Partnerschaften mit französischen Kommunen geschlossen haben, meist im Rahmen der Freundschaft RheinlandPfalz/Burgund. Der Austausch und die Zusammenarbeit etwa zwischen den Städten Mainz und Dijon und zwischen den Universitäten in diesen Städten sind so umfangreich und lebendig, daß sie ein außenpolitisches Kapital darstellen, das ohne weitere Beteiligung des Bundes entstanden ist, nachdem einmal durch das deutsch-französische Kulturabkommen und später den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag außenpolitisch die Weichen gestellt waren. In diesem Zusammenhang ist auf ein völlig neues Phänomen hinzuweisen: Die partnerschaftliche Zusammenarbeit von parlamentarischen Körperschaften im regionalen Bereich. Außenpolitische Beziehungen sind zwar

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auch im Bund nicht allein auf die Regierung beschränkt, da auch der Bundestag in internationale Beziehungen eingebunden ist, nämlich über die Interparlamentarische Union, die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die Versammlung der Westeuropäischen Union, die Nordatlantische Versammlung, die Konferenz der Parlamentspräsidenten der Europaratsländer und der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft und 28 bilaterale Parlamentariergruppen. Im letzten Jahr haben nun das luxemburgische Parlament, die Landtage von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes und die regionalen Vertretungskörperschaften der französischen Region Lothringen und der belgischen Provinz Luxemburg ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit getroffen, das einen Gedankenaustausch in einem von diesen Körperschaften zu gleichen Teilen beschickten Gremium vorsieht. Volksvertreter eines nationalen Parlaments, zweier deutscher Landtage und je einer Vertretungskörperschaft einer französischen Region und einer belgischen Provinz werden sich abwechselnd in Luxemburg, Mainz, Saarbrücken, Metz und Ar Ion zu gemeinsamen Sitzungen treffen, um gemeinsam interessierende Fragen zu erörtern - eine Abmachung, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Rechtliche Verbindlichkeit kommt diesem Gentlemen's Agreement allerdings nicht zu; sie kann ihm auch gar nicht innewohnen, da es sonst aus verfassungsrechtlichen Gründen nach dem Recht aller beteiligten Staaten außer Luxemburg rechtswidrig wäre. Nachdem sich Hamburg schon 1971 in dem bereits genannten Vertrag mit Liberia und im übrigen alle Länder sehr aktiv im Rahmen der vom Bund mit Entwicklungsländern geschlossenen Abkommen in der Entwicklungshilfe betätigt hatten, hat das Land Rheinland-Pfalz im Jahre 1982 erstmals einen Briefwechsel über besondere Beziehungen partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit dem ostafrikanischen Staat Ruanda vereinbart; Niedersachsen folgte im November des gleichen Jahres mit einer Absprache mit dem Sudan. Da für die Entwicklungshilfe überwiegend der Bund zuständig ist, aber Nischen bleiben, die nur von den Ländern ausgefüllt werden können, müßte, um die ganze Palette der Entwicklungshilfe abzudecken, an sich ein Vertrag zu dritt zwischen dem Entwicklungsland, der Bundesrepublik und dem deutschen Land geschlossen werden. Ein solcher Vertrag à trois ist aber nur ein einziges Mal 1952 zwischen der Bundesrepublik, Bayern und Österreich zustande gekommen. Seitdem hat der Bund Wert darauf gelegt, sich an Verträgen der Länder mit auswärtigen Staaten ebensowenig zu beteiligen, wie er die Länder als dritten Vertragspartner bei seinen Abkommen mit ausländischen Staaten akzeptiert. Um gleichwohl die partnerschaftliche Zuammenarbeit zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda zu ermöglichen, die auch im Interesse des Bundes lag, wurde ein völlig neuer Weg gewählt. Mit Billigung des Auswärtigen Amtes wurde ein Briefwechsel zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda vereinbart, wobei sich die Briefe des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten

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und des ruandischen Außenministers von einem normalen völkerrechtlichen Briefwechsel bereits in der Form unterschieden, da nicht zwei gleichlautende übereinstimmende Willenserklärungen, sondern sich gegenseitig ergänzende Äußerungen der beiden Beteiligten zu Papier gebracht und ausgetauscht wurden. Es handelt sich dabei um einen Akt sui generis , der völkerrechtlich nur insoweit relevant sein könnte, als das Land über Gegenstände seiner Gesetzgebung mit Ruanda paktiert hat. Aber selbst das ist nicht der Fall. Der Vertrag ist vielmehr ein reines Gentlemen's Agreement ohne rechtliche Verbindlichkeit, weshalb auch der rheinland-pfälzische Landtag über die Partnerschaft nur informiert, aber nicht um Zustimmung gebeten wurde. Nichtsdestotrotz hat sich diese Partnerschaft innerhalb kürzester Zeit äußerst fruchtbar gestaltet, wofür zahlreiche Partnerschaften von Gemeinden, Schulen, berufsständischen Organisationen und Einrichtungen auf gesellschaftlicher Ebene einen überzeugenden Beleg bieten. Der Briefwechsel hat entwicklungspolitisches Interesse geweckt und ungeahnte Hilfsbereitschaft initiiert und mobilisiert.

III. Die Beteiligung der Länder an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften Das Verhältnis der Länder zur Europäischen Gemeinschaft stellt sich nicht anders dar als das im allgemeinen völkerrechtlichen Verkehr. Mitglied der drei EG-Verträge ist die Bundesrepublik Deutschland und sind nicht die Bundesländer, die im Verhältnis zur EG vollständig mediatisiert sind. Der Bund besitzt zudem verfassungsrechtlich die sog. Integrationskompetenz; denn er kann durch einfaches Bundei^esetz ohne Zustimmung des Bundesrats Hoheitsrechte auf internationale Organisationen übertragen, wovon er durch die EG-Verträge Gebrauch gemacht hat. Er kann auch Kompetenzen der Länder ohne deren Zustimmung auf die Europäischen Institutionen überleiten. Aber auch im EG-Bereich sind die Länder, und zwar ausschließlich die Landesregierungen, am Rechtsetzungsverfahren beteiligt, soweit daran die Bundesrepublik mitwirkt. Es handelt sich also nur um eine interne Beteiligung, die gem. Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zu den Römischen Verträgen von 1957 (EWG und EURATOM) durch den Bundesrat erfolgt. Art. 2 dieses Zustimmungsgesetzes sieht vor, daß die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat über die Entwicklung im Rat der Europäischen Gemeinschaften laufend unterrichtet. Soweit durch den Beschluß des EGRats in Brüssel innerdeutsche Gesetze erforderlich werden oder in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht geschaffen wird, soll die Unterrichtung vor der Beschlußfassung des EG-Rats erfolgen. Dieses

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Informatiönsverfahren ist gegen die Bedenken des Landes Nordrhein-Westfalen von den Ländern im Bundesrat gebilligt worden. Nordrhein-Westfalen sah die Interessen der Länder bei diesem Verfahren nicht genügend berücksichtigt. Dieses Verfahren hat freilich nicht so funktioniert, wie es sich die Länder ursprünglich vorgestellt hatten. Auch die Einrichtung eines Länderbeobachters bei der EG brachte letztlich keine allseits befriedigende Lösung. Durch den Länderbeobachter, einen Beamten des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministeriums, dessen Büro bei der baden-württembergischen Vertretung in Bonn eingerichtet ist, werden zwar die einzelnen Länder noch schneller informiert als durch den Bund unmittelbar, doch reicht den Ländern diese Beteiligung an der Willensbildung der Bundesregierung im Rat der EG nicht aus. Nach mühseligen Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Landesregierungen einigte man sich schließlich im Jahre 1979 auf ein Verfahren, das allerdings nicht durch Vereinbarung - vergleichbar der Lindauer Absprache - fixiert wurde, sondern in einer einseitigen Erklärung des Bundeskanzlers bestand, die dieser im September 1979 abgab. Danach sollten die Länder die Möglichkeit erhalten, ihren Standpunkt eingehend und umfassend darzustellen. Der Bund geht davon aus, daß sich die Länder bemühen, ihren Beitrag in die außen- und integrationspolitischen Zielsetzungen und Notwendigkeiten des Bundes einzuordnen. Er werde sich seinerseits bemühen, mit den Ländern zu einem einvernehmlichen Standpunkt zu gelangen, um diesen im Laufe der Verhandlungen im Rat der EG soweit wie möglich einzubringen und durchzusetzen. Vom Standpunkt der Länder werde der Bund nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen und, falls das der Fall sein sollte, dies den Ländern begründet mitteilen. Auch werde der Bund auf Verlangen der Länder zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien der Europäischen Kommission und des Rates der EG zwei Vertreter der Länder hinzuziehen, soweit ihm dies möglich sei. Die einseitige Erklärung von Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde vom Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Ministerpräsident Johannes Rau von Nordrhein-Westfalen, akzeptiert - unbeschadet der nicht übereinstimmenden Rechtsauffassungen von Bund und Ländern. Dieser Vorbehalt schien den Ländern unerläßlich. Das von den Ländern mit dem Bundeskanzler vereinbarte Verfahren wird seit 1980 praktiziert, wobei sich vor allem die Einrichtung des Länderbeobachters bei der EG bewährt hat, der häufig in Brüssel selbst präsent ist. Mit der Erweiterung der Kompetenzen der EG durch die Einheitliche Europäische Akte von Luxemburg vom 28. Februar 1986 wurden die Länder aufgeschreckt, weil nunmehr weitere Hoheitsrechte von ihnen genommen und auf die europäischen Institutionen übertragen werden konnten. Bei der

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Beratung des Zustimmungsgesetzes sah sich die Bundesregierung im Bundesrat der Phalanx aller Länder gegenüber, die als Kompensation für den möglichen Verlust ihrer Kompetenzen an Brüssel weitere Mitwirkungsrechte im Rahmen der deutschen Beteiligung an allen Verfahren der EG forderten. Die Kontroverse zwischen Bund und Ländern spitzte sich derart zu, daß zeitweise die Ratifikation der Einheitlichen Europäischen Akte durch die Bundesrepublik Deutschland gefährdet erschien, weil der Bundesrat seine Zustimmung verweigern würde. Zur Lösung der Probleme bot sich zunächst an, auch für EG-Vorhaben ein Verfahren entsprechend dem der Lindauer Absprache zu entwickeln. Das hätte bedeutet, daß in allen EG-Angelegenheiten, die Gegenstände ursprünglicher Gesetzgebungskompetenz der Länder betreffen, die einstimmige Zustimmung aller Länder erforderlich wäre, ehe die Bundesregierung sich in den europäischen Gremien äußern kann. Ein solches Verfahren wurde nicht nur vom Bund, sondern auch von einigen Ländern, an der Spitze von Bayern, abgelehnt. Stattdessen wurde eine Bundesrats-Lösung akzeptiert, die schließlich im Zustimmungsgesetz vom 19. Dezember vorigen Jahres ihren Niederschlag gefunden hat. Nach Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte wird die Bundesregierung den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle Verfahren im Rahmen der EG, die für die Länder von Interesse sein können, unterrichten. Die Bundesregierung gibt vor ihrer Zustimmung bei Beschlüssen der EG, die ganz oder in einzelnen Bestimmungen ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betreffen oder deren wesentliche Interessen berühren, dem Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme binnen angemessener Frist und berücksichtigt diese Stellungnahme bei den Verhandlungen. Soweit eine Stellungnahme ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft, darf die Bundesregierung hiervon nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Im übrigen bezieht sie die vom Bundesrat vorgetragenen Länderbelange in ihre Abwägung ein. Im Falle einer Abweichung von der Stellungnahme des Bundesrats zu einer ausschließlichen Gesetzgebungsmaterie der Länder und im übrigen auf Verlangen teilt die Bundesregierung dem Bundesrat die dafür maßgeblichen Gründe mit. Ist dem Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, sind auf Verlangen Vertreter der Länder zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien der Kommission und des Rates hinzuzuziehen, soweit der Bundesregierung dies möglich ist. Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung werden durch eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern geregelt, über die Bund und Länder sich bisher noch nicht geeinigt haben. Betrachtet man die politische Substanz der Neuregelung, dann fällt auf, daß die Länder als Ausgleich für den Verlust von Kompetenzen an die EG

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innerstaatlich Kompetenzen gegenüber dem Bund gewonnen haben, indem sie im Bundesrat an der deutschen Willensbildung für Brüssel stärker beteiligt werden. Die Beteiligung über den Bundesrat ist freilich atypisch und unsystematisch; denn der Bundesrat als Organ des Bundes kann an sich nicht zuständig sein für Angelegenheiten, welche die Ländergesetzgebung betreffen. Aber auch eine unsystematische Regelung kann, wenn sie sinnvoll ist, getroffen werden, sofern sie mit der Verfassung vereinbar ist. So ist ζ. B. Anfang der 70er Jahre in der Bundestags-Enquête-Kommission Auswärtige Kulturpolitik erörtert worden, das Lindauer Verfahren durch ein Bundesratsverfahren zu ersetzen, was dann allerdings wegen des Widerstands der Länder und systematischer Bedenken, die aus der Enquête-Kommission Verfassungsreform artikuliert wurden, nicht weiter verfolgt wurde. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die jetzige Regelung, die zunächst geäußert wurden, bestehen jedenfalls dann nicht, wenn man davon ausgeht, daß der Bund ohne Verfassungsänderung gesetzlich regeln kann, daß dem Bundesrat weitere Kompetenzen übertragen werden, auch wenn diese nicht im Grundgesetz erwähnt sind. Dies könnte mit der im Art. 50 des Grundgesetzes allgemein normierten Mitwirkung der Länder an Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes durch den Bundesrat begründet werden. Der Bund könnte somit regeln, daß der Bundesrat an der Ausübung der Integrationskompetenz stärker beteiligt wird, so daß diese bundesrechtliche Kompetenz nicht allein der Bundesregierung zustehen, sondern der Bundesrat an ihr partizipieren soll. Die Länder werden so über den Bundesrat in die Willensbildung der Bundesregierung einbezogen. Das neue Verfahren, das bislang noch nicht voll praktiziert wird, weil die Vereinbarung über die Details zwischen Bund und Ländern noch nicht geschlossen wurde, hat den Bundesrat bereits vor ein schwieriges Rechtsproblem gestellt. Es steht zu erwarten, daß der Bundesrat in europäischen Angelegenheiten sehr stark befaßt werden wird. Bisher tagte er nur etwa einmal monatlich. Da EG-Angelegenheiten aber zum Teil sehr schnell zu erledigen sind, wird es notwendig sein, daß der Bundesrat sich häufig und kurzfristig mit ihnen beschäftigt. Es ist deshalb angeregt worden, daß dann, wenn sich das Plenum des Bundesrats aus Zeitgründen mit einer Sache nicht befassen kann, ein Beschlußgremium an die Stelle des Plenums treten darf, das aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehen soll. Ob diese sich in Eilfällen auch durch Beamte vertreten lassen können, ist verfassungsrechtlich äußerst umstritten. Das würde bedeuten, daß abweichend von Art. 51 des Grundgesetzes, wonach der Bundesrat aus Mitgliedern der Regierungen der Länder besteht, im Ausnahmefall bei eilbedürftigen Angelegenheiten auch statt der Regierungsmitglieder Beamte Beschlüsse zu EG-Angelegenheiten fassen können. Ich halte dies nicht für zulässig.

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Auch in diesem Beschlußgremium des Bundesrats sollen die Stimmen der Länder entsprechend der ihnen im Plenum zustehenden Stimmzahl gewichtet werden. Während sonst in Bundesratsausschüssen jedes Land nur eine Stimme hat, soll in diesem Gremium für EG-Angelegenheiten wie im Plenum des Bundesrates verfahren werden, so daß die großen Länder fünf, die mittleren vier und die kleinen drei Stimmen haben. Im Rechtsausschuß des Bundesrats stimmten am 18. März dieses Jahres sieben Länder diesem Verfahren zu. Dagegen stimmten die Vertreter Bayerns, Bremens, Hamburgs und des Saarlandes. Das Plenum des Bundesrats hat sich mit der Angelegenheit bisher noch nicht beschäftigt; es wird sich aber mit ihr alsbald beschäftigen müssen, weil zur Einführung eines solchen Verfahrens eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrats notwendig ist. Das neue Verfahren unter Einschaltung des Bundesrats hat den Nachteil, daß in EG-Angelegenheiten im Bundesrat durch Mehrheit entschieden wird. Besonders betroffene Länder können also überstimmt werden. Sind freilich Kompetenzen berührt, die vor ihrer Übertragung auf die Brüsseler Instanzen Ländersache waren, dann können sich m. E. die im Bundesrat überstimmten Länder auch unmittelbar gegenüber der Bundesregierung äußern. Ob die Bundesregierung die Auffassung der überstimmten Länder berücksichtigt, ist freilich in ihr Ermessen gestellt. Daß die Länder letztlich für den Verlust ihrer Kompetenzen durch die Beteiligung des Bundesrats nicht voll entschädigt werden können, ist evident. Im Interesse der europäischen Integration wird man diese Demontage des Föderalismus hinnehmen müssen, wenn nur die Länder in ihrer Substanz als Staaten mit eigenen Gesetzgebungskompetenzen erhalten bleiben. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG endet aber dort, wo der Charakter der Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat verändert wird. Das ist aber bislang nicht der Fall.

IV. Sonstige außenpolitische Aktivitäten der Länder Ein Blick auf unser Grundgesetz genügt um festzustellen, daß neben dem Vertragsschließungsrecht der Länder über Materien ihrer Gesetzgebung und neben der internen Mitwirkung bei Verträgen des Bundes und bei der EGRechtsetzung über den Bundesrat oder nach der Lindauer Absprache keine weiteren außenpolitischen Kompetenzen der Länder bestehen. Wie eingangs schon erwähnt, ist der Bundesstaat außenpolitisch wie ein Einheitsstaat zu sehen. Die Länder sind - abgesehen von den genannten Ausnahmen - außenpolitisch mediatisiert.

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Wie erklären sich dann aber die außenpolitischen Aktivitäten, die von den Ländern gleichwohl entwickelt werden? Da sind zunächst die Vertretungen der Länder in einigen auswärtigen Staaten und bei der EG zu nennen. Daß Gliedstaaten eines Bundesstaates im Ausland diplomatische Vertretungen unterhalten können, ist grundsätzlich möglich, wenngleich es derzeit nirgendwo mehr vorkommt. Die Bundesländer des Deutschen Reiches, die vor der Gründung des Reichs 1871 bzw. des Norddeutschen Bundes 1867 souveräne Staaten waren, behielten ζ. B. das Recht zum diplomatischen Verkehr. Nur das Konsularwesen war nach Art. 56 der Reichsverfassung von 1871 Sache des Reichs. So unterhielt ζ. B. Bayern Gesandtschaften in Wien, Paris, London und beim Heiligen Stuhl bis zum Ende des Bismarckreichs bzw. bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs; Gesandtschaften dieser auswärtigen Mächte bestanden auch in München. Preußen unterhielt diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl, wobei der preußische Gesandte im Vatikan gegenüber der Kurie gleichzeitig Reichsinteressen wahrzunehmen hatte. Als Arabeske sei vermerkt, daß Preußen und einige andere Bundesländer Gesandtschaften auch untereinander unterhielten. Erst 1918 endete die Teilnahme der deutschen Länder am diplomatischen Verkehr, und in München ist der französische Gesandte sogar erst 1934 - nach der Gleichschaltung der Länder - abberufen worden. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes sind weder konsularische noch diplomatische Beziehungen der Länder zulässig. Wenn die Länder trotzdem in einigen auswärtigen Staaten Repräsentanten haben, so sind diese nicht diplomatische Vertreter, also Organe des völkerrechtlichen Verkehrs, sondern mehr oder weniger private Agenten zur Förderung der heimischen Wirtschaft. Die Vertreter Hamburgs und des Saarlandes in Brüssel, denen sich inzwischen Repräsentanten anderer Bundesländer zugesellt haben, sind unabhängig von ihrem rechtlich daraus unterschiedlichen Status zum Entsendestaat - wenn man diesen Terminus überhaupt verwenden darf - rein privatrechtlich agierende Vertreter der Länder, die sich von den Agenturen etwa des Amtlichen Bayerischen Reisebüros ebensowenig unterscheiden wie von den Repräsentanten von Industrieunternehmen wie Daimler-Benz, BASF oder Siemens oder wie Vertreter der deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. An dieser Charakterisierung ändert sich gar nichts, wenn die Ländervertreter in Brüssel nicht wie etwa die Repräsentanten von Rheinland-Pfalz in Texas oder Japan ihrem Status nach Privatleute sind, die sich die Exportförderung rheinland-pfälzischer Industrieprodukte und rheinland-pfälzischen Weins angelegen sein lassen, sondern als Beamte der jeweiligen Staatskanzlei, dem Wirtschaftsministerium oder der Landesvertretung in Bonn zugeordnet sind. Ob die Bundesrepublik Deutschland durch elf Ländervertreter

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in Brüssel letztendlich besser repräsentiert ist oder nicht, wird sich in Bälde zeigen. Skeptische Äußerungen gibt es genügend. Schließlich bedarf noch der "Staatsbesuch" von Ministerpräsidenten und Landesministern in auswärtigen Staaten der Erörterung. Geht man davon aus, daß die Pflege auswärtiger Beziehungen Sache des Bundes ist, so sind auch "Staatsbesuche" von "Landesfürsten" juristisch eine Bundesangelegenheit. Solche "Staatsbesuche" von Repräsentanten der Länder stellen sich vom internationalen Standpunkt nicht anders dar als Besuche von Vertretern kommunaler oder anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften wie z. B. von Bürgermeistern, Universitätspräsidenten, Kammervorstandsmitgliedern oder Rundfunkmanagern. Mag auch Anlaß eines offiziellen Besuchs von Landesministern die Förderung des jeweiligen Landes in den Beziehungen zum Ausland sein, so ist vom völkerrechtlichen Aspekt her ein solcher Besuch nicht bloß Repräsentation des betreffenden Bundeslandes. Ministerpräsidenten und Landesminister repräsentieren im Ausland ihr Land nicht als eigenes Völkerrechtssubjekt, sondern als regionalen Teil der Bundesrepublik. Ein solcher amtlicher Besuch ist völkerrechtlich nicht anders zu beurteilen als der offizielle Besuch eines regionalen oder lokalen Repräsentanten eines Einheitsstaates. Daraus folgt, daß Ministerpräsidenten und Landesminister im Ausland nicht Außenpolitik der Länder betreiben, sondern ihr Besuch im Interesse der Außenpolitik der Bundesrepublik liegen muß. Deshalb sind solche offiziellen Besuche auch mit dem Auswärtigen Amt abzusprechen. Sie müssen sich innerhalb des von der Bundesregierung bestimmten außenpolitischen Kurses bewegen. Im übrigen kann der Bund den Regierungschefs eines Landes - natürlich nur mit seinem Einverständnis - auch als Repräsentanten der Bundesrepublik zur Durchsetzung deutscher außenpolitischer Ziele einsetzen.

Schlußbemerkung Betrachtet man das Verhältnis von Bund und Ländern auf dem Feld der deutschen Außenpolitik, so ist abschließend festzustellen, daß Außenpolitik Sache des Bundes ist, und zwar in erster Linie der Bundesregierung. Über den Bundesrat und in geringem Umfange auch durch das Verfahren nach der Lindauer Absprache und durch offizielle Besuche von Ministerpräsidenten und Landesministern wirken die Länder an der deutschen Außenpolitik mit. Eigene Zuständigkeiten besitzen die Länder nur zum Vertragsschluß über Gegenstände ihrer Landesgesetzgebung, wobei sie sich in diesem Feld auch noch größter Zurückhaltung befleißigen und zudem die Bundesregierung durch ihr Zustimmungsrecht die Kontrolle über die Länderverträge be-

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hält. Daß die Länder über ihre Mitwirkungsrechte mitunter Einfluß auf die Außenpolitik nehmen können, ist für einen gut funktionierenden und stabilen Bundesstaat wie die Bundesrepublik Deutschland keine ungewöhnliche, sondern eine durchaus natürliche und erfreuliche Erscheinung. Daß die Länder es nun durchgesetzt haben, am Entscheidungsprozeß der EG indirekt über den Bundesrat beteiligt zu werden, ist auch zu begrüßen. Die EG verwirklicht das, was Kant in den drei Definitivartikeln zum Ewigen Frieden postuliert: Die rechtsstaatliche Verfassung in den Mitgliedstaaten, den Völkerstaat als Friedensbund, der gleichwohl kein Staat ist, und die Niederlassungsfreiheit und Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sowie die Einbeziehung der Entwicklungsländer in diese Wirtschaftsunion durch die Abkommen von Lomé. Im System des freiwilligen Föderalismus der EG-Staaten können die innerstaatlichen Gliederungen der Mitgliedstaaten entsprechend ihrer verfassungsrechtlichen Stellung nicht unberücksichtigt bleiben. Kant wollte nicht den Weltstaat, sondern den Völkerstaat. Er wollte nicht eine weltweite Nivellierung, sondern die Differenzierung; denn der Staat sollte eingebunden in das foedus pacificum bestehen bleiben. Die geschilderte Beteiligung der Länder am europäischen Rechtssetzungsprozeß dürfte der Kant'schen Sicht des foedus pacificum recht nahe kommen.

DIE ENTWICKLUNG DER STELLUNG DER FRAU SEIT DEM MITTELALTER* Von Ursula Star linger

Da ich als erstes weibliches Mitglied der bald 200 Jahre alten "Gesellschaft der Freunde Kants" heute die Ehre habe, als Bohnenkönigin zu sprechen, bitte ich Sie um Verständnis - und vielleicht auch den einen oder anderen um Nachsicht - wenn ich über die vor 200 Jahren durch die Aufklärung eingeleitete Emanzipation der Frauen spreche und deren Vorgeschichte erläutere. Wie das Buch von Theodor von Hippel über "die bürgerliche Verbesserung der Weiber" zeigt, war es ein Thema der Zeit und demnach gewiss auch des Kreises um Kant über dessen Idealbild der Frau, von dem Wilhelm Salewski uns 1979 in seiner Bohnenrede so ausgezeichnet unterrichtet hat. Ihnen allen ist ja bekannt, daß Theodor von Hippel ein Schüler und Freund Kants und "dirigierender Bürgermeister" von Königsberg war. Es ist heute im Zuge der Entwicklung der Frauenemanzipation üblich geworden, über die "jahrhundertelange Unterdrückung" der Frauen zu klagen offensichtlich ohne differenzierte Kenntnisse über die tatsächlichen Vorgänge und die geschichtliche Entwicklung der sozialen Stellung der Frauen in den vergangenen Jahrhunderten. Dankenswerterweise liegen heute eine Reihe von Arbeiten vor, wie die von Edith Ennen über "Die Frau im Mittelalter", Ute Frevert "Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit" oder Natalie Zemon Davis "Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit", um nur einige zu nennen. Aus allen diesen Arbeiten geht eindeutig hervor, daß es die Entwicklungen der Neuzeit und insbesondere die Industriealisierung im 19. Jahrhundert waren, die die Situation der Frauen wesentlich beeinflußten. Wenn Tacitus in seiner "Germania" das Bild der germanischen - also der mitteleuropäischen - Frau sicher idealisiert zeichnete, um dem dekadenten Rom einen Spiegel vorzuhalten, so ist doch unbestreitbar erkennbar, daß die

"Bohnenrede" in der Gesellschaft der Freunde Kants am 20. April 1990. *

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germanische Frau eine hochgeachtete, sehr eigenständige Stellung innerhalb der germanischen Stämme einnahm. Sie war zu Beginn der Zeitrechnung fraglos als die ebenbürtige Partnerin des Mannes anerkannt. Wenngleich ich nun nicht beabsichtige, die Entwicklung der Jahrhunderte bis zur Aufklärung darzustellen, so erlauben Sie mir bitte einige Berichte Edith Ennens über die Frau im Mittelalter hier vorzutragen, weil sie von besonderer Bedeutung für unser Problem, bzw. die Beurteilung der gesamten Entwicklung sind. Ennen stellt anhand der weit zurückreichenden städtischen Chroniken, die heute noch greifbar sind, ein hochinteressantes Bild der Situation der Frauen in den großen mittelalterlichen Städten, wie Hamburg, Köln, Lübeck und anderen, dar. Auf die differenzierte Darstellung der Kölner Situation der Frauen darf ich besonders eingehen. Frau Ennen berichtet u. a., daß sich die Kölner in der Schaffung des neuen Rechts besonders hervorgetan haben, und so entwickelten sie im 15. Jahrhundert grundlegende Neuerungen im Grundbuchwesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Einbeziehung der Bürgerinnen in wichtige persönliche Freiheitsrechte. Dazu gehörte ζ. B. die Unverletzbarkeit der Wohnung für alle Kölner und der Schutz des Hauses mit einem Kindbett vor Vollstreckung, der sich übrigens auch in Mainz findet. Das Nonevokationsrecht, d. h. das Verbot, Kölner vor auswärtige Gerichte zu laden, gilt ebenso für Bürgerinnen wie Eingesessene. Frauen besaßen entweder das Bürgerrecht selbstverständlich als Ehefrauen oder Witwen, Kölner Bürger oder auch als Neubürger, wenn sie, wie die Männer, das Bürgergeld bezahlten und den Bürgereid leisteten. Der Grund für die Frauen das Bürgerrecht zu erwerben, war vielfach der Wunsch nach einer bestimmten Berufstätigkeit, ζ. B. nach der Gewandschnittkonzession - das bedeutet, das Recht den Tuchhandel en detail zu betreiben. Das Zeugnis der Frau vor Gericht galt ebenso viel wie das des Mannes, ebenso ihre eidliche Aussage in Wirtschafts- und Handelsangelegenheiten. Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Bürgern anderer Städte, ζ. B. mit einem Antwerpener Kaufmann wegen mangelhafter Seidenlieferung, stellten die Kölner fest, daß in Antwerpen Frauen nicht vereidigt und vernommen werden durften, was in Köln selbstverständlich war. Ein Hinweis darauf, wie sehr dergleichen Regelungen Sache der gesellschaftlichen Entwicklung der Städte waren. Es gab noch keine allgemein verbindlichen Rechtsnormen auf diesem Gebiet. Männer und Frauen haben gleiche Testiergewohnheiten, stellt Ennen fest. Auch Nonnen und Beginen machten Testamente. Frauen konnten Testamentsvollstrecker und Vormund eigener und fremder Kinder sein.

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Die hohe Rechtsfähigkeit der Frauen bot die Voraussetzung dafür, daß sie in den Zünften zu Meisterwürden aufsteigen konnten. Sie waren mit wenigen Ausnahmen in fast allen Wirtschaftszweigen zu finden. Als Garnmacherin hatten sie eine Lehrzeit von vier Jahren zu absolvieren. Die Lehrfrau durfte nur einmal gewechselt werden. Die Seidenmacherinnen wählten jährlich zwei Frauen und zwei Männer als Zunftmeister. Ehepaare durften nicht gleichzeitig Zunftmeister sein. Der Anteil der Frauen am Gewürzimport lag 1460/68 je nach Gewürz zwischen 1,2 und 19,6 %. Unter den Messinghändlern machten fünf Frauen 14 % der Importeure aus und bestritten 19,2 % der Messingeinfuhren. Diese wenigen, doch sehr interessanten Beispiele der Kölner Verhältnisse im 14. und 15. Jahrhundert, die es in anderen Variationen auch in anderen Städten, wie Freiburg, Augsburg, Memmingen, gab, zeigen, daß bei einer derartigen Berufstätigkeit der Frauen, insbesondere im kaufmännischen und handwerklichen Bereich, von einer massiven Benachteiligung oder Unterdrückung wohl kaum die Rede sein konnte. Noch eine interessante Bemerkung: Während in der großen und bedeutenden Hansestadt Lübeck grundsätzlich bei Verschuldung Mann und Frau hafteten und auch das Brautgut der Frau nicht ausgenommen davon war, hatte sich der Kölner Rat im Dezember 1406 in einer "Morgensprache" mit der gegenseitigen Haftbarkeit der Eheleute in Schuldsachen befaßt. Das geschah auf Initiative der Frauen. Da sich Frauen vielfach geweigert hatten, Schulden ihrer Ehemänner zu bezahlen und sich in der Sache an das geistliche Gericht gewandt hatten, war der Rat verständlicherweise erbittert. Demgemäß lautete seine Entscheidung: "Beide Eheleute haften gleichmäßig und die Haftung überdauere auch den Tod." Die Frauen waren persönlich also sehr wohl in der Lage und auch willens, ihre Interessen zu vertreten. Jedoch war ihr persönliches Gewicht insofern gering, als sie dem Rat der Stadt nicht angehörten. Frau Ennen bemerkt, "daß sich die Kölner Frauen in staunenerregender Weise wirtschaftlich profiliert hatten, jedoch an Revolutionen, Unruhen, Kriegen und politischen Auseinandersetzungen keinen nachweisbaren Anteil genommen hätten". Ein Gegenstück zu Köln war Paris. Etienne de Boileau berichtet über die Bedeutung der Frauen im Seidengewerbe Mitte des 13. Jahrhunderts und konnte für Paris sechs reine Frauenzünfte nachweisen. Interessant die Schlußfolderung am Ende dieses Berichtes: "Es spricht viel dafür, daß durch die Berufstätigkeit der Frauen die Einkommensverhältnisse der Mittelschichten erheblich verbessert und den Männern die Wahrnehmung von Ehrenämtern, wie z. B. die Mitgliedschaft im Stadtrat, ermöglicht wurde." Si-

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cher kann man insofern auch durchaus Parallelen zu den heutigen wirtschaftlichen Entwicklungen ziehen. Der Wohlstand in breiten Kreisen unserer Bevölkerung ist sicher auch in hohem Maße den Millionen berufs- und erwerbstätigen Frauen zu verdanken, wie es bei den mittelalterlichen Städten im 13. Jahrhundert auch der Fall gewesen sein dürfte. Noch vor 20 Jahren lag der Anteil der erwerbstätigen Frauen im Alter von 15-65 Jahren in der BRD bei 32 %, inzwischen stieg er auf fast 50 %. Ich habe Ihnen die neueren Erkenntnisse über die soziale Situation der Frauen in mittelalterlichen Stadtgesellschaften so differenziert vorgetragen, weil ich seit Jahrzehnten beobachte - und Sie werden mir das sicher bestätigen - daß die allgemeine Auffassung der von Prof. Hagemann-White, FU Berlin, entspricht, die sie anläßlich eines Vortrages so formulierte: "Die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern seien fälschlicherweise vielfach als Restbestände einer jahrtausendealten Tradition anzusehen - sozusagen als Überbleibsel aus dem finsteren Mittelalter". Daß die Popularität der Geschlechtscharaktere und die Vorstellung von weiblichen und männlichen Sphären der Tätigkeit erst ein Produkt des industriellen Zeitalters sind, hat Karin Hansen in einer Arbeit, die in dem von Werner Conze herausgegebenen Werk "Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas" 1977 nachgewiesen. Es gab Frauenarbeit und Männerarbeit - beides war vielfach Schwerarbeit - wie lange noch im 20. Jahrhundert in der Landwirtschaft. Es waren unverzichtbar sich ergänzende Bestandteile eines Produktionsprozesses. Aber die Frau bekam und stillte die Kinder, versorgte Hof, Groß- und Kleinvieh, sorgte für die Mahlzeiten, bearbeitete den Garten, beaufsichtigte die Kinder - nicht weil sie gefühlvoller oder zarter besaitet war, sondern weil diese Arbeitsvorgänge einander ergänzten, räumlich einander zugeordnet waren. Und Hagemann-White: "Arbeitsteilung in der ständischen Gesellschaft war vielfach gegliedert und erschien lebenspraktisch sinnvoll. Das Geschlecht war nur ein Gliederungsprinzip unter vielen." Interessanterweise war es der Übergang zur Schul- und Hochschulausbildung, die zu einem Bildungsgefälle zwischen Männern und Frauen führte. Seit Ende des 15. Jahrhunderts entstanden auch in Mitteleuropa öffentliche Schulen und Universitäten. So wurde Heidelberg bereits 1386, Tübingen 1477 und die Albertina in Königsberg 1544 gegründet, wobei natürlich nicht zu vergessen ist, daß die italienischen Universitäten sehr viel früher gegründet wurden. Während die jungen Bürgersöhne sich der anspruchsvollen Ausbildung unterzogen und später in die entsprechenden Positionen einzogen -

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in die Stadträte, landesherrlichen Kollegialbehörden, sich als Juristen, Ärzte usw. niederließen bzw. bestätigten -, war den Frauen eine vergleichbare Entwicklung verwehrt und damit auch die Erreichung vergleichbarer Positionen. Hier spielten auch finanzielle Überlegungen eine Rolle. Im Gewerbe und Handwerk führte die Entwicklung neuer Produktionsformen dazu, daß die Zünfte sich gegen Frauenarbeit sperrten. Das wurde im 16. Jahrhundert sehr deutlich. "Daher sei in der Neuzeit vor 1918 die Benachteiligung der Frauen größer gewesen als im Spätmittelalter" - so Edith Ennen, d. h., die Frauen wurden von der geistigen Entwicklung weitgehend ausgeschlossen und praktisch auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter begrenzt bzw. als Arbeitskraft (ζ. B. die unverheirateten Töchter) in Familie, Landwirtschaft usw. eingesetzt. Es war die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der Lösung des Bürgertums aus der ständischen Gesellschaftsordnung und schließlich den ungeheueren Erschütterungen der französischen Revolution, die neue gesellschaftliche Positionen bestimmte. Alle Besonderheiten der Herkunft, der Religion und des Standes sollten bedeutungslos werden. Jetzt wurde auch die Stellung der Frau neu bestimmt und die Idee des Staatsbürgers entwickelt. Diese neuen gesellschaftlichen Kreise - geprägt durch die Philosophie der Aufklärung setzten sich für die volle Anerkennung der Frauen als geistige Partner ein. In seiner Bohnenrede 1979 hat Wilhelm Salewski zu dem Thema "Kants Idealbild der Frau", in der Gräfin Caroline von Keyserling und deren Großmutter Katharina von Rautter diesen Frauentyp, der in Ostpreußen durchaus nicht selten war, herausgestellt. Nicht nur die Emanzipation der Frauen wurde zunächst durch die Aufklärung gefördert, sondern auch die der Juden. Ich erinnere an Nathan den Weisen. Die positiven Entwicklungen, die insbesondere die Aufklärung den Frauen gebracht hatte, waren jedoch nicht von langer Dauer. Das 19. Jahrhundert der beginnenden Restauration und der Industriealisierung in Europa und besonders in Deutschland veränderte die sozialen Strukturen der Gesellschaft entscheidend. Und diese Veränderungen wirkten sich auf die Situation der Frauen und der Familie aus. Die zunehmende Mobilität der Bevölkerung und die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung bedeutete auf Dauer eine Reduzierung der Familie auf zwei Generationen. Damit wurden u. a. viele weibliche Arbeitskräfte freigesetzt, die nun ihrerseits nach Arbeitsplätzen in der Industrie suchten. Zwangsläufig fanden sie, unausgebildet wie sie waren, Arbeitsplätze in den unteren Lohngruppen, wo sie nach Körperkraft bezahlt wurden. Aber auch

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die Wege zum Arbeitsplatz waren oft weit, und Fußmärsche morgens und abends von mehr als jeweils einer Stunde waren keine Seltenheit. Ich weiß, daß ζ. B. die Frauen aus der Umgebung von Ludwigshafen, die vor 125 Jahren in der eben entstandenen BASF arbeiteten, gut und gern an einem Arbeitstag an die 30 km Weges hatten. Die sich ergänzende Partnerschaft von Mann und Frau in Landwirtschaft und Handwerk wurde zumindest im ganzen industriellen Bereich aufgelöst. Es entstanden ζ. B. in der Pfalz durch die Erbteilung nach dem "Code Napoleon" landwirtschaftliche Kleinstbetriebe, die kaum lebensfähig waren daher die großen Auswanderungen im 19. Jahrhundert nach Nordamerika. Die ländlichen Kleinstbetriebe wurden von den Frauen geführt, während die Männer in der Industrie arbeiteten. Die Ansprüche an die Ausbildung der Männer wurden laufend gesteigert und damit die Ausbildungskapazitäten ebenso, die Frauen erfuhren keine Angebote dieser Art. Man war der Meinung, daß sie ja doch heirateten und eine Ausbildung nur verschwendetes Geld sei, das besser für die Aussteuer zu sparen sei. Im bürgerlichen Bereich wurde aus der Partnerin der Aufklärung "die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder - sie waltete weise im häuslichen Kreise", wie die Romantik sie in Schiller's "Glocke" sah. Die Grundlage zu den 3 Κ "Kinder, Kirche, Küche" des eben zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts wurde hier gelegt. Ich wiederhole: Die Partnerin im gemeinsamen Betrieb, in Landwirtschaft und Handwerk verlor durch die Industrialisierung an Bedeutung, und die Frau im Bürgertum wurde immer stärker auf den Haushalt begrenzt, während der Mann draußen seinen Geschäften und Aufgaben nachging. Dies war auch die Zeit, da Frauen noch immer der Zugang zu den Bildungseinrichtungen weitgehend verwehrt wurde, die sie sich erst erkämpfen mußten. Es war übrigens auch die Zeit, in der die vielen Clubs und Vereine entstanden sind, die Männern vorbehalten waren und zu denen Frauen von vorneherein der Zugang verwehrt war - auch die "Gesellschaft der Freunde Kants" gehörte dazu. Ute Frevert schildert in ihrem Buch "Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit", dessen Titel sich an v. Hippels "Die bürgerliche Verbesserung der Weiber" anlehnt, die Situation im späten Biedermeier. "Herr Biedermeier saß eben nicht nur in der warmen Wohnstube, umrahmt von einer emsig strickenden Ehefrau und adrett gekleideten Kindern, sondern ging zu allererst seinen Geschäften nach und engagierte sich nach getaner Arbeit in Vereinen unterschiedlichster Zielsetzung. Kulturelle, kirchliche, wissenschaftliche, Krieger- und Turnvereine ent-

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standen in dieser Zeit ebenso wie berufliche und wirtschaftliche Assoziationen, Gewerbeförderungs-, Schul- oder Wohltätigkeitsvereine. Kaufleute, Ärzte, Handwerksmeister übernahmen ehrenamtliche Funktionen in der kommunalen Altenpflege, sammelten Geld für ein städtisches Museum und verbesserten ihre Leistungfähigkeit beim Barrenturnen." Das Bild biedermeierlicher Häuslichkeit und Familienidylle traf mithin, wenn überhaupt, nur auf die weiblichen Mitglieder dieser Häuslichkeit zu. Frauen und Töchter des Bürgertums waren in der Tat beinahe ausschließlich damit beschäftigt, das Hauswesen zu richten und die Familie zu dem zu machen, was sie sein sollte: zu einem Ort wohlgeordneter Intimität, beschaulicher Harmonie, gediegener Entspannung. Nach außen schien es, als ob hier nichts als Gefühl, Liebe und Zärtlichkeit residierte; Arbeit, in Geld und Zeit gemessen, wurde angeblich nur im Beruf des Mannes gerechnet. Um die Familie von dieser Sphäre möglichst deutlich abzurücken, durfte es in ihr keine "Arbeit" geben. Andererseits konnte jeder Mann unmittelbar im Rechnungsbuch einsehen, wie stark die ökonomischen Qualitäten seiner Ehefrau den Wohlstand der Familie beeinflußten. Frauen durften nicht wählen, natürlich keine Mitgliedschaft in politischen Parteien oder gar Macht anstreben, usw. "Frau-sein wurde als Nähe zur Ohnmacht bestimmt", so HagemannWhite. Als Mitte des vergangenen Jahrhunderts die so oft auch heute noch verlästerte Emanzipationsbewegung einsetzte, deren tatsächlichen Anfänge natürlich früher lagen und sicher auch auf die Einflüsse der Aufklärung zurückzuführen waren, ging es daher entscheidend um das Recht auf Bildung und Ausbildung, um den Zugang zu allen geeigneten Berufen, über die erziehenden und pflegenden Berufe hinaus. Abitur und Hochschulen sollten für Frauen geöffnet werden, um die Freiheit, sich in Verbänden und Vereinen zusammenzuschließen, um politischen Einfluß, um die Chancen in leitenden Positionen aufzusteigen - kurz Gleichberechtigung - heute Gleichstellung der Frau -, und um letzteres wird auch heute noch gerungen, nach nun bald 150 Jahren, und die rasende Entwicklung unserer Zivilisation macht die Lösung der Probleme oft nicht leichter. Heute geht es nicht mehr primär um die geistige Kapazität der Frauen, auch nicht um ihre berufliche Fähigkeit und Durchsetzungskraft - sie sind anerkanntermaßen vorhanden und werden zunehmend gesucht. Bereits 1956 erschien das Buch von Ruth Bergholtz mit dem Titel "Die Wirtschaft braucht die Frau", in dem die Verfasserin die verschiedensten wünschenswerten Einflüsse der Frau auf die Wirtschaft und die Politik erläutert. Und ich meine, es wäre nachweisbar, welchen Einfluß die Frauen auf die Höhe unseres Sozialproduktes haben, und das obwohl ihre Leistung im Haushalt als volkswirtschaftlich nicht produktiv angesehen wird.

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35 % aller geleisteten Arbeitsstunden in der BRD werden in der Familie erbracht. Auf den Sektoren der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft usw. findet durchaus ein Wettkampf zwischen Männern und Frauen um Einfluß und Position statt. Hier sind Frauen bisher noch immer selten. Der Wettkampf sollte m. E. aber nicht durch Quotenregelungen beeinflußt werden. Nein, es geht um etwas anderes: Es geht darum, ob es in einer Industriegesellschaft in einer Hochzivilisation möglich ist, wieder zu der Partnerschaft einer früheren Zeit, wie ich sie aus dem Spätmittelalter schilderte, zurückzufinden. Es geht darum, ob verhindert werden kann, daß bestimmte Entwicklungen des Industriezeitalters, das wie oft zitiert, in die Postmoderne übergeht, den Lebensnerv eines Volkes, einer Gesellschaft zerstören kann. Geblieben ist den Frauen die von der Natur gestellte Aufgabe, Leben zu tragen, Kinder zu gebären, zu stillen und aufzuziehen und zusammen mit deren Vätern zu erziehen. Es geht darum, ob die vollberufstätige und gern berufstätige, gut ausgebildete Frau, deren qualifizierte Ausbildung wir durch so viele Jahre gefordert haben, nun total überfordert wird mit Beruf, Familie und Haushalt bei Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung in einer hochsensiblen und hochzivilisierten Gesellschaft. 11 Mio. Frauen sind heute erwerbstätig, was etwa 50 % der Frauen im erwerbstätigen Alter entspricht. Noch vor 25 Jahren vertraten wir die Auffassung von Alva Mydral von den drei Phasen im Leben der berufstätigen Frauen, die nach der Jugend und der Ausbildung heirateten und nach dem ersten Kind 15 Jahre aus dem Beruf ausscheiden, um Kinder groß zu ziehen und dann wieder in den Beruf zurückzukehren. Die Voraussetzungen für dieses Modell: Frühehe mit 22/23 Jahren, Kinder im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, Wiedereintritt in den Beruf ab 35 Jahren, haben sich total verändert. Bereits 1974 ergab der Mikrozensus, daß jede dritte Frau ohne Unterbrechung in ihrem Beruf arbeitete, während 30 % ihre Erwerbstätigkeit nach mehrjähriger Pause wieder aufgenommen hatten und 37 % der Frauen für immer daheim geblieben waren. Da es für ältere Frauen immer schwieriger wurde, nach längerer Pause eine ihrer früheren Tätigkeit vergleichbare Stellung zu erhalten, versuchen immer mehr Frauen Ehe, Familie, Haushalt und Beruf zu vereinbaren. Daß hier Defizite, Überforderungen, Spannungen und vielleicht dadurch auch gesundheitliche Schäden zwangsläufig auftreten, ist nicht zu übersehen. Die große Nachfrage nach Teilzeitarbeit, job-sharing und Wiedereinstellungsgarantien ist daher verständlich.

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Die BASF und m. W. auch andere Großbetriebe, haben vor einigen Jahren den weiblichen Angestellten das Angebot gemacht, nach der Geburt eines Kindes, sie bis zu sieben Jahren zu beurlauben und die Verpflichtung zur Wiedereinstellung zu übernehmen, wenn die Frauen in den sieben Jahren Förderkurse besucht haben - ein Angebot, das natürlich so nur von Großbetrieben gemacht werden kann, aber immerhin eine sehr anerkennenswerte Lösung darstellt. Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, wie umfangreich die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit ist. Nach Frau Frevert gehen heute junge Mädchen nicht mehr, wie noch zu Beginn der 60er Jahren, davon aus, ihr Leben als Hausfrau und Mutter zu verbringen, sondern planen eine lebenslange Berufstätigkeit, die sie nur kurzzeitig zur Betreuung ihrer Kleinkinder unterbrechen wollen. Es ist, und das wird Sie vielleicht erstaunen, immer wieder in Untersuchungen festgestellt worden, daß der Wunsch nach Kommunikation mit anderen und die Unzufriedenheit damit, den ganzen Tag mit Kindern in einer Drei- oder Vierzimmerwohnung, möglicherweise noch in einem Hochhaus, zubringen zu müssen und auf den Mann zu warten, sowie der Wunsch, über ein eigenes Einkommen zu verfügen, Gründe dafür sind, die Berufstätigkeit entweder überhaupt nicht zu unterbrechen oder sehr schnell nach der Unterbrechung wieder aufzunehmen. Darüber hinaus ist aber natürlich auch die Einkommenssituation der Familie ein wesentlicher Faktor der Entscheidung für die Erwerbstätigkeit der Mütter. Auch ist es wohl als normal anzusehen, daß die Frau, nachdem sie eine gute, jahrelange Ausbildung absolviert hat, mit Freude in ihrem Beruf tätig ist. Und vergessen wir nicht, daß Untersuchungen zeigen, daß die mit Freude berufstätige Mutter für ihre Kinder durchaus eine anregende verständnisvolle Partnerin sein kann und oft auch ist. Daß aber die Mütter mehrerer Kinder bei voller Berufstätigkeit ohne die Hilfe einer Verwandten oder Angestellten über Jahre hinaus total überfordert sind, steht auch außer Zweifel. Und noch etwas kommt dazu: Heute scheint man der Meinung zu sein, daß man dafür nichts zu lernen braucht. Frühere Frauengenerationen lernten bei den Müttern die Grundbegriffe einer hauswirtschaftlichen Tätigkeit - wozu nicht nur Kochen gehörte, sondern die Kenntnisse über Arbeitsmethoden, Zeitabläufe, organisatorische Erfahrungen, Umgang mit den Maschinen, die natürlich arbeitserleichternd wirken, und mit Geld. Alle diese Kenntnisse muß sich die junge Frau heute selbst aneignen, ohne Anleitung - auch die Schulen bieten wenig Information inform von Hauswirtschaftsunterricht an -, was aber richtig wäre für Mädchen und Jungen. Denn die berufstätigen Mütter haben oft keine Zeit, solche Kenntnisse zu vermitteln. Und gerade für berufstätige junge Frauen ist es wichtig, Kenntnisse und Handfertigkeiten für den häuslichen Bereich zu besitzen und sie nicht erst zwischen Beruf und Feierabend erlernen zu müssen und als große Last zu empfinden.

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Den Wunsch, einmal Kinder zu haben, äußern fast alle jungen Mädchen. Ist aber erst ein Kind da und erfährt die junge Mutter, welche zusätzlichen Anforderungen an sie gestellt werden, hilft auch der Ehemann nicht mit, dann ist die Versuchung groß, es bei einem Kind zu belassen. Pille und Abtreibung erleichtern den Entschluß erheblich. Das Ein- und Zweikinder-System aber birgt auf weite Sicht erhebliche Gefahren. Hier einige Zahlen über die altersmäßige Zusammensetzung der Bevölkerung in der BRD: Bevölkerung 1990

62,166 Mio.

Jugendliche bis 20 Jahre rd. Menschen über 60 Jahre zusammen

13,000 Mio. 13.000 Mio. 26,000 Mio.

Menschen zwischen 20 und 60 Jahren, die für die Ausbildung und Rente sorgen müssen

36,200 Mio.

Bevölkerung im Jahre 2030

51,737 Mio.

Jugendliche bis 20 Jahre Menschen über 60 Jahre zusammen fast

8,000 Mio. 18.900 Mio. 27,000 Mio.

Menschen zwischen 20 - 60 Jahren

24,600 Mio.

Diese Zahlen werden sich natürlich in den nächsten 40 Jahren, in Anbetracht der derzeitigen Verschiebungen verändern - aber die Geburtenrate in der DDR entspricht in etwa der unsrigen. Sie wird also kaum eine Änderung bewirken, eher noch die Aussiedler aus den anderen osteuropäischen Staaten. Der Gesamttrend aber bleibt und die Auswirkungen, die sich aus einer Überalterung der Bevölkerung zwangsläufig ergeben, sind:

Drei Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich die Geburtenrate in den neuen Bundesländern halbiert.

Die Entwicklung der Stellung der Frau seit dem Mittelalter

125

1. wird sich der Generationsgegensatz verschärfen, 2.

eine alternde Bevölkerung wird an Motivation, an Risikobereitschaft, an Unternehmungsgeist, an geistiger Potenz, schöpferischer Kraft und Dynamik verlieren,

3.

sie wird in der Konkurrenz mit jungen Völkern zurückfallen.

Kurz - manche Erscheinungen heute schon erinnern an spätrömische Entwicklungen. Und noch eines: Mehr als 1 1 / 2 Mio. alleinerziehender Mütter, davon 71 % mit einem Kind und 7 % mit drei und mehr Kindern versorgten 1988 2 Mio. Kinder. Kinder, die ohne Vater aufwachsen - aus welchem Grund auch immer -, denen das prägende Vaterbild fehlt und nach meiner Erfahrung insbesondere den Söhnen der prägende Vater-Sohn-Gegensatz. Die Auflösung der Familie, die unsere Scheidungsgesetze eher fördern als hemmen, wird eine entscheidende Veränderung unserer gesellschaftlichen Strukturen herbeiführen. In der Bundesrepublik wird heute jede dritte Ehe geschieden, in der DDR fast jede zweite. Daraus ergibt sich einfach der Zwang für die Frauen im Beruf zu bleiben, denn wir wissen ja, daß die Rückkehr nach Jahren, insbesondere in eine qualifizierte Stellung, zunächst fast unmöglich ist. Das Schlagwort von der Selbstverwirklichung halte ich für eine nicht ungefährliche Plattitüde. Was ist aber nun wirklich das wünschenswerte und mögliche in dieser Situation? Wenn es uns gelingt, die volle Respektierung und Anerkennung der weiblichen Andersartigkeit zu erreichen, werden wir in einer überzeugenden Partnerschaft von Frauen und Männern eine neue Phase unserer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung einleiten können. Worin liegt die Andersartigkeit der Frauen, des weiblichen Denkens und Handelns, die anerkannt werden sollte? Ich meine, daß das Bild von dem immer nur herrschenden wollenden Mann und der unterdrückten Frau für beide Geschlechter diskriminierend ist - obwohl es das natürlich auch gibt. Männer und Frauen sind aber durchaus verschieden in ihren Denkansätzen und in ihren Reaktionen und auch in ihrer Einstellung zu Beruf und Leben. Hagemann-White spricht von einem Netz mit mehreren Zentren und einem Geflecht von Beziehungen, die die weibliche Sicht bestimmen.

126

Ursula Starlinger

Ich möchte es so formulieren: Männer sind gewohnt, in Konkurrenz mit anderen Männern, aber auch in der Gemeinschaft mit anderen Männern zu leben und zu arbeiten. Solange es menschliche Geschichte gibt, haben Männer in der Gruppe gejagt, gekämpft, haben gesiegt oder sind unterlegen, haben gearbeitet und haben regiert, haben Anführer, also Mächtige gebraucht, oder haben darum gerungen, es zu werden. Das Leben von Frauen ist viel stärker von anderen Komponenten erfüllt. Zwar übt auch die Mutter Macht aus - aber es wird in der Regel eine fürsorgende, von Verantwortung stärker getragene, Macht sein. Nicht umsonst wird den weiblichen Autofahrerinnen bestätigt, daß sie in der Regel defensiv fahren - das heißt, mit mehr Verantwortungsgefühl - was aggressiv fahrende Frauen nicht ausschließt. Frauen im Beruf werden in der Regel nur mit einem Teil ihres Wesens den Beruf als Mittelpunkt ihres Lebens erfassen können, wenn sie eine Familie haben. Für die meisten wird die Familie der Mittelpunkt bleiben. Deshalb trennen sich Frauen auch leichter von ihrer Berufstätigkeit, weil ihnen die Aufgaben in Familie und Haushalt bleiben. Männer leiden unter ihrem Ausscheiden aus dem Beruf oft sehr, insbesondere dann, wenn sie keine Hobbys oder eine neue Aufgabe auffängt. Das alles ist Ihnen natürlich nicht neu - ich meine aber, daß es nötig ist, auf diese Unterschiede hinzuweisen, die fraglos wichtig sind. In meiner fast lebenslangen Berufstätigkeit habe ich immer wieder erfahren, wie unterschiedlich im Berufsleben Männer und Frauen agieren und reagieren, und andererseits, wie sehr sie sich gegenseitig ergänzen können - gerade wegen ihrer Verschiedenheit. Hinsichtlich der Gemeinsamkeit in Beruf und Arbeit sehe ich nicht schwarz für die Zukunft diese Probleme werden immer weniger bedeutend - im Gegenteil: Sorge macht mir die Situation der Familie, die Situation der Kinder und die Situation der erwerbstätigen Mütter. Das Problem wird sich verschärfen nach der Wiedervereinigung. In der DDR sind 90 % der Frauen berufstätig. Zu ihrer Entlastung sind auch in der DDR erhebliche Anstrengungen gemacht worden, auch um dem Geburtenschwund Einhalt zu gebieten. Umfangreiche Krippenplätze, Kindergärten und Hortplätze sind vorhanden. Das Angebot in der BRD, das Erziehungsgeld auf drei Jahre auszudehnen, wenn die Frau vorübergehend aus dem Beruf ausscheidet und das Kind nach drei Jahren in den Kindergarten aufgenommen wird, ist sicher Entlastung und Hilfe zugleich. Die Politik kann erhebliche Hilfe leisten. Sie tut es in der Erkenntnis, daß diese notwendig sind. In diesem Zusammenhang ist interessant, was gerade über das Volkswagenwerk berichtet wird. Ich entnehme den Artikel der "taz" aus dem InfoDienst der Bundesregierung "Spiegel der Frauenpublizistik" Nr. 1/1990.

Die Entwicklung der Stellung der Frau seit dem Mittelalter

127

Zitat: "Auch VW braucht mehr als bisher 17.200 Frauen (13,3 % der Gesamtbelegschaft) für die BRD-Produktion, vor allem auch mehr Frauen in qualifizierten und führenden Positionen, und richtete am 01.02.1990 eine Abteilung 'Frauenförderung' im VW-Konzern Wolfsburg ein. Der große Mangel an Fach- und Führungskräften, der in einigen Industriezweigen schon zu Wachstumsrückgang geführt hatte, könne ohne Frauen nicht mehr ausgeglichen werden - so die "taz". Leiterin des fünfköpfigen Frauenstabes im Wolfsburger Stammhaus soll Dr. Gabriele Steckmeister werden, bisher Frauenbeauftragte im Stuttgarter Rathaus. Es ist geplant, bei gleichwertiger Qualifikation vorrangig Frauen einzustellen, Führungspositionen verstärkt für Frauen zu öffnen und den weiblichen Anteil von Auszubildenden planmäßig zu steigern". Aufgrund dieser Entwicklung erwarte ich, daß zunehmend Frauen auch gerade in Führungspositionen der Wirtschaft aufsteigen werden. Sie stellen zunehmend einen steigenden Anteil bei den Betriebsneugründungen. In der Vergangenheit wurde immer wieder davon gesprochen, daß eben doch die Frauen eine disponible Arbeitskraftreserve seien. Denkbar ist, daß aufgrund dieser Entwicklung davon nicht mehr die Rede sein kann. Und nun möchte ich Ihnen zum Abschluß einige Absätze aus Theodor von Hippels "Die bürgerliche Verbesserung der Weiber" aus dem Jahr 1792 vortragen.

* *



Verbesserungs- Vorschläge Soll es denn aber immer mit dem anderen Geschlechte so bleiben, wie es war und ist? sollen ihm die Menschenrechte, die man ihm so schnöde entrissen hat, sollen ihm die Bürgerrechte, die ihm so ungebürlich vorenthalten werden - auf ewig verloren seyn? soll es im Staat und für den Staat nie einen absoluten Werth erhalten, und immerdar beim relativen bleiben? soll es nie an der Staatsgründung und Erhaltung einen unmittelbaren Antheil behaupten? soll es nie ßr sich durch sich denken und handeln? ohne End' und Ziel nur als Scheidemünze gelten? Werden wir uns bei diesen Fragen mit einer wohlweisen Römischen Rechtsfiktion oder einem wohlhergebrachten Verjährungs- und Besitzrechte aushelfen können, um sie ab- und zur unangenehmen Ruhe zu verweisen? Werden wir selbst unser männliches Gewissen mit Bedenklichkeiten über die möglichen Folgen, mit Mißbräuchen und was

128

Ursula Starlinger

dergleichen Popanze mehr sind, wodurch man Kinder schreckt, beruhigen und diese Angelegenheit der Menschheit auf die lange, ja lange Bank schieben können -? Dann ist freilich der schöne Morgen der Erlösung noch nicht nahe. - Werden wir uns aber hierbei entbrechen können, uns selbst noch Gothen und Vandalen zu heißen, was weiland unsere Väter waren, wenn wir nicht dieses Unrecht je eher je lieber zu vergüten suchen? Mißbrauch des Rechts verwirkt nicht das Recht. Menschenrechte können niemals, Bürgerrechte nur durch Felonie verloren werden; [...] Wenn mich nicht alles trügt, so hat die Furcht der Männer, durch die Weiber unterjocht zu werden, die ersteren zu jener Überhäufung mit Wohlthaten gebracht. Nach Art der Hofleute, die kein moralisches Aequinoctium annehmen, wo Gutes und Böses sich die Wage hält, scheinen die Männer, die schon unter sich so viele Feinde und Widersacher zählen, sich von Seiten der Weiber den Rücken decken zu wollen - Wär' es das erstemal, daß man seine Herrschaft durch das Hausmittel zu sichern suchte, die, welche man beherrscht und gern ewig beherrschen möchte, von reiner Erkenntnis und Besserung hochbedächtig zurückzuhalten? Und wie! es stand noch kein Prediger in der Wüste auf, der diesen Männerdünkel in seiner Blöße zeigte, und auf diesen Staat im Staate aufmerksam machte? - Es gab Götter und Göttinnen, die für Opfer und Geschenke feil waren. So ging es dem andern Geschlechte, das auch Opfer auf Kosten seiner Rechte aufnehmen mußte, und das, wenn gleich die Menschheit es so sehr zierte, sie doch gegen jene Göttlichkeit aufzugeben gezwungen ward. Jemanden Güte erweisen, indem man ihm Gerechtigkeit entzieht, heißt: ein Naturgesetz mit Füßen treten, und sich mit einem positiven brüsten; die Erstgeburt für ein schnödes Linsengericht verkaufen, Mücken seigen und Kameele verschlucken.

GEDANKEN ZU KANT AUS HEUTIGER SICHT* Von Rupert S. Dirnecker

Ich weiß die Ehre zu schätzen, die mir im Kreise der "Gesellschaft der Freunde Kants" zugekommen ist, zumal mich mit Königsberg und Ostpreußen keine landsmannschaftlichen oder studentischen Bande verknüpfen. Aber vielleicht verbinden mich mit Königsberg und Ostpreußen noch enger jene sechs Monate vom Dezember 1944 bis zum bitteren Ende des Krieges, als ich als Offizier der 2. Armee unter dem in diesem Kreise wohlbekannten General Hoßbach mithalf, dieses schöne Land zu verteidigen und seiner flüchtenden Bevölkerung den Fluchtweg über das Haff offenzuhalten. Es ist dieses Kriegserlebnis, das in mir ein starkes und dauerhaftes emotionales Band zu diesem östlichsten Land Deutschlands knüpfte. Die Bohnenkönigswürde ist allerdings auch eine Bürde. Um dem größten Sohn Königsbergs meine Reverenz zu erweisen, habe ich mich wieder mit seinem Werk befaßt. Dieses Mal nicht - wie in meiner Studienzeit - vornehmlich mit seinen erkenntnistheoretischen Schriften, sondern mehr mit seiner Philosophie der Moral, des Rechts und des Staates. Ich möchte Ihnen daher einige Gedanken vortragen, die mir als Mensch von heute bei dieser erneuten Begegnung mit Kant, insbesondere mit seiner Grundlegung des Menschen als Rechtssubjekt und des Rechtsstaates, gekommen sind.

L

Das Menschenbild Kants und die Menschenrechtsentwicklung 1.

Eines der Hauptanliegen Kants galt der geistigen und ethischen Grundlegung des Menschen als sittlichem Wesen,

"Bohnenrede" in der Gesellschaft der Freunde Kants am 26. April 1991.

Rupert S. Dirnecker

- als Wesen "mit der sich selbstverbindenden Pflicht", - als ein "mit innerer Freiheit begabtes Wesen (Homo Noumenon)", - als ein Wesen "mit dem Gewissen als dem Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes" und begabt "mit der moralischen Selbsterkenntnis". Schon diese wenigen Zitate aus der "Methaphysik der Sitten" (1797) lassen erkennen, was Kant als das Wesen des Menschen als sittlicher Persönlichkeit meint. Schon neun Jahre vorher hatte Kant in der "Kritik der Praktischen Vernunft" (1788) versucht, aus einer kritischen Analyse des moralischen Bewußtseins des Menschen das reine Schema der Sittlichkeit, der Moralität zu gewinnen. Er entwickelte es als den "Kategorischen Imperativ der Pflicht", der an den Menschen als Vernunftswesen die unbedingte Forderung stellt: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz werde." Sittlich gut ist also der Wille, der dieser Maxime folgt. Der nächste Schritt ist Kant's Lehre von der Freiheit des Menschen. Wenn das sittliche Gebot absolut ist, wäre es sinnlos, wenn der Mensch an sich ihm nicht entsprechen könnte. Er soll es befolgen, also muß er auch können, d. h. er muß frei sein. Die Freiheit des Menschen an sich gründet sich somit auf das Postulat seines sittlichen Bewußtseins. Für den Menschen der empirischen Welt heißt es aber, daß Freiheit als eine "regulative Idee" das Ideal darstellt, dem er sich annähern kann und soll. Der Mensch als vernunftbegabte und zur Freiheit befähigte sittliche Persönlichkeit mit seiner Würde ist so für Kant ein Zweck an sich selbst und nicht bloß Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen. Mit dieser Ableitung der sittlichen Würde und Freiheit des Menschen aus seiner autonomen praktischen Vernunft fügte Kant der Idee der antiken Stoa und der christlichen Naturrechtstradition einen weiteren wichtigen Baustein für das neuzeitliche Menschenrechtsdenken bei. Hier ist nicht der Ort, auf die Entwicklung der Menschenrechte seit Kant einzugehen. Aber ein Gedanke scheint erlaubt zu sein zu näherer Reflexion: Welch großer Abstand und Gegensatz zu dem, was der Königsberger Philosoph über das Wesen des Menschen und das sittliche Handeln des seinem autonomen Gewissen verpflichteten Menschen gedacht und ge-

Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht

131

schrieben hat, und andererseits den totalitären Staatsideologien der nachfolgenden Jahrhunderte? Wo sind diese denn geblieben? Alle totalitären Systeme, die seit Kant den Menschen entpersönlichen und seiner Freiheit berauben wollten, sind gescheitert: Gescheitert ist die totalitäre "Erziehungsdiktatur des Jakobinischen Wohlfahrtsausschusses", die sich ideologisch auf die Rousseau'sche These der überpersönlichen "volonté générale" stützte, in deren Namen der Einzelne zur Freiheit gezwungen werden müsse (forcer à être libre). Indem der radikal-demokratische Ansatz Rousseaus den Menschen als isoliertes Individium aus dem Seinszusammenhang der gemeinschaftsbezogenen Personalität herausgerissen und im "Contrat social" in eine neue künstliche gesellschaftliche Identität bedingungslos eingegliedert hatte, war der Weg für die kollektivistischen Systeme des modernen Totalitarismus bereitet. Gescheitert ist der chauvinistisch-nationalistisch-rassistische Totalitarismus mit seinen Parolen "du bist nichts, dein Volk ist alles". Gescheitert ist schließlich der totalitäre kollektivistische MarxismusLeninismus in den Staaten des sogenannten "realen Sozialismus". In diesem ideologischen und politischen System des MarxismusLeninismus ist kein Raum mehr für den Menschen als einmalige, in sittlicher Eigenverantwortung stehende Person, als Träger angeborener, dem Staat und der Gesellschaft vorgegebener Menschenrechte. Für diese Ideologie gibt es auch kein die Gesellschaft und den Staat, geschweige denn die Partei übersteigendes sittliches Gewissen. Für Lenin ist "sittlich, was der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft und dem Zusammenschluß aller Werktätigen um das Proletariat dient, das die neue kommunistische Gesellschaft errichtet" 1. Gewissen ist somit für Lenin, der die Bindung an Gott oder einen transzendenten Wert oder an die sittliche Vernunft verneint, nicht Quelle der Freiheit wie bei Kant, sondern ein weiteres Mittel zur Unterwerfung des Menschen unter die totalitäre Macht. Heute können wir feststellen: Karl Marx hat sich geirrt als er schrieb, die Philosophen hätten bisher die Welt nur interpretiert, statt sie zu verändern. Es war die Idee der

1

9*

Ausgew. Werke, Wien-Berlin, 1932-33, S. 790.

Rupert S. Dirnecker

132

Machtbeschränkung durch die Menschenrechte und den diese sichernden Rechtsstaat, die die Welt verändert hat2. 3.

Werfen wir auch an dieser Stelle nur kurz einen Blick auf die gegenwärtige Situation der Menschenrechte in Deutschland: Das Grundgesetz und die Menschenrechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts haben bahnbrechend über die Grenzen Deutschlands hinaus die verfassungsmäßigen Grundrechte mit aller Schärfe als Menschenrechte betont und als keinen Verfassungänderungen unterworfene Grundrechte positiviert. Bei dieser grundsätzlichen "Vermenschlichung des Staates", statt der vorausgegangenen totalitären "Verstaatlichung des Menschen" haben die Verfassungsväter nach den schrecklichen Erfahrungen der menschenrechtsverachtenden NS-Diktatur vor allem das Erbgut des Naturrechtsdenkens zugrunde gelegt und den gesellschaftlichen Konsensus über diese "Grundwerte" betont. Gleichzeitig ist aber auch im Grundgesetz die unbedingte Verbindung von sittlicher Pflicht und sittlicher Freiheit des Menschen zu spüren, übersetzt in seine rechtliche Freiheit und Gleichheit in der Rechtsgemeinschaft des republikanischen Verfassungsstaates im Sinne des Kant'schen Vernunftsethos. Grundgesetz und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vollzogen damit eine kopernikanische Wende sowohl gegen die rechts- und gesetzespositivistische Aushöhlung der aus dem klassischen Naturrecht und dem Vernunftsrecht der Aufklärung begründeten Menschenrechte als auch gegen ihre Negierung durch den modernen Totalitarismus rassistischer, nationalistischer oder marxistischer Prägung. Wenn heute der erste Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit dem Bekenntnis beginnt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", dann finden wir hierin auch die Quintessenz Kant'schen Denkens vom Menschen. Es ist der Triumph dieses Denkens, der Triumph der geistigethischen Natur des Menschen, seiner Rechte und Pflichten, seiner Würde und Freiheit. Wo liegen die Gefahren der Menschenrechte bei uns heute? In den Ursprungsländern der Menschenrechte, d. h. in der sogenannten 1. Welt, ist seit geraumer Zeit ein Schwinden des Ideals der personalen Freiheit und der sittlichen Selbstverantwortung des Menschen zu beklagen. 2

Ricklin NZZ.

Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht

133

Die Legitimitätsgrundlagen des die Freiheit des Menschen schützenden Rechtsstaates wanken, die Ansprüche an einen ausufernden Versorgungsstaat werden immer lauter und massiver. Der Meinungspluralismus wird zur bloßen Unverbindlichkeit, je mehr das gemeinsame Erbe an Grundwerten schwindet. Auch der Gemeinsinn wird offensichtlich schwächer. Der Geist des Hinterfragens, der kontestäre Umgang mit allem, was staatlich ist, aber auch die Werbung haben das Menschenbild des egoistischen Konsumenten popularisiert. Eine derart atomisierte Gesellschaft ist jedoch nicht die, die für sich in Anspruch nehmen kann, das Ideal der freien und selbstverantwortlichen Persönlichkeit zu verwirklichen. Andererseits machen sich zahllose Gesinnungsethiker daran, ihre partiellen Interessen und Ideologien mit steigender Intoleranz gegen Andersdenkende zu vertreten. Die Schutzbedürftigkeit der personalen Grundrechte, früher gegen die absolute Staatsallmacht gerichtet, wird heute immer augenfälliger gefährdet durch anonyme Mächte, wie auch die unkontrollierte und demokratisch nicht legitimierte Medienmacht. Ich glaube, Kant's Ethos der Freiheit im Denken, noch mehr im sittlichen Handeln, das Ethos der Unabhängigkeit des Menschen als sittlicher Persönlichkeit, könnte gerade in einer Gesellschaft, in der traditionelle freiheitliche Grundwerte schwinden und platter Materialismus und pluralistische Beliebigkeit sich breit machen, notwendiger denn je werden.

II.

Kant und der Rechtsstaat 1.

Nirgends zeigt sich die innere Logik des Kant'schen Denkens, seine Grundlegung des Menschen als Vernunftswesen und als freier sittlicher Persönlichkeit deutlicher und einleuchtender als in Kant's Rechts- und Staatslehre. Der Frankfurter Rechtslehrer Helmut Coing nannte die einschlägige Hauptquelle, nämlich "die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" (1797), die erste und umfassendste Formulierung des Rechts-

Rupert S. Dirnecker

134

staatsideals in deutscher Sprache3, d. h. des Staatsideals, nach dem die politische Macht allgemeinen Gesetzen unterworfen ist und dem einzelnen Menschen daher eine grundsätzliche und nur durch die Rechte des Anderen klar umgrenzte Freiheitsphäre eingeräumt ist. Diesen Staat (civitas) definiert Kant als: "Die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen", also als Rechtsgemeinschaft der Rechtsgenossen. Kant verwendet zwar in seiner Rechts- und Staatslehre ζ. T. schon vorhandene staatsrechtliche bzw. staatsphilosophische Begriffe, wie die Gewaltenteilung nach Montesquieu (1689-1755) bzw. den Gesellschaftsvertrag (Contrat social) nach Rousseau (1719-1788), letzteren allerdings ohne die schon erwähnten Folgerungen Rousseaus. Das Einzigartige an Kant's Staatslehre ist aber, daß er die Freiheit des Menschen in eine wechselseitige notwendige Bedingung mit dem Rechtsstaat setzt. Kant trennt in seiner Rechtslehre zunächst Moralität (Sittlichkeit) als innere Gesetzmäßigkeit (Selbstzwang) vom Recht als äußerer Gesetzgebung (Zwangsrecht zum Zwecke der Abwehr von Unrecht). Die Berechtigung zur tätlichen Unrechtsabwehr ist also das rechtsphilosophische Gegenstück zum nötigenden moralischen Imperativ des Gewissens. Den schon zitierten "kategorischen Imperativ" als Grundgesetz der "Praktischen Vernunft" transponiert Kant in ein allgemeines Rechtsgesetz wie folgt: "Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne".4 "Das Recht" ist also für Kant "der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann".5 Wie stark Kant noch vom traditionellen naturrechtlichen Denken bestimmt war, zeigen einige seiner Thesen über die "allgemeine Einteilung der Rechte"6, die wie erratische Blöcke aus dem Naturrecht der Aufklärung über die Kantische "Kopernikanische Wende" (wie er selbst sein 3

Frankfurter Universitätsreden 12.2.1954, Klostermann/Frankfurt, Heft 12

4

Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre § C, S. 67, im folgenden MS.

5

MS S. 66.

6

MS S. 75.

Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht

135

Denken geschichtlich eingestuft) hinweg in sein eigentliches Vernunftsrecht gelangt sind. Er teilt die Rechte systematisch ein in a. das "Naturrecht, das auf lauter Prinzipien à priori beruht" und b. das "positive (statutarische) Recht, das aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht". Und er teilt die Rechte als "moralische" Vermögen, andere zu verpflichten, ein in: a. das "angeborene Recht, welches unabhängig von allem rechtlichen Akt für jedermann von Natur zukommt" und η b. das "erworbene Recht, wozu ein Rechtsakt erforderlich wird". Das angeborene Recht ist für Kant nur ein einziges: "Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht". "Die angeborene Gleichheit, das ist die Unabhängigkeit, nicht mehr von anderen verbunden (d. i. verpflichtet) zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann".8 2.

Kant's Verfassungsstaat im Einzelnen: Von diesen für das Staatsrecht konstitutiven rechtsphilosophischen Grundlagen der Person als Rechtsgenossen aus entwirft Kant den Verfassungsstaat, den Vernunftsstaat, den aus der Freiheit des Menschen entspringenden Rechtsstaat, den Staat, der dem Postulat der Freiheit entspricht. Ihn interessieren nicht die historisch-soziologischen Thesen über die Entstehung des Staates (wie etwa bei Hobbes). Nein, der Ursprung des Rechtsstaates aus der Idee der Freiheit, das ist vielmehr, was Kant interessiert und was er in einzigartiger Weise entwickelt, vor allem in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre" (1797), in "Metaphysik der Sitten" und zusammengefaßt im "Gemeinspruch": "Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht".

7

MS S. 75.

8

MS S. 76.

136

Rupert S. Dirnecker

"Der Staat (civitas)" ist hiernach für Kant (wie schon einmal erwähnt) "die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" , also eine Rechtsgemeinschaft. Der diese rechtliche Gemeinschaft begründende Zweck ist "das Recht des Menschen, unter öffentlichen Zwangsgesetzen mit seinesgleichen zu leben". A priori vorausgesetzt ist ihr die politische Gemeinschaft, zu der der Mensch als zoon politikon, aus seinem Menschsein strebt. Ganz im Sinne von Montesquieu teilt Kant hierauf in diesem "Staat in der Idee" die Staatsgewalt auf "in die drei Gewalten, d. h. den allgemeinen vereinigten Willen in dreifacher Person (trias poltica) in: 1. Die Herrschergewalt (Souveränität) in der Hand des Gesetzgebers; 2. Die vollziehende Gewalt in der Hand des Regierers, der unter dem Gesetz steht; 3. Die rechtsprechende Gewalt in der Person des Richters". Echt kantisch ist dann wieder die Ableitung des gesetzgeberischen Willens des "allgemein vereinigten Volkswillens" aus dem "übereinstimmenden und vereinigten Willen aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden eben dasselbe beschließen"10. "Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis) d. i. eines Staates, heißen Staatsbürger (cives) und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind: 1. Die "gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat"; 2. Die "bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er ebenso rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann"; 3. Die "bürgerliche Selbstständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinsamen Wesen verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechts-

9

MS S. 169.

10

MS S. 170.

Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht

137

angelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen" 11. Zeitgebunden bleiben im Anschluß daran die Thesen Kants über das Stimmrecht, das die "Qualifikation des Staatsbürgers ausmacht, sodaß er zur Unterscheidung kommt zwischen dem "Staatsbürger" als "aktivem Glied des Staates" und dem nur "Staatsgenossen" als "passivem Teil des Staates"12. Kant hält sich nicht länger bei den Staatsformen auf, sei es die Monarchie, die Aristokratie oder die Demokratie. Entscheidend für ihn ist die Regierungsart, ob sie republikanisch, d. h. in der Gewaltenteilung rechtlich verfaßt ist oder despotisch oder barbarisch. "Es ist an der Regierungsart dem Volke ohne alle Vergleiche mehr gelegen als an der Staatsform". Ein monarchischer Staat kann somit in Kant's Sinn republikanisch (d. h. rechtsstaatlich), ein demokratischer despotisch sein und umgekehrt. Die Idee einer Konstitution ist es also, welche "die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich vereinigt". Sie ist "die ewige Norm für alle bürgerlichen Verfassungen überhaupt". Für Kant ist die von ihm genannte republikanische, d. h. rechtsstaatliche Regierungsart mit ihrer Gewaltenteilung des souveränen Willens der Rechtsgemeinschaft die einzige Verfassung, "die allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung im eigentlichen Sinne des Staates erforderlich ist" 13 . "Diese republikanische Regierungsart aber ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volkes, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittels ihrer Abgeordneten ihre Rechte zu besorgen"14. Mit anderen Worten: Die Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger braucht, um ihre Freiheit zu schützen, den Staat, die staatliche Zwangsgewalt. Die sachgemäßeste und am wenigsten zu Mißbrauch anfällige Staatsgewalt ist nach Kant die "Republikanische Verfassung" dieses Staates mit ihrer Gewaltenteilung und ihrem Repräsentativ-System.

11

MS S. 170/171.

12

MS S. 172.

13

MS S. 204.

14

MS S. 204.

Rupert S. Dirnecker

138

Es ist also der Rechtsstaat, der die Freiheit des Menschen schützen kann, ohne sie durch Machtmißbrauch zu gefährden. Freiheit und Rechtsstaat bedingen sich somit wechselseitig. Und in der Tat lehrt denn die neueste Geschichte nicht folgendes? Überall dort, wo es keinen Rechtsstaat gibt, gibt es keine Freiheit, keine Achtung der Menschenrechte. Überall dort, wo Menschenrechte verletzt, abgebaut und völlig liquidiert werden, beginnt man mit dem Abbau des Rechtsstaats. Oder ein anderer Gedanke, der ein weiteres hohes Gut unseres Staatswesens betrifft, nämlich das Sozialstaatsprinzip: Läuft unser Sozialstaat nicht Gefahr, entweder zu einem allgemeinen Versorgungsstaat passiver Versorgungsempfänger zu entarten, oder zu einem anarchischen Kampf egoistischer Materialisten um den besten Platz am Futtertrog auszuwuchern? Ich meine - durchaus im Kant'schen Sinne: Auch der Sozialstaat braucht als einigende Grundlage den Rechtsstaat, in dem sich die Rechtsgenossen in gegenseitiger rechtlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit vereinigen. Wie heißt es doch bei Kant ("Über den Gemeinspruch" 1793) "Niemand darf mich zwingen, auf eine (bestimmte) Art glücklich zu seyn, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm gut dünkt... ...Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk... errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale)... ist der größte denkbare Despotismus...". Ich meine: Nur der Rechtsstaat kann das Problem des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren in einer Freiheit und Gleichheit der Menschen achtenden Weise lösen und damit das herstellen, was Kant "die Würde der Person" nennt.15 Wofür ich plädiere, ist folgendes: Vermeiden wir die Überexpansion der Staatszwecke und damit der Staatsmacht!

15

Vgl. Popper"Auf der Suche nach einer besseren WeltM 1984, 3. Aufl., S. 170.

Gedanken zu Kant aus heutiger Sicht

139

Bleiben wir uns der grundlegenden und unentbehrlichen Grundlage unseres Gemeinwesens, nämlich des Rechtsstaates, bewußt. Ich stehe mit meiner Auffassung nicht allein: Der ehemalige Reichsjustizminister der Weimarer Republik und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch faßte diese Folgerung aus der Kant'schen Idee der Freiheit und seiner Rechts- und Staatslehre wie folgt zusammen: "Demokratie ist gewiß ein hohes Gut; der Rechtsstaat aber ist die Luft zum Atmen, das Wasser zum Leben". Der Schweizer Staatsrechtler, Prof. Werner Kägi, maßgebend beteiligt an der Vorbereitung deutscher Nachkriegsverfassungen, warnte in einem ähnlichen Sinne vor einer Verabsolutierung der Demokratie als einer schrankenlosen Herrschaft der Mehrheit ohne Achtung der Minderheit, die zu einer Deformierung des Rechtsstaates führe. Er plädierte daher für einen demokratischen Rechtsstaat statt einer rechtsstaatlichen Demokratie. Einer der originellsten Philosophen der Gegenwart, Sir Karl Popper, faßte diesen Sachverhalt in einem Vortrag in München im Juni 1988 in seiner unvergleichlichen Art wie folgt zusammen: "Kant wollte den Staat nicht stärker haben, als unbedingt nötig ist, um sicherzustellen, daß ein jeder Staatsbürger so viel Freiheit hat, als vereinbar damit ist, daß er die Freiheit der anderen so wenig wie möglich beschränkt, und nicht mehr als sie seine Freiheit beschränken. Die unvermeidliche Beschränkung der Freiheit sah Kant als eine Last an, die eine notwendige Folge des Zusammenlebens der Menschen ist". Und Popper illustrierte die Kant'sche Idee durch folgende Anekdote, mit der ich Sie aus den anstrengenden Kant'schen Denktheorien entlassen darf: "Ein Amerikaner war angeklagt, weil er einem anderen die Nase eingeschlagen hatte. Er verteidigte sich damit, daß er ein freier Bürger sei und deshalb die Freiheit habe, seine Fäuste in jede Richtung zu bewegen, in die er sie bewegen wolle. Worauf ihn der Richter belehrte: 'Die Freiheit, Ihre Fäuste zu bewegen, hat Grenzen! Diese mögen sich manchmal ändern. Aber die Nasen Ihrer Mitbürger sind fast immer außerhalb der Grenzen'."

KANT UND DIE REVOLUTION* Von Thomas M. Seebohm

Kant hat seine "Theorie der Revolution" prima facie zweigleisig und, wie viele Interpreten meinen, nicht konsistent entwickelt. Auf der einen Seite steht die zur systematischen Philosophie gehörige Kantische Rechtslehre und der populäre Aufsatz "Über den Gemeinspruch". Auf der anderen Seite finden wir in den populären Schriften "Zum ewigen Frieden" und dem "Streit der Fakultäten" eine abweichende Behandlung des Themas. Kurz und oberflächlich zusammengefaßt lehrt Kant einerseits, daß eine Revolution, die sich gegen die ideale Republik richtet, in der die drei Gewalten, d. h. die Legislative, die Exekutive und die juridische Gewalt unabhängig sind und sich wechselseitig kontrollieren, nicht zulässig ist, da sie einen Rückfall in den Naturzustand herbeiführt. Der Naturzustand aber muß nach dem Sittengesetz aufgegeben werden, um einen Rechtszustand zu ermöglichen. Er erkennt, wie es insbesondere der Aufsatz "Über den Gemeinspruch" anzeigt, noch nicht einmal ein Notrecht, ius necessitatis, an, das eine Revolution rechtfertigen könnte. Seine Verwerfung jeden Widerstandsrechtes findet in der Formulierung, nach der man sich dem Souverän weder in Werken noch aber auch in Worten widersetzen kann, seinen radikalsten Ausdruck. Daß ein Widerstand auch in Worten nicht erlaubt sein soll, steht sogar dem von Kant sonst emphatisch verteidigten Recht der Untertanen auf freie Meinungsäußerung entgegen. Auf der anderen Seite sagt Kant in Reflexionen über die französische Revolution, daß es ein Recht und in gewissem Sinne sogar moralisch gerechtfertigt ist, wenn die ausländischen Betrachter der französischen Revolution, in der die Revolutionäre für die Realisierung der Republik als Staatsform kämpfen, dieser Revolution enthusiastische Anteilnahme entgegenbringen. Dazu tritt ein anderer Gedanke: Auf dem Wege zur Verwirklichung der idealen Republik, der respublica noumemon, mit der die Menschheit den eigentlichen Schritt zum status civilis vollzieht, ergibt sich Fortschritt nur in andauernden inneren und äußeren Kämpfen. In diesen Kämpfen sind alle statuarischen Verfassungen beseitigt worden. Übrig geblieben sind nur Mo*

"Bohnenrede" in der Gesellschaft der Freunde Kants am 25. April 1992.

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narchie und Republik. Zieht man die Schrift zum ewigen Frieden hinzu, so folgt, daß, nachdem einmal die wahre Republik an einer Stelle eingeführt wurde, nun auch den Monarchien keine andere Wahl bleibt, als sich entweder durch Reform selbst zugunsten der Republik abzuschaffen, oder eben mit einer Revolution konfrontiert zu werden. Wie paßt beides zusammen? Man hat versucht, das psychologisch zu erklären. Auf der einen Seite sagt u. a. Heine, daß der alternde Kant von seiner ursprünglichen Bejahung der Revolution abgerückt sei. Diese These ist, gemessen an der Chronologie der Texte, einfach absurd, so absurd wie im übrigen Heines, des Dichters, Gedanken zur Philosophie der Zeit allgemein sind. Marxistische Kantinterpreten haben es später mit der entgegengesetzten These versucht. Kant sei im Alter, belehrt durch die französische Revolution, selbst ein radikaler Jakobiner geworden. Auch das ist bei einer genaueren Betrachtung der Chronologie der Äußerungen nicht haltbar. Schließlich hat Yovel, dem Interpretationsschema von Leo Strauß folgend, versucht, zwischen esoterischen Gehalten der Philosophie Kants und exoterischen zu unterscheiden. Die positiven Äußerungen zur Revolution entsprechen der "geheimen" Lehre Kants. Auch das ist kaum haltbar. Positive Äußerungen finden sich gerade in den populären, für ein breiteres Publikum bestimmten Schriften. Diese philologische Argumentation sei hier nur angedeutet. Was bleibt, ist die offensichtliche Spannung, ja Unverträglichkeit der kantischen Äußerungen. Bevor versucht werden soll, hier eine Lösung zu finden, möchte ich das Problem in einen weiteren Rahmen stellen. Die Aufgabe ist zu zeigen, daß das Problem, mit dem uns Kants Schriften konfrontieren, eines ist, das allgemein unsere staatliche Situation bestimmt und das Kants liberale und sozialistische Kritiker keineswegs zu lösen in der Lage sind. Die Staatstheorien der Neuzeit haben bis auf eine Ausnahme, nämlich John Locke, das Widerstandsrecht verworfen. John Lockes Theorie, sehr geschichtsmächtig, da sie dem amerikanischen Unabhängigkeitskampf die theoretische Grundlage gab, erkennt ein Widerstandsrecht an, wenn die unveräußerlichen Rechte, vor allem in der Praxis das des erworbenen Eigentums, verletzt wird. Lockes Theorie ist damit auch allgemein der Wegbereiter der Revolution, die genau die Verfassung, die auch am Ende dort, wo das Widerstandsrecht, der kontinentalen Tradition folgend, verworfen wird, nämlich bei Kant, als ideale Verfassung, respublica noumenon, einführen soll. Der moderne Staat hat also für seine Entstehung die Revolution zur Voraussetzung und steht ihr aus diesem Grunde notwendigerweise positiv gegenüber. Auf der anderen Seite kann in der republikanischen Verfassung, d. h. in dem, was wir Demokratie nennen, ein Widerstandsrecht nur sehr bedingt und das Recht zur gewaltsamen Aufhebung der Verfassung überhaupt nicht anerkannt werden. Selbst wenn wir von Locke ausgehen gilt, daß gegen die Steuern, allgemein die Distribution von Gütern, die die Mehrheit im Parlament verfügt, ein gewaltsamer Widerstand nicht ausgeübt werden kann. Das Problem verschiebt sich

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hier in ein anderes, das Kant im übrigen auch nicht vorhergesehen hat, nämlich die Möglichkeit der Vergewaltigung von Rechtsansprüchen einer Minderheit durch die Mehrheit. Welche Formen sogenannten "zivilen Ungehorsams" hier möglich sind, ohne den Staat als solchen anzugreifen, haben Juristen und Philosophen wie Dvorkin, Rawls und andere erwogen. Es handelt sich hier nicht um Revolution, soviel ist sicher. Gewichtiger ist ein anderer Gesichtspunkt: Der moderne Staat wird mit der Behauptung konfrontiert, er sei unter neu gegebenen Umständen nicht die beste, die ideale Verfassung, sondern eine schlechte, die durch die eigentlich ideale ersetzt werden müsse. Diese Situation ist die eigentlich kritische Situation. Auf der einen Seite können alle die, die solche Behauptungen - die radikalere anarchistische, der Staat sei an sich schlecht, die in verworrener Form mehr Anhänger hat, als man ahnt sei am Rande erwähnt -, nur damit beantwortet werden, daß eine gewaltsame Durchsetzung einer neuen, nämlich kommunistischen Verfassung, rechtlich nicht zulässig ist, weil der Staat durch Anerkennung eines solchen Rechtes sich selbst aufgibt. Damit aber gerät er auch in Spannungen mit seinem Selbstverständnis. Er selbst hat seinen Ursprung in einer zu rechtfertigenden Revolution nur deshalb, weil er eben als beste aller möglichen Verfassungen angesehen wurde. Konfrontiert mit der Behauptung, er sei das nicht und könne deshalb durch eine Revolution abgeschafft werden, gerät und geriet das Staatsbewußtsein in Europa ins Schwanken. Eine ganze Generation von Intellektuellen bekannte sich freudig zum Marxismus. Mit einer marxistischen Revolution war das Grundproblem keineswegs beseitigt. Sozialistische Staaten, die sich bekanntlich als die Staaten mit der besten Verfassung betrachten, erklärten mit derselben Argumentationsfigur jeden Widerstand gegen sie als Unrechtstatbestand. Mit gutem Gewissen als Verfechter des idealen Staates verfolgten sie alle gnadenlos, die sie und ihre Verfassung, in Werken oder auch in Worten, in Zweifel zogen. Sie waren aber gegen die sich nun gegen sie wendende Behauptung, ihre Verfassung sei die schlechteste und deshalb zu beseitigen, ebensowenig gefeit wie nicht sozialistische Staaten. Das allgemeine Dilemma moderner Staaten, die die Revolution als genau das Ereignis positiv beurteilen, durch das sie möglich wurden, und die andererseits die Revolution als Staat, ohne sich selbst aufzugeben, nicht als rechtens anerkennen können, gilt für sogenannte kapitalistische und sogenannte sozialistische Gesellschaftsordnungen in gleicher Weise. Was dieser Widerspruch zur Folge hatte, war die potentielle und jederzeit aktualisierbare Unfähigkeit politischer Parteiungen, anders als durch Ausübung nackter Gewalt nach innen und nach außen miteinander verkehren zu können. Mit anderen Worten: Die Folge sind die Ketten der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Was eigentlich gefordert ist, ist eine "Theorie der Revolution", die solche Spannungen, wenn nicht beseitigt, so doch überbrückbar macht. Hier mag nun Kant eine sehr aktuelle Hilfestellung geben. Es könnte sein, daß wir jetzt, nachdem der erste Weltkrieg zur echten Würdigung seiner Gedanken zum Problem des Völkerfriedens

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führte, und nachdem wir die Folgen sich durchsetzender oder im Terrorismus sich perennierender Revolutionäre vollständig vor Augen haben, auch seine Theorie der Revolution würdigen können. Der Widerspruch, den Kants Kritiker in Kant gefunden haben, könnte sich als Indikator ihrer eigenen Unfähigkeit, das Problem zu lösen oder gar es überhaupt lösen zu wollen, erweisen. Es ist, hoffe ich, bei einer Rede zum gegebenen Anlaß nicht erforderlich, jetzt wissenschaftlich alle Belege, die ich durchaus habe, im einzelnen anzuführen, um den vorzutragenden Gedankengang als legitime Interpretation zu stützen. Lassen Sie mich ihn frei vorführen. Worauf es zunächst ankommt, ist, daß das Sittengesetz a priori in seinen drei Formulierungen des kategorischen Imperativs Inhalt nur gewinnen kann, wenn es auf Anthropologie angewandt wird, d. h. auf Erfahrung, die wir mit uns selbst machen. Dabei ist für die Rechtslehre, auf die es bei der Frage nach der Revolution besonders ankommt, die zweite Formulierung vor allem wichtig: In unseren Maximen und in unseren Handlungen sollen wir den anderen nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck in sich selbst betrachten. Man braucht sich nur Kants Begründung der Lehre von der Gewaltenteilung in der respublica noumeneon anzusehen, um die anthropologischen Elemente sichtbar zu machen. Das Ergebnis nun einer solchen Anwendung auf die allgemeine Menschennatur ist eben mit an erster Stelle die Theorie der respublica noumenon, der idealen Verfassung. Geht man davon aus, daß die respublica noumenon verwirklicht wäre, dann ist es tatsächlich ein Widerspruch gegen die praktische Vernunft, ein Recht auf Revolution gegen einen solchen Staat zu fordern. Man kann darüber streiten, ob Kant das Ideal perfekt darstellen konnte. Das Problem der Repräsentation von Minderheiten erwähnt er nicht. Aber grundsätzlich kann aus solchen möglichen Verbesserungen "in der Theorie" ein Recht auf Revolution keinesfalls deduziert werden. Wege genug sind aufgewiesen, solche Unvollkommenheiten auf andere Weise durch öffentliche Diskussion zu beheben. Kants Verwerfung des Rechtes auf Widerstand und auf Revolution bezieht sich aber nicht nur auf die verwirklichte respublica noumenon. Sie bezieht sich auf jede Form der Souveränität. Hier liegt das Problem. Um Kants "widersprüchliche" Angaben in diesem Punkt richtig zu verstehen, muß man auf eine weitere Funktion der Anthropologie achten, die pragmatische Anthropologie. Zunächst auf das Individuum bezogen, ist von folgender Sachlage auszugehen. Ich kann, insbesondere was die Tugend und nicht das Recht betrifft, sehr wohl im moralischen Urteil feststellen, daß Wohltätigkeit eine Pflicht ist. Ich sehe mich aber mit Neigungen konfrontiert, die mir auch schon eine bloß legitime, nicht moralische Befolgung dieser Pflicht unmöglich machen. Hier ist es nun möglich, ja geboten, mich nach anthropologischen oder psychologischen Einsichten umzusehen, die es mir ermöglichen, mich, wie man heute sagt, entsprechend

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zu "konditionieren". Obwohl meine Handlungen bei Erfolg der Konditionierung lediglich legitim sein werden, kann der Entschluß, mich so konditionieren zu lassen und zugleich zu dekonditionieren, selbst durchaus aus Achtung vor dem Gesetz allein als Triebfeder erfolgt sein. Pragmatische Anthropologie bezieht sich nicht nur auf Individuen, sondern auch auf die Menschheit insgesamt. Material hierfür bietet die Geschichte der Menschheit. Das ist keineswegs so zu verstehen, daß die Geschichte als Fortschritt zur Freiheit nach Hegel "begriffen" werden soll. Tatsächlich gibt es hier ein Auf und Ab, keinen Fortschritt. Aber die Geschichte bietet uns das Material, an dem wir von Fall zu Fall konstatieren können, wo einmal ein Fortschritt in Richtung auf Verwirklichung des Sittengesetzes erreicht wurde. Die ethische Pflicht, die hier für Kant im Zentrum steht, ist die Pflicht, den status naturalis, in dem Recht strittig ist und in dem es folglich immer gewaltsame Auseinandersetzungen geben kann, zu verlassen und in den status civilis, dessen ideale Strukturen in der respublica noumenon vorgegeben sind, einzutreten. Ein solcher Eintritt geschieht aber nicht auf einmal. Es handelt sich um eine mögliche Entwicklung, die keineswegs zum Abschluß gekommen ist. Indikator ist, daß es eben in allen Staatswesen, die wir aus der Geschichte kennen, immer wieder zu Gewaltanwendungen über strittiges Recht gekommen ist. Solche Phasen sind aber immer auch als Rückfälle in den reinen status naturalis aufzufassen. Für die Entwicklung gilt, daß Menschen, die sich einem Souverän, im rohesten Zustande einem Häuptling unterwerfen, sich nicht dem moralisch besten unter ihnen unterwerfen werden. Sie wählen ihresgleichen, den Durchschnitt. Noch schlechter, zu solchem Amt werden sich die Ehrgeizigen drängen, die alles nach ihrem Kopf entscheiden wollen, also nach ihrem Kopf entscheiden, was Recht ist, und somit selbst für sich, ohne das öffentlich zuzugeben, sich allen anderen gegenüber im Naturzustand befinden. Kommt es nun zu Auseinandersetzungen, so gilt anfänglich - bei sogenannten Rebellionen - , daß es sich immer um strittige Rechte handelt, d. h. der Naturzustand zwischen Herrschern und Beherrschten tritt wieder ein. Stabilere Verhältnisse treten nur ein, soweit gewisse Annäherungen an den wahren status civilis, etwa in einem gerechten Monarchen, wie Friedrich dem Zweiten, erzielt wurden. Fortschritt ist zu konstatieren dort, wo die statuarischen Verfassungen, d. h. eben solche, die auf brüchigen Vereinbarungen über wechselseitig einzuhaltende Rechte im Feudalismus beruhen, überwunden werden zugunsten solcher, in denen das Recht weniger strittig wird. Vom Standpunkte der pragmatischen Anthropologie zeigt sich dabei, daß die Menschen, wenn sie nur dem durch den Verstand kalkulierten Eigennutz und den Nutzen für die Gesellschaft im Ganzen durch folgen, eine solche Entwicklung voran treiben würden. Man beachte: Das ist ein Konditionalsatz. Keineswegs wird behauptet, daß die Menschheit in der Geschichte sehr 10

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oft auch bloß in diesem Sinne rational handelt. In diesem Sinne kann gesagt werden, daß eine utilitaristische Haltung und eine utilitaristische Ethik von Kant anthropologisch als eine für die Verwirklichung des Sittengesetzes de facto förderliche Haltung ist. Es ist daran zu erinnern, daß utilitaristische ökonomische Motive ja auch bei den Erwägungen "zum ewigen Frieden" eine Rolle spielen. Für die pragmatisch-anthropologische Beurteilung von Rückfällen, die vom Sittengesetz weg, genauer vom status civilis wegführen, ist zu beachten, daß die Haltung des Souveräns hier eine entscheidende Rolle spielt. Wenn er nach "seinem eigenen Kopfe" verfährt, um festzustellen, was Recht ist, im schlimmeren Falle, je mehr er dabei seinen Neigungen folgt, ohne auf das Recht seiner Untertanen, auch als Zwecke an sich selbst betrachtet zu werden, zu achten, ist er selbst zurück auf dem Weg zum status naturalis. Wenn die Untertanen in einem solchen Falle zum gewaltsamen Widerstand in Rebellionen greifen, dann handeln sie zwar keineswegs nach dem Sittengesetz und nach den obersten Rechtsprinzipien, sie begeben sich aber auf die Ebene, auf der sich der Souverän bereits wieder befindet, den Naturzustand. Hier ist nun eine allgemeine ethisch-rechtliche Betrachtung am Platz. Gesetzt, jemand zwingt mich zu einer unrechtmäßigen Handlung oder auch dazu, eine unrechtmäßige gewaltsame Handlung zu dulden, ohne die hier pflichtmäßige Gegengewalt auszuüben, dann zwingt er mich, für seine Person in sittlich verwerflichster Weise, selbst gegen das Sittengesetz zu handeln. Diese meine Handlung wäre dann noch nicht einmal legal, geschweige denn moralisch aus der Achtung vor dem Gesetz hergeleitet. Es wird überall sonst wohl als absurd angesehen, wenn jemand eine unrechtmäßige Handlung als rechtmäßig erklärt, weil er sie unter Zwang vollzogen hat. Man wird zwar eine solche Handlung in extremen Fällen nicht als strafbar klassifizieren. Jeder Richter aber wird auch voraussetzen, daß der Betroffene seine Tat, sofern er und die geschädigte Person allein betrachtet wird, als ein Unrecht an dieser Person ansehen wird. Angewandt auf den Fall des gewaltsamen Widerstandes, der Rebellion und der noch zu betrachtenden Revolution kann das nur Folgendes heißen: Solche gewaltsamen Handlungen können nicht gerechtfertigt werden. Es kann aber sehr wohl sein, daß die Rebellierenden - im übrigen immer mit mehr oder weniger Recht - erklären, der Souverän habe sie gezwungen, in den status naturalis zurückzufallen, weil seine eigene Gewaltausübung gegen sie bereits auf dieser Ebene ihnen nichts anderes übrig ließ, als sich auf dieselbe Ebene zu begeben, um zu überleben. Kant warnt auch in technischpragmatischer Hinsicht vor einem solchen Schritt: Ob nämlich der dann unweigerlich auf den Plan tretende neue Herrscher besser ist, läßt sich, wenn man einmal in den status naturalis zurückgefallen ist, nicht vorhersagen. Der Ausgang einer solchen Rebellion oder Revolution ist ungewiß. Wenn nicht

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ein anderer Faktor hinzutritt, auf den nun einzugehen ist, ist ein schlechter Ausgang sogar gewiß. Kant sah in der französischen Revolution ein neues anthropologisches Faktum. Während in vor aufgegangenen Angriffen gegen die Staatsgewalt, wo die Absicht bestand, den Herrscher abzusetzen und auch neue Verfassungen einzuführen, die Rebellierenden - Revolutionäre im Sinne der französischen Revolution sind sie nicht - auf die Durchsetzung dessen, was sie als ihr verletztes Recht ansahen, aus waren und auf nicht mehr, hat die revolutionäre Partei in der französischen Revolution andere Ziele. Sie kämpft mit sittlichem Enthusiasmus für die Errichtung einer Verfassung, in der die Rechte aller garantiert sein sollen, d. h. für die bislang bekannteste beste Form der Verwirklichung der respublica noumenon. Für den Akt der Erhebung selbst gibt es keine gesetzliche oder moralische Rechtfertigung. Er kann wie alle anderen gewaltsamen Erhebungen als ein nun auch seitens der Untertanen vollzogener Rückfall in den status naturalis moralisch nicht gerechtfertigt werden, aus den oben erwähnten Gründen. Die Zielsetzung der Revolutionäre aber ist die Errichtung einer besseren, der idealen Republik näher stehenden Verfassung, die sie auch gegen noch vorhandene Widerstände durchzusetzen versuchen. Dieser Handlungsweise kann, sogar aùch mit Enthusiasmus, zugestimmt werden. Das bedeutet aber nicht, daß die Zuschauer selbst einen Akt der Erhebung vollziehen können. Es ist für sie und für ihre Souveräne aber ein neuer anthropologischer Tatbestand geschaffen. Der Einwand, daß eine Republik zwar schön in der Theorie sei, aber für die Praxis nicht tauge, kann durch Hinweis auf ein Faktum widerlegt werden. Die Republik existiert. Für die Souveräne, soweit sie die Gesetze nicht nach ihrem Kopf, sondern unter Berücksichtigung dessen, was ihre Untertanen sich selbst als Zweck gesetzt haben, geben, gilt die moralische Verpflichtung, eben diese neue Verfassung durch Reform selbst einzuführen. Tun sie das nicht, so sind sie gezwungen, zunächst über die Zensur und dann durch weiteres gewaltsames Einschreiten, allem Verlangen nach Einführung dieser Verfassung entgegenzutreten. Damit geraten sie auf eine abschüssige Bahn. Sie bewegen sich nämlich in raschem Tempo selbst zurück in den status naturalis. Hier wird sich, nach Einsicht der Anthropologie, genau das dann vollziehen, was sich unter diesen Voraussetzungen oft vollzogen hat. Die Untertanen antworten damit, daß sie selbst in den status naturalis zurücktreten, weil sie sich dazu gezwungen sehen. Was also ist ihrem Wesen nach zunächst eine Revolution? In ihrem Ansätze als Erhebung gegen die Staatsgewalt kann sie niemals berechtigt sein. Diesen Ansatz selbst werden auch alle an ihr Beteiligten bedauern. Reformen und friedlicher Übergang wären ihnen lieber gewesen. Ihrem Ansatz nach ist eine Revolution genau das, was ein Krieg ist, deswegen spricht man 10*

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von Bürgerkrieg. Staaten befinden sich untereinander im status naturalis. Gewaltsame Auseinandersetzung muß nicht sein, sie ist aber durch den status naturalis selbst "vorprogrammiert". Da sie als Ereignis zum status naturalis gehört, ist sie eine Naturkatastrophe. Auch Naturkatastrophen wie Erdbeben finden nicht immer statt, sie sind aber, wie die Geologie lehrt, vorprogrammiert. Das gilt auch für Rebellionen und Revolutionen. Sie sind durch soziale Umstände vorprogrammierte Katastrophen im status naturalis, Naturkatastrophen. Man kann sie nicht gutheißen. Gutheißen kann man nur das Bestreben, nach ihrem Eintritt in den menschlichen Ermessen nach stabilsten status civilis zu gelangen, eben den der respublica noumenon. Daraus ergibt sich aber eine weitere Pflicht. In einer Demokratie, in einer Republik im Kantischen Sprachgebrauch, ist eine der obersten Pflichten insbesondere für die juridische Gewalt, aber auch für die Legislative, darauf zu achten, daß Minoritäten nicht durch die Majorität in unzumutbare ökonomische und/oder rechtliche Verhältnisse gedrängt werden oder nicht aus solchen Verhältnissen herausgeführt werden. Unter diesen Umständen werden Minoritäten in den status naturalis zurückgedrängt. Es gilt aber auch, daß die Majorität selbst, indem sie so handelt, der Minorität gegenüber bereits in den status naturalis zurückgefallen ist. Damit ergibt sich wiederum eine Situation, in der ein Bürgerkrieg zwischen Minorität und Majorität vorprogrammiert ist. Hier ergibt sich für Kantianer die Aufgabe, im Rahmen einer zu erweiternden Kantischen Staatstheorie zu prüfen, welche Spielräume für Widerstand in Formen des zivilen Ungehorsams dem Recht entsprechen und welche nicht. Dieser Aufgabe kann im Rahmen dieser Tischrede nicht mehr gerecht werden.

REICHSFREIHERR VOM STEIN UND SERGEJ UWAROW IN IHREM UNVERÖFFENTLICHTEN BRIEFWECHSEL (1813-17) Von Erich Franz Sommer

In den Jahren 1813 bis 1817 fährte der Reichsfreiherr vom Stein eine kurze, aber intensive Korrespondenz mit dem jungen russischen Staatsbeamten Sergej Semjonowitsch Uwarow. Deren Bekanntschaft ging nicht erst auf Steins Petersburger Exil von 1812 zurück; sie begann im Kriegsjahr 1809, als der 23jährige russische Gesandtschaftssekretär von Wien nach Troppau gereist war, um den österreichischen Feldzug gegen Napoleon aus unmittelbarer Nähe zu beobachten. Beide verband spontan eine tiefe Abneigung gegen den "Usurpator", ungeachtet der Tatsache, daß Rußland seit der Begegnung des Zaren mit dem "Korsen" in Tilsit ein Verbündeter Frankreichs war. 1846 erinnterte sich Uwarow an seine Troppauer Begegnimg mit vom Stein und Pozzo di Borgo in einem nostalgischen "Memoire": "In der lachenden Umgebung von Troppau, jener kleinen Stadt, wo eine große Anzahl von Flüchtlingen sich während des Feldzuges von 1809 aufhielt, sah man in jener Zeit mehr als einmal zwei Freunde wandern, von denen der eine, der in seinen Gesichtszügen einen Südländer in der Kraft seiner Jahre verriet, der andere, schon bejahrt, fiel durch die Unregelmäßigkeit seiner Züge auf, wie auch durch seinen Blick, der in die Tiefen der Seelen einzudringen schien. Ihnen gesellte sich noch ein junger Mann hinzu, der mit wahrer Begierde der ernsten Unterhaltung der beiden folgte, in denen die großen Fragen der Gegenwart der Reihe nach berührt und besprochen wurden. Diese Männer, die sich vom Donner der französischen Kanonen nicht beunruhigen ließen, waren Stein und Pozzo die Borgo".Deutschland kannte Uwarow übrigens von seiner Studienzeit her. Er hatte 1805/06 in Göttingen studiert und an deutschem geistigen und politischen Geschehen lebhaften Anteil genommen. Göttingen galt zu Beginn des 19. Jhs. über die deutschen Grenzen hinaus als die freisinnigste und modernste Universität und zog u. a. sowohl baltendeutsche wie russische Studenten an.

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Alexander Puschkin verlieh seinem Romanhelden Lenskij sogar die schwärmerische "Göttinger Seele ... eines Dichters und Kant-Verehrers." Uwarow erwarb in Göttingen nicht nur eine gründliche Kenntnis der deutschen Philosophie und Literatur, sondern auch der antiken und universellen Geschichte. Wie viele andere Bojarengeschlechter besaßen auch die Uwarows einen tatarischen Stammvater. Sergej Semjonowitsch wurde 1782 als Sohn eines Flügeladjutanten Katharinas der Großen geboren, der sich in Suworows Türkenfeldzügen ausgezeichnet hatte. Seine Kindheit verbrachte er auf dem Lande. Der Familiensitz Poretschje im Moskauer Gouvernement entbehrte mit seinem gepflegtem Park, der Kunstsammlung und Bibliothek nicht einer gewissen feinsinnigen Lebenskultur. Sergejs Erziehung war einem französischen Abbé Mangin und einem deutschen Gouverneur anvertraut. In F. Wiegels Memoiren heißt es von ihm "er war von Natur aus klug, ausgesprochen wissenschaftlich begabt, außerordentlich gut aussehend. Französisch sprach und schrieb er in Prosa und in Versen, wie ein richtiger Franzose. Überall und von allen wurde er bewundert und gelobt, was ihm allmählich zu Kopfe stieg. Mit knapp siebzehn Jahren wurde er bei Hofe als Kammerjunker 5. Klasse eingeführt."Bevor Uwarow nach Göttingen ging - wo dreißig Jahre zuvor vom Stein Jura studierte -, besuchte er einige Semester die St. Petersburger Universität, an der die liberalen Reformideen des jungen Alexanders I. ihre Vertreter fanden. Reformen sollten Rußland vor dem Übergreifen revolutionärer Ideen aus Frankreich bewahren. Der deutsche Idealismus entsprach daher am ehesten dem Selbstverständnis der aristokratisch geprägten Oberschicht. 1806, nach seiner Rückkehr aus Göttingen, wurde Uwarow der russischen Gesandtschaft in Wien zugeteilt. Er wuchs mit seinen Altersgenossen in jene europäische Verantwortlichkeit Rußlands hinein, die Alexander I., wie seine beiden Nachfolger zu einem ständigen Eingreifen und Einflußnahme in deutschen Angelegenheiten führte. 1809 kehrte Uwarow nach Petersburg zurück und heiratete die alternde, aber unvermeßlich reiche Tochter des Bildungsministers Graf Alexej Razumowskij. Auf Drängen seines Schwiegervaters verliess er den auswärtigen Dienst und setzte seine Karriere in dessen Ressort erfolgreich fort. Im Juli 1812 folgte der von Napoleon als deutscher Patriot verfolgte und geächtete Reichsfreiherr vom Stein einer Einladung Alexanders I. nach Petersburg. Ohne ein Amt zu bekleiden wurde er während des napoleonischen Rußlandfeldzuges persönlicher Berater des Zaren und Gründer einer russisch-deutschen Legion. Uwarows Petersburger Salon entschädigte Stein in Petersburg für manche Unbill seines Exildaseins. An dem intelligenten und eleganten Salonlöwen schätzte Stein nicht allein dessen Weltoffenheit, Klugheit sowie seine von Ironie und Skepsis geprägte Beobachtungsgabe und sein Urteilsvermögen,

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sondern nicht minder jene umfassende und tieffundierte Bildung, die Uwarow in späteren Jahren sowohl die Qualifikation für den Posten eines Unterrichtsministers verschaffte, wie die Auszeichnung, mit Goethe zu korrespondieren. Wie so manche anderen russischen Aristokraten, die von den liberalen Ideen der frühen Regierungsjahre Alexanders I. geprägt waren, zeigte Uwarow Verständnis und Anerkennung für die Reformprojekte Steins. Im Januar 1813 verließ Stein Petersburg und reiste mit dem Hauptquartier des Zaren von Suwalki bis Lyck in Ostpreussen. Anschließend hielt er sich in Königsberg auf, wo er an der von ihm geforderten Tagung des ostpreußischen Landtages teilnahm und sich um die Aktivierung der Streitkräfte des Landes bemühte. Darüber berichtete er in seinem ersten Brief an Uwarow vom 27. Januar. Sein Groll und Zorn gegen Napoleon ließ sich auch angesichts des Rückzuges aus Rußland nicht zügeln, "obwohl er umgeben war von dem häßlichen Schauspiel einer von Hunger und Kälte aufgelösten Armee, hat Napoleon die Wildheit seines Charakters nicht verleugnet. Seine Tafel war raffiniert bestellt und er sah das Leiden seiner Waffenbrüder mit der äußersten Gleichgültigkeit an. Was geht es mich an, ob diese Kröten verrecken durchs Geschütz oder den Hunger! Welch ein Unterschied zwischen jenen Großen der Geschichte, welche die Leiden ihrer Soldaten geteilt haben, und diesem gemeinen Korsen, dessen schuldbeladene Seele jede ernsthafte und adelige oder humane Gefühlsregung von sich hinwegstößt".Über seinen Aufenthalt in Breslau, Preußens Kriegsbündnis mit Rußland schrieb Stein 1813 aus Kaiisch: "Wäre ich gesund gewesen, hätte ich ganz anders an der Begeisterung teilgenommen, die in Breslau geherrscht hat. Gelehrte wie Steffens griffen nach der Muskete, kurzum eine unglaubliche Bewegung. Fichte zieht auch in den Krieg, alle Universitäten leeren sich und der Geist, der sich zeigt oder sich wieder wagt zu zeigen, ist vollkommen gut. Machen Sie eine Reise nach Deutschland und erfrischen Sie Ihre Gesundheit, sie würde auch der liebenswerten Frau Uwarow gut tun, die dann auch den Geschmack an der deutschen Sprache finden wird."In dem ersten der erhaltenen Antwortbriefe Uwarows an Stein aus Petersburg vom 7. März 1913 empfahl dieser Friedrich Schlegel. "Sollten Sie daran denken diese Art von Gelehrten zu benutzen, die so vorherrschend und einflußreich in Deutschland ist," führte Uwarow u. a. aus. "Er ist eine jener reinen Stimmen auf die sich niemals der Zweifel (der öffentlichen Meinung) gelegt hat..., die mich fast glauben läßt, daß man ihn ins russische Hauptquartier bringen könnte oder in Ihre Nähe. Auch könnte man ihn während dieses Feldzuges in politischer Hinsicht gebrauchen (so wie es im Jahre 1809 durch von Stadion geschehn ist) und ihn nach Friedensschluß in Rußland festsetzen, wo er im Kultusministerium so bedeutende Dienste zu leisten vermöchte."-

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Den Briefwechsel Stein-Uwarow vermittelten hauptsächlich Kuriere des Zaren, gelegentlich auch Reisende, was denselben stark beeinträchtigte. Uwarow beklagte sich am 23. März, daß er sehr lange keine Nachricht von Stein erhalten habe, fügte aber hinzu: "Wenn man an der Rettung der Welt arbeitet, darf man den Briefwechsel mit seinen Freunden ruhig vernachlässigen". Dem Schreiben war eine gedruckte Denkschrift Uwarows bezüglich des Konkordats Napoleons mit dem Papst beigegeben, die von Xavier de Maistre inspiriert war. Über das angefochtene Konkordat äußerte Uwarow: "Man kann nicht genug Sorgfalt darein legen diesen ganzen Betrug bis auf seine Wurzeln auszuhacken". Diesen Brief Schloß Uwarow mit den für die deutsch-russische Euphorie jenes gemeinsamen Waffenganges gegen Napoleon bezeichnenden Sätzen: "Ich freue mich sehr an allen Ihren Erfolgen. Es ist schön, das Erwachen Deutschlands zu sehen! Fahren Sie nur fort für dieses Deutschland zu arbeiten und für die Menschheit zugleich. Vergessen Sie aber zu gleicher Zeit nicht, daß Sie vom Pol einen Schüler mitgenommen haben, der Sie liebt und aus ganzem Herzen verehrt".Von Prag aus äußerte sich Stein über Uwarows Konkordatschrift äußerst positiv; er habe sie "übersetzen und überholen" lassen. Der Passus über die Heirat Napoleons sei im Hinblick auf die Beziehungen zu Österreich als zu stark empfunden und daher weggelassen worden. Auf Pius VII. eingehend, meinte Stein, der Papst habe "keineswegs seinen Charakter verleugnet, nachdem Napoleon durch willkürliche Eingriffe perfide gehandelt, habe er schließlich Gewalt gebraucht und das achtungswürdige Oberhaupt der Kirche in Vincennes eingesperrt". Die militärische Lage von Juni 1813 charakterisierte Stein in seinem Brief mit den Worten:"Die verbündeten Heere schlagen sich mit bemerkenswertem Mute, die Preußen mit einer Aufopferung, die ihnen den Beifall ihrer Waffenbrüder wie ihrer Feinde einträgt. Sie spüren, daß sie Unrecht wieder gut zu machen haben und sie sind vom Wunsche beseelt sich dieser Schuld zu entledigen".Ende Juni 1813 äußerte sich Stein besorgt über die militärische Lage der Verbündeten, die wegen des dubiosen Verhaltens der Sachsen und der Unentschlossenheit Österreichs nicht die erwünschten Erfolge gebracht hätten. "Daß der Krieg weiter gehe", schrieb er u. a., "ist trotz aller Wechselfälle einem Scheinfrieden vorzuziehen, da dieser die Auflösung der verbündeten Streitkräfte herbeiführen würde und der gewaltsamen und schlauen Politik Napoleons freie Hand ließe. Nicht einmal in diesem Augenblick vermag Napoleon ein gemäßigteres Verhalten zu bewahren und auf gewaltsame und treulose Handlungen zu verzichten".Im Herbst 1813 überstürzen sich dann die Ereignisse. Am 9. September kommt der Vertrag von Teplitz zustande, Rußland schließt ein Kriegsbündnis mit Österreich und Preußen, und am 8. Oktober vollzieht Bayern seinen Frontwechsel und schließt sich der antinapoleonischen Koalition an. Bereits

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Anfang Oktober reist Stein von Prag ins Hauptquartier der Alliierten, findet aber vor seiner Abreise noch Zeit und Muße, Uwarow einen Brief zu schreiben. Den Beitritt Österreichs zum Bündnis begrüßt er zwar als ein wichtiges Ereignis, bedauert aber gleichzeitig, daß es sich "dabei eher um eine Vermehrung der physischen Kräfte als um eine Vermehrung edler und erhabener Einsichten und Gefühle" handele. Und er fährt fort in bezug auf Österreich: "Sie würden die Männer von 1809 nicht wiedererkennen - man hat nichts dazu getan die Moral des Volkes und des Heeres zu heben".- Lobesworte findet Stein dagegen für den "öffentlichen Geist", der in Preußen herrsche. "Ich habe dort die edelste Hingabe und Begeisterung vorgefunden die Opfer des von den vorhergegangenen so schweren Schicksalsschlägen ruinierten Volkes sind enorm, die Tapferkeit des ritterlichen Heeres glänzend, die Haltung bescheiden und bekundend, daß das Betragen ein ganz anderes zum Prinzip hat, als nur das Gefühl der Pflicht."- Als Anlage zum Brief fügt Stein soeben erschienene Schriften von Clausewitz und Gneisenau an. Uwarow beantwortet diesen Brief vom 6. Oktober am 22., d. h. bereits nach der Völkerschlacht bei Leipzig, "wie betäubt von dem Donner der Ereignisse und so unwissend in bezug auf die Details, daß uns nur ein Vergnügen bleibt: uns zu freuen." Bemerkenswert sind die Äußerungen Uwarows im Hinblick auf die politische Neugestaltung in Deutschland. "Es scheint, daß die Stunde der Befreiung Europas geschlagen hat, aber man braucht viel Mut, wenn man aus dieser Befreiung auch Nutzen ziehen will, denn die Franzosen sind nicht die einzigen Feinde, die Deutschland von seinem Busen schleudern muß. Seine Lage dünkt mich allgemein als sehr verwickelt. Ich freue mich zu sehen, daß Ihre Meinung über den Hinzutritt und das Verhalten Österreichs mit meinen Vorahnungen übereinstimmt. Meine günstigen Vorurteile für ein Land, in dem ich sehr gut aufgenommen worden bin und sehr glücklich war, hindern mich nicht all dies ganz zu empfinden, was im Grunde an Antideutschem im österreichischen Kabinett vorhanden ist. Seine geheimen Gedanken, verborgenen Hoffnungen, die Richtung, die man dort dem Lauf der Dinge geben möchte, alles dies steht in Beziehung zu seiner Lage. Die Erzherzogin Marie Luise und der König von Rom sind die beiden Steine des Anstoßes, die man auf dem vorgezeichnetem Wege unfehlbar antreffen wird. Sie sagen, daß ich die Männer von 1809 nicht wiedererkennen würde. Und ich glaube es. Zu jener Zeit war das Volk bewundernswert, das Heer tüchtig und von einem guten Geist erfüllt, aber die Führer entsprachen keiner dieser Eigenschaften. Nur die Stadions marschierten richtig ... Die Hintergedanken sind es, die immer die Minister in Österreich zugrunde gerichtet haben und es sieht nicht so aus, als ob die heutigen davon geheilt wären. Allein das Schauspiel, das Preußen uns bietet, tröstet über dies alles. Dieses Volk muß durch das, was es ist, das erste Volk Deutschlands werden. Es ist eine vollständige und

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wahre Wiedergeburt ... Man kann eine Nation nicht hoch genug loben, die sich auf diese Art wieder aufrichtet. Und denkt man daran, daß Deutschland während mehrerer Jahrhunderte zerwühlt war von abertausend Anlässen bis zur politischen Auflösung, daß es Schlag auf Schlag dahineingeraten ist, durch Luther, durch Ludwig XIV., durch die französische Philosophie, durch die Bibelauslegung, durch die Schlacht von Jena etc., etc., etc., wird man von Bewunderung erfüllt".Mitte November 1813 schreibt Uwarow noch einmal "par occasion" an Stein, um wie er sich ausdrückt - seine "zärtliche und aufrichtige Zuneigung" unter Beweis zu stellen, wie auch die Hoffnung auszudrücken, den erfolgreichen Staatsmann an den Ufern der Donau oder des Rheins wiederzusehen. Erfüllt ist dieser Brief von tiefer Enttäuschung darüber, daß er in Rußland nach Kriegsende keine seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechende Verwendung fände. 1810 war Uwarow nämlich aus dem diplomatischen Dienst ausgetreten und war - wohl auf Drängen seines Schwiegervaters - in das Kultusministerium hinübergewechselt. Bis 1822 blieb er Kurator des St. Petersburger Lehrbezirks. "Alles scheint ja anzuzeigen" schreibt er, "daß Deutschland seinen wahren Rang unter den Mächten Europas einnehmen wird und ich verberge Ihnen nicht, daß eine Reise außer Landes meine einzige Hoffnung seit langem bereits ist. Wären es nur jene wirklichen Verärgerungen, die mit dem Handwerk, das ich in diesem Lande ausübe, verbunden sind (ich kenne kein undankbareres) ... Inmitten völliger Verwirrung und tiefer Unwissenheit ist man gezwungen zu arbeiten an einem Gebäude, das in seinen Fundamenten untergraben ist und überall mit Einsturz droht ... Man wird mir nicht sagen dürfen, daß ich mich leicht entmutigen lasse. Auch ich habe viele Hoffnungen und Illusionen gehabt, aber drei Jahre Erfahrung haben sie zerstört ... Alle diese Motive lassen mir eine Reise wünschenswert erscheinen ..."In der Beurteilung der politischen Situation in Europa - wo im Gegensatz zu Rußland mit einschneidenden Veränderungen zu rechnen war - läßt sich bei Uwarow eine weltanschauliche Sicht und Betrachtungsweise feststellen, die zweifellos auf seine Beschäftigung mit griechischer und deutscher Philosophie, aber auch auf seine Gespräche mit Stein und E. M. Arndt zurückzuführen sind. "Mit dem Sturz Napoleons läßt sich nichts vergleichen", meint Uwarow, "offenbar ist es der Finger Gottes, der alles vorgezeichnet hat. Das Phantom der Weltmonarchie ist zerstoben, die Politik wird aufhören, hoffe ich, von der Moral getrennt zu sein ... und kein Zweifel, daß der menschliche Geist eine in all ihren Wirkungen heilsame Revolution durchmacht ... In Ihren Mußestunden lesen Sie sicher unsere gemeinsamen Freunde Tacitus und Thukidides. Ich werde sie mit Ihnen zusammen lesen auf Schloß Stein, und wir werden ihnen zugesellen Homer und Äschylos".-

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Die geplante Deutschlandreise kam nicht zustande, und es verging mehr als ein halbes Jahr, bevor Stein Gelegenheit fand, den Uwarowschen Klagebrief zu beantworten. Er findet in seinem Frankfurter Schreiben vom 16. Juni 1814 väterlich trostspendende und aufmunternde Worte für seinen an der harten Realität des Beamtendaseins und des Verwaltungsapparates verzweifelnden jungen Freund. "Schreiten Sie ruhig weiter auf der Bahn der Ehre und des Wohltuns, kommen Sie in unseren Kreis, in den Kreis der guten Deutschen, besuchen Sie einen Freund, der Sie zärtlich liebt und sich zur Ruhe setzen will in dem friedvollen Tal, in dem er das Licht der Welt erblickt hat... Wir werden dann über die Ereignisse reden, deren Zeugen wir gewesen sind, über die edlen und erhabenen Taten, deren Zeitgenossen wir waren, über die Befreiung vom Joch durch die Standhaftigkeit und den versöhnlichen Geist des Kaisers Alexander. ... Ich schulde Ihnen noch einen gedrängten Bericht über die Beziehungen, in denen ich mich seither (seit dem Brief aus Prag von August 1813) befunden habe. Nach der Schlacht von Leipzig beauftragte man mich mit der Verwaltung der wiedereroberten Länder, innerhalb von drei Monaten fand ich mich mit der Verwaltung von Sachsen, des linken Rheinufers, Belgiens sowie eines Teils des ursprünglichen Frankreich betraut. Die Verlegung des Hauptquartiers, die Unterbrechung aller Verbindungen waren einer geordneten Verwaltung nicht gerade günstig und ich mußte alles von den örtlichen Gouverneuren erhoffen ... Ich befand mich in der glücklichen Lage meinen Beitrag leisten zu können, indem die föderativen Elemente einer föderativen Verfassung Deutschlands sichergestellt wurden; die Einzelheiten sollen in Wien erörtert werden, wo die Freiheit und die Wohlfahrt meiner Landsleute, so hoffe ich, gewährleistet wird."Uwarow erhielt diesen Brief "auf dem Lande bei Petersburg", wie er am 13. Juli 1814 schreibt, und beantwortete denselben sofort auf sechs engbeschriebenen Seiten, wobei der französische Text durchsetzt ist mit grammatikalisch unbeholfenen deutschen Einschüben. So heißt es zu Beginn: "Jawohl, wandle ich allein und hülflos - aber mein Vertrauen auf Vorsehung, auf moralische idden, auf Würde des Geistes und der Menschheit bleiben unwandelbar". Die Verzögerung seiner Deutschlandreise begründet Uwarow mit der Geburt seiner Tochter Alexandrine, die noch nicht imstande sei, "auf dem Rasen des Steinschen Schlosses zu spielen". Dem Brief war eine Denkschrift beigegeben, in der er dem Zaren sein Reformprojekt für das Russische Reich unterbreitete. Auf Deutsch kommentiert Uwarow dasselbe mit den Sätzen: "Hier hat das Ding viel aufsehen gemacht. Das ganze Hof- und Cabinettgesindel hat viel gestaunt, daß man so von einem Autocrat reden könne. Zum Schmeichler bin ich nicht gebohren ... ich hoffe auch Sie mit den allgemeinen Ideen zufrriden seyn werden: Press und Handelsfreyheit, Aufklärung im wahren Sinne, milder Geist der Regierung, aufhiebung alter For-

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men, Haß des Despotismus und ein liberaler Sinn für das Schöne und wahre sind hier Gespenster vor denen ein jeder flieht und die man wohl verbannen würde, wenn man sie nur anfassen könnte. Ich habe den einen trost immer ein freyes und wahres wort geredet zu haben und auch in dieser gelegenheit hoffe ich meinen ideen treu geblieben zu sein".- Von der Rückkehr des Zaren nach Petersburg erwarte er eine endgültige Entscheidung über sein künftiges Geschick; er schwanke aber zwischen der Annahme eines neuen Postens und der Möglichkeit nach eigenem Belieben zu reisen, um "endlich die finanzielle Unabhängigkeit auszunutzen, die ich so teuer erkauft habe". Angedeutet wird damit die Vernunftsehe mit der ungeliebten Tochter des Unterrichtsministers Razumowskij. In einer weiteren deutschen Sequenz bekennt Uwarow: "Es ist immer sehr schwer den leuten hier begreiflich zu machen, daß man einen andern Schmuck im leben erwarten kann als Ordensbänder und das der Stern auf der Brust garr nicht den Stern auf dem Haupte voraussetzt ... Es ist eine Herculische und fast unnütze arbeit. Wenn ich an alle Mißgriffe in meinem leben denke, so steigt immer wieder die idee auf, daß ich nie hier wurzel fassen werde und immer eine exotische pflanze bleibe und gegen meinen willen fast mich am Ende der gedanke, ich hätte sollen ihr mitbürger oder vielleicht Ihr Sohn gebohren seyn - aber es sind träume: ich verjage sie und will sie verjagen". Im folgenden französischen Text geht Uwarow auf die "Neuorganisierung Deutschlands" ein. "Ich fange an mir Gutes davon zu versprechen", schreibt er in diesem Zusammenhang, "da Sie daran teilnehmen. Es ist Zeit, daß (die Neuordnung) Gestalt annehme, die der moralischen und politischen Lage (Deutschlands) entspricht, aber ich vermute, daß die Sache sich nicht ohne große Schwierigkeiten ausführen lassen wird. Die Teile sind so heterogen, daß sie nur mit der Zeit sich werden amalgamieren lassen. Eine föderative Verfassung entspricht diesem Jahrhundert und dem Geiste der Nation. Es erhebt sich aber die große Schwierigkeit, das Band zu bestimmen, daß die Elemente einer solchen Verfassung miteinander verbinden soll. Das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, ergibt eine weitere Schwierigkeit... Wenn ich Deutscher wäre, besonders, wenn ich im Kaiserreich geboren wäre, so wäre ich betrübt über die Zerstückelung Sachsens ... weil Sachsen tausend Erinnerungen darbietet, welche die Torheiten seiner Souveräne auslöschen, vom 30jährigen Krieg bis 1813. Dieses kleine Land, so glücklich, so frei, so voller Kultur ist die Wiege der Reformation gewesener Hauptort eines sehr aufgeklärten Teiles von Deutschland, das Bollwerk seiner Freiheit gegen das Haus Habsburg etc. etc. Kurzum, wenn die Sache sich ereignen sollte, ich hebe die Hand auf und klage".Wenige Wochen danach, am 28. August 1814, schreibt Uwarow dank einer "occasion" erneut. Hinsichtlich der Neuordnung Deutschlands melden sich auch bei ihm Zweifel an. "Der große diplomatische Feldzug beginnt und ich zweifle nicht, daß er genau soviel Schwierigkeiten bereiten wird wie der militärische. Hoffen wir trotz alledem, daß sich der deus ex machina einstellen

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wird ... Es wird kein Europa geben solange Deutschland nicht auf seinen natürlichen Gebieten wieder gegründet worden ist ... Ich kann die ganze Schwierigkeit Ihrer Position durchaus nachempfinden. Aber Sie haben die Schranke geöffnet, der Handschuh ist hingeworfen und es bleibt nichts übrig als zu siegen oder zu sterben. Sie erscheinen mir als einer der Repräsentanten des Jahrhunderts. Sie haben sich zum Organ der Wahrheit und Freiheit gemacht, eine erhabene, aber schwierige Mission! ... Es ist besser mit seinem Vaterlande zu unterliegen als zu siegen mit seinen Unterdrückern ... Der große Kampf des Jahrhunderts ist nicht zu Ende ... Alles deutet nicht auf eine Zeit der Ruhe, noch auf eine freiwillige Rückkehr zu wahren Grundsätzen. Die Revolution ist nicht beendet, sie ist nur auf die Kabinette übergegangen".Im Cappenberger Archiv fand sich noch ein letzter undatierter Brief von Uwarow, der allem Anschein nach 1818 geschrieben worden ist. Er ruft sich "nach langem Schweigen" in Erinnerung, und zwar in der Überzeugung, daß Stein zu "der kleinen Zahl derjenigen gehört - über die weder Zeit noch Raum Gewalt haben". Aber sein eigentliches Anliegen ist ein hoch offizielles. Die Zarin Elisabeth, eine gebürtige Prinzessin von Baden-Durlach, "die schönste Blume Deutschlands", wie Uwarow hinzufügt, habe den Wunsch geäußert, "aus den Trümmern der Deutschen Verfassung" die Statuten eines distinguierten Damenstiftes zu erhalten. Da Uwarows dienstliche und gesellschaftliche Position am Hofe sich gefestigt hatte, kettet ihn nunmehr die Pflicht an sein Land, dem er auch seine Zukunft verschrieben hätte. Gleichzeitig kündigt er Stein eine Schrift an, in der er Bezug nehme auf die Warschauer Rede Alexanders I. von 1818, in welcher der Zar die Einführung liberaler Institutionen in ganz Rußland angekündigt hat. "Es ist gut Europa zu zeigen, was man am Fuß der Statue des Kaisers sagen kann". Mit einem Adieu und dem Wunsch "in Ihrem Herzen und in Ihrem Schloß" einen kleinen Platz bewahrt zu wissen, schließt der Briefwechsel Uwarows mit Stein. Sowohl Stein wie Uwarow sahen sich nach 1815 als gescheiterte liberale Reformträger in ihren Heimatländern. Während aber Stein resignierte, sich auf Schloß Kappenberg zurückzog, sich dort dem Studium deutscher Geschichtsquellen und der Herausgabe der "Monumenta Germaniae" widmete, fand Uwarow für seine noch unverbrauchten jugendlichen Kräfte Verwendung im russischen Bildungswesen und im Studium der Antike. In den Mußestunden züchtete er mit seinem Bruder 500 Cameliensorten und erlangte damit Anerkennung unter den Botanikern. Von 1818 bis zu seinem Tode (1855) war er Präsident der Petersburger Akademie der Wissenschaften, deren Mitglieder überwiegend Ausländer, hauptsächlich deutsche Gelehrte waren. Unter seinem Nachfolger begann der von Lamanskij geführte "Kampf gegen die deutsche Bevormundung".

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Uwarows Ernennung zum Minister für Volksbildung (1833-1849) fällt bereits in die Zeit der sich verschärfenden reaktionären Politik Nikolaus I., der die Forderung aufstellte, daß die Erziehung der russischen Jugend im Geiste von drei allgemein verbindlichen Prinzipien Orthodoxie, Autokratie und Volkstum" zu erfolgen habe. Uwarow nahm den Ministerposten, wie er sich geäußert haben soll, nicht aus Überzeugung oder Opportunitätsgründen an, sondern um Schlimmeres zu verhüten. Seine wahren Verdienste erwarb er sich aber in der Akademie der Wissenschaften. Seiner Initiative war die Gründung des von den Brüdern Struve geleiteten Observatoriums von Pulkowo und der Universität Kiew zu verdanken, eine Modernisierung der Akademiestatuen sowie die Durchfühung zahlreicher wissenschaftlicher Expeditionen nach Sibirien, dem Kaukasus und Mittelasien. Er sorgte im besonderen für die Fortbildung des russischen wissenschaftlichen Nachwuches in Berlin durch Vergabe von Stipendien, die gleichzeitig eine Lehr- oder Forschungsstelle garantierten. 1845 wurde Sergej Uwarow in den Grafenstand erhoben, aber schon drei Jahre danach trat er aus Protest gegen die willkürliche Einschränkung der Volksbildung - infolge der revolutionären Ereignisse von 1848 in Westeuropa - von seinem Ministeramt zurück. Bis zu seinem Lebensende blieb er jedoch der deutschen Kultur, insbesondere Goethe, verbunden und verpflichtet. Die von ihm angestrebte persönliche Begegnung kam zwar nicht zustande, aber 1810 schickte Goethe einen Aufsatz über "Wilhelm Meister" und später ein selbstverfasstes deutsches Gedicht über "Mutter-Natur". Seine Korrespondenz mit Goethe beinhaltete sowohl die Gründung einer gescheiterten"Asiatischen Akademie", wie die Unterbringung der von Goethe empfohlenen Gelehrten an den russischen Universitäten und Fachschulen. Als Präsident der Akademie hielt Uwarow am 22. März 1833 eine Gedenkrede auf Goethe, in der er ihn als vorbildlichen Staatsdiener und Gegner des "revolutionären Zeitgeistes" feierte. Darin hieß es: "Als 'Faust'erschien war ich in Deutschland. Dessen Wirkung auf die Zeitgenossen war unvorstellbar. Die einen waren hell begeistert, die Wirrköpfe empört, denn 'Faust' ist eine erhabene Satire auf die deutsche Passion in den Tiefen und Abgründen des Geheimnisvollen zu wühlen dessen Schleier um jeden Preis lüften zu wollen. Goethe erwies sich aber als Hüter des deutschen Geistes und schärfster Gegner jener Wirrköpfe, die selbst die Philosophie für ihre zerstörerischen Zwecke mißbrauchten. Sein Ruhm war aber so groß, daß die über ihn Empörten es nicht wagten gegen ihn aufzutreten, sich wie in der Schule von ihm züchtigen ließen und nunmehr "Also sprach der Lehrmeister" von sich gaben".Die Briefe S. S. Uwarows befinden sich nach wie vor im Familienbesitz der Grafen Kanitz auf Schloß Kappenberg in Westfalen. Bis zur russischen Revolution und der Verstaatlichung des Uwarowschen Besitzes (1918) be-

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fand sich das Familienarchiv auf dem Landgut Poretschje. Glücklicherweise blieb es unversehrt und wurde dem Archiv des Historischen Museums in Moskau übergeben. Sergej Uwarows umfangreiche Auslandskorrespondenz in zwei ledergebundenen, alphabetisch geordneten Bänden enthält u. a. acht Briefe vom Steins, zehn von Goethe, sowie von Schelling, den Brüdern Humboldt und zahlreichen anderen Gelehrten. Durch einen Austausch von Fotokopien, vermittelt durch die deutsche Botschaft in Moskau (Dr. Wolfgang Kasack) gelang es mir 1958 die Korrespondenz Stein-Uwarow in den Jahren 1813-1817 zu rekonstruieren. Die französischen Originale, mit eingestreuten, nicht ganz korrekten Passagen Uwarows, wurden von dem Romanisten Dr. Wilhelm Hellemann unter Beibehaltung des epistolaren Stils der ersten Hälfte des 19. Jhs. in Deutsche übertragen. Drei der Steinschen Briefe wurden 1963 von Prof. Walter Hubatsch in Bd. IV, seiner Briefedition veröffentlicht.