Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXVI/XXVII (1986) [1 ed.] 9783428460021, 9783428060023


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Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr: Band XXVI/XXVII (1986) [1 ed.]
 9783428460021, 9783428060023

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JAHRBUCH DER

ALBERTUS-UNIVERSITÄT ZU KÖNIGSBERG/PR.

1986 BD. X X V I / X X V I I

Herausgeber: DER GÖTTINGER ARBEITSKREIS

JAHRBUCH DER

ALBERTUS-UNIVERSITÄT ZU KÖNIGSBERG/PR.

BEGRÜNDET V O N FRIEDRICH HOFFMANN UND G Ö T Z V O N SELLE

BAND X X V I / X X V I I

1986

DUNCKER & HUMBLOT

·

BERLIN

Umschlag:

Der

Göttinger

Willi Greiner,

Arbeitskreis:

Würzburg

Veröffentlichung

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in GermanyISBN 3-428-06002-4

N r . 435

RUDOLF

KÖNIGSBERG U N D

MALTER

KANT

IM

„REISETAGEBUCH"

DES T H E O L O G E N J O H A N N F R I E D R I C H A B E G G

(1798)*

I. D a s T a g e b u c h , das d e r r e f o r m i e r t e

Theologe Johann Friedrich Abegg auf

seiner Reise nach K ö n i g s b e r g i m J a h r e 1798 v e r f a ß t h a t , w a r bisher n u r i n den Auszügen bekannt, die H . D e i t e r 1909/10, K a r l V o r l ä n d e r

1913

und

d a n n n o c h m a l s 1 9 2 4 v e r ö f f e n t l i c h t h a t t e n . 1 Schon d i e i n diesen V e r ö f f e n t l i c h u n g e n m i t g e t e i l t e n Passagen l i e ß e n d e n E i n d r u c k entstehen, d a ß es sich b e i d e m Abeggschen Reisetagebuch u m e i n D o k u m e n t v o n b e s o n d e r e m z e i t u n d k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e m , s p e z i e l l auch p h i l o s o p h i e g e s c h i c h t l i c h e m I n f o r m a t i o n s w e r t h a n d e l n müsse. D i e v o n W a l t e r u n d J o l a n d a A b e g g i n Z u s a m m e n a r b e i t m i t Z w i Batscha besorgte erste

Gesamtausgabe

bestätigt

diesen

Eindruck.2 * Dem folgenden Aufsatz liegt ein Vortrag zum Thema „Neue Kantquellen" zugrunde, den der Verfasser auf der Mitgliederversammlung der Kant-Gesellschaft am 8. 10. 1977 in Bonn gehalten hat. 1 Vgl. Johann Friedrich Aheggs Reise zu deutschen Dichtern und Gelehrten im Jahre 1798. Nach Tagebuchblättern mitgeteilt von H . Deiter, in: Euphorion 16, 1909, 732—745; 17, 1910, 55—68; Karl Vorländer: Kant als Politiker, in: März (München) 7. Jg. 1913, Bd. 2, 219 bis 225; Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Leipzig 1924 (2 Bände; 2., erweiterte Auflage Hamburg 1977, 2 Bde. in 1 Bd.; abgekürzt im folgenden: Vorl. I, Vorl. I I ) . Die von Deiter und Vorländer gebotenen Auszüge wurden in der Kantforschung häufiger ausgewertet (vgl. u. a. Burg, s. Anm. 42 und Henridi: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis. Einleitung von Dieter Henrich. Frankfurt 1967). 2 Johann Friedrich Abegg: Reisetagebuch von 1798. Erstausgabe. Hrsg. v. Walter und Jolanda Abegg in Zusammenarbeit mit Zwi Batscha. Frankfurt (Insel Verlag) 1976, 2. Aufl. 1977. — Vorländer hat im Anhang zu seiner Kantmonographie (Vorl. I I , 377) die Deitersche Teiledition scharf kritisiert. Aber auch zwischen den von Vorländer gebotenen Auszügen und den entsprechenden Passagen in der Gesamtausgabe bestehen teilweise schwerwiegende Differenzen. Der gewichtigste Fall sei genannt: Kant sagt gemäß Gesamtausgabe (S. 249): »Die Religion wird keinen Fortbestand mehr haben." Bei Vorländer lesen wir: . . keinen Verlust m e h r . . . " Eine Entscheidung über Richtigkeit oder Falschheit dieser Lesarten kann nur der treffen, der das Manuskript eingesehen hat. Vom lebhaften Echo, welches die Erstausgabe gleich nach Erscheinen hervorrief, zeugen die recht zahlreichen und zum Teil auch ausführlichen Feuilletons. Vgl. u. a. Urs Bitterli: Begegnungen mit Kant, Abbé Sieyès, Wieland, in: Neue Züricher Zeitung 26./27. 2. 1977; Nino Erne: Das alte Königsberg als Musenhof, in: Die Welt 6. 3. 1977; Politische Gespräche mit Kant, in: Arbeiter-Zeitung (Wien) 15. 1. 1977; Werner Helwig: Landschaften des Geistes, in: Rheinische Post 15. 1. 1977; ders.: Reisetagebuch von 1798, in: Darmstädter Echo 31. 1. 1977;

5

Rudolf Malter Johann Friedrich Abegg, zur Zeit seiner Reise Pfarrer i n Boxberg bei W ü r z burg 3 , begann seine (auf Einladung seines Bruders 4 erfolgte) Reise am 25. A p r i l 1795; sie führte ihn über Gotha, Jena, Weimar, Leipzig, Berlin und Danzig i n ca. 5 Wochen nach Königsberg. 5 Der Bruder w a r ihm nach Elbing Susanne Knecht: Angenehm dicker Goethe, in: Wir Brückenbauer (Zürich) 6.5. 1977; Otto Heuscheie: Ein bedeutendes Reisetagebuch, in: Die Tat 11. 3. 1977; Anton Krättli: Reise nach Königsberg, in: Schweizerische Monatshefte August 1977, 404—408; E. M.Landau: Ein Reisetagebuch von 1798, in: Thurgauer Zeitung 25. 3. 1977; ders.: Eine trügerische Idylle, in: Wiesbadener Kurier, Magazin, April 1977; ders.: Einst Gesprächsstoff der Gesellschaft (zur 2. Aufl.), in: Salzburger Nachrichten 26. 6. 1977; V. Lehmann, Rez. in: Deutsches Ärzteblatt. Ärztliche Mitteilungen, Heft 42 vom 20. 10. 1977; Albert von Schirnding: Zu Tisch bei Immanuel Kant, in: Süddeutsche Zeitung 26./27. 2. 1977; Gerhard Schulz: Kant ließ keinen zu Wort kommen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1. 2. 1977; Ralph Rainer Wuthenow: Klatsch aus gebildeten Zeiten, in: Die Zeit, Nr. 6, 28. 1. 1977. (Dem Insel-Suhrkamp-Verlag sei an dieser Stelle für die Mitteilung dieser Titel gedankt). Trotz der verschiedenen Perspektiven, unter denen in den genannten Beiträgen das Reisetagebuch angesehen wird, kommen alle Autoren darin überein, daß Verlag und Herausgeber mit der Gesamtveröffentlichung ein durch subjektive Unmittelbarkeit und Frische sich auszeichnendes informationsreiches Dokument zur Kultur- und Geistesgeschichte des endenden 18. Jahrhunderts dargeboten haben. Offenbar hat aber keiner der Rezensenten, auch nicht der wenig sachkundig vom hohen Roß redende Feuilletonist der FAZ und auch nicht der als Fachmann ausgewiesene Autor des Zeit-Artikels, die Mängel dieser Gesamtausgabe bemerkt. Sie betreffen vor allem das Personenregister, ohne welches man bei der Vielheit der im Text vorkommenden Namen nicht auskommt. Leider wurden die Fehler der ersten Auflage auch in die zweite unverändert übernommen. Vgl. die Rez. des Verf. in Kant-Studien 70, 1979. 3 Zur Person Abeggs vgl. die Einleitung Walter Abeggs. Die wichtigsten Daten: Geb. 30. 9. 1765 in Roxheim b. Bad Kreuznach als Sohn des reformierten Pfarrers Johann Jakob Abegg; Studium in Halle (Theologie u. Philologie); 1789 Konrektoratsverwalter am Heidelberger Gymnasium; im gleichen Jahr a. o. Prof. an der Phil. Fak. der Universität Heidelberg; 1793 Pfarrer und Inspektor in Boxberg bei Würzburg; seit 1823 Erster Prediger an der H . GeistKirche in Heidelberg; 1816 ord. Prof. der Theol.; 1828 Rektor der Universität; gest. 1840 in Heidelberg. — Abegg hat nur wenig veröffentlicht; vgl. u. a. Versuch über das Allgemeine der sokratischen Lehrart, Heidelberg (Diss.) 1793; Predigt über Römer 15, 3, gehalten am 20. October dieses Jahres vor der Ev. Ref. Gemeinde zum Heiligen Geist, Heidelberg 1816; De Ioanne Baptista Oratio quam dixit die X X V . M. Martii in aula nova universitatis Heidelbergensis, Heidelberg 1820; in den Heidelberger Jahrbüchern hat Abegg eine Anzahl von Rezensionen publiziert (vgl. hierzu die weiter unten erwähnten Briefe an Scheffner). — Das Reisetagebuch war nach Abeggs ausdrücklichem Willen nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Uber die Gründe vgl. die Mutmaßungen Batsdias 317 f. Wenn Abegg auch ein Unbekannter geblieben ist, so stimmt die Behauptung, er habe es „zu keinerlei lexikalischem Fortleben" (Albert v. Schirnding) gebracht, nicht ganz. Immerhin bringt die ADB einen Artikel aus der Feder Holtzmanns (ADB, Bd. 1, 4 f.) und L. Abegg schreibt einen Beitrag über ihn in den Badischen Biographien (Badische Biographien hrsg. v. Friedrich von Weech, 1. Teil Heidelberg 1875. 1 f.); vgl auch die „Vorträge auf Veranlassung des Hinscheidens des . . . Kirchenrates Dr. J. F. Abegg". Heidelberg 1840; Hinweise auf die Veröffentlichungen von Ullmann und Rothe finden sich im genannten ADB-Artikel. Briefe Abeggs an J. G. Scheffner sind im 1. Bd. des Scheffnerbriefwechsels veröffentlicht (Briefe an und von Johann George Scheffner. Hrsg. v. Arthur Warda. 1. Bd. Α-K, München/ Leipzig 1918); vgl. zu diesen Briefen die „Würdigung der Scheffnerbriefe" durch Carl Diesch in Bd. 5 des Briefwechsels (Briefe . . . 5. Bd. hrsg. v. Carl Diesch. Königsberg 1938; vgl. auch die im gleichen Bd. enthaltenen Anmerkungen zu den Abeggbriefen (S. 49—52, dort zu verbessern: Boxberg (statt Roxberg) und 1798 (statt 1800) als Datum des Königsbergbesuchs). 4

Ob die Reise nur den Zweck hatte, den Bruder zu besuchen, oder ob sie noch mit einer „Mission" (eventuell der Vereinigung der lutherischen mit der reformierten Kirche) verbunden war, wird von Batscha vorsichtig erwogen (332 f.). Das Tagebuch gibt keine konkreten Hinweise.

6

Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg bereits entgegengereist, um ihn v o n hier aus nach Königsberg zu geleiten. „ I m Hohen Krug, eine Meile vor Königsberg, trafen w i r die Hausgenoßen meines Bruders an, die uns hierher entgegen gefahren waren. So fuhren w i r m i t 3 Chaisen i n Königsberg ein, und G. Ph. führte mich i n sein Haus, i n das ich m i t Rührung meinen Fuß setzte." (136). Die Welt, m i t der Abegg durch seinen Bruder i n Berührung kommt, ist die Welt des durch H a n d e l und heimisches Gewerbe wohlhabend gewordenen Großkaufmannsstandes. Der Bruder gehört zur Prominenz dieses Standes, und durch ihn macht der Besucher dann auch schnell die Bekanntschaft m i t anderen kommerziell führenden Häusern. 6 Er nimmt an ihren Gesellschaften teil und kann sich über das wirtschaftliche Leben der Stadt unmittelbar informieren. Eine Selbstverständlichkeit für den i n Königsberger Kaufmannskreisen Lebenden — w i r wissen dies besonders gut aus Kants und Hamanns Biographie — ist der direkte K o n t a k t zu den Intellektuellen der Stadt 7 . Abegg macht regen Gebrauch von der Möglichkeit, die interessantesten Figuren des Königsberger Geisteslebens kennenzulernen, m i t ihnen selbst zu sprechen und über sie i n den häufig stattfindenden geselligen Zusammenkünften i n den verschiedensten Häusern Charakteristisches — auch Anekdoten und Klatsch — zu hören. Abegg notiert sich fleißig, wann und bei wem er eingeladen war, wie er empfangen wurde, m i t wem er gesprochen hat und worüber i m Frühsommer 1798 i n Königsberg hauptsächlich geredet wurde. Er t r i f f t , teils i n größerer Gesellschaft, teils bei Einzelbesuchen, renommierte Männer Königsbergs: Scheffner, Kraus, Schultz, Pörschke, Borowski, Crichthon, von Baczko, Jensch, Frey, Deutsch, J. M . Hamann. M a n spricht über denk- u n d merkwürdige Personen, die i n der Stadt lebten: so v o r allem über H i p p e l , über Hamann, Fichte (von dem der Klatsch 5 Abegg benutzte die Gelegenheit einer Reise quer durch Deutschland, um berühmte Persönlichkeiten aufzusuchen (u. a. Fichte, Goethe, Herder, Jean Paul, Sieyès, Wieland). Die Reise begann am 25. April und endete am 10. August 1798. Zum Reiseverlauf vgl. die Tafel im Reisetagebuch, S. 368. Wir gehen im folgenden nur auf die Königsberger Phase ein. Als Gesamtinformation über den Bericht tut Deiters Darstellung auch heute noch gute Dienste; vgl. auch die in Anm. 2 genannten Gesamtwürdigungen. 6 Über den Bruder Georg Philipp Abegg vgl. die Angaben in Walter Abeggs Einleitung S. 12 und die Daten im Personenregister S. 353. Merkwürdigerweise erwähnt Fritz Gause in seiner Königsberger Stadtgeschichte Georg Philipp Abegg, der nach Mitteilung Walter Abeggs zeitweise immerhin „60 eigene Schiffe" besaß, „bei weiteren zwanzig beteiligt" war und das Rittergut Aweyden erworben hatte, im Kapitel über die Königsberger Kaufmannschaft des 18. Jahrhunderts nidit (vgl. Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. I I . Bd. : Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Köln — Graz 1968). Im ScheffnerbriefWechsel wird er dagegen häufiger erwähnt. 7 Vgl. Fritz Gause: Kants Freunde in der Königsberger Kaufmannschaft, in: Jahrbudi der Albertus-Universität Königsberg 9, 1959, 49—67; ders.: Kant und Königsberg. Ein Buch der Erinnerung an Kants 250. Geburtstag am 22. April 1974. Leer/Ostfriesland 1974, 68 ff.

7

Rudolf Malter wissen w i l l , daß er ein Mädchen bei seinem ersten Königsberger Aufenthalt geschwängert habe), man spricht auch über die noch i n der Stadt Lebenden — an erster Stelle über den greisen K a n t , dann über seinen politisch zwielichtigen Universitätskollegen Schmalz, auch über einige der schon Genannten w i r d i n Abwesenheit geredet (man lese etwa das U r t e i l Scheffners über Borowski oder über Schultz), man unterhält sich nicht zuletzt über die gerade aktuellen Autoren aus dem Bereich der Literatur (Jean Paul, JungStilling, Biester, Claudius, Graf v. Stolberg, Voss) und über das gerade in Königsberg anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten anwesende Königspaar. Der Königsbesuch ist politisches Hauptgespräch 8 . Abegg hat sich die einzelnen Stationen der Ereignisse meist aufgrund eigener Anschauungen aufgezeichnet: 3. Juni: A n k u n f t des Königspaares i m geschlossenen Wagen — er bemerkt die Schönheit der K ö n i g i n Luise und die Verlegenheit des jungen Königs; 5. Juni: H u l d i g u n g u n d Feier i m Moskowitersaal; Studentische H u l d i g u n g ; 6. Juni: „Revue" des Königspaares und Parade; 7. Juni: Volksunterhaltung anläßlich des Ereignisses („acrobatisches K u n s t w e r k " auf dem M ü h l d a m m ; Aufsteigenlassen von Luftballon u n d Sternrakete); 8. Juni: Feldlager m i t Manöver (Kavallerie und Infanterie) und abends Ball der Landstände m i t I l l u m i n a t i o n des Schloßteiches, auf dem der K ö n i g und die K ö n i g i n i m Boot fahren. D a n k der gehobenen gesellschaftlichen Stellung des Bruders kann Abegg an der Feier i m Moskowitersaal teilnehmen (hier fallen ihm die vielen polnischen Magnaten auf — wie überhaupt während der Festtage eine unübersehbare Menge auswärtigen Besuchs i n Königsberg w e i l t ) ; auch dem Manöver kann er beiwohnen und er gehört zusammen m i t dem Bruder, der ein Billet für den Landständeball bekommen hatte, zu denen, die i n einem Schiff dem Boot des Königs folgen dürfen. Neben diesen Ereignissen bot auch der Theater- und Konzertbesuch A b wechslung während des zweimonatigen Aufenthaltes. Abegg sieht i m K ö nigsberger Theater Kotzbues „ W i l d f a n g " und das Stück „Abällius, der große Bandit", er erlebt eine Aufführung der Zauberflöte und n i m m t i m Theater und i m privaten Z i r k e l an Konzert und Serenade teil. Bei Kriegsrat Bock kann er eine bedeutendere Gemäldesammlung m i t Bildern v o n Claude 8

Vgl. Abeggs Schilderungen S. 153 ff. — Weiter zu diesem Ereignis: Henning: Chronologische Ubersicht der denkwürdigsten Begebenheiten, Todesfälle und milden Stiftungen. Elbing 1803 (zit. nach Gause); Fritz Gause; Kant und Königsberg I I , 221; vgl. weiterhin die Erinnerungen Wilhelm von Brauns („Blüten und Dornen"), die sein Neffe Magnus Freiherr von Braun in seiner Autobiographie (Weg durch vier Zeitepochen. Aus dem Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichung Nr. 280, 3. Auflage Limburg o. J. (1956), 15—17) ediert hat. Vgl. auch Batscha, 326 f. ; Krättli (s. Anm. 2) bemerkt zu Recht, daß an der Abeggschen Schilderung der Reaktion der Königsberger auf den Krönungsbesuch „die unabhängigen Stellungnahmen der Kaufleute, des Bürgertums und der Beamten von besonderem Interesse sein dürften". (408).

8

Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg Lorrain und Bernhard Rode besichtigen. Ausflüge i n die Umgebung — nach Schloß Friedrichstein, nach Pillau, zu Hippels Garten — erweitern seine Landeskenntnis, wie der Besuch einiger Bernsteindrehereien und einer D r u k kerei m i t Druckmaschine ihm einen Einblick i n das wirtschaftliche Leben der Stadt Königsberg vermittelt. Auch v o m Universitätsbetrieb bekommt Abegg einen Eindruck: er w o h n t einer Disputation i n der Albertina über die Todesstrafe bei, i n der Schmalz den Opponenten macht, er hört eine Vorlesung von Pörschke über Naturrecht und besichtigt m i t Prof. Gensichen die „ U n i versitäts- oder Schloßbibliothek"; bei dieser Gelegenheit besteigt er „den Schloßthurm, den höchsten T h u r m i n Königsberg. V o n der Gallerie kann man nicht allein die ganze Stadt m i t all ihren Teichen und freyen Plätzen übersehen, sondern auch die Mündung des Pregels gegen das frische H a f f , und dieses frische H a f f gleich selbst. I n der Ferne zeigt sich der höchste Berg i n Preußen, welcher 5 Meilen von hier entfernt ist." (193/194). IL Goethebesuch i n Weimar, Fichtebekanntschaft i n Jena, Erlebnis der K r ö nungsfeierlichkeiten i n Königsberg — nichts dürfte Abegg so sehr berührt haben wie die Begegnung m i t Immanuel K a n t . Nicht nur durch den Bericht über seine Besuche bei dem greisen Philosophen und über die dort geführten Unterhaltungen — sie sind für den Kantforscher selbstverständlich das Wertvollste des Berichts — , auch schon durch die Aufzeichnung dessen, was die Zeitgenossen i n und außerhalb Königsbergs über K a n t geäußert haben (erstaunlich Heterogenes zu Person und Lehre), w i r d das Reisetagebuch zu einem für die biographische und vor allem für die wirkungsgeschichtliche Kantforschung erstklassigen Dokument. Gewiß t r i f f t auch hier zu, was Z w i Batscha i m Nachwort generell über den Quellenwert des Reisetagebuches äußert — daß es „keine v ö l l i g neue und fundamentale Erkenntnis" (318) bringe, doch ist sicher auch hinsichtlich Kants seine Vermutung richtig, daß diese Quelle den Forscher durch „Einsichten bereichern" und i h m „Nuancen und Schwerpunkte geben kann, die weiteren Differenzierungen den Weg bereiten können", (ebd.). Schon auf dem Wege nach Königsberg ist K a n t häufigeres Gesprächsthema. I n Jena hält Abegg eine Unterhaltung m i t Fichte 9 fest, i n welcher dieser v o n der „Dunkelheit und Verworrenheit" (60) spricht, die sich schon i m Porträt Kants ausdrücke. I m gleichen Gespräch kritisiert Fichte — nun i n einer 9

Zu Kant-Fichte im Abeggschen Reisetagebuch vor allem S. 144; vgl. Batscha 339 ff.

9

Rudolf Malter wohlwollenden Hinwendung zu K a n t — die an der finanziellen Behandlung Kants durch den preußischen K ö n i g sichtbar werdende Geringschätzung des Philosophen durch die Macht (Vgl. 60). — „Einige sehr interessante Notizen v o n K a n t " hört Abegg i n Leipzig von einem H e r r n Freund, der „lange vor der Herausgabe der K r i t i k der reinen Vernunft i n Königsberg war, und i n demselben Hause, w o damals K a n t wohnte, sehr bekannt w a r " . (91); so notiert sich Abegg aus den Erzählungen des ehemaligen Hausgenossen: „ K a n t w a r sehr empfindlich. Wenn ihm, der 20 Jahre an der K r i t i k arbeitete, gesagt wurde, daß er dieses Werk doch vollenden solle, antwortete er: ,Oh man hat ja so viele Störungen i n diesem Hause/ M a n gab ihm ein Logis i n einem abgelegenen Garten: ,Oh, da ist mir's zu todt, zu einsam/ — Aber ein vortrefflicher Gesellschafter und Mensch sei er übrigens." (91/92). Gelobt w i r d K a n t seines Charakters wegen v o n Markus Herz, der allerdings zugleich feststellen zu können glaubt, daß die Kantianer nur „wenige ehrwürdige, gute Menschen hervorgebracht" hätten (104); M e i l i n w i r d von diesem harten U r t e i l ausgenommen. I n Königsberg kann Abegg sich mannigfache Bemerkungen über K a n t aus dem Munde seiner unmittelbaren M i t bürger aufschreiben — Bemerkungen, die vor allem dann, wenn sie Kants Persönlichkeit und Charakter betreffen, immer unter dem Aspekt des Beurteilungsperspektivismus gelesen werden müssen: so behauptet der Kriegsrat Bock bei einem Gespräch über Kants Beziehung zu H i p p e l , K a n t sei „ein fühlloser Philosoph" u n d er dürfe „ v o n Freundschaft und Liebe . . . nicht reden, er hat sich ganz darüber hinaus philosophirt" (245). Ähnliches hören w i r von Abeggs häufigem Begleiter Dunker i m Zusammenhang einer Unterhaltung über Kants Kontroverse m i t Schlettwein; i n Anbetracht der aus Kants Lehre folgenden These, man müsse auch, um nicht zu lügen, seinen Freund an einen Mörder verraten, meint Dunker: „ K a n t hat sich zu hoch hinauf philosophirt, und wäre er nicht Kant, so müßte man auf Freundschaft und Liebe verzieht thun, und K . selbst mag ihrer doch eigentlich sich nicht erfreuen." (142). Einhellig loben auch die Königsberger Schüler, Freunde und Mitbürger, Kants edlen Charakter: Dunker spricht von seiner Kindlichkeit, seiner Freude an der N a t u r , von seinem einfachen Leben (vgl. 141 f.), Pörschke bezeichnet ihn „ i n Rücksicht seines Charakters" als „ein Muster" (183), (wobei er allerdings einschränkend auf Kants Eigentümlichkeit, keinen Widerspruch ertragen zu können, hinweist. S. 183). Auch i n einer späteren Unterhaltung, i n der Pörschke von K a n t sagt: „sein Character ist sehr edel" (247),

10

Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg schränkt er sein Lob dadurch ein, daß er K a n t mangelnde Hilfsbereitschaft unterstellt. Allgemein geschätzt w i r d K a n t als M a n n der Gesellschaft beim gemeinsamen Mahle. „Über alles spricht er, und Er allein spricht oft während seiner Mahlzeit, an welcher immer einige i h m angenehme Menschen theil nehmen. Er ißt m i t großem A p p e t i t und liebt besonders Göttinger Würste. Auch t r i n k t er täglich einige Gläser Wein, zuerst weißen, dann rothen. Wenn er, was er aber jetzo nicht mehr thut, bei Motherby, außer seinem Hause speisete, so trank er auch w o h l ein Gläschen zu viel, spielte m i t dem Weinglase, ist aber immer die Seele der Gesellschaft. Die ganze Unterhaltung geht gemeinhin auf seine Kosten." (148). (Vgl. auch Dunker 141 f., 255, 261). Wie andere Zeitgenossen — man denke an Herders berühmte Eloge auf K a n t — heben die i n Abeggs Tagebuch zu W o r t kommenden Personen Kants „vielseitigste Bildung" (148) und Belesenheit hervor. Jensch berichtet, K a n t habe „ H u m e , Leibniz, Montaigne und die englischen Romane v o n Fielding u. Richardson" (252) gelesen. Baumgarten und W o l f f würden v o n i h m als die Autoren der Schriften bezeichnet, „aus welchen er am meisten gelernt habe. Den T o m Jones schätzt er sehr hoch." (252). Aufschlußreich für das B i l d der Person Kants sind auch die von Abegg aufgezeichneten Äußerungen der Königsberger über Kants Verhältnis zu anderen Personen; hingewiesen sei hier nur auf die Beziehungen zu Kraus und zu H i p p e l . M i t seinem Schüler Kraus 1 0 , den er wie allgemein bezeugt w i r d , überaus schätzte, zerstritt er sich nach längerer Zeit guten Auskommens. „ D e n Prof. Kraus hatte er ganz ausnehmend gern u. er mußte jeden Tag m i t i h m essen. A m Ende wurde es wahrscheinlich K r . lästig, sie zankten sich herzhaft herum, u. seitdem kommen sie nicht mehr zusammen. Wenn sie an einem Tische essen, so setzt sich keiner hart an den anderen, aber sie entfernen sich auch nicht weit von einander." (255 f.). Das Verhalten Kants zu Hippels Autorschaft w i r d kritisch aufgenommen. Scheffner kreidet es K a n t an, daß er i n seiner „Erklärung wegen der v o n Hippel'schen Autorschaft" davon gesprochen habe, daß H i p p e l möglicherweise Vorlesungshefte von i h m verarbeitet habe. 11 Scheffners K r i t i k w i r k t 10 Vgl. zu Kraus-Kant neben den beiden bekannten Darstellungen bei J. Voigt und G. Krause noch Vorländer I I , 29 ff. Das Tagebuch vermittelt aufschlußreiche Details über Kraus* Persönlichkeit (192, 240) und vor allem über seine politischen Ansichten (vgl. 222 ff., 225 ff.; zu einzelnen Krausschen Thesen vgl. Batscha 325 ff., 338 f.). 11 Vgl. Kants Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 12, 360—361 („Erklärung wegen der von Hippel'schen Autorschaft") und Bd. 13, 536 ff. (Vorarbeiten, Erläuterungen und Literaturangaben zur Hippel-Erklärung). Speziell zu Scheffners Kritik an Kants Ver-

11

Rudolf

Malter

deswegen überraschend, w e i l g e w ö h n l i c h d i e K a n t i s c h e S t e l l u n g n a h m e gerade als V e r t e i d i g u n g H i p p e l s w i d e r d e n P l a g i a t - V o r w u r f d e r Zeitgenossen gew e r t e t w i r d . I n diesen K o n t e x t g e h ö r e n auch I n f o r m a t i o n e n , d i e das T a g e buch ü b e r die S t r e i t i g k e i t e n d e r K a n t i a n e r u n t e r e i n a n d e r u n d ü b e r K a n t s V e r h ä l t n i s z u seiner Schule b r i n g t , so v o r a l l e m z u m Z e r w ü r f n i s m i t J . S. Beck. P ö r s c h k e : „ K a n t , d e r i n R ü c k s i c h t seines C h a r a k t e r s e i n M u s t e r gen a n n t w e r d e n k a n n , k a n n aber n i c h t w o h l gegen sein S y s t e m W i d e r s p r u c h v e r t r a g e n . M e i n e eigenen I d e e n habe ich i h m m a n c h m a l so i s o l i r t z u e r k e n n e n gegeben u n d seine B e i s t i m m u n g e r f a h r e n , n i e eben aber i n B e z i e h u n g a u f I d e e n v o n i h m , die d a d u r c h u m g e w o r f e n w ü r d e n . D e s w e g e n ist er auch j e t z o n i c h t recht z u f r i e d e n m i t seinem C o m m e n t a t o r Beck i n H a l l e . Es g i b t Kantianer

d e r s t r i c t e n O b s e r v a n z . E i n e r derselben (ich v e r m u t e h i e r

Hofprediger

den

Schulz) m a c h t e n u n K a n t a u f m e r k s a m , w i e Beck a b w e i c h e n d

sich e r k l ä r e , u n d n u n e i f e r t K a n t ü b e r Beck, u n d ich g l a u b e doch, d a ß Beck den K a n t

verstanden hat."

(183)12 Aber

diese innerschulischen

Querelen

b l e i b e n f ü r das G r o s d e r K ö n i g s b e r g e r M i t b ü r g e r , w e n n sie ü b e r h a u p t r e g i striert w u r d e n , unwichtige Nebensächlichkeiten. D i e V e r e h r u n g des P h i l o s o p h e n g r ü n d e t e sich, w i e B r a h l A b e g g gegenüber ä u ß e r t , a l l e i n a u f d i e P e r s o n : „ E r ist h i e r a l l g e m e i n geschätzt u n d g e l i e b t , halten vgl. die Darstellung bei Arthur Warda: Kant's »Erklärung wegen der von Hippeischen Autorschaft', in: Altpreußische Monatsschrift 41, 1904, 61—93; ders.: Kant und Scheffner, in: Königsberger Hartungsche Zeitung 20. April 1924; vgl. auch Vorl. I I , 35 ff. Abegg hatte zu Scheffner in Königsberg ein besonders gutes Verhältnis gewonnen, dessen Festigkeit an dem über Jahre sich erstreckenden Briefwechsel sich ablesen läßt. Leider sind nur die Briefe Abeggs erhalten (vgl. Bd. 1, Briefe 1—21; vgl. auch die Erläuterungen in Bd. 5). Auf seinen Königsbergaufenthalt kommt Abegg in seinem ersten Brief an Scheffner (Bd. 1, S. 3) zu sprechen; er wünscht sich — doch klingt dieser Wunsch mehr rhetorisch — sogar eine Predigerstelle in Königsberg (S. 4). Vgl. allgemein zu Abegg-Scheffner auch Bd. 1, 196 und die beiden autobiographischen Schriften Scheffners (Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig 1823, gedr. bereits 1816, 125 und Nachlieferungen zu meinem Leben . . . Leipzig 1884, 14). Im 1. Brief spricht Abegg auch über die von Scheffner gelieferten „Hippeliana", die Abegg auf der Rüdereise von Königsberg an den Nekrologisten Schlichtegroll überbracht hatte (vgl. Bd. 1, S. 2); vgl. zu Abeggs Interesse an Materialien zu Hippels Biographie auch Reisetagebuch 139, 236, 241 und Schlichtegrolls Bemerkungen über Abegg als Überbringer dieser Materialien (Bd. 4 des Scheffner-Briefwechsels 158—161). In Abeggs Gesprächen mit Scheffner, aber auch in seinen Unterhaltungen mit anderen Königsbergern (Borowski, Deutsch, Duncker, Frey, Jensch, Stägemann) bildet die vielfältig schillernde Persönlichkeit Hippels ein immer wiederkehrendes Thema (vgl. 139, 198, 201 f., 217 f., 227 f., 236, 241, 243 f.). Abegg sammelte die biographischen Hippelmaterialien für Schlichtegrolls Nekrolog. 12 Zum Streit der Kantianer um den richtig zu verstehenden Kant und zu Kants Rolle in diesem Streit vgl. den Briefwechsel aus den 90er Jahren (Immanuel Kant: Briefwechsel, Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndörffer. Zweite erweiterte Auflage mit Nachtrag seither veröffentlichten Materials und mit neuer Einleitung von Rudolf Malter und Joachim Kopper. Hamburg 1972, X L I f.). Daß Schultz sich selbst als den eigentlichen Hüter der „reinen" Kantischen Lehre verstand, geht aus dem Briefwechsel deutlich hervor. Vgl. auch die bezeichnende Stelle bei Abegg S. 247; vgl. auch 175—178; allgemein zu Kant-Schultz vgl. Vorl. I I , 32 ff.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg nur weiß der wenigste Theil seine literarischen Verdienste zu erkennen, und man ehrt und liebt also nur den Menschen i n ihm." (149) 1 3 M i t der philosophischen Anhängerschaft dürfte es i n Königsberg i n der T a t nicht sehr weit her gewesen sein. Selbst der alte Kantschüler Borowski schien, wie Scheffner Abegg zu verstehen gibt, „nicht für die Kant'sche Philosophie sehr eingenommen zu seyn". (202) 1 4 Ähnliches gilt von Pörschke, der nicht i n K a n t , sondern i n Fichte 15 den bedeutendsten Philosophen der Epoche erblickt. Vielleicht ist diese Distanz der Schüler gegenüber dem Lehrer auch einer der Gründe, weswegen der philosophisch interessierte Abegg nur wenig über Gespräche, die die Philosophie Kants betreffen, notiert. Auch die gerade aktuellen Schriften Kants sind nur Randthemen, und es k l i n g t nicht nur wie ein zeitlicher Nachhall, wenn Jensch m i t großer Zustimmung von Kants (erst zwei Jahre vorher eingestellten) Vorlesungen spricht: man hat den Eindruck — Pörschke ist hierfür ein gutes Beispiel — daß die Kantische Philosophie auch i n Königsberg schon i n den Schatten der neuen, von Fichte inaugurierten Philosophie des Deutschen Idealismus getreten ist. 1 6

III. Die Distanz der ehemaligen Schüler zum Meister kommt vielleicht am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß sie, trotz ungeheuchelter Verehrung für den Menschen K a n t , eine — für einen Philosophen fatale — Diskrepanz 13 Vgl. Pörschke gegenüber Abegg: „ . . . sein Character ist sehr edel. Als Gesellschafter und einsichtsvoller Mann war er ehemals der Abgott der Stadt. Seine Schwachheit ist, alles, was man ihm sagt, ohne ausdrücklich Stillschweigen zu verlangen, wieder zu erzählen. Es war eine Lust zu sehen, wie er oft geiselte, aber wie oft er auch den Sünder schonte, u. Menschen, die ihn grob beleidigt, in Gesellschaft so behandelte, als hätten sie ihm nichts übles gethan. Dadurch gewann er auch viele Menschen." (247). Es gehört zu den Vorzügen des Abeggschen Tagebuches, daß es ohne Abstriche auch die negativen Seiten, die die Königsberger an Kant erblickten, wiedergibt. Batscha glaubt, besonders das von Abegg über Kants Verhältnis zu Schmalz, Fichte und Lampe Berichtete spreche nicht für Kant (Vgl. 337 f., 339 ff.). 14 Zu Kant-Borowski vgl. Arnold Kowalewski: Kant und Borowski, in: Königsberger Hartungsche Zeitung 20. April 1924. — An Abegg erinnert sich Borowski nodi in einem Brief an Scheffner aus dem Jahre 1819 (vgl. Scheffner-Briefwechsel Bd. 1, 86). 15 Vgl. Reisetagebuch 183, 246. 16 Vgl. zu Pörschkes Abweichung von Kant: Reisetagebudi 264 f.; sehr bezeichnend für Pörschkes menschlich verehrungsvolle, zugleich aber philosophisch kritische Stellung zu Kant ist der von ihm am 14. März 1797 an Fichte geschriebene Brief (Vgl. Johann Gottlieb Fichte's Leben und literarischer Briefwechsel. Von seinem Sohne Immanuel Hermann Fichte. Zweite sehr vermehrte Auflage. Bd. 2: Actenstücke und literarischer Briefwechsel. Leipzig 1862, 446 ff. Vgl. auch Pörschkes Gedenkstücke auf Kant 1) Der Gedächtnißfeyer Immanuel Kant's geweiht, im Namen der Königlichen Landes-Universität . . . am 23. April. Königsberg 1804. 2) Vorlesung bey Kants Geburtsfeyer, den 22sten April 1812 (vor der Gesellschaft der Freunde Kants), in: Königsberger Archiv für Philosophie, Theologie, Sprachkunde und Geschichte. Königsberg 1812, 536—544.

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Rudolf Malter zwischen literarisch fixierter Lehre und persönlicher Überzeugung bei K a n t behaupten. 17 Die Diskrepanz betrifft die Religion. Das Abeggsche Tagebuch bringt drei (von K a r l Vorländer ihrer Singularität wegen schon zitierte 1 8 ) Stellen, an denen von Kants Unglauben gesprochen w i r d . 1. Beim Bericht über seine Unterhaltung m i t Nicolovius über K a n t und Kantianer redet Abegg von der „Meinung der hiesigen Schüler Kant's, daß derselbe keinen festen Glauben an Unsterblichkeit habe" (229). 2. Aber auch das Dasein Gottes gehört nicht zu seinen persönlichen Uberzeugungen, wie i h m schon nach dem ersten Besuch bei K a n t von Brahl erzählt w i r d : „ . . . Brahl sagte m i r auch: ungeachtet er nun G o t t postulirt, so glaubt er selbst nicht dran, und auch die Z u k u n f t achtet er nicht, insofern sie Fortdauer gewähren kann. ,Mein Gott', sagte ich, ,an was k n ü p f t er denn alles i n der Moral, als an Gott? c — ,Es ist wahr', sagte Brahl, ,in der Metaphysik läßt er's unentschieden, reagiert nicht und begehrt nicht. I n der M o r a l ist er der Meinung, eigentlich komme es auf das individuelle Bedürfnis an, und er bestreitet i n dieser Hinsicht Schlosser nicht, der ohne eine göttliche Regierung nicht leben kann. K a n t ist aber ganz unabhängig. Ungeachtet er das Leben für nichts kostbares und sehr beglückendes hält, ist er doch immer heiter und vergnügt. Ganz i n seiner Gewalt hat er sich. Er fürchtet den T o d t durchaus nicht. Einer seiner jüngeren Freunde war neulich kränklich, und sah sehr traurig a-us. ,Ο, fürchten Sie sich etwa v o r dem Todte? Wie unrecht! Sehen Sie, ich fürchte ihn nicht, ungeachtet der Postwagen vor der Thüre s t e h t / " (147/ 148). 3. V o m gänzlichen Unglauben und von der totalen Diesseitigkeit Kants spricht schließlich — m i t der Versicherung, sich hier nicht zu täuschen — der ehemalige Kantschüler Pörschke: „ ,Aber . . . m i t Kants Glaube sieht es sehr w i n d i g aus. D a ich ihn so lange kenne, sein vieljähriger Schüler gewesen bin, noch wöchentlich bei ihm esse: so glaube ich ihn hierüber genau zu kennen. Daß er manchmal so erbaulich spricht, ist i h m noch von früheren Eindrücken übrig geblieben. Er hat mich oft versichert, er sey schon lange Magister gewesen und habe noch an keinem Satze des Christentums gezweifelt. Nach und nach sey ein Stück ums andre abgefallen. Reinhold spricht auch viel v o n seinen Schriften: Was soll ich glauben, was soll ich hoffen? Nichts glauben, nichts hoffen! H i e r deine Schuldigkeit thun, sollte man auf Kantisch antworten 4 ." (184).

17 Die folgenden Bemerkungen zur Religiosität Kants wollen — genau so wie die Bemerkungen zu Kants politischer Einstellung — nur das erläutern, was im Reisetagebuch anklingt. Eine Kant im ganzen würdigende Erörterung würde weit über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgehen. 18 Vgl. Vorl. I I , 181 f.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg I n keiner bislang bekannt gewordenen Kantquelle ist so eindeutig von Kants persönlichem religiösen Unglauben die Rede wie i n diesen drei Aussagen, deren historische Authentizität man m i t Gründen w o h l nicht bezweifeln kann 1 9 . Sollte Heines ironischer Verdacht, Kants Postulatenlehre verdanke sich nicht Uberzeugung und Argument, sondern heteronomen Bestimmungsgründen: Obrigkeitsangst und M i t l e i d m i t den — i n Lampe repräsentierten — (durch den Tode Gottes i n der K r i t i k der reinen Vernunft) trostlos gewordenen Menschen? Doch abgesehen davon, daß — da Parallelaussagen bei K a n t und bei unmittelbaren Zeugen seiner Gespräche fast fehlen — diese Stellen als Basis für den Beweis der Richtigkeit des Heineschen Verdachts zu schmal sind, täte man K a n t Unrecht, die Differenz zwischen Postulatenlehre einerseits und persönlicher religiöser Uberzeugung andererseits so zu interpretieren, als sei die Postulatenlehre nur Heuchelei, weil der, der sie konzipiert hat, persönlich nicht an das glaubt, was i n ihr als vernunftnotwendig gefordert w i r d . Wie immer ist K a n t auch hier komplizierter, als es der oberflächliche Blick wahrhaben w i l l . Es gibt nämlich ein zumindest ebenso authentisches Zeugnis wie das Abeggsche, das uns zum richtigen Verständnis dieser Differenz — nicht zu ihrer Aufhebung, sondern zur Erklärung ihrer Faktizität — führen kann. Jachmann, der tiefste der drei K a n t biographen, greift nämlich eine sachlich ähnliche Behauptung wie die v o n Abegg überlieferte — K a n t sei persönlich gänzlich ungläubig gewesen — auf 2 0 und versucht unter Berufung auf ein m i t K a n t geführtes Gespräch der Behauptung entgegenzutreten. Jachmann berichtet: „ W i r kamen eines Tages i n einem vertrauten Gespräche auf diesen Gegenstand, und K a n t legte m i r die Frage v o r : was ein vernünftiger Mensch m i t voller Besonnenheit und reifer Überlegung w o h l wählen sollte, wenn i h m vor seinem Lebensende ein Engel v o m H i m m e l , m i t aller Macht über sein künftiges Schicksal ausgerüstet, erschiene und i h m die unwiderrufliche W a h l vorlegte und es i n seinen W i l l e n stellte, ob er eine Ewigkeit hindurch existieren oder m i t seinem Lebensende gänzlich aufhören wolle? und er w a r der Meinung, daß es höchst gewagt wäre, sich für einen v ö l l i g unbekannten und doch ewig dauernden Zustand zu entscheiden und sich w i l l k ü r l i c h einem ungewissen Schicksal zu übergeben, das ungeachtet aller Reue über die getroffene Wahl, ungeachtet alles Überdrusses über das endlose Einerlei und ungeachtet aller Sehnsucht 19 Wir stimmen hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen Abeggs ganz mit Vorländer (Kant als Politiker, 221) überein. 20 Jachmann wird im folgenden nach der Neuausgabe seiner Kantbiographie durch Felix Groß zitiert (Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund von Reinhold Bernhard Jachmann, in : Immanuel Kant. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Reprogr. Nachdruck der von Felix Groß hrsg. Ausgabe Berlin 1912; Darmstadt 1968).

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Rudolf Malter nach einem Wechsel dennoch unabänderlich und ewig w ä r e . " 2 1 Das Entscheidende für Kants Stellung zur Unsterblichkeitsfrage besteht nun darin, daß er aus dieser Abneigung gegen einen v o n diesem Leben gänzlich unterschiedenen, nämlich wechsellosen immer gleichen Zustand — einer Abneigung, die sich bei i h m psychologisch sowohl aus der Angst vor aller Veränderung des Eingefahren-Bekannten einerseits und, merkwürdiges Paradox, aus dem U n behagen gegenüber einem immer gleichen und dazu noch endlos dauernden Dasein andererseits, erklärt — nicht die Konsequenz zieht, die Postulatenlehre, speziell die vernunftimmanente Forderung nach einer ewigen Fortdauer, werde hinfällig. Sondern: er konstatiert zwischen dem, was die Vernunft m i t subjektiver Notwendigkeit unabdingbar fordert, und dem, was der Mensch lebensmäßig-emotional (man möchte sagen: aus Neigung) verlangt, eine Diskrepanz. Zutreffend folgert Jachmann: „Sie sehen w o h l ohne mein Bemerken, daß dieses pragmatische Räsonnement m i t seinem moralischen Vernunftglauben i n gar keinem Widerspruch steht, denn letzteres kann etwas anzunehmen gebieten, was der Mensch selbst nicht wünschen k a n n . " 2 2 Daß bei K a n t nach Jachmanns Interpretation kein Widerspruch zwischen den beiden heterogenen Aussagen vorliegt, rührt v o n daher, daß von ein und derselben Sache, nämlich der ewigen Fortdauer, unter zwei gänzlich verschiedenen Rücksichten gesprochen w i r d — einmal w i r d auf einem subjektiven Wunsch geblickt, ein andermal w i r d ein transzendental-logisches Argument m i t Anspruch auf Stringenz formuliert. Welche Seite für K a n t selbst die maßgebliche ist, bleibt offen; die Frage stellt sich eigentlich auch gar nicht, denn es scheint sich hier u m eine Differenz zu handeln, bei der es nicht möglich ist, durch eine philosophische Reflexion zu einer Präferenzen tscheidung zu kommen; die philosophische Reflexion nämlich dürfte hinsichtlich der Unsterblichkeitsfrage für K a n t registringiert sein auf die Sphäre der transzendentalen Argumentation, wie die Postulatenlehre sie darstellt. Das Problem, das K a n t hier anrührt, scheint daher nicht mehr reflexiv bewältigbar zu sein. Oder sollte die von K a n t gelehrte Vorgängigkeit des Vernünftig-Pflichthaften v o r dem Sinnlich-Neigungshaften eine Auflösung des Problems bringen — dergestalt, daß das durch das „pragmatische Räsonnement" (welches Ausdruck der Neigung ist) Vorgebrachte dem zu subsumieren sei, was die transzendental-praktische Reflexion i n der Postulatenlehre m i t subjektiver Notwendigkeit argumentativ darlegt? 23 D a K a n t nach 21

Jachmann, 171. Jachmann, 172. 23 Auch wenn sich diese Frage von Kant aus nicht beantworten läßt, so darf doch auf eine merkwürdige Assoziation hingewiesen werden, die sich bei der Lektüre des von Jachmann

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg Jachmanns Darstellung und richtiger Auslegung an der erwähnten Stelle lediglich die Existenz zweier verschiedener Betrachtungsweisen ein und derselben Sache konstatiert, ohne die Präferenzfrage (die zugleich die Subsumptionsfrage ist) anzuschneiden, sei als Resultat des Jachmanngesprächs festgehalten: eines ist es, m i t Bezug auf die Vernunftnotwendigkeit, ein anderes, m i t Bezug auf ein subjektiv-emotionales Bedürfnis von der ewigen Existenzfortdauer zu reden. Zwischen beiden Rede- und Betrachtungsweisen muß daher bei Erörterung des Themas sorgfältig unterschieden werden. H i n z u kommt noch, wie ebenfalls das Jachmanngespräch zeigt, daß es sich bei den negativen mündlichen Äußerungen über G o t t und ewiges Leben u m Gelegenheitsäußerungen handelt, denen eine Vielzahl von mündlichen Äußerungen entgegensteht, die gänzlich i n Übereinstimmung sind m i t dem i n der Postulatenlehre Gesagten. 24 Die positiven Äußerungen überwiegen quantitat i v und auch i n ihrer Gewichtigkeit die wenigen negativen Äußerungen, zu denen auch die v o n Abegg überlieferten gehören. N i m m t man beides zusammen: den Umstand, daß K a n t bei seinen negativen Äußerungen von einer dem genus nach andersartigen Betrachtungsweise ausgeht als bei den positiven Äußerungen der Postulatenlehre, und den Umstand, daß es sich bei den negativen Äußerungen nur u m Gelegenheitsäußerungen handelt, so versteht man, daß Jachmann, der beides ins Feld führt, die i m „Freimütigen" behauptete Ungläubigkeit Kants als Mißverständnis und Mißdeutung v o n Aussagen interpretiert, 2 5 wie sie auch v o n Abegg über den Umweg des Hörensagens referiert wurden. Doch heißt dies nicht, daß die Jachmannsche Interpretation, die eine Rechtfertigung Kants i m Auge hat, die einzig mögliche sei. Auch wenn man geneigt ist, dieser Interpretation zuzustimmen, w i r d sich eine Frage nicht ohne weiteres verdrängen lassen, die schon häufig an Philosophen gestellt wurde: macht es nicht gegenüber einer m i t Wahrheitsanspruch auftretenden philosophischen Lehre (wie die Postulatenlehre sie darstellt) mißtrauisch, wenn sie selbst nicht die subjektive K r a f t hat, auf den sie Lehrenden so einzuwirtradierten Gespräches aufdrängt: Kant scheint zu meinen, daß wir lebens- und gefühlsmäßig kein Bedürfnis nach dem ewigen Leben haben; nur als Reflektierender komme man zur vernünftigen Annahme einer ewigen Fortdauer. Das Gefühl — dies ist das Wesentliche dieser Assoziation — führt uns vom Metaphysischen weg; es ist das Prinzip der Diesseitigkeit und der Weltimmanenz. Religion des Gefühls ist bekanntlich ja etwas, was Kant immer wieder ablehnte. 24 Vgl. ζ. B. die Unterhaltungen mit Hasse (in: Der alte Kant. Hasse's Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum. Hrsg. v. Artur Buchenau und Gerhard Lehmann. Berlin und Leipzig 1925). 25 Vgl. Jachmann, 172. 2

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Rudolf Malter ken, daß er unerschütterlich von ihr überzeugt ist? Zeigt vielleicht das zeitweilige Zweifeln Kants an der ewigen Fortdauer (auch wenn es nur i n einem „pragmatischen Räsonnement" artikuliert w i r d und die spezifisch philosophische Argumentation unberührt läßt) nicht an, daß die Lehre selbst garnicht so logisch stringent ist, wie sie zu sein behauptet? Heines ironische K r i t i k an der Postulatenlehre weist i n diese Richtung. Oder aber — dies wäre eine zweite näher zu erörternde Frage — kommt i n der zeitweiligen subjektiv-emotionalen Skepsis an der theoretisch unbezweifelten Lehre ein Phänomen zum Vorschein, das die alten Theologen, man denke vor allem an Luther, als einen Grundbestandteil des religiös-praktischen Lebens kannten und i n seiner Gewichtigkeit hoch einschätzten — das Phänomen der Anfechtung nämlich, das hier bei K a n t i n einer von allem Mythischen (Teufelsversuchung) gereinigten Form ins Spiel kommt? 2 6 Ob nicht das der Lebenspraxis entstammende Angefochtenwerden durch den Zweifel an der eigenen theoretisch fixierten Lehre gerade i n den Fragen, i n denen sich das „höchste Interesse" des Menschen ausdrückt, Lebenselement des wahren Philosophen ist? IV. Nicht weniger informative Äußerungen als über Religion bringt das Tagebuch über Kants Stellung zur Politik. Was Abegg von den Königsbergern hierüber schon v o r seiner unmittelbaren Begegnung m i t K a n t erfahren hatte, findet er bei seinen Unterredungen m i t K a n t bestätigt. Das Gros der Themen, die i n Kants Gegenwart besprochen werden, bezieht sich auf die politische Tagesrealität und auf politisch-rechtliche Grundsatzfragen. Doch zunächst ein kurzer Uberblick über die direkten Beziehungen, die Abegg zu K a n t durch Brahls direkte Vermittlung aufgenommen hat. 2 7 Der erste Besuch erfolgte i n Brahls Begleitung am 1. Juni; Abegg weilt dann noch viermal an Kants Tisch; zwei von K a n t an ihn ergangene Einladungen konnte Abegg anderer Termini wegen nicht annehmen. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß Abegg keiner Begegnung auf seiner Reise mehr Bedeutung beigemessen hat als derjenigen m i t K a n t . „ D e n 12. Juni. Heute früh um 7 U h r kam der Bediente des H e r r n Prof. K a n t u n d l u d mich zum Mitagessen. M e i n Bruder sagte es, ohne mich zu fragen, schon zu, und er hatte recht. Wie könnte ich die Ehre, die i m Grunde eine höhere ist, als wenn ein Fürst mich einladet, ablehnen wollen?" (179). Die beiden 26

Vgl. Vorl. I I , 182 f.; dort scheint eine solche Interpretation angedeutet zu sein. 27 Vgl. Reisetagebuch 143 ff.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen

. F. Abegg

Rosen, die K a n t i h m beim zweiten Besuch schenkt, hat Abegg „ z u r lebendigen Erinnerung" an die Güte, die K a n t i h m erzeigt hat, aufbewahrt (vgl. 191). U n d nach dem Abschied v o n K a n t am 5. Juli, wenige Tage vor der Abreise aus Königsberg, notiert Abegg: „ I m m e r preise ich mich glücklich, i h n kennen gelernt zu haben, v o n i h m Beweise der Achtung und W o h l w o l len erfahren zu haben! Z u m letzten M a l habe ich ihn wahrscheinlich hier gesehen! O f t werde ich an ihn denken, ihn m i r vorschweben lassen, und werde ihn wieder suchen, wenn und w o noch etwas jenseits zu suchen und zu finden ist!" (251). V o m Äußeren der Person Kants schreibt Abegg nur wenig, v o n seiner häuslichen Umgebung, Lampe ausgenommen, erwähnt er fast nichts. I h m kommt es vor allem auf das Festhalten des v o n K a n t und des von anderen i n Kants Gegenwart Gesprochenen an. K n a p p charakterisiert er ihn als Gastgeber, um dann sofort auf ihn als den Redenden einzugehen ( „ K a n t ladet täglich einige i h m angenehme Menschen, u m sich sein Mittagessen zu würzen. Seine Tafel w a r gut besetzt, und K a n t ließ es sich gut schmecken. Es wurde rother und weißer Wein angeboten. Das beste ist K a n t selbst. Über alles spricht er gern, und m i t Theilnahme v o n allem, was den Menschen betrifft." 179). Gesprächsthemen, von denen Abegg berichtet, sind Personen (u. a. Fichte, Marcus Herz, H i p p e l , Reuss, Schmalz, Schönberger, Starck), wissenschaftliche Gegenstände (Geschichte, Physiognomik, Bernstein); Philosophie w i r d nur am Rande gestreift (Kalkülisierung des Begriffs); dafür ergeht sich die U n terhaltung lange über Merkwürdigkeiten des alltäglichen Lebens (Teetrinken, Pfeifenrauchen, Schnupfen, Wein, Kohle); beiläufig wiederum nur erfährt man einiges über den Publikationsstand seiner neuesten Werke (Streit der Fakultäten, Anthropologie); breiter Raum dagegen w i r d , wie erwähnt, gesellschaftlich-politischen Fragen gewidmet, denn — auch andere Zeitgenossen bestätigen dies — Zeitgeschichte und Tagespolitik interessieren den i n Gesellschaft weilenden K a n t v o n allen Themen am meisten, 28 und Abegg bringt auch eine charakteristische Bemerkung Kants, die sein v o n den unmittelbaren Ereignissen ausgehendes Geschichtsverständnis zum Ausdruck bringt: „ , D i e Geschichte kann nie lehren, was seyn soll; dies muß man a p r i o r i gelernt haben. O , wie wechseln die Begebenheiten! Übrigens finde ich keine Geschichte lehrreicher als diejenige, die ich täglich i n den Zeitungen lese. H i e r kann ich sehen, wie alles kommt, vorbereitet w i r d , sich entwickelt. I n der That höchst interessant/" (182 f.).

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2*

Zu Kants politischem Interesse vgl. Vorl. I I , 210 ff.; Batscha 341 f.

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Rudolf Malter Der Katalog der politischen Themen, die K a n t in Abeggs Gegenwart bespricht, ist weit gefächert. Es w i r d ausführlich über die allgemeine politische Situation i n Europa gehandelt; w i r hören v o n Kants besonderem Interesse an Bonapartes Expedition, von seinem Eintreten für Frankreich (dem er i n Verein m i t Preußen die Gewährung des europäischen Friedens zutraut) und von seiner Stellungnahme gegen England, von seiner Befürwortung des i r i schen Aufstandes und v o n seinem Wunsch, die Schotten möchten sich m i t den Iren gegen England zusammentun; England, so K a n t , werde dann „wieder blühen, ohne andere zu drücken" (248), wenn es — was „nicht unwahrscheinlich" sei — „republikanisiert" (ebd.) werde. 2 9 ö f t e r fällt der Blick auch auf den Osten: K a n t redet v o m Zaren Paul, seinen merkwürdigen Verordnungen und seiner sonderbaren politischen Handlungsweise; Rußland stellt nach Kants Meinung keine Gefahr für den Frieden dar: „ , D e n n Rußland ist zu bändigen: es hat kein Geld und kann sich nicht leicht i n die auswärtigen Angelegenheiten mengen, ohne zu erfahren, daß i m Innern Unruhen ausbrechen/" (187) 3 0 . Gesprochen w i r d auch von der derzeitigen gesellschaftlichen Stellung der Juden 3 1 , das Verhältnis des Adels zu den Reichsständen w i r derörtert, und immer wieder gestreift w i r d das K ö nigsberger politische Tagesereignis, der Königsbesuch, von dem K a n t am Rande auch persönlich berührt w i r d . 3 2 Die für Kants Stellung zu P o l i t i k und Recht aufschlußreichsten Bemerkungen, die das Abeggsche Reisetagebuch bringt, betreffen einmal Kants K o n zeption des Verhältnisses von (preußischem) K ö n i g und Gesetzbuch (Allgemeines Landrecht 1794), zum anderen seine allgemein bekannte Sympathie 29

Vorländer (Kant als Politiker, 223) meint, Kants Aversion gegenüber England rühre aus der Zeit des amerikanischen Freiheitskampfes; er bezweifelt allerdings die Richtigkeit von Jachmanns Erzählung über Kants Kontroverse mit Green in dieser Frage (vgl. Vorl. I, 122). 30 Zu Kants Beurteilung Rußlands vgl. Kants „Anthropologie" (Ak.-Ausg. 7, 319). Vgl. zur Sache: Gotthold Rhode: Immanuel Kant und die Völker Osteuropas, in: Kultur und Politik im Spannungsfeld der Geschichte. Hans Joachim von Merkatz zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Paul Nahm. Bielefeld 1975, 27—34 (dort audi Hinweise auf weitere einschlägige Arbeiten z. B. von Forstreuter, Neumann, Stavenhagen). 31 Die Bemerkung des Feuilletonisten G. Schulz in der FAZ (s. Anm. 2), Kant sei nach Abeggs Bericht „gegen Engländer und Juden", ist Produkt eines gedankenlosen Umganges mit Kants Biographie. Daß Kant Politik und Wirtschaftspraxis der Engländer tadelt, heißt doch nicht, er sei gegen Engländer in dem pauschalen Sinn, wie die FAZ-Rezension dies suggeriert; und genau so wenig besagt die von Abegg sicher richtig referierte Bemerkung Kants über die Juden (S. 190) nicht, Kant sei ein Judengegner gewesen (was ebenfalls von Schulz suggeriert wird). Kant hat, wie seine guten Beziehungen zu jüdischen Schülern, Mitbürgern und Freunden beweisen, nichts „gegen Juden", wohl aber (und hierin mag er zweifelsohne anfechtbar sein) kritisiert er an der genannten Abeggstelle ein bestimmtes Verhalten der jüdischen Minderheit — nämlich: Minderheit bleiben und sich nicht in die allgemeine bürgerliche Gesellschaft eingliedern lassen zu wollen. 32 Vgl. Reisetagebuch 179; hierzu Vorländer: Kant als Politiker, 224.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg für die Französische Revolution. I m Verlauf des Gesprächs am 12. Juni über den Krönungsbesuch k o m m t die Rede, nachdem „noch eins und das andere v o m Studentenaufzug, der Zuschrift des Königs an den Senat der Universität gesprochen" worden w a r (180), „auch auf den Prozeß des auditors Heilsberg, daß seine Gegner Gen. Werther und Le Zapette beide vorgezogen worden seyen, und daß man seiner nicht sehr oder gar nicht gedacht habe. ,Der Wille des Königs ist Gesetz i m Preußischen, steht ja sogar i n der Verteidigungsschrift/ [sagte K a n t ] ,Dies glaube ich nicht', sagte ich »sondern stelle mir vor, daß nach dem eingeführten Gesetzbuche dieses über dem K ö n i g sey/ — ,Ο, nein, und zudem, i n wessen Händen ist doch selbst dieses Gesetzbuch, wenn es auch dafür erklärt würde, daß es über dem K ö n i g wäre", erwiderte K a n t . — ,Es wäre doch schon gut, daß die bessere Form anerkannt würde', sagte ich." (180). 33 Es ist bemerkenswert, daß K a n t bei dieser Andeutung eines Grundes für die Richtigkeit der rechtlich verbürgten Unterordnung des Gesetzbuches unter den W i l l e n des Königs nicht auf die i n der „Metaphysik der Sitten" vorgetragene Argumentation, d. i. auf die oberste gesetzgebende Gewalt, den „vereinigten W i l l e n des Volkes", anspielt, sondern sich, wie immer vage, in Richtung auf diejenigen Gedanken bewegt, die er i m geschichtsphilosophischen Kontext der „Idee einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht" vorgetragen hat. D o r t w i r d i m 6. Satz v o m „ H e r r n " gesprochen, den der Mensch nötig habe: gefordert ist ein höchstes Oberhaupt, das „gerecht für sich selbst, und doch ein Mensch sein soll". 3 4 K a n t sagt nirgendwo, es gebe einen solchen Menschen; er sagt auch nicht, diese Stelle des „ H e r r n " könne durch eine Gruppe von Menschen ausgefüllt werden — hier ist für i h n alle Mühe, unter Lebenden das wahrhaft gerechte I n d i v i d u u m zu finden, vergebens. Also läßt er das Problem i n seiner akzentuierten Problemhaftigkeit stehen. 35 Wenn K a n t nun bei Abegg affirmativ v o m W i l l e n des Königs spricht, so nicht i n dem Sinne, als genüge ein Monarch den an den H e r r n gestellten Forderungen. Aber er erweitert doch, wenn auch nur u m ein w i n ziges Stück, die früher gegebene Auskunft über das geschichts- und rechtsphilosophische Hauptproblem: faute de mieux, muß man angesichts der i n der „Idee . . . " beschriebenen Situation sagen, stellt der K ö n i g von allen schlechten Lösungen noch die beste dar. Denn — dies ist der Sinn der Abeggstelle — wenn man das Gesetzbuch bezüglich der Ausführung der i n i h m enthaltenen Bestimmungen (nicht der i n i h m enthaltenen Idee des Rechts) 33 Vgl. Vorländer: Kant als Politiker, 223 f. 34 Ak.-Ausg. Bd. 8, 23. 35 Vgl. Ak.-Ausg. Bd. 7, 92 f.

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Rudolf Malter über den K ö n i g stellen würde, dann müßte es (da ja Menschen jene Ausführung vollbringen) i n die Hände anderer menschlicher Personen bzw. Personengruppen gegeben werden; und diesen Individuen bzw. Individuenkollektiven scheint K a n t (wie die Schrift „ Z u m Ewigen Frieden" bestätigt) eine auf jeden Fall schlechtere Verwaltung des Rechts zuschreiben zu wollen als dem (durch die geschichtliche Faktizität nun einmal daseienden) K ö n i g . 3 6 Das Problem, das diese kleine Stelle bei Abegg anzeigt, ist i n Kants Rechtsund Staatskonzeption ungelöst geblieben: K a n t weist nirgendwo auf, wieso die i n § 46 der „Metaphysik der Sitten" dem „vereinigten W i l l e n des V o l kes" zugeschriebene „gesetzgebende G e w a l t " repräsentiert werden könne durch eine Person (bzw. durch eine Personengruppe) als Stellvertreter aller. Daß diese Repräsentation von K a n t angesetzt w i r d , beweisen vor allem die Ausführungen über das Widerstandsrecht i n der „Allgemeinen Anmerkung" zu § 49 der „Metaphysik der Sitten". A u f das (unbegründet bleibende) Daß der Repräsentation kommt K a n t alles an; sekundär bleibt für ihn, i n welcher Form die Repräsentation erfolgt: ob i n Form einer Einzelperson oder einer Gruppe — das überläßt K a n t i m Prinzip der Zufälligkeit der Geschichte. Er deduziert nicht (wie Hegel) den Monarchen und auch nicht das parlamentarisch-demokratische System. I n den Worten der Schrift „ Z u m ewigen Frieden": die Staatsform bleibt undeduziert der Geschichte überlassen (wogegen die Formen der Regierung, auf die nach K a n t alles ankommt, nämlich republikanische und despotische Form, aus dem Wesen der Vernunft selbst gerechtfertigt bzw. abgewiesen werden). Die These v o n der Zufälligkeit des Königs als Repräsentanten der Idee des Rechts steht zwischen den Zeilen der Friedensschrift und der Rechtslehre (wobei noch zu sagen ist, daß K a n t den Erbadel auf jeden Fall ablehnt); i n Abeggs Unterhaltung w i r d direkt auf diese Zufälligkeit angespielt: der K ö n i g ist zwar unter dengegebenen historischen Umständen die beste Lösung der apriorischen Rechtsaufgabe (d. i. der Aufgabe, die Idee des Rechts zu realisieren), aber er bleibt eben doch nur eine letztlich wegdenkbare geschichtlich-zufällige Realisierung der geforderten Rechtsrepräsentanz. 37

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Es ist zwar ganz richtig, daß Kant politisch nichts mehr befürwortet hätte, als die Verwirklichung einer auf der Idee des Rechts beruhenden Regierungsform. Ob ihm aber als Ideal „der bürgerliche parlamentarische Rechtsstaat" (Batscha, 344) vorschwebte, dürfte angesichts der (zumindest zeitweiligen) Skepsis Kants gegenüber dem Parlamentarismus fraglich sein. Vgl. Kurt Borries: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus. Leipzig 1928 (Neudruck Aalen 1973) 196 ff.; Vorl. I I , 230 f. 37 Zu Kants pragmatisch zu verstehender Bevorzugung der Monarchie als Staatsform vgl. u. a. Ak.-Ausg. Bd. 8, 351 ff. Zum Problem vgl. Borries, 183 ff.; speziell zur Zufälligkeit der Monarchie vgl. 195/196.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg V o n der so interpretierten Abeggstelle aus fällt auch ein Licht auf Kants Stellung zur preußischen Monarchie und, rückwärts gewandt, auch auf sein Verhalten gegenüber Friedrich Wilhelms I I . Reskript aus dem Jahre 1794. 38 K a n t ist weder Antiroyalist (wie mancher Kantianer 3 9 ), noch ist er ein Verfechter des Ewigkeitswertes der Monarchie. Er kann daher Schmalz spöttisch-kritisch einen „Erzroyalist (en)" (179) betiteln 4 0 und heftigst gegen die Hinrichtung L u d w i g X V I . argumentieren. 41 K ö n i g oder nicht K ö n i g — das ist nicht Kants Problem. Sein Problem ist allein die Realisierung des Rechts i m Repräsentativsystem, und wenn diese Realisierung der Idee des Rechts (in der republikanischen Regierungsform) durch die monarchistische Staatsform erfolgt, so ist der K ö n i g als Repräsentant des Rechts genauso sakrosankt, wie es ζ. B. eine Individuengruppe i n einer oligarchischen Staatsform wäre. Daß K a n t i n der Friedensschrift und hier bei Abegg die Monarchie befürwortet, hat allein geschichtlich-pragmatische Gründe, keine rechtlichapriorischen. W e i l die Französische Revolution zur Realisierung dieser Idee des Rechts einen wichtigen Schritt getan hat, gehört ihr bei allen Vorbehalten gegenüber den die Idee des Rechts verfälschenden Begleitumständen (ζ. B. Exek u t i o n des Königs als des Rechtsrepräsentanten) und trotz des apodiktischen Verbotes eines Widerstandes gegen die Staatsgewalt Kants Sympathie. Das Tagebuch bringt i n dieser Hinsicht keinen neuen Aspekt zum Verständnis v o n Kants Verhältnis zu den revolutionären Ereignissen i n Frankreich 42 , doch überliefert es uns eine besonders nachdrückliche Sympathiebekundung. M i t Blick auf die aus der Revolution hervorgegangene französische Repu38 Vgl. Ak.-Ausg. Bd. 11, 527 ff. 39

So wird J. Schultz als radikaler Republikaner in Abeggs Tagebuch vorgestellt. Vgl. Batschas zutreffende Charakterisierung der drei im Tagebuch sich zu Wort meldenden politischen Positionen, die im Zusammenhang mit der verschiedenartigen Beurteilung der Französischen Revolution durch deutsche und speziell durch Königsberger Intellektuelle genannt werden. Konservativ ist demnach Salzmann (334), liberal sind Sdieffner und Kant (334/335), radikal ist Schultz (335). Abeggs eigener Standpunkt wird von Batscha als zunächst radikal bezeichnet; trotz Annäherung seiner politischen Ansichten an diejenigen Kants, so Batscha, behalte Abegg die Tendenz zum politischen Radikalismus (vgl. 335 f.) bei. Abeggs Unterhaltungen mit Kant und seine sonstigen kritischen Bemerkungen im Tagebuch dürften dies bestätigen. — Daß in Königsberg republikanische Gedanken verbreitet waren, zeigt die Bemerkung des im ganzen konservativen Borowski über das Verschwinden der Könige im 19. Jahrhundert (vgl. hierzu Vorländer: Kant als Politiker, 222). Vgl. zu Kants Stellung zu Schmalz: Vorländer: Kant als Politiker, 222. — Über Schmalz im Reisetagebuch (wo er von den Königsbergern durchweg negativ beurteilt wird) vgl. 142 f., 226 f., 241 f. « Vgl. Ak.-Ausg. Bd. 6, 320 ff. 42 Vgl. allgemein Peter Burg: Kant und die Französische Revolution. Berlin 1974; speziell zu Kants Äußerungen im Reisetagebuch vgl. Batscha 342 ff. Batschas Darstellung ist im ganzen zuzustimmen, doch ist es wohl ewas zu pauschal und unscharf geurteilt, wenn von Kant ge-

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Rudolf Malter b l i k bemerkt Jensch: „ , W i r sehen . . . die unendlichen Folgen der Kreuzzüge, der Reformation pp., und was ist dies gegen das, was w i r jetzo erleben! Welche Folgen muß dies h a b e n ! < a (249) und K a n t darauf: „ , G r o ß , unendlich groß und wohltätig' " (ebd.). V. M a n kann es als Zeichen der A k t u a l i t ä t des Abeggschen Tagebuches für die Kantforschung ansehen, daß das letzte wichtige Gespräch, das Abegg auf seiner Reise aufgezeichnet hat — sein Gespräch m i t Wieland 4 3 — K a n t als erstes Thema hat: K a n t , wie er i n den Augen eines der prominenten Vertreter des zeitgenössischen deutschen Geisteslebens erscheint. Wie w i r zu zeigen versuchten, ist das Reisetagbuch an Zeugnissen perspektivischer Urteile über die Persönlichkeit Kants und ihre Resonanz i n der Zeit eine quantitativ wie qualitativ besonders reiche Quelle; noch wertvoller ist es durch die Tradierung unmittelbar m i t K a n t geführter Gespräche, die zumindest teilweise wörtlich die Rede des Denkers wiedergeben. Doch weder die Vielzahl der Aussagen verschiedener Personen über K a n t noch allein die getreue Wiedergabe Kantischer Dicta machen den eigentlich originalen und singulären Charakter des Abeggschen Tagebuchs aus. Original und singulär sind — i m Hinblick auf K a n t — Abeggs Aufzeichnungen dadurch, daß sie uns K a n t (in einem i n anderen zeitgenössischen Berichten nicht vorhandenen Maße) innerhalb des unbefangen geschilderten Rahmens des Königsberger gesellschaftlich-kulturellen Lebens vor Augen bringen. M i t einiger Phantasie kann sich der Leser dank Abeggs fleißiger Notierungen ein anschauliches B i l d v o m Leben der Stadt Königsberg i m Sommer des Jahres 1798 machen und er kann sich m i t i n die Gesellschaft dieser Stadt hineinverweben lassen. Keine noch so exakte wissenschaftliche Konstruktion kann Geschichte verbindlicher machen als die Beschreibung des ausdrucksfähigen Mitlebenden, der den Ereignissen und den Menschen offen steht. Nicht umsonst hat Descartes schon die Geschichte aus dem Reich des Verstandes i n das der Einbildungskraft verwiesen. Geschichtsschreibung, die der U n m i t t e l barkeit erlebender und reproduzierender Einbildungskraft sich verpflichtet, w i r d M i t t e l eines erinnernden Nachvollzuges, der diejenigen Individuen sagt wird, er reditfertige post festum die revolutionäre Gewalt. Kant ist sich vielmehr der Paradoxie bewußt, daß auf der einen Seite die Revolution heilsame Folgen hat, daß sie auf der anderen Seite aber immer Unrecht bleibt. Bei Kant ergibt sich diese Paradoxie aus der inneren Systematik seiner rechtsphilosophischen Reflexion. 43 Vgl. Reisetagebuch, 305.

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Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen J. F. Abegg festhält, die außerhalb dieses Festgehaltenseins auf Dauer dem Schweigen verfallen sind. K a n t t r i t t uns persönlich näher, weil die konkrete Welt, die ihn umschloß, mitgegenwärtig ist, wenn er selber redend (oder redend i n den Reden anderer) i m Reisetagbuch Abeggs vor uns t r i t t . Es gibt beachtenswerte historische Werke über das alte Königsberg, die an Materialreichtum und Genauigkeit das Abeggsche Buch weit übertreffen. Sie bleiben aber abstrakt — m i t Absicht und i n Konsequenz des literarischen Genres, dem sie angehören. Abeggs Bericht dagegen hat i m Verzicht auf jede historiographische Methodik das Unbekümmerte des Blicks für sich, der der Heterogenität des unmittelbaren Daseins i m Zeitablauf und i m räumlichen Vielerlei folgt. Solchem Blick, der der Blick des Lebens (ohne Ausschluß der Reflexion) ist, b l i t z t die Ahnung v o m Individuellen auf, dem immer Gemeinten, angestrengt Gewollten, das dem wissenschaftlichen Zugriff sich entzieht. Was der biographisch-wissenschaftlichen Einstellung, auch wenn sie modisch-psychoanalytisch sich aufputzt, verschlossen bleibt: eine Annäherung an das Unwiederholbar-Singuläre einer Person zu ermöglichen, gelingt i m ständigen Rückschlag dem beständigen und verstehenden Umgang. Insofern biographische Zeugnisse diesen Umgang widerspiegeln, vermitteln sie der geschichtlich erinnernden Einbildungskraft — über die Dimension einer am Lebensalter des Menschen gemessenen Zeit hinaus — die Nachfühlbarkeit der unmittelbaren Begegnung, deren die Spätergeborenen zu ihrem Leidwesen entbehren müssen, die aber doch das einzige ist, was uns der zur Angst verdammenden bloßen Einzelnheit entreißt. K a n t erschließt sich i n seinem Unwiederholbar-Singulären denen, die, den überlieferten Zeugnissen der Freunde folgend, durch festhaltende Einbildungskraft selber i n Freunde sich verwandeln.

WILHELM SALEWSKI KANTS IDEALBILD EINER

FRAU

Versuch einer Biographie der Gräfin Caroline Charlotte Amalie v o n Keyserling geb. Gräfin Truchsess von Waldburg (1727—1791)*

I n mehr als zwei Jahrhunderten hat sich eine Kant-Literatur von schier unermeßlichem Umfang gebildet. Sie vollständig zu erfassen, ist eine w o h l kaum zu bewältigende Aufgabe. Gewiß überwiegen hier die vor allem philosophischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Werke; das biographische t r i t t demgegenüber zurück, wenngleich es auch allein für sich genommen eine ganze Bibliothek füllen könnte. Versucht man aber, das Lebensbild des großen Königsbergers i n aller V o l l ständigkeit zu gewinnen, k o m m t man bald zu dem Ergebnis, daß auch eingehenden Nachforschungen manches verborgen bleibt, was schon M i t t e des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr aufgeklärt werden konnte. Uber die Jahre seiner Hauslehrer-(„Hofmeister")Zeit ist vieles i m Dunkeln geblieben, und nicht einmal die Datierungen sind gesichert. Ober seinen Freundeskreis sind die Kenntnisse i m allgemeinen ausreichend; doch fehlen selbst bei den Freunden der letzten Jahrzehnte zumeist eingehendere Biographien, wenn man von den lexikalischen Kurzbeschreibungen i n der Allgemeinen Deutschen Biographie oder der Altpreußischen Biographie einmal absehen w i l l . V o n manchen Freunden der Schul- und Studentenzeit, selbst solchen, m i t denen er auf Duzfuß stand, sind aber selbst die dürftigsten Angaben zu vermissen. So weiß man v o n einigen Weggefährten nicht einmal, welchem Beruf sie sich zugewandt haben oder i n welchen Himmelsstrich sie das Schicksal verschlagen hat. H i e r bleiben viele Fragen unbeantwortet. * Vortrag auf der Jahresversammlung der „Gesellschaft der Freunde Kants" am 20. April 1979 in Mainz.

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Wilhelm Sale w ski Die Beziehungen Immanuel Kants zur Damenwelt entziehen sich einem sicheren Urteil. Seine Neigungen zum schwachen Geschlecht waren durchaus nicht negativ. Das läßt schon der häufig zitierte und resignierte Ausspruch des alten Junggesellen erkennen, er hätte als junger Gelehrter nicht über die M i t t e l verfügt, um heiraten zu können, jetzt sei er zu alt dafür. Für K a n t w a r das Idealbild einer Frau die Gräfin Caroline Charlotte Amalie von Keyserling, geb. Gräfin Truchsess zu Waldburg. Eine langwährende Freundschaft m i t dieser reizvollen, hochgebildeten Frau, „einer Zierde ihres Geschlechtes", wie er sie nach ihrem Tode einmal i n einer Fußnote der 1798 erschienenen „Anthropologie i n pragmatischer Hinsicht" rühmt (bemerkenswerterweise aber nur m i t den Buchstaben Κ - g ihres N a mens), ist hinreichend als Beweis für die Hingezogenheit des großen Denkers zu einer, freilich herausragenden Vertreterin des nicht immer schwachen Geschlechtes, Beweis aber auch für eine seltene Anhänglichkeit an eine stets bewunderte große Dame. Es entzieht sich der Kenntnis aller Biographen, bis zu welchem Zeitpunkt K a n t Gast des Keyserlingschen Hauses gewesen ist, aber gewiß sind es mehr als drei Jahrzehnte gewesen, daß er sich der Gastfreundschaft der Gräfin erfreuen konnte. Eine so lange währende enge Verbindung, die sich nicht nur i n Gastfreundschaft erschöpfte, hat eigentlich nur noch zwischen K a n t , dem Engländer Joseph Green und dessen Teilhaber und Nachfolger, dem Schotten Robert Motherby (d. ä.), bestanden. I m folgenden w i r d der Versuch unternommen, Leben und Handlungen dieser großartigen Frau darzustellen. Das Vorhaben steht unter dem Unstern, daß primäre Quellen für eine solche Arbeit kaum, ja sogar überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Z u m Beispiel existieren keine Spuren eines Briefwechsels zwischen K a n t und der Gräfin mehr. So mußten, wie beim Mosaik, viele Steinchen aus der L i teratur gesammelt und zu einem knapp hinlänglichen Gesamtbild zusammengefügt werden. Der einsichtige Leser w i r d Verständnis dafür haben, das nicht jede Wißbegier auf ihre Rechnung kommt. So mußten auch die unumgänglichen genealogischen Angaben sich auf ein M i n i m u m beschränken. I. Herkunft

und

Ahnenerbe

Zwei bedeutende miteinander nah verwandte Frauen haben i m K u l t u r leben Ostpreußens eine bestimmende und einflußreiche Rolle gespielt. A u f dem Gebiet der Landeskultur, und hier i m besonderen des Wasserstraßenbaues sowie der Melioration von Moorgebieten und der Gewinnung v o n

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Kants Idealbild

einer Frau

Neuland, war es die allen älteren Ostpreußen wohlbekannte Luise Katharina von Rautter aus W i l l k a m m bei Gerdauen, die, 1650 geboren, schon m i t 19 Jahren einen der bedeutendsten Baufachleute Brandenburgs heiratete, den Festungs- und Wasserbauspezialisten Philipp della Chieza, audi de oder von Chaise genannt. Dieser ungewöhnlich konstruktive und einfallsreiche Architekt stammte zwar aus H o l l a n d und wurde auf Veranlassung des Burggrafen Christian Albrecht zu Dohna aus Schweden wegengagiert, baute u. a. das Potsdamer Stadtschloß i n seiner ersten Form, beteiligte sich auch am Ausbau des Berliner Schlosses, schuf andere Staatsgebäude, den Oder-Spree-Kanal, bis ihn, der nun schon Generalquartiermeister, Oberst und Kammerherr des Großen Kurfürsten geworden war, 1669 die schwere Aufgabe erreichte, ein weites Gebiet i n der Ostpreußischen Memel-Niederung, i m A m t Tilsit, durch Meliorationen größten Stiles urbar zu machen. Inmitten dieser aufwendigen und zeitraubenden Arbeiten ereilte ihn i m A p r i l 1673 der Tod. Seine tatkräftige Frau führte die Trockenlegungsarbeiten weiter, u m sich die ihrem Gemahl verschriebenen 350 H u f e n Neuland zu sichern und die gewaltige Aufgabe nicht unvollendet zu lassen. Sie sorgte für die Fertigstellung des i n einfachen Formen gebauten, nach ihrem Mädchennamen genannten Schlosses Rautenburg an der Gilge. 1679 ging Luise v o n Rautter, nun de Chaise, m i t dem Kommandanten der Festung Pillau W o l f Christoph Erbtruchsess und Graf zu Waldburg eine zweite Ehe ein; aber ihr neuer Gemahl blieb ihr nur neun Jahre erhalten. 1689 begann sie, schon wieder W i t w e , erneut m i t dem Bau eines Kanals zwischen Deime und Gilge, der schon nach acht Jahren dem Verkehr übergeben werden konnte. So entstanden dank der unablässigen Bemühungen der W i t w e della Chieza der Große und der Kleine Friedrichsgraben: eine vorbildliche Leistung des Wasserstraßenbaues und der Entwässerung. Aus dieser zweiten Ehe der Louise v. Rautter stammt Graf C a r l L u d w i g Truchsess zu Waldburg, genannt „der schöne Truchsess", preußischer Generalmajor, der Vater der Gräfin Caroline (Carolina), der m i t einer aus niederrheinischer Familie stammenden Gräfin v o n Wylich und L o t t u m verheiratet war. D a m i t sind w i r schon zur anderen der beiden anfangs genannten Frauen gekommen. Bevor w i r uns ihr zuwenden, noch einige genealogische Angaben: Die Familie della Chieza soll aus Piémont stammen. Die Vorfahren des erwähnten Philipp della Chieza sowie seines ebenfalls nach Brandenburg

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Wilhelm Sale w ski eingewanderten Bruders L u d w i g haben mehrere Generationen hindurch i n Orange i m Rhone-Tal gelebt und gingen dann m i t den Oraniern nach H o l l a n d . I m Mannesstamm ist diese Familie, jedenfalls i n Preußen, schon 1750 erloschen. Das Geschlecht der Erbtruchsesse und Freiherrn, später Grafen zu Waldburg stammt aus Schwaben. Friedrich Truchsess zu Waldburg wurde 1505 von seinem Vater genötigt, i n seinem elften Lebensjahr i n den Deutschen Orden einzutreten. Er bewährte sich später sehr, erhielt als Lehen Landsberg m i t zwei Dörfern und einer Mühle, Wildenhoff, Fridau und Jäschkendorf. Die preußischen Waldburgs, die ein Jahrhundert auf Capustigall saßen, haben zahlreiche führende Militärs und hohe Verwaltungsbeamte hervorgebracht. 1850 erlosch das Geschlecht i m Mannesstamm. Die Rautter kamen aus Oesterreich. Der erste, Niclas, wurde 1458 i n die Bruderschaft des Deutschen Ordens aufgenommen. Viele Landwirte, O f f i ziere und Beamte sind aus der Familie hervorgegangen. Das Geschlecht ist i m vorigen Jahrhundert i m Mannesstamm ausgestorben. U n d nun die Keyserlings. Sie kamen alle v o n K u r l a n d bzw. aus anderen Teilen des Baltikums nach Preußen. Dietrich v o n Keyserlingk, zum Begleiter und Erzieher des damaligen preußischen Kronprinzen v o m Vater Friedrich W i l h e l m I . bestimmt und als „Césarion" (auch „der Schwan von M i t a u " genannt) der intimste Freund Friedrichs des Großen, suggerierte ihm, die anderen recht wohlhabenden, i m B a l t i k u m ansässigen Mitglieder der Familie Keyserling i n Altpreußen ansässig zu machen. Sie würden erhebliche M i t t e l mitbringen und dem Lande, das ihre eigentliche H e i m a t wäre, zu großem Wohlstand verhelfen. Dieses physiokratische Argument verfehlte nicht seine W i r k u n g auf den jungen König, und so kam dann bald eine ganze A n z a h l von ihnen, selbstverständlich nicht ohne eigene Wünsche und Bedingungen, nach Ost- und, nach der ersten polnischen Teilung, auch nach Westpreußen. Die meisten von ihnen verstanden sich darauf, gute Partien zu machen, aber sie brachten auch ihrerseits i n der T a t nicht geringe M i t t e l mit, da ihnen die baltischen Latifundien unter den damaligen Verhältnissen viel eintrugen. Z u m Teil wollten sie auch auf zwei Füßen stehen, und selbst die Nachfahren der i n Preußen angesiedelten Deutsch-Balten hatten noch Begüterungen i m K u r l a n d oder anderswo i m B a l t i k u m und verbrachten einen nicht geringen Teil ihrer Zeit i n einer Umgebung, die nicht nur Ungebundenheit und Großzügigkeit bot, sondern auch eine naturhafte Ursprünglichkeit, mehr noch als i n Preußen, aufwies. Die Balten

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Kants Idealbild

einer Frau

hatten ganz andere Größenvorstellungen. Es waren große Herren, die i m Dienste einer anderen, um nicht zu sagen fremden, Macht standen, und das verschaffte ihnen i m Laufe der Zeit große Anpassungsfähigkeit sowie diplomatische Gewandtheit und machte sie, die gerne reisten, weltläufiger als die Mehrzahl ihrer ostelbischen Standesgenossen. Es gab Balten, die nacheinander Dienst nahmen i n Rußland, Sachsen, Polen, Oesterreich und Preußen. So brachten sie i n die preußische Gesellschaft manche Farbtupfen. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle mehr über Einfluß u n d Geltung der Balten i n Preußen zu sagen. Wer genealogische Handbücher durchforscht, w i r d die furchtbaren Geschicke mancher baltischen Familien i m 20. Jahrhundert nicht ohne Erschütterung zur Kenntnis nehmen. V o n besonders schlimmen Schicksalsschlägen wurde die Familie Keyserling heimgesucht. Nicht v o n ungefähr w i r b t ein Angehöriger dieser Familie u m die junge Gräfin Caroline Truchsess zu Waldburg, Tochter des sechs Jahre zuvor i n Berlin gestorbenen preußischen Generalmajors und H e r r n auf Capustigall Carl L u d w i g Erbtruchsess Graf zu Waldburg: Der i m Kurländischen Okten 1699 geborene Gebhardt Johann v. Keyserling, Fürstl. BraunschweigLüneburgscher Wirklicher Geheimer Rat u n d Etatsminister. Dieser war nach St. Petersburg als Betreuer des Herzogs A n t o n Ulrich v o n Braunschweig berufen und 1735 zum braunschweigischen Gesandten am russischen H o f e v o n dem älteren, regierenden Bruder des jungen Herzogs bestellt worden. Aus der Braunschweiger Ehe m i t der Zarinnen-Nichte Anna Leopoldowna entsprang ein Sohn, I w a n , der v o n der Z a r i n Anna zum Thronerben erk l ä r t wurde. Nach dem Tode der Z a r i n (1740) riß ihr Günstling Biron die Regentschaft an sich, wurde aber gestürzt und nach Sibirien verbannt (wohl nicht ohne Z u t u n seines baltischen Landsmannes). N u n übernahmen, wie v o n der Z a r i n Anna bestimmt, die Eltern Iwans die Regentschaft. Keyserling wurde nach Braunschweig berufen. Noch während seiner A n wesenheit am dortigen Fürstenhof wurde er von der Nachricht überrascht, daß die Tochter Peters des Großen den T h r o n bestiegen und das Herzogspaar m i t dem Zarenanwärter verbannt hätte. Angesichts dieser schwierigen Verhältnisse hielt es Keyserling nicht gerade für sinnvoll, nach Petersburg zurückzukehren. Er ging 1742 nach Ostpreußen und übernahm dort das Rittergut Puschkeiten von seiner zweiten Frau, die ein Jahr später starb. So wurde er zum zweiten M a l kinderlos zum Witwer. Einige Zeit später heiratete er zum dritten M a l , am 29. A p r i l 1744, die Gräfin Caroline Charlotte Amalie Truchsess zu Waldburg. Gleichzeitig erwarb er von den beiden Brüdern der Braut für rund 120 000 Thaler die Gräfl. Rauten-

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Wilhelm Sale w ski burgischen Güter, fast 20 000 Morgen oder 5000 ha. Kurze Zeit danach erfolgte die zugesagte Erhebung i n den Grafenstand. II. Elternhaus,

Kindheit

und Früh-Ehe

Charlotte Caroline Amélie wurde am 2. Dezember 1727 i n Königsberg als Tochter des Generalmajors K a r l L u d w i g Erbtrudiseß Graf zu Waldburg geboren. Ihre Kinderjahre verbrachte sie auf dem Landsitz Kapustigall (Capustigall), der später den Namen Waldburg erhielt und wenige K i l o meter westlich v o n Königsberg entfernt i n schönster Lage auf einer Anhöhe nahe am Frischen H a f f für Kinder eine ideale Umgebung darbieten mußte, wenngleich hier nur ein schlichtes Landhaus vorhanden war, das erst um die Wende zum 19. Jahrhundert durch einen größeren Schloßbau ersetzt werden konnte. Die Erziehung der jungen Gräfin Caroline i n ihrem Elternhaus w a r streng, wie sich aus v o n dritter Seite wiedergegebenen Äußerungen Kants schließen läßt. Er, der ja häufig i n Capustigall war, vermißte, wenn er sich der einfachen Erziehung i n seinem Elternhaus erinnerte, etwas mehr an Herzlichkeit. Der Vater der jungen Komtess war als preußischer Generalmajor Soldat und w o h l auch — vielleicht ein Erbe von seiner Mutter, der Luise v. Rautter — an Bausachen sehr interessiert. Er soll, laut Familien-Uberlieferung, i n Berlin das Prinz K a r l Palais am Wilhelmsplatz gebaut haben, das Sitz des Großmeisters des Johanniterordens werden sollte, i n den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts als Barockbau fertiggestellt wurde und später den berühmt gewordenen Umbau durch Schinkel erfuhr, schließlich als Haus des Reichspropagandaministeriums i m letzten K r i e g total zerstört wurde. Auch müssen Vater u n d Mutter der Gräfin Caroline musische Neigungen gehabt haben. Bei einem Aufenthalt am Mittelrhein lernte Graf Truchsess von Waldburg 1730 i n Oppenheim einen munteren, musikalisch hochbegabten Gärtnersohn namens Johann Reichardt kennen, den er mehrmals nach Berlin, schließlich aber nach Königsberg mitnahm. Seine Absicht w a r es freilich, den jungen Reichardt zu seinem Haus- und Kellermeister zu machen. N u r nach langem Widerstreben gab er seine Zustimmung zu einer musikalischen Weiterbildung. Der junge Geigen- und Lautenspieler nahm nun Unterricht bei dem Königsberger Stadtmusikus und konnte auch der jungen Gräfin Caroline Unterricht auf der Laute erteilen, deren Spiel sie schließlich meisterlich beherrschte. Gräfin Caroline war zehn Jahre alt, als ihr Vater starb. Er hinterließ außerdem drei Söhne, von denen W i l h e l m Franz 1742, i m Ersten Schlesischen Krieg, bei Chotu-

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Kants Idealbild

einer Fra

sitz, gefallen ist, während die beiden anderen sich i n den Besitz von Rautenburg teilten, das sie allerdings 1744 an den Grafen Gebhard Johann von Keyserling, ihren Schwager, veräußerten. Wie das Verhältnis der Gräfin zu ihrer Mutter, der geborenen Gräfin von Wylich und L o t t u m , war, darüber gibt es kaum Angaben. E i n alter G r o l l über die frühe Verheiratung des erst 16jährigen Mädchens, am 29. I V . 1744, m i t einem 45jährigen H e r r n v o n Rang, dem Balten Gebhard Johann von Keyserling, mag zumindest unterschwellig das Verhalten v o n Tochter zu Mutter nicht unbeeinflußt gelassen haben. E i n schwaches Licht auf diese Beziehung w i r f t eine Stelle der i n der dritten Person singularis abgefaßten Autobiographie des Johann Friedrich Reichardt, des Sohnes des schon erwähnten Musikers, die er 1805/06 i n der von i h m herausgegebenen „Berlinischen Musikalischen Zeitung" i n zehn Folgen veröffentlicht hat. Es heißt d o r t : „Dabei sah er aber auch, daß die alte Mutter der Gräfin, die Gräfin Truchsess zu Waldburg m i t deren Sohn sein Vater nach Preußen gekommen war, das gräfliche Haus räumen und zu seinen Eltern i n ein kleines, dem gräflichen Hause gegenüber gelegenes bürgerliches Haus, Stub* an Stub* m i t ihnen, ziehen mußte, weil i h r schwaches A l t e r nicht i n das neue ihrer gebildeteren Tochter p a ß t e . . (Es folgen hier kritische Bemerkungen über die strenge Erziehung der beiden Söhne der Gräfin Caroline, auf die w i r i n anderem Zusammenhang noch zurückkommen werden). V o n dem ersten M a n n der Gräfin Caroline, der 29 Jahre älter war als sie, die kaum aus den Kinderjahren entsprungen war, wissen w i r nicht allzuviel. Johann Gebhard von Keyserling wurde auf dem kurländischen Gut O k t e n seines Vaters Hermann Friedrich v. Keyserling aufgezogen. W i r bleiben i m Ungewissen über den Bildungsgang des Mannes. Aber die i h m übertragenen Ämter und Vertrauensposten rechtfertigen die Annahme, daß er nach seiner Ausbildung für diese Posten qualifiziert war. 1734 übern i m m t er i n St. Petersburg die Erziehung des „unbedeutenden" Herzogs A n t o n Ulrich v o n Braunschweig-Wolfenbüttel, den die Z a r i n Anna auf Empfehlung des Wiener Hofes zum Gatten der russischen Thronerbin bestimmt hatte. I m H i n b l i c k auf die unaufhörlichen Intrigen am Zarenhof fand der regierende Bruder des Braunschweigers es für richtig, ihn zum braunschweigischen Gesandten am russischen Hofe zu bestallen. Es ist bereits dargelegt worden, welche Folgen das hatte. Für Gebhard war fortan Rußland ein heißer Boden. Er sah sich daher auch veranlaßt, Okten an einen Vetter zu verkaufen. Still und zurückgezogen lebte er nun auf Rautenburg oder i n Königsberg. Seine junge Frau wandte sich der Lite3

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Wilhelm Sale w ski ratur, der Philosophie und der Musik zu. Über ihre Belesenheit wurde von Zeitgenossen Erstaunliches berichtet. Freilich beanspruchten auch die beiden 1745 und 1747 geborenen Söhne aus dieser ersten Ehe die ganze Hingabe der jungen Mutter. I m Jahre 1761 stirbt der erste Gemahl der Gräfin Caroline an dem gleichen Tage, an dem zwei Jahre zuvor die beiden Söhne K a r l und O t t o an der Königsberger Universität immatrikuliert wurden (von denen der eine aber bald von der aima mater zu verschwinden hatte). Der jüngere, m i t I2V2 Jahren immatrikuliert, beendete sein Studium i m 16. Lebensjahr nach sechs Semestern — heute kaum noch vorstellbar. Kurze Zeit danach geht die Gräfin Caroline eine zweite Ehe ein. Sie heiratet den ebenfalls verwitweten Reichsgrafen Heinrich Christian v o n Keyserling, einen fast gleichaltrigen Balten, sorgfältig erzogen, hoch gebildet m i t ausgeprägt musischen Neigungen. Wie damals i m baltischen A d e l üblich, unternahm er nach dem Studium der Rechte und Staatswissenschaften i n Leipzig und H a l l e eine sogenannte Cavalierstour nach Italien, England und Frankreich, wurde polnischer und Kursächsischer Kammerherr, Kursächsischer Justizrat und folgte drei Jahre später seinem Vater, der russischer Gesandter i n der Hauptstadt der Doppelmonarchie war, nach Wien, wurde dort Kaiserlicher Kämmerer und als zweiter Protestant W i r k licher Reichshof rat. 1762 w i r d er als Geheimer Rat m i t dem Range eines Generalleutnants i n russische Dienste übernommen und seinem bedeutenden und politisch höchst einflußreichen Vater bei der russischen Gesandtschaft i n Warschau attachiert. Bereits i m folgenden Jahr n i m m t er seinen Abschied, u m die verwitwete Gräfin Caroline zu heiraten, sie bei der Erziehung ihrer Söhne und der Bewirtschaftung des großen Grundbesitzes zu unterstützen. Beide müssen sich bei früheren Gelegenheiten kennen und schätzen gelernt haben. Für die Gräfin Caroline begann nun, i n der vollen Blüte ihrer Jahre, an der Seite eines weltoffenen, v o n allen Musen begünstigten Gemahls, eine Periode des Lebensglückes, einer gepflegten heiteren wie auch ernsten Geselligkeit m i t Menschen aus aller Herren Länder. Als der Vater des neuen Ehemannes, Graf Hermann C a r l v o n Keyserling, Präsident der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, M i t g l i e d der preußischen Akademie der Wissenschaften und Förderer Johann Sebastian Bachs, am 30. September 1764 i n Warschau starb, mußte das junge Ehepaar

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einer Frau

fast ein ganzes Jahr m i t der Regelung des Nachlasses i n der polnischen Hauptstadt wie auch i n K u r l a n d zubringen. I n dieser Zeit gelang es dem Grafen Heinrich Christian, sich i n Polen einträgliche Pfründen zu sichern. Der nach dem Tode von August I I I . gewählte letzte K ö n i g v o n Polen Stanislaus Poniatowski verdankte seine W a h l (1764) nicht nur der Z a r i n Katharina I I . , deren Geliebter er zeitweise sein durfte, sondern auch dem staatsmännisch besonders umsichtigen Grafen Hermann Carl. K u r z u m : Nachdem bereits sein Vater i n Würdigung seiner Verdienste v o m K ö n i g August I I I . v o n Polen die Rönnebergschen Güter i n Polen und L i v l a n d als Lehen erhalten hatte, stand dem Grafen Heinrich Christian noch für 15 Jahre nach dem Tode des Vaters der Nießbrauch an diesen Lehnsgütern zu. Eine zweite, m i t der Verleihung des Weißen Adlerordens begleitete D o t a t i o n erfolgte i n der Weise, daß Graf Heinrich Christian aus Einkünften des Generalpostmeisters i n Polnisch-Preußen alljährlich ein Entgelt von 10 000 Thalern (nicht Gulden) v o m K ö n i g von Polen zugesprochen erhielt. — Drittens gelang es dem Grafen 1770, i n Polnisch-Preußen (hauptsächlich das spätere Westpreußen) die Starostei Engelsburg (polnisch Pokrziewno) für 20 000 Dukaten v o m Wojewoden Prodoski käuflich zu erwerben, was dem Erwerber jährlich Einkünfte von über 2600 Dukaten brachte. H i n z u kamen die Einkünfte aus den Rautenburger Gütern, die den Stiefsöhnen Keyserling zustanden, aber praktisch doch v o n dem zweiten M a n n der Gräfin Caroline treuhänderisch verwaltet wurden. So ergab sich i m ganzen eine ansehnliche Manövriermasse, die nicht nur ein sorgenfreies Leben möglich machte, vielmehr auch Ausbau und Instandhaltung des Schlosses Rautenburg, sowie des Stadtpalais i n Königsberg gestattete, schließlich aber auch Festveranstaltungen, Schauspiele, Konzerte und Bälle veranstalten ließ. H i n z u k a m die vielgerühmte Gastfreundschaft. Es gab kaum einen Besucher Königsbergs v o n Rang und Namen, der nicht w i l l kommener Gast des Grafenpaares geworden wäre. Neben den verschiedenen Festvorstellungen gab es aber viele Gespräche, die der Wissenschaft, i m besonderen der Philosophie u n d der Theologie, der Literatur, ja auch der P o l i t i k galten. H i e r w a r die liebenswürdige Gastgeberin durchaus ihrem geistvollen und kunstsinnigen Gemahl ebenbürtig. III.

Die junge Gräfin

und die Philosophie

Gräfin Caroline begann wahrscheinlich schon i n den frühen Jahren ihrer ersten Ehe m i t eingehenden literarischen Studien. Wer ihr den ersten Unterricht erteilte (als Hauslehrer?), wer ihr i n der Zeit der jungen Ehe 3•

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Wilhelm Sale w ski bildend zur Seite gestanden hat, das ist gänzlich unbekannt. Ob ein ganz ungewöhnlicher Bildungstrieb, der sogar i n wissenschaftliche Neigungen oder Interessen mündete, ihr von Geburt aus auf den Lebensweg mitgegeben worden ist, oder ob i n den ersten Ehejahren sich, wie es i n der Psychoanalyse heißt, Verdrängungserscheinungen herausgebildet haben, das muß dahingestellt bleiben. Erstaunlich bleibt für ein junges Mädchen, das aus ländlichem, wenn auch herrschaftlichem M i l i e u kam, daß die junge Frau bereits i m A l t e r v o n 25 Jahren, damals schon Mutter v o n zwei Knäblein, Gottscheds Handbuch der Philosophie, das seine erste Auflage 1734 erlebte unter dem T i t e l „Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinnen alle philosophischen Wissenschaften i n ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden" ins Französische übersetzt hatte. I n einem Brief an G o t t sched vom 23. A p r i l 1754 bekundet die junge A d e p t i n erneut ihr lebhaftes Interesse, das ihr die Philosophie erweckt hätte, und sie unterläßt nicht das Kompliment m i t den Worten: „C'est vous qui m'avez mis en cette carrière" (Sie sind es, der mich diesen Weg gewiesen hat). Anscheinend ist die Übersetzung der Gräfin nicht gedruckt worden. Vielleicht hat Gottsched m i t einem französischen Gelehrten i n Verbindung gestanden, dem er den übersetzten Text zur Verfügung stellte. Gottsched hat seinen D a n k i n der Form abgestattet, daß er die 6. Auflage dieses Werkes m i t einer W i d m u n g an die Gräfin Caroline einleitete. N u n , das ist nicht ihre einzige philosophische Arbeit gewesen. Sie soll auch eines der Hauptwerke von Jean Jacques Rousseau übersetzt haben. Ob diese Übertragung ins Deutsche überhaupt veröffentlicht worden ist, weiß man nicht. E i n späterer Angehöriger dieser Familie, ein Graf Alexander von Keyserling, hat i n seinen Tagebüchern die seine Tochter Helene von Taube 1894 herausgegeben hat, darauf aufmerksam gemacht, daß sich unter den Rautenburger Papieren „verschiedene, von der H a n d der Gräfin sehr elegant geschriebene philosophische A b handlungen" befänden. Es „mögen Auszüge sein aus Gottsched'schen V o r lesungen; vielleicht sind aber auch darin Abhandlungen des jungen K a n t enthalten. Leider fehlt jeder äußere Anhalt, um diese Schriften K a n t zuzuschreiben, und zu innerer Würdigung hat m i r die Zeit g e f e h l t . . . " Unter den i n Rautenburg damals — also vor dem verheerenden Brand von 1915 — erhaltenen Briefschaften der Gräfin fand Graf Alexander nur ein einziges Schreiben vor, i n welchem auf K a n t Bezug genommen ist. Es handelte sich um einen Brief an ihren zweiten Gemahl und die darin enthaltene Wendung „ K a n t hat bei mir gespeist". Nach Angaben des Verfassers der Tagebücher müssen große Teile der schriftlichen Hinterlassen-

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Kants Idealbild

einer Frau

schaft der Gräfin Caroline vernichtet worden sein. Was sonst von den Papieren der Gräfin dieser Vernichtung nicht anheimgefallen sei, soll, so vermutet Graf Alexander „ i n der Keyserlingschen Verwandschaft verstreut sein"! Also konnte schon i m vergangenen Jahrhundert von einem größeren schriftlichen Nachlaß der Gräfin nicht mehr die Rede sein. Es scheint, daß der große Brand des Rautenburger Herrenhauses i m Jahr 1915, dem auch die i n einem Nebengebäude untergebrachte wertvolle Bibliothek zum Opfer gefallen ist, noch viel v o n den alten Schriften und Bildern zerstört hat. Das letzte Verhängnis traf den Rautenburger Besitz i m Jahre des jammervollen Zusammenbruches v o n 1945. I m Januar trafen die Russen auf ein herrenloses Herrenhaus. Graf Heinrich Christian w a r bereits 1939 gestorben. Seine Ehe m i t der aus Berlin stammenden Gräfin Renard blieb kinderlos. Die alte Gräfin wurde von den Russen verschleppt und gilt als verschollen. I m M a i 1945 wurde das Haus Rautenburg nach systematischer „Ausräumung" niedergebrannt. Was v o n den i n K u r l a n d zerstreut vorhanden gewesenen Erinnerungsstücken hat gerettet werden können (man denke an die verheerenden Baltikum-Kämpfe nach Schluß des ersten Weltkrieges), w i r d gewiß nicht der Rede wert sein. Das Keyserling'sche Archiv i n Darmstadt gibt auf Anfrage leider keine A n t w o r t . IV.

Russisches Intermezzo

Die Gräfin Caroline w a r nicht nur eine begehrenswerte und gescheite Frau; sie erwies sich auch als große Diplomatin. Das w a r u m so wichtiger, als nach Ausbruch des Siebenjährigen Krieges die Russen Anstalten machten, sich des Gebietes Altpreußen (mit mindestens einem eisfreien Hafen) zu bemächtigen. Wie schon erwähnt, hatte Graf Johann Gebhard von Keyserling, der erste Gemahl der Gräfin Caroline, Anlaß genug, nicht nach Rußland zurückzukehren, w o er, aus welchen Gründen auch immer, als persona ingratissima galt und massiven Beschuldigungen ausgesetzt wurde. Gewiß hatte er A n t e i l an den schlimmen Intrigen am Zarenhof, so daß er sich veranlaßt sah, Rußland den Rücken zu kehren. V o n russischen Behörden ging die Beschuldigung aus, daß er sich i n Petersburg auch der versuchten oder gelungenen Fortschaffung von Vermögenswerten der m i t dem braunschweigischen Prinzen A n t o n Ulrich verheirateten Großfürstin und Regentin Anna Leopoldowna schuldig gemacht hätte. Die Großfürstin w a r inzwischen m i t M a n n und K i n d e r n i n die Gegend von Archangelsk verbannt und verstarb dort wenige Jahre später.

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Wilhelm Sale w ski Schon als die russische Armee i m J u l i 1757 Memel besetzen konnte, geriet das Ehepaar Keyserling begreiflicherweise i n Unruhe, begab sich aber erst Ende des Jahres m i t den K i n d e r n von Königsberg nach Capustigall, dem Elternhaus der Gräfin Caroline. A m 16. Januar 1758 überschritten die Russen zum zweitenmal die ostpreußische Grenze, nachdem der Oberbefehl v o n A p r a x i n auf den neuen General en chef Graf W i l h e l m v o n Fermor übergegangen war. Fermor, am 28. September 1704 i n Pskow/Pleskau geboren und am 8. Februar 1771 i n M i t a u / L i v l a n d gestorben, sollte einer englischen Familie entstammen, wurde aber v o n den Russen für einen Deutschen gehalten, der m i t einer Engländerin namens Bruce verheiratet war. Fermor, der sich schon i n mehreren Kriegen ausgezeichnet hatte, säumte nicht lange. Schon am Sonntag, den 22. Januar 1758, hielt Fermor unter dem Geläut aller Kirchenglocken m i t klingendem Spiel seinen Einzug i n Königsberg. Es begann die fünfjährige Besetzung (Ost-)Preußens, und die Russen beeilten sich, die führenden Schichten i n Stadt und L a n d unter E i d und H u l digung der Z a r i n Elisabeth als Untertanen i n Pflicht zu nehmen. Der Ubergang auf den neuen Machthaber vollzog sich schnell, wenn auch keineswegs begeistert. Die Grausamkeiten der russischen Soldateska auf dem Wege nach Königsberg und ein begreifliches Gefühl der Verlassenheit von dem alten Landesherrn, der seine Truppen anderswo brauchte, ließen keinen Widerstand aufkommen. Auch die Gelehrten der Universität Königsberg beugten sich dem „freiwilligen Z w a n g " . Z u m Gouverneur für Preußen wurde der aus dem orthodoxen Zweig Feimany der weitverbreiteten Familie K o r f f stammende N i k o l e i v o n K o r f f (1710—1766), General der Kavallerie, später General en chef, Generalpolizeidirektor und Senator, Kais. russ. Wirklicher Kammerherr, ernannt. Als Ehemann v o n Jekaterina K a r l o w n a Gräfin Skawronska, einer Kusine der Zarin, die allerdings bereits 1757 starb, hatte er gute Beziehungen zum Herrscherhaus. W a n n Graf Johann Gebhard v. Keyserling das von i h m gewählte E x i l i n Capustigall wieder aufgegeben hat und nach Königsberg zurückgekehrt ist, v o n w o aus er seit 1755 die Rautenburger Güter bewirtschaftet hatte, ist nicht bekannt. Es hat den Anschein, daß zunächst nur die Gräfin Caroline, bewegt von der Sorge u m den Königsberger und Rautenburger Besitz, als erste sich wieder i n das Palais am Vorderen Roßgarten zurückbegeben hat, u m den Besitz zu erhalten und zu sichern, v o r allem aber ihren Gemahl v o r

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Kants Idealbild

einer Fra

Belästigungen zu bewahren. Das scheint i h r auch i m Verlauf weniger M o nate gelungen zu sein. Lassen w i r hier Fritz Gause i n seiner „Geschichte der Stadt Königsberg" zu W o r t kommen (Band I I ) : „ D e r Lebensstil der neuen Herren [der russichen Besatzung] w a r ein anderer als der preußische. Der Rubel rollte leichter als der Taler. Die aus östlicher Großzügigkeit und Lässigkeit und Pariser Leichtlebigkeit gemischte Atmosphäre der Petersburger Gesellschaft brach i n die preußische Enge u n d Korrektheit ein. Sie lockerte die Umgangsformen und die Standesunterschiede. Die russischen Offiziere kümmerten sich nicht u m die Etikette. A u f ihren Diners, Bällen, Redouten und Maskenfesten trafen sich Adlige und Bürgerliche, und K o r f f l u d zu seinen üppigen Festen i m Schloß alles ein, was sich durch Geist und Schönheit auszeichnete. „Königsberg wurde ein zeitvertreibender O r t , und die Liberalität, m i t welcher die damaligen Gewalthaber alles, was schön und artig w a r und dafür gelten wollte, zu ihren Freundeskreisen zuließen, machte, daß das schöne Geschlecht sich ganz besonders für sie interessierte." Andererseits nahmen K o r f f und seine Offiziere gern an den Festen teil, die i n den gastfreien Häusern der Stadt gegeben wurden, beim Bankier Jacobi, bei D r . Gervais oder dem Kaufmann Saturgus, am liebsten beim Grafen Johann Gebhard Keyserlingk und seiner schönen jungen Frau, der sie galant den H o f machten." Schon i m Laufe des Jahres 1759 w a r die Familie Keyserling wieder v o l l zählig i n Königsberg. A m 23. August konnten beide Söhne an der A l m a mater Albertina immatrikuliert werden. Sie hatten i n Capustigall noch Unterricht durch Immanuel K a n t erhalten, der m i t Fuhrwerk v o n Königsberg abgeholt und zurückgebracht wurde. D a v o n weiß jedenfalls Christian Jakob Kraus, Professor für praktische Philosophie und Cameralwissenschaften, i n einem Schreiben v o m 22. A p r i l 1804 an den Professor der Theologie Samuel Gottlieb W a l d zu berichten: „Soviel ich mich erinnere, wurde K a n t regelmäßig ein- oder ein paarmal nach dem Gräflich T-schen Gute C - abgeholt, u m da, ich weiß nicht mehr worin, den Grafen, der noch lebt (gewiß der am 1. M a i 1809 verstorbene zweite Sohn, Otto, der Gräfin Caroline) zu unterrichten. A u f der Rückfahrt nach Königsberg wäre i h m dann so manchmal eine Vergleichung zwischen seiner Erziehung und der i m Gräflichen Hause eingefallen, sagte er m i r . " Das w a r nun nicht das erste M a l , daß K a n t ein „Privatissimum" i n Capustigall beim Grafen Truchseß zu Waldburg gehalten hätte. Der K ö nigsberger Historiker Professor Friedrich W i l h e l m Schubert, der m i t

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Wilhelm S ale w ski Professor K a r l Rosenkranz die erste Gesamtausgabe der Werke Kants besorgt hat, teilt i n der beigegebenen Biographie mit, „daß K a n t während der ersten Dozenten-Jahre zur Zeit der akademischen Ferien sich zuweilen auf dem zwei Meilen von Königsberg entfernten gräflichen Schlosse Capustigall aufgehalten habe, u m dort die jungen Grafen Friedrich L u d w i g [geb. 1741], Friedrich Carl [1745] und W i l h e l m Franz [dieser w o h l früh verstorben wie sein gleichnamiger Onkel, der 1742 bei Chotusitz gefallen w a r ] Truchseß zu Waldburg zu unterrichten". Diese jungen Grafen waren Neffen der Gräfin Caroline, die i n der gleichen Zeit — es kann sich w o h l nur u m die Jahre 1754—1756 handeln — m i t ihren beiden 1745 und 1747 geborenen Söhnchen sich des öfteren i n Capustigall, ihrem Elternhaus, aufgehalten hat. So dürfte sie dort auch die Bekanntschaft des Magisters aus Königsberg gemacht haben. Daß ihre beiden Kinder v o n 7 bzw. 9 Jahren zusammen m i t den Vettern Waldburg Unterricht bei K a n t erhalten haben sollten, ist w o h l kaum anzunehmen. U m das Kapitel der Russen-Besetzung abzuschließen, sei nicht unterlassen, aus einer zeitgenössischen Quelle, dem 1790 erschienenen Werk „ L a Prusse littéraire sous Frédéric I I " , i n Ubersetzung ein kurzes Z i t a t hinzuzufügen: „ À l s die Russen Königsberg nahmen, fürchtete man, sie würden v o m Grafen für gewisse Wertgegenstände (effets), die damals ihrer Behauptung nach entwendet worden waren (détournés), Rechenschaft verlangen. Aber die Generale der Kaiserin Elisabeth waren mehr darum bemüht, der liebenswürdigen Gräfin den H o f als ihrem Gatten den Prozess zu machen (mais les généraux de l'Impératrice Elisabeth furent plus empressés de faire cour à l'aimable comtesse que le procès au baron, son époux)." Statt Anklageschriften gegen den Grafen verfaßte General K o r f f zierliche Verse der Verehrung, die er der Gräfin persönlich überreichte oder durch die er ihr, wie K u r t Stavenhagen i n seinem Büchlein „ K a n t und Königsberg" (1949) schreibt, öffentlich i n der Zeitung huldigte. Noch u m die letzte Jahrhundertwende hat die russische Geschichtsschreibung unverändert den Standpunkt vertreten, daß K o r f f mehr an der Gunst der Gräfin als an den russischen Staatsinteressen gelegen habe (vgl. Masslowski „ D e r Siebenjährige Krieg nach russischer Darstellung", i n Deutsch herausgegeben von Drygalski, Berlin 1898, Band I I , Kap. 1 und 4).

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Kants Idealbild V . Die künstlerischen

Neigungen

einer Frau

und Arbeiten

der Gräfin

Caroline

Die Gräfin Caroline, literarisch und wissenschaftlich rührig, ebenso wie ihr zweiter Ehegemahl der Musik hingegeben, hatte ein waches Interesse an der bildenden Kunst. Sie hatte Talent i n der Malerei, fertigte Kopien von altniederländischen Meistern an, von Nikolaus Berchem (Landschaft m i t Tieren), Adriaan van der Werff (Adam und Eva), Frans van Mieris (KüchenInterieur), Gerard D o u (Trinkende Frau), Carlo Dolei (Maria) u. a. m., freilich nur i n Pastellnachbildungen. Wenngleich die Gräfin auch nicht eine bedeutende Malerin war, so zeugen ihre Kopien doch von einer Kunstauffassung und Wirklichkeitstreue, die bei einem Amateur erstaunlich ist. Das gilt auch für Bilder, die sie frei, also nicht nach fremden Vorlagen gemalt hat, besonders aber für ihre ganz entzückenden Miniaturen, auf die bereits Daniel Chodowiecki aufmerksam gemacht worden war. I m Jahre 1782 schuf sie, offenbar als Geschenk für ihren Gemahl Heinrich Christian, eine z w ö l f Miniaturbildchen i n Deckfarben umfassende Zusammenstellung unter dem Titel „Almanach Domestique de Cléon et de Javotte, avec des tableaux, qui réprésentent leur vie privée". Das Pretiosum befand sich noch i n Familienbesitz, zuletzt bei einer Baronin H a h n i n Rom, von der es die Bayerische Staatsbibliothek i n München erwerben konnte. Dieser Almanach ist i n mehr als einer Beziehung aufschlußreich. Einmal als Zeugnis einer hochentwickelten Lebensart i n den Kreisen des hohen Adels, wenngleich auch nicht gerade typisch für alle Häuser v o n Großgrundbesitzern. Zweitens: als Ausdruck der glücklichen Verbundenheit zweier Eheleute von sorgfältigster Erziehung und hoher Bildung. Drittens geben die hübschen Bildchen einen guten Einblick i n das Innere des Königsberger Stadtpalais der Rautenburger Keyserling. Auffallend ist, daß die m i t vielen kostbaren Möbeln und Chinoiserien ausgestatteten Räume nicht gezeigt werden, vielmehr nur das Boudoir der Gräfin und der Speisesaal m i t den vielen Porträts, i n deren M i t t e das großgerahmte Kniebild der Gräfin prangte. A u f mehreren Miniaturbildchen ist Immanuel K a n t inmitten einer Tischgesellschaft zu entdecken. I n diesem Hause war er mehr als drei Jahrzehnte Gast, bei Tisch m i t dem Ehrenplatz rechts von der Gräfin (falls nicht illustren, seltenen Gästen dieser Vorzugsplatz getreu alter Etikette eingeräumt werden mußte).

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Wilhelm Sale w ski Aus den lustigen Begleittexten zu den Bildern läßt sich entnehmen, daß die offenbar der W e l t der Schäferspiele entnommenen Namen der Eheleute: Cléon ( H a u p t der athenäischen Kriegspartei) und Javotte (aus dem A l t französischen = Locheisen) durchaus hausüblich waren, wenn auch nur unter den beiden, bukolisch angehauchten Lebenskünstlern. I m übrigen: Es mag der Phantasie der Zuhörer die Frage überlassen bleiben, ob diese Schäfer-Namen eine symbolische Bedeutung haben sollten oder nicht. Sehr gerühmt, auch von kundigen Geistern, waren die v o n der Gräfin Caroline angefertigten Porträts. Es sollen nicht weniger als 189 gewesen sein, darunter Bilder v o n Angehörigen regierender Häuser, Mitglieder des ost- und westpreußischen Adels, hohe Militärs und Beamte, prominente Besucher des Keyserling'schen Palais i n Königsberg Pr., sogar K ö n i g Stanislaus August v o n Polen, K r o n p r i n z Friedrich W i l h e l m v o n Preußen — und viele andere. Die Porträts befanden sich i n zwei Mappen, v o n denen die erste die i m allgemeinen i m Format 35 X 25 cm angefertigten 89 Zeichnungen enthielt, m i t dem T i t e l „Les loisirs de Caroline Comtesse de Keyserling, née Comtesse Truchsess du St. Emp. Rom. Comtesse de W a l d burg" (zu deutsch „Ergebnisse v o n Mußestunden v o n Caroline Gräfin von Keyserling, geb. Reichsgräfin Truchsess v o n Waldburg), dazu gibt es eine i n französischer Sprache abgefaßte Vorrede ohne Unterschrift, v o n der angenommen wurde, daß der Gatte der Künstlerin der Verfasser war. Die zweite Mappe enthielt die übrigen 100 Zeichnungen i n loser Form. Für diese Porträts ist ein Verzeichnis nicht bekanntgeworden. Es spricht für die Unbekümmertheit der Familie v o n Keyserling, daß bis zum Jahre 1898 niemand i n der gewiß großen Z a h l v o n Mitgliedern der Kantgemeinde Kenntnis v o n dem Vorhandensein auch eines Kant-Porträts i n dieser Sammlung hatte. Erst dem Aachener Stadtbibliothekar D r . E m i l Fromm gelang der Fund, über den er 1898 i n den Kant-Studien ausführlich berichten konnte. Seiner Anregung, alle 189 Bilder zu veröffentlichen, wurde nicht entsprochen. Es konnte also nur das K a n t p o r t r ä t reproduziert und veröffentlicht werden. Später wurde auch die Erlaubnis erteilt, das Porträt des Pianisten u n d Organisten C a r l Gottlieb Richter, jenes Tonkünstlers aus der Bach-Schule, der sich m i t seinem virtuosen Spiel die Bewunderung der Gräfin errungen hatte, zu photographien und zu veröffentlichen. D a die Gräfin i m allgemeinen jene Künstler oder Wissenschaftler, die ihr besonderes Interesse erregt hatten, auch porträtierte, muß angenommen werden, daß auch Johann Friedrich Reichardt v o n ihr ge-

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Kants Idealbild

einer Frau

zeichnet worden ist. Ebenso müssen der ältere H i p p e l , der

Kriegsrat

Scheffner von ihr porträtiert worden sein. Daß sie auch ein Brustbild v o n Johann Georg H a m a n n angefertigt haben muß, geht aus einem Brief hervor, den der „Magus des Nordens" am 26. Januar 1780 an Christian Jacob Kraus gerichtet hat: „ I h r e r Gräfin habe am heil. 3 Königstag sitzen müssen als ein Beytrag zum Buch des Lebens...". Gewiß waren unter den nicht katalogisierten Bildern auch noch andere Porträts namhafter Persönlichkeiten. Aber nun ist ohnehin alles i n Verlust geraten, auch die vielen alten Originalgemälde und Kupferstiche, die zahlreichen Familienbilder. U m das B i l d der Beziehungen der Gräfin Caroline zur Kunst zu vervollständigen, sei festgehalten, daß die Gräfin nicht nur m i t Pastellfarben, sondern auch i n ö l - und Wasserfarben malen und neben ihrer Gabe, Bleiund Silberstiftzeichnungen herzustellen, auch i n Kupfer stechen konnte. Es gibt einen großen Kupferstich, der die H u l d i g u n g K ö n i g Friedrich W i l helms I I . i m Königsberger Schloßhof darstellt, der angeblich von einem Gold- und Silbergraveur, namens J. C. Bläser, gestochen sein soll, aber ebenso v o n der Gräfin Caroline gestochen sein könnte. Vorlage für den Kupferstich w a r ein von der Gräfin auf einem Fächer verfertigtes Gemälde für die älteste Tochter des Königs, die Prinzessin Friederike. Der Stich ist dem Finanzminister Freiherrn von H e i n i t z (Heynitz) „unterthänig zugeeignet". Gewiß hat es auch noch andere derartige Arbeiten der Gräfin gegeben. Aber sie kamen nicht an den M a r k t , können vollständig nicht erfaßt werden und bleiben sicherlich Raritäten nach der Zerstörung oder Ausräumung der zahlreichen Schlösser i m deutschen Osten und so vieler Sammlungen i n öffentlicher oder privater H a n d . Damals reichten die künstlerischen Arbeiten der Gräfin hin, u m der K g l . Preuß. Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften Veranlassung zu einer besonderen Auszeichnung zu geben: Gräfin Caroline wurde am 8. Juni 1756 zum Ehrenmitglied der Akademie, deren Sekretär der berühmte Miniaturenmaler und -Stecher Daniel Chodowiecki war, gewählt. Das m i t Siegel versehene Patent trug die Unterschriften v o n B. Rode als Direktor, Chodowiecki als Sekretär, J. W . M e i l jun., J. C. Frisch, J. H . M e i l und J. P. A . Tassard (Tassaert?) m i t der jeweiligen Bezeichnung Rector. Das w a r die erste Künstlerin, die dieser Auszeichnung

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Wilhelm Sale w ski für w ü r d i g befunden wurde, ein Zeichen für die hohe Einschätzung der gezeichneten und gemalten Arbeiten der Gräfin. VI.

Re Präsentation y höfischer Glanz und königliche

Gunst

I n das Leben der früh verheirateten Gräfin Caroline, die m i t ihrem 28 Jahre älteren M a n n die ersten Ehejahre auf Schloß Rautenburg verbrachte, k a m eigentlich erst nach dem Tode ihres Gemahls und der Wiederverheiratung m i t dessen Halbneffen Keyserling heller Glanz und ein für die damaligen Königsberger Verhältnisse auffallender Prunk. 1753 hatte Graf Gebhard Johann das Schlieben'sche Stadtpalais gemietet, das er 1755 käuflich erwerben konnte. Das Haus w a r i m einfachen Barockstil erbaut und ziemlich bescheiden eingerichtet. Nach und nach wurden die Räume erneuert und m i t besserem Mobiliar versehen. Aber die rechte Eleganz kam erst m i t dem Einzug des Grafen Heinrich Christian v o n Keyserling i m Jahre 1763. I n seinen Lebenserinnerungen hat der damals i m Musikleben Königsbergs, später auch Berlins hervorgetretene, weitgereiste Johann Friedrich Reichardt, den Neubeginn wie folgt beschrieben: „ D i e schöne, geistreiche W i t w e heiratete wieder einen Grafen v o n Keyserling, den Sohn des berühmten russischen Ambassadeurs i n Dresden und Warschau, welcher v o n seinem prachtliebenden, für Künste enthusiastischen Vater Sinn und Geschmack für alles, was die Künste u n d die große Welt nur immer Glänzendes und Luxuriöses haben, empfangen hatte, und alles dies i n das bisher zwar große, aber doch einfache Haus der jungen Gräfin (damals immerhin schon 35 Jahre alt!) einführte. — Sechs Züge der schönsten und herrlichsten englischen und anderen Pferde von den seltensten Farben, und eine Menge Reitpferde und Staatskutschen von auffallendsten Formen hielten ihren förmlichen Einzug v o r i h m her i n die Stadt und i n das alte gräfliche Haus, das nun bald eine glänzende, moderne Gestalt gewann, und von den prächtigen Livreen glänzte, unter denen Mohren und Kosaken i n ihrer Nationaltracht und kolossalische Heiducken vielleicht zum ersten Male die Einwohner Königsbergs ergötzten. Das Innere des Hauses w a r d erweitert, sehr geschmackvoll und m i t der allerraffiniertesten Bequehmlichkeit auf französische Weise eingerichtet. Säle und Zimmer wurden m i t den schönsten Gemälden reich behangen; das Appartement der Gräfin w a r d neben der fürstlichen Einrichtung zugleich ein prächtiges Künstleratelier." Johann Bernoulli hat i m 3. Band seiner vielgelesenen Reiseberichte dem „Gräflich Kayserlingischen Pallast" 1779 ein besonderes K a p i t e l eingeräumt, dem w i r nur die folgenden Zeilen entnehmen:

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einer Frau

„ D e r jetzige (Besitzer) hat, als ein großer Liebhaber des Bauwesens, auf der Seite des ziemlich großen und sehr artigen Gartens, der an den prächtigen Schloßteich stößt, neue Gebäude aufführen lassen, die noch nicht alle fertig w a r e n . . . I m Sommer w i r d i n einem dieser am Ende des Gartens liegenden Gebäude gespeist, und Assemblee gehalten; eine lange bedeckte Allee führte zu der H a l l e oder dem Vorsaal derselben. Der AssembleeSaal . . . ist sowohl wegen der schönen Aussicht nach dem Schloßteich, als auch wegen des kostbaren Ameublements merkwürdig, denn die ganze Tapete ist v o n Schmelzwerk m i t großem Fleiß und Geschmack ausgenähet, und m i t chinesischen Figuren, w e l c h e . . i n Rußland verkauft werden, besetzet; was noch mehr wert ist, so rühret diese schöne Arbeit von der geschickten Gräfin eigenen Händen her, so wie noch mehrere schöne und vortrefflich gestickte Überzüge, Tapeten und dergleichen i n dem Hauptgebäude. I n diesem ist der große Winterassembleesaal nicht weniger sehenswert, denn er ist ganz m i t einer sehr reichen chinesischen Tapete behangen, und m i t einer Menge der kostbarsten lackierten chinesischen und japanischen Schränken und anderen Mobilien ausgezieret. Schade schien es nur zu seyn, daß diese prächtige Tapete m i t ungeheuren Landcharten beynahe ganz bedeckt w a r ; es waren die große dem Grafen v o n Kayserling, ehemaligem russischen Minister (dem Vater des Grafen Heinrich Christian) zu Warschau gewidmete Charte v o n Polen und noch drey oder vier von dieser Größe." Es folgt dann noch eine Beschreibung der Gemälde und Grafiksammlung i m Keyserlingschen Stadtpalais, auf die einzugehen hier nicht der Platz ist, es sei denn die Feststellung, daß der Graf bereits einige Gemälde verkauft hatte (wahrscheinlich infolge der persönlichen Verluste durch die 1. polnische Teilung 1772). Das erste Jahrzehnt ihrer zweiten Ehe stand freilich unter einem guten Stern. Graf Heinrich Chritian hatte sich, wie schon dargelegt, erhebliche Einnahmen aus Polen gesichert, aber er gab das Geld auch m i t vollen Händen aus, wenngleich auch nicht geringe Beträge für die Wohltätigkeit. Seine geliebte Frau verwöhnte er m i t großen Geschenken. Wie sollte sie, eine von N a t u r begünstigte Eva, sich dem entgegenstellen? H ö r e n w i r nun von einem Beispiel, das den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasvérus Heinrich Lehndorff entnommen ist: „ D i e Gräfin Keyserlingk w i r d der K ö n i g i n vorgestellt (Berlin Anfang 1766); man findet sie recht liebensw ü r d i g und ihre Diamanten schön." — Abends gibt der Prinz (Heinrich) der ganzen Stadt einen Maskenball, über 2000 Masken erscheinen, darunter sehr prächtige. Ich habe als Dame die Gräfin Keyserlingk, die einen H u t

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Wilhelm Sale w ski auf dem K o p f hat, der 40 000 Thaler kostet. Er ist ganz m i t Brillanten besetzt und m i t einem prächtigen Diamantenstrauß geschmückt." I n späterer Eintragung: „ I c h verliere sehr intime Freunde, nämlich die beiden Keyserlingks, die nach ihrem sechswöchigen Aufenthalt nach Preußen zurückkehren. Das sind w i r k l i c h vortreffliche Leute, die Gräfin reizend und reichbegabt und ihr Gemahl mildtätig wie kein zweiter. Sie reisen m i t einem ansehnlichen Gefolge und machen überall einen recht hübschen A u f wand." Vier Jahre später heißt es i n einer Eintragung aus Königsberg, September 1770: „ W i r feiern i n Königsberg den Geburtstag der Gräfin Keyserlingk, der M u t t e r meines Freundes. Dieser gibt ein schönes Fest m i t einem großartigen M a h l und einer hübschen Aufführung des Lustspiels ,Familenvater c , das v o m A d e l gegeben w i r d . E i n Ball beschließt das Fest. Meine Frau n i m m t an allem teil. A m folgenden Tage speisen w i r bei meiner Schwester und fahren nachher spazieren. Abends wohnen w i r bei Keyserlingks einer I l l u m i n a t i o n bei." Der Prinz v o n Preußen, heute würde man sagen der Kronprinz, w a r schon i n Jahre 1780 mehrmals Gast i m Hause der Königsberger Keyserlinge, Es w a r jene Reise des Prinzen nach Preußen, K u r l a n d und Rußland, die dem rechtschaffenen, tüchtigen Domhardt so viele Ärgernisse eintrug. Aber der zweiwöchige Aufenthalt i n Königsberg gab genug Gelegenheit, beim Thronfolger Verständnis für manche N ö t e und Schwierigkeiten wachzurufen. Die Rautenburger Keyserlings waren gewiß nicht die letzten, solche Möglichkeiten wahrzunehmen. VIL

Freigiehigkeit

und Verschwendung

Der um Polen sehr verdiente Graf Heinrich Christian v o n Keyserling hatte, bevor er i n zweiter Ehe die verwitwete Gräfin Caroline heiratete, als Belohnung besonders für seines Vaters Bemühungen, den letzten Polenkönig Poniatowski auf den T h r o n zu bringen, dann aber auch für seine eigenen Interventionen einige Vergütungen erhalten, die i h m ein sehr angenehmes Dasein sichern konnten. Diese Pfründen, i n die er allerdings zum Teil auch eigenes K a p i t a l i n nicht geringem Umfang investieren mußte, gingen 1772 infolge der ersten Teilung Polens und der Kassation dieser Einnahmequellen durch die preußische Regierung vollständig verloren. Wie schon erwähnt, handelt es sich u m nicht weniger als 17 000 Taler jährlicher Revenuen. H i e r m i t konnte man schon m i t einigem Geschick eine kleine Hofhaltung finanzieren. Aber wenn man mehr ausgab als man einnahm

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und über Rücklagen gleich welcher A r t nicht verfügte, mußte dieser Vermögens- und Einnahmeverlust als schlimmer Schicksalsschlag empfunden werden. Graf Heinrich Christian, voller Verzweiflung, begab sich nach Rußland, um eine Entschädigung zu verlangen, gab viel Geld aus, opferte die viel bestaunten Diamanten seiner Frau und kam m i t einer bloßen Empfehlung an den K ö n i g v o n Polen zurück. Aber der polnische König, dem der vierte Teil seines Reiches durch die Teilung genommen worden war, wandte sich h i n und her, u n d es vergingen noch zwei Jahre nach der Teilung, bis er sich bereitfand, dem Grafen 30 000 Dukaten zu zahlen. Lehndorff, einer der besten Freunde Keyserlings (dem diese Mitteilung zu verdanken ist), bemerkt aber hierzu, daß der lange Aufenthalt i n Warschau und Petersburg und die alten Schulden Keyserlings diese Summe verzehrten, u n d daß, „als er nach Königsberg zurückgekehrt war, seine finanziellen Verhältnisse ebenso zerrüttet waren wie vorher." Endlich ließ der K ö n i g v o n Preußen den Keyserlings infolge der ihnen durch die polnische Teilung entstandenen Verluste ein jährliches Gnadengehalt v o n 6000 Thalern zuweisen, m i t dem Versprechen, später noch mehr für sie zu tun. Indessen: wie verhielt es sich m i t der Erfüllung dieser Zusage? H ö r e n w i r , was der Graf Lehndorff M i t t e 1781 während eines Aufenthaltes i n Capustigall i n sein Tagebuch geschrieben hat: „ G r a f und Gräfin Keyserling sind auch hier. Sie sind eben v o n Mockerau (Mockrau am N o r d r a n d der Tucheier Heide, w o oft Manöver stattfanden) gekommen, w o der K ö n i g den Grafen sehr nett behandelt hat. Er hat sogar dem Vetter des Grafen ein königliches G u t i m Wert v o n 30 000 Thaler geschenkt, i n dem Glauben, es sei der Graf Keyserling. Bei der Abreise sagte er nämlich zu diesem ,Nun, ich habe Ihren Wunsch erfüllt*. Der Graf erwiderte: ,Ich wüßte nicht, daß ich Euer Majestät um eine Gnade gebeten hätte'. D a meinte der König, es handele sich doch u m die Güter, worauf jener erklärte, die Gnade sei seinem Vetter zuteilgeworden. Der König, der sich schon aufs Pferd gesetzt hatte, wandte sich nun erstaunt u m und sagte: ,Allerdings hatte ich Sie gemeint'." Dabei blieb es nun auch." Wieder vergingen einige Jahre. Erst nach dem Tode Friedrichs des Großen wurde eine wirkliche Wiedergutmachung der 1772 hervorgerufenen Einbußen bewirkt. Friedrich W i l h e l m I I . , der i m September 1786 zur H u l d i gung der Stände nach Königsberg gekommen war, sagte am 19. September dem Grafen Keyserling einen zinslosen K r e d i t von nicht weniger als

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Wilhelm Sale w ski 150 000 Thalern m i t dreißigjähriger Laufzeit zu. Er entsann sich zweifellos der großartigen Aufnahme, die er als K r o n p r i n z i m Hause Keyserling gefunden hatte. Gewiß konnte sich auch die Gräfin m i t ihrer gewinnenden Diplomatie

einen gehörigen A n t e i l an diesem nicht gerade kleinlichen

Arrangement zuschreiben. N u n w a r das Finanzielle und die Umstellung der Rautenburger Begüterung auf eine Grafschaft m i t Majorat kaum geordnet, da stirbt der Graf als erster H e r r einer ostpreußischen Grafschaft. Der zweite Majoratsherr, der i n K u r l a n d heimisch gewordene Graf O t t o von Keyserling übernahm, wegen der laufenden Belastung m i t der Schuldentilgung (die m i t preußischer Akribie geregelt war), ein nicht ganz einfaches Erbe. I m folgenden Jahr wurde auch das Gnadengehalt für seine Mutter, die Gräfin Caroline, auf die Hälfte, also auf 3000 Thaler herabgesetzt. Es ist durchaus denkbar, daß sie diese reduzierten Bezüge auch zur Tilgung v o n Verbindlichkeiten benutzen mußte, die ihr verstorbener Gemahl noch nicht regulieren konnte.

VIIL

Geistvolle

und abenteuerliche

im Keyserling'sehen

Gäste

Musenhof

Das Keyserling'sche Haus sah viele Gäste von Rang und Namen; ja, sogar K ö n i g Friedrich W i l h e l m I I . , der bereits als K r o n p r i n z mehrmals bei K e y serlings weilte, zeichnete Graf und Gräfin m i t seinem Besuch aus, als er aus Anlaß der H u l d i g u n g der Stände i m September 1786 i n Königsberg weilte. Die Z a h l der Herzöge u n d Prinzen, die die Gastfreundschaft des gräflichen Paares i n Anspruch nahmen, ist nicht gering. Aber es gab auch viele Gelehrte, Schriftsteller und Künstler, die dort eingeladen waren und zur Unterhaltung Bedeutendes beisteuerten. Nicht umsonst wurde das Haus der Keyserlings der Musenhof Königsbergs genannt. Neben Immanuel K a n t , der gewiß der häufigste Gast des Hauses war, der Königsberger Stadtpräsident und Schriftsteller Theodor Gottlieb von H i p p e l d. Ä., der Kriegsrat und Schriftsteller Johann George Scheffner, Johann Georg Hamann, der „Magus des Nordens", und auch der spätere Professor der Kameralwissenschaften Christian Jakob Kraus, der durch seine Beredsamkeit und Überzeugungskraft liberalen Grundsätzen Eingang auch i n konservativen Kreisen zu verschaffen verstand, gehörten zu dieser privaten „Akademie", der sich häufig auch durchreisende Kapazitäten hinzugesellten.

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Über den I n h a l t der vielen Unterhaltungen besitzen w i r leider keine Zeugnisse. H i e r kann nur ein Auszug aus der einzigen Niederschrift über die zahlreichen Gesprächszirkel i m Hause Keyserling wiedergegeben werden: Theodor Gottlieb v o n H i p p e l hatte am 16. Dezember 1788 auf Einladung der Gräfin Caroline v o n Keyserling i n ihrem Hause am Vorderen Roßgarten i n Königsberg an einem längeren Gespräch m i t Immanuel K a n t , Johann George Scheffner, Elisa von der Recke, der Obristin von H e y k i n g und einigen Offizieren teilgenommen und eine ausführliche Niederschrift angefertigt, übrigens die einzige von den zahllosen Unterhaltungen philosophischen, gesellschaftlichen, künstlerischen und politischen Inhalts. H i e r sei nur ein kleiner Auszug aus dem politischen Diseurs mitgeteilt: „Herr Professor Kant erklärte so wie meine Wenigkeit die Russen für unsere Hauptfeinde. Frau von der Recke und die Gräfin waren andrer Meinung und sehr für die Russen." Gräfin v. Keyserling: „Wenn mein Mann noch lebte, der würde gewiß dem König in einer handgreiflichen Deduktion gezeigt haben, daß seine beste Allianz mit Rußland sei, und daß das Haus Österreich sein eigentlicher Feind sei, der es auch bleiben würde immerdar." Elisa von der Recke: Die Sachsen, die den König umgeben. — Etwas von Sachsen, wobei Frau von Heyking mit Kant anband. Gräfin von Keyserling: Rußland hat kein Interesse, uns etwas zu nehmen. Kurland ist ja eine solche Scheidewand (Anmerkung: Herzog Peter Biron von Kurland trat sieben Jahre später, in Zusammenhang mit der dritten Teilung Polens, sein Land an Rußland ab!) Hippel: „Ich glaube doch, daß es nicht ohne Interesse sei, in Rücksicht des Handels an der Ostsee auf Ostpreußen und in Rücksicht der Besitzung im ehemaligen Polen usw." Die Frau Gräfin blieb bei ihrer Meinung, worin die Frau von der Recke als recht tapfere Russin ihr sekundierte." Auch Abenteurer großen Ranges ließ das Grafenpaar ins Haus. Aus einem Brief Hamanns an einen Schweizer Bekannten geht hervor, daß Keyserlings i m August 1777 den Logierbesuch des berüchtigten Grafen v o n Saint Germain erwarteten. Aber ob der Besuch tatsächlich zustandegekommen ist, muß bezweifelt werden. — Der berüchtigte Cagliostro, selbstverständlich auch „ G r a f " , soll 1779 i m Keyserlingschen Hause zu Gast gewesen sein, auf dem Wege nach M i t a u , zur Elisa v o n der Recke, die ihn zunächst bewunderte, aber dann seine peinliche Entlarvung als Schwindler bewirkte. Er begab sich dann noch nach St. Petersburg, aber die dortige Gesellschaft war vorgewarnt, und die Reise wurde ein Mißerfolg. 49

Wilhelm S ale w ski Giacomo Casanova, der selbsternannte Chevalier de Seingalt, hielt sich i m September 1764 i n Königsberg auf, um dem Gouverneur des Herzogtums Preußen, Feldmarschall Hans v o n Lehwald, auch L e w a l d (1685—1768), seine A u f w a r t u n g zu machen, angeblich m i t einer Empfehlung. V o n dem alten H e r r n wurde er weiter empfohlen an den russischen General Voejk o w (Vojakow) i n Riga. Casanova blieb aber nur einen Tag i n Königsberg, da er die H ä l f t e seines Reisegeldes i m Spiel m i t jungen Kaufleuten i n Danzig verloren hatte. Vielleicht hätte er auch den Versuch unternommen, dem Grafenehepaar Keyserling i m Palais am Vorderen Roßgarten einen Besuch abzustatten. Aber beide waren nach Warschau gereist, u m dem Vater, dem Reichsgrafen Hermann Carl v o n Keyserling i n seinen schwersten Stunden zur Seite zu stehen, bis er, am 30. September des gleichen Jahres, den Geist aufgab. Casanova reiste also über Memel weiter nach M i t a u , um dort m i t einem Empfehlungsbrief des Barons Treyden dem seit 1759 amtierenden Kanzler des Herzogtums K u r l a n d , Dietrich Carl Baron v o n Keyserling, einen Besuch abzustatten und nach Riga, Petersburg und Moskau weiterzureisen. — Als er i m darauffolgenden Jahr die Rückreise über Riga antrat, führte ihn der Weg nach Warschau wieder über die Hauptstadt des alten Preußen. I n seiner Autobiographie findet sich über diesen anscheinend kurzen Aufenthalt nur die Floskel „ I n Königsberg verkaufe ich meinen Schlafwagen . . I m Jahre 1787 w a r auch der berühmte „Freiherr" Friedrich von der Trenck i n Königsberg. H i e r ist er m i t vielen Leuten zusammengekommen. O b er auch die Gräfin Caroline besucht oder einen darauf gerichteten Versuch unternommen hat, steht dahin. Immerhin w a r es ja ein Graf v o n Wylich und Lottum, Bruder der M u t t e r Carolines, der i h n dem damals noch jungen K ö n i g i n Berlin zugeführt hatte. Aber vergessen w i r nicht, daß Graf H e i n rich Christian v o n Keyserling schwerkrank darniederlag und w o h l auch schon sein Ende kommen sah.

IX. Die Musik im Königsberger

Musentempel

Königsberg w a r i m 18. Jahrhundert eine Musikstadt wie kaum eine andere. Die Häuser der Großbürger wie auch des Landadels wetteiferten i n der Förderung der Hausmusik und der Veranstaltung kleinerer oder größerer K o n zerte, und es mangelte nicht an enthusiasmierten Zuhörern. Aber an der Spitze stand ohne Zweifel das Keyserling'sche Haus am Vorderen Roßgarten. H i e r verkehrten nicht nur Angehörige der Aristokratie, sondern auch be-

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deutende Vertreter der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Philosophie und der Naturwissenschaften. Es gab i n diesem gastlichen Hause selten ein M a h l ohne Gäste. Fanden die Tischgespräche am Abend statt, w u r den sie verschönt durch Abendkonzerte, die v o n dem i n Keyserling'schen Nebengebäuden untergebrachten Hausmusiker Johann Reichardt, später auch dessen Sohn Johann Friedrich ( „ F r i t z " ) und oft auch durch „den renommiertesten Musiker Königsbergs", Carl Gottlieb Richter, ebenso wie Reichardt aus Oppenheim stammend, so aus Berlin v o m Grafen Truchseß v o n Waldburg nach Königsberg geholt und nun Liebling des Keyserlingschen Hauses. Richter, aus der großen Bach'schen Schule hervorgegangen und zunächst Kammermusiker seines Gönners Waldburg, wurde die Seele des Königsberger Musiklebens. Auch er hatte, wie Podbielski, H a l t e r und Zander, als Organist begonnen, fand dann als Hauspianist der Keyserlings allgemein große Beachtung und die ganze Bewunderung der jungen Gräfin, die sogar ein Porträt v o n i h m für ihre Prominenten-Bildsammlung anfertigte. Der Herzog Friedrich L u d w i g von Holstein-Beck, der Richter i m Keyserling'schen Haus kennengelernt hatte, trug seinerseits, kunstsinniger Sanguiniker der er war, wesentlich zur Förderung des jungen Mannes bei. M i t H i l f e seiner Bewunderer w i r d Richter Inaugurator der sogenannten öffentlichen Liebhaber-Konzerte, die seit etwa 1776 gegen Eintrittsgeld jedermann zugänglich waren. Die Gräfin Caroline w a r eine gewandte und seelenvolle Lautenspielerin. M a n sagte ihr nach, daß sie auch eine gutgeschulte volle Stimme gehabt und schön gesungen hätte. I h r Gemahl war ebenso wie sein Vater hochmusikalisch, soll aber nicht selber ausübender Musiker gewesen sein. Der Vater, der als Kunstmäzen bekanntgewordene Graf Hermann Carl Keyserling, russischer Gesandter i n Dresden und Warschau, w a r einflußreicher Verehrer v o n Johann Sebastian Bach, der i h m die Ernennung als Hofkomponisten und manche geldliche Zuwendung zu danken hatte. Dieser Vater hatte einen hochbegabten ostpreußischen Jungen namens Goldberg bei dem berühmten Bach ausbilden lassen, u n d dieser junge M a n n mußte i h m i n schlaflosen Nächten Bach'sche Variationen vorspielen. So k a m die hochentwickelte Musikalität i m Königsberger Haus der Keyserlings v o n beiden Seiten des dort residierenden Ehepaares. Für die Veranstaltung v o n Konzerten w a r i m Hintergarten des Palais ein besonderer Saal geschaffen worden. H i e r wurden sogar Opern gegeben. Der i n jungen Jahren schon zum General beförderte Herzog v o n Holstein-Beck sang i n einer Aufführung der Oper „Solimano" von Johann A d o l f Hasse i m Keyserling-

4*

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Wilhelm Sale w ski sehen Hause die Hauptrolle. Er war es, dessen Enthusiasmus vielen musikalischen Plänen zur Verwirklichung verhalf. Selber begabter Geiger, spielte er bei einer Trauerfeier für den verstorbenen Königsberger Theater-Kapellmeister und Singspiel-Komponisten Friedrich L u d w i g Benda i m Kneiphöfischen Junkerhof i m Orchester mit. X. Urteile über die Gräfin

Caroline

Die Gräfin Caroline war, wie schon erwähnt, streng erzogen. Wahrscheinlich war es ihre Mutter, die ihre Kinder unter straffer Zügelführung hielt. Die Strenge der Erziehung gab sie, guten Willens, an ihre beiden Söhne weiter, von denen der jüngere als Haupterbe sich, wie es scheint, später von der Mutter distanzierte. Er fühlte sich i n K u r l a n d wohler als i n Königsberg oder Rautenburg, war offenbar auch nicht anwesend i n den schweren Todesstunden der Mutter, vielleicht nicht einmal bei der provisorischen Bestattung. Caroline hatte ein gutes Herz. Wegen ihrer M i l d t ä t i g k e i t und Hilfsbereitschaft hieß sie i n der Niederung weit und breit „die gute Gräfin". Aber es gibt i m Schrifttum noch andere Zeugnisse ihrer Fürsorge und ihres W o h l tuns. Christian Jakob Kraus, einer der frühen deutschen Nationalökonomen, berichtet, kaum zwei Wochen Hofmeister des 18 Jahre alten Neffen der Familie, des Grafen Archibald Nicolaus Gebhard von Keyserling, an seinen Freund Hans von Auerswald: „ D i e Vertraulichkeit, m i t welcher der alte Graf (der 49jährige Graf H e i n rich Christian) und besonders die Gräfin m i t m i r umgeht, ist unbegreiflich. Über dem Essen schweigt die ganze Gesellschaft, und sie spricht m i t m i r allein unaufhörlich, und rathen sie wovon? V o m Euler'- und Newton'schen Lichtsystem, v o n der Edda, v o m Aberglauben und Unglauben, was v o n beyden schädlicher sei, und von neuen Entdeckungen und herausgekommenen Büchern etc. . . . " Die Mentorstellung von Kraus bei den Keyserlings hat genau ein Jahr gedauert, nämlich von A p r i l 1777 bis A p r i l 1778. Sein Schüler w a r zum M i l i tärdienst eingerückt. I n einem Brief an den Bruder von Kraus heißt es sehr aufschlußreich: „ I c h bin indessen noch immerfort bey meinem alten Graf Keyserling i m Hause, w o ich freye Station, A u f w a r t u n g und freye Tafel habe und wie ein K i n d i m Hause lebe. Ich kann dir nicht beschreiben wie sehr mich der gute alte Graf und die Gräfin schätzen und lieben, und was für rührende Proben sie m i r bey aller Gelegenheit davon geben. So lang ich

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i n Königsberg bleibe, werde ich nimmer aus dem Keyserlingschen Hause kommen, und auch selbst wenn ich etablire und Magister oder Professor werde, dürfte ich da wohnen bleiben . . . " Johann Friedrich Reichhardt, der große Komponist und Hofkapellmeister Friedrichs des Großen, berichtet i n seinen Jugenderinnerungen v o n der lebensgefährlichen Erkrankung seiner von i h m hochverehrten und geliebten Mutter (um 1770). Der behandelnde A r z t und sein Vater, der immer noch Hausmusikus i m Keyserlingschen Hause war, hatten darauf bestanden, daß die M u t t e r bzw. die Frau das Anerbieten ihrer früheren Gebieterin, der Gräfin Caroline, m i t ihr zur völligen Wiederherstellung ihrer Gesundheit nach Pyrmont und Ems zu gehen, benützen sollte. Unter den eindringlichen Bemühungen v o n Ehemann, Sohn und A r z t entschloß sich die Reconvaleszentin, m i t der Gräfin zu reisen. Sie w a r fast ein halbes Jahr unterwegs, konnte auch noch einige Tage i n ihrem ersehnten Herrengut verbringen, das ihr lange i n angenehmster Erinnerung blieb. Soviel nur i n diesem Zusammenhang. Gewiß ließen sich noch mehr Beispiele für die Güte und Hilfsbereitschaft der Gräfin Caroline anführen. Immanuel Kant, 1798: Aus einer Fußnote auf S. 220 der Anthropologie i n pragmatischer Hinsicht: „Ich will aber nur (ein Beispiel) anführen, was ich aus dem Munde der verstorbenen Frau Gräfin von Keyserling habe, einer Dame, die die Zierde ihres Geschlechtes war . . (vorsichtshalber nur abgekürzt mit „Gräfin v. K-g bezeichnet). Johann Friedrich Reichardt, 1805/06 (Autobiographie i n dritter Person) :

in

der

„Berliner

Musikzeitung"

„Die Gräfin Keyserling, die prächtige Königliche Frau, oder auch der Vater des Kleinen (Johann Friedrich, ,Fritz' genannt) spielte nicht mit weniger Delikatesse die Laute; der Kleine Fritz accompagnierte mit seiner Violine und mußte auch Haydn'sche Cassatio spielen, die er von Österreichern erhalten hatte." Johann Georg Hamann 3

Januar 1768 aus einem Brief an Friedrich Jacobi:

„Dies Haus (Keyserling) ist die Krone unseres ganzen Adels, unterscheidet sich von allen übrigen durch Gastfreiheit, Wohltätigkeit und Geschmack, hat aber kaum den Schatten der vorigen Pracht und liebt zu sehr den Glanz davon." Elisabeth Leben":

(Elisa)

von

der Recke i n ihrem „Bruchstücken aus Neanders

„Schöne, geistvolle Unterhaltungen danke ich dem interessanten, persönlichen Umgange dieses berühmten Mannes (Immanuel Kant). Täglich sprach ich diesen liebenswürdigen Gesellschafter in dem Hause meines Vettern, des Reichsgrafen

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Wilhelm Sale w ski von Kaiserlingk zu Königsberg. Kant war der 30jährige Freund dieses Hauses und liebte den Umgang mit der verstorbenen Reichsgräfin, die eine sehr geistreiche Frau war. Oft sah ich ihn da so liebenswürdig unterhaltend, daß man niemals den tiefen, abstrakten Denker in ihm geahnt hätte, der eine solche Revolution in der Philosophie hervorbrachte. Im gesellschaftlichen Gespräch wußte er bisweilen sogar abstrakte Ideen in ein liebliches Gewand zu kleiden, und klar setzte er jede Meinung auseinander, die er behauptete. Anmutsvoller Witz stand ihm zu Gebote, und bisweilen war sein Gespräch mit leichter Satyre gewürzt, die er immer mit der trockensten Mine anspruchslos hervorbrachte." Tagebucheintragung des Kammerherrn Grafen von Lehndorff v o m 5. September 1753:

Ernst

Ahasvérus

Heinrich

„Bei Hofe stellt man eine Gräfin Keyserlingk vor, eine geborene Gräfin Truchseß (Lehndorff schreibt nie Trucks [Friedrich Wilhelm I. nannte ihren Vater stets Trux]). Sie ist aus Preußen und sehr hübsch und liebenswürdig." Derselbe, Tagebücher Nachtrag Band I , Dezember 1765: „Graf und Gräfin Keyserlingk halten sich zur Zeit hier auf (Berlin). Sie sind ein reiches, liebenswürdiges und zufriedenes Ehepaar. Ich verkehre viel mit ihnen und finde sie höchst ehrenwert." Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Lehndorff y September 1770:

Ernst

Ahasvérus

Heinrich

von

„Wir feiern in Königsberg den Geburtstag der Gräfin Keyserlingk, der Mutter meines Freundes. Dieser gibt ein schönes Fest mit einem großartigen Mahl und einer hübschen Aufführung des Lustspiels „Familienvater", das vom Adel gegeben wird. Ein Ball beschließt das Fest. Meine Frau [eine geborene Gräfin Schmettow] nimmt an allem teil. Am folgenden Tage speisen wir bei meiner Schwester und fahren nachher spazieren. Abends wohnen wir bei Keyserlingks einer Illumination bei." Georg Conrad y einer der verläßlichsten Kantforscher, schrieb einmal: „Die Gräfin Caroline zeichnete sich durch ihre Leutseligkeit und ihre Wohltätigkeit aus; audi ihr Gemahl, dessen Großzügigkeit zuweilen auch recht weit gehen mochte, suchte im Wohltun seine größte Glückseligkeit." Christian Krollmann, der Leiter der Königsberger Stadtbibliothek u n d des Stadtarchivs und Schöpfer der „Altpreußischen Biographie" hat festgestellt: „Keine andere Frau hat eine ähnliche Rolle im Geistigen Leben Königsbergs gespielt." Josef Nadler, der bekannte Literatur-Historiker u n d Herausgeber großen Hamann-Ausgabe, i n seiner Hamann-Biographie:

der

„Auf dem größten Fuß in Königsberg wurde das Haus Kayserlingk geführt. Hier adelte weniger der Stand als der Rang. Denn es war ein musisches Haus. Hier

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wurde die beste Musik gemacht. Hier gab es an den Wänden und in den Vitrinen Schönes und Gutes zu sehen, Gemälde, Kupferstiche, eine Bücherei, die in Königsberg nicht die größte, aber doch wohl die beste und erlesenste war . . . Vielleicht ist Hamann durch die Reichardts ins Haus Kayserlingk gekommen. Es war gewiß nicht oft, aber es war." XL

Familien-Sorgen

A u f das Glück i m Keyserling'schen Hause, das die Bezeichnung Palais oder Stadtschloß nicht ganz verdiente, fiel ein schwerer Schatten: Der älteste der beiden Söhne der Gräfin Caroline (aus erster Ehe) machte seinen Eltern große Sorgen. Auch die strenge Erziehung durch die Mutter konnte aus dem jungen 1745 geborenen Grafen Carl Philipp A n t o n keinen Geistesheroen machen. Kurze Zeit nach der 1759 erfolgten I m m a t r i k u l a t i o n mußte er das Studium an der Königsberger Universität aufgeben. N u n blieb nur das M i l i t ä r . Graf Carl trat als Fahnenjunker i n das Mitzlaff'sche Dragoner-Regiment ein, das i n Niederschlesien, v o r allem i n Sagan, garnisoniert war. Wahrscheinlich wurde er hier noch Offizier. Aus welchen Gründen auch immer: er ließ sich offenbar hier nicht halten und trat, wenn man späteren Angaben folgen darf, i n die Potsdamer Garde zu Fuß über. Anfang des Jahres 1775 mußte er auf Veranlassung Friedrichs des Großen aus dem Dienst ausscheiden, ob m i t „schlichtem Abschied" oder unter noch schlimmeren Umständen, steht dahin. Es hatten sich schon i n Potsdam, noch dazu i n einer Elitetruppe, die kaum Bataillonsstärke aufwies, und von der der K ö n i g gewiß jeden einzelnen Offizier kannte, Spuren v o n Geistesstörungen gezeigt, die Folge eines ausschweifenden und verschwenderischen Lebens gewesen sein sollen. Noch i m gleichen Jahr wurde der junge Graf auf die Festung Pillau gebracht. Nach Aussagen der Ärzte w a r der Fall ohnehin hoffnungslos. So mußte er unter Curatel gestellt werden. Nicht nur aufgrund dieser, sondern auch der Erfahrungen m i t Friedrich von der Trenck, dem Kornett i n der Garde du Corps, dessen spätere Lebenserinnerungen ganz Europa i n A t e m hielten, w a r Friedrich der Große auf die ostpreußischen Junker schlecht zu sprechen. Einen Halbvetter des Grafen Heinrich Christian v o n Keyserling, der an der Universität Königsberg studiert hatte, der aber Offizier werden wollte, wies Friedrich der Große M i t t e 1778 dem damaligen Dragoner Regiment v. Bosse zu. Die Kabinettsorder enthielt die eigenhändige Bemerkung: „ I c h placiere ihm i n der Provinz, u m daß er kein Windbeutel sein soll." (Pikanterweise handelt es sich bei dem Regiment v o n Bosse u m das gleiche, dessen Chef von 1770—1778 der Oberst Franz Gustav von M i t z l a f f war, siehe oben).

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Wilhelm Sale w ski Das schlimme und schimpfliche Ende ihres ältesten Sohnes löste bei der Gräfin Caroline einen schweren Nervenschock aus, der sie wochenlang aufs Krankenlager warf. I h r unglücklicher Sohn überlebte sie noch um drei Jahre und starb, wie es heißt „ a m Fieber" i n Gumbinnen am 15. August 1794. Der zweite Sohn unternahm nach dem beendeten Studium ausgedehnte Reisen, heiratete i m Herbst eine Nichte seines Stiefvaters Charlotte Eleonore Anna Freiin von Medem, nach deren T o d er m i t Theophile v o n Münster eine zweite Ehe einging. Das für den Besitz Rautenburg ergangene Sonderstatut und die damit verbundenen Prärogativen waren an die Bedingung geknüpft, daß die Besitzer für Dauer i n Preußen ihren Sitz nähmen. Darüber glaubte der junge Graf sich hinwegsetzen zu können. Er heiratete i m K u r l a n d und blieb i n K u r l a n d , w o es i h m offenbar besser gefiel als i n Rautenburg oder Königsberg. Die preußische Verwaltung w a r nicht zimperlich bei ihrer Reaktion auf dieses Verhalten. Auch zeigte sie sich entschlossen, die Interessen des unter Kuratel gestellten geisteskranken Sohnes der Gräfin Caroline i n enger Auslegung der Vorschriften zu wahren. U n d das führte noch zu bösen Ärgernissen.

XII.

Kants Hinneigung

zum weiblichen Geschlecht

Die über mehrere Jahrzehnte währenden persönlichen Kontakte Kants m i t der Gräfin Caroline waren v o n gegenseitiger Hochachtung und Verehrung getragen. Aber ohne eine Zuneigung herzlicher A r t hätten sich Gedankenaustausch und Unterhaltung der beiden Menschen nicht über eine so lange Zeitspanne erstreckt. M a n hat einmal gesagt, bei der Freundschaft, die sich K a n t und der zweite Gemahl der Gräfin Caroline entgegenbrachten, hätte man die Frage stellen dürfen, ob sich K a n t nun durch den Grafen H e i n rich Christian oder durch die Gräfin Caroline mehr zu dem Keyserling'schen Haus hingezogen fühlte. Ich glaube, daß diese Frage müßig ist. K a n t hatte schon i n den frühen fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts i n Capustigall, w o er dem jungen Grafen Waldburg Unterricht gab, die Bekanntschaft der damals m i t dem älteren Grafen Gebhard Johann v o n Keyserling verheirateten Gräfin Caroline gemacht. Als die Gräfin 1763 zum zweiten Male heiratete, bestand die inzwischen zu einer Freundschaft entwickelte Beziehung bereits ein Jahrzehnt. Andererseits kann ohne Zweifel festgestellt werden, daß K a n t den hochgebildeten, viel herumgekommenen Weltmann sehr schätzte, während Graf Heinrich Christian gewiß sein konnte, i n seinem Gast einen Gesprächspartner v o n höchstem Rang i n der Geisteswelt gefunden zu haben.

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K a n t , der „elegante Magister", wie man i h n nannte, w a r nicht gerade ein spröder Asket. Er war, wie ich meine, auch nicht der hagestolze Ehefeind, als der er schon hingestellt worden ist. Während seines ganzen Lebens hat K a n t gerne i n solchen Häusern verkehrt, i n denen schöne junge Frauen einen Kreis von Verehrern zu geistvollen Gesprächen u m sich scharten. Wiederholt soll er geäußert haben: „Eine Gesellschaft ohne Frauenzimmer ist nicht komplett!" Fritz Gause, der unermüdliche Forscher der Königsberger Geschichte, hat uns i n einem Aufsatz „ K a n t und die Frauen" von mehreren auffallend hübschen Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes, denen K a n t w o h l nodi etwas mehr als seine Sympathie zugewandt hatte, berichtet. Es werden genannt Charlotte Schwinck, 15 Jahre jünger als K a n t , Tochter des angesehenen Königsberger Handelsherrn Georg Friedrich Schwinck und bereits m i t knapp dreizehn Jahren an den 35jährigen Kaufmann und Bankier Johann Conrad Jacobi verheiratet. Das Jacobische Haus (zuletzt das von ihm gekaufte Dohnasche Stadtpalais i n der Junkergasse) war einer der gesellschaftlichen Mittelpunkte der Stadt. Die schöne, temperamentvolle Hausherrin w a r Gegenstand der Verehrung vom Magister K a n t und dem Münzmeister Göschen. Beide Anbeter wurden „Maskopisten" genannt (also Teilhaber zu gleichen Teilen). Nach Scheidung v o n Jacobi heiratete die hübsche Frau den Münzmeister. K a n t zog sich zurück. Eine andere i n der Königsberger Gesellschaft viel umschwärmte Frau konnte sich der Verehrung Kants erfreuen: es w a r die 1761 i n Königsberg geborene Elisabeth Fischer, Tochter des reichen Kaufmanns K a r l K o n r a d Fischer. Die Eltern gaben ihre achtzehnjährige Tochter dem viel älteren Justizrat Graun zur Frau. Die Ehe war unglücklich, denn die junge, zartbesaitete, den Künsten hingegebene Frau paßte nicht zu einem alten Pedanten. Auch diese Ehe wurde, nachdem die Ehegatten schon Jahre zuvor sich getrennt hatten, 1795 geschieden. Elisabeth unterhielt einen viel besuchten Salon schon i n ihrem Hause am Pregel i m Löbenicht, später, nach der Scheidung, und nun als Frau des Staatsrates von Staegemann, i n dessen Haus am Schloßteich auf dem Hinterroßgarten. H i e r trafen sich H i p p e l und Scheffler, später auch Fichte, der junge E. Th. A . Hoffmann, Heinrich von Kleist, der Herzog Friedrich K a r l von Holstein-Beck und Johann Friedrich Reichardt. K a n t war Elisabeths Verehrer vor und nach der Ehescheidung. Er nahm an vielen geselligen Zusammenkünften teil und freute sich, sie bei Theateraufführungen i m Hause Keyserling als Mitwirkende bewundern zu können.

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Wilhelm Sale w ski N u n aber noch zwei Zitate, die ich nicht unterschlagen möchte. A m 22. A p r i l 1877 hielt der damalige Bohnenkönig, D r . Benno Bobrik, unserer Vereinigung einen Vortrag „Immanuel Kant's Ansichten über das weibliche Geschlecht". H i e r heißt es nun: „ K a n t hat zweimal die ernste Absicht gehabt, sich zu verheiraten; aber allerdings w a r er damals nicht mehr i m Jünglingsalter, w o man sich schnell bestimmt und rasch wählt. Einmal fiel seine Neigung auf eine junge, schöne und sanfte auswärtige W i t t w e , welche zum Besuche ihrer Angehörigen hergekommen war. Er leugnete nicht, daß es eine Frau wäre, m i t der er gerne leben würde, berechnete Einnahmen und Ausgaben und schob die Entschließung einen Tag nach dem anderen auf. Die schöne W i t t w e besuchte noch Freunde i m Oberland und gab dort einem rechtschaffenen Manne ihre H a n d , der schneller als K a n t i m Entschließen u n d Zusagefordern w a r . " „Das zweite M a l rührte i h n ein hübsches westphälisches Mädchen, welches als Gesellschafterin einer Edelfrau, die i n Preußen Besitzungen hatte, m i t gebracht war. K a n t w a r m i t dieser artigen, zugleich häuslich erzogenen Person gerne i n Gesellschaft; und ließ sich's oft merken, säumte aber wieder so sehr m i t seinen Anträgen, daß er sich vornahm einen Besuch bei ihr abzustatten, als sie m i t ihrer Gebieterin sich schon an der westphälischen Grenze befand." „Nach einer Anmerkung v o n Kraus zu Wald's Gedächtnisrede auf K a n t scheint es, daß K a n t noch einmal Lust verspürt hat, sich zu verehelichen, und zwar m i t einer Königsbergerin — und ich habe (so schreibt Bobrik) G r u n d anzunehmen, daß dieses Mädchen die am 12. August 1826 i m A l t e r v o n achtzig Jahren verstorbene, verwittwete Frau Obereinnehmer Louise Rebecca Ballath, geb. Fritz, gewesen ist. V o n dieser ist m i r durch eine sehr ehrenwerte Dame (die verw. Frau M a j o r Amalie von Katzler), i n deren elterlichem Hause die Frau Ballath ein- u n d ausging, die Mittheilung zugegangen, daß sie oft und viel und immer m i t stolzem Rühmen davon erzählte, daß K a n t sie einst geliebt habe". — Nach Kraus hätte sich K a n t über diese Beziehung dahin geäußert, „daß bei näherer Ansicht das Gleißende sehr geschwunden sei; eine seiner w ü r d i g weibliche Seele habe er da nicht gefunden." Eine weitere Angabe dieser A r t fand sich i n dem 1804 anonym erschienenen Werk „Immanuel Kant's Biographie", herausgegeben bei C. G. Weigel i n

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Leipzig i n zwei (statt der ursprünglich angekündigten vier) Bänden, als deren Verfasser Georg Samuel Albert M e l l i n (1755—1825) angesehen w i r d . H i e r Band I , S. 30/31: „ Z u dem Kreise seiner Bekannten gehörten auch viele Personen des schönen Geschlechtes. Er kannte das Zartgefühl der Frauenzimmer zu gut, und harmonierte i n diesem zu sehr m i t ihnen, als daß er ihren Umgang nicht aufgesucht, und da er selbst unverehelicht war, den Mangel dieser zärtlichen Mittheilung der höchsten Freundschaft, nicht wenigstens durch den Genuß ihrer geselligen Conversation ersetzt haben sollte. Die Gräfin v o n Kayserling ist uns i n diesem Verhältnisse bereits v o n der schönsten Seite bekannt. I n den sechsziger Jahren unterhielt er eine nicht minder edle Bekanntschaft m i t Frau Agnes Elisabeth, verwitweten Rittmeisterin v o n Funk (Funck?), geborenen von Dorthösen (Dorthöven?), Erbfrau der Kaywenschen u n d Kahrenschen Güter i n Curland; und v o n guter H a n d weiß ich, daß v o r einigen Jahren eine junge Jüdin aus einer ausgezeichneten Familie alle M i t t w o c h zu K a n t i n Gesellschaft kam (Angabe eines H e r r n J. F. v. L.). Uberhaupt w a r er ein großer Bewunderer gebildeter Personen des weiblichen Geschlechts und zog sogar ihre Gesellschaft v o r . " Bei dem erwähnten Informator J. F. v. L . könnte es sich u m den K g l . Preuß. Geh. Obertribunalsrat und Oberkonsistorialrat Johann Friedrich v o n Lamprecht (1733—1807) gehandelt haben. Dieser stand zuweilen auch i n Korrespondenz m i t K a n t . A l l e n diesen Angaben w i r d man heute kaum mehr nachgehen können, sollte nicht ein seltener Z u f a l l etwas Neues zutage fördern. K a n t w a r nicht umsonst der Begründer der kritischen Philosophie. Er legte sich scharfe Maßstäbe an, auch bei anderen, erst recht bei Frauen, die für seine Partnerin i h m i n Frage zu kommen schienen oder i h m empfohlen waren. Freilich: Er hatte immer sein weibliches I d o l vor Augen, die v o n ihm, aber auch von allen anderen Zeitgenossen bewunderte Gräfin Caroline v o n Keyserling. Wann K a n t seine Besuche i m Hause Keyserling eingestellt hat, oder ab wann es keine Einladungen mehr gegeben hat, w i r d w o h l kaum mehr zu klären sein. K a n t w a r i m allgemeinen Dienstag bei Keyserlings zu Tisch. Bei dem schottischen Kaufmann Green w a r er zumeist am Sonnabend geladen, nach dessen Tode aber bei Robert Motherby sonntags. Uber die letzten Jahre der Gräfin Caroline wissen w i r nur sehr wenig. Die dem Grafen Heinrich Christian von Friedrich dem Großen einge-

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Wilhelm Sale w ski räumte Pension v o n 6000 Thalern jährlich (als Entschädigung für die Verluste der Einnahmen aus Polen nach der ersten polnischen Teilung) wurde, wie bereits erwähnt, nach dem Tode des Grafen (1787) für seine W i t w e auf 3000 Thaler herabgesetzt. Außerdem hatte sie aber noch einen A n t e i l an den Überschüssen aus dem Rautenburgischen Majorat, einem Besitz von immerhin fast 20 000 Morgen. Der jüngere Sohn als Erbe des Besitzes w a r und blieb i n Kurland, w o er geheiratet hatte. So mag es denn u m die kränkliche Gräfin stiller geworden sein. Sie starb nur vier Jahre nach ihrem Mann, der eine scharfsinnig ausgeklügelte Regelung der Besitzverhältnisse für das Rautenburger Majorat, gleichzeitig eine Konsolidierung seiner ziemlich zerrütteten Finanzverhältnisse noch i m Jahr vor seinem T o d herbeiführen konnte. Nach dem Totenregister der Burgkirche i n Königsberg/Pr. gab die Gräfin am 24. August 1791 i n ihrer Wohnung nach einer Gallenerkrankung ihren Geist auf. Sie wurde auf dem längst eingegangenen reformierten Kirchhof i n der Königsstraße provisorisch beigesetzt. Später wurde ihre Leiche exhumiert und am 16. Januar 1792 nach dem Gewölbe i n der zur Grafschaft Rautenburg gehörenden Kirche zu Lappienen überführt, w o sie m i t ihren beiden Gemahlen und dem unglücklichen älteren Sohn vereint ruht. E i n sonderbares Geschick fügte es, daß die i m Leben hart geprüfte Gräfin noch nach ihrem Dahinscheiden keine Ruhe finden konnte. Der ersten und vorläufigen Beisetzung ihrer sterblichen Reste auf dem Reformierten Friedhof i n Königsberg und der nach Monaten erst bewirkten Bestattung i n der Kirche zu Lappienen (zuletzt Rautenburg) folgte i m Jahre 1928 die U m bettung aller Särge aus dem Kirchengewölbe i n die Erde des an der Kirche gelegenen Friedhofes, u m die i n der Unterkellerung des Gotteshauses eine Heizungsanlage zu installieren. Uber die weiteren Geschicke von Kirche und Gräbern ist nichts bekannt. XIII.

Zwei Häuser und ihr Schicksal

E i n merkwürdiges Schicksal hatten die beiden Königsberger Häuser, die — wenn man v o n der Universität absieht — am engsten m i t dem Leben Immanuel Kants verbunden waren. Kants Wohn- und Sterbehaus i n der Prinzessinnenstr. 3 wurde sofort nach dem Tode des Philosophen an einen Gastwirt Johann L u d w i g Meyer verkauft. Der Hausrat und die Bücher wurden versteigert und darauf i n alle Winde verstreut, wie man so sagt. Mehrere Jahre nach dem Tode versammelten sich die Freunde Kants noch

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alljährlich i n der Gastwirtschaft zu einem Gedächtnismahl. Aber auch diese pietätvolle Bekundung einer Traditionspflege erlosch. Das Haus wechselte dann noch mehrmals den Besitzer und wurde 1893 abgebrochen, um einem Erweiterungsbau des benachbarten Warenhauses der Firma Bernhard Liedtke Platz zu machen. Das Keyserlingsche Stadtpalais, der „Königsberger Musenhof", am Vorderroßgarten N r . 53/54, gehörte ursprünglich seit 1680 dem Reichsgrafen W o l f Christian (Christoph) Truchseß zu Waldburg, dem bereits erwähnten Ehemann der Louise Catharina von Rautter, verwitweten von Chieza, der Kommandant der Festung Pillau war. Es hat dann Jahrzehnte hindurch der Familie Schlieben gehört. Graf Christian von Schlieben verkaufte das Anwesen i m März 1755 an den Grafen Gebhard Johann von Keyserling, den ersten Gemahl der Gräfin Caroline Charlotte Amélie Truchseß zu Waldburg. Das Palais hat mehrere Umbauten und Erweiterungen erfahren, bei den Nebengebäuden auch manche Neubauten oder Hinzufügungen. Nach dem Tode der Gräfin Caroline 1791 hat der durch bauliche Veränderungen gewiß nicht schöner gewordene Stadtsitz offenbar eine gewisse Zeit leergestanden. I n einem Brief von Johann George Scheffner an Abraham Jakob Penzel v o m 22. Februar 1813 (Band I I I der Brief-Edition) heißt es „Das ehemalige Keyserling'sche Haus ist beinahe ganz ausgestorben, w a r eine Weile sogar Wirtshaus; v o r einigen Jahren kaufte es der K ö n i g und ließ den Cronprinzen m i t seinen Gouverneurs drin wohnen . . . " Der zum Erben des Keyserlingk'schen Besitzes bestimmte Sohn O t t o der Gräfin Caroline verkaufte das Haus 1796 für 20 000 Thaler an den „Mechanicus" L u d w i g Loyal, von dem es drei Jahre später ein Bankdirektor Crüger erwarb. Erst 1809 ging es i n den Besitz des Königs über, der es zum Wohnsitz des damaligen Cronprinzen bestimmte. Zuvor war es von dem Kriegsrat Scheffner 2 Jahre bewohnt (Briefe Band I V , S. 73). Später wurde das Haus Dienstwohnung des Kommandierenden Generals, und wenn nicht alles täuscht, ist es, wie fast das ganze Zentrum der Stadt Königsberg, durch den großen Bombenangriff und die Kampfhandlungen anläßlich der Eroberung der sogenannten Festung Königsberg durch die Russen gänzlich vernichtet worden."' * Aus der Reihe der letzten Bewohner des Keyserling'schen Hauses sind zu nennen: Der spätere Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz, der in tragischer Verstrickung von Hitler verabschiedete Reichskriegsminister und Generalfeldmarschall Werner von Blomberg und als letzter „Kommandierender* des Wehrkreises I der General Georg von Küchler, später ebenfalls Generalfeldmarschall.

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Wilhelm Salewski Nach Angaben des verstorbenen Grafen Adalbert v o n Keyserlingk w a r auch das Schloß Rautenburg v o m Verfall bedroht. Durch die Eindeichung gegen den Haffrückstau wurde der Grundwasserspiegel u m etwa 65 cm gesenkt. Wie die Wirtschaftsgebäude, so stand auch das Schloß auf Längsschwellen, die nun oberhalb des Grundwassers lagen und abfaulten. So begann der langsame Verfall dieses an sich schlichten, aber reich ausgestatteten Mittelpunktes der einstmaligen Grafschaft. U m den unaufhaltsamen Zusammenbruch des schon dreihundertjährigen Hauses wenigstens etwas aufzuhalten, mußte das schwere Pfannendach abgenommen und ein leichteres Dach aus Asbestschiefer aufgebracht werden. Aber dennoch hätte das Gebäude das 20. Jahrhundert kaum überlebt. Daß es gar nicht mehr dazu kam, weil die Russen 1945 einige Zeit nach der sorgfältigen Ausplünderung v o n Rautenburg das Haus i n die L u f t jagten, vermindert nicht das Bedauern u m den Verlust dieses Denkmals, von dem aus eine der bedeutendsten Meliorationen bewirkt worden ist. Auch i n die L u f t gesprengt worden ist noch i m Laufe der letzten Kämpfe i n Ostpreußen das i m italienischen Stil erbaute Schloß Capustigall m i t seiner v o n dem letzten der Grafen Truchsess v o n Waldburg zusammengetragenen Antikensammlung. Bei den Rückzugskämpfen wurde die Anhöhe unfern v o m Frischen H a f f , auf der das Schloß stand, besonders heftig umkämpft. Zeitweise kämpften Deutsche und Russen i n verschiedenen Stockwerken gegeneinander. U m diesen mörderischen Nahkämpfen ein Ende zu machen, ließ der deutsche Kampfgruppenkommandeur kurzerhand das ganze Schloß i n die L u f t sprengen. So ist also auch das Geburtshaus der Gräfin Keyserlingk, geb. Truchsess v o n Waldburg, zu einem Trümmerhaufen geworden. Sic transit gloria mundi!

H E L M U T MOTEKAT DIE UNIVERSITÄT KÖNIGSBERG, D I E BÜRGERSCHAFT U N D DER DRITTE

KÖNIGSBERGER NACHFOLGER

I M M A N U E L K A N T S AUF D E M KÖNIGSBERGER

LEHRSTUHL

Immanuel K a n t schreibt i n einer Anmerkung zur Vorrede seiner 1798 publizierten „Anthropologie i n pragmatischer Hinsicht" über Königsberg: „Eine große Stadt, der M i t t e l p u n k t eines Reiches, i n welchem sich die Landeskollegien der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur K u l t u r der Wissenschaften) u n d dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch große Flüsse aus dem Innern des Landes sowohl, als auch m i t angrenzenden entlegenen Ländern v o n verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt — eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; w o diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann." Manch einer weiß noch aus eigener Erfahrung, wie zutreffend des Philosophen U r t e i l i n Anbetracht der „Schicklichkeit" Königsbergs für die Erweiterung von Welt- u n d Menschenkenntnis w i r k l i c h war. I n dem Zeitraum von etwa 1830—1860 w i r d uns nun mehrfach der dritte Nachfolger Kants begegnen. Es ist K a r l Rosenkranz, der nach K r u g und Herbart 1833 auf den berühmten Königsberger Lehrstuhl berufen wurde. Ehe w i r auf i h n zu sprechen kommen, versuchen w i r , uns die geistige und politische Situation und die Stimmung der Bürgerschaft i n Königsberg zu vergegenwärtigen. Königsberg, die „ H a u p t - und Residenzstadt am Pregel", w a r i n der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts i n weitaus größerem Maße als später M i t t e l p u n k t des geistigen, kulturellen und politischen Lebens ihres Landes Ostpreußen, für das damals die Bezeichnung Altpreußen üblich war. Das Zeitalter der Geschichte dieses „Landes" Ostpreußen, i n das w i r uns jetzt nach und nach hineinbewegen, zeitigte die Herausbildung und Konstituierung des Liberalismus i n seiner altpreußischen Sonderform. Er gründete sich, historisch gesehen, tatsächlich auf eine einmalige politische Konstellat i o n schon dadurch, daß der ostpreußische A d e l i n seiner politischen H a l -

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Helmut Motekat tung wie i n den von seinen politisch aktiven Mitgliedern angestrebten Zielen, nicht i m Gegensatz zu den politischen aktiven Kräften des Bürgertums stand. Sicher w a r die standesmäßige Absonderung nach wie vor gegeben. Aber die lebendige Erinnerung an den gemeinsamen, für uns heutige Menschen unter fast unvorstellbar großen Opfern an Gut und Blut geführten Befreiungskampf schlug i n den Gesinnungen und den materiellen Interessen mannigfache Brücken zwischen dem ostpreußischen A d e l und dem ostpreußischen Bürgertum. So konnte es geschehen, daß i n der Herausbildung des Liberalismus Altpreußens das Königsberger Bürgertum dem Adel weithin vertrauensvoll die Führung überließ. Männer wie der Oberpräsident Theodor von Schön, wie Ernst von Saucken-Tarputschen, Magnus von Brünneck oder die Auerwalds genossen das volle Vertrauen ihrer bürgerlichen Zeitgenossen. D a n n aber das Weitere: A l l e durch die geistige und praktische Situation bedingten Probleme wurden hier ungemein stärker und beunruhigender empfunden. Gerade Ostpreußen hatte i n den Jahren, die für die Bildung der um die Jahrhundertwende geborenen Generation eine ausschlaggebende Rolle spielten, die ganze N o t und das Elend des Krieges besonders hart zu ertragen gehabt. Es hatte aber auch aus seiner M i t t e heraus die ersten Taten zur endlichen Befreiung leisten dürfen und hatte schließlich dem ganzen Volke ein leuchtendes Beispiel gegeben. Ja, es w a r i n jenen entscheidenden Jahren nicht nur Zuflucht und Residenz des unglücklichen Königs und seiner hier fast als Heilige verehrten Gemahlin, sondern auch M i t t e l p u n k t des Interesses aller die Befreiung ersehnenden Angehörigen des preußischen Volkes gewesen. Das Befreiungswerk der Reformer war v o n hier aus begonnen worden. Letzte und höchste Opfer an Gut u n d Blut aber hatte die Bürgerschaft auf dem A l t a r des Vaterlandes freudig gebracht, als es die endgültige Befreiung v o m äußeren Feinde galt; und — bezeichnend für den Geist dieses Landes — i n einer Ständeversammlung hatten die berufenen Vertreter dieser Bürgerschaft und des ihr gleichgesinnten Adels diesen Beschluß gefaßt. U m so bitterer mußte daher, als nach dem Sieg durch das rückschrittliche Verhalten der Regierung die Hoffnungen auf die Fortsetzung der politischen Befreiung i m Innern unerfüllt blieben, dafür aber eine schwere wirtschaftliche N o t i m Zusammenhang m i t der preußischen Z o l l p o l i t i k besonders i n den dreißiger Jahren um sich griff, die Enttäuschung der jungen Generation sein. H i n z u kam der Wechsel v o n einer höchst bedeutsamen und entscheidenden Rolle i m Leben der N a t i o n i n eine scheinbar noch zunehmende Bedeutungslosigkeit.

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Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl

Nach Wiederherstellung der geordneten Verhältnisse konzentrierte sich das kulturelle Leben auf Berlin und i n zunehmendem Maße auf die durch ihre aufblühende Industrie an Bedeutung rasch wachsenden Städte m i t industriellen Ausbaumöglichkeiten. „ W i r Königsberger sind für Berlin schon eine ultima Thüle, und man dankt Gott, diesseits der Weichsel nach Westen zu wohnen. Der Königsberger dagegen hat das Gefühl, daß seine Stadt für die Entwicklung des preußischen Staates doch intensiv keine geringe Wichtigkeit i n Anspruch nehme, daß Preußen dem Staat den Namen gegeben, hier die Erhebung desselben zum Königreich geschehen, hier der H o f nach dem Tilsiter Frieden ein A s y l gefunden, daß v o n hier, v o n Memel und Königsberg aus, die tatsächliche Reaktion gegen Frankreich, der politische Fortschritt seinen Beginn genommen", schrieb K a r l Rosenkranz. Waches Bewußtsein der großen historisch-politischen Rolle noch der jüngsten Vergangenheit und die Erkenntnis der gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit i n einer Situation am äußersten Rande des deutschen K u l t u r raumes, i n einer durch die weiten Entfernungen etwa nach Berlin und durch die damals verfügbaren Verkehrsmöglichkeiten bedingten fast völligen Isoliertheit legten den G r u n d zur Entwicklung des unbedingten Willens, eine baldige Änderung zu erstreben. U m wieviel mehr noch aber mußte den Königsberger Bürger das geistige Erbe, das i h m aus der Vergangenheit seiner Stadt überkommen war, zur aktiven Bewältigung der gegenwärtigen Mißstände verpflichten! Immanuel K a n t bedeutete auch für diejenigen, die nicht viel mehr als seinen Namen und einige seiner bekanntesten Sätze kannten, die Verpflichtung, sich einer Tradition, die seinen Namen trug, w ü r d i g zu erweisen. Diese Verpflichtung aber hieß Fortschritt. Wenn auch die Königsberger Generation den großen Sohn ihrer Stadt und ihrer Universität nicht mehr selbst erlebt hatte, so stand sie doch trotzdem noch unter dem Eindruck seines geistigen Gegenwärtigseins. — Freilich: die Beschäftigung m i t seiner Philosophie und seinen Schriften blieb einer relativ kleinen Gruppe der Königsberger Bürgerschaft vorbehalten, deren Mitglieder über die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Auseinandersetzung m i t dem philosophischen Werk Immanuel Kants verfügten. Während die Gelehrten als Mitglieder der Königsberger „Gesellschaft der Freunde Kants" das Andenken an K a n t wachhielten und insbesondere an seinem Geburtstag i n Vorträgen das Verständnis für seine Gedanken und Erkenntnisse zu wecken, zu verbreitern und zu vertiefen versuchten, waren die gebildeten Bürger der Stadt doch offensichtlich erfüllt v o n dem stolzen 5

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Helmut Motekat Bewußtsein, daß eben hier, i n ihrer Stadt Königsberg und an ihrer U n i versität — aus ihrer M i t t e heraus erwachsen — der M a n n gelebt, gewirkt und gelehrt hatte, dessen R u h m inzwischen weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus Geltung hatte. Es gibt Zeugnisse i n großer Z a h l darüber, daß man die Mahnung und Pflicht verspürte, sich des großen Philosophen w ü r d i g zu erweisen. Die Bürgerschaft Königsbergs versuchte außerdem — auf gut bürgerliche Weise — dem großen Sohn ihrer Stadt ihre Verbundenheit m i t i h m und ihren D a n k an i h n zu bezeugen, indem sie i h m ein würdiges Denkmal zu errichten unternahm. Bei der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage hielt es schwer, die M i t t e l für die Errichtung eines Kant-Denkmals aufzubringen. Aus Honoraren öffentlicher Vorträge Königsberger Professoren und aus Spenden der Königsberger Bürgerschaft aller gesellschaftlichen Schichten wurde die erforderliche Summe aufgebracht: Das Kant-Denkmal, ausgeführt von Christian Daniel Rauch, konnte i n A u f t r a g gegeben, aufgestellt und enthüllt werden. Nach verschiedenen Standplätzen fand es schließlich seinen endgültigen und würdigen Standort auf dem Paradeplatz (dem früheren Königsgarten). Ich habe den handschriftlichen Bericht des Kassenwarts der Spendenstiftung, des Philosophen K a r l Rosenkranz, über den gleich noch zu sprechen sein w i r d , selbst noch gelesen und exzerpiert. (Das Manuskript der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg ist verbrannt). D a r i n vermerkte Rosenkranz u. a., daß „Bürger, Kaufleute, Gelehrte und Handwerker (zur Errichtung des Kant-Denkmals) das Meiste gegeben haben". Die beiden ersten Nachfolger Kants auf seinem Lehrstuhl, die Philosophen K r u g und Herbart hatten wenig zur Weiterführung des Kant'schen Gedankenguts getan. 1833 berief die Universität den aus Magdeburg stammenden Dozenten K a r l Rosenkranz auf den vakanten Lehrstuhl Kants. Rosenkranz bekannte freimütig, daß das i n Königsberg lebendig fortwirkende Andenken an Immanuel K a n t eine starke pädagogische W i r k u n g auf i h n ausübte. Er schrieb: „Keine andere Universiät kann einen heutigen Philosophen so sehr demütigen, als Königsberg, w o die Wiege und der Sarg desjenigen Philosophen stehen, ohne welchen Fichte und Schelling, Hegel und Herbart nie existiert haben würden" (Aus einem Tagebuch, S. 62). Rosenkranz w a r Vertreter und Anhänger der Hegeischen Philosophie, allerdings i n der gemäßigsten, objektivsten Einstellung zu ihr. U m so bemerkenswerter scheint m i r die Tatsache zu sein, daß K a r l Rosenkranz gemeinsam m i t dem Königsberger Historiker Friedrich W i l h e l m

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Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl

Schuberth erstmals die gesammelten Schriften Immanuel Kants (in 12 Bänden i n Königsberg 1838/1840) herausgab. Der 12. Band, von K a r l Rosenkranz geschrieben, enthielt eine eingehende „Geschichte der Kant'schen Philosophie". Diese erste Ausgabe der Schriften Immanuel Kants durch Rosenkranz, der als Schüler und Verehrer Hegels v o n seinen zeitgenössischen Fachkollegen als der das geistige Erbe Hegels am reinsten und v o n aller zweckdienlichen Auslegung v ö l l i g freier Einstellung vertretende Hegelschüler anerkannt wurde, ist, wie ich meine, ein schönes Zeugnis echter Kant-Nachfolge. Rosenkranz brachte nun Hegels Philosophie nach Königsberg. Er tat es i n eben jener Popularität, die Immanuel K a n t ausgezeichnet hatte. War Kants Popularität eine Popularität des aufgeklärten „Preußischen Jahrhunderts" i m besten Sinne des Begriffs, so w a r die v o n K a r l Rosenkranz eine Popularität der bereits nachromantischen Generation. W a r die Kants denkerisch-theoretisch-idealistischer N a t u r , so w a r die Popularität von K a r l Rosenkranz gegründet auf Beobachtung, Wahrnehmung und Beurteilung des Erschauten, Erfahrbaren, des Erlebens i n seiner Unmittelbarkeit. Als der Hegelianer Rosenkranz 1833 nach Königsberg kam, hatte er es gewiß nicht leicht. Er schrieb darüber (Aus einem Tagebuch, S. 62/63): „ A l s ich nun unter dem T i t e l eines Hegelianers hierherkam, fand ich natürlich nichts weniger als eine entgegenkommende, w i e w o h l durchaus freundliche Aufnahme. Wenn ich aber bald m i t den Kollegen, m i t den Königsbergern, ja m i t den Ostpreußen überhaupt i n ein so gutes Vernehmen kam, als ich m i r irgend wünschen kann, so erkläre ich m i r dies aus Zweierlei. Einmal aus meiner Individualität, die keinen Hegeischen, vielmehr NorddeutschSchleiermacherschen, gesellig-bewegten Typus hat. Sodann daraus, daß es geschichtlich eine Notwendigkeit für die hiesige Provinz war, nunmehr, nachdem sie erst durch K a n t und Kantianer Kantisch, dann vierundzwanzig Jahre hindurch Herbartisch gebildet worden, endlich auch i n das Hegeische Element eingetaucht zu werden". Das „Hegeische Element" gewann an der Bildung und Meinungsbildung i n Königsberg um 1840 tatsächlich sehr erheblichen Anteil, sowohl i m politischen wie i m weltanschaulich-religiösen Bereich. Hegeische Staatslehre und v o n K a n t und Kraus über die Stein'schen preußischen Reformen weiterwirkender Fortschrittswille wurden i n Königsberg und i n Ostpreußen i n ihrem Zusammenwirken zu entscheidenden Kräften und Antrieben des geistigen wie des politischen Lebens. Die erste Kantausgabe v o n Rosens*

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Helmut Motekat kränz und Schuberth 1838/1840 und die erste Hegelbiographie von Rosenkranz 1844 können geradezu als Symbol für das funktionierende und äußerst fruchtbare Zusammenspiel des Kantischen Geistes und der Hegelschen Staatslehre i m Geist Königsbergs um die M i t t e des 19. Jahrhunderts gelten. Als dritte K r a f t v o n weitester W i r k u n g kommt Goethe ins Spiel. Darüber später noch Einiges. Die schließlich gefundene Leitidee des Königsberger Geisteslebens zwischen 1833 und 1850 etwa läßt sich folgendermaßen beschreiben: K r ä f t e der lokalen Tradition gemeinsam m i t von außerhalb kommenden geistigen Strömungen und Anregungen aus der jüngsten Vergangenheit wie aus der Gegenwart formten die spezifischen Züge des geistigen Antlitzes Königsbergs. Aus ihrem Zusammenspiel gewannen sie unter der starken Eigenkraft des Lokalgeistes die Stärke, den Erfordernissen der momentanen Gegenw a r t dienstbar zu sein. Doch darüber nun einige Details. Keinesfalls konnte Zufriedenheit m i t der augenblicklichen Lage auf irgendeinem Gebiet i n einer Stadt wie Königsberg sich einstellen, i n der sich leidiger Gegenwartszustand und wache Erinnerung an einstige Größe und Bedeutung i n seltener Heftigkeit und Schroffheit gegenüberstanden. Bewegung hieß die bewußte oder auch unbewußte Tendenz aller geistigen Kräfte. Nicht nach rückwärts, wie es K ö n i g t u m und reaktionäre Regierung allzu gern gesehen hätten, sondern vorwärts zum Idealzustand. Das durch den Freiherrn v o m Stein und seine Mitarbeiter hier begonnene Reformwerk, tief wurzelnd i n den geistigen Traditionen dieser Stadt und U n i versität, lebte nicht nur i n den hier als Staatsbeamte oder Landwirte noch schaffenden Gehilfen v o m Steins — u. a. vor allem Theodor v o n Schön und Magnus v o n Brünneck — sondern w a r über das rein praktische und nur langsam an den Schwierigkeiten der Wirklichkeit gedeihende Werk hinaus, ideelles Gemeingut der Gebildeten und der bildungswilligen Teile des Bürgertums. U n d da zeigte sich die Königsberger H a l t u n g i n dieser Epoche: Nicht Abkehr von der Gegenwart und ihrer harten Wirklichkeit i n der Hingabe an das Ideal, wie es die Romantik betont hatte, nicht Verzicht auf das hohe, scheinbar unerreichbare Ideal um eines beschränkten, kleinen Bürgerglücks i n Haus und Familie willen, sondern Erhebung der Wirklichkeit zum Idealzustand durch den Einsatz aller Kräfte für den Fortschritt. Das w a r keineswegs Vermessenheit überspannter oder jugendlicher Hirne, sondern ernsthafte Uberzeugung einer ganzen ostpreußischen Generation i n einer Zeit wirtschaftlichen Niedergangs und politischen

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Königsberg und der dritte Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl Rückschritts. Aufklärung, Klassik und Romantik i n allgemeindeutscher und i n Königsberger Sonderform boten der jungen Generation ein vielseitiges Erbe. Aber m i t seiner einfachen Übernahme i n die Gegenwart war es nicht getan. Es mußte erworben werden, um Besitz zu sein. V o n einer neuen Basis der Wirklichkeit aus galt es eine weitgehende Umformung, ja eine Wiedergeburt der aus dem geistigen Erbe überkommenen Werte und Ideale zu schaffen, um sie zu neuer gegenwartsentsprechender lebendiger W i r k u n g zu bringen. Allgemeindeutsches Zeichen der Zeit w a r die gegenüber den hohen und bewunderten Schöpfungskräften der Vergangenheit immer wieder auftauchende Empfindung der eigenen Unzulänglichkeit. Weltschmerz und Lebensüberdruß, Pessimismus und Weltverzweiflung waren Zeichen des gegenüber den Aufgaben des Lebens der Gegenwart verzagenden Willens. Auch i n Königsberg w a r jene Weltverzweiflung nicht unbekannt. Aber die Königsberger Bürgerschaft hat ihr keinen großen Raum gelassen. Erst die jüngere Generation, die ihr Jünglingsalter i n den vierziger Jahren erlebte, fiel ihr zum Opfer. K a r l Rosenkranz schrieb damals, nachdem er die ganze A r t und H a l t u n g dieser Jünglinge treffend gekennzeichnet hatte, über den G r u n d für deren sichtbare Bedrücktheit und Niedergeschlagenheit: „Es ist auch bei uns der vielberufene Weltschmerz, die ganze Welt, sich m i t einbegriffen, glücklich machen zu wollen und nicht recht zu wissen, wie man es i n einer so verächtlichen, vertrackten Zeit anfangen solle." Die erwähnte A k t i v i t ä t der Königsberger Bürgerschaft aber w a r letztlich stärker als alles niederdrückende, enttäuschende und schmerzliche Erleben der Welt und der Wirklichkeit. I m Ringen m i t dem Weltschmerz, ja m i t der zeitweiligen Weltverzweiflung, blieb das Vertrauen auf den endlichen Sieg des fortschrittsbestrebten Geistes doch letztlich überlegen. Allerdings vermag auch K a r l Rosenkranz nicht zu verschweigen: „Grausen faßt mich, daß die Welt ist, schmerzlich fühl' ich eine Lücke, Irgendwo im Universum lauert der Verrat, die Tücke; Hin und her wogt Erd' und Himmel, uferloser Ozean, Unermessen wallt die Menschheit ihre anfangslose Bahn. Alles scheint mir dann Grimasse, zwecklos jedes kühne Streben, Nur der Tod dünkt dann Vernunft mich, Unsinn aber alles Leben." Demgegenüber steht bei i h m hundertfach Überzeugung:

die letztlich unerschütterliche

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Helmut Motekat „Dodi unablässig muß Du ringen, Kein Augenblick darf stille stehn; Will auch das Herz vor Weh zerspringen: Doch mußt Du ruhig v o r w ä r t s gehn." Der Verlebendigung des geistigen Erbes i n zeitgemäßer Form aber kam nun hier i n Königsberg die H a l t u n g weiter Bürgerkreise m i t einer überraschenden Aufgeschlossenheit entgegen. M i t dem W i l l e n zum Fortschritt verband sich ein stark ausgeprägter Bildungswille. Unbewußt mag der Bürger jener Jahrzehnte empfunden haben, daß die erste Voraussetzung für den allgemeinen und den persönlichen Fortschritt die Bildung ist und bleibt. U n d dieser Bildungstrieb war i n Königsberg zugleich lokale Tradition, denn er hatte sich hier auch i n früheren Generationen erfolgreich durchgesetzt. Gewiß w a r der Bildungseifer i n der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts eine i n ganz Deutschland auftretende Erscheinung als Folge des allmählich immer stärker werdenden Interesses des Bürgertums an allen Problemen der Wissenschaften und der politischen und staatlichen Wissensbereiche. Aber gerade i n Königsberg w a r dieser Bildungseifer, der alle Schichten erfaßt hatte und den Rosenkranz sogar bei den unteren Ständen beobachtete, durch die T r a d i t i o n der Stadt und die isolierte Lage der Provinz besonders stark ausgeprägt. „ D i e Isolierung Königsbergs bewirkt i n i h m ein bedeutendes literarisches Interesse", schreibt Rosenkranz und, nachdem er festgestellt hat, daß die Z a h l der Leihbibliotheken ständig größer wurde, „alle großen Erscheinungen der Literatur werden assimiliert, und der Königsberger darf i n der Belesenheit m i t jedem anderen Großstädter Deutschlands i n die Schranken treten". Ähnlich lauten die Feststellungen Alexander Jungs über eine zumal bei der älteren Generation sorgfältige Lektüre der Klassiker, zu der sich eine gar nicht so seltene genauere Kenntnis der Literatur der Franzosen und Engländer gesellte. Dieser Bildungseifer trat seit 1830 und ganz besonders während der vierziger Jahre hervor etwa i m Leseeifer der Bürgerschaft i n der auffallend eifrigen Benutzung der vorhandenen bzw. gerade jetzt erst neu geschaffenen öffentlichen Lesemöglichkeiten. Das waren neben zahlreichen privaten Leihbibliotheken vor allem die Königliche Bibliothek, die wohlausgestatteten „Lesemuseen" der Herren Friedmann und Schindelmeisser, des Lokals der „Börsenhalle" i n der Magisterstraße und des m i t Lesestoff reichlich

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Königsberg und der dritte Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl versehenen „berühmtesten Kaffeehauses zwischen Petersburg und Berlin des H e r r n Siegel i n der Französischen Straße" (Rosenkranz). Doch genügte dem Königsberger Bürgertum i n seiner Bildungsbeflissenheit das Lesen nicht allein; es versuchte, sich auch andere Bildungsmöglichkeiten zu verschaffen und hatte Energie genug, solche auch w i r k l i c h einzurichten. Als beste Lösung erwies sich die Gründung v o n Vereinen, deren Zweck es war, i n regelmäßigen Zusammenkünften ihren Mitgliedern durch Vorträge von Fachleuten und Gelehrten neuen Bildungsstoff zu vermitteln. Der Bildungsw i l l e und der der Zeit allgemein eigene gesellige Charakter fanden i n dieser Lösung ihre gern begrüßte Verbindung. Nachdem ähnliche Versuche schon vorher v o n privater Seite unternommen worden waren, entstand 1844 die „Bürgergesellschaft". Sie vereinigte nach dem Bericht Alexander Jungs „Handwerker, Literaten, Künstler, Fabrikanten, Gutsbesitzer, D o zenten und Studenten, Lehrer, Schriftsteller, Beamte, kurz Angehörige aller Berufe jeden Montag von 6 bis 11 U h r i n einer Versammlung i m Gemeindegarten auf dem Steindamm". I n jeder Versammlung hielten Gelehrte aus der Z a h l der Mitglieder freie Vorträge und Vorlesungen über wissenschaftliche, geschichtliche und technologische Gegenstände. Darüber hinaus oblag es der „Bürgergesellschaft", Konversation und Geselligkeit zu pflegen. Dafür kamen v o r allem der Gesang nichtgeistlicher Lieder, Deklamationen und sonstige künstlerische Darbietungen i n Frage. Wie i n allen anderen deutschen Städten, so schuf die Bürgerschaft auch i n Königsberg, dem Trieb ihres Geistes zur Geselligkeit folgend, eine beachtliche Z a h l ζ. T . bis 1945 noch bestehender Vereine und Gesellschaften zur Pflege frohen geselligen Lebens. Neben der „Bürgergesellschaft" v o n 1844 w a r es v o r allem die „Gesellschaft Börsenhalle" (gegründet 1830), die i n an jedem Donnerstag stattfindender Versammlung ebenfalls der gelehrten und auch der frohen Geselligkeit pflegte, so wie manche andere kleinere Gesellschaft, die i n diesen Jahren entstand. Dannaber vor allem die Reihe der damals begründeten Gesangsvereine. Rosenkranz berichtet: „Liedertafeln blühen, der Orchesterverein bietet uns i m Verlaufe des Winters i m Concertsaal des Schauspielhauses die besten Ouvertüren und Symphonien. Es existieren mehrere Gesangvereine unter der Leitung der Musikdirektoren Sämann, Sobolewski und Riel." Bis zum letzten Kriege bestand neben anderen die 1844 gegründete „Hartungsche Sing-Akademie". O b w o h l es ähnliche Gründungen auch i n anderen Städten gab, w a r die schon erwähnte „Bürgergesellschaft" ganz besonders charakteristisch für die Königsberger Geisteshaltung jener Zeit, und zwar nicht nur als eigenartige

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Helmut Motekat Verbindung v o n Geselligkeitspflege und Bildungsvermittlung. W i r haben i n ihr den i m Geist der Königsberger Bürgerschaft gründenden Versuch zu sehen, den privaten literarischen Z i r k e l zum allgemein zugänglichen, ins Riesenhafte vergrößerten Eigentum aller bildungswilligen Schichten der Bevölkerung zu machen. Der schöngeistige Salon, den die Romantik geschaffen hatte, spielte ja i n den folgenden Jahrzehnten, allerdings m i t einem viel stärker bürgerlich gestalteten Gesicht, eine ganz außerordentlich wichtige Rolle i m Kulturleben (es sei hier nur erinnert an den berühmten Salon der Rahel Levin, der späteren G a t t i n Varnhagens v o n Ense i n Berlin). Sicher hat es auch i n Königsberg derartige Salons gegeben. H i e r sollte nun der literarische Salon zu einer großartigen Möglichkeit der Bildungsvermittlung auf breitester Basis werden. Durch derartige Einrichtungen sollte, so prophezeite der stets von stärkstem Idealismus beseelte Alexander Jung, die Periode des Schreibens durch die Periode des Sprechens i n der deutschen Literatur abgelöst werden: „ D i e deutsche Literatur mußte nach einem Reichtum v o n Leistungen, welcher fast beispiellos ist, i n den verschiedenartigsten Fächern, und zwar während einiger Generationen, zu einem gewissen Stillstand kommen. W i r waren i m Schreiben längst Meister geworden, i m Sprechen hatten w i r manches erst nachzuholen. Sollte fürs Künftige eine Nationalliteratur gedeihen, sollte die N a t i o n sich all der Schätze bewußt werden, die i n ihrer Literatur niedergelegt sind, und sollten auch die öffentlichen Institutionen dadurch vorwärtsgebracht werden, so mußte die Literatur fortan sich mehr i n der Mündlichkeit kundtun." I n dem erfolgreichen Ausbau derartiger Einrichtungen wie der „Bürgergesellschaft" sollte sich nach seiner Meinung die Bildung des ganzen Volkes vollziehen, i n der Gemeinschaft der Bildung dann die Gesellschaft der Zuk u n f t begründet werden und i n andauerndem Fortschritt das Ideal, wie es aus der hier vermittelten Literatur der Vergangenheit erkannt werden konnte, zur praktischen Verwirklichung gelangen. U n d noch von einer anderen Seite her ist diese Königsberger „Bürgergesellschaft" recht aufschlußreich für den Geist dieser Stadt u m die Jahrhundertmitte: durch die kurze Zeit ihres Bestehens. O b w o h l sie ursprünglich eine ausschließlich der Bildungsvermittlung und Geselligkeitspflege gewidmete Einrichtung war, kamen nur allzubald die starken politischen Interessen ihrer Mitglieder auch i n ihren Zusammenkünften zum Vorschein. Schon nach kurzer Zeit wurden die literarisch-geistigen Angelegenheiten v o n praktischpolitischen Reden für Freiheit und Verfassung, öffentliche Gerichtsbarkeit

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und freie Presse verdrängt — der reaktionäre Staat waltete seines Amtes und löste die „Bügergesellschaft" auf. Dieser Vorgang zeigt genau das an, was sich bei näherer Untersuchung allenthalben sehr deutlich erweist: I m geistigen Leben Königsbergs war die P o l i t i k eine an Bedeutung mehr und mehr zunehmende Angelegenheit. Auch das literarische Schaffen geriet schließlich ganz i n den Dienst der politischen Meinungsbildung. D a der i n der Literatur ja immer erneut ausgesprochene Fortschrittsgedanke i m Widerspruch zum W i l l e n der politisch-reaktionären Regierungskreise stand, war diese Entwicklung unvermeidlich. Sie wurde beschleunigt durch den verständlichen U n w i l l e n über die unangenehme und als beleidigend empfundene geistige Bevormundung durch die Zensur. Selbst zunächst politisch wenig interessierte, aber trotzdem fortschrittsbegeisterte Schriftsteller kamen schließlich zu der Einsicht, daß auch die Z u k u n f t des Geistesschaffens, der Bildung und der Literatur nur gesichert werden könnte durch die Schaffung eines Staates, der sich durch eine repräsentative Verfassung, Garantie der freien Meinungsäußerung i n Presse und Literatur und alle übrigen allgemein von den Vertretern des politischen Liberalismus geforderten Eigenschaften auszeichnete. Das führte i n den vierziger Jahren i n Königsberg zur Herausbildung einer besonders kraß auftretenden, auf politische Tageswirkungen abgestimmten Zeitungsliteratur und rief unter den Vertretern der jungen Schriftstellergeneration zur gleichen Zeit eine stark politisch gefärbte Tendenzdichtung hervor. I n beiden Erscheinungen spielten die jüdischen Königsberger Bürger unter der Führung des Arztes Johann Jacoby eine wichtige Rolle. I n Jacobys A n hängerschar war die damals an der Albertina studierende Jugend besonders stark vertreten. Z u ihr gehörten Persönlichkeiten wie W i l h e l m Jordan und der junge Ferdinand Gregorovius. Die führenden Vertreter der älteren, den Geist der Zeit i m eigentlichen Sinne bestimmenden Generation allerdings hielten sich von dem übersteigerten Radikalismus dieser Gruppe fern. Sie vertraten, obwohl auch sie wärmsten A n t e i l an allen politischen Angelegenheiten nahmen, eine gemäßigtere Linie. D a das ganze geistige Leben besonders i n den dreißiger und vierziger Jahren i n starker Abhängigkeit v o n der politischen Entwicklung stand oder, anders ausgedrückt, die P o l i t i k i m Geist der Epoche v o n hervorragender Bedeutung war, da es den Königsbergern nicht einfiel, Literatur, Kunst, Dichtung und politische Gegenwartsfragen als zwei gesonderte Gebiete zu betrachten, ist es notwendig, auch heute rückblickend die entscheidenden lo-

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Helmut Motekat kalen politischen Strömungen und Ereignisse i n unmittelbarem Zusammenhang m i t allen anderen Äußerungen des Königsberger geistigen Lebens dieser Epoche zu sehen. Denn gerade die politischen Angelegenheiten übten ihrerseits einen unmittelbaren Einfluß auf die geistige H a l t u n g der Stadt und der Provinz aus, eine H a l t u n g , die ohne Rücksichtnahme auf die Rolle der P o l i t i k i n ihr gar nicht begriffen werden kann. Neben den Einwirkungen der Pariser Juli-Revolution und denen des polnischen Aufstandes von 1831 (letzterer hatte für Ostpreußen tiefgreifende wirtschaftliche Folgen, er löste dazu bei den begeisterungsfähigen Jünglingen der vierziger Jahre eine Epoche der Polenbegeisterung aus), handelte es sich vor allem u m zwei Ereignisse: den Huldigungslandtag v o n 1840 und die 300-Jahr-Feier der Albertus-Universität i m Jahre 1844. Zwischen diesen beiden Ereignissen erschienen i n Königsberg zwei Schriften von größtem Einfluß auf die politische Meinungsbildung der Stadt. Einmal die Schrift „Woher und W o h i n " von Theodor v o n Schön (1840) und zum anderen die des Arztes und Politikers Johann Jacoby m i t dem T i t e l „ V i e r Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen" (1841). Der Unterschied zwischen beiden Schriften lag, bei dem an sich wesensgleichen Inhalt, i n ihrem T o n und i n der Adresse, an die sie gerichtet waren. Theodor von Schöns Denkschrift, an den K ö n i g gerichtet, w a r eine sehr gemäßigt gehaltene Forderung nach Einrichtung v o n Nationalständen i m Sinne des Steinschen Reformwerkes. Sie w a r getragen von der persönlichen Bekanntschaft und der gegenseitigen Achtung, die das Verhältnis des verdienten Oberpräsidenten m i t dem K ö n i g auszeichnete. Jacobys Schrift dagegen w a r ein i m Stil der politischen Schlagworttechnik der Zeit gehaltenes Flugblatt, das, gleichsam als offene K a m p f ansage, i n deutlichen Formulierungen nicht nur die berechtigten Forderungen des Bürgertums an den jungen K ö n i g aussprach, sondern zur gewalttätigen Beseitigung der bestehenden Ordnung aufrief. Tatsächlich w a r es so, daß Theodor v o n Schön die H a l t u n g der älteren Generation vertrat, während Jacoby der Sprecher der politisch radikalen Tendenzen war, wie sie i n der Presse und i n der von Jugendeifer überströmenden Dichtung der vierziger Jahre zum Ausdruck kamen. Beide Gruppen bildeten i n ihrer Zeit eine Einheit, das B i l d dieser Zeit wäre unvollständig, wenn man entweder nur die eine oder nur die andere Gruppe sähe. Trotz Fortschrittsbegeisterung und Bildungseifer aber w a r nun doch der A n t e i l der Masse der Bürgerschaft am geistigen Leben, vor allem aber an der Herausbildung des Geistes der Epoche, nur passiver, d. h. empfangender N a t u r . Die Aufgaben der geistigen Führung lagen fast ausnahmslos i n den

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Händen der i m Lehrkörper der Albertina vereinigten Wissenschaftler, Lehrer und Forscher. U n d auch die wenigen, nicht unmittelbar zum Lehrkörper gehörenden Geistesschaffenden dieser Zeit waren aus dem Geist der Albertus-Universität hervorgegangen. Sie hatten an ihr studiert und waren ihren Professoren i n Freundschaft verbunden. Das Entscheidende an dieser Tatsache aber liegt darin, daß hier i n Königsberg die Professorenschaft bei der Lösung der anfallenden geistigen Probleme — audi der politischen — einer stets verständnisvollen Aufgeschlossenheit ihrer Bürgerschaft gewiß sein konnte und daß gerade i n jener Epoche — allerdings endgültig und zum letztenmal — Bürgerschaft und Universität eine große geistige und praktische Lebensgemeinschaft bildeten. Daher stand die Albertina, vertreten durch namhafte und weithin hochgeachtete und beliebte Angehörige ihres Lehrkröpers, i n heute kaum noch vorstellbarem Umfang handelnd und formend, wegweisend und führend i m Zentrum des geistigen Lebens der Stadt. Die Universität empfand i n solchem Sinne die Verpflichtung, nicht nur, von dem Leben der Bürger abseits stehend, ausschließlich der Pflege der Wissenschaften zu dienen, sondern ihr Bemühen darein zu setzen, über die Enge des Hörsaals hinausgreifend, auch breiten Schichten der nichtakademischen Bevölkerung Zugang zu den v o n ihr verwalteten und gepflegten Bildungsgütern zu verschaffen. D a r i n aber begegnete sie sich m i t dem Fortschritts- und Bildungswillen der Königsberger Bürgerschaft. So waren gerade die bedeutendsten Professoren jener Jahrzehnte, wie Lobeck, Rosenkranz, Burdach und andere, führend an der Ausgestaltung der Bürgerversammlungen beteiligt. Sie wandten sich i n öffentlichen Vorlesungen über allgemein interessierende Themen an breite Schichten der Bürgerschaft oder traten als Redner i n den vorher genannten Bildungsgemeinschaften auf. Rosenkranz berichtet: „ D e r universelle Bildungstrieb der Stadt ist auch w o h l der Grund, daß die Königsberger Dozenten sich i n ihrer Darstellung durch Popularität i m edelsten Sinne des Wortes hervortun. Der Pedantismus, m i t der Würde des Professors i n stirnrunzelnder Feierlichkeit zu kokettieren, kann i n unserem ernsten, eben deshalb aber wirklich heiteren Königsberg nicht aufkommen . . . . . . Die Dozenten sind bei uns, ohne aus dem Schoß des akademischen Lebens zu sehr herauszugehen, vielfach veranlaßt, sich als Mitglieder gelehrter Gesellschaften, als Prediger oder auch aus reiner Mitteilungslust dem nichtakademischen, selbst einem aus Frauen und Männern gemischten Publikum aufzuschließen und sich dadurch den T a k t der echten Popularität anzueignen."

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Helmut Motekat Es w a r nur natürlich, daß v o n einer fast ausschließlich aus Wissenschaftlern zusammengesetzten geistigen Führungsgruppe alle geistigen Probleme — auch die normalerweise i n die Sphäre des Gemüts und des Gefühls fallenden — vorwiegend wissenschaftlich oder doch wenigstens i n wissenschaftlicher Sehweise erörtert bzw. gelöst wurden. Dazu w a r die Bürgerschaft nach Rosenkranz* Ansicht „bei großer Allseitigkeit der Kulturelemente von einer unerbittlichen Verständigkeit. Die Deutlichkeit der Begriffe, die K l a r heit des Urteils sind eines der ersten Erfordernisse für den Königsberger." Dieses Streben nach Klarheit des Urteils w a r dem Wesen des Königsberger Geistes durch lange T r a d i t i o n eigentümlich. Es ist derselbe Zug dieses Geistes, der auch für die Ausbildung der kritischen Philosophie eines Immanuel K a n t eine der wichtigsten Voraussetzungen bildete. Das derart gleichgerichtete Wesen der führenden Vertreter der geistigen Bewegung, des Charakters der Stadt und der Einstellung ihrer Bürgerschaft war die Ursache dafür, daß die geistige Grundhaltung Königsbergs damals vorherrschend wissenschaftlicher N a t u r war. A l l jene Lebensprobleme, die, aus der Gesamtsituation der Zeit erwachsend, gelöst werden mußten, wurden hier nicht gefühlsmäßig-emotional, sondern wissenschaftlich-rational angefaßt und zur Lösung gebracht. Nicht das Gefühl, sondern der Verstand, dem die Wissenschaften zu Diensten standen, beherrschte das weite Rund des kulturellen und politischen Lebens i n der geistigen Einheit v o n Bürgerschaft und Universität. Dieser vorherrschenden Verständigkeit und Wissenschaftlichkeit der geistigen H a l t u n g w a r dazu eine große Aufgeschlossenheit allen theoretischen und praktischen A n regungen gegenüber eigen, die v o n den Zentren des kulturellen, geistigen und politischen Lebens i n jenen Jahrzehnten so zahlreich ausgingen. Dieser H a l t u n g und ihrem Wesen entsprach es, allen solchen Anregungen, auch den fremdartigsten, m i t Empfänglichkeit entgegenzukommen, sie zu prüfen und zu durchdringen, u m sich dann ein selbständiges U r t e i l zu bilden. Wenn man sich zur Annahme der empfangenen Anregung entschieden hatte, so vermochte man auch das Fremdartigste i m umformenden Spiegel seiner eigenen Gedankenwelt sich zu eigen zu machen. Es wurde i n ostpreußischKönigsberger Auffassung und Prägung Eigentum u n d Neuschöpfung dieses eigenwilligen Geistes. Dieser aus der lokalen Geistestradition und aus der Lage hart an der Grenze des deutschen Kulturgebietes zu begreifende Vorgang hat sich i n den Jahren zwischen 1820 und 1850 immer erneut wiederholt. M a n muß ihn kennen u n d muß wissen, w o seine Wurzeln gründeten, u m das eigenartige

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Königsberg und der dritte Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl geistige A n t l i t z unserer H a u p t - und Residenzstadt Königsberg i n Altpreußen i n jenen Jahren wirklich zu verstehen. Für die geistige Einheit zwischen Universität und Bürgerschaft gibt es unzählige Beispiele aus dieser Zeit. N u r wenige können davon hier erwähnt werden. M i t ihrer durch die Prüfung der politischen Forderungen und Bewegungen an dem unparteiischen U r t e i l der Wissenschaft gemäßigten H a l t u n g beeinflußten die Professoren weitgehend die Herausbildung des gemäßigten altpreußischen Liberalismus. A n dererseits scheuten sie sich keineswegs, politische Forderungen und Ansichten freimütig zu vertreten, wenn sie von deren Rechtmäßigkeit und N o t wendigkeit überzeugt waren. Nichts aber könnte w o h l diese Einheit z w i schen Universität und Bürgerschaft und das Vorhandensein des Gefühls enger gegenseitiger Verbundenheit zwischen beiden überzeugender kennzeichnen als ein Ereignis und eine literarische Tat. M i t dem Ereignis ist die Jubelfeier des 300jährigen Bestehens der AlbertusUniversität i m Sommer 1844 gemeint. Diese Feier wurde, unter einzigartiger Anteilnahme der m i t ihrer aima mater sich verbunden fühlenden gebildeten und bildungswilligen Bürgerschaft aus Stadt und L a n d ein wahres Volksfest. Es w a r jedoch gleichzeitig auch eine Kundgebung des politischen Willens der Königsberger Einwohnerschaft. K a r l Rosenkranz berichtet: „Es war der aufklärungsbegierige Wissensdrang, der politische Liberalismus, die protestantische Frömmigkeit, die akademische burschikose Lebenslust, die bei diesem großartigen Fest hervortraten. Als die Grundsteinlegung [des neuen Hauptgebäudes auf dem ,Königsgarten', dem späteren ,Paradeplatz'] beendet war, entblößten sich die Tausende und Tausende von Köpfen, m i t denen der weite Raum des Königsgartens bedeckt war, und sangen: „ , N u n danket alle Gott', was auf mich einen Eindruck machte, wie ich i h n nie erlebte, seit die Preußen i n meine Vaterstadt Magdeburg wieder einzogen." M i t der literarischen T a t aber sind die „Königsberger Skizzen" des Professors der Philosophie, K a r l Rosenkranz (erschienen 1842), gemeint, jene einzigartige Darstellung des städtischen und bürgerlichen Lebens und des Wesens der Stadt überhaupt i n ihren vielfältigen Formen und Erscheinungen unter Einschluß aller gesellschaftlichen Schichten. Der Philosoph K a r l Rosenkranz, damals einer der bedeutendsten Köpfe der Albertina, veröffentlichte i n seinen „Königsberger Skizzen" die Ergebnisse seiner i n langen Jahren liebevoller und stiller Beobachtung gesammelten Eindrücke und Erfahrungen von der Stadt u n d ihren Bewohnern, ihren Sitten, Tugenden und Untugenden, v o n der Bewohner Wesen, Lebensgang und Geist.

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Helmut Motekat Die „Königsberger Skizzen" sind als Ganzes ein seltenes und bemerkenswertes Dokument der engen Verbindung zwischen dem Gelehrten und seiner bürgerlich-städtischen Umgebung. Sie kennzeichnen nicht nur die immer wieder zu bemerkende Liebe des Verfassers zu seiner Wahlheimat, zu seinem „Pregelathen m i t seinen schiefgebauten Gassen", sondern das i n der genauen Kenntnis des Alltagslebens der Bürgerschaft deutlich spürbare Interesse des Universitätslehrers — u n d er stand damit durchaus nicht allein i m Lehrkörper! — an allen Nöten, Sorgen und Bestrebungen der Bürger. „ I c h werfe w o h l i m Vorübergehen einen Blick i n eure Stuben, ich kenne in den meisten Quartieren der Stadt den gestickten Wandkorb, die Pendule, die Blumenvase, den Nähtisch, das Familienporträt am Fenster; ich kenne die stereotypen Physiognomien an denselben: ich sehe jeden neuen Laden ausbrechen, ein neues Schild befestigen, eine neue Tünche des Hauses vornehmen. U n w i l l k ü r l i c h spiegelt sich das alles i n m i r ab. Ich beobachte die Trachten, die Sprechweisen. W o Zank und Schlägerei sich munter äußern, verlangsame ich meinen Schritt, stehe auch w o h l still, dem Drama der Affekte und ihrer Rhetorik zu lauschen." W i l l man sich einen wirklich unmittelbaren Eindruck v o m Leben und Treiben der Königsberger Bürgerschaft zwischen 1830 und 1850 verschaffen, so stellen Rosenkranz' „Königsberger Skizzen" eine wahre Fundgrube an interessanten Einzelheiten dar. Wenngleich nicht i n derartig gezeigter enger Verbindung m i t dem Volksleben wie bei Rosenkranz, aber doch i n steter Berührung m i t ihm, waren außerdem an der Formung des Geistes Königsberg beteiligt: der Philosoph und Sprecher der Albertina, Christian August Lobeck, der Mediziner C. F. Burdach, der Botaniker Ernst Heinrich Fr. Meyer, der Historiker Johann Voigt, der spätere erste Professor der Kunstgeschichte an der Universität, Ernst August Hagen, der liberale Theologieprofessor Caesar Lengerke, der Altphilologe K a r l Lehrs, der idealistische Schriftsteller und Literaturkritiker Alexander Jung und, etwas abseits von ihnen stehend, der vorübergehend dienstlich i n Danzig und Königsberg weilende Joseph v o n Eichendorff. Neben ihnen die große Z a h l der i n der Stille wirkenden, deshalb aber nicht weniger bedeutenden Fachgelehrten, deren Wirkungen i m einzelnen heute nicht mehr eindeutig nachgewiesen werden können, weil das Belegmaterial ausnahmslos vernichtet oder doch unzulänglich geworden ist. Die bedeutenden Vertreter des Königsberger Geisteslebens aber waren fast ausnahmslos entweder durch persönliche Freundschaft oder aber durch Hochachtung und Verehrung m i t der Persönlichkeit verbunden, die w i r k l i c h den

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M i t t e l p u n k t dieses Lebens i n jeglicher Hinsicht ausmachte: dem Oberpräsidenten Theodor v o n Schön. Es ist hier nicht der Platz, seiner großartigen Verdienste u m die Wirtschaftsentwicklung und K u l t u r Ost- und Westpreußens zu gedenken. Es soll lediglich die Rolle angedeutet werden, die er i m geistigen Leben Ostpreußens i n jenen Jahrzehnten einnahm. Seit seiner Entlassung 1842 lebte er auf seinem Gute Preußisch-Arnau bei Königsberg. Der eigentliche Geist des Königsberger und des altpreußischen Lebens überhaupt ist ohne i h n gar nicht zu begreifen. T r a t er gleich — außer i n der P o l i t i k — nicht selbst m i t Schriften an die Öffentlichkeit, so war er doch, obwohl altersmäßig bereits der vorhergehenden Generation zugehörig, gerade um die Jahrhundertmitte, Anreger und Beweger, Förderer und Lenker des Lebens und der Entwicklung seiner Provinz, an deren Spitze er so lange gestanden hatte. Schön w a r Politiker und Staatsmann. Daß gerade er das geistige Leben Königsbergs bestimmend lenkte, ist Zeugnis für das durchgehend starke politische Interesse der Königsberger i n jener Epoche. Er war aber zugleich Repräsentant der Bildungselemente einer vergangenen Epoche und als solcher i n gerade deswegen so zeitzugewandter Einstellung Vertreter jener Königsberger Geisteshaltung, die m i t Erfolg bemüht war, die Werte der vergangenen Epoche i n der neuen zu fruchtbarer W i r k u n g zu bringen. Er w a r wirklichkeitsnaher Praktiker und doch zugleich Idealist i m besten Sinne. Auch darin entsprach seine Persönlichkeit dem Geiste dieser Stadt i n dieser Zeit. Theodor von Schön w a r einer der bedeutendsten Mitarbeiter des Freiherrn v o n Stein gewesen, und bis i n seine letzten Jahre hinein w a r er beseelt von einem unbedingten Glauben an den endlichen Sieg des Fortschrittsgedankens, dem auch der Geist der Stadt ergeben war. Über all seinen anderen Leistungen steht uns heute die eine: die Wiederherstellung der Marienburg, die i h m zu der Herzensangelegenheit wurde, für die er weder Mühe noch Opfer scheute und i n der sich seine romantischen Ideale verbanden m i t jenem Sinn für die Erfordernisse der Wirklichkeit, der das große Werk unter tätiger Anteilnahme Eichendorffs und Schinkels nicht nur, sondern der ganzen Provinz m i t all ihren Ständen und allen sozialen Schichten gelingen ließ. Theodor von Schöns markante Persönlichkeit darf als Symbol des Geistes seiner Stadt und seines Landes u m die M i t t e des 19. Jahrhunderts gelten. Neben ihm, dem Politiker u n d idealistischen Praktiker, stand aber vor allem der Gelehrte, von dem schon so oft die Rede w a r : K a r l Rosenkranz. Ich darf zusammenfassend wiederholen: Er w a r der Herausgeber der ersten großen Hegel-Ausgabe für die er die erste ausführliche deutsche Biographie

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Helmut Motekat Hegels (1844) schrieb. V o n i h m stammt die erste w i r k l i c h brauchbare Geschichte der Philosophie Kants (sie entstand i m Zusammenhang m i t der Kant-Ausgabe, die er gemeinsam m i t Schuberth 1840 herausgab). Rosenkranz aber schuf auch — das sei hier v o r allem hervorgehoben — die erste große deutsche Goethe-Biographie. Unter dem T i t e l „Goethe und seine Werke" gab er dieses heute noch bedeutende Werk 1847 heraus. Es w a r das überarbeitete Manuskript einer öffentlichen Vorlesung, die Rosenkranz unter großer Teilnahme der Bevölkerung gehalten hatte. Wenn etwas als Zeugnis für die geistige H a l t u n g der Königsberger Bürgerschaft und der B i l dungseinheit Bürgerschaft und Universität gelten darf, dann ist es der Bericht Rosenkranz' über diese Vorlesung und ihre Atmosphäre: „Meine Zuhörer — nicht nur die Studenten, sondern Männer aus allen Ständen — waren so fleißig, so aufmerksam, daß ich ihnen einen wesentlichen A n t e i l an der Produktion schulde. Ich b i n es zwar gewohnt, zu Massen zu sprechen allein diesmal durchflammte Göthes Genius das A u d i t o r i u m m i t elektrischer Spannung und entzündete uns gegenseitig. W i r wurden immer wärmer m i t einander u n d vergaßen die Stallaternen, m i t denen w i r zuerst die düsteren Räume eines großen, niedrigen Auditoriums spärlich erhellten; vergaßen den Modergeruch der v o n Nässe triefenden Wände, vergaßen die Kälte, die uns zwang, uns i n unsere Mäntel zu hüllen, und die mir zuweilen die Wangen und Lippen erstarren machte. Mitunter, wenn ein O r k a n raste oder das Schneegestöber kaum einige Schritte weit sehen ließ, zweifelte ich, zum Albertinum gehend, ob ich jemand finden würde. Aber siehe, sie waren da, die Getreuen, und über Göthe vergaßen w i r der Barberei des Wetters." Die „ H a u p t - und Residenzstadt Königsberg" und die Albertus-Universität sind nicht mehr. — Was die Stadt, das Land, ihre Bürger i n 700 Jahren deutscher Geschichte gewirkt und geleistet haben, kann nicht spurlos vergehen: Es w i r k t weiter. W i r haben einen kurzen Blick i n eine sonst von der Geschichtsschreibung wenig beachtete Epoche, die mittleren Dezennien des 19. Jahrhunderts, geworfen. Was er uns zeigt, ist das B i l d einer Bürgerschaft und einer Universität, die i n gemeinsamem Fortschrittswillen Leistungen vollbrachten, die uns m i t Erstaunen und Hochachtung erfüllen. W i r haben Grund, uns i n D a n k barkeit und Stolz unserer aima mater Albertina und unserer Stadt zu erinnern. Solche Dankbarkeit und solcher Stolz umschließen als Drittes die Verpflichtung, Geleistetes zu bewahren und es weiterzutragen. U n d ich möchte zum Schluß festhalten, daß sich K a r l Rosenkranz und seine Zeitgenossen

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Königsberg und der dritte

Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl

unter veränderten Verhältnissen und Lebensbedingungen so verhielten. Sie bewahrten und setzten fort, was K a n t vertreten hatte. Auch sie versuchten, unter ihren Voraussetzungen und zeitbedingten Gegebenheiten das zu erkennen und zu verwirklichen und zu lehren, was K a n t als das Wichtigste für den Menschen bezeichnete. I n seiner Formulierung w a r es das Wissen darum, „was einer sein müsse, u m ein Mensch zu sein."

Anmerkungen Wörtliche

Zitate aus:

Rosenkranz y Karl: Königsberger Skizzen. 2 Bände, Danzig 1842. — Derselbe: Göthe und seine Werke, Königsberg 1847. — Derselbe: Aus einem Tagebuch. Leipzig 1854. — Jung, Alexander: Königsberg und die Königsberger. Leipzig 1846. Literatur

zum Thema:

Goldstein, Ludwig: Hundert Jahre Börsenhalle Königsberg in Preußen. Aus der Geschichte einer Königsberger Gesellschaft. Königsberg 1930. — von Seile, Götz: Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Königsberg 1944. 2. Aufl., Würzburg 1956. — Motekat, Helmut: Karl Rosenkranz und sein Goethebuch. in: Un dialogue des Nations. Festschrift für Albert Fuchs. Paris und München 1967. — Derselbe: Ostpreußische Literaturgeschichte. München 1977.

ARNOLD SCHÜTZ K Ö N I G S B E R G I N D E R M Ä R Z R E V O L U T I O N V O N 1848

I n der ersten H ä l f t e des neunzehnten Jahrhunderts, zur Zeit allgemeiner Reaktion, hatte sich die Provinz Preußen einen Namen gemacht als Hochburg des Liberalismus. Die Wirtschaftstheorien v o n A d a m Smith, vertreten durch den Königsberger Professor Christian Jakob Kraus, verbunden m i t der Kantischen T r a d i t i o n und der Erinnerung an die Preußische Reformzeit hatten sowohl i m städtischen Bürgertum als auch i m Landadel das politische Interesse geweckt und eine fortschrittliche Gesinnung geschaffen. 1 Besonders rege wurde das öffentliche Leben der Provinz m i t der Thronbesteigung Friedrich W i l h e l m I V . Der Huldigungslandtag von 1840 ebenso wie die 300-Jahr-Feier der Königsberger Albertus-Universität wurden benutzt, v o m neuen K ö n i g Verfassung und Volksrepresentation zu verlangen. 2 Oberpräsident Theodor v o n Schön, selbst Schüler v o n K a n t wie auch Kraus, unterstützte die politischen Forderungen m i t seiner Schrift „Woher und W o h i n ? " 3 Der Königsberger A r z t Johann Jacoby schließlich ließ ganz Deutschland aufhorchen, als er i n seinen „ V i e r Fragen — Beantwortung von einem Ostpreußen" m i t scharfer Logik das Recht der Bürger auf Verfassung und parlamentarische Vertretung bewies. 4 A l l das erkämpfte nicht das Verlangte. Königliche Repressalien folgten. Doch die Königsberger, einmal erwacht, ließen sich keine politische Enthaltsamkeit aufzwingen. I n den vierziger Jahren organisierten sie sich i n politischen und literarischen Klubs und Diskussionsgruppen, die das öffentliche Interesse wachhielten: der „Königsber-

1 Friedrich C. Seil, Die Tragödie des deutschen Liberalismus (Stuttgart 1953), S. 138—39. Robert Stein, Die Umwandlung der Agrarverfassung Ostpreußens durch die Reform des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. I I (Königsberg 1933), S. 75—76. 2 August Witt, Die feierliche Erbhuldigung (1840). Ders., Die dritte Jubel-Feier der Albertus-Universität zu Königsberg (Königsberg 1844), S. 53—82. Ludwig Metzel, Die dritte Säkularfeier der Universität zu Königsberg (Königsberg 1844), passim. 3 Theodor von Schön, Woher und Wohin? Abgedruckt in Theodor von Schön, Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön, Teil 2 Band I I I (Berlin 1876), S. 230—39. 4 Johann Jacoby, Vier Fragen — Beantwortet von einem Ostpreußen (Königsberg 1841), abgedruckt in Johann Jacoby, Gesammelte Schriften und Reden, 2 Bde. (Hamburg 1877), Bd. I , S. 116—47.

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Arnold Schütz ger allgemeinen Bürgergesellschaft", den Versammlungen i m Böttchershöfdien, und schließlich dem „Verein der städtischen Ressource". 5 Keine Diskussionen und Flugblätter erreichten, was die Macht des Geldes erzwang. Der K ö n i g mußte Kredite aufnehmen. Einem Versprechen seines Vaters gemäß konnte er das nur m i t Genehmigung einer Volksvertretung. So kam es zur Berufung des Ersten Vereinigten Landtags v o n 1847. Ostpreußens Abgeordnete weigerten sich jedoch, dieses Ersatzparlament als wahren Vertreter des Volkswillens anzuerkennen. D a m i t torpedierten sie den Bau der Ostbahn, einer wirtschaftlich bedeutenden Verbindung der Provinz m i t den westlichen Teilen der Monarchie. Doch waren sie nicht geneigt, ihre politische Überzeugung materiellen Interessen zu opfern. Unberührt von der Berufung des Vereinigten Landtags erklang der R u f nach Verfassung und Volksvertretung weiter in der Provinz und i n der gesamten Monarchie. 6 Zusätzlich zu dem Verlangen nach politischen Reformen wurde Preußen um die Jahrhundertmitte von schweren sozialen Problemen heimgesucht. Strenge Winter und nasse Sommer hatten seit 1844 Kartoffelfäule und schlechte Getreideernten gebracht und die Wirtschaft an den Rand des Ruins getrieben. Wie immer litten die Ärmsten am meisten unter der N o t . Während die L i beralen i m Vereinigten Landtag noch um politische Rechte kämpften, ging das hungerleidende Proletariat i n Berlin auf die Straße und randalierte. Die Nachricht v o n den Krawallen i n Berlin erweckte Furcht vor ähnlichen U n ruhen i n Königsberg. Doch die Tumulte blieben aus. I n Berlin w a r f M i l i t ä r die Demonstranten nieder, wie es die streikenden Weber zuvor i n Schlesien niedergeworfen hatte. Die Ursache der Unruhen war nicht behoben. 7 5

Ferdinand Falkson, Die liberale Bewegung in Königsberg 1840—48 — Memoirenblätter (Breslau 1888), S. 109—21. Wilhelm Matull, „Anfänge der Arbeiterbewegung in Ostpreußen", Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Bd. X I V (1964), S. 222. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 3. Aufl. (Leipzig 1895), Bd. V, S. 603. Alexander Jung, „Königsberg", Die Gegenwart, Bd. I V (Leipzig 1849), S. 480 bis 496. Robert Blum und Friedrich Stieger, Vorwärts! Volks-Taschenbuch für das Jahr 1846 (Leipzig 1846), S. 117—40. Peter Schuppan, Johann Jacoby und seine politische Wirksamkeit innerhalb der bürgerlich-demokratischen Bewegung im Vormärz — 1830—1846 (Philos. Diss. Berlin 1963), S. 297—333. Edmund Silberner, „Johann Jacoby 1843—1846 — Beitrag zur Geschichte des Vormärz", International Review of Social History (1969), S. 380—97. Karl Rosenkranz, Königsberger Skizzen, Bd. I I (Danzig 1842), S. 209. Ludwig Salomon, Geschichte des deutschen Zeitungswesens von den Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches, Bd. I (Oldenburg 1906), S. 348.

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[Wilhelm Rüstow], „Die politischen Parteien in Königsberg und der vereinigte Landtag", Unsere Gegenwart und Zukunft, Hg. Karl Biedermann, Bd. V I I I (Leipzig 1847), S. 292—95; Rüstow bestreitet die wirtschaftliche Bedeutung der Bahn für Ostpreußen. Treitschke, Deutsche Geschichte, Bd. V, S. 624—27. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I (Stuttgart 1960), S. 496—97.

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I n diese von sozialen Spannungen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und politischen Forderungen der Liberalen erfüllte Atmosphäre schlug die Nachricht v o n der Februarrevolution 1848 i n Paris ein. Sie spornte überall i n Deutschland zu vermehrten Reformforderungen an. A b dem 6. März erlebte Berlin Volksversammlungen, Petitionen und Demonstrationen, die zu Zusammenstößen m i t Polizei und M i l i t ä r führten und i n den Barrikadenkämpfen des 18. M ä r z gipfelten. 8 Das durch soziale Mißstände radikalisierte Proletariat der Hauptstadt erstritt sich i n blutigen Zusammenstößen m i t der Militärmacht des Hohenzollernreiches das Recht zum Zusammentritt einer preußischen Nationalversammlung u n d zur Beteiligung am deutschen Einigungswerk. Während i n Berlin Bürgerkrieg herrschte, blieb Königsberg relativ ruhig. Die Nachricht v o m Sturz Louis Philippes i n Paris konnte auch an der Pregel nicht wirkungslos bleiben. Besonders eine kleine Gruppe v o n Königsberger „Radikalen" — die den aktivsten, politisch erfahrensten, artikuliertesten Teil des Liberalismus ausmachten — drängte zu Taten. Ihre Führer waren Julius Rupp, Prediger der freireligiösen Gemeinde, und Johann Jacoby, A u t o r beißender Streitschriften gegen den preußischen Konservativismus und gefeiertes Objekt zahlreicher staatlicher Verfolgungen. Der Schauplatz ihrer Tätigkeit war anfangs das Treffen der traditionellen Ressource-Versammlungen. Die Ressource traf sich zum ersten M a l nach Bekanntwerden der Pariser Februarereignisse am Montag, dem 6. März. Schon vor diesem D a t u m hatten einige westliche deutsche Städte m i t Volksversammlungen und Petitionen auf die politische Frühlingswitterung reagiert. Königsberg wußte davon und jubelte. A u f Vorschlag Rupps wurde ebenfalls eine Petition m i t den üblichen Forderungen der Märztage verabschiedet. Sie verlangte eine wahre Volksvertretung für das Königreich, eine deutsche Nationalversammlung, und Pressefreiheit. Die Petition, v o n Rupp, Jacoby u n d Dinter entworfen, kann trotz des radikalen Rufs v o n Rupp und Jacoby nicht als zu weitgehend bezeichnet werden. Dennoch erregte sie Ärger bei der Obrigkeit. Die 7

Rüstow, „Parteien in Königsberg", S. 306. Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49, Bd. I (Berlin 1930), S. 58—59 und 83—84. Theodore S. Hamerow, Restoration, Revolution, Reaction: Economics and Politics in Germany 1815—1871 (Princeton 1958), S. 75—87 und 93. Robert Stein, Agrarverfassung Ostpreußens, Bd. I I I , S. 403 und 473—74. Matull, „Arbeiterbewegung in Ostpreußen", S. 222. Rüstow, „Parteien in Königsberg", S. 306. Elisabeth Todt und Hans Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1800—1849 (Berlin 1950), S. 21—30. 8 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I I , S. 572—73. Valentin, Revolution von 1848—49, Bd. I , S. 416—51. Robert Springer, Berlins Straßen, Kneipen und Clubs im Jahre 1848 (Berlin 1850).

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Arnold Schütz Behörden überlegten sich, die Ressource aufzulösen und die Urheber der Petition nebst einem weiteren stadtbekannten Radikalen, dem Schriftsteller L u d w i g Walesrode, zu verhaften. Doch begnügten sie sich vorerst damit, die Vorsitzenden, Bürgermeister Sperling und den A r z t Raphael Jakob Kosch, wegen des Vorfalls zu verhören. 9 Die nächste Sitzung der Ressource fand eine Woche später statt, am 13. März. Inzwischen w a r die Stimmung sowohl i m L a n d als auch i n der Stadt erheblich gespannter. Friedrich W i l h e l m I V . hatte unter dem Druck der öffentlichen Versammlungen und Adressen endlich periodische Sitzungen des Vereinigten Landtags genehmigt. Es war ein Zugeständnis, das noch vor kurzem Dankbarkeit erweckt hätte. Jetzt ermutigte es nur zu neuen Forderungen. So ist die Erregung der Königsberger bei der nächsten Sitzung der Ressource nur zu verständlich. Die Erregung wurde Empörung, als man erfuhr, die Sitzungsvorsitzenden seien wegen des Treffens v o r einer Woche polizeilich vernommen und aufgefordert worden, politische Diskussionen i n der Ressource k ü n f t i g zu unterlassen. Eine Anzahl von Rednern wandte sich sofort gegen solche politische Abstinenz. Sie wurden angefeuert und umjubelt von der Menge i m Saal und v o n einigen hundert Studenten, die aus Raummangel keinen Einlaß gefunden hatten. Die Studenten riefen deshalb ihre Helden, Rupp und Jacoby, aus dem Saal und brachten ihnen ein Vivat.10 Nach Ende des Treffens gegen 9 U h r abends löste sich die Menge nicht auf, sondern marschierte durch die Straßen der Stadt. A m Büro des verhaßten Polizeipräsidenten Lauterbach — der die Bürgerversammlung v o r einigen Jahren schon einmal aufgelöst hatte und den man gleicher Ideen auch jetzt verdächtigte — wurden einige Fensterscheiben eingeworfen, „ganz wider Sinn und Absicht der Führer der liberalen Partei", wie der Königsberger A r z t und liberale Politiker Ferdinand Falkson bedauern bemerkt. 1 1 D a n n 9 Fritz Gause, Die Geschickte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. I I (Köln 1968), S. 537. Edmund Silberner, „Johann Jacoby in der Revolution von 1848/49", Archiv für Sozialgeschichte, Bd. X (1970), S. 164. Valentin, Revolution von 1848—49., Bd. I , S. 417. Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 146. Jung, „Königsberg", S. 498—99. 10 Jung, „Königsberg", S. 498—99. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 164—65. H Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 146—47. Das Memelsdie Wochenblatt vom 15. 3. 1848 beschuldigt „böswillige Menschen" der Urheberschaft dieser Vorgänge. Sie hätten in den „Schnapskneipen der Proletarier . . . Geld an die Gäste verteilt und sie ermahnt, bei der Hand zu sein, es würde nächstens losgehen wie in Paris. . . . Friedliche Bürger begaben sich schnellstens in ihre Wohnungen und befestigten Türen und Schlösser." Diese Darstellung ist kritiklos abgedruckt in Wilhelm Matull, Ostpreußens Arbeiterbewegung — Geschichte und Leistung im Oberblick, Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis, Bd. 49 (Würzburg 1970), S. 9.

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schritt die Obrigkeit ein. Fünfzehn Kürassiere, später unterstützt von I n fanterie, griffen „ohne Zögern . . . den i n der engen Junkerstraße dicht gedrängten Haufen v o n etwa drei- bis vierhundert Tumulanten entschieden an, trieben ihn m i t Säbelhieben auseinander und nahmen . . . gegen vierzig Unruhestifter gefangen, so daß i n Zeit von einer Stunde die Sache beendet w a r " . 1 2 Das war der erste und einzige blutige Zusammenstoß Königsberger Oppositioneller m i t der Regierungsgewalt, v o n kleinen Straßenkrawallen abgesehen. Verglichen m i t Berlin w a r er unbedeutend. Keine Toten waren zu beklagen. Es gab nur wenige Verletzte. Doch der Einsatz brutaler Gew a l t , die Hilflosigkeit gegen diese Gewalt hinterließ lang anhaltendes M i ß trauen, ja H a ß unter den Bürgern, wie selbst das M i l i t ä r bekannte. 13 A m Nachmittag nach diesem Zusammenstoß, dem 14. März, beschlossen die Stadtverordneten, daß die städtischen Behörden sich sofort beim Oberpräsidenten darum bemühen sollten, die über 4000 M a n n Garnison aus Königsberg abzuziehen und zum Schutz der Bevölkerung eine Bürgergarde aufzustellen. Die Stadtverordneten ernannten ferner eine Kommission, die Beschwerden gegen Ubergriffe des Militärs entgegennehmen und Pläne für eine Bürgerbewaffnung ausarbeiten sollte. Sie bereiteten gleichfalls eine städtische Petition an den K ö n i g vor. Doch die ostpreußischen Oppositionellen waren nicht mehr bereit, sich ausschließlich auf den guten W i l l e n von Regierung und Verwaltung zu verlassen. A m 15. M ä r z trafen sich etwa 80 Vertreter aus verschiedenen Kreisen Ost- und Westpreußens i n der Landeshauptstadt, „ u m für den Fall, daß der K ö n i g die gerechten Forderungen des Volkes nicht gewähre, oder gar russische H i l f e herbeirufe, die geeignetsten Maßregeln" zu beraten. Bei königlichem Widerstand sollten je zwei Männer des öffentlichen Vertrauens aus jedem Kreis nach Königsberg entsandt werden, u m eine Volkskommission für die Provinz Preußen — ein revolutionäres Parlament also — zu bilden. 1 4 Die Tagung der ostpreußischen Deputierten v o m 15. März nahm eine v o n Jacoby entworfene Adresse an den K ö n i g an. Sie verlangte, daß M i l i t ä r 12 Bericht des Obersten von Dannhauer, Stabschef des 1. Armeekorps, an General von Krauseneck, Generalstabschef der Armee, abgedruckt in Graf Friedrich zu Dohna, Mittheilungen aus dem Leben des Feldmarschalls Grafen Friedrich zu Dohna (Berlin 1873), S. 128—29. 13 Jung, „Königsberg", S. 498—500. Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 147. 14 Jacoby an Adam von Itzstein, Königsberg, 15. März 1848, Abschrift im Deutschen Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt, Nachlaßabteilung Ν 114. Die Hervorhebung im Brief ist von Jacoby. Die Jacoby-Briefe des Frankfurter Bundesarchivs sind eingeleitet und ediert in Peter Schuppan, „Aus dem Briefwechsel Johann Jacobys in den Jahren 1848/49", Jahrbuch für Geschidite, Bd. V (1971), S. 343—77. Jung, „Königsberg", S. 500.

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Arnold Schütz nie wieder gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werde. Eine Bürgergarde solle zum Schutz öffentlicher Veranstaltungen aufgestellt werden. Die Adresse forderte weiterhin die Berufung einer preußischen Nationalversammlung, Aufnahme der Provinz Preußen i n den Deutschen Bund m i t Vertretung i n einem deutschen Parlament, und die Lossagung Preußens v o m russischen Bündnis. Das letztere hatte wenige Tage zuvor am 11. März eine Elbinger Petition ebenfalls verlangt. 1 5 Die enge Verbindung zwischen den konservativen Romanows und den m i t ihnen verschwägerten Hohenzollern gab i n den Märztagen i n Ostpreußen Anlaß zur Besorgnis. M a n fürchtete, Zar Nikolaus I . werde versuchen, Friedrich W i l h e l m I V . m i t Truppen bei der Verteidigung seines konservativen Regimes behilflich zu sein. Gerüchte wußten schon von einem großen russischen Heer entlang der Grenze. D a die russischen Uniformen grün waren, meinten die Königsberger, der Frühling komme diesmal v o n der N e w a . 1 6 Das Mißtrauen gegen Rußland war einer der Gründe, w a r u m Ostpreußens Liberale — wie der alte Oberpräsident Theodor von Schön vor ihnen — eine Bewaffnung der Bürger forderten. Die Liberalen forderten außerdem wiederholt, das M i l i t ä r zum Schutz der Provinz an die Grenze zu verlegen. Konservative hingegen behaupteten, unloyale Elemente verbreiteten boshaft das Gerücht einer Gefahr v o n Rußland, um die loyalen T r u p pen aus Königsberg zu entfernen und freie H a n d für die Revolution zu haben. 17 Doch w a r die Furcht und Abneigung gegen den östlichen Nachbarn nichts Neues i n der Provinz. Sie hatte außer dem ideologischen auch einen materiellen Grund: die russische Grenzsperre, seit 1821 i n K r a f t , schadete dem ostpreußischen Durchgangshandel und verbitterte die Bürger. 18 Die Furcht v o r einer möglichen russischen Einmischung verursachte einen Vorfall, der zeigt, welche revolutionäre Spannung die Königsberger damals beherrschte. Wegen der Unruhen i m gesamten L a n d w a r der regelmäßige Postverkehr m i t Berlin unterbrochen. Spekulationen über eine wichtige Entscheidung i n der Hauptstadt kursierten. Dann, am Morgen des 21. März kam die Kunde von den Berliner Barrikadenkämpfen des 18. und 19., die den Hohenzollern-Absolutismus gebrochen hatten. Doch fürchtete man immer noch, Friedrich W i l h e l m I V . werde seinen russischen Schwager u m H i l f e 15

Jung, „Königsberg", S. 500. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 165. Reinhard Adam, Die Provinz Preußen und preußisch-deutsche Politik von 1840—1858 (Philos. Diss. Königsberg 1923), S. 105. 16 Jung, „Königsberg", S. 500. 17 Dannhauer in Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 133—34. Reinhard Adam, Die Provinz Preußen 1848—1858, S. 105.

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gegen die heimischen Gegner anrufen. D a wurde bekannt, daß ein Bote m i t einer Depesche von Berlin nach St. Petersburg i n Königsberg H a l t gemacht habe. Offenbar fürchtete man das Schlimmste. Eilig bildete sich eine Volksdeputation, darunter Jacoby und Kaufmann Malmros, die v o n Postdirektor Pfitzer die Auslieferung der Depesche verlangte. Doch der Kurier w a r bereits weitergereist. Sofort setzten zwei Bürger — einer w a r der Lehrer am kneiphöfischen Gymnasium, Friedrich August W i t t — i h m nach und brachten ihn mitsamt der Depesche nach Königsberg zurück. Bote und Botschaft wurden nach weiterer Nachricht aus Berlin jedoch freigegeben, ohne daß jemand ihren I n h a l t erfuhr. Die Depesche soll angeblidi Modetips und Spitzenproben für eine russische Fürstin enthalten haben. 19 Die Sorge, Friedrich W i l h e l m I V . könne entweder russisches oder eigenes M i l i t ä r gegen die Revolution einsetzen, blieb auch nach der Depeschenaffäre bestehen. Würde die Abendpost aus Berlin konterrevolutionäre Instruktionen enthalten? U m sich dagegen zu sichern, blieb die erregte Menge v o r dem Postamt, bis die Post eintraf. Jacoby und Malmros verlangten dann v o m Postdirektor die Auslieferung sämtlicher an das Oberpräsidium und an das Generalkommando des Heeres gerichteten Schreiben. Der versammelten Menge versprachen die beiden, die Post nicht eher zurückzugeben, bis sie deren Inhalt, sofern er Angelegenheiten der Provinz beträfe, erfahren hätten. Oberpräsident Bötticher, zu dem sich die beiden m i t einem D r i t t e n — vermutlich Walesrode oder Kaufmann Ballo — sodann begaben, sah sich genötigt, ihrem Wunsch nachzukommen. Er sah die Briefe kurz durch und versicherte ihnen, daß sie nichts bedeutendes enthielten. Darauf erhielt er die elf an das Oberpräsidium gerichteten Briefe ausgehändigt. 20 Anschließend, gegen 10 U h r abends, begaben sich Jacoby und Malmros zum Kommandierenden General Grafen zu Dohna. Wie zuvor bei Bötticher versuchten sie auch hier wieder die Briefe gegen Information einzutauschen. Doch diesmal waren sie weniger erfolgreich. Gleich anfangs entwickelte sich anscheinend ein Wortwechsel. Dohna behauptet gehört zu haben, sie hätten die Briefe nicht von Pfitzer erhalten, sondern sie sich unberechtigter Weise selbst angeeignet. Jacoby entgegnete darauf, daß die gesetzliche Ordnung, 19 Richard Armstedt, Gesdiichte der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Königsberg in Preußen (Stuttgart 1899), S. 308. Jung, „Königsberg", S. 501—502. Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 130—31. Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 148—49. Gause, Geschichte der Stadt Königsberg, Bd. I I , S. 529. W. Piersig, Mysterien der Berliner Demokratie — Ein Beitrag zur Aufhebung des Belagerungszustandes und zur Reorganisation der Bürgerwehr (Berlin 1849), S. 91. 20 Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 131 und 241.

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Arnold Schütz wie Dohna aus Berlin bekannt sei, aufgehört habe, und sich daher eine solch ungewöhnliche Verhaltensweise rechtfertige. A u f das Verlangen der beiden selbsternannten Vertreter der Bürgerschaft hin, ihnen den I n h a l t der Briefe bekanntzugeben, erwiderte der General, er werde ihnen keine Silbe mitteilen. Sie könnten i h m entweder die Briefe geben oder es sein lassen. Er weigerte sich auch zu versprechen, m i t seinen Truppen nie gegen die Bevölkerung einzuschreiten, wie es Jacoby von i h m erbat. Malmros wurde bei dem Treffen wegen Dohnas befehlenden Tons offensichtlich erregt. Z u m Schluß suchte Jacoby sein und Malmros* Verhalten damit zu entschuldigen, daß sie versucht hätten, die Aufregung der Bürger zu dämpfen, nicht zu vermehren, daß sie aber durch Versprechen gebunden seien, die Post nur auszuhändigen, wenn sie deren I n h a l t erführen. D a Dohna dazu nicht bereit sei, w o l l ten sie die Briefe nun dem Magistrat übergeben. 21 Beim Gespräch zwischen Jacoby, Malmros und Dohna waren noch drei weitere Zeugen — Militärs wie Dohna — anwesend. Gleichzeitig warteten etwa dreißig Begleiter v o n Jacoby und Malmros vor Dohnas Residenz. Einige trugen Armbinden, die sie — wie Malmros — als Mitglieder der neugebildeten Bürgergarde designierten. Dohna erfuhr v o n ihrer Anwesenheit erst nach der Unterredung. 2 2 Später am Abend hatte Dohna nochmals Besuch. Kaufmann Warschauer und Stadtrat Funke überbrachten i h m i m Namen des Magistrats die Post, die Jacoby und Malmros wie versprochen beim Magistrat abgeliefert hatten. Es waren insgesamt zehn Briefe, darunter zwei königliche Kabinettsorder. Allesamt waren wohlversiegelt. Die beiden Boten sprachen i m Namen des Magistrats ihre Entrüstung über Jacobys und Malmros' eigenmächtiges Verhalten aus. Eine zweite Deputation des Magistrats unter Leitung v o n Stadtrat Hensche folgte kurz später, gleichfalls um die Konfiszierung der Postsendungen zu verurteilen und zu versprechen, ähnliches k ü n f t i g zu verhindern. 2 3 Fünf Tage nach diesem V o r f a l l begab sich Jacoby nochmals zu Graf Dohna. Er bat ihn, sein Auftreten v o m 21. M ä r z m i t der Aufregung zu entschuldigen, welche die Nachricht v o m Blutvergießen i n Berlin verursacht hatte. Er habe Dohna als kommandierenden General — und, wie der Königsberger C a r l Bender erklärt, als die „ eigentliche Spitze der Aristokratie i n Ostpreußen — als Feind, als potentieller Führer der Reaktion betrachtet". I n z w i 21 Ibid., S. 241—44. 22 Ibid., S. 244. 23 Ibid., S. 244—45.

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sehen habe sich die Furcht vor einer militärischen Reaktion erübrigt. Er, Jacoby, sähe seinen I r r t u m v o n v o r fünf Tagen ein und bitte um Verzeihung. Die Versöhnungshand, die Jacoby dem General reichte, wurde i h m aber abgeschlagen. Dohna erklärte, er gäbe nur guten Freunden die H a n d . Doch sei er nicht unversöhnlich und freue sich, daß diese neue Begegnung einen so anderen Charakter als die letzte trage. Wie Jacoby w o h l wisse, habe er, Dohna, sofort nach dem ersten Treffen eine Klage wegen Jacobys Verhalten eingereicht. Jacoby war das jedoch neu. Er betonte sofort, er sei nicht gekommen, die Klage zurücknehmen zu lassen, vielmehr solle sie ihren gesetzlichen Gang nehmen, damit er sich v o l l rechtfertigen könne. „ I c h bitte, mein Benehmen bei diesem V o r f a l l auf die Aufregung des Augenblicks zu schieben," betonte Jacoby nochmals. Sodann beendete er das Treffen, da er verreisen müsse. Er begab sich noch vor Ende des Monats nach Frankfurt, um an den Tagungen des Vorparlaments i n der Paulskirdie teilnehmen zu können. 2 4 Die sorgfältigste Darstellung der Depeschengeschichte stammt aus der Feder des Obersten von Dannhauer, eines Vertrauten Dohnas, der aus seiner Einseitigkeit keinen H e h l macht. Der Oberst verdächtigt Jacoby, die Vorfälle v o m 21. März als Provokation veranstaltet zu haben, um Dohna zum harten Durchgreifen zu veranlassen, das dann wiederum Anlaß zu Tumulten und zu einer revolutionären Situation i n Königsberg geführt hätte. 2 5 Doch ist die Sorge der Bevölkerung vor einem v o m K ö n i g befohlenen Eingreifen der Königsberger Garnison oder die Furcht v o r einer russischen Intervention Grund genug, die Depeschen- und Briefaffäre zu erklären. Schwieriger ist es, Jacobys zweiten Besuch bei Dohna zu deuten. O b w o h l Jacoby zeit seines Lebens auf persönlich korrektes Betragen Wert gelegt hat, ist w o h l auszuschließen, daß er das Bedürfnis hatte, sich bei Dohna aus persönlichen Gründen zu entschuldigen. D a z u hatte er auch keinen A n l a ß : außer die Briefe i m Interesse der Bevölkerung an sich genommen zu haben, hatte er nichts getan. Keiner der Umschläge war gebrochen. Zudem hatte Jacoby keine Illusionen über das Wohlwollen konservativer Aristokraten wie D o h na 2 6 , als daß er befürchtet hätte, i h n fälschlich konterrrevolutionärer Pläne 24

Ibid., S. 245—46. [Carl Bender], „Königsberg und seine Männer", Die Grenzboten, Hg. Gustav Freytag und Julian Schmidt, Bd. V I Teil 4 (1847), S. 73. 25 Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 133. 26 Siehe seine Bemerkungen von 1832 in Gustav Mayer, „Liberales Judentum im Vormärz — Zwei Briefe Johann Jacobys", Der Jude, Hg. Martin Buber, Bd. I (Berlin 1917), S. 674—76. Der gleiche Brief auch in Edmund Silberner, „Zur Jugendbiographie von Johann Jacoby", Archiv für Sozialgeschichte, Bd. I X (1969), S. 32—34; ebenfalls in Reinhard Adam, „Johann Jacobys politischer Werdegang 1805—1840", Historische Zeitschrift, Bd. 143 (1931), S. 70.

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Arnold Schütz verdächtigt zu haben. Doch muß Jacoby offensichtlich daran gelegen haben, einen guten Eindruck auf Dohna zu hinterlassen. So betonte er bei der zweiten Unterredung, daß er es nicht minder redlich meine m i t dem Vaterland wie Dohna selbst. Der Grund kann darin liegen, daß Jacoby nach der königlichen Proklamation v o m 21. März „ A n meine lieben Berliner" und dem Versprechen einer Volksrepräsentation eine sofortige Konterrevolution nicht mehr befürchtete. Vielmehr würde der politische K a m p f i n einem Parlament, hervorgegangen aus Wahlen, weiter ausgetragen werden. Jacoby mag wegen der Affäre v o m 21. März u m seine Wählbarkeit besorgt gewesen sein, da er sich i n den Augen vieler als zu revolutionär entpuppt hatte. Eine A r t Versöhnung m i t Dohna hätte seine Wahlaussichten verbessern können. Nach Meinung von Zeitgenossen und Jacobys eigenen späteren A n deutungen hat i h m die Depeschen- und Briefaffäre i n der Provinz Preußen sehr geschadet.27 Jacoby mußte sich zusammen m i t Malmros gerichtlich wegen der Entwendung von Briefen rechtfertigen — ein Ergebnis von Dohnas Klage. Beide wurden jedoch v ö l l i g freigesprochen. 28 Die Märztage hinterließen außer revolutionären Zusammenstößen und kleineren Ausschreitungen einige permanentere Merkmale i m politischen B i l d der Provinz und ihrer Hauptstadt. Eines davon w a r die Schaffung einer Bürgergarde, ein anderes die Bildung v o n politischen Klubs als Vorläufer von Parteien. Die Forderung nach Aufstellung einer Bürgerwehr war eine der wichtigsten, die i n den Märztagen i m Königreich erscholl. I n Königsberg wurde sie besonders stark erhoben nach den blutigen Zusammenstößen zwischen Bürgern u n d M i l i t ä r i m Anschluß an die Ressourcen Versammlung v o m 13. März. A m folgenden Tag beschlossen die Stadtverordneten sich für die Bildung einer Bürgergarde zum Schutz der Bevölkerung und zur Erhaltung der Ruhe zu bemühen. Erfolg hatten sie keinen. 29 Tags darauf versammelten sich die achtzig Vertreter verschiedener Teile der Provinz zur Beratung i n der Landeshauptstadt. I n ihrer Petition forderten sie gleichfalls die A u f stellung einer Bürgerwehr u n d das Verbot, die regulären Truppen gegen das V o l k einzusetzen. A m 19. März wurde Jacoby nochmals bei Oberpräsident Bötticher vorstellig, damit er i m Interesse von Ruhe und Ordnung, und 27

Die Grenzboten, Bd. V I I (1848), S. 448. Bundesardiiv Frankfurt, Jacoby an Simon [Meyerowitz?], Frankfurt, 12. April 1848. 28 Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 149. Der Hodiverratsprozeß gegen Dr. Johann Jacoby (Königsberg 1849), S. 48. 29 Jung, „Königsberg41, S. 499. Matull, „Arbeiterbewegung in Ostpreußen", S. 223.

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offenbar als Schutz gegen eine russische Invasion die Gründung einer Bürgergarde genehmige. 30 Das Drängen für die Aufstellung einer bürgerlichen M i l i z , überall i m Land, von K ö l n bis Königsberg, zeigt daß die achtundvierziger Revolutionäre vielfach realistischer waren als die übliche Schulbuchschablone vermuten läßt. Vielen von ihnen w a r durchaus bewußt, daß sie so lange nichts erreichen konnten, als die bewaffnete Macht gegen die unbewaffnete stand. „Unsere Regierung . . . hat zu festes Vertrauen auf ihre Bajonette . . . u m bloßen Worten und Demonstrationen zu weichen," bekannte Jacoby M i t t e März seinem Freund und Mitkämpfer A d a m von Itzstein. 3 1 Die Erkenntnis, daß Waffen wichtig seien zum Erfolg, w a r realistisch. Der Versuch, diese Waffen durch Petitionen zu erhalten, w a r es nicht. So schlugen denn alle Versuche zur Bildung einer volkstümlichen Wehr fehl, bis die Berliner Massen sie sich erkämpften. A m Tage nach den Barrikadenkämpfen v o m 18. März versammelte sich eine Menge v o r dem königlichen Schloß, u m die Toten des Vortages zu ehren und Waffen zum künftigen Schutz gegen das M i l i t ä r zu verlangen. N u r Stunden danach erschien die Verordnung zur Aufstellung der Bürgerwehr. Noch am gleichen 19. März wurden Mitglieder der Berliner Schützenvereine m i t Waffen aus dem königlichen Arsenal ausgestattet und als Bürgergarde etabliert. 3 2 Nach diesem Erfolg i n Berlin gaben auch die Königsberger Behörden nach. Die Schlacht für die Errichtung der Garde w a r i n Berlin gewonnen worden. Königsberg und Ostpreußen profitierten v o m Sieg, aber die Provinz half ihn nicht erringen. Sie begnügte sich damit, den Berlinern am 24. März eine Dankadresse zu senden. 33 Als Ergebnis der Berliner Kämpfe erhielt auch Königsberg eine Bürgergarde. Sie wurde ins Leben gerufen am 21. März, am Tag, an dem die Nachricht der Berliner Ereignisse an der Pregel eintraf. Noch einmal mußte an diesem Tag, morgens gegen 9 U h r , eine Deputation von Magistrat und Bürgern, unter ihnen Jacoby, Walesrode und Malmros, beim Oberpräsidenten um die Bildung der Wehr ersuchen, „ z u r M i t w i r k u n g 30 Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 166—67. 31

Bundesarchiv Frankfurt, Jacoby an Adam von Itzstein, Königsberg, 15. März 1848. Adolf Wolff, Berliner Revolutions-Chronik — Darstellung der Berliner Bewegung im Jahre 1848 nach politischen, socialen und literarischen Beziehungen, Bd. I (Berlin 1851), S. 240—46. 33 Matull, „Arbeiterbewegung in Ostpreußen", S. 233. Gause, Köngisberg, Bd. I I , S. 528. Jung, „Königsberg", S. 500. Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 130—31. Julius Lasker und Friedrich Gerard, Des deutschen Volkes Erhebung im Jahre 1848, sein Kampf um freie Institutionen und sein Siegesjubel — Ein Volks- und Erinnerungsbuch für die Mit- und Nachwelt (Danzig 1848), S. 604—605. 32

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Arnold Schütz bei der Aufrechthaltung der Ordnung und zum Schutze des städtischen Eigentums". Die Wehr wurde nun aus 4000 Bürgern, ausgestattet m i t 3000 Seitengewehren, gebildet. Separat v o n der Bürgerwehr errichteten einige Studenten ihre eigene M i l i z , die i m M a i 200 Gewehre erhielt. Sie wurde geleitet v o n Richelot als Vorsteher und Eduard Simson als Stellvertreter. Als Kommandeure der regulären Wehr fungierten ein pensionierter Stabsoffizier und der junge Dichter R u d o l f von Gottschall, der m i t einem v o m Theater geborgten Säbel die Übungen seiner Truppen auf dem Schloßplatz überwachte. 34 Außer der Aufstellung der Volkswehr unternahmen die Königsberger Versuche, die fortschrittlichen K r ä f t e der Stadt politisch zu sammeln und systematisch zu stärken. Dabei konnten die Königsberger teils auf bereits bestehende Verbindungen aus dem Vormärz zurückgreifen, teils wurden neue Gruppen den Erfordernissen gemäß gegründet. Besonders die Aussicht auf Wahlen für eine preußische und eine deutsche Nationalversammlung beschleunigte den Prozeß einer Parteien- und Vereinsbildung. Friedrich W i l h e l m I V . hatte sich lange gesträubt, eine Verfassung und eine Volksvertretung zu genehmigen. Die Märzrevolution überzeugte ihn schließlich, „ f r e i w i l l i g " , wie er betonte, der Einführung dieser Institutionen zuzustimmen. 35 Dennoch versuchte der Monarch verschiedentlich, die Wirksamkeit eines künftigen Parlaments — und Preußens Teilnahme an der deutschen Einigung — zu hintertreiben. Eines der M i t t e l dazu war, daß er A b geordnete für die deutsche Nationalversammlung nicht, wie das Gesetz es vorschrieb, v o m V o l k e wählen sondern am 6. A p r i l v o m Vereinigten Landtag auf Vorschlag der Regierung nominieren ließ. 3 6 Fünf Tage später mußte er die Nominierungen jedoch für ungültig erklären und Neuwahlen ausschreiben. Z u r Vorbereitung der Wahlen bildete sich am 25. A p r i l i n K ö nigsberg der „Konstitutionelle K l u b " . Er bestand meist aus gemäßigten M i t gliedern der alten Ressource, erreichte eine Mitgliederzahl von 400, verlor jedoch i m Laufe des Jahres gegenüber rechten als auch linken Flügelgruppen 34

Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 130—31. Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 530—31. Rudolf von Gottschall, Aus meiner Jugend (Berlin 1898), S. 257. 35 Einer, der ihm glaubt, ist Reinhold Koser, „Friedrich Wilhelm am Vorabend der Märzrevolution", Historische Zeitschrift, Bd. 83 (1899), S. 43—45. 36 Lotte Esaù, „Karl Rosenkranz als Politiker — Studien über den Zusammenhang der geistigen und politischen Bewegung in Ostpreußen", Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse, 12. Jahr, Heft 2 (1935), S. 154. Die Namen der Nominierten in Bernhard-Maria Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten in Frankfurt 1848/49 — Biographische Beiträge zur Geschichte des politischen Lebens in Ostpreußen, Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 6 (Köln 1970), S. 18—20.

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an Boden. 37 E i n Polizeibericht v o m 5. November schreibt i h m nur noch 159 Mitglieder zu. Auch eine Öffnung der Gruppe nach links, symbolisiert durch die Namensänderung i n „Demokratisch-Konstitutioneller K l u b " scheint die Mitgliederzahl nicht erhöht zu haben. Dagegen mag diese Linksöffnung zu einer Abspaltung der Konservativeren geführt haben, die sich zum „ K o n s t i tutionellen Verein" zusammentaten und i m November m i t 100 Mitgliedern die kleinste der politischen Gruppierungen bildeten. Sie traten i m Gegensatz zum „Demokratisch-Konstitutionellen K l u b " für ein Zweikammersystem und unbeschränktes königliches Veto ein. 38 Gründungsmitglieder des „Konstitutionellen K l u b s " waren der Philosoph Professor K a r l Rosenkranz, Eduard Simson, Oberlehrer W i t t , der spätere Abgeordnete Tamnau, der A r z t Raphael Jakob Kosch und Professor Hirsch. Führende Mitglieder des Konstitutionellen Vereins waren Morensky, v o n Luckner, Dinter und Graf. Beide Gruppen sahen sich auf dem linken Flügel dem „Oppositionellen K l u b " gegenüber m i t D u l k , Falkson, Rupp und W a lesrode. Diese Gruppe von Radikalen aus dem Jacoby-Kreis taufte sich später um i n „Demokratischen K l u b " . Wie die Radikalen i n den Parlamenten i n Frankfurt und Berlin bildeten sie die rührigste Gruppe. Dem Polizeibericht v o m November nach waren sie m i t 250 Mitgliedern stärker als ihre beiden liberalen Rivalen. Zusammen m i t demokratischen Vereinen i n Gumbinnen, Pillau und Elbing setzten sie sich für die Anerkennung der v ö l l i gen Volkssouveränität ein. 3 9 Mitglieder des Demokratischen Klubs hatten schon i m M ä r z 1848 einen Arbeiterverein gegründet, der m i t etwa 1000 Mitgliedern die zweitstärkste politische Gruppe i n Königsberg wurde. Demokratischer K l u b und Arbeiterverein waren sowohl ideologisch als auch personell miteinander verknüpft und organisierten oft gemeinsame Aktionen, bei denen sich noch ein dritter Verein, der Volkswehrklub m i t seinen 250 Mitgliedern beteiligte. 40 Z u den Organisatoren des Arbeitervereins gehörten Friedrich August D u l k , „der eigentliche Schüler Jacobys", Jacoby selbst, soweit er i n Königsberg weilte, ferner seine Mitarbeiter Falkson, Walesrode und Rudolf von Gottschall. 37

Matull, Ostpreußens Arbeiterbewegung, S. 10. Rudolf Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848 (München 1948), S. 91—92. 38 Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 537. Bernhard-Maria Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 130—31. Staatliches Ardiivlager Göttingen, Staatsarchiv Königsberg (Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Rep. 10, Tit. 36, Nr. 5, Bd. 1, Bl. 92—98: Nachweisung der in Königsberg bestehenden politischen Vereine. Adam, Die Provinz Preußen 1840—1858, S. 113. 39 Staatliches Archivlager Göttingen, Nachweisung der politischen Vereine. 40 Archiv Göttingen, Nachweisung der politischen Vereine. Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 537. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 207.

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Arnold Schütz Leitende Mitglieder waren weiterhin Schneidermeister Hohmann, Tischler Reich, Kaufmann Hermann Brausewetter, der Journalist C. Minden und Robert Schweichel. 41 Konservative sahen i m Arbeiterverein nicht viel anderes als einen Versuch der Radikalen, „sich der Arbeiter zu bemächtigen und gegen die Ordnung anzugehen". 42 K a r l Rosenkranz, Freund und Mitarbeiter des greisen Theodor v o n Schön, mißtraute den „Parteijournalisten, . . . die plötzlich ihr Herz für die Arbeiter entdeckt haben, um diese als M i t t e l zur Erreichung ihres politischen Zweckes zu brauchen". Walesrode, der sich durch diesen A n g r i f f persönlich getroffen fühlte, wollte als Entgegnung ein „dickes Buch" gegen Rosenkranz veröffentlichen, ließ es aber dann sein, w e i l „ z u dieser wichtigen Zeit bedeutenderes zu t u n " sei, als Rosenkranz seine Aufmerksamkeit zu schenken.43 Rosenkranz' Unterstellung, die radikalen Demokraten versuchten aus rein taktischen Gründen eine Verbindung m i t dem unzufriedenen Proletariat, w i r d der Bedeutung dieses Bündnisses nicht gerecht. Selbst Bismarck erkannte, daß das soziale Problem eine grundlegende Komponente der achtundvierziger Unruhen darstellte. 44 Soziale N o t , hervorgerufen durch die landwirtschaftliche Misere der letzten Jahre und durch die beginnende I n d u strialisierung Deutschlands schuf Angst und Verzweiflung, die sich i n Radikalität äußerte. Die v o n der N o t Betroffenen verlangten soziale Gerechtigkeit, die ihnen der Staat bisher vorenthalten hatte. Die Demokraten, die für politische Gerechtigkeit gegen den gleichen Feind — den autoritären, aristokratischen Staat — ankämpften, waren die natürlichen Bundesgenossen der untersten Klasse. Jacoby hatte den Zusammenhang von sozialer Frage und Lösung von Preußens politischen Problemen andeutungsweise schon 1843 erkannt. 4 5 Schon 1844 bestand zwischen i h m und dem Kölner Assessor G. A . Bergenroth ein brieflicher Meinungsaustausch über die Bildung eines Vereins für das W o h l 41 Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 172 und 207. Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 538. Matull, „Arbeiterbewegung in Ostpreußen", S. 224—25. Dannhauer in Dohna, Mittheilungen aus dem Leben, S. 171. 43 Esaù, „Rosenkranz als Politiker", S. 159 zitiert einen Brief von Walesrode an Jacoby vom 20. September 1848. 44 Horst Kohl, Hg., Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. I (Stuttgart 1892), S. 111. 45 Gustav Mayer, „Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen", Zeitschrift für Politik, Bd. V I (Berlin 1913), S. 73—75, Jacoby an Carl Weil, 11. Dezember 1843; Jacoby an Fröbel, 23. November 1843. Die Briefe auch bei Silberner, „Jacoby 1848/ 49", S. 381. 42

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der arbeitenden Klassen. 46 I m November 1847 hatte sich Jacoby Informationen über die Organisation eines Berliner Gesellenvereins eingeholt und dam i t die Gründung eines Arbeitervereins also bereits vor Ausbruch der Revolution vorbereitet. 47 Die Königsberger Radikalen mußten sehr schnell erkennen, daß trotz ihres gemeinsamen Feindes, der konservativen Monarchie, die soziale N o t der Proletarier nur schwer i n politische Unterstützung für die Demokraten umzumünzen war. Schon bei der ersten Versammlung des Arbeitervereins am 16. A p r i l waren die intellektuellen Führer der Disziplinlosigkeit und dem Mißtrauen teilweise betrunkener Arbeiter gegenübergestellt — eine gewiß ungewohnte Lage für sie. Walesrode gelang es schließlich, die Versammelten, die Brot wollten und nicht Reden, zu beruhigen. 48 Zehn Tage später kam es zu einem kleinen Zusammenstoß, als Arbeiter m i t einer roten Fahne randalierend durch die Stadt zogen und schließlich v o n der Bürgerwehr — dem Organ des Besitzbürgertums — m i t flachen Säbelhieben auseinandergetrieben wurden. Die Bürgerwehr — das Organ des Besitzbürgertums — trieb sie schließlich m i t flachen Säbelhieben auseinander und erteilte ihnen damit eine ähnliche Behandlung, wie sie die Bürger noch kurz zuvor v o m M i l i t ä r erlitten hatten 4 9 Trotz roter Fahne war der Zwischenfall eher ein Zeichen der Unzufriedenheit als eines entwickelten Klassenbewußtseins. So meinte denn auch D r . Simon Meyerowitz, „liberaler Geldsack" und „hingehendster Freund" Jacobys, die Königsberger Arbeiter seien reaktionär. Das mag auf die Arbeiter zugetroffen haben, weniger jedoch auf die radikalisierten Handwerksgesellen, die sich i m Arbeiterverein trafen. Auch Walesrode schreibt jedoch resigniert, es sei i n Königsberg „unglücklicherweise . . . keine Revolution auf zutreiben." 5 0 Die Königsberger Arbeiter zeigten zwar kein proletarisches Klassenbewußtsein, doch waren sie nicht abgeneigt, ihre wirtschaftlichen Interessen durch besonders von ihnen unterstützte Kandidaten i n der Preußischen National46

Joseph Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830—1850, Bd. I (Essen 1919), S. 685—86 und 698—99, Bergenroth an Jacoby, 13. November und 2. Dezember 1844. 47 Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 172 zitiert einen unveröff. Brief von Robert von Keudell an Jacoby vom 18. November 1847. 48 Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 172. Rudolf von Gottschall, Aus meiner Jugend (Berlin 1898), S. 256. 49 Matull, Ostpreußens Arbeiterbewegung, S. 10. 50 Esaù, „Rosenkranz als Politiker", zitiert Meyerowitz an Jacoby, 3. Mai 1848. [Ludwig Walesrode], Eine politische Todtenschau — Zur Geschichte der staatstragenden Anarchie in Preußen (Kiel 1859), S. 15. 7

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Arnold Schütz Versammlung vertreten zu lassen.51 Arbeiterverein und Demokratischer K l u b arbeiteten deshalb stark zusammen, oft auch i n Verbindung m i t dem Volkswehrklub. Der Arbeiterverein wurde während der Reaktion polizeilich verboten. Bei der Gelegenheit — i m Jahre 1850 — wurden zahlreiche Haussuchungen bei führenden Mitgliedern des Arbeitervereins und der Demokraten durchgeführt, ein Zeichen für die enge Verbindung der beiden Gruppen selbst nach dem Revolutionsjahr. 5 2 Der stärkste der politischen Klubs Königsbergs war der am spätesten gegründete, der konservative Preußenverein. Wie die liberalen Vereinigungen aus der Ressource und anderen bürgerlichen Verbindungen entsprungen waren, hatten auch die Konservativen einen vormärzlichen Vorgänger. Nach dem Neubeginn der Verfassungsbewegung i m Anschluß an die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms I V . hatten sich i m Februar 1841 konservative Ostpreußen i n Preußisch-Holland getroffen, u m eine Gegenpartei gegen die Liberalen zu bilden. 5 3 Während der Märztage 1848 und der folgenden liberalen Euphorie zogen die Konservativen es vor, i m H i n t e r grund zu bleiben. Als der Schock der Märztage verblaßt war, gewannen die Royalisten verschiedener Schattierung wieder Selbstvertrauen und w u r den aktiver. Unter der Leitung des Historikers Professor Friedrich W i l h e l m Schubert wurde i m Sommer 1848 i n Königsberg der „Konservative K l u b " gegründet, der jedoch durch den nach Berliner V o r b i l d gegründeten „Preußenverein" verdrängt wurde. Der Verein vertrat die preußische Hegemonie i n einem vereinigten Deutschland. Demonstrativ trugen seine Mitglieder die schwarz-weißen Farben als Symbol ihres Preußentums. Seine Versammlungen fanden i n der Exerzierhalle am Paradeplatz statt. I n der zweiten H ä l f t e von 1848 stieg der Verein auf etwa 3500 städtische und 500 auswärtige Mitglieder an und erreichte damit die vierfache Stärke des nächstgrößten Königsberger Vereins. „ I n kurzer Zeit terrorisierte der Preußenverein die Stadt der ,reinen V e r n u n f t ' . " 5 4 Unter seinem Vorsitzenden General v o n Plehwe erreichte der Verein besonders i n der Reaktionszeit einen zweifelhaften Ruhm, den L u d w i g Walesrode sarkastisch i n seiner „Politischen Todtenschau" schildert. Der Verein bestand nicht nur aus 51

Esaù, „Rosenkranz als Politiker", S. 158. Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 537—38. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 172 und 206—208. Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 131. Frolinde Baiser, Sozialdemokratie 1848/ 49—1863 — Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine Arbeiterverbrüderung" nach der Revolution, Industrielle Welt, Bd. I I (Stuttgart 1962), S. 615. 53 Gustav Mayer, „Anfänge des politischen Radikalismus", S. 24. 54 Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 151. 52

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konservativen Adligen und Bürgerlichen, sondern hatte zahlreiche Arbeiter i n seinen Reihen, die, nach Meinung Walesrodes, als bestochene Komparsen der Reaktion gedient hätten. Der ostentative Konservatismus des Vereins provozierte mehrfach Unruhen i n Form von „Katzenmusiken" und anderen „förmlichen Exzessen." 55 Die Versammlungen, Resolutionen, Unruhen und Parteibildungen i n K ö nigsberg hatten früher einmal Deutschland aufhören lassen und als V o r boten der Neuerung gegolten. I m Frühjahr 1848 verblaßten sie hinter den Ereignissen von Berlin, Wien, und den Treffen der Liberalen und Demokraten i n Heppenheim, Heidelberg und Offenburg. H i e r i m Westen w u r den die Vorbereitungen zur deutschen Einigung getroffen. Schon das Treffen des Ersten Vereinigten Landtags hatte gezeigt, daß die altehrwürdigen, aber politisch wenig geschliffenen Ostpreußen v o m T y p K u r t von Bardeleben, Ernst von Saucken-Tarputschen, oder Magnus v o n Brünneck als Führer des Liberalismus immer mehr verdrängt wurden durch eine Generation v o n Kaufleuten und Industriellen von der A r t der Rheinländer D a v i d Hansemann oder L u d o l f Camphausen. Beim Versuch der deutschen Einigung kamen die treibenden Kräfte ebenfalls aus dem Westen. Unter den Ostpreußen hatten nur Jacoby und sein Z i r k e l engere Verbindung m i t den Männern i n Baden, Württemberg und Nassau, die — oft auf verschiedenen Wegen — die nationale Einheit zu erreichen suchten. Jacobys Verbindung zu dem badischen Liberalen A d a m von Itzstein brachte ihm eine Einladung zur Teilnahme am Vorparlament i n Frankfurt ein. 56 Das Vorparlament zählte 574 Mitglieder, 141 davon aus Preußen, doch zwei D r i t t e l von ihnen aus dem Frankfurt nahe gelegenen Rheinland, nicht aus dem Osten. 57 Es w a r eine Ehre für Königsberg, durch Jacoby i n dieser Versammlung vertreten zu sein, die sich m i t der Vorbereitung der ersten nationalen Parlamentswahlen i n der Geschichte Deutschlands zu befassen hatte. Schon diese Vorversammlung mußte verschiedene konstitutionelle Fragen lösen: soll das m i t keinem Mandat des Volkes versehene Vorparlament sich zur Sicherung gegen die Reaktion für permanent erklärten, bis 55

Stadelmann, Soziale Geschichte der Revolution, S. 91—92. Gause, Königsberg, Bd. I I , S. 539—41, der kritisch gegenüber Walesrode ist. Archiv Göttingen, Nachweisung der politischen Vereine. 56 Heinrich von Gagern, Das Leben des Generals Friedrich von Gagern, Bd. I I (Leipzig 1856), S. 748. Karl Jürgens, Zur Geschichte des Deutschen Verfassungswerkes 1848—49, Bd. I (Braunschweig 1850), S. 25 und 33. Ulrich Freyer, Das Vorparlament zu Frankfurt a. M. im Jahre 1848 (Phil. Diss. Greifswald 1913), S. 22. 57 Freyer, Vorparlament, S. 24—25. 7*

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Arnold Schütz eine gewählte Versammlung zusammentritt? Welches soll sein Verhältnis sein zu den beiden deutschen Großmächten, die durch Schliche die Liberalisierung und Einigung des Landes zu verhindern suchten? Wieviel Exekutivgewalt soll sich das Vorparlament zur Sicherung des Erreichten aneignen? Soll eine vorläufige deutsche Regierung ernannt werden und welchen Charakter soll sie haben? 58 Bei diesen und anderen Problemen entschied sich Jacoby jeweils für den größtmöglichen Grad persönlicher Freiheit und deutscher Einheit. „ H o c h lebe die Republik", hatte er i m März seinem Freund Itzstein geschrieben. 59 Als Republikaner beantwortete er die Fragen, denen er sich i m Vorparlament gegenübersah. Dabei scheute er sich nicht, auch Preußen heftig anzugreifen, wenn die P o l i t i k der Monarchie den Zielen v o n Einheit und Freiheit entgegenliefen. O b w o h l Friedrich W i l h e l m I V . erklärt hatte, Preußen werde fortan i n Deutschland aufgehen, dienten seine A k t i o n e n einem anderen Zweck. So versuchte er mehrfach, Konkurrenzversammlungen zu der geplanten Nationalversammlung i n Frankfurt zu veranstalten. Das Ergebnis war, daß sich i n Preußen tatsächlich ein Parlament der Monarchie gleichzeitig m i t der Sitzung gesamtdeutscher Vertreter i n der Frankfurter Paulskirche traf. Während Jacoby als M i t g l i e d des Vorparlaments und seines permanenten Komitees — des Fünfzigerausschusses — all seine Energie einsetzte, die Macht der künftigen Nationalversammlung gegenüber allen Einzelregierungen und Parlamenten zu sichern, entfremdete er sich mehr und mehr v o n der Auffassung der Königsberger Liberalen, seiner Kampfgenossen aus dem Vormärz. Selbst langjährige gute Freunde begannen, i h m ihre U n m u t über die Radikalität des Fünfzigeraus^chusses auszudrücken und sich zu beklagen, m i t welcher Unverfrorenheit dieser Ausschuß selbst Preußen zu kritisieren wage. 6 0 I n Königsberg hatte sich nach dem anfänglichen Überschwang der Märztage eine nüchterne Stimmung durchgesetzt. Das liberale Bürgertum begann zu fürchten, daß die Revolution weiter gehen könne als i h m lieb war. Der Krieg m i t Dänemark um den Besitz von Schleswig und Holstein führte zu Störungen des Hafenbetriebs. „ I n allen Geschäftszweigen sind Stockungen eingetreten", schreibt das Memelsche Wochenblatt M i t t e A p r i l . „Sämtliche 58

Ibid., und Friedrich Siegmund Jucho (Hg.), Verhandlungen des deutschen Parlaments, 2 Bde. (Frankfurt 1848). 59 Bundesarchiv Frankfurt, Jacoby an Itzstein, Königsberg, 15. März 1848. 60 Das Bundesarchiv Frankfurt, Nachlaßabteilung Ν 114 enthält zahlreiche warnende Briefe an Jacoby. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 182—84.

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Papiere fallen, und i n der Kaufmannswelt und i m H a n d e l herrscht ein Mißtrauen, wie es lange nicht da war. Die Getreidepreise sind bedeutend gesunken und bei alledem w i r d nichts g e k a u f t . . . Die Handwerksgesellen verlangen einen erhöhten L o h n von den Meistern, obgleich diese m i t unter der Kalamität leiden." 6 1 Ähnliches berichtet Ferdinand Falkson an Jacoby, und ähnliches weiß auch Jacobys Berliner Vetter Julius Waldeck zu berichten: „ D a r a u f ist zu schwören, daß vier Fünftel der anständigen Leute, Bürger und Besitzende i n Preußen jeder fünf Flaschen Champagner zum Besten gäbe, wenn die ganze Freiheit geblieben wäre, w o sie w a r . . . Das materielle W o h l geht dem Gros über Alles und dies ist allerdings ganz zu Grunde gerichtet und hungern wollen die Leute auch frei nicht. Die meisten sehnen sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens, nach der seligen Ruhe der früheren Knechtschaft zurück." 6 2 Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und das Verlangen der unteren Volksklassen nach Besserung ihrer Lage schuf i m Bürgertum Furcht vor materiellem Verlust u n d sozialer Revolution. Die Gefahr einer Konterrevolut i o n wurde darüber vergessen. Dafür gerieten Organisationen wie der Königsberger Arbeiterverein und seine intellektuellen Organisatoren i n Verruf. Zwangsläufig wurde auch Jacoby dieser Gruppe zugerechnet. I n seinen Briefen nach Hause versuchte er die Furcht v o r roter Revolution und Republik zu zerstreuen. Eine Organisation gegen die Reaktion sei wichtiger als eine gegen die Republik. Das größte Maß konstitutioneller Freiheit könne besser durch eine Verbindung m i t der republikanischen Partei errungen werden, die noch sehr schwach sei, „als wenn w i r i n Verbindung m i t der reaktionären Weltaristokratie unter dem Schilde der konstitutionellen Monarchie gegen dieselbe ankämpfen." 6 3 Eine weitere Differenz zwischen Jacoby und den Bürgern seiner Heimatstadt ergab sich i n der polnischen Frage. I m Vorparlament und dessen Fünfzigerausschuß hatte sich Jacoby wiederholt für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der unter Preußen lebenden Polen eingesetzt. Selbst einige seiner besten Freunde i n Königsberg hielten damit die Interessen der Deutschen i n den preußisch-polnischen Gebieten für verraten. 6 4 Auch 61

Matull, Ostpreußens Arbeiterbewegung, S. 10 zitiert das Memelsdie Wochenblatt vom 12. April 1848. 62 Bundesarchiv Frankfurt, Waldeck an Jacoby, Berlin, 11. April und 29. Mai 1848. 63 Ibid., Jacoby an Simon [Meyerowitz?], Frankfurt, 12. April 1848. 64 Zahlreiche Briefe an Jacoby im Bundesarchiv Frankfurt. Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 183—84. Jucho, Verhandlungen, Bd. I I , S. 211 und 384—85. Esaù, „Rosenkranz als Politiker", S. 159.

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Arnold Schütz Jacobys kompromißloses Bemühen um deutsche Einigung erregte Besorgnis. D a das Vorparlament sich nach Ansicht liberaler Königsberger zu radikal gebärdet hatte, fürchteten sie, eine deutsche Nationalversammlung könne bei zu viel Einfluß auf die deutschen Geschicke auch die Einzelstaaten republikanisieren und womöglich soziale Unruhen und wirtschaftliches Chaos hervorrufen. A m 22. A p r i l erklärten Magistrat und Stadtverordnetenversammlung deshalb einstimmig, daß die kommende deutsche N a t i o n a l versammlung nur eine deutsche Verfassung entwerfen solle, die erst nach Annahme durch die einzelnen deutschen Staaten i n K r a f t treten dürfe. Die Erklärung wurde nach Eduard Simson benannt, der sich erfolgreich u m ihre Annahme bemüht hatte. 6 5 Während das Vorparlament noch versuchte, Deutschlands Einheit zu schaffen, begann das bürgerliche Preußen bereits, ein Übermaß an Einheit zu fürchten. Das Vorparlament hatte die Aufgabe, Wahlen für die deutsche N a t i o n a l versammlung vorzubereiten. Es riet — erfolglos — einzelstaatliche Parlamente für die Dauer der Frankfurter Versammlung zu vertagen. 66 Weiterh i n empfahl es, direkte Wahlen halten zu lassen. Trotzdem entschlossen sich Preußen und die meisten anderen deutschen Staaten für indirekte Wahlen, um durch den Filter von Wahlmännern radikale Elemente von Frankfurt fernzuhalten. Aus unbekannten Gründen erschien ein A n t r a g des Vorparlaments, jedem Deutschen, der die Volljährigkeit erreicht hatte, das Wahlrecht zu geben, i m offiziellen Protokoll als „jeder unabhängige Deutsche." 67 D a m i t w a r eine weitere Möglichkeit gegeben, die Repräsentation der untersten Volksklasse einzuschränken. I n Preußen wurde der Paragraph jedoch großzügig ausgelegt und nur Wohlfahrtsempfänger und Studenten von der W a h l ausgeschlossen. Nach Verhandlungen m i t dem Bundestag setzte das Vorparlament ein numerisches Verhältnis v o n einem Abgeordneten pro 50 000 Einwohner fest. D a der Zensus v o n 1816 jedoch als Basis für die Wahlen genommen wurde, ergab sich tatsächlich i m K ö nigreich Preußen ein Verhältnis v o n einem Abgeordneten für 75 000, i n Österreich für 60 000 Einwohner. I n der Provinz Preußen schwankte die Z a h l zwischen 58 285 Einwohnern i m Wahlbezirk V I (Angerburg und Darkehmen) und 86 938 Einwohnern i m Bezirk X V I I I (Labiau und Wehlau). Wahlkreis X V I , die Stadt Königsberg, lag m i t 70 378 Einwohnern recht genau zwischen diesen Extremen. Auch i m Zahlenverhältnis v o n 65

Bernhard von Simson, Eduard von Simson — Erinnerungen aus seinem Leben (Leipzig 1900), S. 97—98. Jucho, Verhandlungen, Bd. I I , S. 199 und 206. 67 Ibid., Bd. I , S. 54—57. 66

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Einwohnern zu Wahlmännern gab es große Unterschiede. Das preußische Wahlgesetz v o m 11. A p r i l 1848 hatte auf je 500 Einwohner einen W a h l mann vorgesehen. Tatsächlich schwankte die Z a h l zwischen 300 und fast 1000 Einwohnern pro Wahlmann. I n Königsberg gaben 130 Wahlmänner ihre Stimmen ab. Das ergibt ein Zahlenverhältnis von etwa 540 Seelen pro Wahlmann und entspricht recht genau der gesetzlichen Ratio. Das aktive Wahlrecht hatten alle „selbständigen" volljährigen männlichen Staatsbürger — i n der Provinz Preußen Männer i m Mindestalter v o n 24 Jahren. Wählbar waren Bürger ab dem 30. Lebensjahr. E i n weiterer Paragraph des preußischen Wahlrechts verlangte ein Mindestmaß von 6 Monaten Aufenthalt am Wahlort, wodurch besonders wandernde Handwerker und Soldaten ausgeschlossen waren — erstere ein radikales Element m i t demokratischer, zum Teil sozialistischer Neigung. 6 8 Eine königliche Kabinettsorder v o m 11. A p r i l bestimmte den 1. M a i als Tag der Urwahlen für die Nationalversammlungen i n Berlin und Frankfurt. A m gleichen 11. A p r i l nahm der Bundestag die Provinz Preußen offiziell i n den Deutschen Bund auf und ermöglichte deren Teilnahme an der deutschen Nationalversammlung. Bis die Kabinettsorder v o n Berlin i m entfernten Königsberg ankam, verblieben weniger als zwei Wochen bis zur Abstimmung. 6 9 Die preußischen Wahlen für die Parlamente i n Frankfurt und Berlin w u r den zu einem Zeitpunkt gehalten, als das Bürgertum schon von der Furcht einer zu weitgehenden Revolution ergriffen war, obwohl die Erfolge der Märztage noch der Konsolidierung harrten. Die wenigen demokratischen Abgeordneten des Vorparlaments machten sich berechtigte Sorgen um den Ausgang der Wahlen und den Geist des künftigen deutschen Parlaments. Sie formten deshalb ein „Zentrales Wahl-Komitee", i n dem Jacoby M i t glied war. Wie er nach Königsberg berichtete, versuche das Komitee „alles mögliche, um durch Korrespondenz, durch die Presse etc. auf freisinnige Wahlen hinzuwirken, damit das durch die allgemeine Kreditlosigkeit und durch die Ansprüche der arbeitenden Klassen eingeschüchterte Pfahlbürgert u m nicht die Oberhand gewinnt." Die Demokraten i m Vorparlament veröffentlichten ein v o m Komitee aufgestelltes Wahlmanifest, verteilten es i m gesamten L a n d und hofften, dadurch i n den verschiedenen Staaten, Pro68 Ibid., Bd. I I , S. 511. Huber, Verfassungsgesdiichte, Bd. I I , S. 584 und 606. Freyer, Vorparlament, S. 24—25. Frank Eyck, The Frankfurt Parliament 1848—1849 (New York 1968), S. 40—41. Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 23 und 27—29. Wolff, Revolutions-Chronik, Bd. I I , S. 72—73. 69 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I I , S. 607.

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Arnold Schütz vinzen und Kommunen ähnliche demokratische Gruppen ins Leben zu rufen. 70 I n Königsberg fanden die Wahlen statt i n einem K l i m a sozialer N o t , des Mißtrauens und des Parteihaders unter den verschiedenen liberalen und demokratischen Gruppen. 7 1 Z u dieser Atmosphäre kam noch die Neuigkeit der Wahlen selbst. Zahlreiche Gerüchte entstanden, was durch die Wahlen und schließlich durch die gewählten Volksvertreter entschieden werden solle. Der Oberpräsident mußte eine Verordnung erlassen, i n der er betonte, die Abgeordneten sollten nur eine Verfassung entwerfen und nicht „die besonderen Rechtsverhältnisse zwischen verschiedenen Bewohnerklassen des Landes i n Erwägung" ziehen. Andere Gerüchte meinten, durch die Wahlen solle der K ö n i g abgesetzt oder die Leibeigenschaft wieder eingeführt werden. Die Wahlmänner selbst könnten nach Berlin und Frankfurt reisen und Diäten beanspruchen. 72 K u r z , das V o l k durfte wählen und wußte kaum was. Es ist nicht verwunderlich, daß sich bei der bewußt unpolitisch gehaltenen Bevölkerung falsche Hoffnungen auf Erfüllung ihrer Wünsche und sozialen Erwartungen einstellten. D i e Offenbarung dieser naiven Vorstellung, die W a h l könne als soziale Sofortkur wirken, war, obwohl gewiß komisch, nicht so sehr eine „große K o m ö d i e " als eine Tragödie, da sie so viel unartikulierte Hoffnungslosigkeit offenbarte. 73 Das Bürgertum i n Königsberg w a r politisch erfahren genug, nicht solchen Wahnvorstellungen zu erliegen. Politische Klubs und die lokale Presse informierten es über die Tagesfragen und die Problematik der Wahlen. I n den Klubs wurden w o h l auch die Vorentscheidungen über die Aufstellung v o n Kandidaten getroffen. Für die Republikaner, welche die Mehrheit der Presse hinter sich hatten, w a r der logische Kandidat für die Frankfurter Nationalversammlung Johann Jacoby. Die gemäßigten Liberalen (Konstitutionellen) nominierten anfangs K a r l Rosenkranz, der jedoch ablehnte. So griff man zu einem politisch weniger bekannten, Eduard Simson. Er w a r Jacobys Kommilitone an der Albertina, sein Bundesbruder i n der Littuania und, ebenfalls wie Jacoby, ehemaliger Schüler des Friedrichs-Kollegs. Rudolf von Gottschall, selbst Königsberger Wahlmann, berichtet, daß i n einer Vorversammlung die „ziemlich vollständig erschienenen Wähler bei 70 Bundesarchiv Frankfurt, Jacoby an Simon [Meyerowitz?], Frankfurt, 12. April 1848. Das Wahlmanifest in Wolff, Revolutions-Chronik, Bd. I I , S. 82—84 und in Hans Krause, Die demokratische Partei von 1848 und die soziale Frage (Frankfurt 1923), S. 117—19. 71 Simson, Eduard von Simson, S. 87. 72 Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 24. 73 Adam, Die Provinz Preußen 1840—1858, S. 99.

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der vorläufigen Abstimmung Jacoby eine so überwiegende Mehrheit v o n Stimmen" gegeben hätten, „daß die Kandidatur Simsons gar nicht i n Betracht zu kommen schien. A m nächsten Tage fand nun die entscheidende W a h l selbst statt, und nun begab sich das Wunderbare, daß sich das Blatt gänzlich gewandt hatte und daß Simson m i t sehr großer Mehrheit gewählt wurde. Wodurch den Wahlmännern über Nacht plötzlich diese Erleuchtung gekommen war, blieb uns, den Unerleuchteten, ein vollständiges Rätsel." 7 4 Das Ergebnis waren 63 Wahlmänner für Jacoby, 67 für Simson — nicht gerade eine „sehr große Mehrheit", wie Gottschall schreibt. Ersatzmann wurde Professor Schubert, Gründer des Konservativen Klubs. Weder Gottschall noch andere Zeitgenossen noch spätere Historiker haben herausfinden können, wer oder was das Wunder eines solchen plötzlichen Stimmungswechsels verursacht hatte. Die indirekte W a h l verdunkelt die Gründe dafür vollends. Sie setzt sowohl die Urwähler als auch die Wahlmänner äußeren Einflußmöglichkeiten aus — materiellen wie ideellen, legitimen wie illegitimen. Über Jacobys Niederlage zu spekulieren ist nutzlos und verführt leicht dazu, sie als zufälliges Produkt dunkler Machenschaften auszulegen. Genau das haben Jacobys Anhänger aus Enttäuschung über die Niederlage getan. Sie brachten ihrem Helden eine Ergebenheitsadresse, weigerten sich, die Niederlage anzuerkennen und forderten noch i m Oktober Simson auf, sein Mandat niederzulegen. 75 Einige spekulierten, die „erbärmliche Geldaristokratie" hätte die „brotlosen Arbeiter gekauft." Der Stimmzähler L u d w i g Moser meinte jedenfalls, alle Arbeiter hätten für Simson gestimmt. 76 Jacoby w a r nicht weniger enttäuscht als seine Königsberger Helfer. Er versuchte, i n einer Reihe v o n Orten i n den Nachwahlen einen Sitz für Frankfurt zu gewinnen. I n Berlins 4. Wahlkreis wurde er schließlich Stellvertreter für den Historiker Professor Friedrich von Raumer. Er nahm dessen Sitz i n Frankfurt ein, als Raumer i m M a i 1849 freiwillig aus der deutschen Nationalversammlung ausschied. I n Berlins 4. Wahlkreis für die preußische Nationalversammlung siegte Jacoby schließlich über den Juristen Professor Rudolf Gneist. 77 74

Gottschall, Aus meiner Jugend, S. 258. Simson, Eduard von Simson, S. 126—27. Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 132. 76 Silberner, „Jacoby 1848/49", S. 185 zitiert einen unveröff. Brief von Simon Meyerowitz an Jacoby vom 10. Mai 1848. 77 Wolff, Revolutions-Chronik, Bd. I I , S. 263 und 434. Rudolf Gneist, Berliner Zustände — Politische Skizzen aus der Zeit vom 18. März 1848 bis 18. März 1849 (Berlin 1849), S. 4.

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Arnold Schütz Was immer die Gründe für Jacobys Niederlage i n Königsberg waren: seine Heimat, die Stätte seines vormärzlichen Wirkens, versagte i h m ihre Unterstützung. Das radikale Berlin gab ihm ein Mandat. „Berlin kann nicht gut machen, was die Vaterstadt gefehlt", schrieb ihm Simon Meyerowitz zu dem Sieg. Königsberg „ h a t i n D i r ein Prinzip verleugnet, hierin liegt die K r ä n k u n g für Dich und die Schmach für uns." 7 8 Die Kölnische Zeitung schreibt dazu: „ D i e N i c h t w a h l Jacobys ist ein A k t der Engherzigkeit und des Undanks! M a g v o r allem Deutschland i n diesem A k t e nicht einen A b f a l l Königsbergs von der guten, großen Sache sehen!" U n d , mehr hoffend als überzeugend: „ D i e frühere Verfechterin der Freiheit ist keine Antagonistin geworden." 7 9 Tatsächlich jedoch hat Königsberg „ein Prinzip verleugnet", hat sich selbst i n die Rolle einer „früheren Verfechterin der Freiheit" begeben. Die A b wendung der Stadt von Jacoby w a r nicht nur das zufällige Ergebnis einer Wahl. Königsberg hat auch i n den folgenden beiden Jahrzehnten nicht ein einziges M a l Jacoby i n ein überregionales Parlament entsandt. Der Sohn der Pregelstadt mußte sich seine Wähler weiterhin i n Berlin suchen. Für Ostpreußen w a r er zu radikal, zu republikanisch. H i e r entschied man sich 1848 für Simson, den „Kandidaten des Börsenpublikums" 8 0 , der sich bislang politisch zurückgehalten und deshalb nicht kompromittiert hatte. „ E r tat gerade genug, um unbesehen für einen Liberalen zu passieren, und nie so viel, daß jemand zu seinem Nachteil den Beweis davon hätte führen können", wie ein sarkastischer Zeitgenosse schrieb. 81 Simson, der A u t o r einer partikularistisch gefärbten Resolution, wurde v o n Königsberg i n ein Parlament gewählt, das Deutschland vereinigen sollte. Jacoby, der schon tatkräftig an der Einigung mitgearbeitet hatte, wurde — und das nicht einmal v o n seiner Heimatstadt — i n ein Parlament gewählt, das v o n Preußen als Konkurrenz zur Paulskirche veranstaltet wurde und das nach dem U r t e i l Jacobys und des Vorparlaments gar nicht existieren sollte. 82

Anonym, Rückblicke auf die Preußische National-Versammlung von 1848 und ihre Koryphäen (Berlin 1849), S. 28. Franz Wigard (Hg.), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. I X (Frankfurt 1849), S. 6725—26. 78 Bundesarchiv Frankfurt, Königsberg, 24. Mai 1848. 79 Kölnische Zeitung Nr. 138, 17. Mai 1848; Artikel datiert Königsberg, 11. Mai. 80 Ibid.

81 R. Walter (pseud. für Walter Rogge), Parlamentarische Größen, Bd. I (Berlin 1851\ S. 146. 82 Jacoby, Gesammelte Schriften, Bd. I I , S. 11—18.

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Simson paßte sich dem gemäßigt liberalen Trend des Bürgertums an. Sein Verhandlungsgeschick verhalf i h m zu einer Karriere i n Frankfurt, später, unter dem Dreiklassenwahlrecht, auch i n Preußens 2. Kammer, i m N o r d deutschen Reichstag und am Reichsgericht. Zweimal bat er als Leiter einer parlamentarischen Delegation einen Hohenzollern u m Annahme der deutschen Kaiserkrone, zuletzt erfolgreich. Jacoby erreichte solche Lorbeeren nicht. Er war i m Vormärz der H e l d der preußischen Opposition. 1848 begann das Bürgertum, seinen demokratischen Radikalismus zu fürchten. Selbst alte Freunde brachen m i t ihm. I n der Folgezeit entfremdete er sich immer weiter v o n seinen früheren Königsberger Mitstreitern. Während er i m A l t e r den Sozialdemokraten beitrat, landeten viele seiner früheren Kampfgenossen i m N e t z Bismarcks und der Nationalliberalen. Der Trennp u n k t jedoch w a r 1848. Jacobys Königsberger Wahlniederlage i m Revolutionsjahr symbolisiert den Stellenwechsel der ostpreußischen Hauptstadt i m politischen Mosaik Deutschlands und Preußens. Z w e i Gründe scheinen dafür verantwortlich. Einmal war es der relative Fortschritt, die liberale Atmosphäre des V o r märz selbst, die eine Radikalisierung Königsbergs verhinderte. Anders als i n vielen Städten der Monarchie hatten sich die unzufriedenen Königsberger Ventile für ihre politische Unzufriedenheit geschaffen: die Ressource, die informellen Treffen der Intellektuellen i m Cafe Siegel, und die H a r t u n g sche Zeitung. Sie waren gewohnt, über Reformwünsche zu debattieren, nicht i n den Straßen zu demonstrieren. K r i t i k fand sympathische Zuhörer selbst bei Vertretern des Adels und der Verwaltung. Das w i r k t e mäßigend. M a n konnte m i t der bestehenden Monarchie leben. Evolution, nicht Revolution hätte nach Ansicht vieler auch das letzte Wünschenswerte erlangen können. L u d w i g Walesrode meinte m i t Recht, daß es i n Königsberg 1848 niemals eine Revolution gegeben hätte. Die Stadt hatte schon fast zehn Jahre zuvor m i t geistigen M i t t e l n Änderung verlangt, und wenn man Königsberg gefolgt wäre, hätte „Preußen ebenso wenig eine Märzrevolution e r l e b t . . . wie England und Belgien eine solche erlebt haben." 8 3 Was der ostpreußische A d e l und das Bürgertum wollten, w a r die konstitutionelle Monarchie — die man i n Frankreich gerade gestürzt hatte. Jacoby verlangte diese Staatsform, wie man m i t Recht vermutete, nur noch aus taktischen Gründen. Er wollte die Republik. A d e l und Bürgertum fürchteten sich v o r ihr. Denn obwohl viele Königsberger eine Verfassung und 83 Walesrode, Todtensdiau, S. 15.

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Arnold Schütz Volksrepräsentation ersehnten, waren nur wenige so radikal, die Abschaffung des Königstums zu verlangen. Der radikale Festungsbauoffizier W i l h e l m Rüstow beschreibt anschaulich, wie klein die extreme Linke i m fortschrittlichen Königsberg wirklich war. Rüstow schätzt i n einem Bericht v o m Jahre 1847, daß i n Königsberg etwa neuntausend Männer eine eigene politische Meinung hatten. D a v o n gehörten höchstens zweitausend einer bestimmten Parteirichtung an. Sechshundert waren der Rechten zuzuzählen. Die vierzehnhundert Anhänger der Linken zerfielen i n die gemäßigte Linke m i t sechshundertfünfzig, ein Zentrum m i t siebenhundert, und eine äußerste Linke m i t etwa fünfzig Mitgliedern. Doch selbst unter dieser entschiedensten politischen Gruppe differenziert Rüstow zwischen einer Mehrheit von vierzig „theoretischen Radikalen" und zehn Mann, deren politische Überzeugung zu Taten führen könne. 8 4 Das w a r kaum Material für eine Revolution und bot trübe Wahlaussichten für einen Republikaner. Nachrichten v o n dem Chaos der Märztage i n Berlin vermochten den revolutionären Eifer der meisten Königsberger nur zu dämpfen, nicht anzufeuern. „ D e r Liberalismus erklärte den Radikalismus für gemeingefährlich, der Radikalismus verspottete den Liberalismus als lauwarm und unentschlossen." I m entscheidenden Moment spalteten, schwächten und bekämpften sich so die fortschrittlichen Gruppen stärker als bisher. 85 Furcht vor der Republik bedeutete für viele Furcht v o r den Massen, dem Proletariat. D a m i t ist eine weitere Ursache der gemäßigten H a l t u n g Ostpreußens i m Jahre 1848 berührt. Das Proletariat erschien i n Ostpreußen hauptsächlich als agrarisches. Es l i t t seit vier Jahren unter den Auswirkungen einer von England ausgegangenen zyklischen Wirtschaftskrise, die durch landwirtschaftliche Mißernten verstärkt wurde. Die Folge w a r eine K n a p p heit an Lebensmitteln und enorme Preissteigerungen. Die Kosten für Roggen stiegen von 1844 bis 1847 um 88 Prozent, für Kartoffeln gar um 135 Prozent, während die Löhne i n der gleichen Zeit nur um 3 Prozent stiegen. 86 Trotz dieser Misere, die i n Schlesien den Weberaufstand m i t hervorrief, schritten die Behörden lange nicht helfend ein. Das Ergebnis war wachsende Unzufriedenheit des Proletariats m i t der Obrigkeit, die auch i n der Pro84

Rüstow, „Parteien in Königsberg", S. 291—92. Falkson, Liberale Bewegung in Königsberg, S. 150—51. Walesrode, Todtensdiau, S. 15. 86 Die Preistabelle in Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis zur Gegenwart (Berlin 1961), Bd. I , S. 178. Weiteres zur Krise in Robert Stein, Die Umwandlung der Agrarverfassung Ostpreußens, Bd. I I I , S. 460—74. Elisabeth Todt und Hans Radandt, Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, S. 29—30. Peter Schuppan, „Jacoby im Vormärz", S. 246—47 und 263. 85

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vinz Preußen zu einer revolutionären Situation führen konnte. Ärgerlich schrieb Ernst von Saucken-Tarputschen i m Dezember 1846 an Gustav v o n Below, daß „die N o t schon jetzt eine noch nicht gekannte H ö h e erreicht hat und riesenhaft — unüberwindbar zunehmen w i r d , wenn nicht Vorsorge und H ü l f e eintritt. . . . U n d dennoch hat die Verwaltung gar nichts getan u n d scheint auch nichts t u n zu wollen. . . . Die Hände i n dem Schooß i n Lust und Behaglichkeit fortgelebt, läßt man Menschen — Mitchristen — Unterthanen des gepriesenen preussischen Staats des jammervollsten Hungertodes sterben." 87 Trotz dieses pessimistischen Bildes der ostpreußischen Zustände war die Lage hier noch einiges besser als i n Schlesien.88 Die Bemerkungen SauckenTarputschens deuten auf das wohlwollende Verständnis der patriarchalliberalen Adligen hin, die, soweit es i n ihrer Macht stand, die N o t zu l i n dern suchten. I n später Stunde griffen auch die Behörden hilfreich ein. Einem Bericht der Königsberger Armenkommission zufolge verteilte der Magistrat i m Frühjahr 1847 annähernd 5000 Scheffel Kartoffeln als Saatgut zum Preis von einem Reichstaler pro Scheffel und Brot zu verbilligtem Preis an bedürftige Bewohner. Außerdem wurden für die Notleidenden Suppenküchen eingerichtet. Weiterhin stellte die Festungsbauverwaltung zur Zeit der Hungerkrawalle 1847 i n Berlin auf Anraten der Armenkommission fünfzehnhundert Arbeiter bei Erdarbeiten an. 8 9 Die Königsberger Stadtverordnetenversammlung forderte i n ihrer Petition v o m 14. März 1848 weitere Arbeitsgelegenheiten für das Proletariat. Diese Maßnahmen haben die N o t nicht behoben, gewiß aber gelindert. Tatsächlich trat das L a n d v o l k trotz seiner Unzufriedenheit 1848 nur bei unbedeutenden Zwischenfällen revolutionär zutage. Die Unruhen i n Berlin und anderen Städten waren zum Teil eine Reaktion des proletarischen Handwerks gegen die wachsende Konkurrenz der Fabriken und das M o n o p o l der Meister. Königsberg jedoch w a r industriell rückständig. Es kannte deshalb das Ausmaß der sozialen Revolution noch nicht. 1840 gab es i n der Stadt nur wenige Fabriken m i t mehr als dreißig Arbeitern, und selbst u m die Jahrhundertmitte waren es kaum mehr als ein Dutzend Betriebe i n der gesamten Provinz m i t mehr als hundert Beschäf87

Georg von Below, »Aus der Zeit Friedrich Wilhelm I V . — Briefwedisel des Generals Gustav von Below", Deutsche Rundschau, Bd. 109 (1901), S. 268—71, Brief vom 6. Dezember 1846. 88 Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848—49, Bd. I , S. 59. 89 Matull, Ostpreußens Arbeiterbewegung, S. 8.

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Arnold Schütz tigten. 9 0 Königsberg zog auch nicht das verarmte, unzufriedene Proletariat an, das der Hauptstadt der Monarchie zuströmte. Berlin, m i t seinen 400 000 Einwohnern, w a r eine unpersönliche, kalte Metropole, während Königsberg m i t etwa 76 000 Einwohnern noch den Charakter einer mittleren Residenzstadt hatte. Z w a r regte es sich, besonders unter den Handwerksgesellen, „doch das w a r damals ein noch ganz unbeackerter Boden, auf dem nur allerlei U n k r a u t i n Blüte stand," wie R u d o l f von Gottschall sich ausdrückte. Den „baltischen Kulis [fehlte] noch jedes Verständnis für Politik, und . . . die Zunge w a r dem vierten Stand i n Deutschland damals noch nicht gelöst". 9 1 Selbstbewußter, organisierter, klassenbewußt w a r das Proletariat nur i n den industrialisierten Gegenden, i n Sachsen etwa, w o Stefan Born sie zu mobilisieren versuchte, oder i m Rheinland, der H e i m a t von M a r x u n d Engels. Das ostpreußische Proletariat konnte weder durch Quantität noch durch Qualität entscheidend auf die Wahlen von 1848 wirken. Doch einen Effekt hatte es: seine bloße Existenz, verbunden m i t den Unruhen i n Berlin, Schlesien und anderen Teilen Deutschlands schreckte das Bürgertum und vereinigte es m i t dem gemäßigten liberalen Adel. Furcht vor der roten Revolution ließ die Gefahr der Konterrevolution vergessen. Der Fischhausener Landrat K u r t von Bardeleben, der noch i m 1. Vereinigten Landtag mutig gegen seinen Monarchen aufgestanden w a r und Jacoby um Rat dabei erbeten hatte, drückte gewiß die Meinung vieler aus, wenn er schrieb: „ A n Reaktion zu glauben, ist eine A r t Wahnsinn, es dokumentiert eine Kurzsichtigkeit, einen Mangel an Urteil, was bei einem Menschen von einigem Verstand unbegreiflich i s t . " 9 2 Während Bardeleben u n d andere Altliberale seines Typs die Gefahr v o n rechts nicht sahen, fürchteten sie die „Republikanerbande", die „noch viel Unglück über Deutschland bringen" werde. 9 3 M i t dem Konservativismus w a r man gewohnt umzugehen, obwohl man ihn nicht liebte. Eine radikale Linkswendung hingegen barg unbekannte Gefahren. M a n erwartete Chaos, Anarchie, soziale Revolution, materiellen Schaden. Diese Furcht drängte Ostpreußen einschließlich seiner Hauptstadt ins Lager der gemäßigten Rechten. Die östliche Provinz des Königreichs, zusammen m i t dem Regierungs90

Karl Faber, Die Haupt- und Residenzstadt Königsberg in Preußen — Das Merkwürdigste aus der Geschichte, Beschreibung und Chronik der Stadt (Königsberg 1840), S. 319—21. Sdiuppan, Jacoby im Vormärz, S. 41 und 64—65. 91 Gottschall, Aus meiner Jugend, S. 256. 92 Rosenberg, Die ostpreußischen Abgeordneten, S. 35 zitiert Brief vom 1. Juli 1848. 93 Ibid., Brief Bardelebens an seine Frau, Frankfurt, 28. Mai 1848.

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bezirk Düsseldorf — beides liberale Brutstätten — stellte fast die H ä l f t e der konservativen Abgeordneten i n der preußischen Nationalversammlung. Schlesien, einst konservativ, aber v o n agrarischen Unruhen geplagt, sandte fast die H ä l f t e der radikal linken Abgeordneten nach Berlin. Gerade da, w o der Konservativismus i m Vormärz am stärksten verwurzelt war, fielen die Wahlen am radikalsten aus. W o der Liberalismus schon vor 1848 Fuß gefaßt hatte, wurde politische Mäßigung geübt. 94 I n diesem Licht w i r d die Abkehr Königsbergs v o n seiner Führungsrolle innerhalb des deutschen Liberalismus und die Wahlniederlage Jacobys nicht nur ein zufälliges, sondern ein durch die materiellen Gegebenheiten erklärbares Ereignis. Auch i n der weiteren H ä l f t e des Jahrhunderts w i r d Königsberg nicht mehr die Position zurückgewinnen, die es i m Vormärz innehatte. N u r einmal noch, bei der Bildung der Fortschrittspartei, spielen Politiker der Provinz Preußen eine führende Rolle i n der liberalen Entwicklung Deutschlands. 95 I m allgemeinen sinkt Königsberg jedoch während der Reakt i o n zur Provinzstadt ab. Die wichtigsten liberal-demokratischen Entwicklungen der Z u k u n f t gehen v o m Westen aus. I n der Neuen Ä r a sind es Thüringen u n d Hannover, die den Nationalverein hervorbringen. Die Organisation der Demokratie i n der Volkspartei geht v o n Sachsen, von Frankfurt, von Baden und Württemberg aus. Die Sozialisten gewinnnen Stärke gleichfalls i n Sachsen, i n Berlin und i m Rheinland. Ostpreußen hat i m Vormärz die Leitung des Liberalismus i n Deutschland stellen können. Neuen Entwicklungen, die von den Notwendigkeiten einer industriellen Gesellschaft diktiert werden, kann die agrarische, geographisch abgelegene Provinz nicht mehr folgen.

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Donald J. Mattheisen, „Voters and Parliaments in the German Revolution of 1848 — An Analysis of the Prussian Constituent Assembly", Central European History, Bd. V, Teil 1 (März 1972), S. 9—11. 95 Reinhard Adam, „Der Liberalismus in der Provinz Preußen und sein Anteil an der Entstehung der Deutschen Fortschrittspartei*, Altpreußische Beiträge — Festschrift zur Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums-Vereine zu Königsberg Pr. vom 4. bis 7. September 1933 (Königsberg 1933), S. 145—81. 111

HERBERT M E I N H A R D MÜHLPFORDT DAS SATURGUSSCHE H A U S I N U N D DIE FAMILIE

KÖNIGSBERG

SATURGUS

Als einziges Gedenken an Königsberg gab die Deutsche Bundespost um 1950 eine Briefmarke zu 90 Pfg. heraus, die den Mittelbau des prächtigen Palais Neuer Graben 6 i m Stil Ludwigs X V I . m i t seinen vier gewaltigen Granitkugeln und den schräg gestellten Fahnenstangen zeigte. Dieser stolze Bau wurde allgemein i n Königsberg „Zschocksches Stift" genannt, auch i n den verhältnismäßig spärlichen wissenschaftlichen Arbeiten über das Haus, seinen Garten und seine Eigentümer. Doch diese Bezeichnung ist falsch, denn das Haus, damals nur aus zwei Stuben m i t geringem Zubehör bestehend, kaufte Anna Elisabeth Saturgus, geb. Kayser, i m Jahr 1722. 1 Das Zschocksche Stift aber wurde erst genau 150 Jahre später, 1872, als zweistöckiger, 24 Fenster langer, schmaler, zwei Zimmer tiefer häßlicher T r a k t südlich an das Saturgussche Haus angebaut. Es w a r ein Stift für unverheiratete Kaufmannstöchter, die zwar den Saturgusschen Garten benutzen durften, aber niemals i m Saturgusschen Haus gewohnt haben, das ausschließlich bis zur Vernichtung durch englische Phosphorbomben am 29./30. August 1944 Familienbesitz blieb. Der Stammvater der Königsberger Saturgus hieß A d o l f und wanderte am Ende des 17. Jahrhunderts v o n Düsseldorf nach Königsberg aus.2 Er war Weinhändler und hatte begriffen, daß auch die Ostpreußen rheinische Weine lieben. Er wurde 1681 Bürger i m Kneiphof. Sein Weinhandel blühte, und noch i m selben Jahr heiratete er die reiche Königsbergerin Anna Elisabeth Kayser, Tochter des Steinhauers auf der Lastadie Bartholomäus Kayser. 1 · 3 1 Fritz Gause „Der Grundbes. d. Famil. Saturgus i. Kbg." Uns. Ermld. Heimat 2 Bl. 3. S. 9—10. o. Verl. Ort. 1956. 2 Ein Stammbaum befand sich im Kbger Staatsarchiv. Manuskript A 131. Bl. 56. 3 Herrn. Güttier „Kbgs Musikkultur i. 18. Jh. e Kbg. 1925.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt Adolfs I . Saturgus Stammhaus, w o er zunächst nur Mieter war, befand sich Ecke Kneiphöfische Langgasse—Magisterstraße und hieß, weil dort auch eine Gewürzkrambude hauste, „Grüne Apotheke". Saturgus starb schon am 6. V I . 1700, desto länger lebete seine, am 6. O k tober 1664 geborene W i t w e . Sie war es, die, wie Güttier 3 und Gause 1 nachwiesen, i n den Jahren 1722—41 einen gewaltigen Grundbesitz zusammentrug. A m 13. Januar 1722 kaufte sie von den Erben des soeben verstorbenen Kaufmanns und Vorstehers der Altstädtischen Pfarrkirche Daniel Baumgarten ein auf der Lastadie am Neue Graben gelegenes Grundstück, bestehend aus Haus, Garten und Stall für 3100 Florinen. Der 1932 verstorbene Stadtarchivar D r . W i l l i a m Meyer 4 hat die Regesten dieses Grundstücks veröffentlicht. Aus der i m Besitz des Kuratoriums des Zschockschen Stiftes befindlichen Kaufurkunde von 1722 geht hervor, daß das Haus nur zwei Räume übereinander enthielt, was wichtig ist; ich komme darauf noch zurück. M a n hatte v o n diesem Landhäuschen einen weiten Blick über Wiesen, flaches L a n d und Pregel bis zum H a f f . Außer einigen Seilerbahnen w a r dies Land vor der Stadt unbebaut. D a n n kaufte die geschäftstüchtige Frau am Pregel und auf der Lastadie nach und nach zahlreiche Speicher, weiter den Schöpners-(Schäfers-)Krug und andere Gebäude, dann den „kleinen Garten" zwischen den Altstädtischen Speichern auf der Lastadie, ein Haus i n der Altstädtischen Predigergasse, eins i n der Koggengasse und anderen Grundbesitz. Ferner erwarb sie die „Grüne Apotheke" i n der Kneiphöfischen Langgasse. Als fromme Frau vergaß sie dabei des W o h l tuns nicht; sie begründete i m Altstädtischen W i t w e n - und Waisenstift gegenüber der Neuroßgärter Kirche, das seit 1721 bestand, eine kleine Saturgussche Familienstiftung m i t 1 Stelle. 5 Anna Elisabeth hatte das Geschäft nach ihres Mannes Tode m i t ihren Söhnen A d o l f I I . und Friedrich zusammen geführt, das Gartengrundstück am Neuen Graben m i t Friedrich gemeinsam be- und genutzt, löste aber kurz vor ihrem Tode am 30. A p r i l 1746 Handels- und Gütergemeinschaft 4

„Regesten u. Stammtafeln z. Gesch. d. Zsdiocksdien Stiftes i. Kbg." Altpr. Geschlkde 4. Kbg. 1930. „Nachweis d. Stiftungen u. Legate d. Stadtgem. Kbg." Kbg. Pr. 1889.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus und behielt das Gartengrundstück, das sie w o h l sehr geliebt haben muß, für sich allein, u m bald danach i n ihm zu sterben. Sie Schloß 82jährig am 15. August 1746 „die müden Augen i n ihrem Garten z u " 6 - 7 — also dem Garten an dem kleinen Haus, aus dem bald der berühmte Saturgus'sche Garten erwachsen sollte. Nicht weniger als sechs gedruckte Leichencarmina wurden der tüchtigen Frau gewidmet, eins v o n dem Königsberger Localdichter Johann Friedrich Lauson, v o n dessen M u t t e r Frau Anna Elisabeth 1731 einen Garten gekauft hatte, von dem w i r noch später zu sprechen haben werden. Z w e i Totencarmina stammen v o n zweien ihrer Enkel: A d o l f I I I . Bartholomäus und Friedrich Franz, die bis 1944 auf der Stadtbibliothek zu Königsberg erhalten geblieben waren. E i n Aquarell der alten Dame m i t ihren beiden Söhnen soll sich nach Goldstein 6 i m Besitz des Königsberger Konsuls M i n k o w s k i befunden haben. V o n den neun K i n d e r n dieser zielstrebigen Frau kennen w i r fünf — vermutlich sind die vier anderen klein gestorben. Anna Barbara

* 4.1.1682 i n Königsberg, verh. 1700 m i t dem Memeler Bürgermeister A d a m Adler, f 1717 i n Königsberg;

Maria

* 1683, verh. 1711 m i t dem Memeler Kaufmann Schiller, •(· i n Memel;

Adolf I I

* 25. X I I . 1685, Kaufmann der Altstadt und Vorsteher der K a t h . Kirche, verh. 1720 m i t Dorothea Juschke, •j* 15. V . 1739, beigesetzt i m Erbbegräbnis i n der Kathol. Kirche;

Anna Dorothea

* ?, verh. 1715 m i t dem Kaufmann Andres Ide, -f vor 1746;

Friedrich

* 21. I I . 1697 i n Königsberg, Kaufmann, Commerzienrat, un vermählt, -f 25. V . 1754 i n Königsberg.

Die äußerlich so erfolgreiche Frau hat also alle ihre Kinder überleben müssen m i t Ausnahme des jüngsten Sohnes Friedrich, der Hauptperson dieser Abhandlung. 6

Ludwig Goldstein „D. Zschocksche Stift i. Kbg." Neue Kunst i. Altpr. 1 H . 2 S. 49—66 Kbg. 1911. Er war der Wiederentdecker dieses im Dornröschenschlaf vergessenen Kbger Gartenwunders. 7 Ders.: „Ein ostpr. Gartenheim*, Ostdt. Moh. 2. S. 114. Danzig. 1921.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt Dafür sah sie eine Reihe Enkel erblühen, von denen uns nur die Kinder i m Mannesstamm interessieren: A d o l f I I Saturgus hatte vier K i n d e r : Catharina Elisabeth, verh., ·(· nach 1750; Barbara Louise, verh., -j- 10. V . 1780; Friedrich Franz * 27. X I . 1728 i n Königsberg, Großkaufmann, 1754 Commerzienrat, verh. 1762 m i t Anna Christina Werner, verw. Wiersbicski, f 23. X I I . 1810 i n Königsberg; A d o l f I I I Bartholomäus * 1730 i n Königsberg, Kaufmann Kirchenvorsteher, unvermählt, -f 1803 i n Königsberg. 8 · 9

und

I n ihrem Testament v o m 14. M a i 1746 vererbte Anna Elisabeth Saturgus ihren großen Besitz zu fünf gleichen Teilen an ihren jüngsten Sohn Friedrich und ihre Enkel. Uns geht hier die Bestimmung 7 besonders an, i n der sie dem Sohn Friedrich neben dem Stammhaus „den m i t ihm gemeinschaftlich genutzten ,Großen Garten' am Neuen Graben m i t dem ,dasigen Wohnhauß' und dem ,daran gelegenen kleinen Wohnhauß' sowie ein K a p i t a l von 10 000 Gulden" vermachte. 4 Dieser Sohn Friedrich ist es, der aus diesem Erbe zielbewußt den berühmten Saturgusschen Garten schuf. Ich möchte i h m das ehrende Beiwort des königlichen Kaufmanns zuerkennen, nicht, weil er sein Geschäft m i t Glück führte, sein Vermögen vermehrte und es zusammenzuhalten verstand, sondern weil er es wahrhaft großartig anzulegen wußte, indem er der Schöpfer eines zauberhaften Rococogartens und des Saturgusschen Hauses wurde. Er erscheint als M i t t e l p u n k t der glücklichen Kaufmannsdynastie Saturgus. Er erwarb m i t seinem Bruder A d o l f I I 1733 Wohnhäuser am Neuen Graben. 1734 kauften sie das stattliche Haus Kneiphöfische Langgasse 38 zu dem hohen Kaufpreis v o n 16 000 fl. v o n dem k uja vischen Domherrn Bonaventura Heinicke. Dies Haus wurde nun der Sitz der bereits weitbekannten Firma. Später erhielt es die Hausnummer 5. Der Maler Andreas Knorre hat es gezeichnet. D a n n kaufte Friedrich 1744 einen Speicher i n der Tränkgasse, am 24. X I . 1747 einen an sein Erbe stoßenden Garten, 1749 eine Reiferbahn auf der 8 Joh. Sembritzki „Notizen üb. d. Familie Saturgus*, Oberi. Geschlbl. 3. S. 130. 4. S. 153. Kbg. 1901—02. Dt. Geschl.buch genealog. Hdb. bürgerl. Famil. Charlottenburg-Görlitz. 1889—1915.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Laak m i t einem Speicher, 1750 einen Eckspeicher am Altstädtischen Bohlwerk, 1752 18 Wohnungen am Neuen Graben. Friedrich Saturgus, der 1748 Commerzienrat geworden war, wußte, warum er dieses alles zusammenkaufte und damit seinen Grundbesitz um ein mehrfaches vergrößerte. L u d w i g Goldstein 6 fand i m K g l . Preuß. Staatsarchiv i m Jahre 1911 ein Aktenstück v o m 14. J u l i 1749, das eine „prétieuse" Wasserleitung betrifft, die der „Commerzienrat Friedrich Saturgus aus seinem hinter der Neuroßgärter Kirche gelegenen Brunnen" anlegen wollte, u m von dort gutes Wasser nach dem am Neuen Graben gelegenen Garten zu leiten. Es ist dies das älteste vorhandene Aktenstück über die Wasserspiele des Saturgus'schen Gartens. Denn der königliche Kaufherr Friedrich wollte i n seiner Vaterstadt etwas Neues schaffen i m neuesten Geschmack des Rococo. Deshalb kaufte er alle diese Grundstücke i n jener v o r den Toren gelegenen lieblichen weidengrünen Gegend zusammen. Die H a n d l u n g i n der Kneiphöfischen Langgasse w a r so angesehen und so wohlhabend, daß sich ihr Inhaber schon einen teuren kunstvollen Gartenbesitz m i t gediegenem Haus leisten konnte. Seit Beginn des Jahrhunderts bereits war die Firma führend und sie wußte, wie aus 69 noch erhaltenen Kabinettschreiben dreier preußischer Könige von 1728—1797 hervorgeht 6 » 10 auch m i t dem Berliner H o f gute Beziehungen zu unterhalten. Namentlich hatte Friedrich W i l h e l m I . sich immer für etwas zu bedanken, sei es für einen „langen K e r l " oder für einen Neujahrswunsch m i t Lippitzhonig oder einem Tönnchen preußischen Pökelfleisches aus der Saturgus'schen Großhandlung. Als Saturgus den ersten i n Königsberg gebauten Dreimaster v o m Stapel laufen ließ, kehrte der K ö n i g i n dem stattlichen Patrizier- und Geschäftshaus i n der Kneiphöfischen Langgasse als Frühstücksgast ein und nahm aus dem großen Glaspokal den Ehrentrunk entgegen. Das gleiche gute Verhältnis blieb unter Friedrich I I . bestehen. I m September 1752 drückt Friedrich i n einem Schreiben seine Befriedigung darüber aus, daß Saturgus seine „Neveus" i n fremde Länder schicken wolle: er sendet ihnen die „Passe10 Walter Pirsch „Beschreibg. d. Zschockschen Fräuleinstiftes u. seines Gartens" Mscr. i. Besitz d. Verf., der es bereits i. Ostpr. Warte 1958 Nr. 3—4 — verwertete.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt ports" und wünscht, daß „sie sich den Zweck dieser Reise immer vor Augen halten" möchten, damit sie bei ihrer Zurückkunft „als solide Kaufleute und Negotianten sich établiren können. " 6 > 1 0 Dieser Wunsch sollte bald i n Erfüllung gehen; nach Friedrich Saturgus' Tode 1754 setzten seine Erben — „Beyde Brüder Söhne" — das gute Verhältnis zum K ö n i g als wertvolles Erbe fort. 6 » 1 0 Der königliche Kaufherr stand i n den besten Jahren, als er daranging, sein neues H e i m zu schaffen. Das Schwierigste w a r die Wasserversorgung für die i m Garten geplanten Wasserkünste, wie er sie vielleicht i n H e l l b r u n n bei Salzburg oder i n Italien gesehen haben mochte. Das Wasser der v o n i h m auf dem Neuroßgärter Kirchenberge gekauften Quelle mußte durch unzählige Grundstücke fast 1 k m weit durch H o l z röhren weitergeleitet werden. Die Quelle mußte weiter erbohrt werden; die Leitung durchschnitt öffentliche Wege und fremde Grundstücke; von jedem mußte Saturgus sich die Gerechtigkeit der Rohrführung erwerben. Auch weitere Sprinde i n den Wiesen wurden als Wasserquelle erworben. Dies war w i r k l i c h eine „prétieuse" Sache, aber die Energie des Commerzienrates überwand sie. Den Abschluß seiner zielbewußten Besitzabrundung bildete die am 29. Januar 1753 durch den Magistrat erfolgte Verschreibung eines Ganges, der um den ganzen Besitz des Commerzienrates am Neuen Graben führte und den er „aus eigenen M i t t e l n verfüllet, bepflastert und m i t einer Lindenplantage besetzt auch m i t zwei zierlichen Thören geschloßen" hatte, so daß „dem publico hiedurch kein Nachtheil entstehet, sondern viel mehr darunter gedienet ist". 6 D e m all engegenüber war der Ausbau des Gartens die kleinere Aufgabe. Saturgus ging m i t Eifer und Freude daran. I m Sommer 1753 w a r alles fertig. Der Zaubergarten konnte seine Wasser springen lassen, die Lindenalleen, noch jung, versprachen lauschige, schattige Plätze zu bieten, die Sandsteinputten grüßten v o n ihren Postamenten, Rococowasserspiele erfreuten den Besucher und die Muschelgrotte als H a u p t p r u n k w e r k stand funkelnd da. Leider wissen w i r nicht, ob ein und welcher Gartenarchitekt Saturgus dabei zur Seite gestanden hatte. Alles das ist gerade noch zu seinen Lebzeiten von dem bekannten Königsberger „Wasserpoeten" Johann Friedrich Lauson 1 1 beschrieben worden. 1 2 11

* 15.X. 1727 als Sohn eines Regimentsquartiermeisters. Sdiüler des Friedrichs-Collegs, 1744 an der Albertina als stud. jur. immatriculiert, 1751 Lehrer der Löbenichtschen, dann der

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Der Commerzienrat Saturgus w a r sein alter „ K u n d e " . Er hatte ihm 1747 m i t einem Geburtstagscarmen, 1748 gar m i t einem Festspiel „Ganymed" zum Geburtstag, 1753 m i t einem schmeichelnden Widmungsgedicht als Menschenfreund und Liebhaber der Dichtkunst aufgewartet, jetzt bot der neue Garten des königlichen Kaufmanns, v o n dessen Herrlichkeiten sehr bald die Spatzen von allen Dächern Königsbergs pfiffen, eine nicht wiederkehrende Gelegenheit, durch ein bewunderndes Carmen etwas zuzuverdienen. Lauson besuchte den Garten, „interviewte", wie w i r heute i n so schönem Deutsch sagen, seinen Schöpfer und trug ihm das, was er gesehen, i n einem langen Carmen i n dem überschwänglichen, devoten, beweihräuchernden Tone vor, wie diese Herren das damals alle machten. W e i l die Verse so dahinplätscherten wie murmelnde Wasserbäche, oder auch w e i l die albernen Übertreibungen und faden Schmeicheleien alles verwässerten, so nannte man diese „Dichter" höchst treffend „Wasserpoeten". U m so mehr müssen w i r Goldstein 6 dankbar sein, daß er eine Reihe von Versen aufbewahrt hat. U n d auch dem Wasserpoeten Lauson müssen w i r für sein — zugegeben elendes — Machwerk dankbar sein, denn es beweist uns, daß der verwunschene Garten des alten Saturgus 1753 vollendet w a r . 1 2 Das Gedicht beginnt: „Der Garten, dessen Reitz vor meinen Augen schwebt, Ist wehrt, daß ihn ein Lied von bessrer Hand erhebt. Doch genug hiervon gereimt. Es scheint der schöne Garten Nunmehr auf meinen Blick mit seltner Pracht zu warten. In diesen darf man kaum mit zweyen Schritten gehn, So wird ein Blumenstück uns schon vor Augen stehn, Dies ziert ein breiter Gang von den Orangerien Und acht13 in Stein geschnitzt fast redende Statüen, Kneiph. Stadtsdiule. Dodi legte er 1765 dies Amt freiwillig nieder. Schon 1750 gab er die Zeitschrift „Daphne" heraus, wo seine Gedichte, moralisdien Abhandlungen, Briefe, stets nur mit Buchstaben unterzeichnet, erschienen. Mitarbeiter der Daphne war vielleicht sogar Hamann. Doch weder Lehrtätigkeit noch Zeitschrift brachten Lauson viel ein, so daß er sich auf die Verfertigung zahlreicher Gelegenheitsgedichte verlegte, die damals beliebt waren. Auch schrieb er 31 Vorspiele, ein Trauerspiel „Gafforio" und übersetzte den „Tartuffe" in Versen. Er starb am 4. X . 1783. Sein ölporträt hing in der Kbger Stadtbibliothek. 12 „Zweeter Versudi in Gedichten" S. 258 ff. Kbg. 1754. Das als Widmungsexemplar (?) erhaltene handschriftliche Gedicht verbrannte mit den Akten des Zschodtschen Stiftes im englichen Phosphorbombenhagel am 29./30. August 1944. 1 3 In unserer Zeit waren nur noch vier vorhanden.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt Die eine bildet uns den jungen Hercules, Die steife Löwenhaut und Keule zeiget es... Schamhaftigkeit hat dort sich an den Baum gelehnet, Sie hält die Augen zu, und schämet sich, und stehnet... Pomona zeiget dort den Apfel, doch versteckt Weil sie den Rücken sich mit ihrer Hand bedeckt. Antumnus scheint ihn ihr ganz offenbar zu zeigen . . So werden die Putten besungen; ein Stückchen weiter folgte die Schilderung der Muschelgrotte, aus der w i r ersehen, daß sich i n den 190 Jahren bis 1944 nicht das Geringste i n ihr verändert hatte: „Es nahet sich der Fuß zur prächt'gen Grotte hin. Ein Drach' giebt Wasser uns, statt Feuer zum Gewinn. Es strait drey Mann hoch stark an dieser Grotte Füßen Aus Frosch und Schlange muß ein künstlich Wasser fließen, Will man hernach herauf zu dieser Grotte gehn, So sieht man Nelkentopf bunt in drey Reyhen stehn, Sie wollen zu voraus Blick und Geruch entzücken; Doch man erstaunt, wird man die Grotte nur erblicken. So Muschel, Schneck als Stein umleuchten uns mit Pracht Im Spiegel ist ihr Bild vervielfacht angebracht, Und alles bildet uns die mancherley Naturen Von Schneck und Muscheln ab in zierlichen Figuren. In zwoen Ecken sitzt ein Götze hingestreckt, Der Hand und Kopf bewegt und Aug und Zunge reckt, Von Muscheln seh ich selbst drey Schreckgesichter bilden Die sich schon von Natur versilbern und vergülden. Viel kleine Puppen stehn herum von Porcellain, Im Mittel kann man noch die Muschelkrone sehn, Die in sechs Armen noch, statt daß ihr Licht uns nützet, Durch eine Wasserkunst viel Wasser von sich sprützet. Ja selbst von unten sprützt sogar durch manchen Stein, Das Wasser Bogenweis bis in die Luft hinein. Und kann uns unvermerkt, in dem wir uns ergetzen Erstaunend und entzückt ganz unter Wasser setzen. Der Grotten ganzer Bau ist unbeschreiblich schön, Vollkommen angelegt, dies wird der Neid gestehn. Ich wollte sie auch wohl noch Bogenlang beschreiben, Doch wer sie nicht gesehn, wird's nicht dem Dichter gläuben. Ich geh betrübt hinaus, und seh sie traurig an, Weil sie zu prächtig ist, daß ich sie schildern kan." So wenig echte Poesie dies Carmen auf den Garten auch enthält, es bestätigt uns, daß er eine ganz große Sehenswürdigkeit war, die zu besuchen kein namhafter Gast der Pregelstadt, v o m Gelehrten bis zum Fürsten, versäumte.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Besonders war

die Muschelgrotte, deren Schilderung durch Lauson w i r

nichts hinzuzufügen brauchen, ein Unicum i n Ostpreußen, w o h l gar i m ganzen Nordosten. V o n den vier zu unserer Zeit noch erhaltenen Sandsteinputten gehörten zu den Jahreszeiten Antumnus und Pomona, zu den Tugenden Hercules und die Schamhaftigkeit. Sie sind künstlerisch sehr hochstehend, entzükkende rundliche Kinder des Rococo. V o n den vier anderen wissen w i r nichts, ebensowenig kennen w i r den Namen des Künstlers. A l l e Statuen sind drei Meter hoch und tragen am geschweiften Sockel das Wappen des Commerzienrates: 3 fünfzackige Sterne i m ovalen heraldisch umrahmten Felde. Ebenso gehört i n die Anfangszeit des Gartens sicher der sogenannte Laufbrunnen, der zu unserer Zeit unter einer Holzveranda an der Gartenseite des Zschockschen Stiftes stand, früher aber sicher einen anderen Standplatz hatte, und der ebenfalls dem Spiel des Wassers diente. Malerisch hingestreckt vor einer künstlichen Tuffsteinwand lagern hier zwei nackte Gestalten, rechts ein langbärtiger Wassergott und links eine schöne Nymphe, zwischen sich eine Urne, aus der einst Wasser flöß. Uber der Tuffsteinwand erhob sich eine geschweifte Steinwand, auf der eine zweite N y m p h e als K r ö n u n g des Ganzen ruhte. I n der M i t t e des Aufbaues befand sich zu unserer Zeit eine bemalte kreisrunde Scheibe, so daß das Ganze wie eine Rococostutzuhr i m Großen aussah. Es ist sehr möglich, daß die kreisrunde Öffnung hinter der Scheibe tatsächlich ein vielleicht v o m Wasser betriebenes U h r w e r k trug. Diese Gruppe stand einst i n dem später abgebrannten Gartenteile und w a r w o h l das einzige Kunstwerk, das von dort her gerettet werden konnte. Doch davon später. I n einer Sachverständigentaxe v o m 27. A p r i l 1775 w i r d ein „Trélianisches W e r k 1 4 , 13 Fuß i m Quadrat, eine Etage hoch" erwähnt, „worinnen v o n feinen Sand Steinen zwey Götter der Erde und Wasser stehen, m i t Wasser Urnen, die das Wasser i n einem Muschel laufen lassen nebst dem Glockenspiel, so v o m Wasser getrieben w i r d " . Es ist wahrscheinlich, daß der „ L a u f brunnen" das Mittelstück dieses Werkes war. Natürlich fehlte auch ein Irrgarten nicht. Er lag rechts v o m Lindengang. I n diesem stand, bis 1944 erhalten, eine etwa 4 Meter hohe Feldsteinpyramide, die i n ihrer Gestalt an den T u r m zu Babel erinnerte, wie er sich 14

von la treille = Gitterwerk.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt auf Renaissancegemälden alter Meister findet. I n unregelmäßigen Spiralen läuft ein bald steiler, bald flachgeneigter, durch Treppen unterbrochener Weg um den T u r m herum, den oben eine Spitze krönt, aus dem das Wasser springbrunnenartig heraushüpfte, um auf den Steinen des Turmes sich sammelnd den Schraubenweg als silberne Schlange hinabzurieseln. D a also auch diese hübsche Spielerei den Wasserkünsten diente, ist sicher anzunehmen, daß sie v o n Friedrich Saturgus bzw. seinem trefflichen Gartenarchitekten geschaffen worden ist. Sicherlich gehörte auch die i n einem anderen Gartenteil aufgestellte Sonnenuhr aus Kalkstein zu den ältesten Einrichtungen des Gartens, denn Lauson besingt auch sie: „Nun will ich meinen Fuß in die Alleen wenden, Sie teilen wie ein Τ den ganzen Garten ein; Die breite Seite wird das Blumenstücke sein Allwo die Grotte liegt, dem Hause gegenüber . . . Die Ecke wird den Blick zur Pyramid' erhöhn, In welcher Nelken bunt, in bunten Töpfen stehn . . . Recht in der Mitte ist die Sonnenuhr zu sehen: Der Schatten wird sich hier auf Alabaster drehen." Dies war aber noch nicht alles. Wie w i r aus dem Gedicht Lausons wissen, enthielt der Garten noch einen Aussichtsturm, eine Pyramide und einen Teich m i t exotischen Fischen und Grotten m i t Zwergen und allerlei Getier. Dies ging alles i m Gartenbrand am 4. M a i 1803, einem Bußtage, zu Grunde. So also sah der Garten aus, als der königliche Kaufmann Friedrich Saturgus erst 57jährig i m Frühling 1754 die Augen Schloß: ein einheitlich reizender Rococogarten, ein Veitshöchheim i m Kleinen! — Wenn Lauson übrigens den Commerzienrat als Liebhaber der Dichtkunst und Musik gefeiert hatte, so w a r das v ö l l i g i n Ordnung: schon 1728 ließ Saturgus eine Sammlung deutscher Passionslieder v o n Brockes i n H a m b u r g kommen, die i m katholischen Gottesdienst eingeführt wurden. I n seinem Rococohaus und -garten spielte oft der junge Königsberger Musiker Johann Friedrich Reichardt 1 5 , der es später zu Friedrichs des Großen Hofkapellmeister bringen sollte. Saturgus w a r es, der i h m durch die Spende von sechs Dukaten seine erste Reise nach Danzig ermöglichte. Auch für das Theater hatte der königliche Kaufherr eine offene H a n d ; er ließ 1748 v o n 15

Joh. Friedrich Reichhardt „E. Musikerjugend i. 18. Jh." herg. v. W. Zentner. Regensburg 1940.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Mitgliedern der Truppe der Theaterprinzipalin Anna Christine O h l das v o n Lauson 1 1 zu seinem Geburtstag gedichtete Festspiel Ganymed i n seinem Garten aufführen 1 6 . Später ermöglichte er Ernst K o n r a d Ackermann den Bau des ersten festen Theaters auf dem Kreytzenschen Platz. Auch fanden Liebhabertheateraufführungen statt. W i r wissen ferner, daß unter den Gemälden Theodor Gottlieb v. Hippels d. Ä., die den Grundstock unserer Königsberger Galerie bildeten, Bilder waren, die rückseitig den Namen Saturgus trugen, die der Commerzienrat also als Kunstfreund gesammelt und der Stadtpräsident später — vielleicht beim Zusammenbruch der Neffen — aufgekauft hatte. Die Erben des Commerzienrates waren seine beiden Neffen, die Söhne Friedrich Franz, geb. 1728, gest. 1810, und A d o l f ( I I I ) Bartholomäus, geb. 1730, gest. 1803. Der Ältere erhielt bereits m i t 26 Jahren, 1754, den Commerzienratstitel, man sieht auch hieraus, zu welchem Ansehen sein Oheim die Firma — auch bei den Berliner Behörden — gebracht hatte. D a n n wissen w i r von i h m noch weiter, daß er sich i n zweiter Ehe m i t der W i t w e A n n a Christine Wiersbitzki, geb. Werner, vermählte, die i h m einen Stiefsohn Franz W i l helm W . i n die Ehe brachte. 9 A d o l f , der unvermählt blieb, t r i t t hinter seinem Bruder i m öffentlichen Leben zurück, aber als Kaufmann w i r d er genauso tüchtig gewesen sein wie sein Bruder. Sie hatten schon durch die Getreidelieferungen an die preußische Armee während der beiden schlesischen Kriege gut verdient, aber besonders i n dem nun ausbrechenden siebenjährigen Kriege verstanden die Brüder es, zur Zeit der russischen Besetzung Ostpreußens (1758—62) die Getreidelieferungen für die russische Armee an sich zu ziehen. Dadurch wurden sie die reichsten Kaufherren Königsbergs. Außer dem Stammhaus i n der Kneiphöfischen Langgasse und dem Saturgusschen Hause besaßen sie ein M ä l z - und Brauhaus i n der Koggenstraße, drei Wohnhäuser auf dem Sackheim, Wohnhäuser auf dem Anger, i n der Neuen Sorge, i n der Fleischbänkenstraße, dazu nicht weniger als 20 Speicher, darunter diese uns noch wohlbekannten: Der Wilde Mann, der Lauenspeicher, Adler, Pelikan, Storch, Lamm, Schwan, Kücke, Gerechtigkeit, der Drostespeicher. 16 Fritz Gause „Gesdi. d. Stadt Kbg." Bd. I I . S. 134. Köln — Graz. 1968.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt D a diese Namen nur bei den Verkäufen, aber nicht bei Ankäufen vorkommen, so schließt Gause 1 , daß die Brüder diese Speicher erbaut und benannt haben. Das Vermögen der Firma betrug 902 460 Gulden 1 . Einmal w a r Friedrich Franz auch politisch tätig. Als der Gouverneur Gen. L t . Suwarow eine drückende Rekrutensteuer für Königsberg ausgeschrieben hatte, reiste er 1761 m i t dem Bürgermeister Kelch nach Petersburg, um dort deren Nachlaß zu bitten. 1 6 Doch die Sache wurde hinfällig, weil die Ereignisse weitergeschritten waren und Zar Peter I I I . Frieden m i t K ö n i g Friedrich machte. V o n ihrem großen Reichtum machten die Brüder — immer ist Friedrich Franz der i m Vordergrund stehende — einen edlen Gebrauch: sie standen als Wohltäter i n Königsberg i n bestem Ruf. Als katholische Familie stifteten sie reiche Geschenke für die Wallfahrtskirche Heilige Linde. 1 7 Als die Kathol. Pfarrkirche und der Pfarrwidem 1764 bei dem gewaltigen Brande des Sackheims v o m Feuer verzehrt waren, gaben sie ihr Haus zum N o t gottesdienst her 1 7 und stifteten 95 000 Gulden zum Wiederaufbau. Ebenso bedachten sie die Altstädtische Kirche für die neue Orgel von A d a m G o t t lob Casparini i m Jahre 1763 m i t einer namhaften Summe. Auch ihren schönen Gartenbesitz vermehrten und verschönten sie fortlaufend. Sie kauften am 17. September 1753 den angrenzenden Garten des Kriegs- und Stadtrates Reinhold Heinrich Schröder für 4000 Gulden hinzu und Friedrich Franz verfügte, daß „die von diversen Besitzern acquirirten Gründe fortmehro nicht getrennt werden können". 6 I m Garten vermehrten sie die Skulpturen, aus ihrer Zeit stammen die Rococovasen, v o n denen noch zwei erhalten sind. Sie sind m i t Rocaillen und traubennaschenden Tauben sowie dem Saturgusschen Wappen reizend verziert und künstlerisch wertvoll. O b sie v o n dem gleichen Künstler, wie die Putten stammen, wissen w i r nicht, nach dem Stil allein setzt Ulbrich 1 8 ihr Entstehungsjahr auf 1790. — U n d das Saturgussche Haus? Z u einem Garten gehört ein Haus — das ist nur selbstverständlich. U n d w i r wissen ja aus der Kaufakte v o n A n n a Elisabeth Saturgus v o m 13. Ja17 Adolf Pesdimann „Zwei kathol. Commerzienräte i. Kbg." Unsere Ermländ. Heimat. 1955. Nr. 2—3. 18 Anton Ulbridi „Gesch. d. Bildhauerkunst i. Ostpr. v. Ende d. 16. Jh. bis gegen 1870. 2. Bde. Kbg. 1926—29.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus nuar 1722, daß das Grundstück m i t einem „Wohnhauß m i t zwei übereinanderliegenden Stuben, einem kleinen Wohnhauß und einem S t a l l " 4 bebaut gewesen war. Wenn der Königliche Kaufherr Friedrich Saturgus also seinen K ö n i g Friedrich W i l h e l m I . auch i n seinem Gartengrundstück bewirtet haben sollte, so hat er ihn i n diesem bescheidenen Häuschen bewirtet. W a n n aber wurde das uns allen bekannte Saturgussche Haus, Servisnummer 984, ab 1810 Neuer Graben 6, gebaut? Der unbefangene Betrachter urteilt nach dem Baustil: reinster Stil Louis X V I . — also Erbauung um 1790. Genau dieses Jahr ist i m Dehio von 1922 zu lesen und Ulbrich setzt die Entstehung auf „ u m 1793" an. Der neue Dehio-Gall 1 9 aber schreibt: „nach 1776, vermutlich 1788". Aber alle diese Jahre sind unmöglich. Erstens findet sich i n der Servisakte von 1752 der Passus: „ N o . 984, N o . 985, N o . 986 werden von Grund an neu gebaut und sollen v o m 1. Juni 1752/53 3 Baufreyheitsjahre haben. 4 » 6 Also fand 1752 ein Neubau an Stelle des zweizimmerigen Wohnhauses statt. Zweitens beschreibt der Wasserpoet Lauson 1 1 1754 nicht bloß den Garten des Commerzienrates, sondern auch sein Haus i m Innern i n allen Einzelheiten schwulstig und langatmig so, wie w i r sie kennen. Besonders hebt er das „Vogelzimmer" i n den H i m m e l . Seine Wände waren m i t Vögeln lieblich bemalt — man denke an das Zimmer Voltaires i n Sanssouci — und es wurde als Vogelkäfig für viele seltene exotische Vögel eingerichtet. Das Haus, wie w i r es heute kennen, muß also schon 1754 gestanden haben. Drittens schildert 1779 der weitgereiste Basler Astronom und Mathematiker Johann Bernoulli 2 0 , als er 1777 Königsberg besuchte und Gast i m Hause Saturgus war, das Naturalienkabinett, das Saturgus den Erben des reformierten Hofpredigers Jacob Schrotberg (·(· 1732) abgekauft hatte, dessen Vorsteher 1766 Immanuel K a n t war und das 1790 bzw. 1820 i n den Besitz der Universität bzw. des Zoologischen Museums übergehen sollte, aufs genaueste. 19 Dehio-Gall „Dt. Ordensld. Pr." München 1951. 20

„Joh. Bernoullis Reisen durch Brandenbg., Pommern, Preußen, Curld., Rußld. und Pohlen i. d. Jahren 1777/78" Bd. I I I . 1. Abt. Leipz. 1779.

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Herbert Meinhard Mühlpfordt Er schreibt: „ I c h besuchte H e r r n Professor D r . Bode 2 1 , der das sartoriussche [sie!] N a turalienkabinett größtenteils angelegt hatte . . „ H e r r D r . Bode hat es nicht mehr unter seiner Aufsicht, weil sich die U m stände des Eigentümers verändert hatten, wodurch auch das Kabinett selbst i n andere Hände gerathen dürfte. Es verdient wirklich besehen zu werden und w i r d den vornehmsten durch Königsberg reisenden Fremden als eine der Hauptmerkwürdigkeiten dieser Stadt, und die m i t am besten für jedermann i n die Augen fällt, gezeigt; auch hält man ein eigenes Buch, i n welchem sich die, welche dieses Kabinett besuchen, einschreiben... Die Sammlung erstreckt sich auf . alle Theile des Naturreichs. V o n jedem ist ein großer V o r r a t h vorhanden. Sie ist i n einem schönen Zimmer m i t Geschmack aufgestellt — meist hinter Spiegelglas i n Schränken, aber i m Ganzen soll sie nach dem Urtheile v o n Kennern an vorzüglich seltenen Stücken nicht sehr reich seyn. Doch erkennt jedermann die Börnsteinsammlung als vorzüglich schön u n d vollständig. Die Anordnung w a r m i r besonders neu; die Stückchen Börnstein hängen m i t Fäden an hölzernen Rosten, i n zween Glasschränken. A n Mineralien ist die Sammlung sehr stark. . . . ich bemerkte viele russische und sibirische, und prächtige Silberstufen. Z u den Versteinerungen gehören ein schöner Cerebrit, eine Kinnlade des Hippopotamus usw. Z u den Meerprodukten: große Porzellanen und Pinnae marinae; eine mittelmäßige Gießkanne, eine Patelle mucronata, eine Rose von Jericho, und viele künstlich geschnittene Schnecken und Muscheln. V o n den Vögeln findet man viele i n H e r r n D r . Bodes 21 preußischer O r n i thologie beschrieben. Hierher gehört auch eine Sammlung von 400 Eyern i n kleinen Körbchen nebst zwey Adlereyern. Die Insektensammlung w i r d theils i n Schachteln verwahrt, theils hinter Gläsern und Rahmen an den Wänden hängend; sie hat sich aber nicht gut erhalten. Was aus dem Pflanzenreich vorhanden ist, darüber finde ich nichts i n meinen Anmerkungen; w o h l aber, daß zu dem Naturalienkabinett eine schöne 21

Ein Namensirrtum Bernoullis. Er meinte Prof. Bock.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Sammlung von Büchern, Kupferstichen und Zeichnungen gehört, und daß ich i n demselben ein großes drey Fuß langes gregorianisches Teleskop bemerkt habe". Dieses Naturalienkabinett, von dem der gelehrte Pisanski 22 sagt: „es übert r i f f t alle ehemaligen und jetzigen i n Preußen an Vollständigkeit und Kostbarkeit", war w o h l erst eine Schöpfung der Brüder Friedrich Franz und A d o l f Bartholomäus; doch haben sie es bereits i m Anfang ihrer Besitzzeit ausgebaut, denn wie hätte sonst ihr Betreuer und Schilderer i m Druck, der Königsberger Professor Friedrich Samuel Bock, schon 1764 v o n ihm sagen können: „ H i c locus i n v i t â t , 2 3 prohibet, desiderai, arcet Musarum socios, turbas, pia pectora, vulgus." 2 4 und K a n t schon 1766 der Vorsteher dieses reichhaltigen Kabinettes sein können? Aus diesen drei Gründen ist unabweisbar sicher, daß das Saturgussche Haus schon 1753 fertig gewesen sein muß — just gleichzeitig m i t dem Garten. Das ist eigentlich nur selbstverständlich. Daran kann kein Baustil etwas ändern. Der Bauherr des Saturgusschen Hauses ist also der königliche Kaufherr Friedrich Saturgus d. Ä . Noch eine Bestätigung dieser Feststellung bringt die von Goldstein 6 aufgestöberte Sachverständigentaxe v o m 27. A p r i l 1775: „Das Garten H a u ß ist 54 Fuß lang 32 Fuß tief, eine Etage hoch, m i t einem à la mansarde Dach, massiv gebauet, darinnen ist ein H a u ß Flur, eine Küche zwey Stuben zu Seiten, ein Saal, ein Cabinett und m i t schönen Gips Decken versehen, ein H a u ß Flur nach dem Garten, w o innen eine Commoditaet. Unter diesem Hause ist ein gewölbter Keller, auch v o n außen m i t zwey steinernen Sand Treppen versehen. Nach der zweiten Etage zu gehen ist eine gewundene Treppe, ein Vorhauß, ein großer Saal m i t zwey zierlichen Caminen 2 5 und Gips Decken, neben bey ist eine Sommerstube, auf der anderen Seite eine Garderowe, ein Schmuck Zimmer, über diesem ist 22

Georg Christ. Pisaniski „Entwurf e. pr. Literärgesch." i. 4 Büchern. Kbg. 1790. oder: „incitât" = begeistert. 24 Gastlich lädt ein dieser Ort die Gefährten der Musen, verhindert Lärmen, zärtliche Herzen ersehnt er, wehrend dem Pöbel. 25 „Hier wird sich ein Kamin mit franschem Laubwerk zeigen, Sein Bruder will sich dort nicht vor dem andern neigen", singt Lauson. 23

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Herbert Meinhard Mühlpfordt eine freye Lucht, das Dach ist verschaalt m i t glasierten Dachpfannen, die fronte Spieße m i t Kupfer bedeckt. Vorbemeldetes Garten H a u ß ist i n sehr gutem Stande und w i r d auf 4350 f. taxiert". 4 A u f Goldsteins 6 Bitte hin nahm 1911 der Reg. Baumeister Walter Schwartz Messungen an den Fundamenten vor. Sie ergaben an der Seitenfront der A l t städtischen Tränkgasse eine Tiefe von 34 Fuß (nicht „32 Fuß") und die Länge des ganzen Hauses w a r viel größer als 54 Fuß. Als aber nun der Mittelbau m i t den beiden rückstehenden Flügeln gemessen wurde, zeigte sich, wie die Taxe angab, eine Tiefe v o n 32 Fuß und eine Länge von 54 Fuß. D a m i t w a r der Beweis erbracht, daß der Commerzienrat Friedrich Saturgus 1753 nur den Mittelbau des Hauses m i t sieben Fenstern Front hat erbauen lassen. Bau und Aussehen des uns bekannten Saturgusschen Hauses m i t elf Fenstern Front muß aber das Werk eines späteren Umbaues sein. Vermutlich w a r das Haus des Kaufherrn Saturgus i m Rococostil verputzt; vielleicht trug es ein paar bescheidene Stuckranken. Aber diese Fassade wurde später abgeschlagen und i m Zopfstil m i t Laubund Blumengewinden u n d Medaillons und Portalüberdachung geschmackv o l l erneuert; die vier gewaltigen Kugeln und Fahnenstangen wurden nun erst vorgelegt und überragten das neue Satteldach; vor allem aber wurden die beiden hervorstehenden Seitenrisalite angebaut. Goldstein 6 schließt nun aus dem Stil der Fassade, daß dieser Umbau nach dem Verkauf des Grundstücks an den Stadt-Justizrath Samuel Kuhnke 1788 vorgenommen worden ist. Diese Zahl hat Dehio-Gall übernommen. Ich finde nun i n den v o n W . Meyer 4 abgedruckten Regesten folgende Eintragung nach dem Original: „13. A p r i l 1795: Eingehender Kostenanschlag für einen neuen Anbau von zwei Etagen und einen deutschen Dach an dem Wohngebäude des Negotianten Samuel Kuhnke, unterschrieben von dem Maurermeister August Tredler". D a m i t ist das Rätsel des Saturgusschen Hauses gelöst. 1722 ein bescheidenes Gartenhaus aus zwei Stuben m i t 3 Fenstern Front, Neubau 1753 zum 7fenstrigen Rococohause des königlichen Kaufherrn Friedrich Saturgus, Umbau 1795 zu dem prächtigen Haus i m Zopfstil m i t 11 Fenstern Front, wie w i r es alle noch kennen. — Ich habe zeitlich vorgegriffen.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus Die Brüder Friedrich Franz und A d o l f Bartholomäus Saturgus mußten auf der Höhe ihres Reichtums und ihres stolzen Besitzes dennoch die Wahrheiten erfahren, daß da, w o es nicht höher hinaufgeht, der Rückschritt einsetzt, und, daß es leichter ist, ein Vermögen zu erwerben, als es zusammenzuhalten. Z w a r noch bis 1777 ahnte man w o h l allgemein i n Königsberg noch nicht, daß ihre Finanzen bereits zu wackeln anfingen, denn sonst hätte die K a t h o lische Kirche Friedrich Franz w o h l kaum noch zum Kirchenvorstand gewählt. Die Brüder machten nach wie vor ein großes Haus. A m 11. J u l i 1776 soupierte bei ihnen der russische Großfürst Paul, der spätere Zar, und des Königs Bruder Prinz Heinrich. Kaufleute i n roter U n i f o r m und gelber goldbetreßter Weste hielten die Ehrenwache. Der ganze Garten war i l l u m i niert und Saturgus hielt an die Prinzen eine rührende Ansprache. Das Fest w a r sehr gelungen und besonders die russischen Gäste fanden alle ihre Erwartungen übertroffen, obwohl sie abends zuvor i m Keyserlingschen „ M u senhof" fürstlich gespeist hatten. Indessen hatten die Brüder bereits i m Jahre 1768 acht Speicher verkaufen müssen, 1772 verkauften sie die Reiferbahn auf der Laak an den Reifschläger Jacob Ritter für 2500 Gulden preußisch, jedoch m i t der Auflage, sie nie zu bebauen, weil durch dieses Grundstück die Holzröhren gingen, die das Saturgussche Haus und den Garten m i t Wasser versorgten. Indessen standen damals auch noch Käufe den Verkäufen gegenüber: so kaufte Friedrich Franz 1769 das Theater am Kreytzenschen Platz von dem Negotianten George Bruinwisch für 15 000 fl., auf dem er eine H y p o t h e k von 3000 fl. stehen hatte. Auch 1774 kauften die Brüder noch sechs abgebrannte königliche MagazinSpeicher „auf dem sog. Schild" 2 6 . Trotzdem ging es immer weiter bergab. Die Verluste, die Saturgus in Polen durch Prinz R a d z i w i l l erlitten hatte, waren zu ungeheuer, als daß es gelungen wäre, das Leck zu stopfen. Der Zusammenbruch w a r nicht der Brüder Schuld. I n einem Dokument der Katholischen Kirche heißt es ausdrücklich: „ N o n tarn sui, quam alterius causa". 17 26

Häusergrupen um das Sackgäßchen, das zwischen den Speichern Lastadienstr. 15—16 mündete.

9

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Herbert Meinhard Mühlpfordt 1776 mußten die Brüder von dem Kaufmann Matthias Lesle die gewaltige Summe von 96 724 Reichsthalern gegen Hypotheken auf zahlreiche Grundstücke und Speicher aufnehmen, von denen Lesle 60 000 Thaler an den Kaufmann Melchior Kade abtrat. Friedrich Franz hatte um 1775 zum preußischen H o f ausgezeichnete Verbindungen, besonders durch den Grafen Ahasvérus Heinrich v. Lehndorff, den Kammerherrn der K ö n i g i n Elisabeth Christine. Auch diese Beziehungen ließ er spielen. U n d er erhielt v o n Friedrich dem Großen tatsächlich 30 000 Thaler leihweise auf zehn Jahre, damit „dieses ansehnliche und auf auswärtigen Plätzen sonst sehr accreditine Handlungs Hausz conserviret werden könne«. Aber der Konkurs, der seit 1777 klar auf der H a n d lag, w a r trotz allem nicht abzuwenden. D r e i Gemälde aus Friedrich Franz' Besitz: ein Gemälde nach dem Selbstbildnis Rembrandts m i t der Mütze von einem deutschen Rembrandtnachahmer, ein männliches Brustbild auf H o l z , niederländisch aus der Zeit Rubens', ein Stilleben m i t Büchern und Kupferstichen, alle drei Saturgus gezeichnet, wurden verkauft und befanden sich bis 1945 i m Besitz der Grafen Eulenburg i n Wicken, Prassen und Gallingen 2 7 . Zwei weitere m i t dem Signum Saturgus wurden v o m Stadtpräsidenten Th. G. v. H i p p e l gekauft und gelangten so i n die Königsberger Gemäldegalerie. 1781 nahm Saturgus noch ein Darlehn v o n 60 000 Thalern von dem Kriegsund Domänenrat und Bankdirektor Albrecht Schleemüller auf. Dieser gab das Geld von der Königlichen Bank, d. h. der K ö n i g versuchte m i t dieser Summe den Verfall der Firma aufzuhalten. 1782 ging das Stammhaus i n der Kneiphöfischen Langgasse an den Sohn des langjährigen Nachbarn, Johann Abraham Scherres, verloren. Es brachte nur 12 000 Thaler. I n den Jahren 1783—84 kam dann alles unter den Hammer. Die Zierde des Saturgusschen Hauses, das herrliche Naturalienkabinett, brachte beim ersten Termin „eine zu kleine B o t t " und wurde daher am 16. Januar 1784 an den Meistbietenden, den Commerzienrat W u l f f 1 6 verkauft. Später wurde es Grundstock des zoologischen Museums. Auch das Theater auf dem K r e y t 27

Graf Botho Eulenburg-Wicken „Z. Schicksal d. Kunstsammlg. d. Com. Rat. Saturgus" Altpr. Geschl. Kde J. S. 86 Kbg. 1931.

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus zenschen Platz wurde 1784 verkauft. Bruinwisch erwarb es für 13 500 fl. zurück. U n d schließlich mußten sich die Saturgus auch noch von ihrem schönen Palais trennen. I m März 1788 kaufte es Bruinwisch 4 » 6 , von dem Gause 16 sagt, „es sei nicht ersichtlich, ob er den Untergang als Konkurrent beschleunigt oder als Freund verzögert habe", für 21 000 fl. Aber noch i m gleichen Jahr verkaufte er es für 24 000 fl. weiter an den Stadt-Justizrath Samuel Kuhnke. 4 » 6 D a m i t begann für das Saturgussche Haus eine neue Ära, die das Werk des königlichen Kaufherrn Friedrich Saturgus erhielt und pflegte. — Durch den Konkurs der Brüder Saturgus verlor die katholische Kirche ihr gesamtes Vermögen v o n 31 026 Gulden. Es k a m am 1. August zu einem heftigen K o n f l i k t zwischen ihr und Friedrich Franz, ihrem Oberkirchenvorsteher, denn er hatte die gesamten Beneficiengelder und sonstigen K a pitalien beim Konkurs eingebüßt. 28 » 16 Der schließliche Betrag, den die Kirche am 25. Oktober 1790 v o m Etatsministerium durch die Sachwalter, unter denen auch der Stadtpräsident v. H i p p e l war, ausgezahlt erhielt, w a r 464 Thaler, 14 gr. 15 Pf. — 8 Wie die Brüder Saturgus ihr Leben nach dem Zusammenbruch weiterführten, ist nicht deutlich; um 1800 gründete Friedrich Franz ein neues bescheidenes Geschäft; A d o l f Bartholomäus starb 1803, er selbst 1810. D a m i t starb auch der Name Saturgus aus. Doch es lebten noch bis 1945 Nachkommen der Familie Saturgus i n K ö nigsberg, wenn auch nicht mehr i m Mannesstamme; es waren dies die Dichterin Agnes Miegel 2 , deren Ururahne Anna Barbara Saturgus war, und der Königsberger Buchhändler Fritz Grunwald, dessen Urahne Barbara Louise Saturgus war. V o n derselben leitete auch der Kölner Dichter und Intendant Ernst H a r d t seinen Stammbaum her. Spät erst — 1933 — benannte auch die Stadtverwaltung Königsberg die Woedestraße nach den Saturgus um. W a r u m man ihnen aber an einer so entlegenen Stelle, zu der die Saturgus nicht die geringste Beziehung hatten, diese Ehre erwies, ist unerfindlich.

28

Gustav Sommerfeld „D. Kath. Kirche i. Kbg. u. d. Großkaufm. Friedr. Saturgus" Altpr. Mosdir. 52. S. 373—77 Kbg. 1916. 9*

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FRIEDRICH RICHTER DER VERSUCH DER

INDUSTRIALISIERUNG

OSTPREUSSENS* E i n Beitrag zum Thema: Wirtschaftsplanung und Privatinitiative

Der Geschichtsforschung über die deutsche Ostsiedlung w i r d immer wieder die Frage gestellt werden, wie groß — ganz abgesehen von der militärischpolitischen Kräftelage — die innere Widerstandskraft unserer östlichen Siedlungsgebiete war, um deren Erhaltung w i r m i t Polen und Rußland immer wieder gerungen haben. W a r es doch stets das Ziel der Siedlung, die östlichen Gebiete i n den Besitzverhältnissen, sozialer Struktur und kultureller Intensität dem alten K u l t u r l a n d i m Westen anzunähern, nicht aber nur militärischen Boden zu gewinnen und nun m i t Militärmacht zu halten. Z u r Problematik der landwirtschaftlichen Siedlung ist schon viel geschrieben worden. Z u r industriellen Seite des Siedlungsproblems ist auch schon einiges an anderer Stelle gesagt, doch fehlt i n der Literatur ein Uberblick über dieses Problem, wie es i n den zwanziger und dreißiger Jahren von staatlichen und wirtschaftlichen Organen und Kräften noch einmal angefaßt wurde, ehe der Krieg und Zusammenbruch das Ende der ländlichen und industriellen Siedlung brachte. Die folgende Skizze der industriellen Seite des östlichen Siedlungsproblems — und damit des Siedlungsproblems überhaupt — soll daher das gängige B i l d der Siedlung und der Ostkolonisation ergänzen, und zwar am Beispiel der Industrialisierung Ostpreußens, wie sie i n den Jahren 1920—39 versucht wurde, m i t dem Ziele, eine gesunde, ökonomisch tragfähige Wirtschaftsstruktur und soziale oder gesellschaftliche Gliederung Ostpreußens zu erreichen. Ergänzen w i r also das gängige B i l d ländlicher Siedlung durch eine Betrachtung der gewerblichen oder industriellen Seite der Frage und versuchen w i r festzuhalten, was i m konkreten Falle * Dieser Bericht entstand 1946 als Vortrag in einem Internierungslager, ohne Unterlagen, nur auf Grund persönlicher Erinnerungen und Beobachtungen. Er wurde 1966 im Bundesardiiv (BA Ostdok 10/342) archiviert und 1978 zum Abdruck im nächsten, hier nun vorliegenden Jahrbuch übernommen. Der Autor: geb. 1913, ab Mitte 1935 in Landesplanung bzw. Landesgewerbeamt Ostpreußen, ab 1937—1936 im Ostpreußenreferat des Reichswirtschaftsministeriums wiss. Hilfsarbeiter bzw. Referent.

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Friedrich

Richter

des Ostpreußenplanes auf diesem Teilgebiet erreichbar w a r und erreicht wurde. Bei der Betrachtung des Ostpreußenplanes w i r d uns die ökonomische Frage immer wieder begegnen, wie staatlich-wirtschaftspolitische Initiative und freies Unternehmertum zusammengeführt werden können, u m einer gesellschaftlichen und ökonomischen Notlage H e r r zu werden. Wieweit konnte der Staat dazu beitragen, neue unternehmerische Kombinationen und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen? Eine Fragestellung, die nicht nur historisch von Belang ist. Die Wirtschaftsgeschichte des deutschen Ostens wurde i n der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts — unbeschadet der machtpolitischen Entwicklung der östlichen Staaten — v o n zwei Faktoren beherrscht: einmal v o n dem deutschpolnischen Nationalitätenkampf um den Boden, dann aber ökonomischgesellschaftlich von der Landflucht. Die Landflucht ergab sich zwangsläufig aus der Anziehungskraft der wachsenden west- und mitteldeutschen I n d u strie, aus der mangelnden Ertragskraft der ostdeutschen Landwirtschaft und der daraus resultierenden unzulänglichen sozialen Chance, wie sie die ländliche Arbeit dem Bauern und Landarbeiter bieten konnte. Die Marktferne, die Kulturferne und die soziale Ferne, die nur zum Teil i n der schlechteren Bodenqualität eine Erklärung fanden, haben damals zur Unterbewertung der ostdeutschen Lebensverhältnisse geführt. Großindustrie, preismäßiger Anschluß an den W e l t m a r k t und die bis zum gewissen Grade gesetzmäßige Preisschere haben der ostdeutschen Landwirtschaft, die auf ökonomischen Grenzböden arbeitete, den notwendigen Ertrag verwehrt. A u f der anderen Seite haben die billigeren Arbeitskräfte gerade noch eine Existenz der Betriebe ermöglicht, aber nicht mehr eine ausgeglichene soziale Struktur. Auch die preußische Ansiedlungspolitik v o n 1886 hat die oben genannten beherrschenden Faktoren nicht neutralisiert, sondern nur i n ihren Auswirkungen abgemildert. 1 Nach dem Weltkrieg hat die Grenzziehung v o n Versailles m i t Schaffung des polnischen Korridors viele Zusammenhänge zerrissen u n d Ostpreußen wie Pommern und die Grenzmark benachbarter Wirtschaftsgebiete beraubt und so die Notlage des Ostens verschärft und klarer herausgearbeitet. Doch bestand das Problem der Landflucht ohnedies. Die Marktferne als ökonomi1

Näheres siehe bei Dr. Friedrich Richter: Preußische Wirtschaftspolitik in den Ostprovinzen; Der Industrialisierungsversuch des Oberpräsidenten von Goßler in Danzig. (Schriften der Albertus-Universität, Geisteswissensdi. Reihe, Band 15), Königsberg — Berlin 1938.

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Der Versuch der Industrialisierung

Ostpreußens

sehe Tatsache stand dem v o n allen politischen Parteien gebilligten Plan, die Ostprovinzen zu kräftigen, i m Wege. Reich und Preußen haben durch die Osthilfe versucht, der N o t H e r r zu werden und die ökonomischen Verhältnisse i m Osten zu stabilisieren und damit eine auch politisch feste Grundlage zu schaffen. Die Osthilfe war eine staatliche Subvention, die viel Geld erforderte — es handelte sich u m Hunderte v o n Millionen — , sie w a r ein Versuch, auf vielen Teilgebieten die Krankheit i n einzelnen Symptomen zu heilen, statt darüber hinaus ihren konstitutionellen Ursachen nachzugehen und sie zu beeinflussen. Es gab Politiker, die erkannten, daß neben der verstärkten landwirtschaftlichen Ansiedelung und damit der Seßhaftmachtung v o n mehr Menschen auf die Dauer nur eine strukturelle Änderung der sozialen Verhältnisse, d. h. der allgemeinen Existenzbedingungen die Ertragskraft der Ostprovinzen heben konnte. Aber es fehlte an der politischen Möglichkeit, solche Ideen zur Richtschnur der gesamten Wirtschaftspolitik zu machen. Es verdienen hier Bismarck, der Danziger Oberpräsident v o n Gossler, August W i n n i g und v o r allem der ostpreußische Oberpräsident v o n Batocki der Erwähnung, die alle die Problematik erkannten und sich neben der Frage der gründlichen ländlichen Siedelung auch dem Problem der Industrialisierung des Ostens widmeten. E i n autoritärer werdender und Wirtschafts- und Landesplanung intensivierender Staat griff 1933 diese Idee auf, um die Wirtschaftspolitik wie die Grenzhilfsmaßnahmen des Reichsinnenministeriums auf das Ziel auszurichten, die Struktur der ostdeutschen Wirtschaft zu ändern, statt weiter zu subventionieren. D i e Chance der wirtschaftspolitischen Lage wurde erkannt und genutzt, um die seit langem erörterten Pläne einer gewerblichen Durchsetzung Ostpreußens als Ausgangspunkt für eine wirtschaftliche Intensivierung der Ostprovinzen zu realisieren, und zwar i m Schatten einer W i r t schaftspolitik des Reiches, die anderen Zielen nachging: U m die Provinz zu stärken, sollte sie wirtschaftlich so intensiviert werden, daß für 2. und 3. Bauernsöhne der Anreiz wegfalle, nach Westen abzuwandern. Das heißt praktisch: der 2. und 3. Bauernsohn sollte entweder siedeln und einen Ertrag erwirtschaften, der das Leben gleich lebenswert wie i m Westen mache, oder nahe industrielle Arbeitsplätze finden, die ihn aufnahmen, ohne daß er dem Osten überhaupt verlorenging. Eine gewerblich intensivierte Wirtschaft und die ländliche Siedlung sollten zugleich einen preislich günstigeren Absatzmarkt für landwirtschaftliche Erzeugnisse bie-

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ten. Die sich intensivierende Wirtschaft sollte die Krisenfestigkeit der ostdeutschen Landwirtschaft erhöhen und damit auch die Provinz als Ganzes krisenfest machen: für Mensch, Familie und Betrieb und für die Provinz sollte allmählich die Abhängigkeit von einem einseitigen Wirtschaftszweig entfallen. Höhere Steuerkraft und damit allmählicher Ausgleich der Steuerund Haushaltsbilanz der Provinz sollte sich auf den Reichsfiskus auswirken. Einmalige Erziehungs- und Entwicklungsbeihilfen sollten sich i m späteren günstigeren Finanzausgleich kompensieren. 2 Als Muster einer krisenfesteren und agrarisch-gewerblich-gemischten W i r t schaft galt damals Württemberg, dessen gemischt-gewerbliche Wirtschaftsentwicklung i m neunzehnten Jahrhundert einer starken erzieherischen Führung durch staatliche Wirtschaftsstellen unter dem Minister von Steinbeis zu verdanken war. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundlagen dieser württembergischen Struktur wurden Studienobjekt einer 1933 gegründeten wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft „Ostpreußen-Württemberg", die i n manchem das Rüstzeug zu wirtschaftlichen Überlegungen i m Osten bot. 3 I n der Praxis bot der immer mehr lenkende Staat folgende H i l f e n : A u f landwirtschaftlichem Gebiet ein Außenhandelsmonopol, die Festpreiszonenp o l i t i k sowie die Zwangszusammenschlüsse der Verarbeiter landwirtschaftlicher Erzeugnisse i n den Hauptvereinigungen und schließlich die M a r k t ordnung m i t ihren regelnden Eingriffen i n Verkehr, Warenbewegung und Absatz. Dies zusammen gab der Landwirtschaft die Möglichkeit, wieder m i t festen Preisen zu kalkulieren. Dabei hat die Preiszonenbildung das den Thünenschen Kreisen entsprechende Ost-West-Gefälle nicht beseitigt, aber gemildert. Die Festpreise und die Marktordnung auch i n der verarbeitenden Industrie erleichterten der neuen ostpreußisch-landwirtschaftlichen Veredelungsindustrie die Kalkulation. Dazu trug nun die mögliche Fixierung eines ostpreußischen Anteils an der industriellen Gesamtverarbeitung l a n d w i r t schaftlicher Erzeugnisse i m Reich ebenfalls bei.

2

Ideenträger u. Verantwortlichkeiten: Die Oberpräsidenten v. Batodki (bis 1919), Winnig (1919—1920), Siehr bis 1932, Dr. Kutsdier bis 1933, Koch ab 1933. — Landesplanung: ab 1933 Prof. Dr. v. Grünberg, Institut f. Ostdeutsche Wirtschaft u. später Rektor der AlbertusUniversität; Stellv. Dr. Fremerey (ab 1931 am Institut f. Ostdeutsche Wirtschaft bzw. volkswirtsch. Seminar Assistent u. Oberassistent) bis 1935. Abteilung Planung Architekt Liedecke; ab 1935 Abteilung Wirtschaft Dipl.-Ing. Fromm; ab 1937 Landesplanung Prof. Liedecke; Landesgewerbeamt Ostpreußen Dipl.-Ing. Fromm. 3 Dr. Erich Preiser, Tübingen: Gemeinschaftsarbeit Ostpreußen-Württemberg, in Planungswissenschaftl. Arbeitsgemeinschaft, Heft 4, Jan. 35.

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A u f dem industriellen Gebiet hat eine entsprechende gewerbliche M a r k t und Erzeugungsordnung nie so weitgehend Platz gegriffen. Sie hätte zu einer Erstarrung der gesetzmäßig dynamischeren gewerblichen Wirtschaft geführt. A l l e theoretisch-wissenschaftlichen Vorstöße i n dieser Richtung blieben ungehört. Doch war immerhin auf dem Gebiet der Rohstoffeinfuhrund -Zuteilung seit Schachts Neuem Plan eine staatliche Lenkung gegeben; sie zwang und ermöglichte zugleich eine quotenmäßige Sicherung der neuen ostpreußischen Betriebe und damit zum Teil auch ihrer Konkurrenzlage. Für die Industrialisierung kamen standortlich zunächst nur Industrien i n Frage, die örtlich anfallende und forstwirtschaftliche Erzeugnisse verarbeiteten oder aber Konsum- und Bedarfsartikel für die Bevölkerung eines 3-Millionen-Landes m i t agrarisch extensiver Struktur erzeugen sollten und deren Rohstoffe auf dem Seewege hereinkamen. Demgemäß erstreckte sich die theoretische Planung zunächst auf Industrieprojekte i n den M i t t e l - und Kleinstädten rund u m die Seehäfen, und von dort aus allmählich weiter i n die Provinz greifend. Dieses theoretisch angenommene Schema hat sich annähernd i n die Praxis umgesetzt. Die niedrigen Grundstückspreise waren anziehend, und für manches Rohmaterial w a r infolge der Frachtbasisrechnung oder der frei-Empfangsstation-Lieferung einzelner organisierter Rohstofflieferanten i m Reiche die Bezugsmöglichkeit der ostpreußischen Werke der i m Reich gleich. Dazu kam die Erwartung, daß der zu größerer Auftragserteilung neigende Staat i m Zuge der Wirtschaftsankurbelung einen größeren Teil öffentlicher Aufträge i n die Grenzgebiete legen werde, selbst wenn i n einzelnen Fällen die Produktionskosten i m Osten i n der Anlaufszeit die Höhe der Produktionskosten i m Westen überschreiten würde. Allgemein w a r die Einstellung, den Ostprovinzen nicht m i t Zuschüssen, d. h. m i t verlorenen Mitteln, zu helfen, sondern vielmehr m i t Erziehungsbeihilfen zu arbeiten. N u r dadurch glaubte man, die ostdeutschen W i r t schaftskreise aus ihrem durch die Osthilfe geförderten Subventions- und Rentendenken und der Wirtschaftslethargie herauszubringen. Natürlich mußte eine solche P o l i t i k i n der Anlaufzeit nicht nur v o m Reichsfiskus Opfer fordern, sondern auch von der reichsdeutschen W i r t schaft, v o m Westen. Denn es waren Betriebsverlagerungen, Auftragsverlagerungen, Zusiedelung von Arbeitskräften, d. h. zeitweilige Verschiebungen der Produktionskräfte vorgesehen, um durch eine Ausgleichswirtschaft das wirtschaftliche West-Ost-Gefälle zu mildern. H i e r z u waren natürlich

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staatliche klare Entscheidungen notwendig und Maßnahmen zur Verbesserung des industriell-gewerblichen Klimas. Die Errichtung staatlicher Betriebe wurde jedoch nicht i n Erwägung gezogen, weil auch der ostpreußische Betrieb wie die Gesamtwirtschaft der Provinz nach Durchführung der langfristigen Entwicklungsarbeiten konkurrenzfest auf eigenen Füßen stehen sollte. Daneben konnte i n Einzelfällen die durch Kartelle geschaffene M a r k t o r d nung den neuen Betrieben eine gewisse Sicherheit bieten. Schließlich fand die Wirtschaftsplanung i n der Provinz ihre Ergänzung in der seit längerem i m Kommen befindlichen, sich aber nun stark entfaltenden Landesplanung. Der Versuch, eine Provinz unter anderem wirtschaftlich bevorzugt zu kräftigen, w a r f die Frage des Verhältnisses von Reichs- und Territorialinteressen auf. Andere Provinzen konnten ähnliche ökonomische Argumente anführen und die gleiche Bevorzugung wie Ostpreußen verlangen, andere Reichsteile konnten und haben sich gegen eine von Reichs wegen betriebene Unterstützung dieser Ostprovinz ausgesprochen. U n d doch sprach für diese territoriale Sonderentwicklung gerade das Reichsinteresse; und die Reichsregierung hat i m Jahre 1935 einmal ausdrücklich die Sonderlage dieser Provinz, über die ein Blick auf die Karte belehrte, festgestellt. Sie erkannte und wollte die besondere politische und militärisch-verteidigungsmäßige Lage erkannt wissen. Auch Danzig hat sich m i t diesen Plänen damals gelegentlich kritisch befaßt. Doch mußte bei den gegebenen außenpolitischen Verhältnissen beides versucht werden, nämlich Ostpreußen als Insel zu kräftigen und Danzig als Außenposten. Die oben erwähnte Entscheidung w a r ein wirksamer Schutz gegen den V o r w u r f einer reichsfeindlichen Provinzautarkie; eine stärkere Autarkisierung lag bei der Sonderlage der Provinz i m Reichsinteresse. Infolgedessen konnten und mußten v o m Reich Opfer verlangt werden. I m Rahmen des damaligen Arbeitsbeschaffungsprogramms wurde Ostpreußen leicht bevorzugt. Widerstände gegen das Programm, Ostpreußen zu intensivieren, gab es jedoch nicht nur bei staatlichen Stellen, sondern auch i n der P r i v a t w i r t schaft. O f t sind z. B. reichsdeutsche Händler, die ihren Handelsumsatz i n Ostpreußen durch die Industrialisierung für bedroht ansahen, bis zu den höchsten Stellen vorstellig geworden, bis sie manchmal v o n den allgemeinen Interessen an der ostpreußischen Entwicklung überzeugt waren, andererseits

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auch die veränderten Möglichkeiten erkannten, die der wachsende M a r k t i m Zuge der Industrialisierung auch für den Handel bot. Auch i n Ostpreußen gab es i n großagrarischen Kreisen politische Widerstände, weil diese zum Teil erwarteten, ihre politisch entscheidende Stellung i n der Provinz durch das Wachsen der Industriewirtschaft zu verlieren. Diese Linie konnte ein paar Jahre gesichert werden, bis die beginnende Rüstung, der Vierjahresplan u n d Westwall u. a. wirtschaftliche Aufgaben sich als stärker als die Ostproblematik erwiesen. Diese Programme rangierten v o n 1936 an; mag sein, daß es politisch führende Männer auch nicht mehr als genügende Aufgabe erfaßten, den innerhalb der Grenzen liegenden und extensiv dahinsiechenden Osten auf die Dauer zu sichern. Integrierung Österreichs, des Sudetengaus und Entwicklung des deutschen Ostens wären an sich schon Aufgaben für Jahrhunderte gewesen. Wirtschaftlich ging es beim Ostpreußenprogramm darum, eine zweckmäßige Kombination von staatlicher Wirtschaftsförderung und privater Initiative zu finden. Zur Durchführung der staatlichen Wirtschaftsförderung bedurfte es einer Führungsorganisation, die die Privatinitiative nicht lähmte, sondern förderte und allen berechtigten Wünschen der Unternehmer auf staatliche H i l f e zum Erfolg verhalf. Hieraus ergab sich zwangsläufig i n der Instanz der obersten Reichsbehörden die Notwendigkeit eines besonderen Ostpreußenorgans und i n der Provinz die Notwendigkeit einer Gewerbeförderungsstelle. Der Ostpreußenausschuß: 1935 ergab sich, daß auf die Dauer die Wünsche Ostpreußens bei den Ministerien und zentralen Stellen nicht v o n Königsberg aus m i t dem nötigen Nachdruck und der gebotenen Stetigkeit vertreten werden konnten. Auch legten viele Berliner Stellen Wert auf eine ständige Verbindung mit den ostpreußischen Vorgängen. Der Gedanke einer ostpreußischen Gesandtschaft wurde nicht lange erörtert, weil eine Gesandtschaft separatistische Eindrücke erwecken konnte, andererseits eine Gesandtschaft nach den Erfahrungen süddeutscher Länder nicht wirkungsvoll genug erschien. Auch der Plan der Schaffung eines Ostpreußen- oder Ostministeriums wurde fallen gelassen, weil man die Konkurrenz dieses Territorialministeriums zu den Fachministerien vermeiden wollte. Denn dieses M i n i sterium hätte ähnlich der Reichsstelle für Raumordnung m i t vielen Sachbearbeitern i n die Tätigkeitsbereiche der Fachressorts eingreifen müssen. M a n kam auf Grund der genannten Erklärung der Reichsregierung zu dem i n der Öffentlichkeit kaum bekannt gewordenen interministeriellen Ost-

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preußenausschuß. Er bestand aus namhaften Vertretern der wirtschaftlich oder politisch interessierten Ministerien einschließlich des O K W ; seine Geschäftsführung lag bei dem führend interessierten R W M ; m i t ihr verbunden w a r das Ostpreußenreferat i m R W M , das den Industrialisierungs- und Gewerbeförderungsauftrag auszuführen hatte. Vorsitzer des Ausschusses w a r ein Staatssekretär, 4 Vertreter der ostpreußische Oberpräsident. Der Ausschuß hat mehrmals jährlich getagt und manches der allgemeinen wirtschaftlichen Kräftigung oder der Industrialisierung dienende Projekt v e r w i r k licht. Schwierigkeiten entstanden oft daraus, daß der Ausschuß über keine eigenen M i t t e l verfügte und mancher Beschluß von den Etatverhandlungen der Ressorts abhing. Doch hätte eine Absonderung aller laufenden Arbeiten der Ministerien und auch der M i t t e l keine besseren Ergebnisse erzielt, als der Ausschuß durch seine Mitglieder i n den einzelnen Ministerien erreichte. Auch bei den Haushaltsentscheidungen des Reichs wurden die ostpreußischen Belange gewürdigt, da der Finanzminister i m Ausschuß durch einen Haushaltsbearbeiter vertreten w a r und also stets unmittelbar unterrichtet war. Besonderer Erwähnung bedarf das Verhältnis zum Innenminister. D a dieser i m Rahmen der inneren Verwaltung stets eine besondere Grenzlandpolitik betrieb und dazu v o m Finanzminister reichlich m i t M i t t e l n ausgestattet wurde, kam es oft zu Überschneidungen, die vermeidbar waren, aber peinlich wurden, wenn sie Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik berührten, wie dies ζ. B. bei der v o m Innenminister betriebenen Verteilung verlorener Zuschüsse an Grenzbetriebe der Fall war. Während i n der Zentralinstanz die Dinge m i t einem geringen Personalaufwand gemeistert werden konnten und darin ein taktischer Vorteil lag — es traten überall dieselben Bearbeiter für Ostpreußensonderfragen auf — , machte die minutiöse Kleinarbeit i n der Provinz eine etwas größere Organisation erforderlich. Für die stetige Bearbeitung der Industrialisierungsfragen war eine Stelle erforderlich, die zwar eine behördenähnliche A u t o r i t ä t besaß, aber beweglicher als die laufende Verwaltung war, wirtschaftsnäher und elastischer auch i n Fragen der Verantwortung. Der Gedanke, diese Aufgabe der Selbstverwaltung der Wirtschaft zu übertragen, kam nicht zum Tragen, u. a. weil eine nicht zu große Abhängigkeit von der ostpreußischen Wirtschaft geboten war. W a r doch i n der provinziellen Wirtschaft der H a n d e l vorherrschend und sein Gegenwartsinteresse oft i m Widerspruch 4

Vorsitzer Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Dr. Hans Posse; Geschäftsführung im R WM-Ostpreußenreferat Leiter Dr. Gustiv Fremerey.

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zur langfristigen Industrialisierung. M a n griff daher zunächst zu den Landesplanungsstellen 5 und erweiterte sie zu wirtschaftspolitischen Abteilungen, bestehend aus Volkswirten, Diplom-Kaufleuten und Ingenieuren. Die Verbindung zwischen der allgemeinen Landesplanung und der wirtschaftspolitischen Planung erwies sich i n der Provinzinstanz als zweckmäßig und anregend für alle Beteiligten. Gleichwohl mußte später getrennt werden, als einerseits die Landesplanung zentral an die Reichsstelle für Raumordnung gebunden wurde, andererseits der K o n t a k t zur obersten Wirtschaftsführung des Reichs wichtiger wurde. So wurde Ende 1936 die wirtschaftspolitische Abteilung verselbständigt und als eigenes Landesgew erb eamt dem Oberpräsidium angelehnt, unter Dienstaufsicht des R W M . 6 Dieses A m t hatte die Aufgabe der Förderung der Industrialisierung und daneben der kaufmännischen und technischen Förderung der bestehenden Industrie. War doch die ostdeutsche Industrie, von wenigen großen Betrieben abgesehen, technisch wie kaufmännisch rückständig. Die erzieherische Tätigkeit intensivierte sich hier i m Benehmen m i t der Organisation der gewerblichen W i r t schaft, die i m Reich diese betriebswirtschaftliche und betriebstechnische Aufgabe übernahm. Neben dem Landesgewerbeamt verdient noch die Bezirksausgleichstelle für öffentliche Aufträge besonderer Erwähnung, die die vermehrt i n den Osten verlegten öffentlichen Aufträge unterzubringen hatte. Sie hat durch Leistungskontrolle und K r i t i k viel zur Erziehung der ostdeutschen Industrie beigetragen. Es darf i n diesem organisatorischen Überblick auch auf das enge Verhältnis der genannten Stellen zur Wissenschaft verwiesen werden. Sowohl zu den östlichen Hochschulinstituten wie nach Danzig und Stuttgart 7 und zu den Raumforschungsstellen bestanden rege Beziehungen und gegenseitig befruchtender Gedankenaustausch. Wenden w i r uns nun nach diesem Überblick über die Organisation der Betrachtung der Methoden des Staatseingriffs zu. Die staatlichen Maßnahmen gingen i n dreierlei Richtung: Es wurden I n d u striebetriebe für Ostpreußen geplant, es wurden für Werke und Branchen besondere Hilfsmaßnahmen oder Erziehungsmaßnahmen durchgeführt, und es wurde die Wirtschaftsentwicklung allgemein gefördert. 5

Siehe Fußnote 2. Dienstaufsicht beim Reidiswirtschaftsministerium; Betreuung im Oberpräsidium durch Regierungsdirektor Alexander Koehler. 7 Dr. Preiser, a.a.O.

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Zunächst zur Werks- und Branchenplanung. Aus der Erkenntnis, daß i n den Anfangsjahren eine konsumnahe Industrie entwickelt werden müsse, ergab sich die Planung v o n Mittelbetrieben, deren Produktionsvolumen dem ostpreußischen, bisher v o n außerhalb der Provinz gedeckten Bedarf entsprach. Unternehmer konnten nur durch möglichst eingehende Unterlagen über Bedarf, Preis- und Marktchancen und Konsumgewohnheiten gewonnen werden. Eine vorrangige Aufgabe des Landesgewerbeamtes w a r daher die wissenschaftliche Analyse des ostpreußischen Marktes und die Untersuchung der Kosten einer entsprechenden Produktion i n Ostpreußen. Diese Analyse wurde für die gesamte Konsumindustrie durchgeführt. I n vielen Zweigen der konsumorientierten Industrie konnten Produktionslücken geschlossen werden — und besonders i n der Nahrungsmittelindustrie w a r der Erfolg beachtlich. Zahlreiche Mittelbetriebe drangen m i t ihren Erzeugnissen auf außerostpreußische Märkte vor. Dabei wurden i n Ostpreußen mitunter auch die Konsumgewohnheiten geändert. So entschloß sich ζ. B. die bekannte Teigwarenfabrik Schüle-Hohenlohe zu einer Filialanlage i n Ostpreußen, i n der Erwartung, daß durch entsprechende Werbung für das landschaftsgebundene Werk der an sich unter dem Durchschnitt liegende Nudelkonsum i n Ostpreußen gesteigert werden könnte. Was gelang. N u d e l n waren i n der kartoffelkonsumierenden Provinz an sich fremd. I n diesem Falle trat also nicht einmal eine Schädigung der reichsdeutschen Nudelindustrie ein, sondern Privatinitiative traf sich auf jungfräulichem Industrieboden m i t der staatlichen Planung. Die Planung i n der Halbmaterial- und Produktionsmittelindustrie w a r schon schwieriger. A n sich boten sich die Küstenstädte für eine Weiterverarbeitung von über See b i l l i g herankommenden Rohmaterialien geradezu an. U n d der Bedarf der Fertigungsindustrie und des Handels w a r groß. Doch mag ein Hinweis auf das Stahlprojekt aus den Jahren 1936—38 die Schwierigkeiten beleuchten. Es wurde v o n bestimmten Kreisen verlangt, auch i n die Stahlerzeugung und Weiterverarbeitung hineinzugehen. Z u r Begründung wurde auf die hunderttausende v o n Tonnen betragenden Bahn- und Seeanlieferungen von Eisen und Stahl aus dem Westen verwiesen. Technisch glaubte man, unter Einsatz der großen i m Osten auffallenden Schrottmengen, die bisher i n den Westen gingen, unter Einsatz der über See kommenden Kohle und bestimmter Zuschläge i m Siemens-Martin-Verfahren den Stahlbedarf der Provinz decken und die Verarbeitung nach Ostpreußen ziehen zu können. M a n erinnerte dabei an die unter ähnlichen ökonomischen Bedingungen gewachsenen Stahlwerke i n Bremen-Oslebs-

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hausen, Lübeck und Stettin sowie den Danziger Versuch aus der Jahrhundertwende. Stahlwerke an die Küste. Wenn dieses Projekt nicht realisiert wurde, so lag dies am Ergebnis der Marktanalyse. Der mengenmäßig große Bedarf der Provinz w a r profilmäßig so differenziert und die Streuung der Profile der Walzwerkerzeugnisse war so groß, daß die m i t den Ergebnissen der Marktanalyse vertraut gemachten Eisen- und Stahlexperten eine Rentabilität für unwahrscheinlich hielten. Trieb doch die Stahl- und Walzwerkindustrie zur Vereinfachung der Walzwerkprogramme m i t entsprechend großer Leistung, während w i r i n Ostpreußen den umgekehrten Weg hätten gehen müssen. Anders als i n der Eisen- und Stahlbranche, w o die Fertigung, von Schichau abgesehen, nur langsam gedieh, war es auf dem Gebiet der Holzverarbeitung. H i e r wurden große Fortschritte erzielt, wenn es auch schwierig war, ζ. B. i n der Möbelindustrie die manuelle, kaufmännische u n d geschmackliche Tradition typischer Möbelbaugebiete zu verpflanzen und i n Ostpreußen zum Keimen zu bringen. Waren die Marktchancen erkannt, so wurde seitens des Landesgewerbeamtes i n vielen Fällen noch eine eingehende Standortanalyse durchgeführt, um den i n der Provinz günstigsten Standort zu ermitteln. Dabei spielten Frachten für Rohmaterial und Fertigware wie auch für Verpackungsmaterial ebenso eine Rolle wie die Absatzverhältnisse, der Grundstücksmarkt und das Entgegenkommen der Gemeinden bei der Schaffung der allgemeinen Existenzbedingungen für die Industrie. Ich erinnere nur an Energieanschluß, Straßennetz, Abwässerregelung u. ä. Letzteres wurde bei der Planung des Textilzentrums i n Liebstadt zur entscheidenden Frage. Es mußte Wasser niedriger H ä r t e oder „weiches Wasser" für Wäscherei und Appretur, i n bestimmten Mengen und m i t der Möglichkeit der Abwässerableitung gefunden werden, und die Kosten der Nachklärung des Wassers durften nicht höher sein als die Klärbeiträge i n typischen Textilgegenden. Dies nur als Beispiel für die zusätzlichen Schwierigkeiten der industrialisierten Agrarprovinzen. Dies alles sind auch Standortfaktoren einer Industrie, nicht nur die Frachtlage und die rein menschliche Seite, nämlich die Anstelligkeit der östlichen Arbeiterschaft, ihre Geschicklichkeit manuell, wie die Aufgeschlossenheit der Abnehmerschaft, dies alles mußte bei der Planung berücksichtigt werden. U n d zur Planung gehörte bei zukunftsversprechendem Ergebnis die Unternehmersuche. Es gab nicht viele, die bereit waren, nach Ostpreußen zu

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gehen und Pionierarbeit zu leisten. Dies w a r der schwierigste Punkt der Vorbereitungen. Doch haben i m Laufe der Zeit viele Stellen i m Reich die Problematik erkannt und gerade auf diesem Gebiet geholfen, sei es daß Reichsstellen, Kartelle oder Wirtschaftsorganisationen sich an der Entwicklungsarbeit beteiligten oder einzelne Unternehmer die Chancen Ostpreußens erkannten. Auch der Fall, daß Zweig handler reichsdeutscher Firmen die Möglichkeiten erkannten und i n Ostpreußen dann selbst i n die Produktion gingen, verdient der Erwähnung. Schließlich gehörte zu den Hauptfragen der Industrieplanung die Regelung der Kontingente für Erzeugung oder Verarbeitung. A u f dem Gebiet der Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, wie der auslandsabhängigen Rohstoffe mußten die zuständigen Reichs- bzw. Überwachungsstellen ihre Einwilligung erteilen. Die jährliche Festsetzung der Verarbeitungsmengen aber gehörte zu den wichtigsten Machtbefugnissen der Hauptvereinigungen, die schon oft politischen Charakter erhielten, wenn es u m die Zuteilung an einzelne Landschaften oder an Groß- oder Kleinbetriebe ging. Dies galt fürs ganze Reich. Wenn die Industrialisierung Ostpreußens von Erfolg sein sollte, mußten v o n diesen Kontingenten des gesamten Reichsgebietes bei meist fallender Devisenmenge eine wachsende Quote für Ostpreußen herausgeschnitten werden. Das führte zeitweilig zu härtesten Kämpfen innerhalb der Hauptvereinigungen des Reichsnährstandes, und Erfolge sind allein dem Umstand zu verdanken, daß sie der Aufsicht der zuständigen Ministerien unterstellt waren und nicht allein i m Rahmen des interessierten W i r t schaftszweiges und seiner Selbstverwaltung über die Produktionslenkung entschieden werden konnte. So gelang es doch i n den meisten Fällen, dank der Einsicht der staatlichen oder halbstaatlichen Stellen oder i n schwierigen Fällen auch m i t ministerieller Entscheidung die Interessen der aus allgemeinen Interessen wachstumsfähigen ostpreußischen Industrie durchzusetzen, selbst wenn dazu dieser oder jener Wirtschaftszweig eine K ü r z u n g seines Volumens v o n 1 bis 2 °/o i m Altreich i n K a u f nehmen mußte. Die Verhandlungen um diese Dinge haben viel Zähigkeit erfordert und i n entscheidendsten Fällen mußte schließlich der interministerielle Ostpreußenausschuß eingreifen. Dabei spielten natürlich auch innerreichsdeutsche Konkurrenzverhältnisse eine Rolle, wie ζ. B. i m Jahre 1939 i n der Süßwarenbranche die Frage, ob nicht das Übergewicht des Tengelmannkonzerns i m Reiche zu stark vergrößert werde, wenn dieser die Genehmigung zur Errichtung eines Zweigwerks i n Ostpreußen erhalte.

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Dieser Überblick mag genügen, um das Maß der staatlichen Maßnahmen zu charakterisieren, die zur Planung der Industrialisierung ergriffen wurde. N u n wenden w i r uns kurz den staatlichen Maßnahmen zu, die zur Förderung der Errichtung und des Anlaufens neuer Betriebe vorgesehen waren. D a müssen w i r uns zunächst m i t der Finanzierung befassen: Grundsätzlich w a r eine Finanzierung der neuen Industriebetriebe aus dem privaten Geldmarkt vorgesehen. U n d dies schien möglich, solange nicht die m i t dem Vierjahresplan verbundene Emissionspolitik die staatliche Genehmigung für ein Angehen des offenen Kapitalmarktes erforderlich machte. Daneben wurde jedoch für die Anlaufjahre eine Finanzierungshilfe i n Form der reichsgebürgten Kredite geschaffen, welche schon i n der Osthilfe als I I . H y p o t h e k angewandt worden war. Diese K r e d i t f o r m hat viel Schule gemacht. Während die Beschaffung erststelliger Industriebelastungen auch i n Ostpreußen trotz geringer K a p i t a l k r a f t kein Problem war, weil Ostpreußen banktechnisch ja ein Filialgebiet der deutschen Privatbanken w a r und dadurch die gemäß der Agrarstruktur geringe K a p i t a l k r a f t ausgeglichen wurde, w a ren zweitstellige Hypotheken nur m i t erhöhtem Zins zu bekommen und zu teuer. Wenn aber das Reich die Ausfallbürgschaft übernahm, so konnten auch nachstellige, billige Hypothekenkredite bewilligt werden und damit die Basis für eine Fremdfinanzierung verbreitert werden. Dies w a r zumindest für die Anlaufzeit eine Erleichterung für viele Betriebe, wenn auch der reichsgebürgte K r e d i t niemals zu einer Dauereinrichtung werden sollte. Es konnten durch die Ausfallbürgschaft Kredite m i t hoher Risikoprämie verbilligt werden. Billiges K a p i t a l w a r i n der Zeit des Wirtschaftsanstiegs wichtig. Trotz dieser aktiven K r e d i t p o l i t i k wurden die Kredite m i t größter V o r sicht verbürgt, und sowohl das Reichswirtschaftsministerium wie die beteiligten Privatbanken haben sich der Aufgabe einer vorsichtigen Lenkung dieser Kredite m i t Erfolg durch Jahre hindurch gewidmet. I m Rahmen der gesamten zunehmenden Kreditlenkung des Reiches w a r dieses Verfahren verbilligten Kapitals tragbar, und es rechtfertigte sich auch, wenn man eine wieder liberalere Wirtschaftspolitik i n Rechnung stellte, da die Kredite als Erziehungsmaßnahme für die Anlaufsjahre gedacht waren u n d also einer Kreditausweitung i m Aufstieg einer liberalen konjunkturbedingten Wirtschaft gleichzusetzen waren. Z u r Beschaffung der Reichsbürgschaft wurde auf eine Quote der Exportausfallbürgschaft zurückgegriffen. A n der Kreditgewährung selbst waren vor10

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wiegend die Ostpreußische Landesbank, die Industriebank, die Deutsche und die Dresdner Bank beteiligt. Es entschied ein aus dem R W M , der ostpreußischen Verwaltung und der ostpreußischen Wirtschaft gebildeter Ausschuß. Die letzten Jahre brachten dann noch als weitere Finanzierungshilfe Zinszuschüsse für die Anlaufzeit gewerblicher Betriebe. Der Reichs wirtschaftsminister lehnte es i n den ganzen Jahren ab, für die Industrie- und Gewerbeförderungspläne verlorene Zuschüsse zu gewähren, u m nicht die W i r t schaftlichkeit der Betriebe von vornherein auf eine falsche Grundlage zu stellen und die Industrie nicht wieder der Osthilfegesinnung zuzutreiben. Der Innenminister hat sich leider damals diesen Grundsatz nicht zu eigen gemacht und i m Rahmen seiner Grenzlandhilfsmaßnahmen auch namhafte verlorene Zuschüsse gewährt. Dies mag zwar das Leben einzelner Betriebe verlängert haben, ohne sie auf eine für die Dauer genügende Selbständigkeit zu bringen. Neben diesen Finanzierungshilfen verdient hier die P o l i t i k der Auftragslenkung der Erwähnung. Außer der oben erwähnten bevorzugten Verlegung öffentlicher Aufträge i n die östlichen Grenzgebiete wurde m i t der A u t o r i t ä t des ostpreußischen Oberpräsidenten innerhalb der Provinz eine Ostpreußenpräferenz durchgeführt, d. h. alle öffentlichen Auftraggeber hatten, unter fachlicher Beratung durch die Bezirksausgleichstelle für öffentliche Aufträge, bei jedem zu vergebenden A u f t r a g vorab zu prüfen, ob eine Durchführung innerhalb der Provinz möglich w a r und ihr dann den Vorzug zu geben. War dies nicht möglich, so wurden eventuell Produktionslücken festgestellt oder Leistungsmängel überprüft. Dies hat zur Erziehung beigetragen und durch eine Erhöhung des öffentlichen Auftragsvolumens zur Wirtschaftsbelebung beigetragen. Gewiß ging dies auf Kosten manches Reichslieferanten, aber dies war bei der allgemein anerkannten Zielsetzung des Wirtschaftsprogrammes vertretbar. Allen denjenigen Betrieben, die ganz oder teilweise aus dem Reich nach Ostpreußen verlagerten, wurden darüber hinaus noch besondere H i l f e n zuteil. So trug das Reich einen Teil der Verlagerungskosten, zahlte umsiedelnden Facharbeitern Umzugshilfen und schuf auch i m Rohstoffbezug durch besonders günstige Frachten i n ganz besonderen Einzelfällen Erleichterungen. Besonders letzteres mag den v ö l l i g liberalen Betrachter befremden, weil an sich die Standorteinflüsse sich natürlicherweise aus Entfernung, Gewicht und Menge der zu transportierenden Güter ergeben. Dies lehrt die liberale Standortlehre. A l l e i n wer sich einmal m i t dem deutschen Gütertarifsystem befaßt hat, weiß, daß die Fülle der Ausnahmetarife

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und ihre ökonomischen, d . h . standortbeeinflussenden Auswirkungen Stoff für mehrere Doktorarbeiten geben. D a z u kommt, daß der standortbildende Einfluß der Transportkosten bei vielen Roh- und Halbmaterialien durch die Frachtbasisregelung v o n Kartellen und Verbänden oder frei Station-Lieferungen v o n wirtschaftlichen Vereinigungen ohnehin verschoben sind. Die Standorttheorie w i r d durch alles dies i n ihrer Anwendung verkompliziert. Dies sei zur grundsätzlichen Seite des Problems bemerkt. Die genannten Frachtenerleichterungen sind jedoch nennenswert nicht ins Gewicht gefallen. Sie bekamen fürs erste große Bedeutung, als Polen 1936, 37, 38 den Transitverkehr aus dem Reich nach Ostpreußen i n Verbindung m i t Devisenschwierigkeiten drosselte und der Verkehr auf die See umgelagert werden mußte. H i e r hat das Reich dann Ausgleichsbeträge an die p r i vate Wirtschaft gezahlt, ohne allerdings das Tarifsystem zu beeinflussen. Damals hat der K o r r i d o r und die polnischen Zahlungsforderungen v o m Reich erhebliche finanzielle Opfer verlangt. Z u den Förderungsmaßnahmen für einzelne Betriebe gehören dann Erziehungs- und Ausbildungsbeihilfen für Facharbeiter sowie eine einzige steuerliche Maßnahme: die erleichterte Abschreibung für Investitionsgüter der neuen Industriebetriebe. V o n dem Vorschlag, eine ostpreußische Steueroase für die neue Industrie zu bilden, hat man damals abgesehen, nicht nur, w e i l der Widerstand des Finanzministeriums aus finanztheoretischen Gründen sehr stark war, sondern auch aus grundsätzlichen wirtschaftspolitischen Erwägungen. Denn es w a r Ostpreußen und dem Reich m i t einer Treibhauswirtschaft nicht gedient, sondern nur m i t einer Deckung der i n der Provinz liegenden wirtschaftlichen Chance, unter Berücksichtigung des durch die große Wirtschaftspolitik gegebenen Rahmens. Neuen unternehmerischen Kombinationen wurde nachgespürt, und sie wurden m i t Unternehmern unter erleichterten Startbedingungen genutzt. Aus gleichen Erwägungen wurde auch der hier und dort erörterte Gedanke der Erziehungszölle für Ostpreußen, der an sich etwas Bestechendes haben mußte, grundsätzlich und aus politischen Gründen scharf abgelehnt. Nachdem w i r uns einen Uberblick über die staatlichen Maßnahmen zur Planung von Werken und Branchen sowie zur Förderung ihres Aufbaus verschafft haben, sei noch ein kurzer Uberblick über die allgemeinen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen gestattet, die i n Ostpreußen ergriffen wurden. Ich erwähne hier: 10*

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1. Die Bodenuntersuchungen, insbesondere auf Torf, K a l k , Zement, Tone, Sand- und Spaterze. D a z u gehört auch die Eisensuche auf G r u n d bestimmter i n Masuren liegenden Magnetanomalien. A u f dem Torfsektor wurde intensiv unter Ausnutzung internationaler Erfahrungen gearbeitet. 2. Die Roh- und Werkstofforschung, welche durch Errichtung einer Tochteranstalt des staatlichen Materialprüfungsamtes Dahlem i n Königsberg eingeführt wurde. 3. Die Schaffung von K l ä r - und Abwässeranlagen sowie die M i t h i l f e bei der Regelung wasser- und nachbarrechtlicher Fragen. 4. Der Interessenzusammenschluß innerhalb einzelner Wirtschaftszweige, wie z. B. die „Ostpreußische Arbeitsgemeinschaft Leder", m i t dem Ziel intensiven technischen und ökonomischen Betriebsvergleichs. 5. Die gewerblich-geschmackliche Erziehungsarbeit durch eine gewerbliche Ausstellungsleitung, die unabhängig von der großen und auf den H a n d e l eingestellten Ostmesse i n den kleineren Städten den Gewerbefleiß und die Gewerbeinitiative zu wecken hatte. 6. Schließlich das gesamte Gebiet der Verkehrsplanung, beginnend m i t H a fenerweiterungen i n Königsberg und Pillau und kleineren Städten bis zur Neuplanung eines Industriehafens m i t Seetiefe am Königsberger Seekanal i n Zimmerbude-Peyse. Bei Kriegsbeginn w a r hier ein neues Elektrizitätswerk i m Gange und Werke der Eisenverarbeitung i m Entstehen. Ich darf hier auch die E i n w i r k u n g auf die Autobahnplanung i m Osten erwähnen. Einer der geistigen Väter des Industrialisierungsplanes, Prof. von Grünberg, hat hierbei besonders die Frage studiert, ob es richtig ist, Autobahnen zwischen den Großstädten anzulegen, oder aber so, daß sie bisher weniger entwickelte Landschaften i n gleicher Weise aufschließen, wie dies die Eisenbahnbauten des 19. Jahrhunderts taten, eine Problematik, die niemals eine Entscheidung erfuhr. 7. Die Außenwirtschaft Ostpreußens wurde i m gleichen Maße wie i m A l t reich gepflegt, doch hat sie bis 39 wertmäßig keinen beherrschenden U m fang gewonnen, w a r uns doch das natürliche große H i n t e r l a n d Polen und Rußland nahezu verschlossen. Darüber täuschte auch nicht der an sich starke A n t e i l des Auslandes an der Ostmesse m i t 14 Auslandsrepräsentanten hinweg. Trotzdem w a r der Seehandel umfangreich und seit 1934 i n starkem Aufstieg, weil ein großer Teil der Beziehungen zum Reich und zu den Randstaaten sich über See abwickelte.

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Als das Ostpreußenprogramm bekannt wurde, kamen Ideologen verschiedenster Richtung nach Ostpreußen, u m die verschiedensten Formen des Sozialismus auszuprobieren. V o n Staatswirtschaftlern über K o l l e k t i v l e r bis zu Gegnern des Aktienrechts und Forschern neuartiger Gewinnbeteiligung w a r alles vertreten. Keiner hat sich durchgesetzt, sondern sie verschwanden vor der Vielfalt des sich anbahnenden intensiveren Wirtschaftslebens und dem W i l l e n der treibenden Geister, den Versuch nicht durch Experimente gefährden zu lassen, die Ostpreußen auch i n der Frage der Unternehmensform von der es tragenden Reichswirtschaft getrennt hätten. Doch hat durch die Jahre der Stiftungskomplex schwer zu schaffen gemacht. Denn Gauleiter Koch hatte unter Zusammenfügung einzelner i n sich branchenfremder Industriebetriebe, deren Leiter i h m nahestanden und die meistens als G.m.b.H. geführt wurden, zu einer Stiftung eine wirtschaftliche Holding-Gesellschaft zustande gebracht, Erich-Koch-Stiftung genannt. Ihre Erlöse unterlagen seiner Kontrolle. Zugleich entzog sich die Stiftung jeder staatlichen Kontrolle. Der Stiftung wurde der gemeinnützige Zweck zugeschrieben, aus den Erlösen Kriegsopfersiedlungen zu errichten. Dies mag i n der ersten Zeit geschehen sein. Doch entwickelte sich diese Stiftung immer mehr zu einem die provinzielle Wirtschaft kontrollierenden Konzern, der unter Berufung auf den Namensträger überall eigene Rechte beanspruchte und i n den letzten Vorkriegsjahren auch unlauter i m wirtschaftlichen Wettbewerb i n Erscheinung trat. Dies trat i n Finanz- und Kontingentsverhandlungen zutage, w o seitens der Stiftung der sachlich gebotene Einblick i n die Betriebe oft aus durchsichtigen Gründen verweigert wurde. Z u r Stiftung gehörten v o r allem die ostpreußischen Zeitungen, die ostdeutsche Lederfabrik, die Papierfabrik, Margarinefabrik Wehlau, die Fischindustrie i n Pillau und das Königsberger Parkhotel. Bei Kontingentsverhandlungen konnte die Stiftung unter N u t z u n g ihres Namens bei Nichtkennern der Verhältnisse leicht ein Ubergewicht erhalten, das nicht den Prinzipien des R W M entsprach. Leider hat der letzte Reichswirtschaftsminister Funk hierin keine klare Entscheidung getroffen. Bei Koch mag der entscheidende Gesichtspunkt der W i l l e zur Macht, auch zur wirtschaftlichen Macht gewesen sein. Denn die Betriebe erlagen seinen Entschlüssen. Nach 1939 wurde diese Stiftung auch auf Zichenau ausgedehnt und damit ihre Vielseitigkeit erweitert. Der Stiftungsgedanke hat i m übrigen Schule gemacht. Zweifellos eine der marxistischen Theorie entstammende Idee des Übergangs v o m Privatbetrieb

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zum gemeinwirtschaftlichen Betrieb, aber gepaart m i t einem ausgeprägten individuellen Machtstreben. Wenn w i r v o n diesem Stiftungsunternehmen absehen, so w a r der T y p des i n die Provinz kommenden Unternehmers wendig und erfahren und einem allgemeinwirtschaftlichen Denken offen. Neben der Verdienstchance hat viele das Neuartige und Kolonisatorische gereizt. Es verdient hier i n besonderem Maße der rheinischen Textilindustrielle Heinrich Pferdmenges der Erwähnung, der als einer der ersten sich m i t Zähigkeit einem großen I n d u strieprojekt widmete und die ostpreußische Textilindustrie rund um Liebstadt begründete. Pferdmenges verband m i t dem privatwirtschaftlich sehr Erfolgreichen den Versuch einer landschaftsgebundenen Industrie m i t halb landwirtschaftlich, halb gewerblich tätigen Arbeitern durchzuführen. Die Liebstädter Anlage, aus allen Stufen der textilen Fertigung einschließlich Heimarbeit und Kläranlage bestehend, w a r das Lieblingsproblem seiner reiferen Jahre geworden. Versuchen der Erich-Koch-Stiftung, das bald florierende Unternehmen wirtschaftlich zu übernehmen, hat sich Pferdmenges m i t Erfolg entzogen. I h m glichen an I n i t i a t i v e und Lebendigkeit viele Unternehmer aus allen Gebieten des Reiches, wobei sich viele durch ein über ihre Branchenprobleme hinausgehendes Allgemeininteresse auszeichneten. Was w a r bis 1939 erreicht? Zahlen über die zusätzlich geschaffenen gewerblichen Arbeitsplätze oder den Umsatz der neuen Betriebe stehen leider nicht zur Verfügung. Ich muß mich daher auf einen Branchenüberblick beschränken und die wichtigen Werke m i t mehr als 100 Arbeitskräften nennen. Zunächst zur Nahrungsmittelindustrie. H i e r nenne ich Fabriken für die H e r stellung von Nudeln, Schmelzkäse, Dauermilch, Kartoffelflocken und Glukoseprodukte, Margarine, Hefe, Kaffee-Ersatz, Obstverwertung und die weitverzweigte Fisch-Industrie. — Aus der Holzverarbeitung Möbelfabriken, Schulmöbel, Sperrplatten, Holzverzuckerung, Sägespänpresslinge u. a. A u f dem Gebiet der Verpackungswirtschaft die Blechemballagenindustrie, Papier- und Pappenfabrik, Kartonfabrik, Kisten- und Geschoß-Körbefabrik. D a n n die Leder- und lederverarbeitende Industrie, H a n d w e r k , Töpfe, Kunsthandwerk. Aus der Eisenbranche die Herstellung von Beschlägen, Kleineisenerzeugnissen, Flugzeugteilen, Waggon- und Fahrzeugbau, Stahlbau, Stollen, Gießereierzeugnissen und Landmaschinenbau. Weiter die Seifenindustrie und schließlich das weite Gebiet textiler Fertigung von Spinnerei, Weberei über die Färberei, Appretur und die textile Verarbeitung

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Der Versuch der Industrialisierung

Ostpreußens

für Wolle, Baumwolle, Zellwolle, H a n f , Flachs und Leinen. Diese Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Vorstufen der Produktion waren m i t zunehmender Intensivierung des Wirtschaftslebens auch denkbar gewesen. Was zuerst entstand, w a r rohstoff- oder konsumorientiert und damit krisenfest und geeignet, einer langsamen Wandlung der Struktur vorzuarbeiten. Wie verhielt sich das bis 1939 erzielte Industrialisierungsergebnis zu der ursprünglichen nationalökonomischen Zielsetzung? Wie stark w a r der Bevölkerungsgewinn der Provinz? Oder auch wieviel Leute sind vermutlich nicht abgewandert? U n d weiter, wie hoch waren die jährlichen Zubußen des Reiches i m Vergleich zur Zeit der Osthilfe, wenn man einmal ganz v o m landwirtschaftlichen Sektor absieht? Zunächst zur finanziellen Seite: E i n Vergleich der finanziellen Zuwendungen an die Provinz ist methodisch nicht ganz einfach, weil unter der Osthilfe ganz andere Wege der finanziellen Zuwendung gewählt wurden als bei der Arbeitsbeschaffung. Die Industrialisierung selbst hat nur geringe M i t t e l verschluckt, die allgemeinen Zuwendungen an die Provinz mögen trotz Arbeitsbeschaffung nicht größer als zur Osthilfezeit gewesen sein — die Produktivität der Provinz stieg jedenfalls erheblich und ebenso die Spar- und Steuerkraft, auch ehe die Aufrüstung sich auszuwirken begann. Bevölkerungspolitisch jedoch w a r die Besserung der Lage nur kurzfristig. Nach 1936 begann i m gesamten Osten eine neue Abwanderungswelle, die sich erheblich auswirkte. Die Gründe hierfür lagen jedoch nicht i m Osten, sondern i n der großen deutschen Politik. Der Vierjahresplan und die Verlagerung der deutschen Industrie in das Reichsinnere, die Schaffung der großen neuen Industriezentren i n Braunschweig, Magdeburg und Schicsien, der Westwall und Aufrüstung haben zu einer verstärkten Landflucht geführt, die für Eingeweihte erschreckend war, über welche aber aus größeren politischen Erwägungen nicht gesprochen werden konnte. Die Folgen waren für die innere Kolonisation und die Stabilisierung der ländlichen Verhältnisse i m Osten verheerend. W i r haben dies i n der Verwaltungs- und Planungsarbeit oft verspürt, wenn w i r m i t Vierjahresplaninteressen i n Berührung kamen. A l l e Hilfsmaßnahmen des Innenministers für die notleidenden Grenzgebiete waren Tropfen auf den heißen Stein und Überbrückungshilfen.

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Fredrich

Richter

Unbeschadet dessen liefen die Industrialisierungsbemühungen und die weitere Planung auf ganz lange Sicht i n Ostpreußen m i t Unterstützung aus Berlin bis zum Kriegsausbruch am 1. 9.1939. Der Ostpreußen-Versuch ging von einer Planungsidee aus; er basierte auf einer m i t H i l f e der Statistik und der vergleichenden Wirtschaftsforschung fester fundierten Strukturvorstellung; aber er zielte nicht auf P l a n w i r t schaft m i t Staatsbetrieben und kameralistischer Finanzwirtschaft. Erstrebt wurde vielmehr eine durch staatliche Erziehungsmaßnahmen und Entwicklungsbeihilfen zum Blühen gebrachte Privatwirtschaft normaler Rentabilität. Chancen für neue unternehmerische Kombinationen sollten aufgedeckt oder geschaffen werden. Die industriellen und handelstechnischen Maßnahmen fanden ihre lebensnotwendige Ergänzung i n der landwirtschaftlichen M a r k t - und Preisordnung und der langsam, aber gründlich fortgeführten ländlichen Siedlung. Trotz der verschiedenen D y n a m i k von Landwirtschaft und Gewerbe war das Beieinander einer gewissen staatlichen Lenkung i n beiden Sphären Voraussetzung für das Gelingen auch der Gewerbepolitik.®

8

Der Autor dieses Erinnerungsberichtes von 1946 hat 1981/83 in einem größeren wissenschaftlichen und geschichtlichen Rahmen den Quellen des Bemühens um eine Industrialisierung von 1919—1939 nachgespürt; u. a. in Archiven auch den nur zum Teil geretteten und jetzt offenliegenden Akten der Berliner und Königsberger Behörden und den verschiedenen Erinnerungsberichten sowie der Literatur bis 1983. Ziel war, Kontinuitäten und Brücken weitestmöglich zu dokumentieren. Forschungsergebnis: Dr. F. Richter, „Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschidite Ostpreußens zwischen den Weltkriegen. Bericht und Dokumentation", 330 Seiten incl. Statistiken, Karten, Quellen. 1984 im Verlag Franz Steiner GmbH Wiesbaden.

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RUDOLF MALTER U N D ERNST STAFFA KÖNIGSBERG/KALININGRAD U N D IMMANUEL

KANT

Bis vor nicht allzu langer Zeit w a r über das Nachleben Kants i m sowjetisch verwalteten Königsberg nur das Wenige zu erfahren, was aus russischen Quellen oder aus Berichten v o n Reisenden, meist Journalisten, zufällig i n die Kanäle westlicher Publikationsorgane gelangte. 1 Das Wenige 2 betraf 1 Zum sehr schwierigen Informationsproblem hinsichtlich des Nadikriegskönigsberg ebenso wie des gesamten sowjetisch verwalteten nördlichen Ostpreußen vgl. den Artikel „Die sowjetische Verwaltung im nördlichen Ostpreußen. Eine kurze Einführung", in: Informationsdienst für das nördliche Ostpreußen (Kaliningradskaja oblast'). Hrsg. von der J. G. HerderBibliothek Siegerland e. V., Siegen, Nr. 1, März 1977, 2—6 (mit Bibliographie). Es ist das Verdienst eines der Mitarbeiter dieses „Informationsdienstes" (im folgenden abgekürzt „ID"), des Osthistorikers Peter Wörster, in jahrelanger minutiöser Sammelarbeit so viel Informationsmaterial über das nördliche Ostpreußen zusammengetragen zu haben, daß man sich einen — den Informationsbedingungen gemäßen — ersten Eindruck von der derzeitigen Lage von „Gebiet" und Stadt „Kaliningrad" machen kann. Vgl. Peter Wörster: Das nördliche Ostpreußen nach 1945. Bd. 1: Verwaltung, Bevölkerung, Wirtschaft (Dokumentation Ostmitteleuropa. Wissenschaftlicher Dienst für Ostmitteleuropa. Neue Folge), Johann-Gottfried-Herder-Institut, Marburg. Jg. 4 (28), 1978, Heft 1; Bd. 2: Politisches und kulturelles Leben. Jg. 5 (29), 1979, Heft 1—2. (Wörster-Stellen betreffen im folgenden immer Bd. 2). Die vor allem durch ihr Bildmaterial wertvolle Publikation von Helmut Peitsch: Wir kommen aus Königsberg (Leer/Ostfr., 1. Aufl. 1979, 2. Aufl. 1980; Teilabdruck im Ostpreußenblatt lfd. 1979/80) stützt sich weitgehend auf Wörsters Forschungen, enthält aber vor allem höchst aufschlußreiche Berichte von Aussiedlern und Besuchsreisenden; während Wörster bei Abfassung seines Berichts offenbar nodi keine Unterlagen über die Beziehungen der KantGesellschaft zur Universität „Kaliningrad" vorlagen, konnte Peitsch diese in seinem Bericht verarbeiten. — Vgl. auch die reich bebilderte (allerdings fototechnisch teilweise unzulängliche) Broschüre von Horst Dühring: Unsere Heimatstadt... heute! Versuch der Schilderung eines Besuchs. Geleitwort von Ulrich Albinus. Hrsg. v. d. Stadtgemeinschaft Königsberg in der Landsmannschaft Ostpreußen. Patenstadt Duisburg 1979. Zur kritischen Würdigung der Dühringschen Veröffentlichung vgl. die Rez. von Oskar Sch., in: I D Nr. 8, Juli 1979, 7—9. Trotz der in den letzten Jahren ein wenig besser gewordenen Informationssituation ist das nördliche Ostpreußen nach wie vor ein verschlossenes Land. Während im polnisch verwalteten Teil Ostpreußens ein bescheidener Westtourismus einsetzt (vgl. Kurt Gerber: Informationen für Reisen nach West- und Ostpreußen. München 1976; vgl. weiterhin die Berichte von Ostpreußenreisenden im Ostpreußenblatt), sind Reisen in den nördlichen Teil des Landes bisher nur seltene Ausnahmefälle geblieben. Wie aus einer Veröffentlichung des I D Nr. 8, Juli 1979, 2 hervorgeht, beantwortet die Konsularabteilung der Botschaft der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland Anträge auf eine Besuchsreise ins nördliche Ostpreußen kategorisch abschlägig: „ . . . teilen wir Ihnen mit, daß zur Zeit keine Möglichkeit besteht, das Gebiet Kaliningrad als Tourist zu besuchen." Vgl. zur Besucherfrage (im Zusammenhang mit dem Kant jähr 1974) audi Anm. 18. 2 Vgl. Artur Adam: Königsberg heute, in: Königsberger Bürgerbrief X I I , 1975, 20; Dieter Steiner: Kaliningrad ist nicht Königsberg, in: Sferw-Magazin (Hamburg), Heft 29, 20. Jg., Juli 1969, 26—34; 138—139. Im Jahre 1970 brachte der WOR eine Fernsehsendung über Ostpreußen und Königsberg; hierzu: Kant in Kaliningrad, in: Saarbrücker Zeitung 22. 6.

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Rudolf Malter und Ernst Staffa einmal die von Lahrs gestaltete Grabstätte Kants an der Nordseite des Doms, zum anderen das zuletzt auf dem Paradeplatz aufgestellte Denkmal des Philosophen. V o n der Grabstätte erfuhr man übereinstimmend — und Fotos konnten dies belegen — , daß sie v o l l erhalten und gepflegt sei.3 V o m Rauchschen Denkmal 4 dagegen hörte man nur Uneindeutiges: der Sockel soll angeblich „auf dem Bismarckplatz i n Maraunenhof, einem der neuen Zentren Königsbergs" stehen und eine Thälmannbüste tragen 5 ; das Standbild selber, so w i r d gemutmaßt, soll sich i n einem Moskauer Museum befinden. 6 1970; zu der ARD-Sendung von Fritz Pleitgen über das nördliche Ostpreußen und Königsberg 1976 vgl. Ernst Müller-Hermann: Kant und Kaliningrad, in: Hörzu vom 13.—19. Nov. 1976. Den interessantesten Bericht bringt Eugen Monka in der deutschsprachigen argentinischen Zeitung Freie Presse (Buenos Aires) vom 7. April 1974 („Blumen auf dem Grabe Kants"). Dieser Artikel ist auszugsweise abgedruckt in der Neuausgabe der großen Vorländerschen Kantbiographie (Karl Vorländer: Der Mann und das Werk. Zweite, erweiterte Auflage. Mit einem Beitrag „Kants Opus postumum" von Wolfgang Ritzel. Unter Mitarbeit von Konrad Kopper hrsg. v. Rudolf Malter. Hamburg 1977, 394). 3 Nach Wörsters Mitteilung (37), die auf einer Zeitungsmeldung basiert, sollen bereits 1954 für die Restaurierung der Grabstätte 5000 Rubel aufgebracht worden sein. Es seien — der gleichen Zeitungsquelle gemäß — „von Seiten des landeskundlichen Museums in Königsberg . . . Führungen dorthin veranstaltet" (37) worden. Wörster referiert weiterhin aus der Unterredung, die der Sternreporter Steiner (s. Anm. 2) mit dem ersten Rektor der 1967 neu gegründeten „Kaliningrader" Universität 1969 geführt hat: „Im Gespräch mit Dieter Steiner sagte der Rektor der Universität 1969: ,In fünf Jahren feiert die Welt seinen (Kants) 250. Geburtstag. Wir hoffen, daß bis dahin seine Grabstätte der Obhut der Universität übertragen wird.' Ob dies geschehen ist, konnte bisher noch nicht nachgewiesen werden." (37). Audi der Kant-Gesellschaft liegen in dieser Sache keine Informationen vor. Zum heutigen Aussehen der Grabstätte vgl. die Fotos bei Peitsch (46 und 47), Dühring (13) und im Königsberger Bürgerbrief X I I , 1975, 19. — Der Dom, an dessen Nordseite das Grabmal sich befindet, ist nach wie vor Ruine (vgl. u.a. die Bilder bei Peitsdi, 17 ff. und bei Dühring, 9) ; vielleicht ist die Ruine so baufällig, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr betreten werden darf (vgl. das aus dem Jahre 1969 stammende Foto bei Peitsch S. 17: „Sowjetische Soldaten im zerstörten Dom zu Königsberg"). Allerdings scheint die Möglichkeit eines Wiederaufbaus des Domes erwogen worden zu sein. Adam (s. Anm. 2) schreibt: „Der Dom zu Königsberg in Ostpreußen soll einer Meldung der in Alienstein erscheinenden Zeitung ,Gazeta Olsztynska' zufolge in Kürze wiederaufgebaut und zu einem Museum umgestaltet werden." Vgl. auch Peitsch, 19. Außer der Domruine ist — wie die Bilder bei Peitsch und Dühring beweisen — von den Teilen der Stadt, die einst Kants engste Lebens- und Wirkensumgebung waren, so gut wie nichts mehr erhalten. Vgl. Peitschs Bericht über erhaltene und zerstörte Gebäude der Stadt (30 ff.). Die Ruine des Schlosses (in dessen unmittelbarer Nähe ja Kant lange wohnte), wurde 1970 (!) durch Räumpanzer beseitigt (vgl. Peitsch, 9). 4 Zum Kantdenkmal vgl. Herbert Meinhard Mühlpfordt: Das Kantdenkmal zu Königsberg/ Pr., in: Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg 20, 1970, 203—210. 5 Vgl. Mühlpfordt: Das Kantdenkmal, 209; Fritz Gause: Kant und Königsberg. Ein Buch der Erinnerung an Kants 250. Geburtstag am 22. April 1974. Leer/Ostfr., 131. Dies dürfte jetzt nicht mehr zutreffen; denn das bei Peitsch (30) abgebildete „Denkmal für den deutschen Kommunistenführer Ernst Thälmann . . . auf dem Bismarck-Platz in Maraunenhof unweit der Kirche" hat einen Sockel, den man in keiner Weise mit dem Sockel des Kantdenkmals in Beziehung bringen kann. 6 Mühlpfordt, ebd.; Gause, ebd. Die Vermutung ist völlig vage. Vgl. Wörster, der, rekurrierend auf eine Notiz über das Denkmal in der Zeitung Das Sonntagsblatt v. 29. 5. 1955, auf S. 38 schreibt: „In späteren Jahren wurde die gleiche Vermutung immer wieder geäußert; bis jetzt fehlt aber ein zweifelsfreier Nachweis, etwa die Angaben in einem sowjetischen Katalog oder Inventarverzeichnis oder eine Bestätigung durch Besucher."

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Königsberg!Kaliningrad Nachdem

und Immanuel

Kant

1944 das Stadtgeschichtliche M u s e u m m i t seinen

Fliegerbomben t o t a l z u m O p f e r

Kantzimmern

g e f a l l e n w a r 7 u n d auch w e i t e r e a n

den

P h i l o s o p h e n e r i n n e r n d e S t ä t t e n v e r l o r e n g i n g e n , ist d i e G r a b s t ä t t e w o h l das, w a s d i e äußere K o n t i n u i t ä t m i t d e r deutschen K a n t t r a d i t i o n i n K ö n i g s b e r g heute noch w a h r t . 8 W e n n auch n i c h t aus P i e t ä t v o r dieser deutschen T r a d i t i o n , so d o c h i m m e r h i n aus A c h t u n g v o r d e r p h i l o s o p h i e g e s d i i c h t l i c h e n B e d e u t s a m k e i t u n d v o r d e r p h i l o s o p h i s c h e n W e l t g e l t u n g K a n t s versuchen d i e Russen seit e i n i g e n J a h r e n i n e r s t a u n l i c h e m M a ß e , i h r e a n d i e Stelle K ö n i g s b e r g s getretene S t a d t K a l i n i n g r a d w i e d e r m i t K a n t z u v e r b i n d e n . K a n t w i r d i n d e n russischen Veröffentlichungen,

d i e v o n seinem B e z u g z u seiner V a t e r s t a d t

ebensowenig russifiziert

handeln,

w i e g e l e u g n e t w i r d , d a ß K ö n i g s b e r g bis z u r

Er-

o b e r u n g d u r c h d i e R o t e A r m e e eine deutsche S t a d t gewesen i s t . 9 K a n t ist f ü r 7

Vgl. Eduard Anderson: Das Kantmuseum. Verzeichnis der Kant-Andenken im Stadtgeschichtlichen Museum der Stadt Königsberg. Hrsg. vom Stadtgeschichtlichen Museum der Stadt Königsberg 1936; Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. I I I . Band: Vom Ersten Weltkrieg bis zum Untergang Königsbergs. Köln—Wien 1971, 159; Gause: Kant und Königsberg, 133 ff.; Herbert Meinhard Mühlpfordt: Königsberg von A bis Z. Ein Stadtlexion. Zweite, verbesserte Auflage München 1976 ( J 1972), 139; Hanswerner Heincke: Das Stadtgeschichtliche Museum in Königsberg, in: Königsberger Bürgerbrief X V , 1978, 2. 8 Fast absurd, zumindest aber — wie Wörster S. 91 (Anm. 73) zu Recht schreibt — „unverständlich" klingt demgegenüber „eine Meldung . . . nach der »Immanuel Kants ehemaliges Arbeitszimmer in der Königsberger Universität . . . als Gedenkstätte eingerichtet' worden sein soll. Ein Arbeitszimmer Kants existiert im heutigen Kgb. nicht mehr. Das Universitätsgebäude des 18. Jh., die später sog. Alte Universität auf dem Kneiphof nahe dem Dom, wurde ein Opfer des Krieges." Gerade die Bilder bei Peitsch zeigen ja, daß dort, wo Kant als Dekan und Rektor amtierte, jetzt eine leere Fläche sich erstreckt. Nicht näher bekannt ist weiterhin, was es mit dem „Kant-Saal" der Universität auf sich hat, von dem Wörster unter Bezugnahme auf einen Artikel in der Gazeta Olsztynska (Nr. 294, 27. 12. 1976) berichtet: „Er wurde in einem Bericht über den Besuch polnischer Wissenchaftler in Königsberg erwähnt, die mit dem Rektor der Universität und dem Dekan der historisch-philologischen Fakultät zusammengetroffen seien und zwei Vorträge im ,Kant-Saal4 gehört hätten." (40). Angesichts der unersetzlichen Verluste, die Königsberg durch Krieg und Kriegsfolgen erlitt, weckt Wörsters Ankündigung, daß „ein genauer Bericht über das Schicksal und den möglichen Verbleib" von Beständen der früheren Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg „von dritter Stelle in Vorbereitung" sei und „demnächst veröffentlicht werden" soll (S. 90, Anm. 67), die Hoffnung, daß dodi das eine oder andere wieder ans Licht kommt. Daß diese Hoffnung berechtigt ist, beweist die Wiederauffindung von ehemals in der UB Königsberg vorhandenen Stücken in der Bibliothek der neu gegründeten Universität Thorn. Vgl. Rudolf Malter: Königsberger Schrift in Thorner Bibliothek, in: Das Ostpreußenblatt v. 26. Nov. 1977, 10; nähere Informationen sind enthalten in: Rudolf Malter: Die letzte überlieferte Metaphysik-Vorlesung Kants. Zur Wiederauffindung der „Bemerkungen über Metaphysik nach Baumgarthen, aus dem Vortrage des H E Pro Kant pro 1794/95", in: Kant-Studien 68, 1977, 464—467. 9

Vgl. D. M. Grinisin — M. M. Michajlov — V. P. Prokop'ev: Immanuel Kant. Kratkij ocerk zizni i naucnoj dejaternost. Leningrad 1976. — Vgl. auch die beiden von Wörster S. 39 f. auszugsweise zitierten Beiträge von I. Zaksas und G. V. MetePskij. Nicht weniger aufsdilußreidi für die Erkenntnis der heutigen Einstellung sowjetischer Intellektueller zum Thema „Kant und Königsberg" ist das, was Wörster im Zusammenhang seiner Erörterung des gegenwärtigen literarischen Lebens in Königsberg über die dichterische Auseinanderset-

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Rudolf Malter und Ernst Staffa den gesamten Marxismus-Leninismus der Begründer der deutschen klassischen Philosophie, und er w i r d den Grundsätzen der Ideologie getreu sozialzung heutiger sowjetischer Autoren mit der ostpreußischen Vergangenheit mitteilt. Hinsichtlich Kants ist hierbei der russische Schriftsteller Sergej Smirnov der wichtigste; Wörster ordnet zunächt die russische Literatur über das nördliche Ostpreußen nach zwei Gesichtspunkten, die sich aus der Eigenart der sowjetischen Auseinandersetzung mit diesem Stück der jüngsten sowjetischen Vergangenheit ergeben: eine Autorengruppe „behandelt vornehmlich den Kampf um Königsberg 1945 und stellt ihn im Sinne einer oberflächlichen, parteiofiiziellen Heroisierung dar. Ständig werden von fast allen Autoren Themen aufgegriffen, die den Königsberger Hafen und die Bedeutung Königsbergs als Ausgangspunkt der sowjetischen Walfang- und Fischereiflotte behandeln . . . Insgesamt kann man feststellen, daß diese Gruppe russischer Autoren die Probleme der Vergangenheit und der historischen Kontinuität, auch jede Frage nach der Legitimation der sowjetischen Eroberung verdrängt und sich einseitig den von der Partei gewünschten Themen zuwendet..." (75/76). „Eine andere Gruppe innerhalb der russischen Literatur des Königsberger Gebietes scheint im Rahmen des von der Partei Erlaubten um eine intensivere Auseinandersetzung mit der noch überall sichtbaren deutschen Vergangenheit des Gebietes bemüht. Die bisher vorliegenden Gedichte Smirnovs können dafür als Beispiel genannt werden." (76). Smirnov hat nach Wörsters Angaben 1968 in der Moskauer Zeitschrift Moskva einen 10 Gedichte umfassenden Zyklus „Na pogranicnom zapade Rossii" (Im westlichen Rußland) veröffentlicht. Das eine der beiden von Wörster in deutscher Sprache gebrachten Gedichte betrifft direkt das Thema „Kant und Königsberg"; es sei hier kommentarlos zitiert (wir verweisen aber ausdrücklich auf den Kommentar Wörsters S. 80 f.): Der Dom von Königsberg [Kafedral'nyj sobor Kenigsberga] Er stand in ganzer Pracht. In ihm unter Lärm und Geschrei wurden gekrönt alle deutschen Herrscher. Ein geschlagener Riese. Reihen kolossaler Säulen. Hier ist bestattet Kant der idealistische Philosoph. Er rasselte nicht mit dem Säbel er war gütig wie Myrrhe. Der Philosoph leugnete die Materialhaftigkeit der Welt. Aber die Menschen dieses Landes nannten sich eine höhere Kaste und an Stelle von Kant zog man die grausame Geistesverfassung Nietzsches vor. Und so konnte es zu Raubzügen und Gewalttätigkeiten kommen. Und nun steht der Dom im Westen Rußlands. Er steht sich selbst nicht froh, durch den Krieg entstellt. Es brodelt Kaliningrad an der Stelle von Königsberg. Es wird jetzt aufgebaut. Es ist ein Bereich des Neuschaffens Aber auf Kosten seiner Verluste. Und es geht dahin der Sonnenuntergang. Über den Klumpen der Ruinen. Siehst du jetzt, Kant, daß die Welt materiell [stofflich/materialhaftig] ist?

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Königsberg!Kaliningrad

und Immanuel Kant

ökonomisch aus seiner spezifisch preußisch-deutschen historischen U m w e l t verstanden. 10 Daher heißt die Stadt, i n der K a n t lebte, auch für die Russen „Königsberg", und so heißt sie bekanntlich für ihre neuen Machthaber bis 1946. 11 Die m i t diesem Termin einsetzende Zäsur freilich w i r d kompromißlos eingehalten. Die Folge für die neuerliche Anbindung Kaliningrads an K a n t ist unübersehbar: die Russen haben sich zwar entschlossen, ihre Stadt Kaliningrad zu einer Stätte der Pflege der Kantischen Philosophie zu machen, und auch dazu, die Erinnerung an die Person des Philosophen zu wahren. Aber: dieser Entschluß ist unter sehr bewußter Ausklammerung jeglicher Aktualisierung deutscher Tradition, die über die rein philosophiegeschichtliche hinausginge, getroffen worden. 1 2 Der K a n t , dessen i n Königsberg neuerdings gedacht w i r d , ist, gesehen auf die gegenwärtige Situation, nur der nach Maßgabe der marxistisch-leninistischen D o k t r i n aktualisierbare K a n t ; er ist nicht ein Immanuel K a n t , an dem sich eine über das Jahr 1945 hinaus verlängerbare deutsche kulturelle oder gar nationale Tradition fortsetzen könnte. Die Russen machen K a n t nicht zum Russen, sie verweigern jedoch kategorisch den ehemals i n Königsberg Lebenden, ihren Nachfahren und Landsleuten jegliches Recht, heute m i t der Zusammenstellung „ K a n t und Königsberg" einen Anspruch auf eine noch so dezent-unpolitische Fortsetzung gewesener historischer K o n t i n u i t ä t zu erheben.

10 Vgl. Rudolf Malter: Kant nach 250 Jahren. Bericht über das Jubiläums jähr 1974, in: Kant-Studien 68, 1977, 135—216; speziell S. 165 ff. — Obwohl die sowjetische Wertung Kants sich in den beiden letzten Jahrzehnten deutlich zum Positiveren gewandelt hat, ist es doch unzutreffend, wenn Peitsch schreibt: „Als die Sowjets in Königsberg einmarschierten, war auch Immanuel Kant ihr Feind. Damals, solange Stalin den Ton angab, war der Philosoph als Vertreter der preußischen Reaktion verfemt." (S. 48). Daß dies nicht stimmt — allein schon deswegen, weil es ganz gegen die (von Stalin akzeptierte) kommunistische Geschichtsideologie Engels' und Lenins gewesen wäre, einen vormarxschen Philosophen geradewegs abzulehnen (d. h. ihn dodi nicht audi noch in einem minimalen Maße als „dialektisches" Moment der Entwicklung auf den DiaMat hin zu betrachten) — kann man aus Literaturberichten zur gesamten sowjetischen Kantliteratur entnehmen (vgl. u.a. Ο. I. Polikanova: Bibliographie sowjetischer Untersuchungen zur Philosophie Kants [1917—1971]. Ubersetzt und bearbeitet von I. A. Naumenko und R.-D. Kluge, in: Kant-Studien 67, 1976, 253—266; T. I. Ojzerman: Die Erforschung der Philosophie Kants in der Sowjetunion, in: Kant-Studien 65, 1974, 284—300; Anita Liepert: „Die Metaphysik dialektisch »tractiren'. Zur Rolle Kants in der sowjetischen Forschung, in: Forum 28, Nr. 9, 1974, S. 9; vgl. auch „Etwa 350 Untersuchungen über Kant in der UdSSR, in: Neues Deutschland 26. 3. 1974). 11

Vgl. den Artikel „Kaliningrad" im 19. Bd. der Großen Sowjet-Enzyklopädie (S. 425 ff.); speziell zu Kant und Königsberg den 20. Bd. (S. 21 ff.); vgl. audi die Bildunterschriften auf S. 23 und S. 37 des in Anm. 9 genannten biographischen Werkes. Audi im Text wird konsequent von „Königsberg" gesprochen. Vgl. die in dieser Hinsicht besonders aufschlußreichen Zitate aus den Beiträgen von Zaksas und Metel'skij bei Wörster S. 39 f. 12 Vgl. hierzu das von Wörster referierte Gespräch Steiners mit Prikladov (S. 34—35).

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Rudolf Malter und Ernst Staffa I m Sinne dieser merkwürdigen Doppelung v o n historischem Zäsurbewußtsein einerseits und unmittelbarer Aktualisierungstendenz andererseits sind die Kaliningrader Bemühungen um K a n t zu sehen, die (nach längerer V o r planung) seit etwa 1974, dem Jahr des 250. Kantgeburtstages, i n Gang gekommen sind. A u f verschiedenen Wegen drangen nach und nach so viele Informationen seither i n den Westen, daß man sich ein recht vollständiges B i l d von den Kantaktivitäten der letzten Jahre machen kann. Erheblich beigetragen zu dieser relativ günstigen Informationslage haben zweifelsohne die Briefbeziehungen, die sich anläßlich des Jubiläumsjahres zwischen dem Präsidenten des 4. Internationalen Kantkongresses, dem Mainzer Philosophie-Ordinarius Gerhard Funke, und dem derzeitigen Lehrstuhlinhaber an der nach dem Krieg neugegründeten „Kaliningrader" U n i versität, D . M . Grinisin, seinen Kollegen und Mitarbeitern angebahnt haben. 13 So erfuhr man i n der Zeit der Vorbereitung des Mainzer K a n t k o n gresses direkt aus Königsberg, daß dort ein Kant-Museum aufgebaut werden solle, zu dessen Ausstattung man um Exponate bat. Fotos v o m jetzigen Aussehen der Grabstätte wurden übersandt und M i t t e i l u n g darüber gemacht, daß ein großer allrussischer Kongreß durchgeführt werden solle; nach Beendigung des Kongresses wurden auch prompt die A k t e n dieses K o n gresses (zusammen m i t weiteren Jubiläumsinformationen) nach Mainz übersandt. I m Austausch wurden den Königsberger Stellen deutsche Kantveröffentlichungen überschickt, die nach Auskunft der Adressaten auch sofort Aufnahme i n das Kantmuseum gefunden haben. 14 Mittlerweile sind die brieflichen Kontakte so weit gediehen, daß Funke i n seiner Eigenschaft als Erster Vorsitzender der Kantgesellschaft e. V . Bonn (der Nachfolgerin der 1904 i n H a l l e gegründeten Kantgesellschaft) darum gebeten wurde, 1 5 den Teilnehmern einer Tagung über K a n t i m September 1977 eine Grußbotschaft zu übermitteln. 1 6 13 Vgl. zu diesen Beziehungen den Artikel von Rudolf Malter und Ernst Staffa: Königsberg/ Kaliningrad würdigt Kant, in: Mindener Tageblatt 123. Jg., Nr. 35, 10. Feb. 1979 (abgedruckt auch in: Ostpreußenblatt vom 7. April 1979 unter dem Titel Sowjetische Philosophen würdigen Deutschen; vgl. weiter den Abdruck in: I D Nr. 7, Mai 1979, S. 12) sowie den weiteren Artikel der genannten Autoren: Kontakte zwischen der Kantgesellschaft und dem heutigen Königsberg, in: Collegium Fridericianum. Rundsdireiben 1979, Folge 73 (Pinneberg-Thesdorf) (Abdruck unter dem Titel „Interesse an unserer Vergangenheit4* im Ostpreußenblatt vom 24. Nov. 1979). 14 So wurden außer direkt philosophischer Literatur audi neuere Publikationen geschickt, die sich mit dem vorsowjetischen Königsberg befassen (z. B. die Friderizianer-Festsdirift, das Reisetagebuch Abeggs und Mühlpfordts Monographie über „Königsberger Skulpturen und ihre Meister 1255—1945", die als Bd. X L V I der „Ostdeutschen Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis" erschienen ist. 15 Brief Grinisins vom 30. Jan. 1977.

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Königsberg!Kaliningrad

und Immanuel Kant

Es sollen i m folgenden einige Dokumente dargeboten bzw. es soll über D o kumente berichtet werden, die v o m intensivierten Interesse an K a n t i n „ K a l i n i n g r a d " zeugen. /. Das Immanuel

Kant-Museum

W i r zitieren aus einem A r t i k e l , den D . M . Grinisin, der Vorsitzende des Museumsrates, i n der deutschsprachigen sowjetischen Zeitschrift „Freundschaft" am 4. M a i 1978 veröffentlicht hat. 1 7 Der A r t i k e l eignet sich auch gut, einen allgemeinen Eindruck von der Einschätzung Kants durch die offizielle Sowjetdoktrin zu vermitteln. Grinisin schreibt: „Immanuel Kant, Gelehrter, Philosoph, Humanist, zählt zu jenen großen Denkern, die Marx die Lehrer der Menschheit nannte. Dank dem Marxismus ist heute alles historisch Wertvolle und Perspektivische in Kants Lehre wirksam geblieben. Der große Königsberger Denker hat ein kolossales wissenschaftlich-theoretisches Erbe auf allen Gebieten der Philosophie und Kultur hinterlassen. Er ist der Begründer der deutchen klassischen Philosophie, einer der wichtigsten theoretischen Quellen des Marxismus. Im Laufe von mehr als 40 Jahren war Kant Professor, Rektor der Königsberger Universität. Er unterrichtete in Philosophie, Astronomie, Mathematik, Logik, Geographie, Geschichte, Mechanik, Anthropologie und Physik. Durch seine Werke übte Kant einen großen Einfluß auf die Entwicklung der europäischen und der Weltwissenschaft aus. Zugleich war Kant ein großer Humanist. Er war einer der ersten Philosophen, die vor Marx den Menschen als Hauptziel der Geschichte, als den höchsten sittlichen Wert betrachteten. Als Dialektiker glaubte Kant an die Kraft des menschlichen Verstandes und vor allem an eine vernünftige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, in der es keine Ungleichheit, keine Ungerechtigkeit und keine Kriege gibt. Er war ein Gegner der Kriege und betrachtete sie als Unheil für die einfachen Menschen. Im Traktat „Zum ewigen Frieden" bewies Kant, daß die Menschheit ohne Kriege leben kann und muß, und er glaubte, daß die Menschen letzten Endes den ewigen Frieden auf Erden errichten werden. 16 Vgl. Anm. 19. Der Wortlaut des Telegramms findet sich auch in der ersten der in Anm. 13 genannten Veröffentlichungen und auch bei Peitsch, 48. 17 Vgl. auch die von Studemeister („Ein Kant-Museum in Königsberg", in: Wissenschaftlicher Dienst für Ostmitteleuropa. Hrsg. v. Johann Gottfried Herder-Insitut Marburg an der Lahn, Jg. 24, 1974, 653) zitierte Notiz Sergej Sklesnjow aus der „von der ,Prawda* für die Deutschen in der Sowjetunion herausgegebenen Wochenzeitung ,Neues Leben* (Nr. 36 vom 4. 9. 1974)"; die Notiz trägt nach Studemeisters Angabe den Titel „Neues Kant-Museum", vgl. weiterhin A. Adam (s. Anm. 2) und die in unserem Text unter Pkt. 2 zitierten Ausführungen Zuckovs. Wörster weist bei der Erörterung der Königsberg-Beiträge von Zaksas und Metel'skij auch auf den Passus in Zaksas* Artikel hin, der sich mit dem Kant-Museum befaßt (S. 40).

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Rudolf Malter und Ernst Staffa Obwohl die Klassiker des Marxismus die idealistischen Motive der Kantschen Philosophie mit Recht kritisierten, schätzen sie gleichzeitig sehr hoch den Beitrag des Königsberger Denkers zur Geschichte der Weltkultur. Engels schrieb: „Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fouurier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel." (Marx und Engels, Werke, Bd. 19, S. 188, dtsch.). Die Kaliningrader bewahren sorgsam alles, was mit der Geschichte der fortschrittlichen Kultur des deutschen Volkes verbunden ist. Für die Bekräftigung dieser Behauptung lassen sich viele Beispiele anführen. Vor fünf Jahren wurde im Zusamenhang mit Kants 250. Geburtstag an der Kaliningrader Staatsuniversität ein Kant-Museum gegründet, das jetzt der Philosophischen Gesellschaft der UdSSR angegliedert worden ist. Das Kant-Museum verfügt über zahlreiche Exponate und Dokumente, die mit dem Leben und Schaffen der hervorragendsten Philosophen und Gelehrten verbunden sind, die an der Königsberger Universität wirkten oder studierten: Kant, Fichte, Herder, Helmholtz, Hamann, Jacobi, Baer, Minkowski, Kirchhof, Hilbert u. a. Im Museum gibt es eine einzigartige Sammlung seltener erster Ausgaben von Werken dieser Denker, Dokumente und andere Exponate. Einige hervorragenden Gelehrten der Königsberger Universität (Kant, Bär, Kirchhof, Jacobi) waren Ehrenmitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften. Im Museum sind Äußerungen von Marx und Lenin über die Einstellung des Marxismus zum Kulturerbe der Vergangenheit gesammelt. W. I. Lenin betonte wiederholt, daß der Marxismus sich auf die ganze Summe der menschlichen Kenntnisse stütze und daß seine Kraft eben darin bestehe. Eine bedeutende Rolle bei der Gründung und in der Arbeit des Kant-Museums spielten die Kaliningrader Philosophen, die Mitarbeiter der Gebietsbibliothek, die in Kaliningrad wohnenden Mitglieder des Schriftstellerverbandes der UdSSR Rudolf Jacquemien und Sergej Snegow wie auch Wissenschaftler des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Auf der Basis des Museums werden alljährlich Kantsche Lesungen organisiert, es sind bereits zwei wissenschaftlich-theoretische Unionskonferenzen zum Thema „Die Kantsche Philosophie und die Gegenwart" veranstaltet worden, an der sich die Kant-Forscher aller Unionsrepubliken der UdSSR beteiligten. Die Materialien der Kantschen Lesungen und der wissenschaftlichtheoretischen Konferenzen sind in zwei Kant-Sammelbänden veröffentlicht worden. Solche Sammelbände werden jetzt alljährlich an der Kaliningrader Universität herausgegeben. Zum Druck werden zwei neue Sammelbände über I. Kants theoretischen Nachlaß vorbereitet. Auch eine biographische Skizze „Immanuel Kant" ist erschienen. Die Studenten und Lehrer der deutschen Abteilung der Fakultät für Fremdsprachen beteiligen sich aktiv an der Arbeit des Museums. Bereits mehr als 6000 Menschen haben das Museum besucht. Die begeisterten Eintragungen im Gästebuch bestätigen die hohe Bedeutung der Tätigkeit des Kant-Museums."

160

Königsberg!Kaliningrad IL

Der

Königsberger

und Immanuel Kant-Kongreß

Kant 1974

D a s H a u p t e r e i g n i s des K a n t j u b i l ä u m s j a h r e s i n K ö n i g s b e r g 1 9 7 4 1 8 w a r großer K o n g r e ß , der v o m 2 6 . — 2 7 . A p r i l durchgeführt

ein

w u r d e . Es ist a u f -

schlußreich, aus d e m B e r i c h t Z u c k o v s z u h ö r e n , d a ß i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m K o n g r e ß n i c h t n u r eine besondere A u s s t e l l u n g i m K a n t m u s e u m gebot e n , s o n d e r n auch „ e i n k l e i n e r L e i t f a d e n ü b e r d i e G e d e n k s t ä t t e n , d i e m i t d e m L e b e n u n d d e m W e r k e K a n t s i n V e r b i n d u n g s t a n d e n " , herausgegeben w u r d e . U m w e l c h e G e d e n k s t ä t t e n es sich h a n d e l n m a g ? D i e G r a b s t ä t t e ist eigens g e n a n n t , also g i b t es n o c h w e i t e r e P u n k t e i n K ö n i g s b e r g , die h e u t e n o c h a n K a n t e r i n n e r n k ö n n e n ? W i r lesen b e i Z u c k o v (s. A n m . 1 8 ) : „Das Königsberger Organisationskomitee der K P d S U , das Rektorat und der Lehrstuhl für Philosophie und wissenschaftlichen Kommunismus der Königsberger Staatsuniversität, die Bezirksabteilung der Allrussischen Gesellchaft zur Erhaltung von Geschichts- und Kulturdenkmälern haben eine große Vorarbeit zwecks Durchführung der Jubiläumsveranstaltungen in Königsberg geleistet. Es wurden Restaurierungsarbeiten an der Gedenkstätte und am Grabe Kants durchgeführt. Es wurde ein kleiner Leitfaden über die Gedenkstätten, die mit dem Leben und dem Werke Kants in Verbindung standen, zusammengestellt und ergänzt, es wurde auch eine Jubiläums-Erinne18

Vgl. zu den Königsberger Kantaktivitäten den Überblick bei R. Malter: Kant nach 250 Jahren (s. Anm. 10), 171—174. Die dort verarbeiteten Informationen entstammen hauptsächlich den Berichten von Zuckov (V. A. Zuckov: Jubile j Kanta; nekotorye itogi i perspektivy, in: Voprosy Filosofa Nr. 10, 1974, 155—160) und dem speziell mit dem Königsberger Kongreß sich befassenden Artikel der Autoren L. A. Klevcur/ A. P. Lykov / A. J. Kavalerov: Konferencija, posvjascennaja 250-letijn so danja rozdenija Kanta, in: Filoso f ski Nauki Nr. 6, 1974, 147—150. — Von dem Kongreß sind die Akten in zwei Bänden erschienen: Voprosy teoreticeskogo nasledija Immanuila Kanta Bd. 1: Kaliningrad 1975; Bd. 2: Kaliningrad 1977 (Bde. 1 und 2 sind redigiert von D. M. Grinisin und L. A. Kalinnikov). — Nach brieflicher Mitteilung D. M. Grinisins beziehen sich auch die folgenden Veröffentlichungen auf das Königsberger Kantgedenken: W. A. Gulyga: Blick durdi Jahrhunderte — zum 250jährigen Jubiläum Immanuel Kants, in: Sowjetisdoe Kultur 19. 4. 1974; S. Sekulja — J. Furmanov: Literarische Hochschulkonferenz Immanuel Kant gewidmet, in: Nachrichten der Moskauer Universität, Serie Philosophie, Nr. 4, 1974; T. I. Ojzerman: Zum 250jährigen Jubiläum Kants, in: Kaliningradskaja Prawda vom 18. 4. 1974; A. Darjalow: Dem Jubiläum Kants gewidmet, in: Kaliningradskaja Prawda vom 28. 4. 1974 und A. Alexejev: Fruchtbare Zusammenarbeit, in: Kaliningradskaja Prawda vom 16. 10. 1974; in der Zeitung Kaliningradskij Komsomolec erschien am 26. 4. 1974 ein Artikel „Immanuel Kant gewidmet" (alle diese Angaben nach dem Brief Grinisins an R. Malter vom 30. 5. 1976); leider bestand bislang keine Möglichkeit, diese Zeitschriften- und Zeitungsartikel einzusehen. Die Kongreßakten wurden im Austausch zur Verfügung gestellt. — Seines politischen Aspekts wegen fand das Königsberger Kantgedenken auch in der Presse der Bundesrepublik Beachtung. Vgl. u. a. den Spiegel-Artikel „Kampf um Kant" (28. Jg., Nr. 16, 15. 4. 1974) und den Artikel im Münchener Merkur: Zum 250. Geburtstag des Philosophen: Das Geriß um Immanuel Kant. ,Keine streitbare Verfassung* in Mainz — ,Er gehört uns* — in Kaliningrad (20. 4. 1974). In diesem Zusammenhang ist eine von Peitsch zitierte Äußerung eines ungenannt bleibenden Königsbergbesuchers interessant: „ Jedesmal, wenn ich dort war', meint jener Mann aus Westdeutschland, der — vielleicht als einziger — das Glück hatte, in den letzten Jahren schon zweimal Königsberg besuchen zu dürfen, »wurde mir ein anderer Termin für die Zulassung von Touristen genannt. Zuerst sollte das im Kantjahr geschehen; doch 1974 ging vorbei, ohne daß etwas passierte. Dann wurde gesagt, 1980 zu den Olympischen Spielen in Moskau, dann dürfen auch Gäste in die Kaliningrader Oblastj. So mag das vorerst weitergehen . . . " (S. 44). Ii

161

Rudolf Malter und Ernst Staffa rungsmedaille herausgebracht. Vom örtlichen Verlag wurde ein Sammelband von Werken zum Druck vorbereitet, in dem die Arbeiten von Kantspezialisten aus vielen Städten und Hochschulen des Landes aufgenommen sind. Auf Initiative des Lehrstuhls für Philosophie und wissenschaftlichen Kommunismus wurde in der Königsberger Universität eine Museumsausstellung über Immanuel Kant organisiert. In der Ausstellung des Museums waren zahlreiche Materialien und Fotodokumente über das Leben des Philosophen in Königsberg und sein wissenschaftliches Erbe zusammengetragen. Einen großen Platz nahm im Museum die Geschichte der sowjetischen Kantforschung ein. Auf den Ausstellungsständen waren fast alle bedeutenden Arbeiten vertreten, die in den Jahren der Sowjetmacht über die Kantische Philosophie herausgekommen sind. Die Aussprüche Marx', Engels', und Lenins über die Philosophie Kants waren breit aufgemacht. Gut ausgestattet war der Innenraum; außer den Darstellungen Kants in Skulpturen waren Basreliefs und Büsten der bedeutendsten Philosophen und Naturforscher ausgestellt, die an der Königsberger Universität gewirkt hatten: Fichte, Herder, Helmholtz, Herbart, Jacobi und andere. Es bleibt noch die effektive Hilfe zu erwähnen, die das Organisationskomitee für die Kantfeiern und das Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR der Königsberger Universität bei der Durchführung der Konferenz und der Organisierung des Ausstellungsraumes für Kant angedeihen ließ." V o r Beginn der eigentlichen „interuniversitären Konferenz zu Ehren Kants" führte die Studentenschaft i n der Königsberger Staatsuniversität eine akademische Feier durch (24.—25. A p r i l ) . Anwesend waren Vertreter aus Leningrad, K i e v , Taschkent, Riga, Tiflis, Sverdlovsk, A l m a - A t a , Königsberg und weiteren Städten der UdSSR. Z u c k o v berichtet: Auf der Plenarsitzung und in den Sektionssitzungen wurden mehr als 50 Vorträge gehalten und Berichte vorgelesen, die den verschiedenen Aspekten des Kantschen Erbes gewidmet waren. Man muß sagen, daß die jungen Forscher ein großes Interesse der Philosophie Kants entgegenbrachten. Auf den Sektionssitzungen entwickelten sich die Diskussionen, manchmal scharf und temperamentvoll, die aber durch das leidenschaftliche Verlangen bestachen, das Wesen der Kantschen Philosophie zu begreifen. Besonders ernstzunehmende und originelle Vorträge wurden mit Ehrenurkunden ausgezeichnet und für die Veröffentlichung im Sammelband über die Materialien der Konferenz empfohlen. Die interuniversitäre Kant-Tagung am 26. und 27. A p r i l sah über 300 Hochschullehrer aus fast allen Teilrepubliken der Sowjet-Union versammelt. „Außerdem", berichtet Zuckov, „ w u r d e n mehr als 100 Vorträge und Berichte eingesandt und teilweise auf den Sektionssitzungen verlesen". A u f dem Kongreß, der v o m Königsberger Rektor A . A . Borisov eröffnet wurde, sprachen i n der Plenarsitzung T . I . Ojzerman, G. V . Tevzadze, Α . V . G u l y ga, I . S. Andreeva und der Königsberger Lehrstuhlinhaber D . M . Grinisin. Nach der Plenarsitzung wurden Sektionssitzungen abgehalten m i t Schwerp u n k t auf Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik und Sozialpolitik. „Große

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Königsberg!Kaliningrad

und Immanuel Kant

Bedeutung wurde der Bedeutung der Kantschen Philosophie für die moderne Erkenntnistheorie, L o g i k und Methodologie der Wissenschaft beigemessen, aber auch die verschiedenen bourgeoisen Interpretationen der Philosophie Kants i m 19. und 20. Jahrhundert kritisiert". Die Königsberger Konferenz Schloß m i t der feierlichen Niederlegung von Blumen am Grabe Kants. Nach dem Kongreßbericht von L . A . Klevcur, Α . P. Lyskov und Α . I . K a v a lerov i n Filosofskie Nauki wurde auf dem Kongreß auch der von T . I . Ojzerman herausgegebene Sammelband Die Philosophie Kants und die Gegenwart diskutiert: „ M i t einer detaillierten Bewertung trat L . A . K a l i n n i k o v hervor. A n der Diskussion beteiligten sich M . K . Rybalkin, E. V . Karaskosova, Α . N . Troepol'skij, I . M . Reznick, V . M . Supina. Das Schlußwort ergriff D . M . Grinisin, der unterstrich, daß das diskutierte Werk i m ganzen einen wertvollen Beitrag für die Kantforschung der Sowjetunion als auch der Welt, für die Erforschung des schöpferischen Erbes I . Kants darstelle". Die letztgenannten Autoren teilen am Ende ihres Berichts mit, daß auf dem Kongreß beschlossen worden sei, „ein ständig (alle drei Jahre) stattfindendes interuniversitäres Seminar über das theoretische Erbe Kants unter dem L e i t w o r t ,Symposium zu Ehren Kants* einzuführen. Die Konferenzteilnehmer hielten es auch für notwendig, dem Ministerium für höhere und mittlere Bildung der RSFSR die Anregung vorzutragen, der Königsberger U n i versität das Recht zuzuerkennen, regelmäßig (einmal i n drei Jahren) interuniversitäre Sammelbände über K a n t herauszubringen. Die Entschließung der Konferenz enthält auch eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen, die auf die weitere A k t i v i e r u n g der Arbeit zur Erforschung des Erbes I . Kants gerichtet sind, eines der bedeutendsten Vertreter der deutschen klassischen Philosophie". III.

Der Kantkongreß

1977

Wie 1974 beschlossen, fand i m Jahre 1977 ein weiterer Kantkongreß statt. 1 9 L . A . K a l i n n i k o v hat über i h n i n der Zeitschrift Filosofskie Nauki (1978, H e f t 3, 165—169) berichtet. 19 Die Akten dieses Kongresses bilden als Bde 3 (1978) und 4 (1979) die Fortsetzung der oben genannten Aktenbände von 1975 und 1977; sie sind unter dem gleichen Titel 1978 in Kaliningrad erschienen un dwurden von D. M. Grinisin, A. W. Gulyga, V. A. Zuckov, L. A. Kalinnikov und I. S. Narskij redigiert. Das von G. Funke auf Bitte Grinisins den Teilnehmern des Kongresses übermittelte Telegramm lautet: „Den Teilnehmern an der diesjährigen wissenschaftlich-theoretischen Konferenz über Immanuel Kants Philosophie und an den Kant-Lesungen in Königsberg erlaube ich mir, im Namen der Internationalen Kant-Gesellschaft besondere Grüße zu übermitteln. Dabei gilt der Wunsch der Gesellschaft einem erfolg- und ertragreichen Verlauf der Veranstaltungen und dem Wohl ihrer Teilnehmer.

11*

163

Rudolf Malter

und Ernst Staffa

„ D a s v o m 2 8 . — 3 0 . September 1977 i n K ö n i g s b e r g abgehaltene I I . S y m p o sion über K a n t w u r d e v o n D . M . G r i n i s i n (Königsberg) m i t d e m Referat „ I m m a n u e l K a n t — Gelehrter, Philosoph u n d Mensch" eröffnet. D e r Ref e r e n t u n t e r s t r i c h , d a ß K a n t s V e r d i e n s t v o r a l l e m d a r i n bestehe, d i e N a t u r wissenschaft

mit

dem

Gedanken

der E v o l u t i o n

durchdrungen

zu

haben.

K a n t sei n i c h t n u r e i n S t u b e n g e l e h r t e r gewesen, s o n d e r n e i n M e n s c h , d e r eine Gesellschaft f o r d e r e , i n d e r es n i c h t v o r k o m m e n d ü r f e , d a ß S t a n d e s p r i v i l e g i e n d e n w a h r e n Interessen d e r Menschen z u w i d e r l a u f e n . U m dieses Z i e l , eine Gesellschaft, d i e d e n M e n s c h e n diene, z u erreichen, b e d ü r f e es eines e w i g e n F r i e d e n s , dessen A l t e r n a t i v e n u r d i e F r i e d h o f s r u h e sei. E . P . S i t o k o v s k i j ( M o s k a u ) h o b i n seinem V o r t r a g „ D i e L e h r e K a n t s

vom

P h ä n o m e n (Erscheinung) u n d v o m Wesen" h e r v o r , daß K a n t a u f erkenntnisDie Kant-Gesellschaft ist mit mir der Überzeugung, daß die Forschung im Sinne und im Geiste Kants einen wesentlichen Beitrag zum besseren wechselseitigen Verständnis der Völker, auch bei sonst vielleicht unterschiedlichen Verhältnissen und Auffassungen, leisten kann. Jede Möglichkeit wahrzunehmen, die uns der Erreichung eines solchen Zieles näherbringt, liegt in unser aller Interesse. In dieser Überzeugung begrüßt die Gesellschaft jede ehrliche Bemühung um die Vertiefung der wechselseitigen Beziehungen und verfolgt Ihre Arbeiten mit wachem Interesse und großer Anteilnahme. Möge die Tagung durch Ihren Einsatz die hochgespannten Erwartungen erfüllen, die man in sie setzen darf, und möge sie für die Zukunft die von uns gemeinsam gewünschten Ergebnisse zeitigen!1* Vgl. zu dieser Tagung audi Wörster S. 39 f. — Als Ausdruck des guten Kontaktes zwisdien der Kant-Gesellschaft und den Königsberger russischen Philosophen darf auch das Telegramm gewertet werden, welches dem Vorsitzenden der Gesellschaft zu dessen 65. Geburtstag übermittelt wurde: An den Akademie der Wissenschaften Vorsitzenden der Kantgesellschaft Philosophische Gesellschaft in Mainz Kaliningrader Abteilung Herrn Prof. Dr. Gerhard Funke Nr. 04 Mai 1979 Sehr geehrter Herr Professor Funke! Im Namen des philosophischen Lehrstuhls der Königsberger Universität, des Rates des KantMuseums und audi im Namen der Königsberger Zweigstelle der Philosophischen Gesellschaft der UdSSR beglückwünschen wir Sie herzlich zu Ihrem bedeutungsvollen Jubiläum. Jahre unermüdlichen Wirkens auf dem Feld der geistigen Kultur machten Ihren Namen Gelehrten vieler Länder vertraut. Die unschätzbare Hilfe, die Sie den Königsberger Kantforschern erweisen, zeugt von Ihrer ungewöhnlichen Großzügigkeit, von der alle ergriffen werden, die sie in irgendeiner Form erfahren haben. Unsere gemeinsame Arbeit zur Nutzbarmachung des Erbes von Kant, eines der Genien des deutschen Volkes, dient dem gegenseitigen Verständnis zwischen unseren Völkern und führt auf den Weg des Humanismus und des Friedens. Sie schenken Ihre geistigen Kräfte in reichem Maße dieser Aufgabe. Zu Ihrem 65. Geburtstag, lieber Jubilar und Kollege, wünschen wir Ihnen gute Gesundheit und neue schöpferische Erfolge. Der Vorsitzende der Königsberger Organisation der Philosophischen Gesellschaft der UdSSR und des Rates des I. Kant-Museums, Direktor Prof. Dr. D. Grinisin Der Vizepräsident, der Kandidat der Philosophie, L. Kalinnikov, Dozent der wissenschaftliche Sekretär der Phil. Ges., A. TroepoPskij. (Deutsche Übersetzung von Dr. Ernst Staffa. Wir danken Herrn Prof. Dr. G. Funke für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung des Textes).

164

Königsberg!Kaliningrad

und Immanuel Kant

theoretischem Gebiet aus politisch-sozialen Gründen seiner Zeit heraus einen Kompromiß zwischen der Metaphysik und der aufstrebenden „dialektischen Methode" vertrete. Dieser Widerspruch äußere sich i n der Gegenüberstellung des „Dinges an sich" und der Erscheinung einerseits und der agnostischen Trennung der Erscheinung v o m Wesen andererseits, was die idealistische Lehre Kants v o m „ D i n g an sich" ausmache. L . A . Abramjan wandte sich i n seinem Vortrag ebenfalls dem Problem des „Dinges an sich" zu, wobei er das „ D i n g an sich" i m Zusammenhang m i t dem „ D i n g i m allgemeinen", das i n der Kantischen Philosophie als Gegenstand, der außerhalb seiner Beziehung zum Subjekt betrachtet werde, sehen möchte. I m Anschluß an die Referate v o n Sitakovskij und Abramjan entstand eine lebhafte Diskussion, an der sich vor allem I . S. Narskij beteiligte. Er stellte fest, daß i n der „ K r i t i k der reinen Vernunft" das „ D i n g an sich" vier Bedeutungen habe. G. V . Tevzadze bemerkte i n seinem Beitrag, daß das „ D i n g an sich" nicht als eine i m Raum existierende Substanz von Erscheinungen angesehen werden dürfe. Α . A . Kravcenko unterstrich i n seinem Beitrag die Notwendigkeit, i m Begriff „ D i n g an sich" zwei Bedeutungen zu unterscheiden: die agnostische (die die Möglichkeit eines Erkennens ausschließt) und die gnoseologische, bei der es sich um die Nichteinbeziehung des Objektes i n das Wissen als vorläufige Situation der erkennenden Tätigkeit handelt. M . N . Alekseev ging noch einen Schritt weiter und forderte aus diesem Sachverhalt als Konsequenz eine andere Obersetzung v o n „ D i n g an sich" ins Russische. Bisher war die Übersetzung „veSc* ν sebe" gebräuchlich; es müßte nun jetzt „vesc sama po sebe" heißen, was i m Deutschen „ D i n g an sich selbst" hieße. Z u m Problemkreis des „ D i n g an sich" äußerte sich V . A . Z u c k o v (Moskau), indem er die materialistische Bedeutung des „ D i n g an sich" als Ausgangsp u n k t der Empfindungen unterstrich. Dabei dürfte man aber nicht außer acht lassen, daß K a n t v o m „ D i n g an sich" auch als einer Quelle der A f f i zierung eines inneren Gefühls spreche. Darunter sei nicht eine objektive Realität zu verstehen, sondern ein vernunftbegabtes Subjekt und ein M i t tel, m i t dem die Seele auf sich selbst durch ihre Tätigkeit einwirke. H i n t e r dieser idealistischen Bedeutung des Dinges an sich verberge sich die tiefe Problematik einer Konzeption eines Parameters der menschlichen Tätigkeit als einer freien, zielgerichteten A k t i v i t ä t .

165

Rudolf Malter und Ernst Staffa Über die historische Perspektive einer Erarbeitung dieser Denkweise durch eine Philosophie dialektischer Widersprüche sprach I . S. N a r s k i j i n seinem Vortrag „Das Problem der Widersprüche i m Denken (Zenon aus Elea, K a n t , Hegel)". Nach Meinung des Referenten stellen die Aporien des Zenon von Elea, die Antinomien der reinen Vernunft bei K a n t und die Erörterung Hegels über den dialektischen Befund von S = Ρ und S φ Ρ eine wichtige Etappe i n der Entwicklung der Lehre v o n den Widersprüchen i n der vormarxistischen Erkenntnislehre dar. Dabei sei hervorzuheben, daß Hegel infolge der Verabsolutierung der Antinomien einen Schritt hinter K a n t zurückgehe, indem er die Struktur und den I n h a l t der Widersprüche i m Erkennen m i t den analogen Charakteristika der objektiven Widersprüche gleichsetze. So sei es das größte Verdienst Kants gewesen, auf die Besonderheit der Widersprüche i m Erkennen hingewiesen zu haben. Α . I . N o v i k o v (Leningrad) untersuchte i n seinem Vortrag die vielfältigen Versuche, i m Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts das philosophische System des Königsberger Denkers zu rezipieren und sich m i t i h m auseinanderzusetzen. Das sei n o d i zu Lebzeiten Kants geschehen, i n der Regel polemisch, v o n rechts — aus dem Lager der russisch-orthodoxen Theologen und später, i n der M i t t e des 19. Jahrhunderts, von links, aus dem Lager der revolutionären Demokraten. L . A . K a l i n n i k o v betonte i n dem Vortrag „ D i e teleologische Methode Kants und die D i a l e k t i k " , daß K a n t unter einer philosophischen Methode nicht eine Summierung einzelner Teilgesetze und Prinzipien verstehe, sondern eine „verallgemeinernde Idee" wie gerade die teleologische Methode, die er als regulierendes heuristisches Prinzip verstanden habe, die „objektiven" Betrachtungsweisen den Weg ebnete. Uber die Entwicklung i m Neokantianismus sprach G. V . Tevzadze i n seinem Vortrag und meinte, auf folgende Schwerpunkte i n der Auseinandersetzung i m Neokantianismus achten zu müssen: 1. Die Erkenntnis existiere bei gleichzeitiger Leugnung ihrer Möglichkeit. 2. Es gebe einen Dualismus zwischen dem „ D i n g an sich" und den Erscheinungen. 3. Das Denken unterscheide sich wesentlich v o m Erkennen, was stringent aus den unterschiedlichen Ebenen des Dinges an sich und der Erscheinungen zu erklären sei. 4. Zwischen Glaube und Wissen existiere ein prinzipieller Unterschied. 5. Die Gnoseologie müsse dualistisch sein i n dem Sinne, daß i m Prozeß der Erkenntnis die Anschauungen und der Verstand von einander wesentlich verschiedene Rollen spielen. Daraus folge, daß der Neokantianismus nicht

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und Immanuel Kant

die philosophische Richtung sei, die sich an die Erkenntnistheorie Kants halte, i m Gegenteil: der Neokantianismus deformierte diese Lehre. I n ihrem Vortrag „ I . K a n t und die N a t u r des philosophischen Wissens" hob M . S. Kozlova das neue Verständnis der N a t u r und der Bestimmung des philosophischen Wissens bei K a n t hervor. K a n t fordere die erkenntnistheoretische Grundlegung der bereits existierenden Formen des Wissens und eine erkenntnistheoretische Reflexion der Philosophie über sich selbst. H i e r sei der theoretische Ansatz zu jeder K u l t u r - und Geschichtsphilosophie als auch zur Philosophiegeschichte, aber auch zu jeder E t h i k zu suchen. E. Ju. Solov'ev vertiefte diese Gedanken i n seinem Vortrag „ K a n t und die Geschichtsphilosphie". K a n t sei der erste gewesen, der es unternommen habe, die Geschichte der Gesellschaft philosophisch zu deuten. I n diesem Punkt sei K a n t ein V o r b i l d für M a r x gewesen (18. Brumaire des Louis Bonaparte). K a n t konnte diesen Weg einschlagen, da er v o n der Erkenntnis ausgegangen sei, daß der Weg des Menschen nicht durch ein Absolutes bestimmt werde, vielmehr sei bei K a n t schon ein Ansatz zur D i a l e k t i k von Freiheit und Notwendigkeit zu erkennen. Nach diesen grundlegenden Referaten setzte die Tagung ihre Arbeit i n fünf Sektionen fort. I n der ersten Sektion „Erkenntnislehre, Logik und Methodologie der Wissenschaft i m System Kants" ergriffen 14 Teilnehmer das W o r t ; 15 weitere Beiträge wurden verlesen oder angekündigt. I n der zweiten Sektion wurden die naturwissenschaftlichen und mathematischen Ideen Kants betrachtet. Sieben Teilnehmer hielten Referate, und den Sitzungsprotokollen wurden noch vier Referate hinzugefügt. I n der dritten Sektion wurden die sozial-politischen Ansichten Kants erörtert. Dazu wurden elf Referate gehalten, und den Sitzungsprotokollen noch weitere acht Mitteilungen beigefügt. H i e r sei vor allem auf den Beitrag I . V . Byckos (Kiew) hingewiesen, nach dem das Kantische Verständnis von Freiheit untrennbar m i t dem Gedanken der A k t i v i t ä t des Subjektes verbunden ist. I . M . Zaksas (Wilna) betonte, daß K a n t die Gedanken v o m Menschen als willfährigem Werkzeug übernatürlicher Kräfte weit von sich gewiesen habe. Bei K a n t sei darüber hinaus die Unterscheidung v o n religiösem und nichtreligiösem Glauben ausgeprägt. I n der vierten Sektion wurden die ethischen und ästhetischen Ansichten Kants i n acht Vorträgen und fünf eingesandten A r t i k e l n behandelt.

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Rudolf Malter und Ernst Staffa Die fünfte Sektion widmete sich dem Thema: „ I . K a n t i n der Geschichte der Philosophie". Dazu wurden sieben Vorträge gehalten, und 14 weitere eingesandte Referate den Sitzungsprotokollen beigefügt. U . a. hob B. Genzelis (Wilna) die Beziehungen Kants zu Gelehrten und Philosophen Litauens und zur K u l t u r dieses Landes hervor. Einen wichtigen Beitrag leistete auch A . A . Kravcenko i n seinem Beitrag über die Umformung der Ideen Kants durch Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen". M i t besonderem Interesse haben die Zuhörer den Beitrag L I . Packaevas (Moskau) über die zeitgenössischen Kantforschungen i n der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Es w i r d festgestellt, daß dort das Interesse an der Philosophie Kants zugenommen habe, allerdings i n der Form der K r i t i k von „rechts", die i n der deutschen klassischen Philosophie v o n Fichte begonnen und v o m Neokantianismus fortgesetzt worden sei. I m wesentlichen sei dies eine metaphysische Interpretation Kants. So seien O. Blaha, H . Heimsoeth, G. M a r t i n der Ansicht, daß die „ K r i t i k der reinen Vernunft" der alten Metaphysik eine neue Grundlage gegeben habe." A u f der Schlußsitzung wurde das Redaktionskollegium der dritten Serie „ K a n t o v s k i j sbornik" (Sammelband über K a n t ) zusammengestellt und es wurde beschlossen, daß das dritte Kant-Symposium i m A p r i l 1981 i n Riga stattfinden w i r d , u m die 200-Jahrfeier des Erscheinens der „ K r i t i k der reinen Vernunft" i m Erscheinungsort zu begehen. 20

Nachbemerkung Nach Abschluß dieses Beitrages sind neue Daten zum Thema bekannt geworden, durdi weldie die hier beigebraditen Informationen ergänzt und korrigiert werden. Vgl. Rudolf Malter — Ernst Staffa (in Zusammenarbeit mit P. Wörster): Kant in Königsberg seit 1945. Wiesbaden 1983.

20

Die Verfasser dieses Artikels haben in einer Kurznotiz auf den zweiten Königsberger Kongreß und auf den angekündigten Rigaer Kongreß audi in der Presse hingewiesen. Dabei wurde durch redaktionelle Veränderung des Originaltextes in der FAZ vom 17. 8. 1978 aus Riga eine „litauische" Stadt. Das Ostpreußenblatt (2. 9. 1978 u. 24. 11. 1979), der Königsberger Bürgerbrief (XV, 1978, 26) und das Friderizianer-Rundsdtreiben Nr. 71 vom Nov. 1978 bringen dagegen den von uns verfaßten authentischen Text.

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ROBERT FRIT2SCHE GEDANKEN KANTS ZUR

STAATSBÜRGERSCHAFT

Staatsbürgerschaft w i r d heute — jedenfalls bei uns — als Synonym für Staatsangehörigkeit verstanden. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für die D D R , i n deren diesbezüglichem Gesetz nur der Begriff der Staatsbürgerschaft verwendet w i r d , deren Bürger aber auch — ebenso wie die Bürger der Bundesrepublik Deutschland — die deutsche Staatsangehörigkeit haben. M i t dem Begriff der Staatsangehörigkeit und dem der Staatsbürgerschaft w i r d die rechtliche Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat bezeichnet, wobei es sich bei dieser rechtlichen Zugehörigkeit um eine umfassende, einzigartige und auf Dauer angelegte Angehörigkeitsbeziehung handelt. Durch sie w i r d eine Rechtsposition geschaffen, aus der die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten erwachsen. Sie machen den Staatsangehörigen zum Staatsbürger. Die Staatsbürgerschaft ist eine geschichtlich gewachsene Institution. I m Laufe der geschichtlichen Entwicklung hat sich der Staatsbürgerschaftsbegriff gewandelt und verschiedene Bedeutungen gehabt, bis er die heutige umfassendste Bedeutung erlangt hat, wonach m i t diesem Begriff — wie gesagt — alle Staatsangehörigen ohne Ausnahme bezeichnet werden, der Begriff also als Synonym für den Staatsangehörigkeitsbegriff verwendet w i r d . Der Staatsbürgerschaftsbegriff kann als Vorstufe zum Staatsangehörigkeitsbegriff angesehen werden; denn bereits vor Herausbildung der Staatsangehörigkeit als umfassendes, alle Angehörigkeitsbeziehungen regelndes Rechtsinstitut hat es den Staatsbürgerschaftsbegriff gegeben m i t dem egalisierenden Bedeutungsaspekt. Bevor es zu dieser Entwicklung gekommen ist, wurde der Staatsbürgerschaftsbegriff aber auch m i t einem eingeschränkten Bedeutungsinhalt verwendet, indem man als Staatsbürger nur den Bürger verstand, dem politische Rechte zustanden. 1 1

Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 165.

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Robert Fritzsce Das Zuordnungsverhältnis des Einzelnen zum Staat, wie es durch den Staatsbürgerschaftsbegriff erfaßt w i r d , ist i n seiner rechtlichen Ausprägung, i n seinem Wesen und seiner Bedeutung, abhängig einerseits v o n der jeweiligen Staatsauffassung und verfassungsrechtlichen Gestaltung des Staates und andererseits von der Auffassung v o m Menschen und der Stellung und Rechtsposition, die ihm i m Staat zukommen soll. Diese enge Wechselbeziehung ist für die Ausgestaltung des Rechtsinstituts der Staatsbürgerschaft v o n entscheidender Bedeutung. U m den v o n K a n t verwendeten Staatsbürgerschaftsbegriff zutreffend einordnen und beurteilen zu können, ist ein kurzer geschichtlicher Rückblick erforderlich. Die staatsrechtlichen Verhältnisse i n Preußen gegen Ende des 18. Jahrhunderts hinsichtlich des Verhältnisses des einzelnen Menschen zum preußischen Staat und die hierbei damals verwendeten Begriffe waren die geschichtliche Grundlage, die zur Beurteilung und Bewertung v o n Kants Rechtsgedanken herangezogen werden muß, weil auch Kants staatsrechtliche und die Beziehungen des Menschen zum Staat betreffenden Uberlegungen und Ausführungen auf dieser Grundlage erwachsen sind. Das bedeutende Gesetzbuch des ausgehenden 18. Jahrhunderts i n Preußen, das Allgemeine Landrecht v o n 1794, das sich auf fast allen Rechtsgebieten durch eine besonders starke Regelungsfreudigkeit auszeichnet, enthält zum Angehörigkeitsrecht zwar eine Reihe einschlägiger Begriffe, aber keine ins einzelne gehende Regelung der angehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse. Es sind, wie gesagt, mehrere Begriffe, m i t denen die Angehörigkeitsbeziehung des Einzelnen zum Staat bezeichnet w i r d : So heißt es i n § 1 der Einleitung zum A L R , daß dieses Gesetzwerk diejenigen Vorschriften enthalte, nach welchen die Rechte und Verbindlichkeiten der Einwohner des Staates zu beurteilen seien, und i n § 41 der Einleitung heißt es, daß fremde Untertanen bei dem Betriebe erlaubter Geschäfte „ i n hiesigen Landen sich aller Rechte der Einwohner zu erfreuen haben, solange sie sich des Schutzes der Gesetze nicht unwürdig machen". Nach § 22 der Einleitung verbinden die Gesetze des Staates alle Mitglieder desselben ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts, und i n dem Abschnitt „Verhältnis des Staats gegen seine Bürger" ist i n § 74 geregelt, daß einzelne Rechte und Vorteile der Mitglieder des Staats den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls nachstehen müssen. § 75 regelt die daraus sich ergebende Entschädigungspflicht des Staates, und § 76 bestimmt, daß jeder Einwohner des Staates den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt ist. H i e r möchte ich einfügen, daß diese Be-

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft Stimmung noch heute i n der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsgrundlage für die Entschädigung i m Fall der sog. Aufopferung Geltung hat, und zwar aufgrund der Rspr. des R G , der sich das B V e r w G angeschlossen hat. 2 Die sprachliche Neuformulierung lautet: „Wer infolge eines zu duldenden staatlichen Hoheitsaktes in seinen Rechten geschädigt wird und dadurch ein besonderes Opfer zum Besten der Allgemeinheit hat bringen müssen, hat Anspruch auf einen billigen Ausgleich."3 Diese Neuformulierung hat aber das Prinzip nicht geändert, das heute noch gilt und überall da angewandt w i r d , w o eine spezielle Enteignungsregelung fehlt. Schließlich sei i n diesem Zusammenhang noch § 80 erwähnt, wonach „auch Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupt des Staates und seinen Untertanen" bei den ordentlichen Gerichten nach den Vorschriften der Gesetze erörtert und entschieden werden sollen. W i r finden also die Begriffe Einwohner des Staates, M i t g l i e d des Staates, Bürger und Untertan, nicht dagegen den Begriff Staatsbürger. Dieser Begriff ist i m A L R nicht enthalten. Dennoch gibt es den Begriff schon i m preußischen Recht, nämlich i m Einführungsedikt zum A L R für Südpreußen. I n diesem E d i k t werden die neuerworbenen Angehörigen als „Staatsbürger" m i t ihren Rechten und Pflichten vertraut gemacht, während der Schutz dieser Rechte ihnen als „Unseren Untertanen" versichert w i r d . 4 Aber audi die angehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse Frankreichs sind i n die Betrachtung einzubeziehen, zumal die aus Frankreich stammenden rechtsphilosophischen Gedanken — Rousseaus Gemeinwillenslehre und Montesq u i e u Kerngedanken der Gewaltenteilung — großen Einfluß auf Kants Rechtsdenken gehabt haben und die staatsrechtliche Entwicklung i n Frankreich von K a n t besonders aufmerksam verfolgt worden ist. Die Konstitution v o m 3. September 1791 hat erstmals verfassungsrechtlich den Status des „citoyen Français" normiert. Schon i n dieser Konstitution steht aber neben dem staatsangehörigkeitsrechtlichen „citoyen" der staatsbürgerliche „citoyen" i. e. S., der Träger politischer statt nur ziviler Rechte. Siéyès, der den Staatsbürger als Träger v o n Wahl- und sonstigen Mitwirkungsrechten „citoyen actif" nennt, schätzt deren Anzahl i n Frankreich auf 4 Millionen 2 BVerwGE 4, 7 (15). 3 RGZ 159/135; ebenso BVerwEG 8, 8; vgl. auch Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 301. 4 Grawert, a.a.O., S. 125 und Anm. 2 dort.

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Robert Fritzscbe v o n 26 M i l l i o n e n Menschen.5 Es ist K a n t , der diese Bedeutung des A k t i v bürgers als Träger von W a h l - und Mitwirkungsrechten übernommen und i n Deutschland eingeführt hat. Das ergibt sich aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf die französische Bezeichnung citoyen i n dem Kantschen Satz: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht dieser Gesetzgebung hat, heißt Bürger (citoyen d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger bourgeois)." 6 D a das Verhältnis des einzelnen Menschen zum Staat und die insoweit i n Betracht kommenden Rechtsbeziehungen sowie die Wechselseitigkeit derselben — wie bereits dargelegt — einerseits von der Staatsauffassung und andererseits v o n der Auffassung v o m Menschen abhängen, sind nun die Staatsauffassung Kants und seine Auffassung v o m Menschen als Zweck an sich zu betrachten. I n der Abhandlung „Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht" sagt K a n t : „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Redit verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.* 7 I n der Abhandlung „ Ü b e r den Gemeinspruch: Das mag i n der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" und i n dem Abschnitt „ V o m Verhältnis der Theorie zur Praxis i m Staatsrecht" heißt es dann: „Hier ist nun ein ursprünglicher Contract , auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann. — Allein dieser Vertrag . . . . ist keineswegs als ein Factum vorauszusetzen nötig . . . „Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: Nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe.*8 U n d i n der „Metaphysik der Sitten" begreift K a n t den Staat wie folgt: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend, (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechts5

Grawert, a.a.O., S. 162. 6 Kant, AA V I I I S. 295. 7 Kant, AA V I I I S. 22. 8 Kant, AA V I I I S. 297.

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft prinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient."9 U n d weiter: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (postestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. — In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durò einen kategorischen Imperativ verbindlich macht."10 Nach der Kantschen Staatsauffassung soll der Staat gegründet sein durch einen ideal gedachten Vertrag des Volkes, der zu dem Zweck geschlossen ist, die Freiheit der Menschen bei ihrer Bindung an die Gemeinschaft zu gewährleisten. Der Staat ist danach zu verstehen als die für die Vereinigung einer Menge von Menschen nötige Organisation zum Zwecke des durch Gesetze zu realisierenden obersten Prinzips der Freiheit der Mensdien i n ihren Beziehungen zueinander, und der Mensch, für den dieses oberste Prinzip der Freiheit gilt, ist zu verstehen als Zweck an sich, als autonome Persönlichkeit, und nicht als M i t t e l zur Verwirklichung fremder Zwecke. Der Staat und der Mensch, gesehen unter dieser Auffassung Kants, sind die beiden Pole, die i n Beziehung stehen und deren Verhältnis zu regeln ist. Schließlich möchte ich aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" noch folgende, die Kantsche Auffassung v o m Menschen besonders prägnant wiedergebende Stelle zitieren, i n der es heißt: „Nun sage ich: Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als audi auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." 11 I m Rahmen dieses Vortrags ist es natürlich unmöglich, die Staatsauffassung Kants und seine Auffassung v o m Menschen i n allen Einzelheiten abzuhandeln. Meine geringen Kenntnisse würden dazu bei weitem auch nicht ausreichen. Ich hoffe jedoch, m i t den soeben vorgetragenen Zitaten den Kerngedanken der Kantschen Auffassung zutreffend erfaßt und wiedergegeben 9 Kant, AA V I S. 313. M Kant, AA V I S. 318. » Kant, AA I V S. 428.

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Robert Fritzsce zu haben. Das wesentliche dieser Auffassung sehe ich darin, daß K a n t den Staat begreift als die auf das Recht gegründete Gesellschaft: Die Vereinigung einer Menge v o n Menschen unter Rechtsgesetzen, wobei das Recht als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die W i l l k ü r des einen m i t der W i l l k ü r des andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden k a n n " 1 2 , zu verstehen ist. Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit sind nach der Auffassung Kants die für das Verhältnis des Menschen zum Staat entscheidenden Attribute. K a n t sagte hierzu: „Der bürgerliche Zustand also, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende Principien a priori gegründet: 1. Die Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem Anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit

jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers.

Diese Principien sind nicht sowohl Gesetze, die der schon errichtete Staat gibt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung reinen Vernunftprincipien des äußeren Menschenrechts überhaupt gemäß möglich ist."13 A l l e drei Prinzipien sind also die Grundlage des bürgerlichen Zustands. Dabei bezieht sich das Prinzip der Freiheit auf den Menschen als Glied des gemeinen Wesens und ist ein Prinzip für die Staatsverfassung, was K a n t i n der Formel ausdrückt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer nicht Abbruch tut." 14 Das Prinzip der Gleichheit bezieht sich auf den Untertan, und zwar nach der von K a n t gebrauchten Formel: „Jedes Glied (des gemeinen Wesens) muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten."15 12 13 14 15

Kant, AA V I S. 230. Kant, AA V I I I S. 290. wie oben. Kant, AA V I I I S. 292.

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft Freiheit und Gleichheit sind die beiden Grundelemente des Kantschen Rechtsbegriffs und damit audi der Rechtsstellung des Einzelnen als Mensch und Untertan i m Staat. Die Begeisterung Kants für die Freiheit des Menschen u n d für den Gedanken der Gleichheit, seine Betonung der Rechtsgleichheit der Untertanen, geht auf Rousseau und Montesquieu zurück. Das entscheidende Kriterium, das noch hinzu kommen muß, damit der Mensch und Untertan als Glied des Staates den bürgerlichen Zustand erreichen kann, m i t h i n Staatsbürger sein kann, ist nach der Auffassung Kants die Selbständigkeit. Was versteht nun K a n t unter Selbständigkeit? Er geht bei der Begründung seiner Auffassung von der Notwendigkeit, dem Sinn und der Bedeutung dieses Kriteriums davon aus, daß er zunächst die Abhängigkeit des Rechts v o n Gesetzen und das Wesen eines öffentlichen Gesetzes als den „Actus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht", begreift. Z u einem solchen Gesetz ist „kein anderer Wille als der des gesamten Volkes . . . . möglich: denn nur sich selbst kann niemand Unrecht tun." 16 K a n t fährt an dieser Stelle i m nächsten Absatz seiner Ausführungen — wie bereits zitiert — f o r t : „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d. i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger bourgeois)."17 M i t den nachstehenden Sätzen, die ich ebenfalls zitiere, beschreibt K a n t „die Selbständigkeit (sibisufficientia) eines Gliedes des gemeinen Wesens als Bürgers, d. i. Mitgesetzgebers" wie folgt: „Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er in den Fällen, wo er von Anderen erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen, was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Wortes diene."18 Diese Beschreibung des Begriffs der Selbständigkeit ist i n der 1793 erschienenen Abhandlung Kants „Über den Gemeinspruch: Das mag i n der Theo16 Kant, AA V I I I S. 294. 17 Kant, AA V I I I S. 295. 1® Kant, wie oben.

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Robert Fritzsce rie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" enthalten. Z w e i Jahre später, i n dem philosophischen E n t w u r f „ Z u m ewigen Frieden" taucht der Begriff des Staatsbürgers wieder auf, allerdings ohne eine Erwähnung des für die Qualifizierung zum Staatsbürger entscheidenden Kriteriums; es heißt: „Die erstlich nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von der einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen) und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung — die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volkes gegründet sein muß — ist die republikanische."19 A n anderer Stelle dieses Abschnittes heißt es, daß es i n einer solchen Verfassung nicht anders sein könne, als daß die Beistimmung aller Staatsbürger erforderlich sei, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht; i m Gegensatz zu einer Verfassung, w o der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch sei. Die Verwendung des Begriffs des Staatsbürgers i n diesem Zusammenhang deutet darauf hin, daß K a n t diese Qualifizierung allen Menschen und Untertanen zuerkennen möchte und den bürgerlichen Zustand einer künftigen Verfassung i m Auge hat, i n dem dies verwirklicht ist. Die späteren Ausführungen Kants 1797 i n der „Metaphysik der Sitten" zeigen, daß K a n t jedenfalls die Notwendigkeit einer besonderen Qualifizierung zum Staatsbürger nicht aufgegeben hat und diese Qualifizierung nach wie vor i n dem A t t r i b u t der Selbständigkeit sieht. So heißt es jetzt: „Nur die Fähigkeit zur Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus; jene aber setzt Selbständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben, sein will. Die letztere Qualität macht aber die Unterscheidung des activen vom passiven Staatsbürger notwendig, obgleich der Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen scheint."20 Bemerkenswert ist i n diesem Zusammenhang die Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsgedankens, die ich darin sehe, daß der Begriff nun sogar Verwendung findet für den Untertan des Staates, der nicht zur Stimmgebung qualifiziert ist, wenn auch durch das A t t r i b u t passiv eine zutreffend als Widerspruch empfundene Begriffseinschränkung erfolgt ist. K a n t hat durchaus diese Entwicklung als eine solche verstanden, die dahin fortschreite oder fortschreiten solle, daß immer mehr Menschen die „Fähigkeit zur Stimmgebung" erlangen. K a n t bringt diesen Gedanken noch besonders zum 19 Kant, AA V I I I S. 349. 20 Kant, AA V I S. 314.

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft Ausdruck, indem er sagt, die positiven Gesetze müssen den natürlichen der Freiheit und Gleichheit aller i m V o l k nicht zuwider sein, „sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen emporarbeiten zu können" 2 1 . Kants Gedanken über die Kriterien der Staatsbürgerschaft müssen, das sei an dieser Stelle nochmals betont, i m Kontext m i t den politischen und w i r t schaftlichen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts gesehen werden. N u r i m Blick auf die damaligen Verhältnisse können diese Gedanken richtig gewürdigt werden, während sich bei Zugrundelegung der heutigen Verhältnisse ein schiefes B i l d ergeben muß. Das gilt sowohl für die Frage der natürlichen Selbständigkeit als audi für die der wirtschaftlichen. Soweit es sich u m die natürliche Selbständigkeit als Erfordernis der Staatsbürgerschaft handelt (nach K a n t : daß es kein K i n d , kein Weib sei), ist von dem Begriff der Mündigkeit auszugehen, die auch damals schon Kinder nicht hatten. Der natürliche und altersbedingte Zustand der geistigen Reife ist hierfür ausschlaggebend. N u r hat man früher außer den Kindern auch noch „alles Frauenzimmer" 2 2 als unmündig angesehen. Bei den damals herrschenden patriarchalischen Verhältnissen und der weitgehenden Abhängigkeit der Frauen von den Entscheidungen der Männer war die Einordnung i n die Gruppe der Personen, denen die natürliche Selbständigkeit fehlte, nichts Ungewöhnliches. Wenn man bedenkt, daß i m Zeitalter der A u f k l ä rung bereits eine Entwicklung dahin begann, den Zustand der Unmündigkeit der Menschen, soweit er nicht auf der altersgemäßen mangelnden geistigen Reife beruht, zu beheben, und wenn man berücksichtigt, daß diese Entwicklung, soweit es sich u m die Unmündigkeit der Frauen handelt im politischen Bereich, z . B . i n Deutschland erst 1918 dazu geführt hat, daß den Frauen das volle aktive und passive Wahlrecht zuerkannt worden ist, und daß es ζ. B. i n der Schweiz noch heute Kantone gibt, i n denen die Frauen diese politischen Rechte entbehren müssen, dann kann man daraus erkennen, daß Kants Auffassung hierzu i m Kontext der Zeitverhältnisse gesehen durchaus nicht so absonderlich ist, wie sie ohne diese Einordnung erscheinen müßte. Das gleiche gilt aber auch hinsichtlich der Frage der wirtschaftlichen Selbständigkeit. I m 18. Jahrhundert w a r die Zuerkennung politischer Rechte — nämlich das Recht der Stimmgebung — etwas so Bedeutendes und mußte so wichtig und außergewöhnlich erscheinen auf dem Hintergrund der allge21 Kant, AA V I S. 315. 22 Kant, AA V I S. 314. 12

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Robert Fritzscbe meinen Unwissenheit hinsichtlich der Gestaltung der staatlichen Verhältnisse aufgrund der Unbeteiligtheit hieran, daß ganz hohe Anforderungen an diese Mitwirkungsrechte erforderlich erscheinen mußten. I m 18. Jahrhundert entfaltete sich das Bürgertum i n stärkerem Maße v o r allem i n w i r t schaftlicher Hinsicht auf dem Gebiet des Handwerks, des Handels und des Gewerbes, aber auch auf den Gebieten der Künste u n d Wissenschaften und schließlich auch i m Rahmen des Staatsdienstes als Beamtenschaft. Dieses nach Unabhängigkeit und nach M i t w i r k u n g an der Gestaltung der staatlichen Verhältnisse strebende Bürgertum w a r 1789 i n Frankreich Träger der Revolution. Der Gedanke, daß die weitgehenden politischen M i t w i r kungsrechte dem Bürgertum zuzuerkennen seien, w a r auf diesem H i n t e r grund natürlich und entsprach den Zeitverhältnissen. Problematisch w a r hierbei nur, die richtige Abgrenzung dieses Personenkreises zu finden. Die Gedanken, die K a n t hierzu entwickelt und geäußert hat, sind aus der damaligen Zeit heraus verständlich, wenn w i r auch aus heutiger Sicht und bei Anlegung unserer jetzt bestehenden und begründeten Auffassung von w i r t schaftlicher Selbständigkeit zu einem anderen Ergebnis kommen müssen. K a n t hat natürlich auch die Problematik, die m i t der zutreffenden A b grenzung des Personenkreises, dem die wirtschaftliche Selbständigkeit (gleich Unabhängigkeit) zuzuerkennen sei, verbunden war, gesehen. Er hat dies m i t den Worten ausgedrückt: „Es ist, ich gestehe es, etwas schwer, die Erforderniß zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können."23 I m Rahmen der Kantschen Auffassung von der Selbständigkeit spielt das Eigentum eine große Rolle, sowohl das Eigentum an G r u n d und Boden als auch an anderen materiellen Gütern. I m unmittelbaren Zusammenhang hiermit sagt K a n t , wie bereits zitiert: „Eigentum, w o z u auch jede Kunst, H a n d w e r k oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden k a n n " . Diese hohe Bewertung des Eigentums an materiellen Gütern, aber auch die umfassende Erstreckung des Eigentumsbegriffs auf Künste oder Wissenschaft ist verständlich, wenn man die m i t der Selbständigkeit verbundene Unabhängigkeit i n Betracht zieht als Voraussetzung für das i n der Stimmgebung liegende Mitwirkungsrecht des Staatsbürgers. Heutige wirtschaftliche Verhältnisse der modernen Massengesellschaft können zur Bewertung des K a n t schen Gedankens der Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Staatsbürger nicht herangezogen werden. 23

Kant, AA V I I I S. 295.

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft Die Selbständigkeit muß aber audi noch i n Beziehung auf den Kantschen Pflichtbegriff betrachtet werden; denn K a n t hat die dem Staatsbürger obliegende Funktion als Dienst am Staat aufgefaßt. I n dem bereits wiedergegebenen Zitat, i n dem K a n t die Selbständigkeit eines Gliedes des gemeinen Wesens als Bürgers beschreibt, heißt es hierzu, „daß er (der Staatsbürger) niemanden als dem gemeinen Wesen i m eigentlichen Sinne des Wortes diene". So muß also die v o n K a n t so hoch eingestufte Selbständigkeit gesehen werden als Voraussetzung für die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten, die das Korrelat der dem Staatsbürger zuerkannten Rechtsstellung sind, und diese der Rechtsposition des Staatsbürgers gegenüberstehenden und sie eigentlich erst rechtfertigenden staatsbürgerlichen Pflichten müssen i m Geiste des kategorischen Imperativs erfüllt werden. I n diesem Zusammenhang denke ich an die Kantsche Formulierung des kategorischen Imperativs, die wie folgt lautet: „ H a n d l e nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde". 2 4 U n d was die Pflicht anlangt, denke ich an die Kantsche Formulierung: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer H a n d l u n g aus Achtung fürs Gesetz". 25 Kants rechtsphilosophische Gedanken haben grundlegende, fundamentale Bedeutung erlangt für die Entwicklung und Fundierung des Rechtsstaats i n Deutschland. M i t Recht konnte deshalb Huber sagen, K a n t sei der geistige Vater des Rechtsstaatsideals 26 . D a der Rechtsstaat von einem Primat des Rechts geprägt ist, von einer umfassenden Bindung aller staatlichen Gewalt an das Redit aufgrund des Vorrangs der Verfassung und der Gesetze, und da die Verfassungsgebung und die Gesetzgebung v o m V o l k e ausgehen, ist die Staatsbürgerschaft i m Rechtsstaat von entscheidender Bedeutung. Denn die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, die für jeden einzelnen m i t dem Besitz der Staatsbürgerschaft verbunden sind, bilden zugleich die konstituierenden Grundlagen des gesamten Gemeinwesens, wie das Bundesverfassungsgericht für die verfassungsrechtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik zutreffend festgestellt hat. 2 7 I n dieser umfassenden Bedeutung, die dem Recht i n unserer grundgesetzlichen Ordnung zukommt und ihr den entscheidenden Wesensinhalt als 24 Kant, AA I V S. 421. 25 Kant, AA I V S. 400. 26 E. R. Huber, Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 230, 255, sowie Hans Reiß, Kants politisches Denken, 1977, S. 9 und Weber-Fas, Rechtsstaat und Grundgesetz, 1977, S. 17. 27 BVerfGE 37, 217 (239). 12*

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Robert Fritzscbe freiheitliche Ordnung gibt, zeigt sich die F o r t w i r k u n g der Kantschen Rechtsgedanken und hierbei insbesondere die F o r t w i r k u n g der Kantschen A u f fassung v o m Menschen als Zweck an sich, v o n der Autonomie des Menschen, seinem Eigenwert als sittlich autonomer Person. A u f dieser Grundlage beruht die Würde des Menschen. Ihre Unantastbarkeit ist i n A r t . 1 G G normiert als das alle Grundgesetzbestimmungen überwölbende Konstitutionsprinzip. 2 8 Z u diesem Grundprinzip der Würde des Menschen gehören Freiheit und Gleichheit. Auch insoweit können w i r die F o r t w i r k u n g der Kantschen Gedanken feststellen. Sie haben i n unserem Grundgesetz Verfassungsrang bekommen: Die Freiheitsrechte als Grundrechte, durch die dem Einzelnen zur Sicherung seiner autonomen Sphäre ein Verfassungsanspruch auf individuelle Entfaltung gewährt ist i m Rahmen der Gemeinschaft und bezogen auf sie; und der i m Grundgesetz ebenfalls normierte Gleichheitssatz. Neben den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, die auf Kants Gedanken zurückgeführt werden können als Kriterien der Staatsbürgerschaft, ist der Kantsche Gedanke der Selbständigkeit als ein die Staatsbürgerschaft besonders qualifizierendes A t t r i b u t heute nur noch relevant, soweit es sich u m die natürliche Selbständigkeit handelt, während nach heutiger Auffassung die wirtschaftliche Selbständigkeit hinsichtlich der Staatsbürgerschaft keine Relevanz mehr hat. Bezieht man den Begriff der Selbständigkeit auf die innere und geistige Unabhängigkeit i m Sinne der Mündigkeit, dann kann man sagen, daß auch heute ausgegangen w i r d von der Vorstellung einer solchen Unabhängigkeit als Voraussetzung für staatsbürgerliches Verhalten, die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten. Unsere Auffassung v o m Verhältnis des Menschen zum Staat, v o n der Würde des Menschen und v o n Freiheit und Gleichheit als Prinzipien der Staatsbürgerschaft ist nicht die gleiche, die i n dem anderen Staat i n Deutschland vertreten w i r d . Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sei hier nur stichwortartig darauf hingewiesen, daß die D D R sich als sozialistischer Staat versteht und den einzelnen Menschen nicht als autonome Person begreift, sondern als M i t t e l zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft, wobei Rechte und Pflichten der Staatsbürger nur gesehen werden i m Rahmen totaler Ein- und Unterordnung unter die immer vorrangigen ideologischen Aufgaben und Ziele des Staates. So heißt es i n dem 1978 erschienenen und v o n einem Autorenkollektiv verfaßten Lehrbuch des Staatsrechts der D D R , 28 BVerfGE 6, 36, Weber-Fas, a.a.O., S. 31.

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Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft die Verfassung sei „darauf gerichtet, die Bürger zur gesellschaftlichen A k t i o n zusammenzuführen und dabei die Einheit v o n Staat und Bürger zu entwickeln". Das bedeute „die Absage an die bürgerliche Lehre von den Grundrechten, die den Bürger als isoliertes Einzelwesen betrachtet und i h m eine staatsfreie Sphäre sichern soll" 2 9 . U n d an anderer Stelle w i r d i n diesem Lehrbuch zusammenfassend festgestellt: „Durch die Herrschaft der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten wurde der unversöhnliche Gegensatz v o n Macht und Menschlichkeit jeder Ausbeutergesellschaft überwunden. Die Machtausübung durch die Werktätigen und die Grundrechtsverwirklichung durch und für die Bürger sind zur Einheit verschmolzen" 30 . Wenn man demgegenüber die auf die Kantschen Rechtsgedanken zurückzuführenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit und insbesondere das alles beherrschende Grundprinzip von der unantastbaren Würde des Menschen i n Betracht zieht, erkennt man das ungeheure Spannungsverhältnis, das zwischen den beiden Staaten i n Deutschland besteht. Die fortwirkende K r a f t , die der Kantschen Gedankenwelt innewohnt, gibt uns die Zuversicht, daß die offene deutsche Frage i m Sinne unserer Vorstellung von einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung gelöst werden w i r d .

29 30

Autorenkollektiv Assmann u. Α., Staatsredit der DDR, Lehrbuch 1978, S. 71. Autorenkollektiv Assmann u. Α., a.a.O., S. 226.

181

BORIS MEISSNER DIE POLITISCHEN BEZIEHUNGEN

ZWISCHEN

DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND U N D S O W J E T U N I O N SEIT DER

DER

BERLIN-KRISE1

I. Vom Berlin-Ultimatum und dem Bau der Berliner bis zum Sturz Chruschtschows

Mauer

Die Deutschlandpolitik der Sowjetunion bildete immer das Kernstück ihrer West- und Europapolitik. Ihre Vorschläge zur Lösung der Deutschlandfrage waren daher stets m i t ganz bestimmten Auffassungen über eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung verbunden. 2 Seit 1951/52 sind von der Sowjetregierung drei unterschiedliche Modelle einer gesamteuropäischen Regelung entwickelt worden: 1. Durch Schaffung einer neutralen Staatenzone i n der M i t t e Europas unter Einschluß eines wiedervereinigten neutralen Deutschland (Berija — Malenkow) ; 2. durch einen gesamteuropäischen Sicherheitspakt unter Einschluß eines wiedervereinigten neutralen Deutschland ( M o l o t o w — M a l e n k o w ) ; 3. durch einen gesamteuropäischen Sicherheitspakt unter zeitweiliger A u f rechterhaltung der Teilung Deutschlands (Bulganin — M o l o t o w ) . V o n Chruschtschow ist das dritte M o d e l l durch die offizielle Verkündung der These von den beiden souveränen voneinander getrennten deutschen Staaten wesentlich modifiziert worden. D a m i t wurde i n der sowjetischen West-, Europa- und Deutschlandpolitik eine neue Strategie eingeschlagen. Der Plan eines gesamteuropäischen Sicherheitspakts, d. h. eines multilateralen Beistandspaktes, ist v o n der Sowjetunion seit dem Scheitern der Genfer 1 Der vorliegende Beitrag überschneidet sidi in zeitlicher Hinsicht teilweise mit der Darstellung der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1941 bis 1967 durch den Verfasser in Band X V I I des Jahrbuchs der Albertus-Universität. Dadurch ist die Berücksichtigung von neueren Veröffentlichungen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen ab 1958 ermöglicht worden. 2 Vgl. B. Meissner: Die Stellung der Sowjetunion zu einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung, Jahrbuch der Albertus-Universität, Bd. X X I , 1971, S. 95 ff.

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Boris Meissner Außenministerkonferenz v o m Oktober/November 1955 nicht mehr erneuert worden. Dagegen ist der Vorschlag eines auf die Mitgliedstaaten des W a r schauer Paktes und der N A T O beschränkten multilateralen Nichtangriffspaktes, an dem die beiden deutschen Staaten beteiligt sein sollten, des öfteren wiederholt worden. V o n Chruschtschow ist als eine weitere Zwischenstufe ein Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit der europäischen Staaten am 15. J u l i 1958 vorgeschlagen worden. Er sollte offenbar i m Anschluß an den Nichtangriffspakt geschlossen werden, da i n i h m eine Nichtangriffsbestimmung nicht vorgesehen war. E i n Kurswechsel trat m i t dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows v o m 10. November 1958 ein, 3 das die U m w a n d l u n g WestBerlins i n eine selbständige politische Einheit i n Gestalt einer entmilitarisierten „Freien Stadt" und den Abschluß eines Friedensvertrages m i t den beiden deutschen Teilstaaten zum Ziel hatte. M i t dem E n t w u r f eines Friedensvertrages m i t Deutschland v o m 10. Januar 1959, 4 der von einer Drei-Staaten-These ausging, wurde die i n Genf 1955 akzeptierte Verknüpfung zwischen der Deutschlandfrage und europäischen Sicherheit gelöst. Offenbar hielt Chruschtschow die Sicherheit des Sowjetimperiums auf der Grundlage einer vertraglichen Fixierung der Teilung Deutschlands für hinreichend gewährleistet. Er war nur bereit, unter Umständen eine Konföderation der beiden deutschen Staaten aufgrund der v o n Ulbricht am 30. Januar 1957 genannten Bedingungen zuzulassen, die eine wesentliche Beschränkung der äußeren und inneren Sicherheit der Bundesrepublik bedeutet hätten. Z u einer Erörterung der einzelnen Bestimmungen des sowjetischen Friedensvertragsentwurfs sollte es nicht kommen, da der sowjetische Außenminister Gromyko auf der Genfer Außenministerkonferenz i m Sommer 1959 — der letzten Viermächtekonferenz, die sich m i t der Deutschlandfrage befaßte — nicht bereit war, gleichzeitig auch den „westlichen Friedensplan", der auf dem J u n k t i m v o n Wiedervereinigung, europäischer Sicherheit und A b r ü stung beruhte, zu diskutieren. Die anschließenden Gespräche über eine 3

Vgl. A. Riklin: Das Berlin-Problem, Köln 1964, S. 190 ff.; B. Meissner: Moskau — Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955—1973, Bd. I , Köln 1975, S. 35 ff. 4 Vgl. B. Meissner: Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland, Jahrbuch der AlbertusUniversität, Bd. X X I I I , 1973, S. 112 ff.

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Berlin-Regelung führten ebenfalls zu keiner Annäherung der gegenseitigen Standpunkte. Es zeigte sich jedoch sehr bald, daß die Offensivstrategie Chruschtschows i n erster Linie das Ziel verfolgte, eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären m i t den Vereinigten Staaten herbeizuführen. V o n einer Position der Stärke aus, die i n dem Vorsprung auf dem Gebiete der Raketenrüstung und der Weltraumfahrt begründet war, wurde v o n Chruschtschow 1959 i n Camp D a v i d der Versuch unternommen, m i t dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower zu einem weltweiten Arrangement zu gelangen. Diese Bemühungen wurden v o n ihm nach dem Amtsantritt Präsident Kennedys wieder aufgenommen, nachdem der U - 2 - Z w i schenfall und das Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz i m M a i 1960 zu einer zeitweiligen Verschärfung der Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten geführt hatte. Das Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz veranlaßte die SPD sich offiziell m i t der Rede Herbert Wehners v o m 30. Juni 1960 auf den Boden der v o n Adenauer betriebenen Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen. Sie rückte damit von ihren Disengagementsvorstellungen, wie sie zuletzt i n ihrem Deutschlandplan v o m 18. März 1959 zum Ausdruck gekommen waren, ab. Parallel zu dieser Entwicklung fanden die v o n Adenauer gebilligten Bemühungen des seit A p r i l 1958 i n Moskau tätigen Botschafter K r o l l statt, bilaterale deutsch-sowjetische Verhandlungen über politische Fragen herbeizuführen. Der Besuch Chruschtschows, der seit M ä r z 1958 die Ä m t e r eines Partei- und Regierungschefs i n einer H a n d vereinte, i n Bonn, schien dazu die beste Gelegenheit zu bieten. 5 I n einem Interview i n der „Neuen Rheinzeitung" am 12. November 1960 erklärte Adenauer auf die Frage, ob er auch eine Reise nach Moskau plane: „Jetzt wäre es an H e r r n Chruschtschow, mal nach Bonn zu k o m m e n . . . Ich glaube, daß sich m i t H e r r n Chruschtschow reden läßt. Er ist ein anderer M a n n wie Stalin und verfolgt andere Ziele für das russische V o l k " . 6 Trotz dieser grundsätzlichen Bereitschaft konnte sich Adenauer nicht entschließen, eine offizielle Einladung an Chruschtschow auszusprechen, da sich beim Verlauf der Verhandlungen über die Verlängerung des am 31. Dezember 1960 auslaufenden deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens Schwierigkeiten bei der Einbeziehung West-Berlins eingestellt hatten. Erst 5 6

Vgl. Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I , a.a.O., S. 44 ff. Archiv der Gegenwart vom 12. 11. 1960, S. 8754.

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Boris Meissner nach Einschaltung Adenauers gelang es eine Klausel zu finden, die dies ermöglichte. Daneben wurden auf Veranlassung Adenauers i m Bundeskanzleramt Uberlegungen über einen modus vivendi i n der Deutschland- und Berlinfrage angestellt. Sie fanden i n dem „Globke-Plan" ihren Niederschlag. 7 Der erste Entwurf, der nach dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows u m die Jahreswende 1958/59 konzipiert wurde, sah nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R eine freie Volksabstimmung über die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten nach fünf Jahren vor. Gleichzeitig sollte eine Abstimmung der Berliner Bevölkerung über den künftigen Status Gesamtberlins stattfinden. Die erweiterte Fassung des „Globke-Plans" v o m 17. November 1960, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Frage der offiziellen Einladung Chruschtschows zum ersten M a l akut wurde, ging i m Unterschied zur ersten Fassung v o n diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten erst nach einem für die Wiedervereinigung negativen Ausgang der Volksabstimmung aus. I n der Zwischenzeit sollten die Beziehungen zwischen den beiden Staaten einen amtlichen, aber keinen völkerrechtlichen Charakter aufweisen. Außerdem enthielt der Vertragsentwurf detailliertere Bestimmungen über die Sicherung des Status Berlins. Dieser zweite E n t w u r f dürfte eher den Vorstellungen Adenauers entsprochen haben. Sie lassen auch i n der Frage des Verhältnisses zur D D R eine pragmatische und zugleich flexible Grundhaltung erkennen. Die Möglichkeit eines neutralen deutschen Gesamtstaates wurde auch weiterhin v o n Adenauer ausgeschlossen, da die Neutralität i n seiner Sicht die Gefahr einer schrittweisen Einbeziehung Deutschlands i n den sowjetischen Macht- und Interessenbereich bedeutete. Weniger weit wie der „Globke-Plan" ging der auf den stufenförmigen Wiedervereinigungsprozeß beziehende Teil des „westlichen Friedensplans", der auf einem i m Auswärtigen A m t angefertigten Referentenentwurf beruhte. 8 Er sah als Ausgangspunkt nach einer einstweiligen Regelung der Berlin-Frage einen gesamtdeutschen Ausschuß unter Beteiligung v o n Ver7

Vgl. K. Gotto: Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954—1963, in: R. Morsey, K. Repgen (Hrsg.): Adenauer-Studien I I I , Mainz 1974, S. 49 ff. Wortlaut der beiden Entwürfe des Globke-Plans, ebenda, S. 202 ff. 8 Vgl. B. Meissner: Adenauer und die Sowjetunion von 1955 bis 1959, in: Konrad Adenauer und seine Zeit, Bd. I I , Stuttgart 1976, S. 214 f. Wortlaut des „westlichen Friedensplans* : Internationales Recht und Diplomatie, 5. Jg., 1960, S. 203 ff.

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tretern der D D R vor. Adenauer soll diesem Plan, der v o m amerikanischen Außenminister Herter auf der Genfer Außenministerkonferenz i m Sommer 1959 vorgelegt wurde, skeptisch gegenüber gestanden haben. Er hat i h m aber gegen starke Widerstände i n der Bundesregierung zugestimmt. Es dürfte vor allem der Präsidentenwechsel i n den Vereinigten Staaten gewesen sein, der Adenauer veranlaßte, zunächst nicht auf das von K r o l l i m Unterschied zu Bundesaußenminister D r . Heinrich v o n Brentano befürwortete Treffen m i t Chruschtschow einzugehen. Durch die Errichtung der Sperrmauer i n Berlin am 13. August 1961, 9 die auf Befehl Chruschtschows erfolgte, trat eine solche Verschärfung der Lage ein, daß die Frage direkter Verhandlungen zwischen der Sowjetunion u n d der Bundesrepublik Deutschland zunächst i n den Hintergrund treten mußte. Der Mauerbau stellte den Ausdruck brutaler Machtpolitik dar. Diese sollte ihre W i r k u n g auf die M o r a l der Deutschen nicht verfehlen u n d trug wesentlich zum Umdenken i n der bisherigen Ost- und Deutschlandpolitik bei. Als Ergebnis dieses Umdenkens ist v o r allem auf das Schollwer-Papier v o m Juni 1962 und die Tutzinger Rede v o n Egon Bahr v o m 15. J u l i 1963 hinzuweisen. Später trat die Deutschland-Denkschrift v o n W . W . Schütz v o m Dezember 1967 hinzu. Sie trugen zu einem allmählichen Bewußtseinswandel bei, der auf die praktische P o l i t i k nicht ohne Auswirkungen bleiben sollte. Bereits v o r diesem schicksalhaften Ereignis wurden zwei Richtungen i n der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland sichtbar. A u f der einen Seite Adenauer, der, unterstützt v o m Bundestagspräsidenten Gerstenmaier, v o n einer Priorität der Sowjetunion i n der deutschen Ostpolitik ausging. Die gleiche Auffassung wurde i n der F D P vertreten. A u f der anderen Seite eine Richtung, die i m Einklang m i t der Bundestagsentschließung v o m 14. Juni 1961, 10 an deren Formulierung der damalige BdV-Präsident Wenzel Jaksch (SPD) wesentlich mitgewirkt hatte, eine A k t i v i e r u n g der Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten unter besonderer Hervorhebung Polens anstrebte. Dies w a r eine Politik, der Bundesaußenminister D r . v o n Brentano, wie die Pläne von Gewaltverzichtsabkommen m i t Polen und der Tschechoslowakei von 1959 zeigten, zuneigte. I m vollen Umfang sollte sie v o n D r . Gerhard Schröder als Außenminister betrieben werden. 9 Vgl. Riklin, a.a.O., S. 202 f.; Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I I , Köln 1975, S. 745 ff. 10 Wortlaut bei B.Meissner (Hrsg.): Die deutsche Ostpolitik 1961—1970. Kontinuität und Wandel, Köln 1970, S. 17.

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Boris Meissner K r o l l ist auch nach dem Mauerbau v o n Adenauer ermutigt worden, seine Sondierungsgespräche m i t Chruschtschow fortzusetzen. Sein eigenmächtiges Verhalten führte aber sehr bald zu einem K o n f l i k t m i t dem neuen Außenminister und zu seiner Ersetzung als Botschafter i m Herbst 1962 durch Horst Groepper, der bereits früher als Botschaftsrat i n Moskau tätig gewesen war. Adenauer hatte sich gegen die Abberufung Krolls nicht gesträubt, nachdem die Sowjetführung weder auf die versöhnliche Denkschrift der Bundesregierung v o m 21. Februar 1962 noch auf sein Angebot eines zehnjährigen Burgfriedens v o m 6. Juni 1962 11 i n der v o n i h m erhofften Weise eingegangen war. Die zuletzt genannte I n i t i a t i v e war dazu bestimmt, eine schrittweise Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen herbeizuführen, um damit einer möglichen Verständigung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf Kosten deutscher Interessen, insbesondere i n der Berlin-Frage, entgegenzuwirken. I n einem Gespräch m i t dem sowjetischen Botschafter Smirnow, das am 6. Juni 1962 stattfand, wurde von Adenauer vorgeschlagen, zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland „ f ü r zehn Jahre eine A r t Waffenstillstand, natürlich i m übertragenen Sinne zu schließen". I n dieser Zeitspanne sollten sich beide Seiten bemühen, „ w i r k l i c h normale Verhältnisse eintreten zu lassen" und v o r allem dafür zu sorgen, „daß die Menschen i n der D D R freier leben könnten, als es jetzt der Fall ist". H i n t e r diesem Vorschlag eines zehnjährigen Burgfriedens standen offenbar die gleichen Überlegungen, die i n den beiden Entwürfen des „Globke-Plans" von 1959 und 1960, die v o n einem Stillhalteabkommen von fünf Jahren ausgingen, ihren Niederschlag gefunden hatten. Das Ziel Adenauers war, über die zeitweilige Hinnahme des territorialen Status quo, zu einer späteren Veränderung des politischen Status quo zu gelangen. Adenauer vertrat die Auffassung, daß der Normalisierungsprozeß die Verständigung über die strittigen, noch ungeklärten Fragen leichter machen würde. Außerdem würde eine solche Pause i n den Gesprächen über die deutsche Frage es ermöglichen, sich stärker der Lösung anderer wichtiger Probleme i n der Welt, insbesondere der kontrollierten Abrüstung, auf deren Bedeutung Adenauer immer wieder hingewiesen hat, zu widmen. "

Vgl. Gotto, a.a.O., S. 70 ff.

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I n dem Angebot eines zehnjährigen Burgfriedens klang erneut das v o n Adenauer bereits 1958 m i t dem Vorschlag einer Österreich-Lösung verbundene Grundmotiv an, daß der Freiheit der Vorrang v o r der Einheit zukomme. Dieser Grundgedanke Adenauers k a m auch i n der Erklärung der Bundesregierung v o m 9. Oktober 1962 zum Ausdruck, i n welcher der Wunsch nach einer Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion besonders betont wurde. I n der v o n Adenauer abgegebenen Regierungserklärung hieß es: 12 „ I c h erkläre erneut, daß die Bundesregierung bereit ist, über vieles m i t sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder i n der Zone ihr Leben so einrichten können wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen". Chruschtschow ging auf das Angebot Adenauers nicht ein, da er zu dieser Zeit zu sehr m i t dem Plan beschäftigt war, Mittelstreckenraketenbasen auf Kuba zu errichten, u m damit die militärisch-strategische Lage entscheidend zu Gunsten der Sowjetunion zu verändern. Die durch das Kuba-Unternehmen bewirkte Krise führte zu einem U m denken Chruschtschows, das sich auch i n einer flexibleren H a l t u n g i n der Deutschland- und Berlin-Frage äußern sollte. Seine Rede am 8. März 1963, i n der er sich m i t der v o n Berija und Malenkow betriebenen Deutschlandp o l i t i k , die von der Neutralität des deutschen Gesamtstaates ausging, auseinandersetzte, zeigte, daß die Möglichkeit einer konstruktiveren Deutschlandpolitik Anfang 1963 i m K r e m l wieder diskutiert wurde. Zunächst trat aber wieder eine Verschärfung i m beiderseitigen Verhältnis ein, die durch den deutsch-französischen Freundschaf tsvertrag v o m 22. Januar 1963, die Anwendung des Röhrenembargos und den Plan einer m u l t i lateralen Atomstreitmacht der N A T O ( M L F ) hervorgerufen wurde. Nach Sondierungsgesprächen, an denen der i m Ruhestand befindliche Botschafter K r o l l beteiligt war, teilte Smirnow dem Bundeskanzler i m M a i 1963 den Wunsdi Chruschtschows zu einem Besuch der Bundesrepublik und seine Bereitschaft mit, über alle Fragen des deutsch-sowjetischen Verhältnisses zu verhandeln. Bei seinem Treffen m i t de Gaulle am 4. J u l i 1963 13 ist Adenauer sehr ausführlich auf die Motive, die diesem Wunsch Chruschtschows zugrunde lagen 12 13

Stenogr. Berichte 4. Deutscher Bundestag, Bd. 51, S. 1638 f. Vgl. K. Adenauer: Erinnerungen 1959—1963. Fragmente. Stuttgart 1968, S. 225 ff.

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Boris Meissner und die Gründe, w a r u m er sich persönlich nicht i n der Lage sah, diese Einladung auszusprechen, eingegangen. Adenauer sagte, Chruschtschow wisse natürlich, daß er i m Spätherbst 1963 zurücktreten würde. Wenn Chruschtschow sich jetzt unmittelbar an ihn wende, so sei der G r u n d w o h l darin zu sehen, daß er glaube, eher m i t i h m als m i t Prof. Erhard als seinem Nachfolger zu Ergebnissen zu gelangen. Er sei nicht i n der Lage darauf einzugehen, denn: „Es wurde die Befürchtung geäußert, ich wolle diese A n gelegenheit benutzen, u m länger i m A m t zu bleiben, ich konnte deshalb nicht m i t der erforderlichen Unterstützung rechnen". Das seit dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows festzustellende Zögern Adenauers i n bilaterale Verhandlungen m i t Chruschtschow über politische Fragen einzutreten, obgleich er dafür durchaus aufgeschlossen war, erklärt sich aus zwei Gründen. Erstens betrachtete er den Ausdehnungsdrang der Sowjetunion und das m i t i h m verbundene Streben nach Weltherrschaft und nicht etwa die Teilung Deutschlands „als die größte Gefahr unserer Z e i t " . Verhandlungen, die zu modus-vivendi-Regelungen führten, waren zu bejahen. Sie durften aber das Bewußtsein v o n dieser Gefahr nicht verringern. I n dem bereits erwähnten Gespräch m i t de Gaulle hob Adenauer seine H o f f n u n g hervor, „daß vielleicht i n den nächsten zehn Jahren i n der Sowjetunion Entwicklungen möglich wären, durch die das sowjetische Regime den westlichen Begriffen näherkomme". Er betonte dabei, daß hinter allen seinen Überlegungen der Gedanke stehe, daß der rotchinesische Druck die Sowjets auf die Dauer dazu zwingen werde, bessere Beziehungen m i t dem Westen herzustellen. Zweitens w a r Adenauer gegen deutsche Alleingänge, welche die zwischen den Westmächten und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden vertraglichen Bindungen schwächen und ihr Mißtrauen gegenüber der deutschen Ostpolitik wecken mußten. Er hat daher i n seiner P o l i t i k gegenüber der Sowjetunion immer auf den Rapallokomplex der westlichen Seite Rücksicht genommen. I n jedem Fall ist durch die unter Adenauer durchgeführten Sondierungen der Boden soweit vorbereitet worden, daß von Prof. Erhard, der die grundsätzliche Einstellung seines Vorgängers zur Sowjetunion teilte, i m Sommer 1964 die offizielle Einladung an Chruschtschow zu einem Besuch der Bundesrepublik ausgesprochen werden konnte.

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Daß der sowjetische Partei- und Regierungschef nicht m i t leeren Händen nach Bonn kommen wollte, zeigen seine Äußerungen gegenüber Gomulka i m Januar 1964. Chruschtschow erklärte dem erschreckten polnischen K o m munistenführer, daß er die Absicht habe, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland „eine v ö l l i g andere neue P o l i t i k " zu betreiben. 14 Er deutete dabei die Absicht an, m i t der Bundesrepublik ein politisches Abkommen zu schließen und äußerte sich gleichzeitig negativ über Ulbricht, der nach seiner Auffassung i n jedem F a l l von der politischen Bühne verschwinden müßte. Gomulka befürchtete aufgrund dieses Gesprächs die Möglichkeit, daß Chruschtschow i n der Lage wäre, irgendeiner Form von Wiedervereinigung ohne gleichzeitiger Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens zuzustimmen. Der Bündnisvertrag der Sowjetunion m i t der D D R v o m 12. Juni 1964 15 Schloß die Möglichkeit einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht aus. V o n der Forderung nach einer freien Stadt WestBerlin, die i m Vertrag als eine „selbständige politische Einheit" bezeichnet worden ist, wurde abgesehen. Diese Entwicklung ließ ein Entgegenkommen der sowjetischen Seite i n der Frage einer Berlin-Klausel bei den Vertragsverhandlungen erwarten. Für Chruschtschow bildete der Bündnisvertrag m i t der D D R eine weitgehende Absage an die m i t seinem Berlin-Ultimatum verbunden gewesenen Forderungen und zugleich den A u f t a k t zu seinem Staatsbesuch. Z u diesem ist es nicht mehr gekommen, da er i m Oktober 1964 gestürzt wurde. Seine Absetzung als Partei- und Regierungschef machte die Möglichkeit einer Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen auf längere Zeit zunichte. II. Vom Beginn der „neuen Ostpolitik" bis zu den Ansätzen einer flexibleren sowjetischen West- und Deutschlandpolitik V o n den Nachfolgern Chruschtschows wurde die von Bundeskanzler Prof. D r . L u d w i g Erhard und insbesondere seinem Außenminister D r . Gerhard Schröder betriebene Ostpolitik, die das Hauptgewicht i m Einklang m i t der Bundestagsentschließung v o m 14. Juni 1961 auf das Verhältnis zu Ost14 Vgl. Fourteen Years. The Reminiscences of Wladislaw Gomulka, Noviny Kurier, Tel Aviv, April—Juli 1973; hier zitiert nach Radio Liberty Research 358/73. 15 Vgl. H . H . Mahnke: Der Beistandspakt zwischen der UdSSR und der „DDR" vom 12. Juni 1964, Internationales Recht und Diplomatie, 10. Jg., 1965, S. 49 ff. Wortlaut des Vertrages: Ebenda, S. 160 ff.

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Boris Meissner europa legte und auf eine Isolierung der D D R gerichtet war, als ein Versuch gewertet, einen K e i l zwischen die Sowjetunion und die anderen osteuropäischen Staaten zu treiben. Obgleich diese Absicht v o n D r . Schröder i n einem Grundsatzartikel i n der Oktober-Ausgabe 1965 von „Foreign Affairs" nachdrücklich bestritten wurde, mußte seine gleichzeitige Feststellung: 1 6 das Schlagwort „der Weg zur Wiedervereinigung führt über Warschau ist eine Halbwahrheit, mehr noch als die Meinung, er führe nur über Moskau", das sowjetische Mißtrauen wachhalten. Die Friedensnote der Regierung Erhard v o m 25. März 1966, 17 i n der Polen und die Tschechoslowakei vor der Sowjetunion besonders hervorgehoben wurden, dürfte das sowjetische Mißtrauen gegenüber der Ostpolitik D r . Schröders weiter verstärkt haben. Auch die Bemühungen der Bundesrepublik um eine Normalisierung der Beziehungen zur Volksrepublik China wurden nach dem Ausbruch des Konflikts zwischen Peking und Moskau von sowjetischer Seite ungern gesehen. Außerdem wurde der Versuch der Regierung Erhard über das M L F - P r o j e k t eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der geplanten internationalen Atomstreitmacht zu erreichen, als eine für die Sicherheit der Sowjetunion gefährliche P o l i t i k angesehen. Schließlich w a r die neue Sowjetführung i n einer Phase der verstärkten A u f rüstung der Sowjetunion an der Beibehaltung der äußeren Konfrontation auch aus innenpolitischen Gründen interessiert. Die „neue O s t p o l i t i k " der Regierung der „Großen K o a l i t i o n " schien neue Möglichkeiten für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland zu eröffnen. 13 V o n Bundeskanzler K u r t Georg Kiesinger wurde i n seiner Regierungserklärung v o m 13. Dezember 1966 die Priorität der deutsch-sowjetischen Beziehungen i m Rahmen der neuen deutschen Ostpolitik besonders betont. Er wiederholte die bereits i m Memorandum v o m 2. September 1956 und i n der Friedensnote v o m 25. M ä r z 1966 enthaltene Bereitschaft der Bundesrepublik, Gewaltverzichtserklärungen nicht nur m i t der Sowjetunion, sondern auch m i t den übrigen westeuropäischen Staaten auszutauschen. Besonders wichtig war die Bereitschaft der Regierung Kiesinger — Brandt, auch m i t der D D R eine solche Gewaltverzichtsvereinbarung zu treffen und damit die bisher betrie16 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 21. 9. 1965, Nr. 155, S. 1255. 17 Wortlaut: Meissner, Die deutsche Ostpolitik 1961—1970, a.a.O., S. 120 ff. 18 Zu der Ostpolitik der „Großen Koalition", d. h. der CDU/CSU und SPD-Regierung unter Kiesinger / Brandt Vgl. Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I I , a.a.O., S. 766 ff.

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bene P o l i t i k der Isolierung der D D R , die der Sowjetunion ein D o r n i m Auge war, aufzugeben. Durch die Rückkehr zur ursprünglichen Fassung des gesamtdeutschen Vertretungsanspruchs wurde eine wesentliche Modifizierung der „ H a l l s t e i n - D o k t r i n " durchgeführt, welche die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen m i t Rumänien und die Wiederherstellung der 1957 abgebrochenen Beziehungen zu Jugoslawien ermöglichte. Die erhoffte Wendung i n den deutsch-sowjetischen Beziehungen trat durch die „neue O s t p o l i t i k " und den Meinungsaustausch über den Gewaltverzicht zunächst nicht ein. Seit Ende 1967 w a r sogar eine weitere Verschärfung i n der sowjetischen Deutschlandpolitik festzustellen. Der Abschluß bilateraler Gewaltverzichtsvereinbarungen wurde jetzt an Vorbedingungen geknüpft, die für die Bundesrepublik größtenteils unannehmbar waren, weil sie die endgültige völkerrechtliche Anerkennung der Teilung Deutschlands und dam i t vor allem eine Gefährdung der Freiheit West-Berlins bedeutet hätten. Aus der einseitigen Betonung des „Potsdamer Abkommens" und der H e r vorkehrung der „Feindstaatenklausel" ( A r t . 53, A r t . 107) der Satzung der Vereinten Nationen w a r zu ersehen, daß die Sowjetunion an ihren Interventionsrechten gegenüber Deutschland festzuhalten gedachte. Die Propagandakampagne der sowjetischen Massenmedien gegen die Bundesrepublik, die m i t einem Notenwechsel und einem Austausch von Erklärungen über die Gefahren des Nazismus und Militarismus i n der Bundesrepublik 1967 eingeleitet wurde, nahm i m Laufe des Jahres 1968 wesentlich an Stärke zu. Die überraschende Veröffentlichung der sowjetischen D o k u mente zur Frage des Gewaltverzichts i m Sommer 1968 unter Bruch der vereinbarten Vertraulichkeit schien darauf hinzudeuten, daß die Sowjetregierung an einem Erfolg der Verhandlungen m i t der Bundesrepublik nicht mehr interessiert war. Dieser Eindruck wurde durch die scharfe TASSErklärung zur Notstandsgesetzgebung i n der Bundesrepublik v o m 28. M a i 1968 noch verstärkt. V o r allem hat die militärische Intervention der Sowjetunion und ihrer Gefolgsstaaten i n der Tschechoslowakei und die Verkündung der „Breshnew-Doktrin" eine weitere Verschärfung gebracht. Schließlich hat die Frage des Status Berlins, insbesondere i n Verbindung m i t der W a h l des Bundespräsidenten i m A p r i l 1969, zu einer weiteren Zuspitzung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses geführt. Die Bundesregierung hat sich i n ihrer entschlossenen H a l t u n g , die Beziehung zur Sowjetunion zu normalisieren, durch diesen Nervenkrieg nicht beeinflussen lassen. Sie hielt auch am Angebot über den Austausch v o n Gewaltverzichtserklärungen weiter fest. 13

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Boris Meissner Wenn man nach den Gründen fragt, die zu dieser zeitweiligen Verhärtung der sowjetischen H a l t u n g gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geführt haben, so läßt sich folgendes feststellen: Die Zurückhaltung der Sowjets nach der Bildung der Großen K o a l i t i o n wurde sehr bald durch heftige Angriffe abgelöst, nachdem der K r e m l festgestellt hatte, daß die neue Bundesregierung nicht bereit war, dem V o r b i l d General de Gaulies i n bezug auf die N A T O zu folgen. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen m i t dem rebellischen Rumänien wurde als eine gegen die Hegemonie der Sowjetunion i n Osteuropa gerichtete P o l i t i k aufgefaßt. Auch die Wirtschaftsverhandlungen i n Moskau nahmen v o m sowjetischen Standpunkt nicht den erhofften Verlauf. Die neue Ostpolitik der Bundesregierung erschwerte die bisherige sowjetische Deutschlandpolitik, die auf eine Fixierung und Konsolidierung des Status quo und die Ausschaltung der potentiellen Gefahren eines angeblichen deutschen „Revanchismus" gerichtet war. Sie wurde außerdem für den Zusammenhalt des sowjetischen Hegemonialverbandes als bedrohlich angesehen. Breshnew und Kossygin suchten der außenpolitischen A k t i v i t ä t der Bundesregierung auf drei Wegen entgegenzuwirken. Die D D R wurde i n das bilaterale Ostpaktsystem i m vollen Umfange einbezogen und die Erneuerung der alten Bündnisvertäge beschleunigt vorangetrieben. Die Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien wurden durch die Sowjetunion davon abgehalten, diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufzunehmen, zu denen sie anfangs ebenso wie Rumänien durchaus bereit schienen. Es kam daher nur zur Errichtung einer Handelsvertretung i n Prag aufgrund der Vereinbarung v o m 3. August 1967. Schließlich wurde die propagandistische Kampagne, welche die Bundesregierung als Störenfried der Entspannung hinstellte, verschärft. Sie erreichte nach der militärischen Intervention i n der Tschechoslowakei ihren Höhepunkt. Die scharfe Reaktion der Sowjetführung auf die „neue O s t p o l i t i k " w a r dadurch zu erklären, daß ihre Zielsetzung von sowjetischer Seite, v o r allem seit der Karlsbader Konferenz der Kommunistischen Parteien Europas i m A p r i l 1967, falsch interpretiert und als eine gegen die Sowjetunion gerichtete offensive Strategie dargestellt wurde. V o n der Karlsbader Konferenz wurde der Vorschlag der Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz wiederholt und der Abschluß eines multilateralen Gewaltverzichtsvertrages gefordert. Die reformkommunistische Entwicklung i n der Tschecho-

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Die deutsch-sowjetischen

Beziehungen seit der Berlin-Krise

Slowakei hat die Sowjetführung i n der negativen Beurteilung der „neuen O s t p o l i t i k " bestärkt. Dies ist deutlich aus einer Reihe v o n A r t i k e l n zu ersehen, die vor und nach der Intervention i n der CSSR i n der Sowjetpresse und der außenpolitischen Zeitschrift „Meshdunarodnaja Shisn" (,Internationales Leben') veröffentlicht worden sind. 1 9 Diese falsche Interpretation lag auch den Erklärungen Gromykos zugrunde. V o r allem scheint die Charakterisierung Deutschlands als „Brücke zwischen Ost- und Westeuropa" i n der Regierungserklärung Kiesingers v o m 13. Dezember 1966, die der früheren Konzeption Jakob Kaisers entsprach und i n der Bismarckschen T r a d i t i o n lag und die sich auch Brandt zu eigen machte, v o n sowjetischer Seite mißverstanden worden zu sein. D i e neue Ostpolitik wurde als eine westdeutsche Spielart der amerikanischen „ P o l i t i k des Brückenschlags" bezeichnet, die darauf gerichtet sei, die „sozialistische Gemeinschaft" zu spalten und die sozialistische Gesellschaft v o n innen her auszuhöhlen. Sie wäre i m atlantischen Rahmen als ein Teil der Globalstrategie des „amerikanischen Imperialismus" anzusehen, der die Bundesrepublik m i t einem Teil der Funktionen seiner Europapolitik betraut habe. Es handle sich u m eine Neuauflage der amerikanischen R o l l backPolitik, die m i t H i l f e v o n Losungen eines verfeinerten und modernisierten „Antikommunismus" und „Antisowjetismus" geführt würde. Den Schlagworten „Nationalkommunismus", „Liberalisierung" und „Europäismus" sowie die Unterscheidung zwischen einem „guten" und einem „schlechten" Sozialismus würde dabei eine besondere Bedeutung zukommen. Die neue Ostpolitik wäre bestrebt, „friedlich und still" den Durchbruch nach Osten vorzubreiten. Es würde sich bei ihr um ein „breit angelegtes Umgehungsmanöver" handeln, u m zunächst die anderen sozialistischen Länder Europas „weich zu machen", die D D R zu isolieren, die sozialistische Gemeinschaft zu schwächen und so die Voraussetzung für eine „friedliche" Angliederung der D D R entweder an die Bundesrepublik oder an eine von ihr geführte Vereinigung zu schaffen. I m J u l i - H e f t 1968 der „Meshdunarodnaja Shisn" hieß es: „ D e r neuen Ostpolitik ist die Rolle des Sturmbocks zugedacht, der eine Bresche i n die sozialistische Gemeinschaft schlagen und legale Wege für die ökonomische und ideologische, später dann auch politische Invasion des westdeutschen Imperialismus i n die Länder Osteuropas erschließen soll." 19 Vgl. E. Gemi: Kakuju novoju politiku produmal Bonn? (Welche neue Politik hat Bonn ausgehedtt?), Izvestija vom 15. 8. 1968; V. Midiailov: Kakie mosty navodit Bonn (Was für Brücken schlägt Bonn?), Pravda vom 17., 20., 23., 30.9. und 5. 10. 1968; E. NovosePcev: VostoCnaja politika FRG (Die Ostpolitik der BRD), Mezdunarodnaja zisn', 1968, Nr. 7, S. 37 ff.

13*

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Boris Meissner I n den sowjetischen Veröffentlichungen wurde auf die K o n t i n u i t ä t der neuen Ostpolitik der Großen K o a l i t i o n m i t der von Außenminister Schröder i n die Wege geleiteten „flexiblen O s t p o l i t i k " hingewiesen. Der A r t i k e l von Außenminister Brandt i n der April-Ausgabe 1968 der „Foreign Affairs" wurde als eine Fortführung der von Schröder eingeschlagenen Linie bezeichnet. V o n sowjetischer Seite wurde zwar zugegeben, daß die neue Ostpolitik „flexibler und pragmatischer" sei, zugleich aber behauptet, daß das wirklich Neue an der Bonner Ostpolitik i n der Verstärkung ihres interventionistischen Charakters gegenüber den osteuropäischen sozialistischen Staaten bestehen würde. Die Besetzung der Tschechoslowakei bedeutete einen schweren Rückschlag für alle westlichen Entspannungsbemühungen. Sie ermöglichte es der Sowjetunion andererseits, v o n einer gesicherten militärischen Basis aus eine flexiblere P o l i t i k gegenüber dem Westen und damit auch der Bundesrepub l i k zu betreiben. Die Kräfte i m Kreml, die nur zögernd der Intervention zugestimmt hatten, waren jetzt bestrebt, die von Chruschtschow seit der Kuba-Krise betriebene Entspannungspolitik wieder aufzunehmen. Die A n hänger der Interventionspolitik legten dagegen den Hauptnachdruck auf die weitere Konsolidierung der sowjetischen Vormachtstellung i n Osteuropa und der Wiederherstellung eines festgefügten Blocks. Nach der Intervention w a r ein ständiges Ringen zwischen den beiden Richtungen feststellbar, das m i t einem Sieg der Vertreter einer selektiven Entspannungspolitik endete. Er kam i n dem Budapester A u f r u f der Warschauer Paktstaaten v o m 17. M ä r z 1969, i n dem besonderer Nachdruck auf die ökonomische und technologische Kooperation gelegt wurde, und i n der sowjetischen Bereitschaft zum Ausdruck, m i t den Vereinigten Staaten i n Verhandlungen über die Begrenzung der offensiven und defensiven Kernwaffen einzutreten. Das Verhältnis der Sowjetunion zur Bundesrepublik ist i n Verbindung m i t dieser Auseinandersetzung über die künftige Gestaltung der sowjetischen „ W e s t p o l i t i k " zu sehen. Sie führte unter anderem zu einer Revision der These von den Sozialdemokraten als dem ideologischen „ H a u p t f e i n d " auf der 50-Jahr-Feier der Komintern i m März 1969, die anscheinend wesentlich durch vorausgegangene Kontakte zwischen führenden deutschen Sozialdemokraten und italienischen Kommunisten beeinflußt worden war. Die neue Linie, die sich nach Kossygin auch Breshnew zu eigen machte, fand i m Bericht v o n Außenminister G r o m y k o v o r dem Obersten Sowjet der UdSSR vom 10. Juli 1969, 20 die vor allem an die deutsche und ameri-

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Die deutsch-sowjetischen

Beziehungen seit der Berlin-Krise

kanische Adresse gerichtet war, ihren Niederschlag. Den Wunsch nach einer „Wendung" i n den deutsch-sowjetischen Beziehungen verband G r o m y k o i n seiner Rede m i t erneuten sowjetischen Bemühungen um die Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems i n Europa, wobei er an die Vorkriegspläne der Sowjetunion anknüpfte. Der Rede des sowjetischen Außenministers waren Sondierungsgespräche m i t Botschafter H e l m u t A l l a r d t seit dem August 1968 vorausgegangen. Bereits am 11. Dezember 1968 ließ G r o m y k o gegenüber dem deutschen Botschafter die Absicht der Sowjetregierung erkennen. Gespräche m i t der Bundesregierung über eine Gewaltverzichtsvereinbarung aufzunehmen. V o n der Bundesregierung sind i n einer N o t e v o m 3. J u l i 1969 aufgrund dieser Sondierungen offiziell Gewaltverzichtsgespräche angeregt worden. V o n der Sowjetregierung wurde daraufhin i n einem Aide-memoire v o m 12. September 1969 die Aufnahme der Gespräche i n Moskau vorgeschlagen. Es ist interessant festzustellen, daß dieser Vorschlag, Vorverhandlungen über eine Gewaltverzichtsvereinbarung einzutreten, zu einem Zeitpunkt erfolgte, wo die Sowjetführung nicht ohne weiteres m i t einem Machtwechsel i n Bonn rechnen konnte. Nach den Besuchen von Delegationen der SPD und F D P i n Moskau wurde eine solche Möglichkeit v o n sowjetischer Seite jedoch nicht ausgeschlossen. Die SPD hatte i m Unterschied zur F D P in der Gemeinsamen Entschließung des Bundestages v o m 25. September 1968 einer Fassung des Punktes 6 zugestimmt, der den gesamtdeutschen Vertretungsanspruch der Bundesregierung und die Nichtanerkennung der Staatlichkeit der D D R besonders betonte. Es wurde jedoch erkennbar, daß i n dieser Grundeinstellung sowie i n einer Reihe weiterer Fragen der Ost- und Deutschlandpolitik, wie ζ. B. der Grenzfrage und dem Projekt einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz, wesentliche Unterschiede zwischen den Koalitionspartnern bestanden. Während Brandt den sowjetischen Vorschlag einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz und die i m Budapester A p p e l l enthaltene abgeschwächte Formel nach einer „Anerkennung der Existenz der D D R " positiv beurteilte, verhielt sich Kiesinger gegenüber der KSE, die später als K S Z E bezeichnet wurde, skeptisch und lehnte eine Anerkennung v o n zwei Staaten i n Deutschland entschieden ab. Erst nach den Bundestagswahlen wurde i m vollen Umfange erkennbar, daß es sich bei diesen Meinungsäußerungen nicht nur u m abweichende Standpunkte, sondern auch um unterschiedliche Konzeptionen i n der Ostpolitik handelte. 20 Pravda vom 11.7. 1969.

197

Boris Meissner III.

Von der Modifizierung bis zur Ratifizierung

der „neuen

Ostpolitik"

des Moskauer Vertrages

Die Vorverhandlungen über den Abschluß eines Gewaltverzichtsvertrages zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland sind nach der Bildung der sozial-liberalen K o a l i t i o n 2 1 sofort aufgenommen worden. Dies wäre sicher auch bei einer anderen Zusammensetzung der Bundesregierung der Fall gewesen. Die Modifizierung der „neuen O s t p o l i t i k " i n der Bundeserklärung v o n Bundeskanzler Brandt v o m 28. Oktober 1969 kam jedoch den Bestrebungen der Sowjetführung nach einer Wende i n den deutsch-sowjetischen Beziehungen entgegen. Tatsächlich bedeutete sie den Ubergang zu einer neuen Strategie i n der Ost- und Deutschlandpolitik, die von der Existenz v o n zwei Staaten i n Deutschland und einem Verzicht auf den gesamtdeutschen Vertretungsanspruch ausging. Dies gab der Regierung Brandt — Scheel die Möglichkeit, politische Verträge m i t der Sowjetunion und ihren Gefolgsstaaten abzuschließen, die nur die Bundesrepublik Deutschland, nicht aber einen künftigen deutschen Gesamtstaat völkerrechtlich verpflichteten. D a m i t wurde es möglich, einen modus vivendi i n vertraglicher Form herbeizuführen, der einen Ausbau der Beziehungen zu der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten ermöglichte, ohne die i m Grundgesetz verankerte außenpolitische Zielsetzung ganz aufzugeben und den Abschluß eines Friedensvertrages m i t einem künftigen deutschen Gesamtstaat auszuschließen. Die Abkehr von der alten Strategie, die auf der strikten Wahrung der vorhandenen Rechtspositionen beruhte, wurde einerseits m i t der Gefahr der Isolierung der Bundesrepublik Deutschland, andererseits m i t der These v o m „Wandel durch Annäherung", die auf der Konvergenztheorie beruhte, begründet. Die Gefahr der Isolierung der Bundesrepublik Deutschland mag eine Zeitlang bestanden haben. Sie ist durch die Politik, die m i t der Friedensnote v o m März 1966 und der Regierungserklärung Bundeskanzlers Kiesinger i m Dezember 1966 eingeschlagen wurde, weitgehend gebannt worden. Dies ist aus der sowjetischen Verhandlungsbereitschaft vor dem Regierungswechsel i n Bonn deutlich zu ersehen gewesen. Isoliert und i n die Enge getrieben w a r die Sowjetunion nach der Intervention i n der Tschechoslowakei und dem blutigen Grenzzwischenfall am Ussuri m i t der Volksrepublik China und 21

Zu der Ostpolitik der „sozialliberalen Koalition", d. h. der SPD-FDP-Regierung unter Brandt und Sdieel vgl. Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I I , a.a.O., S. 775 ff.

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Die deutsch-sowjetischen

Beziehungen seit der Berlin-Krise

nicht die Bundesrepublik Deutschland. Die neue Bundesregierung hat vielmehr durch ihre P o l i t i k wesentlich dazu beigetragen, daß die Sowjetunion verhältnismäßig schnell ihre Isolierung überwinden konnte. Auch die m i t der Isolierungsthese verbundene Annahme, daß die Vereinigten Staaten ihre Präsenz i n Westeuropa wesentlich verringern würden, hat sich als unzutreffend erwiesen. Durch den Nahostkonflikt und die Schwächung der Flanken der N A T O ist vielmehr die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland für die amerikanische Außenpolitik noch gestiegen. Die These v o m „ W a n d e l durch Annäherung" ging v o n vornherein von einer v ö l l i g falschen Voraussetzung aus. Die Annäherung auf der staatlichen Ebene allein konnte niemals einen wesentlichen gesellschaftlichen Wandel i m Innern bewirken. Erst recht mußte dies für einen Normalisierungsprozeß m i t Einparteistaaten totalitären Typs gelten. Eine solche P o l i t i k mußte daher sehr bald auf unüberwindbare Schranken i n Gestalt einer Abgrenzungspolitik stoßen. Ausgehend von dieser viel zu pessimistischen Lagebeurteilung einerseits und einer falschen Konzeption, die übertriebene Erwartungen weckte, andererseits, sind von der neuen Bundesregierung Vorleistungen i n einem Umfange erbracht worden, die i n keinem Verhältnis zu den geringen Zugeständnissen der sowjetischen Seite standen. Die übertriebene Konzessionsbereitschaft ergab sich nicht zwangsläufig aus der neuen Strategie, die zum Beispiel einen Verzicht auf den gesamtdeutschen Vertretungsanspruch i n keiner Weise erforderte. Sie ergab sich i n diesem Umfange auch nicht aus ihrer teilweise fragwürdigen Begründung. Sie ist vielmehr entscheidend durch die A r t und Weise bedingt worden, i n der die Vorverhandlungen über den Moskauer Vertrag geführt wurden, bedingt gewesen. Die alte Strategie wies verschiedene Methoden bei ihrer Verwirklichung auf. Es bestanden wesentliche Unterschiede i n der taktischen Konzeption v o n Adenauer, Brentano, Schröder, Kiesinger. Auch bei der neuen Strategie sollten sich solche Unterschiede aufgrund unterschiedlicher Konzeption z w i schen Staatssekretär Egon Bahr, 2 2 als engem Berater v o n Bundeskanzler W i l l y Brandt, und Außenminister Walter Scheel bemerkbar machen. Die H a l t u n g des Auswärtigen Amtes gegenüber den sowjetischen Verhandlungspartnern wäre sicher eine andere gewesen wie die T a k t i k , die v o n Bahr, der 22

Zur außenpolitischen Konzeption von Bahr, vgl. W. F. Hahn: West Germany's Ostpolitik: The Grand Design of Egon Bahr, Orbis, Vol. X V I , 1973, No. 4, S. 859 ff.

199

Boris Meissner i m Januar 1970 Botschafter A l l a r d t als Leiter der deutschen Delegation ablöste, bei den dritten Moskauer Verhandlungen seit 1955 eingeschlagen wurde. Er setzte sich damit offenbar hauptsächlich aus innenpolitischen M o t i v e n einem Erfolgszwang aus, der i h n unter dem dadurch bedingten Zeitdruck veranlaßte, das Verhandlungskonzept der sowjetischen Seite weitgehend zu übernehmen. Nachdem das Ergebnis der als „Meinungsaustausch" bezeichneten Vorverhandlungen i n Gestalt des „Bahr-Papiers" i m M a i 1970, das m i t dem „Gromyko-Papier" v o m M ä r z 1970 fast identisch war, vorlag, konnten die m i t Ostfragen befaßten Beamten des Auswärtigen Amts während der offiziellen Verhandlungen der unter der Leitung v o n Außenminister Scheel stehenden deutschen Delegation i m Juli/August 1970 nur geringfügige Verbesserungen herbeiführen. Daher ist nicht nur von der C D U / CSU-Opposition, sondern audi von einer Reihe v o n Experten, darunter Botschafter A l l a r d t , 2 3 die Vieldeutigkeit der i m Vertragstext verwendeten Begriffe, die Unausgeglichenheit von Leistung und Gegenleistung, die zu weitgehende Preisgabe v o n Rechtspositionen und die i n der „Absichtserklärung" mittelbar zum Ausdrude kommende Anerkennung der Hegemonie der Sowjetunion i n Osteuropa beanstandet worden. V o n A l l a r d t ist v o r allem bedauert worden, daß die Verhandlungen nicht zu einer K l ä r u n g der Berlin-Frage und zu einer Regelung der menschlichen Probleme, die m i t der Zusammenführung von Familien zusammenhängen, geführt haben. Unterlassen wurde neben einem Berlin-Vorbehalt ein Verfahren für die i m Vertrag vorgesehene friedliche Streitschlichtung vorzusehen. Der Moskauer Vertrag, 2 4 i n dem beide Seiten i m A r t i k e l 3 erklären, „daß sie keine Gebiestansprüche gegen irgend jemand haben und solche auch i n Z u k u n f t auch nicht erheben werden" und die „Grenzen aller Staaten als unverletzlich" bezeichnen, wobei die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens und die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R besonders hervorgehoben werden, ist am 12. August 1970 v o n Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Kossygin i n Gegenwart des Generalsekretärs der K P d S U Breshnew i m Katharinen-Saal i m K r e m l unterzeichnet worden. Insgesamt stellt der Vertrag, wenn man die deutschen Vorleistungen, zu denen auch die Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen am 28. November 1969 gehört, bedenkt, einen bemerkens23 Vgl. H . Allardt: Moskauer Tagebuch, Düsseldorf/Wien 1973, S. 358 ff. 24 Wortlaut: Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I I , S. 1270 f.

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Die deutsch-sowjetischen

Beziehungen seit der Berlin-Krise

werten Erfolg der Sowjetdiplomatie dar. M i t den Grenzbestimmungen des Vertrages ist der Besitzstand der Sowjetunion, der 1955 von Adenauer nicht anerkannt worden war, besser abgesichert und der Status quo i n Europa verfestigt worden. I n den Nebenabreden ist den Vorstellungen der sowjetischen Außenpolitik, soweit sie Osteuropa, die D D R und die Europäische Sicherheitskonferenz betrafen, weit entgegengekommen worden. Außerdem ist durch das Vertragswerk die Ausgangslage der Sowjetunion für eine schrittweise Ausdehnung ihres Einflusses i n Westeuropa wesentlich verbessert worden. A u f der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß der Moskauer Vertrag aufgrund seiner Gewaltverzichtsbestimmungen und der „Unberührtheitsklausel" des A r t . 4 i n Verbindung m i t dem „Brief zur deutschen E i n h e i t " 2 5 den Charakter eines modus-vivendi-Vertrages aufweist, der der deutschen Seite die Möglichkeit gibt, ihn i n erster Linie als einen Gewaltverzichtsvertrag auszulegen. Dies hat aufgrund der Gemeinsamen Bundestagsentschließung v o m 17. M a i 1972 26 nach einer heftigen Auseinandersetzung über die Ostverträge die Ratifizierung des Moskauer Vertrages unter weitgehender Stimmenthaltung der Opposition ermöglicht. Die Gemeinsame Entschließung ist zusammen m i t Bemerkungen der Bundesregierung der Sowjetregierung notifiziert worden. I h r k o m m t damit völkerrechtlich der Charakter eines Interpretationsvorbehalts zu. Positiv ist am Moskauer Vertrag zu vermerken, daß er nicht nur die politische Grundlage für einen weiteren Ausbau der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und kulturellen Beziehungen zur Sowjetunion geschaffen hat, sondern auch die Manövrierfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland i n der W e l t p o l i t i k wesentlich erhöht hat. Die Befürworter der flexiblen Deutschlandpolitik auf sowjetischer Seite, soweit sie eine offensive Koexistenzpolitik verfolgen, gehen offenbar davon aus, daß es m i t der Zeit gelingen würde, v o n Bonn auch die de-jure-Anerkennung der D D R , die von den bisherigen Bundesregierungen abgelehnt w i r d , und damit die endgültige völkerrechtliche Legitimierung des sowjetischen Besetzstandes zu erreichen und die westdeutsche P o l i t i k i n einem neutralistischen Sinne zu beeinflussen. Über bessere bilaterale Beziehungen zur Bundesrepublik streben sie eine Verstärkung des sowjetischen Einflusses i n Westeuropa an. Sie erhoffen sich damit, zusätzliche Ressourcen für den 25 Wortlaut: Ebenda, S. 1271 f. 26 Wortlaut: Ebenda, S. 1501 ff.

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Boris Meissner inneren Aufbau der Sowjetunion i m EG-Bereich zu erschließen und zugleich schrittweise Westeuropa v o n den Vereinigten Staaten zu trennen. Die Gegner dieser P o l i t i k sehen i n ihr ein Risiko, da sie der Bundesrepublik Deutschland i n Verbindung m i t ihren westlichen Verbündeten m i t H i l f e einer „ P o l i t i k des Brückenschlags" ermöglichen könnte, stärkeren Einfluß auf die Entwicklung i n Osteuropa nehmen. Sie befürchten, daß eine zu weitgehende Entspannungspolitik, auch wenn sie nur taktisch gemeint ist, zu Aufweichungserscheinungen i m sowjetischen Hegemonialverband führen kann. Sie sind daher zu größeren Konzessionen gegenüber der Bundesrepub l i k , insbesondere i n Berlin, nicht bereit. Sie stehen auch den Ergebnissen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa (KSZE) und ihrer Folgekonferenzen aus diesem Grunde skeptischer gegenüber. Die deutschen Zugeständnisse, die m i t dem Moskauer Vertrag verbunden gewesen sind, haben die Bereitschaft der Kreml-Führung unter Breshnew, die eine mittlere Position einnahm, verstärkt, gegen diese Widerstände i n den eigenen Reihen dem Abschluß des Viermächteabkommens über WestBerlin v o m 3. September 1971 27 zuzustimmen. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der D D R auf eine vertragliche Grundlage zu stellen. Inwieweit der „ G r u n d vertrag" v o m 21. Dezember 1972, 28 gegen dessen I n h a l t eine Reihe v o n berechtigten Bedenken erhoben worden sind, geeignet ist, als Basis für eine wirkliche Annäherung der beiden Teile Deutschlands zu dienen, w i r d die Z u k u n f t zeigen. Das U r t e i l des Bundesverfassungsgerichts v o m 31. J u l i 1973, 29 i n dem die Vereinbarkeit des Vertrages m i t dem Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen festgestellt wurde, ist auch für die Auslegung der Ostverträge v o n Bedeutung und bildet damit zusammen m i t dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v o m 7. J u l i 1975 30 nach innen eine Ergänzung der Gemeinsamen Entschließung des Bundestages v o m 17. M a i 1972.

27

Wortlaut: D. Rauschning (Hrsg.): Verträge und andere Akte zur Rechtsstellung Deutschlands, München 1975, S. 111 ff. 28 Wortlaut: Ebenda, S. 187 ff. 29 Wortlaut: Ebenda, S. 199 ff. 30 Vgl. den Beitrag von E. Klein: Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluß vom 7. Juli 1975 zur Rechtslage Deutschlands und der Deutschen in diesem Jahrbuch, Bd. X X V , S. 23 ff.

202

Die deutsch-sowjetischen IV. Entwicklungstendenzen

Beziehungen seit der Berlin-Krise der deutsch-sowjetischen

Beziehungen nach dem Inkrafttreten

des Moskauer Vertrages

M i t der Ratifizierung des Moskauer Vertrages ist ein neues Blatt i n den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland aufgeschlagen worden. Das veränderte K l i m a i m gegenseitigen Verhältnis ist bei den Staats- und Arbeitsbesuchen seit dem Abschluß des Vertrages erkennbar geworden. Während des ersten Besuchs v o n Breshnew i n der Bundesrepublik sind am 19. M a i 1973 i n Bonn Abkommen über die Entwicklung der wirtschaftlichen, industriellen und technischen sowie der kulturellen Zusammenarbeit unterzeichnet worden. 3 1 Ihnen w a r ein langfristiges Abkommen über den H a n d e l und die wirtschaftliche Zusammenarbeit v o m 5. Juli 1972 vorausgegangen. Die Wirtschaftsabkommen haben zu einer wesentlichen Ausweitung des Außenhandels zwischen beiden Ländern beigetragen. Sie sind während des Besuchs von Bundeskanzler Schmidt i n Moskau durch ein Abkommen über die weitere Entwicklung der w i r t schaftlichen Zusammenarbeit v o m 30. Oktober 1974 und beim zweiten Besuch von Breshnew i n Bonn durch das Abkommen über die Entwicklung und Vertiefung der langfristigen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft und Industrie v o m 7. M a i 1978 ergänzt worden. 3 2 Trotz erhöhter politischer Spannungen ist auch das umstrittene Erdgas-Röhren-Geschäft durch Unterzeichnung des Kreditrahmenvertrages am 13. J u l i 1982 zustande gekommen. E i n weiterer Ausbau der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit erscheint aus deutscher Sicht unter einer Voraussetzung möglich. Er darf das Rüstungspotential des Warschauer Paktes nicht wesentlich stärken und die Bundesrepublik auf bestimmten Gebieten der Energieversorgung nicht v o n der Sowjetunion abhängig machen. Sehr viel schwieriger w i r d sich die weitere Entwicklung der politischen und teilweise auch kulturellen Beziehungen erweisen. Die Auseinandersetzung über die Auslegung des Berlin-Abkommens hat die Schwierigkeiten aufgezeigt, die m i t den Beziehungen zur sowjetischen Supermacht weiterhin verbunden sind. So ist es bisher nicht möglich gewesen, West-Berlin i n drei bereits seit längerer Zeit ausgearbeitete Verträge einzubeziehen. 31 Vgl. Meissner, Moskau — Bonn, Bd. I I , a.a.O., S. 816 ff. Vgl. K. Mehnert: Mit Bundeskanzler Sdimidt in der UdSSR, Osteuropa, 25. Jg., 1975, S. 3 ff.; F.Oldenburg, Chr. Meier: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen im Zeichen des Breshnew-Besuchs, Osteuropa, 28. Jg., S. 855 ff.; J. Nötzold: Zum Abkommen über die langfristige Zusammenarbeit, Ebenda, S. 876 ff. 32

203

Boris Meissner Auch die Frage der i n der Sowjetunion noch immer zurückgehaltenen deutschen Staatsangehörigen und die Ermöglichung der Ausreise für andere Deutsche erfordert ein größeres sowjetisches Entgegenkommen. A u f die Bedeutung der humanitären Fragen i m deutsch-sowjetischen Verhältnis ist v o n den Repräsentanten der Bundesrepublik immer wieder hingewiesen worden. 3 3 Die Schwierigkeiten i m Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion ergeben sich erstens daraus, daß die Sowjetunion ihre Expansionsziele i n Europa infolge ihres Strebens nach einer weltweiten Hegemonie nicht aufgegeben hat. Sie ergeben sich ferner aus der sowjetischen Konzeption einer „friedlichen Koexistenz", 3 4 die als ein „Leitsatz der sowjetischen Außenpolitik" auch der sowjetischen Deutschlandpolitik zugrunde liegt. Die Sowjets gehen von einer längeren, aber befristeten Dauer der „friedlichen Koexistenz" aus, die sich nur auf Staaten m i t unterschiedlichen Gesellschaftssystemen bezieht. Sie sehen i n ihr eine Strategie, m i t der unter Ausschluß internationaler Kriege der weltrevolutionäre Prozeß am besten vorangetrieben werden kann. Der „ideologische K a m p f " , der sich nach der sowjetischen Auffassung sogar bei einem Fortschreiten der Entspannung verschärft, w i r d dabei als M i t t e l gesehen, diesen Prozeß zu fördern — w o bei die Anwendung nichtkriegerischer Gewalt als zulässig angesehen w i r d — und zur gleichen Zeit das eigene staatssozialistische System besser abzuschirmen. Dieses bedeutet konkret auf die Bundesrepublik bezogen, daß die ideologische Konfrontation bestehen bleibt und daß die sowjetischen Bestrebungen, einen inneren Strukturwandel i n der Bundesrepublik nach dem V o r b i l d der D D R herbeizuführen, nicht aufgegeben worden sind. Andererseits w i r d der Ausbau der gegenseitigen kulturellen Beziehungen, insbesondere auch auf wissenschaftlichem Gebiet, durch diese ideologische Konfrontation, die m i t einer Verhärtung der sowjetischen Innenpolitik verbunden ist, behindert. Ausgehend v o n dieser Lage ist v o n D r . K o h l noch als Oppositionsführer i n einer Rede i m Oktober 1975 35 gefordert worden, daß sich die deutsche Ostpolitik nicht nur auf die zwischenstaatliche, sondern auch auf die gesell33 Vgl. K. Mehnert: Mit dem Bundespräsidenten in der UdSSR, Osteuropa, 26. Jg., 1976, S. 3 ff.; Derselbe: Bundeskanzler Helmut Kohl in der UdSSR, Osteuropa, 33. Jg., 1983, S. 751 ff. 34 Vgl. B. Meissner: Die „friedliche Koexistenz" in sowjetischer Sicht, Europäische Rundschau, 2. Jg., 1974, S. 57 ff. 35 Vgl. H . Kohl: Rede anläßlich der Jahrestagung 1975 der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Osteuropa, 25. Jg., 1975, S. 969 ff.

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Die deutsch-sowjetischen

Beziehungen seit der Berlin-Krise

schaftspolitische Ebene konzentrieren müsse. Es dürfe nicht zugelassen werden, daß die Bereitschaft zur Auseinandersetzung m i t dem kommunistischen System weiter nachläßt, w e i l dies eine entscheidende Schwächung des Westens zur Folge haben würde. Die Kehrseite der sowjetischen Koexistenzkonzeption bildet der „proletarisch-sozialistische Internationalismus", der eine ideologische Umschreibung des sowjetischen Hegemoniestrebens darstellt. 3 6 Die Verschärfung, die dieses Prinzip i n Gestalt der „Breshnew-Doktrin" erfahren hat, erschwert nicht nur die Verwirklichung der KSZE-Beschlüsse u n d den Verlauf der Rüstungsbegrenzungsverhandlungen zwischen Ost und West, sondern auch den Annäherungsprozeß zwischen den beiden Teilen Deutschlands. M i t dem neuen Bündnisvertrag zwischen der Sowjetunion und der D D R v o m 7. O k tober 1975 37 w i r d die K l u f t zwischen den beiden deutschen Teilstaaten i n völkerrechtlicher Hinsicht weiter vergrößert. V o r allem ist es die forcierte sowjetische Aufrüstung i m Zeichen der „ E n t spannung" gewesen, welche die Bedrohungsvorstellungen auf der deutschen Seite i n den letzten Jahren wieder verstärkt hat. Es ist daher verständlich, wenn die Bundesrepublik bestrebt ist, durch den Ausbau und eine m i l i t ä rische Verstärkung des westlichen Verteidigungsbündnisses der weiteren Verschiebung des militärischen Kräftegleichgewichts i n Europa zugunsten der Sowjexunion entgegenzuwirken. Einer deutschen Ostpolitik sind somit i m Verhältnis zur Sowjetunion klare Schranken gesetzt. I n der Bundesrepublik hat die Einsicht zugenommen, daß v o n einer wirklichen Entspannung nur gesprochen werden kann, wenn „ i n der Substanz Fortschritte erzielt und durchgesetzt werden". 3 8 H i n z u kommt die fehlende Bereitschaft der gegenwärtigen Sowjetführung, die Einheit der deutschen N a t i o n als Realität anzuerkennen und die Schaffung besonderer Beziehungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten zu fördern. Dabei weist die deutsche N a t i o n auch v o m Standpunkt des traditionellen sowjetischen Nationsbegriffs einen konkreten und keinen abstrakten Charakter auf. 3 9 36

Vgl. B. Meissner: Die sowjetische Konzeption des „proletarisch-sozialistischen Internationalismus" und das „sozialistische Völkerrecht", Recht in Ost und West, 19. Jg., 1975, S. 1 ff. 37 Vgl. H . H . Mahnke: Der neue Freundsdiafts- und Beistandspakt zwischen Sowjetunion und DDR, Deutsdiland-Archiv, 8. Jg., 1975, S. 1204. Vgl. hierzu auch J.Hacker: Der neue Bündnisvertrag der Sowjetunion mit der DDR, Königsteiner Kreis 1975, Nr. 1—12, S. 7 ff. 3 » Kohl, a.a.O., S. 971. 39

Vgl. den Beitrag des Verfassers über den sowjetischen Nationsbegriff und seine politische und rechtliche Bedeutung in Bd. X X V des Jahrbuchs der Albertus-Universität.

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Boris Meissner Solange i n dieser Einstellung keine Änderung eintritt und die Sowjetführung m i t H i l f e einer weiteren Aufrüstung bestrebt ist, eine „ P o l i t i k der Stärke" zu betreiben, w i r d der ambivalente Charakter der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland auch bei weiteren Fortschritten auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit weiter erhalten bleiben.

WILFRIED SCHLAU D I E LAGE DER DEUTSCHEN I N DER

SOWJETUNION

Der K o n t a k t zwischen dem i n der Sowjetunion lebenden Teil des deutschen Volkes und seiner Mehrheit i n Mitteleuropa ist seit nun schon 70 Jahren stark behindert — zeitweilig v o n 1929 bis 1941 und dann wieder von 1945 bis zum Ende der 50er Jahre existierte er überhaupt nicht — und auch i n den Zeiten besserer K o m m u n i k a t i o n — so der N E P - Z e i t der 20er Jahre und den letzten 15 Jahren — ist das Ergebnis besonders für den Sozialwissenschaftler unbefriedigend. Quantitative Anhaltspunkte geben die allsowjetischen Volkszählungen der Jahre 1926, 1939, 1959 und 1970; es liegen jedoch kaum Differenzierungen vor, die verbindliche Aussagen über die Sozialstruktur der Gruppe ermöglichen — m i t Ausnahme der wenigen Spezialzählungen, die vor allem Kappes i n der Wolgarepublik zu Beginn der 20er Jahre durchgeführt hat, und deren Ergebnisse er damals noch i n einer eigenen Zeitschrift „Unsere Wirtschaft" veröffentlichen konnte. A u f diesen Zahlen und dann erst wieder auf den Erhebungen von K a r l Stumpp während des Zweiten Weltkrieges i n den 26 schwarzmeerdeutschen Siedlungen des Gebietes KronauO r l o f f beruhen daher die einzigen beiden m i r bekannten Bevölkerungspyramiden wenigstens für Teile der rußlanddeutschen Volksgruppe, wobei die Zahlen v o n Kappes nur eine grobe Schichtung nach Altersklassen ohne Differenzierung nach dem Geschlecht ermöglichen, während Stumpp ein nach Alter, Geschlecht und Schicksal differenziertes Ergebnis vorlegt, das zumindest i n der Tendenz exemplarisch für die Gesamtheit sein dürfte. Berücksichtigt man den bereits erwähnten, schon seit 70 Jahren dürftigen und zeitweilig v ö l l i g blockierten Informationsfluß und die sich daraus zwangsläufig ergebende Entfremdung und Distanz auf beiden Seiten — der binnendeutschen ebenso wie der rußlanddeutschen — dann erscheint die Publizität erstaunlich, die dieser Gruppe i n der Bundesrepublik zuteil w i r d . Weder den i n Oberschlesien zurückgehaltenen Deutschen, noch den Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben i n Rumänien ist bisher v o n unserer Presse eine so wohlwollende Aufmerksamkeit geschenkt worden — eine

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Schlau

Tatsache, die m. E. durchaus dankbare Anerkennung verdient. A m Anfang dieser publizistischen Entwicklung stand vor einigen Jahren ein Fernsehgespräch, das Bernd Nielsen-Stockeby beim Z D F m i t vier Spätaussiedlern führte: einem Lehrer aus dem südlichen Ostpreußen, der mühsam deutsch radebrechte; einem Buchhalter aus Oberschlesien, der recht gut deutsch sprach — m i t freilich stark polnischem A k z e n t ; einem Bauern aus Bessarabien, d. h. w o h l aus dem Schwarzmeergebiet, der unverfälscht schwäbelte; und einer Kolchosarbeiterin aus Mittelasien, die — aus Wolhynien stammend und auf der Flucht nach Westen 1945 bei Berlin von der Roten Armee überrollt, wie sie sagte — das Hochdeutsche einwandfrei beherrschte und auf die Frage Stockebys nach den Sprachkenntnissen ihrer Kinder empört erwiderte: „Selbstverständlich sprechen meine Kinder deutsch!" Die sowjetische Volkszählung 1970 ergibt zumindest für die mittelasiatischen Sowjetrepubliken eine Bestätigung, denn von den 1970 i n der K a sachischen SSR gezählten 858 077 Deutschen (46,5 °/o aller Deutschen i n der Sowjetunion) gaben 75 % auch Deutsch als Muttersprache an, von den 89 834 Deutschen i n der Kirgisischen SSR (4,8 °/o aller Deutschen i n der SU) 79 %>, und von den 37 712 Deutschen i n der Tadschikischen SSR (2,0 % aller Deutschen i n der SU) sogar 91,8 °/o. Das sind erstaunliche Anteile, wenn gleichzeitig von den 761 888 Deutschen i n der Russischen SFSR (41,2 °/o aller Deutschen i n der SU) nur noch 56,8 %> Deutsch als Muttersprache nennen — bei einem durchschnittlichen A n t e i l von 66,8 o/o m i t deutscher und 32,7 % m i t russischer Muttersprache für die Sowjetunion insgesamt.

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion Schon aus diesen Zahlen w i r d verständlich, w a r u m die stärkste D y n a m i k zur Rückkehr nach Deutschland anscheinend i n diesen drei Republiken zu verzeichnen ist; hier soll am 30. September 1973 i n Karaganda eine Demonstration von über 20 000 ausreisewilligen Rußlanddeutschen stattgefunden haben (zu deren „ K o n t r o l l e " etwa 500 Milizionäre und weitere 400 Soldaten aufgeboten wurden), und aus Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan kamen ja auch 1975 (Meldungen v o m 11.4. und v o m 18.4.) erneut beschwörende Appelle m i t Tausenden von Unterschriften an die Teilnehmer der europäischen Sicherheitskonferenz i n Genf, an die Bundesregierung und an das Deutsche Rote Kreuz. Jedenfalls deutet sich eine Interdependenz zwischen dem Gebrauch der deutschen Muttersprache und dem Wunsch, nach Deutschland heimzukehren, an — eine Tatsache, die bei den am Gespräch von Nielsen-Stockeby nicht beteiligten, vor 800 Jahren aus Deutschland ausgewanderten Siebenbürger Sachsen und den Banater Schwaben noch deutlicher sein dürfte; auf Grund ihres noch bestehenden deutschen Schulunterrichts sind ja hier die deutschen Sprachkenntnisse auch bei der jungen Generation w o h l am besten und ist der Wunsch zur Aussiedlung i n die Bundesrepublik entsprechend stark, während i n den Deutschen Ostgebieten und hier gerade bei den — dank entsprechender opportunistischer Anpassung beruflich und sozial A u f gestiegenen — die deutsche Sprache bei der jüngeren Generation zum Teil schon bis auf kümmerliche Restbestände reduziert erscheint. I n diesem Spektrum nehmen die Deutschen i n der Sowjetunion, die in ihrer Masse Deutschland vor mindestens hundert Jahren (in der Zeit von 1763 bis 1862) verließen, eine Mittelstellung ein. Dabei erfolgte die Feststellung der „ N a t i o n a l i t ä t " und der Muttersprache bei allen vier Volkszählungen 1926, 1939, 1959 und 1970, nur sind die Ergebnisse für die Muttersprache 1939 uns nicht bekannt! Freilich hieß es 1926 statt „nazionalnostj" noch „narodnostj", was Gerhard Teich zu der A n nahme veranlaßte, vor allem 1939 könnte die u m ein Erhebliches zu gering erscheinende Gesamtzahl von nur 1 424 000 Personen deutscher Nationalität auch auf diese Änderung und die inzwischen begonnene Propagierung eines russisch fundierten „Sowjetpatriotismus" zurückzuführen sein und nicht nur auf die Angst, sich gerade nach den Massendeportationen der Jahre 1937/38 zur deutschen Volkszugehörigkeit zu bekennen. D r . Gerhard Teich v o m Weltwirtschaftsinstitut i n K i e l n i m m t jedenfalls für den Juni 1941 eine Z a h l von rd. 1 553 000 Deutschen i n der Sowjetunion an, von denen aller14

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dings etwa 55 000 i n Straflagern einsaßen. „ D i e Deutschen i n der Sowjetunion", schreibt er i n seinem gründlichen 1958 i m „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" erschienenen Beitrag über „ D i e rußlanddeutschen Bevölkerungsbewegungen i n der Kriegs- und Nachkriegszeit 1941—1950" „waren zwar 1941 keine blühende, ihrer Eigenständigkeit bewußte Volksgruppe; sie hatten sich jedoch erfolgreich den herrschenden Verhältnissen angepaßt u n d . . . , wie die Umvolkungsintensität zeigt, bestand — ,damals' keine Voraussetzung für eine kurzfristige, restlose Einschmelzung..." Die Ereignisse der darauffolgenden Jahre haben das B i l d qualitativ entscheidend verändert, auch wenn die quantitativen Gesamtverschiebungen nicht so gravierend erscheinen mögen. Für das Jahr 1918 gibt Stumpp aufgrund früherer Zählungen für die Rußlanddeutschen i m Gebiet der nunmehrigen Sowjetunion die Gesamtzahl v o n rd. 1 621 000 Deutschen an. Nach der Hungerkatastrophe vor allem an der Wolga i n den Jahren 1920— 1923 ergibt die Volkszählung 1926 nur noch 1 238 549 deutsche Volkszugehörige, davon 1 193 210 m i t deutscher Muttersprache = 96,3 °/o, so daß m i t einem Verlust von rd. 400 000 Menschen durch Krieg, Bürgerkrieg, Hunger und Abwanderung zu rechnen ist. 1939 sind es dann — trotz „Entkulakisierung" i m Zuge der totalen K o l l e k tivierung i n den Jahren 1929—33, trotz der Hungersnot von 1932/33 und der Massendeportationen der Jahre 1937/38 — wieder rd. 1,5 Millionen, und nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges m i t der Deportation der Masse der Rußlanddeutschen nach Nordrußland, Sibirien u n d M i t t e l asien — auch der von der Roten Armee eingeholten rd. 250 000 scheinbar Geretteten i n Ost- und Mitteldeutschland — ergibt die Volkszählung 1959 1 619 655 Deutsche, v o n denen 1 222 500 d. h. 75 Vo immer noch Deutsch als Muttersprache angeben. D a m i t zeigt die Volksgruppe, deren Opfer auch i m Zweiten Weltkriege, durch Deportation und direkte Kriegseinwirkung, schwer zu schätzen sind, eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit, sind doch zu den 1,6 M i l l , auch noch die rd. 100 000 Rußlanddeutschen zu zählen, die 1945/46 vor allem i n der amerikanischen und ζ. T . auch i n der britischen Besatzungszone der

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion Auslieferung an die sowjetischen „Repatriierungskommandos" entgingen, und von denen rd. 70 000 heute i n der BR leben, während rd. 30 000 zu ihren Verwandten nach Übersee weitergewandert sind. 1970 sind es dann bei der allsowjetischen Volkszählung sogar 1 846 317 Personen deutscher Nationalität, von denen jedoch nur noch 66,8 % audi Deutsch als Muttersprache nennen. Ihre regionale Verteilung sowie den A n t e i l m i t deutscher Muttersprache zeigt die nachstehende Übersicht: Verteilung

der Rußland-Deutschen 1959

1970 165 237 1 681 080 838 515 1 007 802

( 8,9%) (91,1 %) (45,4%) (54,6 %)

Europäischer Teil Asiatischer Teil Stadt Land

636 189 (39,3%) 938 446 (60,7%)

männlich weiblich

745 309 (46,2%) 874 346 (53,8 %)

873 175 (47,3 %) 973 142 (52,7 %)

1 214 699 (75,0%) 422 065 (34,7%) 792 634 (65,3%)

1 223 317 (66,3 %) 478 639 (39,1 %) 744 678 (60,9%)

Muttersprache deutsch Stadt Land

Heutige Siedlungsgebiete 1959 Russ. Soz. Föd. Sowjetrepublik Kasachstan Kirgisistan Tadschikistan Usbekistan übrige Republiken

820 000 670 000 39 915 32 588 18 000 39 152

1970

(50,6%) (41,4%) ( 2,5 % ) ( 2,0 %) ( 1,1 % ) ( 2,4 %)

761 880 858 077 89 834 37 712

(41,3%) (46,5%) ( 4,9%) ( 2,0 %)

98 814 ( 5,3 %)

Die Gesamtzahl hat also um rd. 225 000 Personen „zugenommen" — w o durch jedoch, durch natürlichen Geburtenüberschuß oder dadurch, daß diesmal sich Personen zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannten, die es 1959 14*

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— vier Jahre nach der Entlassung aus den Zwangsarbeitslagern — noch nicht wagten, darüber kann Verbindliches nicht ausgesagt werden. T r i f f t Letzteres i n stärkerem Maße zu, so wäre der statistische Rückgang der deutschen Muttersprache nicht nur eine Folge der fortschreitenden Assimilierung, sondern auch darauf zurückzuführen, daß die bisher „versteckten Deutschen" auch i n den Familien fast nur noch Russisch sprechen. I m übrigen sind die Anweisungen für die Zähler bei den Volkszählungen sehr genau und werden anscheinend auch korrekt befolgt, wie Berichte von Beteiligten bestätigen. So heißt es i n der Anweisung zur Frage 7 (Nationalität): „Es wird die Nationalität aufgeschrieben, die der Befragte angibt. Die Nationalität der Kinder wird von den Eltern bestimmt. In den Familien, wo Vater und Mutter zu verschiedenen Nationalitäten gehören (Mischehen) und die Eltern die Nationalität ihrer Kinder nicht bestimmen können, ist der Nationalität der Mutter der Vorrang zu geben." und zur Frage 8 (Muttersprache) : „Es ist die Sprache anzuführen, die der Befragte selbst als seine Muttersprache zählt. Wenn der Befragte Schwierigkeiten bei der Angabe der Muttersprache hat, ist die Sprache anzugeben, die der Befragte am besten beherrscht oder die er gewöhnlich in der Familie spricht. — Die Muttersprache kann von der Nationalität abweichen." M a n sollte einmal einen Test m i t einer solchen Fragestellung i n der i n z w i schen ja auch „multinationalen" Bundesrepublik machen. Bei unserem weitgehend verschwommenen Begriff von „ N a t i o n a l i t ä t " sind so klare Ergebnisse m. E. kaum zu erwarten. Bei den Deutschen i n der Sowjetunion, bei uns „Rußlanddeutsche", i n der Sowjetunion offiziell „Sowjetdeutsche" genannt, handelte es sich also auch 1975 noch um eine Gruppe von über 1,8 Millionen Menschen, die sich 1970 zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannten, und von denen trotz der Schicksalsschläge der letzten 70 Jahre, Zerstreuung und fehlender deutscher Schule immer noch zwei D r i t t e l Deutsch als Muttersprache angaben. Das ist eine Population von etwa der gleichen Stärke wie die Gesamtbevölkerung des Reg.-Bez. Rheinhessen und Pfalz m i t 1970 1,8 M i l l , oder des Reg.-Bez. Südbaden m i t 1970 1,86 M i l l . Auch die Personen m i t deutscher Muttersprache entsprachen i n ihrer Z a h l fast der Gesamtbevölkerung des Saarlandes m i t 1970 1,12 M i l l , oder noch genauer der Gesamtbevölkerung des Reg.-Bez. Unterfranken m i t 1970 1,18 M i l l . Einwohnern.

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion V o n diesen 1,8 Millionen aber sind rd. 250 000 nach unserer Rechtsprechung deutsche Staatsangehörige, denn sie haben ordnungsgemäß die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, und diese kann ihnen unsererseits nach § 16 und § 116 des Grundgesetzes nicht entzogen werden, audi wenn die Sowjetunion ihre erfolgte Einbürgerung nicht anerkennen w i l l . Eine Stadt m i t einer Bevölkerung dieser Größenordnung entspricht i n etwa der Gesamtbevölkerung von Lübeck, Kiel, Braunschweig oder Bonn. Nach dieser Ubersicht nun noch einige Fakten zur Entwicklung bis zum heutigen Stand: A n der sowjetdeutschen Population von rd. 1,8 M i l l , i m Jahre 1970 ist das städtische Deutschtum der Zeit vor 1918 nur noch i n ganz geringem Maße beteiligt. Bestehend aus Einzelzuwanderern aus dem Reich und Polen, Deutschbalten und i n den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkriege i m Zuge der beginnenden Industrialisierung Rußlands i n steigendem Maße auch aus reichsdeutschen Staatsangehörigen, ist diese Gruppe — die v o r 1914 ganz i m Vordergrund des wirtschaftlichen, kulturellen und auch politischen Lebens stand, durch den Ersten Weltkrieg und die Revolution weitgehend liquidiert worden. Die Reichsdeutschen verließen — abgesehen von der neuen kommunistischen Emigration — die S U weitgehend, auch die bereits Eingebürgerten und die Deutschbalten, die sich — soweit sie überlebt hatten, nach dem Frieden von Riga i n die baltischen Staaten und dann oft weiter ins Reich absetzten. St. Petersburg m i t seinen um die Jahrhundertwende noch rd. 75 000 Deutschen wies infolgedessen 1923 nur noch 12 587 auf; Moskau statt rd. 12 000 noch 8037; Odessa statt rd. 10 000 noch 3965. Bei den audi nach der Revolution i n den Städten verbliebenen, früher meist wohlhabenden, jetzt jedoch depossedierten Deutschen ist außerdem der Russifizierungsprozeß schon lange i m Laufen, um nun nach der sozialökonomischen Einebnung und gleichzeitiger Beseitigung der konfessionellen Schranken durch die Revolution ein schnelles Tempo anzunehmen. W o h l verzeichnet die Volkszählung von 1926 i n den Städten wieder insgesamt 184 769 Deutsche, auf dem Lande jedoch 1 053 780. Diese ländliche Population besteht aus vier ursprünglich sehr verschiedenen Gruppen, die die Ausgangselemente für die Gesamtheit der heutigen Sowjetdeutschen sind, wobei der durch Deportation, Auflösung der alten sozialen Einheiten und Dorfgemeinschaften, Zerstreuung und Vermengung unterein-

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ander inzwischen eingetretene Grad der Verschmelzung i n Ermangelung entsprechender Unterlagen nur schwer abzuschätzen ist. I m einzelnen handelt es sich um die vier Gruppen der Wolgadeutschen, der Mennoniten, der Schwarzmeer- und Kaukasusdeutschen und der Wolhyniendeutsdien. Die Wolgadeutschen — 1763—68 unter Katharina I I . vor allem aus Hessen eingewandert und überwiegend aus der unterbäuerlichen und kleinbäuerlichen Schicht der armen deutschen Mittelgebirge stammend — , waren zu etwa % evangelischer, zu Vs katholischer Konfession. I m Gegensatz zu der auch i m sog. Kolonistengesetz vorgesehenen geschlossenen Vererbung nach Jüngstenrecht übernahmen sie das russische Mir-System der Umteilungsgemeinde, das trotz erneuter Landzuteilungen i n den Jahren 1824 und 1848 bis 1914 infolge der — gerade auch durch das Mir-System stimulierten — starken Bevölkerungszunahme von 1798 bis 1914 zu einem Schrumpfen des sog. „Seelenanteils" von 15,5 auf 1,5 Dessjatin führte. Bei bescheidener Ertragsfähigkeit w a r das Ergebnis sozialökonomische Stagnation, wenn nicht Abstieg, denn auch die Hausindustrie (Sarpinkaweberei) bot nicht genügend komplementäre Existenzmöglichkeiten. Die Aufhebung des M i r Systems, das ja auch die Abwanderung der Uberzähligen gehemmt hatte, und die Übertragung der jeweiligen Anteile zu Eigentum durch die Stolypinsche Agrarreform führte seit 1907 zum Sichtbarwerden einer erheblichen unterbäuerlichen landarmen, ja landlosen Schicht, ein Tatbestand, der die Bolschewisierung des Wolgagebietes nicht unwesentlich erleichtert haben dürfte, zumal die nun einsetzende Abwanderung der Uberzähligen i m Zuge der Besiedlung Sibiriens durch den Ersten Wéltkrieg wieder gestoppt wurde. Die Mennoniten, friesisch-niederdeutscher H e r k u n f t und plattdeutsch sprechend, waren seit 1789 aus dem Danziger Werder und der Weichselniederung ins Schwarzmeergebiet, später auch ins Wolga- und Uralgebiet zugewandert. Sie gehörten einer wirtschaftlich sehr aktiven und erfolgreichen mittel- bis großbäuerlichen Schicht an, realisierten infolge der restriktiven Maßnahmen der preußischen Behörden gegen die Mennoniten ihr Eigentum und kauften sich i n Rußland entsprechend günstig an. Bei strenger Einhaltung der ungeteilten Vererbung, Jüngstenrecht und großer Kinderzahl, nahm ihre flächenmäßige Expansion extreme Formen an,

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion die durch den sog. „Pachtartikel" sehr gefördert wurde (ein Teil des Gemeindelandes wurde nicht zur erblichen N u t z u n g verteilt, sondern wurde nur verpachtet, und v o n dem Pachterlös wurde neues L a n d für die nächste Tochtersiedlung erworben, sobald die zunehmende Bevölkerungszahl es erforderlich machte.) Die Schwarzmeer- und Kaukasusdeutschen kamen i n ihrer Mehrzahl aus dem südlichen Hessen und Rheinhessen, der Pfalz und dem Elsaß, Baden, Württemberg und dem bayerischen Schwaben und wanderten vor allem i n den Jahren von 1804 bis 1832 — während und nach dem Napoleonischen Kriegen — ein, besonders nach dem Erlaß Alexanders I . v o m 20. 2. 1804, der i m Gegensatz zu dem Manifest Katharina I I . , das zur Einwanderung der Wolgadeutschen geführt hatte, den Nachweis eines bestimmten Vermögens und eine entsprechende berufliche Qualifikation als L a n d w i r t oder Handwerker zur Voraussetzung für die Einwanderungsgenehmigung machte. Diese Gruppe, zu etwa 55 % evangelisch und 45 °/o katholisch, kam infolgedessen vorwiegend aus den kleinbäuerlichen und nicht ganz besitzlosen Schichten Südwestdeutschlands m i t einem starken Bezug zum Eigent u m und entsprechender ökonomischer D y n a m i k . Ähnlich wie die Mennoniten gründeten sie Gemeindekassen, i n die sämtliche Hofbesitzer Beiträge, jeweils nach den Ernteergebnissen bemessen, einzahlen mußten, und finanzierten so ebenfalls eine außerordentliche „horizontale" Expansion i m Schwarzmeergebiet selbst einschl. der K r i m , w o von 7 Mutterkolonien ausgehend 1914 7 5 % der Fläche i n deutschen Händen waren, dann i m N o r d kaukasus und schließlich i n Sibirien und Mittelasien. Die vierte Gruppe, zeitlich die letzte und ökonomisch die ärmste, waren die Wolhyniendeutschen — zum Teil i n der Zeit der Zugehörigkeit weiter Teile Polens zu Preußen (nach der 3. polnischen Teilung) aus Südwestdeutschland, vor allem aber aus Pommern und Pommerellen, Mecklenburg, der M a r k und Schlesien und auch aus anderen deutschen Ländern zugewanderte Angehörige der unterbäuerlichen Schicht — Landlose und Landarbeiter, die nun nach Wiederkehr der polnischen Verwaltung, nach W o l hynien weiterzogen — i n einer ersten Welle nach 1816, i n einer zweiten nach dem ersten polnischen Aufstand 1831 und dann vor allem i n einer dritten 1861 nach Aufhebung der Leibeigenschaft, die dem polnisch-russischen Großgrundbesitz i n Wolhynien seine Landarbeiter nahm und die Verpachtung an Deutsche interessanter werden ließ. Konfessionell evangelisch m i t starkem sektiererischem Einschlag waren sie bis zuletzt die sozialökonomisch schwächste Gruppe, m i t trotz biologischer Vermehrung nur gerin-

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ger wirtschaftlicher Expansion, die durch ihre totale Deportation schon i m Ersten Weltkrieg zusätzlich erschwert wurde. Diese und die anschließende Abwanderung reduzierten ihren Bestand v o n 1914 von rd. 200 000 auf die Hälfte, von der durch den Frieden von Riga jeweils wiederum die H ä l f t e an die Sowjetunion, die andere an Polen kam. Bei insgesamt hohen Kinderzahlen und bis zum Ersten Weltkriege flüssigem Bodenmarkt infolge zunehmender Verkaufsbereitschaft des russischen Großgrundbesitzes und entsprechender eigener L i q u i d i t ä t der rußlanddeutschen Käufer w a r das Ergebnis bis 1914 fast ausschließlich eine horizontale Expansion — gekennzeichnet durch einen imponierenden Landerwerb aus eigenen M i t t e l n (Vervierfachung der Fläche!), entsprechende Tochterkolonisation (zu 300 Mutterkolonien kamen bis 1914 rd. 3000 Tochterkolonien) und biologisches Wachstum als „Treibsatz" (allein i n Rußland von rd. 100 000 Einwanderern auf rd. 1,6 M i l l . ) . Diese horizontale Expansion blieb jedoch nicht auf Rußland beschränkt, sondern setzte sich ab 1874, nach Aufhebung der Privilegien — vor allem nach Annullierung der Befreiung v o m M i l i t ä r dienst — i n einer Massenauswanderung nach Übersee fort, die i n N o r d amerika und Südamerika i n die gerade zur Besiedlung erschlossenen jungfräulichen Steppengebiete vorstieß und dort ein entsprechendes Ergebnis erzielte. Unter Einbeziehung dieser Entwicklung ist die biologische Expansion bis 1918 weit größer und dürfte die Z a h l der Rußlanddeutschen i n der Welt schon damals über 2 M i l l , betragen haben. (Heute rechnet man allein in Amerika m i t etwa 1 M i l l . Nachkommen der rußlanddeutschen Einwanderer der letzten 100 Jahre!) Dieser fast unbeschränkten quantitativen Expansion i n biologischer Substanz und landwirtschaftlicher Fläche entsprach eine relativ geringe berufliche D i f ferenzierung. M a n hatte es nicht nötig, i n die Stadt zu gehen, die i n Ermangelung entsprechender industrieller Arbeitsplätze sowieso nur Chancen für Handwerker, Kaufleute und akademische Berufe bot. So stockte man soz. zuerst intern auf, indem sich vor allem bei den Mennoniten und den evangelischen Schwarzmeerdeutschen eine Schicht v o n Großbauern und Gutsbesitzern entwickelte, deren Söhne höhere Schulen und Universitäten zu besuchen begannen; so entstand — vor allem über die Universität Odessa (seit 1835) und über die Universität Dorpat (ev. Theologie!) eine Schicht rußlanddeutscher Akademiker, i n Odessa aber auch ein wohlhabendes Bürgertum rußlanddeutscher Provenienz, während die sog. Zentralschulen den eigenen Lehrernachwuchs stellten. I n der Masse blieb man freilich unter sich i m deutschen D o r f , dessen L a n d ja bis zur Aufhebung des M i r — schon auf

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion noch beliehen werden konnte und damit praktisch für Nichtdeutsche unzugänglich war, — und dementsprechend blieb trotz Einführung der russischen Unterrichtssprache und russischem Militärdienst die Umgangssprache eben deutsch, wie es noch 1926 die Volkszählung m i t 96,3 %> bestätigte. Die — relativ geringe — vertikale Differenzierung durch den Aufbau einer eigenen Oberschicht aus Gutsbesitzern und Akademikern (vor allem TheoloGrund des Kolonistengesetzes — der Gesamtheit gehörte, weder verkauft gen und Medizinern) w i r d durch die Revolution beseitigt. Wer den Bürgerkrieg überlebt hat, aber dieser Gruppe angehört, der verschwindet nun durch die Entkulakisierung i m Zuge der Kollektivierung, die auch das gesamte Großbauerntum eliminiert und zur Zwangsarbeit nach N o r d r u ß l a n d und Sibirien abschiebt. E t w a gleichzeitig w i r d die eigene akademische Schicht, vor allem der Geistlichen, die inzwischen die gesamte Gruppe versorgen kann, vernichtet. D a m i t ist die rußlanddeutsche Volksgruppe zum erstenmal qualitativ „gek ö p f t " ; trotzdem entwickelt sie i n den 20er und 30er Jahren m i t beachtlicher Zähigkeit eine neue Intelligenz, die sich nun nicht aus der Schicht der Gutsbesitzer und Großbauern, sondern der Mittelbauern, der Handwerker und vor allem der Volksschullehrer rekrutiert, die ihrerseits ja bereits aus dieser Mittelschicht des rußlanddeutschen Dorfes stammen. Neben den traditionellen Lehrberufen treten nun i m Zuge der Industrialisierung der Sowjetunion auch immer stärker technische Professionen auf, zum Teil auf dem Wege des Besuches der neugegründeten Technika, zum Teil auf dem Wege eines Universitätsstudiums, eine Entwicklung, die natürlich auch das A u f gehen der beruflich und sozial Aufsteigenden i n der russischen Stadtbevölkerung fördert. — Diese neue Intelligenz jedoch w i r d durch die Massendeportationen der „Jeschowschtschina" der Jahre 1937/38 wieder fast restlos vernichtet. — „10 Jahre ohne Genehmigung des Briefwechsels" lautet das Pauschalurteil für Angehörige der rußlanddeutschen Intelligenz, die beim Aufbau der neuen Industriegebiete i n Nordrußland, am U r a l und i n Sibirien „verbraucht" w i r d . D a m i t aber ist die rußlanddeutsche Volksgruppe zum zweiten M a l „gek ö p f t " , und — abgesehen v o n den vor der Entkulakisierung aus dem D o r f rechtzeitig geflüchteten und den Zwangsarbeitern — i n die graue Masse der „Kolchosniki" eingereiht. Daß sie sich trotzdem ihre „geistige Infrastruktur" noch weitgehend erhalten kann, ist, wie ich zeigte, v o r allem auf die ländliche Lebensform und die Abgeschlossenheit des deutschen Dorfes zurückzuführen, auch wenn die russisch-ukrainische Zuwanderung i n die deutschen

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Gemeinden zum Teil erheblich ist und die Mischehen zunehmen. Diese Mischehen vor allem deutscher Mädchen m i t Russen und Ukrainern werden dadurch gefördert, daß bei einer Eheschließung m i t einem deutschen M a n n — v o r allem gehobener Profession — ja doch i n Kürze m i t einer zwangsweisen „ V e r w i t w u n g " durch Deportation des Ehepartners zu rechnen ist. (s. auch Graphik K r o n a u - O r l o f f 1942!). D a n n heiratet man schon lieber gleich einen Russen. I n dieser Situation w i r d die rußlanddeutsche Volksgruppe durch den Zweiten Weltkrieg überrascht und überrollt, der alle Grundlagen ihrer bisherigen Existenz zerstört und, nach zeitweiliger oder endgültiger institutioneller Sterilisierung (entweder durch Zerreißung bestehender Ehen oder Verhinderung einer Eheschließung durch Einschließung i n Zwangsarbeitslagern nach Geschlechtern), die Population nach Aufhebung der Zwangsarbeitslager i m Jahre 1955 i n eine v ö l l i g neue Situation entläßt. — N u n , nachdem sich die Überlebenden wieder gefunden haben, zerrissene Familien wenigstens zum Teil wieder rekonstruiert worden sind, sind alle, ohne Rücksicht auf ihre landsmannschaftliche oder konfessionelle, berufliche oder soziale H e r k u n f t , Arbeiter i n Großbetrieben auf dem Lande (Kolchose, Sowchose — immer noch 54,6 °/oim Jahre 1970) oder i n der Stadt (bereits 45,4 °/o i m Jahre 1970). I n den 60er Jahren beginnt w o h l ein langsamer beruflicher Aufstieg aus eigener K r a f t durch Leistung und Selbstqualifizierung, bei gleichzeitigem Ansteigen des Lebensstandards aus dem „Nichts" zu einer auskömmlichen Existenz — bei reger Bautätigkeit auf für westliche Verhältnisse oft nicht vorstellbarer Basis. Dem entspricht auch ein langsames, aber stetiges Einrücken i n die unteren „Selbstverwaltungsorgane" der Dorfsowjets, aber auch der Sowjets der Landkreise, Stadtkreise und Städte. Aber weiter geht es selten. Sowohl i n der beruflichen Qualifikation wie i n der politischen Position w i r d diese H ü r d e nur selten genommen. Das ist die sogenannte „ N a t i o n von Schweinezüchtern, Traktoristen und Melkerinnen", der anzugehören — laut dem „Neuen Leben", der Wochenzeitung der „ P r a w d a " für die Sowjetdeutschen, der sowjetdeutschen Jugend mißfällt, die darunter leidet, auch wenn diese Leistungen preisgekrönt werden. Größere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es für die sowjetdeutsche junge Generation anscheinend nur i n geringem Maße (an der Tadschikischen Staatsuniversität ζ. B. werden Deutsche nur m i t der Durchschnittsnote 1 aufgenommen; bei Tadschiken dagegen genügt die Durchschnittsnote 3). M a n steht also, wie es ein Betroffener formulierte, trotz überdurchschnittlicher, sogar öffentlich anerkannter Leistungen i m sozialistischen Produk-

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion tionsprozeß und beim Aufbau des Sozialismus auch weiterhin „unter den Gleichberechtigten an letzter Stelle". Unbefriedigend ist auch die Entwicklung i m Bildungswesen: Der mögliche erweiterte deutsche Unterricht ab 2. Schuljahr w i r d nicht eingerichtet, es fehlen Bücher, Lehrkräfte und überhaupt deutsche Literatur, obgleich sogar schon mehrere Anthologien und Einzelschriften sowjetdeutscher Dichter und Schriftsteller erschienen sind. Dabei ist man ja zur Integration i n die sowjetische Gesamtgesellschaft uneingeschränkt bereit, wie es etwa D o m i n i k H o l l mann, der Senior unter den sowjetdeutschen Schriftstellern, geboren 1899 i n Kamyschin an der Wolga, wie folgt 1970 i n der „Freundschaft" formulierte: „Es ist und bleibt Tatsache, daß die Deutschen i n der Sowjetunion, die Sowjetdeutschen, i n den mehr als 200 Jahren seit der Einwanderung ihrer Vorfahren nach Rußland sich als eine besondere ethnische Gruppe konsolidiert haben. Diese hat ihren eigenen, v o m Stammvolk i m Westen unterschiedlichen geschichtlichen Werdegang, ihre ökonomisch-politischen Besonderheiten, ihre eigene kulturhistorische Entwicklung, was sich i n Sprache, Folklore, i m Sitten- und Alltagsleben äußert. Ganz entschieden muß hervorgehoben werden, daß insbesondere die Sowjetperiode den Sowjetdeutschen ein durchaus neues ethnisches Gepräge verliehen hat. W i r sind nämlich zu einem Sowjetvolk geworden. Das hat viel zu sagen. D a r i n liegt eigentlich die Hauptsache. Es ist eine neue Qualität. Sie besteht darin, daß uns, wie allen Brudervölkern unserer multinationalen Sowjetheimat, der Geist des Sozialismus und Kommunismus innewohnt, der Geist der brüderlichen Gemeinschaft m i t allen anderen Völkerschaften der Sowjetunion. Das sind unschätzbare Eigenschaften, auf die die Sowjetdeutschen m i t Recht stolz sind. Sie sind uns i n Fleisch und Blut übergegangen. W i r unterscheiden uns darin v o n allen anderen deutschsprachigen Volksgruppen i m Westen. W i r sind Sowjetbürger, Sowjetmenschen, Sowjetdeutsche. U n d w i r haben unsere eigene, v o n uns selbst geschaffene Sowjetkultur." D a dieser Integrationswille jedoch an der eigenen, als unbefriedigend angesehenen Situation anscheinend nichts ändert, bleiben neben der allmählichen widerstandslosen und resignierenden Assimilation durch die herrschenden Großrussen nur zwei Auswege: Der eine wurde schon i m Jahre 1965 versucht, als eine Gruppe v o r allem Wolgadeutscher Parteimitglieder am 7. Juni bei M i k o j a n vorstellig wurde und die Wiederherstellung der Republik der Wolgadeutschen forderte. E i n Teil dieser Unterredung ist aufgezeichnet, von „Samisdat" veröffentlicht worden und 1971 i n den Westen gelangt, w o der „Spiegel" einen Auszug und Boris L e w y t z k y j 1972 i m Ta-

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schenbuch „Politische Opposition i n der Sowjetunion 1960—1972"

den

vollen Text veröffentlichte. Nachdem auch dieser Versuch endgültig gescheitert sein dürfte, bleibt neben der Resignation nur noch der K a m p f u m die Ausreisegenehmigung i n die Bundesrepublik, der den Rußlanddeutschen vorerst wenigstens zu der geschilderten wohlwollenden Beachtung i n der bundesdeutschen Presse verholfen hat. Gleichzeitig setzte man sich bereits möglichst weit nach Westen ab, w o vor allem die Moldau, d. h. Bessarabien, aber auch die baltischen Sowjetrepubliken sich zeitweilig als günstige „Absprungbasen" erwiesen. I n letzter Zeit sind auch diese Möglichkeiten anscheinend wieder weitgehend beseitigt w o r den. Neben den Wunsch nach Ausreise i n die Bundesrepublik aber t r i t t seit 1972 (ζ. B. i n einer Petition an den Staatspräsidenten Podgorny) auch die Forderung nach Wiedereinrichtung von Schulen m i t deutscher Unterrichtssprache, kultureller Autonomie und Übersiedlung nach Ostpreußen — für den Fall, daß eine Rückkehr i n die früheren Heimatgebiete i m europäischen Rußland nicht erfolgen könne. Dazu nachstehender Flächenvergleich: Fläche der rd. 200 deutschen Dörfer an der Wolga 1918 m i t 445 532 deutschen Einwohnern ( = 97,7 v. H . der Gesamtbevölkerung): 15 259 qkm. Fläche des v o n der Sowjetunion annektierten Teiles von Ostpreußen 1975: 16 331 qkm. So ist die Situation noch offen, auch wenn die sozialökonomischen und v o r allem die kulturellen Aussichten bei unveränderten Lebensbedingungen für spricht die kleine Gruppe derjenigen, die v o n 1950 bis 1982 die Ausreise i n die Bundesrepublik „ e r t r o t z t " haben, m i t bisher insgesamt rd. 92 000 Personen doch nur der „Spitze eines Eisberges"; von ihrem Habitus, den V o r stellungen, dem kulturellen Niveau und der beruflichen Qualifikation aber kann w o h l auf die Gesamtheit der Tausende geschlossen werden, deren Ausreiseanträge ζ. T . schon seit 25 Jahren beim Deutschen Roten Kreuz vorliegen. Dabei wäre die Lösung so einfach: Die Sowjetregierung, die sich doch auch sonst uneingeschränkt als Rechtsnachfolgerin des Zarenreiches betrachtet (s. Orden, territoriale Ansprüche und Sowjethistorie), brauchte ja doch nur — ohne damit einen Präzedenzfall für Angehörige ihrer anderen Nationa-

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion litäten zu schaffen — den Absatz 7 des Manifestes der Kaiserin Katharina v o m 22. J u l i 1963 — v o n Alexander I . i n seinem Erlaß v o m 20. Februar 1804 bestätigt — zu realisieren, der lautet: „Endlich und zuletzt, wer v o n denen sich niedergelassenen und Unserer Bothmäßigkeit sich unterworfenen Ausländern Sinnes wurde, sich aus U n serm Reiche zu begeben, dem geben w i r zwar jederzeit dazu die Freiheit, jedoch m i t dieser Erläuterung, daß selbige verpflichtet seyn sollen, von ihrem ganzen i n Unserm Reiche wohlerworbenen Vermögen ein Theil an unsere Casse zu entrichten . . . . ; . . . . nachher ist jedem erlaubt, ungehindert zu reisen, w o h i n es i h m gefällt."

Literatur I. Allgemeines Deutsches Ausland-Institut (Hrsg.): Der Wanderweg der Rußlanddeutsdien, Jahrbuch der Hauptstelle für die Sippenkunde des Deutschtums im Ausland. Stuttgart und Berlin, 4. Jahrgang 1939. — Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland (Hrsg.): Heimatbuch der Deutschen aus Rußland, Stuttgart 1954 ff. — Schleuning, J.: Die deutschen Siedlungsgebiete in Rußland, (Schriftenreihe des Göttinger Arbeitskreises Heft 52/53) Würzburg/Main o. J. — Stumpp, K.: Die deutsche Auswanderung nach Rußland 1763—1862, Sonderdruck aus dem „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1961. — Stumpp, K.: Die Rußlanddeutschen — Zweihundert Jahre unterwegs. Freilassing 1964. — Stumpp, K.: Das Schrifttum über das Deutschtum in Rußland. Eine Bibliographie. 2. erweiterte Auflage, Tübingen 1970. — Stumpp, K.: Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862. Tübingen 1972. II. Einzelbeiträge Η., Α.: Begegnungen mit Sowjetdeutsdien, in: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1961. — Jahn, D.: Sowjetdeutscher Alltag aus der Sicht neuerer Forschungen. In: Osteuropa, Stuttgart Heft 3/1971. — Jahn, D.: Aus dem Leben der Sowjetdeutschen. In: Osteuropa, Stuttgart Heft 3/1971. — Kappes, S.: Die Bevölkerung des Gebiets der Wolgadeutschen in 158 Jahren. In: „Unsere Wirtschaft", Kalender 1955, Heimatbuch der Ostumsiedler, Stuttgart 1955. — Lewytzkyj, B.: Politische Opposition in der Sowjetunion 1962—1972. Analyse und Dokumentation. München 1972; darin vor allem: Die Frage der Neubildung der Republik der Wolgadeutschen (Aus einem Gespräch von Α. I. Mikojan mit einer Delegation von Wolgadeutschen am 7. Juni 1965). — Lewytzkyj, B.: Die Deutschen in der Sowjetunion. Neue Zahlen und Fakten. In: Osteuropa, Stuttgart Heft 1/1975. — Mergenthaler , Α.: Die Wanderungen der deutschen Kolonisten innerhalb Rußlands. In: Der Wanderweg der Rußlanddeutschen, Stuttgart 1939. — Mergenthaler , Α.: Die deutschen Bauern im Schwarzmeergebiet und ihre kolonisatorischen Leistungen. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1956. — Mergenthaler , Α.: Unsere

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Wilfried

Schlau

Landsleute unter dem Sowjetregime und in der sowjetischen Verbannung. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1957. — Mergenthaler , Α.: Das Deutschtum in Sibirien und Mittelasien. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1959. — Mergenthaler , Α.: Auswanderung aus dem Bundesgebiet und West-Berlin nach den überseeischen Staaten. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1963. — Rink, F.: Das Wolhyniendeutschtum. In: Der Wanderweg der Rußlanddeutschen, Stuttgart 1939. — Roemmich y H.: Die Tragödie der deutschen Volksgruppe in Rußland. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1958. — Roemmich, H.: Das deutsche Schulwesen in der Sowjetunion. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1960. — Roemmich, H.: Deutschunterricht für deutsche Kinder in der Sowjetunion. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1964. — Schlau, W.: Hessen an der Wolga. In: Politik und Bewußtsein. Voraussetzungen und Strukturen politischer Bildung in ländlichen Gemeinden, Köln 1971. — Schleuning, J.: Das städtische Deutschtum in Rußland. In: Kalender 1955, Heimatbuch der Ostumsiedler, Stuttgart 1955. — Stumpp, K.: Die Auswanderung der deutschen Kolonisten aus Rußland (1873—1914). In: Der Wanderweg der Rußlanddeutschen, Stuttgart 1939. — Stumpp, K.: Das Deutschtum in Rußland nach der Volkszählung von 1926. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1957. — Stumpp, K.: Die heutigen Wohngebiete und berufliche Aufgliederung der Deutschen in der Sowjetunion. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1959. — Stumpp, K.: Das Deutschtum in der Sowjetunion nach der Volkszählung 1959. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1964. — Stumpp, K.: Ergebnisse über die Gesamterhebung des Deutschtums in der Sowjetunion. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1964. — Stumpp, K.: Heutige Wohngebiete und Wohnverhältnisse der Deutschen in der Sowjetunion. In: „Heimatubch der Deutschen aus Rußland" 1965. — Stumpp, K.: Zahl der Deutschen in der Sowjetunion nach der Zählung 1969, unveröff. Manuskript o. J. — Stumpp, K.: Das Deutschtum in der Sowjetunion nach 1917. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter, München, Heft 4/1975. — Stumpp, K.: Sterben die Rußland-Deutschen aus? Zersiedelung und Russifizierung wirken sich aus. In: Die Zeit, Hamburg, 23. April 1976. — Teich, G.: Die rußlanddeutsche Bevölkerungsbewegung in Kriegs- und Nachkriegszeit 1941—1950. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1958. — Unruh> Β. H.: Züge aus der Kulturgeschichte der rußlandmenonitischen Kolonisten. In: „Heimatbuch der Deutschen aus Rußland" 1957.

ERNST SCHÜZ D r . h. c. F R I E D R I C H

TISCHLER

ERFORSCHER DER VOGELWELT

OSTPREUSSENS

Ostpreußen mit seinen oft ursprünglichen Lebensstätten war sehr vogelreich. Gegen 200 Arten brüteten hier, und 124 zogen durch, hauptsächlich auf der „Brücke des Vogelzugs". Von ihr wußte man schon zur Ordenszeit, wenn auch nur wenig. Ende des letzten Jahrhunderts erkundeten vor allem Thüringer Omithologen den Vogelreichtum. Unter den ebenfalls tätigen Ostpreußen ragte Friedrich Tischler weit hervor. Die Familie Tischler hat sich i n verschiedenen Gebieten der Wissenschaft betätigt. I h r Sitz w a r Losgehnen K r . Bartenstein. Friedrich Tischlers U r großvater Friedrich Puttlich bewirtschaftete 1821 bis 1867 dieses Gut. Seine Tochter Bertha (1822—1873) heiratete den Regierungsbaumeister Friedrich Alexander Tischler (1805—1864). Dessen jüngster Sohn Oscar (1847—1903) w a r der Vater unseres Ornithologen. Der mittlere Sohn, Friedrich Carl Adalbert (geb. 1844, gefallen i m Krieg 1870/71) studierte schon sehr jung Astronomie und promovierte „Uber die Bahn v o n Tuttle's Comet" (1868). Der älteste unter den 3 Söhnen war D r . O t t o Tischler (1843—1891), ein Vorgeschichtsforscher, der zum Beispiel zur Kenntnis der Latène-Periode Grundlegendes beitrug (Nachruf bei Gummel, Forschungsgeschichte i n Deutschland, 1938: 461, und Altpreußische Biographie 1965: 737). Er w a r zudem ein großer Gartenliebhaber; sein Garten i n Königsberg galt als stadtbekannte Sehenswürdigkeit. Es mag sein, daß dieser Umstand die ausgeprägten floristischen Interessen der beiden Neffen anregte, nämlich der Söhne von Oscar: Unseres Ornithologen (und Juristen) Friedrich (geb. 2 . 6 . 1 8 8 1 ) und des Botanikers Georg (1878—1955). Dieser wurde v o r allem durch seine Forschungen auf dem Gebiet der Pflanzenzelle bekannt, m i t vielen Arbeiten und m i t Büchern über Pflanzenkaryologie; Inhaber des Botanischen Lehrstuhls i n K i e l (Nachruf Ber. Dtsch. Botan. Ges. 74, 1958: 95—102). Dessen beide Söhne wurden Prähistoriker, Prof. D r . Fritz Tischler (1910—1967), und Zoologe; besonders der letztere, Prof. D r . Wolfgang Tischler, Zoologisches Institut der U n i -

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Ernst Schütz versität Kiel, Lehrstuhl für Ökologie, stand seinem Onkel Friedrich sehr nahe, und ich verdanke i h m wesentliche Angaben. Außer Georg und Friedrich gab es einen dritten Bruder, Oscar, Jurist i n Ostpreußen (1883— 1943), ferner eine Schwester Marie (1886—1968), zuletzt i n Berlin, W i t w e des Justizrats Eduard Lange, Königsberg (1871—1938). Eine aus ihrer Feder stammende Niederschrift ist anschließend ebenfalls benützt. Oscar, der Vater dieser drei Brüder u n d der Frau Lange, hatte zunächst Germanistik studiert, mußte sich dann aber der Bewirtschaftung des Familiengutes Losgehnen zuwenden. Er und seine Frau M a r i a (geb. Kowalski, 1851—1935, aus Kinkeim, verstorben i n Losgehnen) ließen den K i n d e r n jede Förderung zuteil werden; es herrschten i m Elternhaus lebhafte geistige Interessen. Die besondere Neigung des jungen Friedrich ( „ F r i t z " ) tat sich schon früh kund, begünstigt durch einen Hauslehrer Borowski, der jeden Nachmittag m i t seinem Zögling und dem H u n d auf die Jagd ging. Das ungleiche Paar streifte so i n allen Jahreszeiten durch Feld und Wald. „ H e r r Borowski w a r der Ansicht, daß einem i m Sommer niemals zu heiß, i m Winter nie zu kalt sein dürfe. So trug er i m Sommer und Winter stets denselben Anzug, eine Gepflogenheit, die auch mein Bruder Fritz sein ganzes Leben lang beibehalten hat." Tischlers Beobachtungen galten also schon i n frühster Zeit der Vogelwelt seines Geburtsortes Losgehnen, der auch i n den Mannes- und Altersjahren regelmäßig das Ziel seiner Fahrten — meist zum Wochenende — war. Der nahe Kinkeimer See ist geradezu ein klassischer Platz i n der Ornithologie geworden. — M i t 10 Jahren kam Friedrich auf das Gymnasium Bartenstein. Er wurde Erster i n der Schule, um diesen Platz bis zum A b i t u r beizubehalten. I n den Beginn der Gymnasialzeit dürfte der Anfang eines selbstgefertigten Vogelbuches fallen, an das sich die Familie lebhaft erinnert. Friedrich zeichnete jeden Vogel, den er selbst schoß oder sonstwie erhielt, malte i h n an und schilderte schriftlich seine Eigentümlichkeiten, auch auf biologischem Gebiet. Frau Lange schreibt: „ F ü r uns jüngere Geschwister war das immer eine sehr aufregende Angelegenheit, an der w i r größten A n t e i l nahmen. Ich sehe die erste Seite m i t dem Gimpel noch vor mir. Das Buch war schließlich recht stattlich geworden und enthielt mindestens 200 Vögel; er behielt es bis zum Schluß der Schulzeit bei." Außerdem betätigte sich der junge O r n i thologe i m Präparieren. Sein erstes Werk war ein Schwarzspecht. Er sammelte ferner leidenschaftlich Insekten, für sich wie auch für andere (später z. B. Prof. von Lengerken). Er legte seine ganze Liebe und T a t k r a f t i n diese Arbeiten, auch noch, als er studierte (Königsberg, München und

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Tischler, Erforscher

der Vogelwelt

Ostpreußens

Leipzig), und zwar — keineswegs der wahren Neigung entsprechend — das juristische Fach. Nicht alle Ornithologen wissen, daß Friedrich Tischler auch i n der Botanik ein hervorragender Kenner war. Trotz seiner Bescheidenheit gab er selbst zu, daß er alle einheimischen (höheren) Pflanzen kannte, und zwar besonders gut auch schwierige Gruppen wie die Weiden (bei denen er auch die Mischlinge m i t einem Blick anzusprechen wußte) und die Gräser. Sehenswert w a r sein inhaltsreiches Herbar. Die Urlaubsreisen z. B. nach Oberbayern und ins Rheingebiet waren weitgehend durch floristische Neigungen bestimmt. Er hat die Flora auch dieser Gebiete in- und auswendig gekannt. Bei seinem Tode hinterließ Tischler eine Arbeit über die Hieraceen ( H a bichtskräuter), die es i h m besonders angetan hatten. A u f diesem Fachgebiet stand ihm — außer seinem Bruder — der Botaniker i n Königsberg, Professor D r . Mothes, freundschaftlich nahe. Friedrich Tischler hat 1902 seine juristischen Studien beendet und nach Verwendung an verschiedenen Gerichten 1908 zunächst als Assessor, dann als Amtsrichter, endlich als Amtsgerichtsrat i n Heilsberg Fuß gefaßt. Er hätte bei seiner hervorragenden Begabung leicht viel höher steigen können, doch hat er diese Möglichkeit von sich gewiesen, weil trotz treuer Pflichterfüllung die Verwaltungsarbeit für ihn M i t t e l zu dem Zweck war, Zeit für seine Studien zu gewinnen. Wie froh können w i r sein, daß Tischler sich so ganz ohne Berufsehrgeiz seinen besonderen Zielen aufsparte! Als Thienemann 1901 die Vogelwarte Rossitten gründete, konnte es nicht ausbleiben, daß die beiden Ornithologen miteinander i n immer engere Fühlung kamen. Zahlreich sind die Besuche, die Tischler i n Rossitten gemacht hat; gerade i n den späteren Jahren ist Rossitten auf der einen und Guja (mit den Freunden Walter und E d i t h von Sanden) auf der anderen Seite das Ziel alljährlicher Reisen gewesen. Sie galten keineswegs nur den Forschungen draußen — bei denen w i r immer wieder seine erstaunliche feldornithologische Gewandtheit bewundert konnten — , sondern auch einem geradezu sprudelnden Gedankenaustausch m i t Gleichgesinnten. Er fand auch mehr u n d mehr A n k l a n g und Ansprache i n Königsberg, w o 1925 m i t Prof. O. Koehler i m Zoologischen Institut der Universität lebhafte Anteilnahme an der Ornithologie Einzug hielt, ferner weithin i n Ost- und Westpreußen, so bei L . Döbbrick, A . Faber, Georg Hoffmann, Karoline Krüger, H . L ü t t schwager, F. Neubaur, O. Sandring, H . Sielmann, O. Steinfatt, G. Warnke, u m nur diejenigen zu nennen, die bis i n die jüngere Vergangenheit hinein15

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Ernst Schütz ragen; unter den alten Freunden sind hervorzuheben E. Hartert, A . Quednau, E. Christoleit — und viele andere, die i n seinen Büchern immer wieder als Gewährsleute auftreten. Allerdings beschränkt sich der Austausch m i t vielen fast ganz auf brieflichen Verkehr, da sein Hauptberuf nur wenige Reisen zuließ. Außerordentlich ist die Güte und Z a h l der Veröffentlichungen, die aus Tischlers Feder hervorgingen. I n erster Linie sind seine zwei Avifaunen zu nennen, v o n denen die eine der Vorläufer der anderen ist: „ D i e Vögel der Provinz Ostpreußen" (Berlin 1914) und „ D i e Vögel Ostpreußens u n d seiner Nachbargebiete" (2 Bände, Berlin und Königsberg 1941), die leider i n viel zu kleiner Auflage (rd. 500) erschienen sind. Bei der Wertung dieser Werke ebenso wie i m persönlichen Umgang fallen besonders zwei Eigenschaften ins Auge: Einmal der ungeheure Stoff an Einzeldaten, die er gewissermaßen jederzeit bereitliegen hatte, sowohl buchstäblich i n Form einer überaus genauen und zuverlässigen Blätterkartei (in der ζ. B. alle wichtigeren Einzelnotizen unseres Rossittener Tagebuchs verarbeitet waren) als auch bildlich dank seines geradezu unfaßlichen Gedächtnisses. Zweitens w a r bezeichnend die Vielseitigkeit der Betrachtungsweise, m i t der er seine zunächst vorwiegend faunistisch und chorologisch gerichteten Arbeiten durchführte. E i n außerordentlicher systematischer Scharfblick und eine Sammlung von 300 Stopfpräparaten und Tausenden von Bälgen setzten ihn instand, die Rassenzugehörigkeit i n dem so eigenartigen Übergangsgebiet Ostpreußen zu beurteilen. Er stand bei diesen Fragen i n enger Verbindung sowohl m i t dem Zoologischen Museum Berlin als audi m i t D r . h. c. O t t o Kleinschmidt i n Wittenberg, der drei für Ostpreußen kennzeichnende Unterarten (von Accipiter gentilis, Coloens monedula und Parus atricapillus) m i t „tischlert" bezeichnete. Gleichzeitig waren unserem Freunde audi die Fragen der ökologischen Unterschiede und Eigenarten w o h l vertraut, und die biologischen Gesichtspunkte treten i n seinem Werk v o n 1941 stark i n Erscheinung. Die Behandlung der einzelnen Vogelarten wurde gewöhnlich i n die Abschnitte gegliedert: Rassenf ragen — Verbreitung — Brutbiotop — A n k u n f t — Brutgeschäft — Verhalten nach der Brutzeit — Frühjahrszug — Herbstzug — Winteraufenthalt — Ernährung — Stimmlaute — Ringfunde — Aberrationen. Er hat bei den gut 350 i n Ostpreußen nachgewiesenen A r t e n und Rassen (1914 waren es erst 305!) unter diesen Titeln viele wichtige Unterlagen gesammelt, die erheblich über die Bedeutung einer Avifauna hinausragen. Er geht i n einem Anhang zu seinem Buch vor allem auf Grund der Arbeiten der Vogelwarte Rossitten noch auf den Vogelzug ein, ferner rück-

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Friedrich

Tischler, Erforscher

der Vogelwelt

Ostpreußens

schauend auf die Veränderungen i m Bestand der Vogelwelt und auf andere Einzelkapitel. Das Werk schließt m i t einem Schriftenverzeichnis von 1991 Nummern. O b w o h l die Nachbargebiete Ostpreußens nur i n beschränktem Maße berücksichtigt sind — die Form des Buchtitels ging nicht v o m Verfasser aus — , kann tatsächlich gerade auch für die angrenzenden Länder viel Wichtiges aus diesem Werk geschöpft werden. Tischler hat i n Ergänzung dazu eine Arbeit über die Vogelwelt des v o n i h m während des Krieges besuchten Urwalds von Bialowies hinterlassen; sie w i r d als Material i m Rahmen einer Monographie polnischer Verfasser Verwendung finden. Die mehr als 160 ornithologischen Einzelarbeiten sind vielfach faunistisch gerichtet, behandeln liebevoll Verbreitung und Ausbreitung besonders bemerkenswerter A r t e n (Nyroca fuligula, Phylloscopus trochiloides viridanus, Serinus serinus, Luscinia luscinioides u. v. a.), Gefiederentwicklung (ζ. B. Bucephala clangula, Bombycilla garrulus, Loxia curvirostra), Kennzeichnungen schwieriger A r t e n auch i m Feld (Calidris temminckii), Auftreten v o n Invasionsvögeln usw. usw.; es gibt w o h l kaum eine einst oder heute noch wichtige Frage i n dieser A r t , zu der Tischler m i t seinem reichen Wissen und weiten Gesichtskreis nicht Wesentliches hätte beitragen können. Wichtig w a r i h m auch die Geschichte der ornithologischen Erforschung seines weiteren Heimatgebietes, wie besonders aus seinen beiden Werken hervorgeht. Wie es bei Männern dieser A r t leicht ist, so wohnten Tischler manche Eigenheiten inne, die jedoch bei der Größe seines Geistes nicht ins Sonderlinghafte schlugen. Auch i m äußeren Auftreten den Tieferblickenden bald gewinnend und überzeugend, konnte er doch dem oberflächlichen Beobachter das B i l d des unpraktischen Gelehrten bieten. Er hielt sich i m allgemeinen von Veranstaltungen, ja sogar v o n den (auswärtigen) ornithologischen Versammlungen fern, sprach aber später fast jährlich einmal i m Rahmen der Physikalisch-Ökonomischen Gesellschaft i n Königsberg und beteiligte sich bei unseren Tagungen i n Rossitten tatkräftig, ihnen damit eine besondere N o t e verleihend. Bei diesem Blick auf das Persönliche darf nicht vergessen werden, daß Friedrich Tischler i n Rosa K o w a l s k i eine verständnisvolle, warmherzige Ehefrau gefunden hatte. Sie w a r am 31. 5. 1884 i n Pillau als Tochter des H a u p t manns Ernst Kowalski, Bruder von Tischlers Mutter, geboren. Sie half als Studienrätin noch i m zweiten Weltkrieg i n Heilsberg aus, und was ihrem Gatten auf schöngeistigem Gebiet nicht so nahe lag, das wußte sie als Ger15*

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Ernst Schütz manistin zu ergänzen. Die jährlichen Urlaubsreisen galten i n der 1922 geschlossenen Ehe daher nicht nur der Vogel- und Pflanzenwelt, sondern auch den Lebenswegen v o n Dichtern, unter denen Fontane i m Vordergrund stand. Aus der so glücklichen Ehe sprach eine echte geistige Übereinstimmung. Sie versagte auch nicht i n den dunkelsten Tagen, als die beiden am 31. Januar 1945 freiwillig das Leben endeten, i n dem geliebten Losgehnen, das sie trotz Drängens nicht verlassen wollten. Wenden w i r wieder den Blick auf das Leben des Freundes. Es spielte sich abseits, äußerlich gesehen i n der provinziellen Atmosphäre, ab, und doch w a r es von Reichtum erfüllt. Es hat Tischler auch an äußeren Ehren nicht gefehlt. Er gehörte seit 1923 dem Ausschuß der Deutchen Ornithologischen Gesellschaft an, und er wurde als wichtigster Außenmitarbeiter der Vogelwarte zum wissenschaftlichen M i t g l i e d der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft berufen, ebenso zum M i t g l i e d des Forschungskreises der Albertus-Universität. Diese verlieh i h m am 12. Februar 1941, dem Kant-Kopernikus-Tag, die Würde eines Ehrendoktors; ihm, „dem unermüdlichen und erfolgreichen Erforscher der ostpreußischen Pflanzen- und Tierwelt, dem führenden Vogelkenner Ostpreußens". Sein Werk bildet auch unter den gänzlich veränderten Verhältnissen v o n heute eine bleibende Grundlage.

N A C H R U F E DES G Ö T T I N G E R A R B E I T S K R E I S E S E. V .

Joachim Freiherr von Braun (1905—1974) M i t steilen deutschen Buchstaben schrieb er seinen Namen. So w a r der ganze M a n n : kantig, energisch, selbstbewußt. Auch wer i h n nicht persönlich kannte, zollte i h m Respekt. Joachim Freiherr v o n Braun ging gerade Wege. Das Leben dieses Mannes ist kein Stoff für einen Nachruf i m herkömmlichen Stil. W o h l bedeutet die Nachricht von seinem Tode i n den Morgenstunden des 8. Juni 1974 i n Göttingen, daß Abschied v o n dem genommen werden muß, was sterblich an i h m war. Er w i r d nicht mehr an seinem Schreibtisch i m Gebäude des Göttinger Arbeitskreises sitzen, dem er von den Anfängen 1947 als Vorstandsmitglied und Geschäftsführer diente. Er w i r d auch nicht mehr die Vorstandssitzungen der Landsmannschaft Ostpreußen leiten, deren Sprecher er als Nachfolger v o n Reinhold Rehs war. Das Besondere an Joachim von Braun war, daß seine Persönlichkeit hinter der Sache zurücktrat, der er sich m i t allen Fasern seines Herzens, aller K r a f t seines Verstandes verpflichtet hatte. N u r wenigen Vertrauten Schloß er sich über den Kreis seiner Familie hinaus als Privatmann auf. V o n sich selber sprach er sehr selten. Sein Denken und Handeln galten V o l k und Staat. Es gibt manche Möglichkeiten, sich bei der U m w e l t den R u f eines unbequemen Zeitgenossen zu verschaffen, aber nur eine, welche Persönlichkeit ausmacht: Unbequem m i t sich selber zu sein. Das ist etwas anderes als landläufiger Ehrgeiz, der stets Beifall und Gehör nur zur egoistischen Befriedigung des eigenen Selbstbewußtseins anstrebt. Wer ohne lärmende Aufdringlichkeit bewußt auf ein bequemes Lebens verzichtet, u m seine Fähigkeiten u n d Arbeitskraft ganz i n den Dienst der Gemeinschaft stellen zu können, der hat für sich eine Entscheidung getroffen, die zugleich über das Private hinaus w i r k t : Die Person t r i t t hinter der A u f gabe zurück. Solche Menschen verlangen nicht nach großen Worten über sie und ihre Leistung, sondern sie wünschen, daß alle Energien unmittelbar auf die Bewältigung der uns gestellten Aufgabe gerichtet werden: Für die Überwindung der Teilung Deutschlands i n Frieden und Freiheit zu arbeiten.

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Nachrufe des Göttinger Arbeitskreises

e. V.

Braun entstammte einer alten schlesisch-ostpreußischen Familie u n d wurde am 1. September 1905 i n Gerdauen als Sohn des Landrats geboren. I n K ö nigsberg besuchte er das Friedrichs-Collegium, studierte an den Universitäten Bonn und Königsberg die Reditswissenschaften und trat nach Ablegung des Staatsexamens 1932 i n den Verwaltungsdienst ein, und zwar bei der Landstelle Stettin. Seit Ausbruch des Krieges diente der Reserveoffizier als Regimentsadjutant beim pommerschen I . R. 409 und i n der Org. A b t . des O.K.H. Die N o t des Vaterlandes, der Raub der ostdeutschen Provinzen und die Vertreibung der Millionen Einwohner aus ihrer angestammten H e i m a t ließen Braun auf eine sicher erfolgreiche Fortsetzung einer Beamtenlaufbahn i m Verwaltungsdienst nach Ende des Krieges verzichten und 1946 unter den ärmlichsten Verhältnissen i n Göttingen die Arbeit für den deutschen Osten und seine Menschen aufnehmen. I n der niedersächsischen Universitätsstadt hatten sich nach 1945 einige Männer zusammengefunden — an ihrer Spitze der ehemalige v o n H i t l e r verjagte ostpreußische Landrat D r . W o l f Freiherr v o n Wrangel und der letzte K u r a t o r der Königsberger Universität D r . Friedrich H o f f m a n n — , die Denkschriften ausarbeiteten, u m Bedeutung und Wert der deutschen Ostprovinzen für Deutschland und Europa jedermann und insbesondere den westlichen Alliierten zu verdeutlichen. Ihnen schloß sich Braun an und übernahm die Geschäftsführung jenes Zusammenschlusses, der dann unter der Bezeichnung „Göttinger Arbeitskreis" weltweite Beachtung erlangte. I n einem Lebensalter, i n dem andere eine sichere berufliche und soziale Position innehaben, lebten der Arbeitskreis und Braun von Woche zu Woche von Spenden. Diese Jahre der außerordentlichen Unsicherheit endeten erst 1950, als die erste Bundesregierung Adenauer eine Förderung des Arbeitskreises als eine der Präambel des Grundgesetzes gemäße Aufgabe erkannte. Dabei blieb der Arbeitskreis unter seinen Präsidenten Professor Herbert Kraus und Professor Boris Meissner und der Geschäftsführung durch Braun stets ein unbequemer Beobachter und Ratgeber i n Fragen der Deutschlandu n d Ostpolitik. Diese kritische H a l t u n g konnte u m so überzeugender eingenommen werden, als sie nicht auf kurzsichtigen Absichten, sondern auf einer Grundauffassung beruhte, die Anspruch auf überzeitliche Geltung hat. Gerade Braun hat diese Grundauffassung immer wieder deutlich gemacht. So i n einem an Kants E n t w u r f „ Z u m ewigen Frieden" orientierten Aufsatz 1965 über die Grundlagen einer rechtsstaatlichen Außenpolitik, i n dem er

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Nachrufe des Göttinger Arbeitskreises

e. V.

ausführte: „ D i e gegenwärtige Lage Deutschlands, seine Teilung an Elbe und Werra, durch die Mauer i n Berlin und durch die rechtswidrige O k k u p a t i o n seiner Ostprovinzen macht es leicht, den Prüfstein zu finden, auf dem erprobt werden kann, ob das einstige Rechtsbewußtsein der Deutschen wiedererstanden ist, empfindsam reagiert und Rechtsverletzungen i n einheitlicher Geschlossenheit und m i t aller verfügbaren K r a f t begegnet. Ob die Rechtsstaatlichkeit i m Inneren echt, haltbar oder nur Schein ist, der leichtem A n stoß weicht, muß bei uns zulande zuerst dort gemessen werden, w o es u m die Wiederherstellung der äußeren Rechte des Staates geht. Werden diese nicht m i t größtem Nachdruck, m i t dem W i l l e n aller vertreten, so kann es um das Rechtsbewußtsein der Bürger, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und m i t h i n um die Rechtsstaatlichkeit überhaupt nur schlecht bestellt sein." A l l denen, welche den v o n Braun aufgezeigten Prüfstein der Rechtsstaatlichkeit als „juristischen Rigorismus" verunglimpfen, weil er ihnen ein lästiges Hindernis bei ihrem grundsatzlosen politischen Pragmatismus ist, hielt Braun entgegen: „Diese Ratgeber scheinen allerdings regelmäßig zu empfinden, daß die von ihnen dem Recht gegenüber empfohlene Passivität nicht überzeugend w i r k t , daß sie vielmehr gar zu leicht als bloßes Ergebnis der Furcht erscheint, die allein nicht Ratgeber sein kann und die auch den Bestand des restlichen Staates gefährden muß. Deswegen pflegen sie nach zusätzlichen Gründen zu suchen, die für eine Nichtachtung des Rechts sprechen könnten. E i n Katalog von vermeintlich sittlichen Geboten ist entwickelt worden, die angeblich Deutschland die Geltendmachung seiner Rechte verwehren sollen". Wer einen transzendentalen Schuldbegriff zur Begründung politischer Ratschläge verwende, der sollte der warnenden Worte Kants eingedenk bleiben, der die Berufung auf „göttliche Zwecke" für eine „törichte Vermessenheit des Menschen" erklärte. Denn auf eine überirdische Entscheidung „ z u schließen, ist ungereimt und v o l l Eigendünkel, so fromm und demütig auch die Sprache hierüber lauten mag". Eine tief wurzelnde Religiosität ließ den Gerdauener Landratssohn Joachim von Braun zu einem der gewichtigsten Gegner jener Pseudo-Christen werden, welche Versöhnung predigen und Hinnahme v o n Unrecht und Gewalt meinen. Trotz bitterer Enttäuschungen sagte er sich nicht v o n seiner evangelischen Kirche los, sondern half tatkräftig mit, die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher" zu begründen und aufzubauen, die ein Abwehrzentrum gegen politischen Mißbrauch der Heiligen Schrift wurde. Braun wußte sich

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Nachrufe des Göttinger Arbeitskreises

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geborgen i n der Glaubensgewißheit, daß G o t t nicht nur Gericht hält, sondern auch die Gnade zur Überwindung des Übels gewährt. Dieser ostdeutsche Patriot opferte sich für sein V o l k und Vaterland auf. Er war kein Tagträumer, sondern ein nüchterner Realist, der die Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart erkennt und für eine bessere Z u k u n f t zu nutzen sucht. Braun wußte, daß ein langer A t e m erforderlich ist, um die Verirrungen der Zeit durchzustehen, ein langer Atem, wie ihn nicht nur eine Generation aufzubringen hat. H e r b e r t M a r z i

Werner Weber (1904—1976) „Manche geben vor, der provisorische oder fragmentarische Charakter der Bundesrepublik stehe dem entgegen, daß man sich noch für den deutschen Staat engagiere. Sicherlich ist die Bundesrepublik ein Fragment, wenn man Deutschland als Ganzes i m Auge hat, und gewiß ist sie ein Provisorium i m Hinblick auf die Aufgabe, den gesamtdeutschen Staat wieder herzustellen. Gerade deshalb aber muß sie, über sich selbst hinausweisend, sich u m so fester i n der Identität m i t dem überlieferten deutschen Staat, i n der Legitimität ihrer Staatlichkeit, i n ihrer Handlungsfähigkeit als Staat der Deutschen und i n der Hingebung ihrer Bürger gegründet wissen. Das gilt gleichermaßen unter den Aspekten einer P o l i t i k der Wiedervereinigung wie unabhängig v o n i h r . " Dieses Z i t a t stammt aus der Schrift v o n Werner Weber, die er 1967 unter dem T i t e l „ D e r deutsche Bürger und sein Staat" veröffentlichte. Der Staat und seine Probleme hat i m Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit Werner Webers gestanden. Der am 31. August 1904 i n W ü l f r a t h i m Bergischen L a n d geborene Jurist trat nach seiner Promotion bei Carl Schmitt 1930 i n die preußische Verwaltung ein. Aber 1935 ging er i n die akademische Laufbahn über, die er als Ordentlicher Professor für öffentliches Recht an der Wirtschafts-Hochschule Berlin begann. 1942 folgte er einem R u f nach Leipzig und 1949 übernahm er den Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen. 1956 bis 1958 leitete er die Geschicke dieser Universität als Rektor. E i n M a n n wie Werner Weber zog sich nicht i n den T u r m der reinen Wissenschaft zurück, sondern nahm am öffentlichen Leben regen und verant-

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wortungsvollen Anteil. So hat er dem Lande Niedersachsen als langjähriges M i t g l i e d des Staatsgerichtshofes gedient, hat beratend an der Abfassung der vorläufigen niedersächsischen Verfassung mitgewirkt und w a r M i t g l i e d i n vielen Beiräten und Ausschüssen v o n Ministerien, Verbänden und Behörden. Die Sorge vor einer Auflösung und Zerstörung staatlichen Denkens durch ein Phänomen „Gesellschaft", also einen verantwortungslosen und pflichtfreien Begriff der Soziologie, hat Werner Weber erfüllt. Er mahnte, daß die ganze westliche W e l t „ v i e l v o m I n d i v i d u u m und von seinen Wünschen und Lebenserwartungen" wisse, „ w e n i g aber davon, daß die Individuen nicht nur für sich, sondern auch als Gemeinschaftswesen existieren und daß ihre sie schützende u n d haltende Gemeinschaft eben der Staat ist." Werner Weber betonte, daß es notwendig sei, die konstitutionelle Schwäche der westlichen Demokratien zu überwinden, wenn sie sich auf die Dauer gegen robustere Kräfte behaupten wollen, die sich zur Beherrschung dieser Erde anschicken möchten. Er erklärte dazu: „ E i n schlichtes, selbstsicheres Vaterlandsbewußtsein ist hier eine große u n d sogar die verläßlichste H i l f e " . Er schrieb weiter: „Es ist billig, aber unklug, darüber die Nase zu rümpfen. Denn i n diesem überall i n der W e l t vorgefundenen Tatbestand, für den das W o r t Vaterlands- oder Staatsbewußtsein steht, haben w i r den einfachen und allen begreifbaren Ausdruck eines elementaren menschlichen Instinkts der Selbstbehauptung i n der politischen Gemeinschaft zu erkennen. W e i l das so ist, warnen w i r davor, i n Verlegenheit, Skepsis oder intellektuellem Besserwissen die Bereitschaft zum Staat zu verflüchtigen". A m 29. November 1976 ist Werner Weber i n Göttingen verstorben. Herbert Marzian

Ernst Vollert (1890—1977) Ernst Vollert w a r ein Sohn Westpreußens, w o er am 25. August 1890 i n K ö n i t z geboren wurde. Er studierte i n Marburg und Berlin die Rechtswissenschaften, legte sein Referendarexamen 1912 ab und leistete i m gleichen Jahr seinen Wehrdienst beim Feldartillerie-Regiment 36 i n Danzig ab. Aus seinen für seine Familie niedergeschriebenen umfänglichen Lebenserinnerungen geht hervor, daß er damals schwankte, ob er statt einer Beamtenlaufbahn den Offiziersberuf ergreifen solle. Der Beginn des Ersten Weltkrieges brachten dem jungen Artilleristen die ersten Bewährungen. Er nahm an der Schlacht bei Tannenberg teil und

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wurde am 3. Oktober 1914 zum Leutnant der Reserve ernannt. D i e W i n terschlacht i n Ostpreußen, der Vormarsch i m Baltikum, Einsatz i n Galizien, schließlich seit 1917 an der Westfront, darunter Teilnahme an der Erstürmung des Kemmel 1918, waren die Stationen des Artillerieoffiziers Vollert. Das Eiserne Kreuz I . K l . und der Hohenzollernorden m i t Schwertern, auf den er besonders stolz war, waren die äußeren Ehrungen für Tapferkeit und Umsicht. Der 9. November 1918 beendete den Weltkrieg. Ernst Vollert hat 1964 i n seinen Lebenserinnerungen zu diesem Tage geschrieben: „ A l s w i r die Bedingungen hörten, die uns auferlegt wurden, habe ich geweint, und ich schäme mich dieser Tränen nicht." Das Regiment Vollert demobilisierte i n Marienwerder, w o es von Bürgermeister D r . Goerdeler feierlich begrüßt wurde. Z u Ehren der heimgekehrten Soldaten gab es eine Festvorstellung m i t Lessings „ M i n n a v o n Barnhelm". Welch eine bedeutungsvolle Ehrung, die Stimmung und Geist der damaligen Zeit kennzeichnet. Als nunmehr 30jähriger M a n n begann Ernst Vollert seine Beamtenlaufbahn, die ihn über Tätigkeiten beim Amtsgericht Elbing, i n der Finanzverwaltung Berlin, schließlich i m Reichsfinanzministerium i n das Reichsinnenministerium führte. H i e r übernahm er Aufgaben, die den Westpreußen, dessen Heimat durch den Versailler Vertrag zu Polen gekommen war, ganz persönlich erfüllten. Er war für Fragen und Probleme der Ost- und Westhilfe zuständig, d. h. für den ganzen Bereich v o n Maßnahmen, m i t denen die Auswirkungen der Versailler Grenzziehungen und Abtretungen zu mildern, aber auch ihnen zu begegnen waren. Vollerts Verdienste i n der Vorbereitung und Durchführung der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 wurden m i t der Ernennung zum Ministerialrat gewürdigt. I n seinen Lebenserinnerungen hat er festgehalten, daß Reichsinnenminister D r . Frick bei der Überreichung der Ernennungsurkunde, die auf den 18. Januar 1935 datiert war, ausdrücklich auf dieses historische D a t u m des Reichsgründungstages hingewiesen habe. E i n Jahr darauf übernahm D r . Vollert jene Abteilung i m Reichsinnenministerium, welche für Volkstumsfragen, für die Rettung v o n K u l t u r g u t i m Osten, für Staatsangehörigkeitsfragen, die Fragen der Minderheiten i m Reichsgebiet, aber auch für das Vermessungswesen und Sport zuständig war. Die i n diesem Ressort geleistete Arbeit harrt noch der wissenschaftlichen Würdigung. Dazu w i r d auch gehören müssen, was Ernst Vollert i n seinen Erinnerungen über die Verhandlungen m i t Polen berichtet hat, die infolge des Ablaufes des Genfer Abkommens über Oberschlesien m i t seinen Minderheitenschutzbestimmungen am 15. Juli 1937 erforderlich wurden.

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Was der Ministerialdirektor Vollert vor nunmehr 40 Jahren dabei erlebte, dürfte nicht nur von zeitgeschichtlichem Interesse sein. Er berichtet: „ H o f f nungsfroh planten Auswärtiges A m t und Reichsministerium des Innern weitere Verbesserungen. Leider wurden unsere Hoffnungen auf Erhaltung und Verbesserung dieses v o m Völkerbund abgeschlossenen Abkommens getäuscht. I n langwierigen Verhandlungen i n K ö l n , Warschau, H a m b u r g zeigten die polnischen Regierungsvertreter i n technischen Fragen — Telefon, Bahnverkehr, Energieaustausch, Wasserregelungen — lebhaftes Entgegenkommen, lehnten aber die Erhaltung, geschweige denn Verbesserung des Minderheitenschutzes i n jeder Form ab. Bis i n die tiefe Nacht v o r dem Stichtag, 14. Juli 1937, rangen i n K a t t o w i t z die beiderseitigen Vertreter um die Erhaltung wenigstens der primitivsten Schutzrechte i n Arbeit und Schule. Vergebens! Auch der Vorsitzende der Gemischten Schiedskommission, A l t b u n despräsident Calonder/Schweiz, bedauerte sehr das Scheitern der Verhandlungen und suchte die Schuld nicht auf der deutschen Seite. Später erkannten w i r , daß die ablehnende H a l t u n g Polens nicht einer momentanen T a k t i k , sondern einer zielbewußten Grundhaltung Polens entsprang. Trotz des einwandfreien Scheiterns der Ausgleichsverhandlungen bemühte sich der M i t arbeiterstab des A . A . — natürlich nicht des „Büros Ribbentrop" — um neue Verständigungsversuche, die ich m i t allen Kräften unterstützte, was manchen Gauleitern wenig gefiel. I n verzweifelten Anstrengungen war es dem Α . A . gelungen, die beiderseitigen Staatsoberhäupter zu einem Empfang ihrer Minderheitenführungen zu bewegen. Während aber H i t l e r am 4. 11. 1937 sich fast eine Stunde lang unter Anwesenheit der Ressortminister m i t den drei Leitern des Bundes der Polen i n Deutschland interessiert und eindrucksvoll unterhielt, verlief der Empfang der deutschen Volksgruppe i n Polen durch den polnischen Staatspräsidenten auf seinem Schloß Weichsel lediglich als kurzer, formaler A k t . W i r hatten vor diesen Empfängen sehr mühevoll die Freilassung von sieben inhaftierten Oberschlesiern, die wegen bewiesener Teilnahme an polnischen Militärübungen einer recht ernsten A n klage entgegensahen, erwirkt. Die erhoffte polnische Gegenleistung blieb wieder aus." Auch ein weiterer Abschnitt aus den Erinnerungen Ernst Vollerts hat mehr als nur zeitgeschichtlichen Wert: „ D i e Verständigungsversuche m i t Polen verliefen weiterhin nahezu erfolglos. Als m i t deutscher H i l f e nach der Beilegung der Sudetenkrise 1938 Polen das wichtige Olsagebiet erhielt, wurde das Olsadeutschtum viel schärfer als von den Tschechen v o n den Polen drangsaliert, verfolgt, zur Flucht genötigt. Die deutschen Einsprüche w u r -

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den, fast m i t Erstaunen, zurückgewiesen. Die seit langem vorbereiteten, angemeldeten Verhandlungen m i t Polen über Verbesserung des Minderheitenschutzes fanden i n Warschau kein Gehör. Nach einer unfreundlichen, kurzfristigen Absage — wegen ,anderweitiger Beanspruchung' — erschien schließlich i m M ä r z 1939 eine polnische Delegation zu Verhandlungen i n Berlin. Ich hatte die deutsche Delegation zu führen. Bei dem üblichen Empfang i m Auswärtigen A m t wies Staatssekretär von Weizsäcker i n würdiger Form die beiden Delegationen auf den Ernst der Lage, die Bedeutung gerade dieser Verhandlungen h i n — soeben hatten wegen eines belanglosen Zwischenfalles i n Zoppot die deutschen Fensterscheiben auf polnischem Gebiet von der Ostsee bis K r a k a u unter polnischen Steinwürfen geklirrt — und bat i n eindringlichen Worten um beiderseitigen guten W i l l e n zur Verständigung. Als ich darauf i m Reichsministerium des Innern die Verhandlungen eröffnete und u m Vorschläge zur Tagesordnung bat, verlangte der polnische Ministerialdirektor i n nahezu ultimativer Form, erst die Beschwerden der polnischen Volksgruppe i n Deutschland zu beantworten, ehe er i n die Verhandlungen eintreten würde. Als ich i h m unverblümt meine Meinung über Wesen und Zweck von Verhandlungen sagte, sah er vermutlich ein, zu weit gegangen zu sein und fügte sich unserer Tagesordnung. Ich habe an zahlreichen deutschen und internationalen Verhandlungen teilgenommen, aber nie einen derartigen Mangel an Verständigungsbereitschaft gefunden wie i n dieser harten, bitteren Woche. Selbst bei kulturellen Fragen, wie der Erhaltung bestehender Schulen, ζ. B. der früheren Anstalten i n Beuthen, Marienwerder einerseits, Posen, Bromberg andererseits, w a r eine von uns angestrebte Ausgleichslinie nicht zu erreichen. Selbst ein besänftigendes Kommuniqué, das die Sorgen der beiderseitigen Minderheiten abmildern konnte, w a r auch i n letzter Stunde von der polnischen Delegation nicht zu erreichen. Bald stellte sich heraus, daß Polen bereits damals das englische Hilfsversprechen erhalten hatte! Sorgenvoll reichte ich meinen düsteren Abschlußbericht über das Scheitern der von uns ersehnten Verhandlungen meinem Minister und dem Auswärtigen A m t ein." Der Zweite Weltkrieg zog dann den tragischen Schlußstrich unter die Tätigkeit Ernst Vollerts. Bevor der A n g r i f f auf Polen am 1. September 1939 begann, hatte er noch eine Aufgabe übertragen erhalten, die hier aus zeitgeschichtlichem Interesse erwähnt zu werden verdient. A m 25. August wurde Vollert, der bereits seit Anfang des Monats zu einer Übung bei seinem Regiment i n Neustettin einberufen war, beauftragt, ein Abstimmungsstatut nach dem Muster des saarländischen Abstimmungsstatutes auszuarbeiten, das

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bei einer Abstimmung i n Westpreußen Anwendung finden sollte. Vollert schreibt dazu: „Es ist nicht auszudenken, wie günstig es gewesen wäre, wenn dieser Plan m i t der Abstimmung, der der Vernunft entsprach, Wirklichkeit geworden wäre." M i t Unterbrechungen hat Vollert am Kriege als Soldat teilgenommen, zuletzt als Oberst d. Res. Eine der Unterbrechungen sollte die Aufgabe werden, Chef der Z i v i l v e r w a l t u n g i n Westpreußen zu sein. Aber der Beamte Vollert preußischer Schule k a m sofort in scharfem Gegensatz zu den A n sprüchen der N S D A P , insbesondere zu Gauleiter Forster. V o l l e r t kehrte zu seinem Regiment zurück. Er wurde i n den Feldzügen i n Frankreich und i n Rußland eingesetzt. Eine schwere Erkrankung machte ihn dienstuntauglich. I m Frühjahr 1943 nahm er seine Tätigkeit i m Ministerium wieder auf, dabei k a m er zum erstenmal über den preußischen Finanzminister Popitz m i t Kreisen des Widerstandes i n Berührung. I m Spätsommer 1943 enthob ihn H i m m l e r , der das Reichsinnenministerium v o n Frick übernommen hatte, seines Postens. Er wurde nach Prag als Amtschef des neuen Reichsprotektors Frick versetzt. I n seinen Lebenserinnerungen hat Vollert die Bedeutungslosigkeit des Reichsprotektors und die unheilvolle Tätigkeit des Ministers K a r l - H e r m a n n Frank belegt. I n der Nacht v o m 22. zum 23. Juli 1944 wurde Ernst Vollert von der Gestapo i n Prag verhaftet. Er w a r i n der Planung der Gruppe des 20. Juli als Oberpräsident einer Provinz vorgesehen. N u r dem Zufall, daß der vernehmende SS-Offizier i n Prag ein Korpsbruder v o n Vollert war und ein verharmlosendes Protokoll aufsetzte, hatte Vollert es zu verdanken, daß er nach zwei Wochen aus der H a f t entlassen, aber unter Polizeiaufsicht gestellt wurde. Vollert blieb i n Prag, erlebte und überlebte durch glückliche Fügungen den Prager Aufstand i m M a i 1945, wurde i m Elendsmarsch und getrennt von seiner Frau nach Thüringen ausgetrieben. I n Bad Hersfeld, das die letzte Station seines Lebens werden sollte, traf Ernst Vollert m i t Frau und Familie wieder zusammen. Ernst Vollert hat i n den folgenden Jahren jede N o t , jede Bitterkeit, jede Erniedrigung deutschen Schicksals getragen. A m Aufbau eines neuen freiheitlichen deutschen Staates w a r er beteiligt als geschätztes M i t g l i e d einer Bundeskommission für die Verwaltungsvereinfachung. 16

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Neben seiner Rechtsanwaltspraxis hat er sich besonders verdient gemacht u m die Einrichtung und Ausgestaltung der Bad Hersfelder Festspiele i n der Stiftsruine. I n den über drei Jahrzehnten seiner Tätigkeit haben dem Göttinger Arbeitskreis bis zu ihrem Lebensende i m Vorstand gedient: K u r a t o r D r . h. c. Friedrich Hoffmann, Prof. D r . Götz von Seile, Oberpräsident D r . W i l h e l m K u t scher, Vortragender Legationsrat I . K l . Gotthold Starke, Prof. D r . Herbert Kraus, Joachim Werner von Braun. M i t seinem T o d am 3. Februar 1977 in Bad Hersfeld gehört D r . Vollert zu ihnen.

Herbert Marzian

K u r t Forstreuter (1897—1979) K u r t Forstreuter war ein Ostpreuße, fest i m Lande verwurzelt, m i t Blick i n die weite Welt. Das mag ein Erbe seiner Vorfahren gewesen sein, die aus dem Salzburgischen einwanderten und sich m i t Hugenotten mischten. I m D o r f Weedern unweit von Ragnit ist er am 8. Februar 1897 auf väterlichem Gut geboren worden. Er wuchs i m Grenzland auf, dem er zeit seines Lebens eine besondere Aufmerksamkeit widmete. I n einer autobiographischen Aufzeichnung erklärte er: „ D i e Grenze, und was dahinter war, hat schon früh meine Phantasie beschäftigt." Forstreuters Mahnung sollte gerade i m Blick auf den Osten gehört werden: „Unkenntnis der Nachbarvölker hat i n Deutschland manchen Schaden angerichtet." Nach der Gymnasialzeit i n Tilsit studierte er Geschichte und Germanistik i n Königsberg und Berlin, w o er 1923 promovierte. I m Preußischen Geheimen Staatsarchiv i n Berlin-Dahlem trat er i n den Vorbereitungsdienst ein und wurde zum 1. Juli 1927 nach den Examina an das Königsberger Staatsarchiv versetzt. Es sei für ihn ein „bewegender Augenblick" gewesen, als er sich i n der Archivverwaltung meldete, die damals noch über dem „Blutgericht" i m Königsberger Schloß untergebracht war. M i t der ihm eigenen nüchternen Beobachtungsgabe notierte er seinen ersten Eindruck so: „Alles w a r eng, spartanisch einfach, altmodisch, sozusagen ,preußisch', wie es manche ausdrücken würden." Diesem Archiv ist er treu geblieben, blieb er bis zu seiner Pensionierung aus Neigung und auf dienstliche Weisung verbunden. Sein jede Enge sprengendes Interesse für die Weltläufe fand i n den Königsberger Archivalien eine adäquate Befriedigung. Er schrieb einmal: „ N i c h t zuletzt ist das Archiv des

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Deutschen Ordens, der ja nicht nur i n Preußen, sondern i n ganz Deutschland, ja i m ganzen Mittelmeerraum seine Besitzungen hatte, nicht nur ein preußisches, sondern ein gesamteuropäisches Archiv m i t vielen Beziehungen zu allen Nachbarn. α So drängte es i h n unablässig, sich die Archivalien durch unmittelbare Erfahrung der Welt auf Reisen zu verlebendigen. Forstreuter kannte die ö r t lichkeiten, von denen i n den Urkunden die Rede war. Er kannte die Nachfahren der Völker, ihre Eigenheiten, ihre Mentalität, denen er i n seinem Archiv als Handelnde oder Duldende begegnete. U n d eine andere Erkenntnis hat er uns hinterlassen: „Ich habe gerade als Archivar des Staatsarchivs Königsberg den ganzen Wechsel der Geschichte unserer Zeit besonders intensiv erlebt, habe erkannt, daß alles fließt und nichts beständiger ist als der Wechsel". Aus dieser Erkenntnis empfahl er dem Historiker nicht zu weit i n die Z u k u n f t zu blicken. M a n werde immer wieder durch unvorhersehbare Wendungen überrascht. Bis 1943 w a r Forstreuter i n Königsberg tätig, dann wurde er zum Wehrdienst einberufen. Er geriet i n jugoslawische Gefangenschaft, i n der er Schreckliches erlebte. N u r eine schwere Erkrankung rettete ihn vor einem schmählichen Tod. Nach der Entlassung kehrte er als erstes nach Berlin zurück. D o r t arbeitete er i n einem Dienstzimmer m i t m i t Brettern vernagelten Fenstern, i m Mantel nur kümmerlich v o r der Kälte geschützt. 1952 kehrte er zu seinen Königsberger Schätzen zurück, die i n der Kaiserpfalz zu Goslar ausgelagert waren. Er erhielt die Leitung übertragen und richtete das Staatliche Archivlager i n Göttingen ein. Es wurde unter seiner Leitung eine fleißig genutzte Studienstätte vieler Doktoranden und von Besuchern aus N a h und Fern. Selbstverständlich stand es auch Wissenschaftlern aus Polen offen. I n zahlreichen Veröffentlichungen und Editionen hat Forstreuter zur Verbreitung neuer Kenntnisse von der Ordensgeschichte und vor allem der Beziehungen zwischen ihm und den östlichen Nachbarvölkern beigetragen. I m Göttinger Arbeitskreis w a r er ein stets hilfsbereites Beiratsmitglied, dem viele gute Ratschläge und manche Veröffentlichung zu verdanken ist. „Sich selbst und seinen Ursprüngen treu bleiben", so hat er seine Lebensdevise formuliert. Der Abschied von K u r t Forstreuter, der am 26. Februar 1979 nach schwerer Krankheit v o n uns ging, mag durch das Bewahren eines Rates von i h m ein wenig erleichtert werden: „ W i r haben unsere H e i 16*

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mat verloren, sind vertrieben worden, haben nicht nur unsere ganze materielle Habe, sondern viele auch die schriftlichen und bildlichen Zeugnisse unseres bisherigen Daseins zurückgelassen. V o n dem, was uns geschehen ist, berichtet selten ein Aktenstück, kein Lied, kein Heldenbuch. Wenn w i r nicht selbst darüber berichten«. H e r b e r t M a r z

Friedrich-Wilhelm Neumann (1899—1979) Aequitas-Dignitas-Firmitas-Amor patriae. Diese Begriffe der römischen Philosophie haben Professor D r . Friedrich-Wilhelm Neumann ausgezeichnet, der am 23. Juli 1979 i n Mainz von uns gegangen ist. M i t Gleichmut, Würde und Festigkeit hat er sein Schicksal gelebt: Geboren am 1./13. Dezember 1899 i n St. Petersburg, Studium der Germanistik, Slawistik, Geschichte und Philosophie i n Königsberg, Jena und München als Werkstudent, 1925 Promotion und 1935 H a b i l i t a t i o n an der Albertus-Universität zu Königsberg/ Pr. für das Fach Slawische Philologie, das er dann noch an der Greifswalder Universität vertrat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Neuanfang als Heimatvertriebener unter bedrückenden Verhältnissen an der Hamburger Universität, bis 1955 der R u f an die Johann-Gutenberg-Universität i n Mainz erfolgte. I n H a m b u r g und Mainz hat Neumann wesentlich dazu beigetragen, daß deutsche Wissenschaft nicht ostblind geworden ist. I n Hamburg ist das Slawische Seminar, i n Mainz — gemeinsam m i t G o t t h o l d Rhode — das Institut für Osteuropakunde Friedrich-Wilhelm Neumanns Werk. W i r nehmen aber auch Abschied von einem Mann, der sein Vaterland liebte. Er tat es nicht still für sich, sondern suchte gerade der Jugend A m o r patriae einzupflanzen. I m Mainzer Schloß beendete er am 2. M a i 1975 seine Rede anläßlich des 90. Stiftungsfestes des Vereins Deutscher Studenten an der Albertina zu Königsberg m i t diesen Sätzen: „ A u f dem Wawel i n Krakau, dem Schloßberg an der Weichsel, steht die Grabkirche der polnischen Könige; über den Särgen lesen w i r die Inschrift: ,Corpora dormiunt, vigilant animae c — die Körper schlummern, es wachen die Geister'. Das ist ein Ausdruck dafür, daß das polnische V o l k , dessen Geschichte voller Rückschläge ist, sich zu dieser nationalen Geschichte bekannt hat und, wie die Gegenwart zeigt, m i t Erfolg bekannt hat. Lernen w i r daraus. Wollen auch w i r uns zu den guten

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Geistern unserer Geschichte bekennen und dafür arbeiten, daß eines Tages unser Vaterland wieder ersteht, ungeteilt und unangefochten: ,Das ganze Deutschland'

Herbert Marzian

Friedrich Hoßbach (1894—1980) Friedrich Hoßbach hat seit 1962 dem Vorstand des Göttinger Arbeitskreises angehört. M i t seiner Berufung wurde eine Persönlichkeit geehrt, die zutiefst von jenem preußischen Ethos geprägt war, das hohe Ansprüche an sich selber zu stellen und begründete Auffassungen gegenüber jedermann zu vertreten lehrt. Bereits i n jungen Jahren hat der am 21. November 1894 als Sohn eines Oberlehrers i n Unna geborene Hoßbach sich dem Dienst dem Staat gegenüber verpflichtet gesehen. Auch die Abkommandierung als Kadett zum M i t schüler eines Hohenzollernprinzen hat ihn nicht schwanken lassen: Bezugsp u n k t seiner Dienstauffassung wurde niemals eine Einzelperson, sondern blieb das W o h l des Ganzen. Diese Verpflichtung dem Vaterland gegenüber hat ihn auch den Plan entwickeln, m i t der i h m eigenen Energie und m i t diplomatischem Geschick verfolgen und verwirklichen lassen, i n Göttingen, dann auch i n N o r t h e i m und Osterode am H a r z Gedenkstätten sowohl für die Gefallenen niedersächsischer, als auch ost- und westpreußischer, pommerscher und schlesischer Truppenteile zu errichten. I n einer Zeit, als die Teilung Deutschlands zur bitteren Wirklichkeit wurde und das Bewußtsein v o n der Einheit i n der Bundesrepublik immer schwächer zu werden drohte, w a r es Hoßbachs erklärte Hoffnung, daß wenigstens bei alljährlichen Gedenkfeiern an den Gedächtnisstätten sich die H i n terbliebenen der Gefallenen und der Opfer der Flucht und Vertreibung aus West und Ost vereinigen und das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen erneuern werden. Diese H o f f n u n g ist i n Erfüllung gegangen. M i t Nachdruck betonte Hoßbach i n seiner Ansprache bei der Einweihung des Göttinger Denkmals 1953: „ W i r würden uns einer folgenschweren Versündigung an unserer Z u k u n f t schuldig machen, wenn w i r das uns heilige Andenken an unsere Gefallenen dazu mißbrauchen wollten, den Krieg um des Krieges willen zu preisen und seine wahre unerbittliche N a t u r zu verklären suchen".

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Diese Mahnung sprach ein Offizier aus, der als Chef der Zentralabteilung des Generalstabes des Heeres von 1935 bis 1938 und als A d j u t a n t der Wehrmacht bei H i t l e r v o n 1934 bis 1938 sich der Auslieferung der Wehrmacht an die Kriegspolitik Hitlers entgegengestemmt hatte. Enges Einverständnis verband i h n m i t dem Chef des Generalstabes des Heeres, General L u d w i g Beck. Für die Nachwelt hielt Hoßbach m i t Absicht i n seinen Aufzeichnungen von der Geheimrede Hitlers am 5. November 1937 vor den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtsteile sowohl den Kriegsplan Hitlers als auch den W i derspruch aus den Reihen der Zuhörer fest. W o h l die bitterste Enttäuschung seines Lebens war, daß es H i t l e r nur wenige Wochen später gelingen konnte, sich i n der Fritsch-Krise eines der Gegner seiner Kriegspolitik zu entledigen, ohne daß es zu einem Aufstand der Generale kam. Der militärischen Verdienste Hoßbachs ist hier nicht ausführlich zu gedenken. I n seinem Nachlaß findet sich i n einem Brief zweier früherer Untergebener der Satz: „ E i n unerhörter Soldat, ein M a n n von einer Klarheit und Bestimmtheit und einer Energie, nicht nur nach unten, sondern auch gerade nach oben, und vor allem auch ein M a n n m i t reichstem Verständnis für die Truppe". Schließlich schrieb eine Bekannte der Familie Hoßbach i m Frühjahr 1945 an ihren Vater: „Bei Kothes sind nun Ostpreußen gelandet, bei denen Fritz H . vor sechs Wochen wohnte, d. h. sein Stab, er selbst ist immer an den Brennpunkten vorn gewesen. Sie lobten i h n und waren ihm so dankbar, daß er ihnen endlich genau Bescheid gesagt hatte über den wirklichen Ernst der Lage, während die Parteileitung w o h l gänzlich versagt haben muß. Alle Soldaten und Bevölkerung haben Fritz so gern gehabt, waren i h m so dankbar für all seine H i l f e " . Hoßbach hatte damals als Oberbefehlshaber der 4. Armee i n Ostpreußen nicht nur erfolgreiche Abwehrkämpfe gegen sowjetische Ubermacht geführt, sondern auch für eine rechtzeitige Evakuierung der Zivilbevölkerung gesorgt. H i t l e r setzte ihn daraufhin ab. Der General der Infanterie Friedrich Hoßbach handelte i m Geiste des K ö nigsberger Philosophen Immanuel K a n t : selbstlos und beharrlich das Rechte zu tun. Nach langer schwerer Krankheit ist er am 10. September 1980 i n Göttingen verstorben. H e r b e r t M a r z ;

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W i l h e l m Ebel (1908—1980) W i l h e l m Ebel, am 7. Juni 1908 i m schlesischen Kreis Ohlau geboren, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Sprachen an den Universitäten Königsberg, Heidelberg und Bonn. Seine akademische Laufbahn führte i h n an die Universitäten Marburg, Königsberg, Rostock und 1938 an die Georgia-Augusta i n Göttingen. K a u m ein historisches Rechtsgebiet hat keine maßgebenden und richtungsweisenden Befruchtungen aus der Arbeit Ebels gewonnen. Eines seiner i h m an das Herz gewachsenen Forschungsgebiete w a r die niederdeutsche, insbesondere die lübische und friesische Rechtsgeschichte. Aus diesem Gebiet stammen audi zwei Veröffentlichungen beim Göttinger Arbeitskreis, nämlich über das lübische Kaufmannsrecht und das Revaler Ratsurteilsbuch, die für die deutsche Ostbesiedlung v o n Wichtigkeit sind. Ferner konnte der Arbeitskreis eine Abhandlung über das deutsche Recht i m Osten v o n ihm veröffentlichen. Zahlreiche deutsche Universitäten und ausländische Akademien haben Ebel i n vielfacher Weise geehrt. Sein Werk umfaßt über 40 zum Teil mehrbändige BuchVeröffentlichungen sowie über 100 umfangreiche Abhandlungen. 1965 mußte sich unser Beiratsmitglied aus Gesundheitsgründen vorzeitig emeritieren lassen. A m 22. Juni 1980 erlag er seinen Leiden i n Göttingen.

K a r l O. K u r t h (1910—1981) M i t Prof. D r . phil. habil. K a r l K u r t h ist einer der Männer aus den Anfängen des Göttinger Arbeitskreises von uns gegangen. Zugleich hat die ostdeutsche Sache Abschied von einem M a n n nehmen müssen, der wie wenige andere richtungweisend gewirkt hat. Dabei ist K u r t h kein Ostdeutscher gewesen. Er stammte aus Döbeln i n Sachsen, w o er am 5. Juni 1910 geboren wurde. Allerdings fühlte er sich der Königsberger Universität eng verbunden, an der er sich 1940 habilitierte und Direktor des Instituts für Zeitungswissenschaft wurde. Z w e i Jahre später wurde er an die Wiener Universität berufen. Das Ende des Krieges erlebte er bei der Nachrichtentruppe des Heeres. Seine Verbundenheit m i t der ostdeutschen Sache und m i t dem Schicksal der Heimatvertriebenen führte K u r t h der Gruppe von Männern zu, die sich

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nach der Vertreibung i n Göttingen um den letzten K u r a t o r der Königsberger Universität, D r . Friedrich Hoffmann, geschart hatten. K u r t h war m i t seiner Frau, einer gebürtigen Ostpreußin, i n einem D o r f bei Göttingen untergekommen. M i t dem Fahrrad kam er i n die Universitätsstadt angeradelt. Später konnte ihm eine behelfsmäßige Wohnung i n dem Magazingebäude einer ehemaligen Göttinger Kaserne vermittelt werden. I n diesem Gebäude befand sich damals auch ein Teil der Geschäftstelle des Arbeitskreises, während Geschäftsführer Freiherr Joachim von Braun i n dem Stallgebäude einer anderen Kaserne residierte. Der Göttinger Arbeitskreis hat K u r t h den Durchbruch i n die öffentliche Diskussion zu verdanken. Er hat m i t seinen publizistischen Initiativen dafür gesorgt, daß das Schicksal der Vertriebenen und ihrer Heimaten i n Deutschland und über seine Grenzen hinaus zur Kenntnis genommen wurde. E i n erster Meilenstein auf diesem Wege w a r das Erscheinen der „ D o k u mente der Menschlichkeit aus der Zeit der Massenaustreibungen" i m Jahre 1950. Noch waren die Wunden der Flucht und Vertreibung, des Verlustes der Heimat, v o n Haus und H o f , v o n Kindern, Eltern und Verwandten nicht vernarbt, noch warteten Hunderttausende diesseits und jenseits von Oder und Neiße, i m Sudetenland und i n Südosteuropa darauf, aus der alten Heimat, die zu einem Gefängnis geworden war, ausreisen und sich m i t ihren Familien wieder vereinigen zu können, da fand der v o n K u r t h veranlaßte A u f r u f des Göttinger Arbeitskreises, Erlebnisschilderungen nicht v o m Grauen der Flucht und Vertreibung, sondern von Hilfeleistungen zu schreiben, die Angehörige der feindlichen Mächte, seien es Kriegsgefangene oder Soldaten und Offiziere der kämpfenden Truppe, den fliehenden und gejagten Ostdeutschen erwiesen haben, einen großen Widerhall. I n der 1954 erschienenen amerikanischen Ausgabe der Dokumente schrieb Albert Schweitzer i m V o r w o r t : „Ich halte dieses Buch für eines der bedeutendsten der neueren Zeit. D a es dokumentarische Zeugnisse nicht nur von der Menschlichkeit, sondern auch v o n der Unmenschlichkeit enthält, m i t der Menschen ihren Mitmenschen begegneten, besagt sein T i t e l nicht alles. Jedoch liegt der H a u p t t o n auf der Darstellung der menschlichen Eigenschaft, aus tiefem Mitgefühl heraus zu handeln". — Schweitzer hatte schon i n seine Rede anläßlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1954 i n Oslo auf die Göttinger Dokumentation hingewiesen. Wie tief natürliche Gläubigkeit die ostdeutschen Vertriebenen ihr Schicksal hat ertragen lassen, dokumentierte eine weitere ebenfalls von K u r t h veran-

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laßte Sammlung von Erlebnisschilderungen. Sie erschien 1956 unter dem T i t e l „Keiner kennt die Grenze". H i e r w i r d nicht von äußerer H i l f e i n der N o t berichtet, sondern v o m inneren Erleben einer als Fügung empfundenen Rettung. M i t einer dritten Dokumentation sammelte K u r t h Berichte v o n Ostdeutschen über Taten der Menschlichkeit, die ihnen noch i n ihrer Heimat Jahre nach 1945 von Polen zuteil wurden. „Deutsch-Polnische Begegnungen 1945 bis 1958" heißt die 1960 erschienene Buchausgabe. V o m weiteren W i r k e n Kurths i m Göttinger Arbeitskreis und für die Ostdeutschen seien hier noch erwähnt die Chefredaktion des „Pressedienstes der Heimatvertriebenen" m i t A r t i k e l n und Kommentaren zu politischen Tagesfragen, seine außenpolitischen Jahresberichte auf Tagungen des A r beitskreises, i n denen er sich als feinnerviger Deuter aktueller und voraussichtlich zu erwartender Entwicklungen erwies. Hervorgehoben sei auch Kurths Verdienst u m die Veröffentlichung des Buches des Königsberger Arztes W i l h e l m Starlinger „Grenzen der Sowjetmacht" (1954), i n dem Starlinger Erkenntnisse veröffentlichte, die er i n sowjetischer Gefangenschaft i n Gesprächen m i t hohen Sowjets gewonnen hatte über die Wahrscheinlichkeit eines russisch-chinesischen Zerwürfnisses zu einer Zeit, als vordergründige Eintracht zwischen den beiden kommunistischen Mächten noch zu herrschen schien. Über den Einfluß dieses Buches auf die damalige P o l i t i k ist oft berichtet worden. Anstöße zu einer i n die Z u k u n f t weisenden Bewältigung der deutschen Katastrophe gab K u r t h auch m i t Überlegungen über das Wesen und die Bedeutung des landsmannschaftlichen Gedankens, die er bereits 1951 vorlegte. Er erwartete v o m landsmannschaftlichen Gedanken, daß v o n ihm eine innere K r a f t ausstrahle, „durch die die Deutschen wieder zu einem V o l k , zu einer N a t i o n werden und zu einer echten Staatsbildung vorstoßen" könnten. K u r t h schrieb: „ N u r so kann ein Staat entstehen, der nicht Interessenverband, nicht nur contrat social, auch nicht nur pragmatische — also situations- und zweckbestimmte — Organisation, sondern der echte Seinsgemeinschaft, seelisch bedingte Schicksalsgemeinschaft ist, die den Stürmen der Zeit standhalten k a n n " . Dieses und noch viel mehr waren die Leistungen K a r l Kurths i n rund z w ö l f Jahren Göttinger Tätigkeit. 1960 schied er aus dem Vorstand des Göttinger Arbeitskreises aus, u m i n der Presseabteilung des Bundesministeriums der

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Verteidigung i n Bonn tätig zu werden. D i e von beiden Seiten tief bedauerte Trennung, die jedoch nur eine geographische wurde, w a r erforderlich geworden, weil K u r t h seine Pensionsansprüche nur i m Staatsdienst vervollständigen konnte. A m 18. M a i 1981 hat ein plötzlicher T o d K a r l K u r t h dahingerafft. I n den Annalen des Göttinger Arbeitskreises gebührt i h m ein vorderster Platz. Herbert Marzian

N A C H R U F E DER „GESELLSCHAFT DER FREUNDE

KANTS"

Paul Schroeder (1894—1974) Den ostpreußischen Ärzten ein Begriff ist der „Pater familias", D r . Paul Schroeder, gewesen. I h m ist es zu verdanken, daß die Vereinigung ostpreußischer Ärzte auch nach 1945 zusammenblieb. Der am 18. August 1894 i n Königsberg geborene Schroeder hatte seit 1929 neben seiner ärztlichen Praxis i n Königsberg auch als Vorsitzender des Vereins Königsberger Ärzte, später als Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung, schließlich als Geschäftsführer Leiter der Ärztekammer Ostpreußens große Verdienste u m die berufspolitische Vertretung seines Standes erworben. Nach Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft ging er nach Dänischenhagen, w o er sich gleichfalls u m die Belange der Ärzteschaft kümmerte. Unserer Gesellschaft w a r D r . Schroeder bereits aus der Königsberger Zeit herzlich verbunden. V o r seinem 80. Geburtstag ist er am 10. Januar 1974 von uns gegangen.

A r n o l d Fratzscher (1900—1975) E i n Mecklenburger v o n Geburt w a r D r . A r n o l d Fratzscher, den Göttingern als Prokurist des ehrwürdigen Verlages Vandenhoeck & Ruprecht bekannt. Der am 14. November 1900 i n Bützow geborene Fratzscher w a r gelernter Historiker und brachte seine reichen Kenntnisse seit 1938 i n der Bücherstadt Leipzig beim Verlag Koehler und Amelang fruchtbringend zur Geltung. Dem Göttinger Verlag hatte er seit 1952 gedient und m i t Kennerblick solche Autoren wie Siegfried Kaehler und Reinhard W i t t r a m zugeführt. M i t unserer Gesellschaft und vielen unserer Mitglieder verband i h n eine aufrichtige Freundschaft. M i t seinem Tode am 12. Januar 1975 ist einer der Geister dahingeschieden, ohne deren W i r k e n die deutsche wissenschaftliche Literatur nicht bestehen könnte. Friedrich-Karl v . Z i t z e w i t z - M u t t r i n (1888—1975) Unsere langjährigen Mitglieder werden sich an die Persönlichkeit des Friedrich-Karl v . Z i t z e w i t z - M u t t r i n erinnern. Sein hohes A l t e r und die schwere

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Nachrufe der „Gesellschaft der Freunde Kants" Kriegsverletzung aus dem Ersten Kriege haben ihn i n den letzten Jahren an der Teilnahme an unseren Sitzungen verhindert. Der „ M u t t r i n e r " , wie ihn seine Freunde nannten, w a r am 19. Februar 1888 i n eben diesem Familiensitz i m pommerschen Kreise Stolp geboren worden. Der Bonner Jurist w a r Landrat i n Bergen auf Rügen, als Flieger verlor er i m Ersten Weltkrieg bei einem Absturz ein Bein. Nach dem Kriege war er i n Verwaltung und Politik, zeitweise Reichstagsabgeordneter, tätig. Nach 1933 ging er auf die Familiengüter i n Pommern zurück, als aufrechter Preuße Schloß er sich den Männern v o m 20. Juli 1944 an. Aus der Gestapo-Haft i n Stolp und Berlin befreite ihn das Kriegsende. Der „ M u t t r i n e r " war Mitbegründer der C D U und ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechte der Vertriebenen. A m 26. Januar 1975 ging sein Leben i n Bonn zu Ende.

Heinrich Eberts (1883—1979) K u r z vor seinem 96. Geburtstag ist am 22. A p r i l 1979 Ministerialdirektor a . D . Prof. D r . Heinrich Eberts i n Göttingen verstorben. Als Sohn einer Försterfamilie w a r er am 14. M a i 1883 i n Födersdorf, Kreis Braunsberg, zur Welt gekommen. Der Wald, seine Pflege und Nutzung, wurden i h m Lebensaufgabe. A b i t u r i n Königsberg, Studium an der Forstakademie i n Hannoversch-Münden, praktische Tätigkeit i n ostpreußischen und sdilesischen Forstämtern, Teilnahme am 1. Weltkrieg als Reserveoffizier und m i t dem Ritterkreuz des königlichen Hausordens von Hohenzollern m i t Schwertern sowie dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet, Regimentsführer i m Grenzschutz Schlesien, schließlich weiterer Aufstieg i n der Verwaltung und als Wissenschaftler: 1930 Professor für Forstpolitik und Forstverwaltung i n H a n n o versch-Münden, 1933 Berufung i n die Reichsforstverwaltung, sind die Stationen seines Lebens. Eberts gründete die Reichsanstalt für Holzforschung i n Eberswalde und das Reichsinstitut für ausländische und koloniale Forstwirtschaft i n Reinbek. V o n i h m stammt auch der E n t w u r f eines Reichsforstgesetzes, dessen Verkündung durch Krieg und Zusammenbruch nicht zustande kam. I n dem Nachruf eines engen Vertrauten stehen diese Sätze: „ F ü r den Nachfahren scheinen i n Heinrich Eberts noch einmal alle Tugenden preußischen Beamtentums vereinigt: große Sachkenntnis, ein unbestechliches, klares U r teil, weit über den Tag und den engen Raum hinausreichendes Denken,

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Nachrufe der „Gesellschaft der Freunde Kants" außerordentliche Arbeitskraft, persönliche Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, die ihn auch die schweren Nachkriegsjahre ertragen ließen, eine makellose Persönlichkeit, der auch die schrecklichen Umstände jener Jahre nichts anhaben konnten."

Werner Schütze (1913—1979) Noch zu Lebzeiten hat Regierungsrat Werner Schütze, der am 9. M a i 1979 von uns ging, eine Beurteilung erfahren, die unserem Gedenken vorangestellt sein soll. Der letzte K u r a t o r der Albertus-Universität zu Königsberg/ Pr., D r . Friedrich Hoffmann, stellte sie i h m am 2. August 1945 i n Flensburg aus: „Schütze ist ein ungewöhnlich befähigter Beamter. Er zeichnet sich ebenso durch scharfen und klaren Verstand wie durch treffende Urteilsfähigkeit aus. Ganz i n seinem Dienst aufgehend, verbindet er m i t größtem Fleiß eine erstaunliche Arbeitskraft. Seine Ausarbeitungen zeigen größte Sorgfalt, er arbeitet präzis und hat einen vorzüglichen Stil. Dabei arbeitet er m i t größter Schnelligkeit. Sein Charakter ist gefestigt und v o n seltener Selbstlosigkeit; er besitzt beste Umgangsformen und sicherstes Taktgefühl. Das außerdem stets liebenswürdige, bescheidene und doch bestimmte A u f treten hat ihm an der Königberger Universität die besondere Hochschätzung der Professoren, Dozenten, Assistenten und sonstigen Universitäts-Angehörigen aller Kategorien eingebracht. Den Mitarbeitern w a r er der treueste Kamerad, mir selbst ist er fast unentbehrlich geworden." Werner Schütze w a r Niedersachse — am 29. M ä r z 1913 i n Hannover geboren. I n seiner Geburtsstadt begann er auch 1931 seine Verwaltungslaufbahn, die ihn 1937 nach Königsberg i n das dortige Universitätskuratorium führte. Seiner Universität blieb er bis zum März 1945 treu, dann folgte er seinem Kurator erst nach Greifswald, dann nach Flensburg, w o sich Meldestelle und N o t v e r w a l t u n g vorübergehend niederließen. A m 1. A p r i l 1946 trat er seinen Dienst beim Rektorat der Göttinger Georgia Augusta an, w o er nach dem Tode von Prof. Götz von Seile nebenamtlich sowohl die Verwaltung des nach Göttingen geretteten Königsberger Universitäts-Archivs als auch die Auskunftsstelle für die ehemaligen deutschen Osthochschulen betreute. Seine andauernde Verbundenheit m i t K ö nigsberg bekräftigte Schütz durch seine tatkräftige M i t w i r k u n g bei der Gründung und Leitung des Collegium Albertinum i n Göttingen 1958. 1973 wurden seine Verdienste durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes

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Nachrufe der „Gesellschaft der Freunde Kants" gewürdigt. Für seinen Ruhestand, i n den er i m A p r i l 1978 trat, hatte er sich Studien zur Geschichte an beiden Universitäten vorgenommen, denen er gedient hatte.

R u d o l f v o n Wistinghausen (1905—1981) Rudolf v o n Wistinghausen wurde am 24. Januar 1905 i n Riga geboren. Nach seiner Schulzeit i n Finnland und Heidelberg studierte er Land- und Volkswirtschaft i n Hohenheim und an der University of Illinois. Nach seiner Tätigkeit beim Deutschen Akademischen Austauschdienst trat er zu Beginn des Zweiten Weltkrieges i n den Auswärtigen Dienst ein. 1951 ging Wistinghausen wieder i n den Staatsdienst, i n dem er i n Paris, Bonn, Moskau und zuletzt bis 1970 als deutscher Botschafter i n Togo tätig war. V o n 1973 bis 1980 war Wistinghausen Bundesvorsitzender der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft. A m 29. M a i 1981 Schloß Rudolf von Wistinghausen die Augen.

Gerhard Rautenberg (1905—1982) Nach seiner H e r k u n f t und aus Neigung w a r der Verleger Gerhard Rautenberg ein Verehrer Immanuel Kants. A m 21. März 1905 i n Königsberg als Sohn einer aus Mohrungen stammenden Verlegerfamilie geboren hat Gerhard Rautenberg nach seiner Lehrzeit i n München, Leipzig und Berlin 1933 die Leitung des Druck- und Verlagshauses übernommen, die er zu einem modernen Unternehmen ausbaute. I m Feuersturm englischer Bomben i m August 1944 auf Königsberg ging das Unternehmen i n Flammen auf. M i t zäher Hingabe hat Gerhard Rautenberg dann seit 1949 i n Leer/Ostfriesland einen neuen Betrieb aufgebaut, der sich insbesondere der Pflege des ostdeutschen Schrifttums annahm. Als kleines Zeichen der Verbundenheit m i t unserer Gesellschaft hatte sich Gerhard Rautenberg jedes Jahr den Druck der Einladung zu unserer Zusammenkunft ausbedungen. I m Bewußtsein, daß sein Werk von den Söhnen fortgeführt w i r d , Schloß Gerhard Rautenberg am 4. A p r i l 1982 i n seiner neuen H e i m a t Leer die Augen.

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Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr. Bd. X X V I / X X V I I

INHALT Königsberg und Kant im „Reisetagebuch" des Theologen Johann Friedrich Abegg (1798). Von Prof. Dr. Rudolf Malter

5

Kants Idealbild einer Frau. Versuch einer Biographie der Gräfin Caroline Charlotte Amalie von Keyserling geb. Gräfin Truchsess von Waldburg (1727—1791). Von Dr. Wilhelm Salewski

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Die Universität Königsberg, die Königsberger Bürgerschaft und der dritte Nachfolger Immanuel Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl. Von Prof. Dr. Helmut Motekat

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Königsberg in der Märzrevolution von 1848. Von Prof. Dr. Arnold Schütz ..

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Das Saturgussche Haus in Königsberg und die Familie Saturgus. Von Dr. Herbert Meinhard Mühlpfordt f

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Der Versuch der Industrialisierung Ostpreussens. Ein Beitrag zum Thema: Wirtschaftsplanung und Privatinitiative. Von Dr. Friedrich Richter

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Königsberg/Kaliningrad und Immanuel Kant. Von Prof. Dr. Rudolf Malter und Dr. Ernst Staffa Gedanken Kants zur Staatsbürgerschaft. Von Dr. Robert Fritzsche f

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Die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion seit der Berlin-Krise. Von Prof. Dr. Boris Meissner

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Die Lage der Deutschen in der Sowjetunion. Von Prof. Dr. Wilfried Schlau ..

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Dr. h. c. Friedrich Tisdiler. Erforscher der Vogelwelt Ostpreussens. Von Prof. Dr. Ernst Schütz

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Nachrufe des Göttinger Arbeitskreises e. V Joachim Freiherr von Braun; Prof. Dr. Werner Weber; Ministerialdirektor a. D. Ernst Vollert; Staatsarchivdirektor a. D. Kurt Forstreuter; Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Neumann; General a. D. Friedrich Hossbach; Prof. Dr. Wilhelm Ebel; Prof. Dr. Karl O. Kurth

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Nachrufe der „Gesellschaft der Freunde Kants" Dr. Paul Schröder; Dr. Arnold Fratzscher; Friedrich-Karl von ZitzewitzMuttrin; Prof. Dr. Heinrich Eberts; Regierungsrat Werner Schütze; Botschafter a. D. Rudolf von Wistinghausen; Verlagsbuchhändler Gerhard Rautenberg

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