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German Pages 247 [248] Year 2021
Birgit Sandkaulen | Walter Jaeschke (Hg.)
Jacobi und Kant
Meiner
Sandkaulen | Jaeschke (Hg.) Jacobi und Kant
Birgit Sandkaulen Walter Jaeschke (Hg.)
Jacobi und Kant
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliog raphische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-3977-8 ISBN eBook 978-3-7873-3978-5
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. EPISTEMOLOGIE Andreas Arndt
Grenzen der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Brady Bowman
Die Wirklichkeit des Wahren Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Johannes Haag
Die Wirklichkeit der Dinge Objektive Bezugnahme bei Jacobi, Kant und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Peter Rohs
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Stefan Schick
Möglich, wirklich oder notwendig? Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori . . . . . . . . . . . . . 87
II. METAPHYSIK Oliver Koch
Kausaler Zusammenhang und lebendige Einheit Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Catia Goretzki
Jacobis Denken im Spannungsfeld des Kantischen Theismus-Begriffs . . 125
6 Inhalt
Gunnar Hindrichs
Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Majk Feldmeier
Der Mensch, ein »krummes Holz«? Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant . . . 157 Walter Jaeschke
Kant in Jacobis Kladden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
III. PHILOSOPHIE DES GEISTES UND MOR ALPHILOSOPHIE Birgit Sandkaulen
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ulrich Schlösser
Persönlicher Mensch, identisches Selbst, allgemeines Bewusstsein Kant vs. Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Christoph Halbig
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Vorwort
F
ichte nennt Jacobi den »mit Kant gleichzeitigen Reformator in der Philosophie« (GA I,7, 194). Er unterstreicht damit, dass Kant und Jacobi die beiden maßgeblichen philosophischen Schlüsselfiguren sind, die das Denken an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert von Grund auf neu bestimmen. »Auf dem Boden des eigentlich Philosophischen war«, so sagt es auch Hegel, »das kantische und das jacobische Philosophiren etwas ganz Unerwartetes.« (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1820/21, GW 30,1, 439) Dabei folgt die Neubestimmung der Philosophie durch Kant und Jacobi keineswegs einem gemeinsam verabredeten Projekt. In beinahe jeder Hinsicht verfolgen beide fundamental entgegengesetzte Konzepte und äußern dies auch in explizit kritischer Distanz zueinander. Exemplarisch steht dafür bei Jacobi seine bis heute diskutierte Kritik an Kants Lehre von den Dingen an sich, die er mit der berühmten Formulierung unterlegt, »daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte« ( JWA 2,1, 109). Umgekehrt dokumentiert Kant in seinem 1786 als Beitrag zum Spinozastreit zwischen Jacobi und Mendelssohn entstandenen Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? ausdrücklich seine Vorbehalte gegenüber Jacobi, indem er gegen »Aberglauben und Schwärmerei« vehement für die »Selbsterhaltung der Vernunft« plädiert (AA VIII, 147). Sieht man jedoch genauer hin, wird die Konstellation zwischen den beiden »Reformatoren in der Philosophie« erst richtig interessant: In beinahe jeder Hinsicht, seien es Fragen der Epistemologie, der Metaphysik oder der Philosophie des Geistes zeigt sich dann, dass man im Verhältnis zwischen Jacobi und Kant nicht einfach nur auf substantielle Differenzen, sondern auf eine eigentümliche Verbindung von Ferne und Nähe stößt. Beide teilen eine ganze Reihe von Überzeugungen, die sie allerdings ganz unterschiedlich begründen und sich darüber wiederum voneinander entfernen. Allein schon der 1789 geführte Briefwechsel zwischen Kant und Jacobi bietet für diese Beschreibung der Lage eine vorzügliche Quelle. Tatsächlich hat sich Jacobi zeitlebens, abgesehen von Spinoza, am intensivsten mit Kant auseinandergesetzt. Laut dem biographischen Bericht im David Hume (1787) hat er schon in den 60er Jahren direkt nach Erscheinen
8 Vorwort
Kants Beweisgrund im Blick. Und im Anschluss an die Diskussion um Idealismus und Realismus im David Hume geht die Auseinandersetzung weiter: in zentralen Argumentationsfiguren in der Zweitauflage der Spinozabriefe (1789), v.a. in der Freiheitsabhandlung und der Beilage VII; in der zu Lebzeiten Jacobis nicht veröffentlichten Epistel über die Kantische Philosophie und natürlich auch in dem 1799 mit einigen Beilagen publizierten Brief Jacobi an Fichte, der in wesentlichen Teilen ausdrücklich auf Kant Bezug nimmt. Eine weitere ausführliche kritische Erörterung von Kants Transzendentalphilosophie folgt dann mit der Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben (1802), die den Fokus insbesondere, lange vor Heidegger, auf die Einbildungskraft richtet. Auch in den späteren Schriften, der Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) sowie der Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften (1815) widmet Jacobi zentrale Passagen der Auseinandersetzung mit Kant. Auffällig ist dabei seine wachsende Sympathie für Kants Philosophie in dem Maße, wie die nachkantische Philosophie Fichtes und Schellings monistischen Systemkonzepten in der von Jacobi selbst freigelegten Spur Spinozas folgt. Bereits im Brief an Fichte verleiht Jacobi den Titel »Messias der spekulativen Vernunft« zwar an Fichte, um aber gleichzeitig festzuhalten, dass der »Königsberger Täufer«, also der »Vorläufer«, in diesem Fall der »Vornehmere« sei ( JWA 2,1, 192). Von Jacobis unentwegter Beschäftigung mit Kant zeugen schließlich seine sogenannten Kladden oder Denkbücher, die im Jahr 2020 endlich vollständig publiziert worden sind und vielfältiges, neu zu entdeckendes Material enthalten. ✳
Anlässlich des 200. Todestags Jacobis (1743–1819) war die internationale Tagung »Jacobi und Kant«, die vom 28. bis 30. November 2019 am Forschungszentrum für Klassische Deutsche Philosophie/Hegel-Archiv an der Ruhr-Universität Bochum stattgefunden hat, der systematischen Aufarbeitung dieser eigentümlichen Konstellation am Beginn der jüngeren Moderne gewidmet. Die von intensiven Diskussionen geprägte Tagung hat das Interesse zahlreicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf sich gezogen – so möge es auch, wie wir als Veranstalter und Herausgeber wünschen und hoffen, dem vorliegenden Band ergehen, der die für den Druck durchgesehenen Vorträge dokumentiert und im gegenwärtigen Aufschwung der internationalen Jacobi-Forschung einen weiteren Forschungsimpuls setzen möchte. Für ihre Mitwirkung bei der Tagung und beim Zustandekommen des Bandes bedanken wir uns herzlich bei allen Autorinnen und Autoren. Ebenso danken wir den Moderatoren und den vielen Gästen aus dem In- und Aus-
Vorwort
land, die mit ihren erheblichen Beiträgen zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben. Für die Förderung der Tagung danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, die Trägerin des Akademienvorhabens »Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Kommentar – Wörterbuch Online« ist und die Ausrichtung der Tagung im Akademienprogramm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften als Kooperationspartnerin unterstützt hat. Für die Gewährung einer Veranstaltungsprämie bedanken wir uns bei der Ruhr-Universität Bochum. Nicht zuletzt gilt unser herzlicher Dank den vielen Helferinnen und Helfern bei der Organisation und Durchführung der Tagung und namentlich Daniel Elon und Markus Gante für ihre redaktionelle Mitarbeit. Berlin im Oktober 2020
Birgit Sandkaulen Walter Jaeschke
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Siglen
AA
Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff.
A / B
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1781/1787
GA
Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth et al., StuttgartBad Cannstatt 1962 ff.
GW
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff.
GuW
Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie. Tübingen 1802, in: GW 4, 313–414.
JBW
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe, S tuttgartBad Cannstatt 1981 ff. – ab Band I,11: Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hrsg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen.
JWA
Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe, hrsg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg/StuttgartBad Cannstatt 1998 ff.
I. EPIS TEMOLOGIE
Andreas Arndt
Grenzen der Vernunft
G
renzen haben die Eigenschaft, zugleich zu trennen und zu verbinden. Was innerhalb einer Grenze ist, bleibt auf das Außerhalb bezogen und umgekehrt. Wir bestimmen etwas, indem wir es begrenzen – aber diese Grenze liegt dann nicht außerhalb des Begrenzten, sondern macht seine wesentliche Bestimmtheit aus, so dass auch das, was es durch die Grenze ausschließt, ihm (negativ) angehört. Grenzen sind daher auch immer zu überschreiten, um sie überhaupt ziehen zu können. Die vermeintlich klare Abgrenzung ist nur aus der Innen- und Außenperspektive zugleich zu haben. Das verunsichert. Die Forderung nach einer klaren Grenzziehung meint daher oft auch nur das Absehen von dem, wovon die Grenze trennt und worauf sie das Getrennte zugleich bezieht. Auch die Vernunft lässt sich nur dadurch bestimmen, dass sie begrenzt wird. Es gilt allgemein als das Verdienst Kants, diese Grenzziehung vorgenommen zu haben. Friedrich Heinrich Jacobi bestreitet dieses Verdienst nicht – aber, so meine im Folgenden zu begründende These, er hält diese Grenzziehung für ungenügend. Nach seiner Auffassung beachtet Kant nicht die Konsequenzen aus dem, was eingangs über die Grenze gesagt wurde. Seine Einwände gegen Kant lassen sich systematisch so rekonstruieren, dass er ihm vorwirft, einerseits den Grenzziehungen falsche Bestimmungen zugrunde gelegt, mithin die Grenze falsch gezogen, und andererseits von dem, was jenseits der Grenze liegt, in bestimmten Kontexten abgesehen zu haben. Ich möchte hier vorgreifend nur auf die bekannte Kritik an Kant aus der Beilage Ueber den Transscendentalen Idealismus in der Schrift über David Hume (1787) verweisen. Kants Philosophie setze voraus, dass Dinge auf die Sinne einwirken, setze aber an die Stelle objektiver Einwirkungen der Dinge bloß subjektive Erscheinungen: »Ich muß«, so Jacobi, »gestehen, daß dieser Anstand mich bey dem Studio der Kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte.« ( JWA 2,1, 109) Was dies genau bedeutet, wird noch zu klären sein. Fest steht, dass Jacobis mitunter schwer zu fassende Kritik darauf beruht, dass er die von Kant
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Andreas Arndt
gezogenen Grenzen in Fluss bringt, indem er sie überschreitet, von der anderen Seite her verschiebt und auch neue Bestimmungen einführt. Dabei will er grundsätzlich an dem »Richtigen« der kantischen Philosophie festhalten. Dass dies wie eine Art Verwirrspiel erscheinen mag, hat Jacobi in seiner offenbar bereits 1801 publizierten Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen so ausgedrückt: »Durch diese Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst, gleich in der Grundlage, mußte die Ausführung desselben so dädalisch werden, daß es eben so schwer ist, seine wirklichen Widersprüche zu zeigen, als den blos scheinbaren das widersprechende Ansehn zu benehmen; eben so schwer, das Richtige des Systems zu vertheidigen, als das Unrichtige zu widerlegen.« ( JWA 2,1, 269)1 Im Folgenden werde ich so vorgehen, dass ich zunächst die grundlegende Strategie der Auseinandersetzung Jacobis mit Kant bis 1787 im Blick auf die Frage nach den Grenzen der Vernunft zu skizzieren versuche (I); sodann betrachte ich die Grenzverschiebungen, die sich daraus ergeben, und zwar zunächst im Blick auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand (II) und schließlich im Blick auf das Verhältnis von Verstand und Vernunft (III).
I.
Um Jacobis philosophische Strategie in Bezug auf Kant und den transzendentalen Idealismus zu verstehen, ist zunächst ein Blick in sein Spinoza-Buch zu werfen. Kriterium der Beurteilung ist hier die systematische Konsequenz. Diese besteht darin, ein in sich geschlossenes System zu entwerfen, das – Jacobi zufolge – entweder idealistisch oder realistisch bzw. materialistisch sein müsse.2 Entsprechend gibt Jacobi noch 1815 unter Berufung auf Kant dem »baaren ungemischten Sensualismus des Epikur, als System«, den Vorzug vor systematisch inkonsequenten Philosophien.3 Die Konsequenz wird, wie aus der thetischen Darstellung der Lehre Spinozas in der ersten Auflage des SpinozaBuchs (1785) hervorgeht, vor allem durch den Gedanken der Inhärenz erreicht, 1
Separatdruck Hamburg: Perthes 1801; vgl. JWA 2,2, 480; anzunehmen ist, dass das Separatum, das zeilenidentisch mit der Veröffentlichung in den Beyträgen ist, als Vorabdruck erschien; hierfür spricht – neben der Jahreszahl – auch, dass ein Druckfehlerverzeichnis fehlt. 2 Nach Wilhelm Traugott Krug ist Materialismus »nichts anders als ein mit strenger Consequenz durchgeführter Realismus« (Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und herausgegeben, Bd. 2, Leipzig 1827, S. 698). 3 »Vorrede« zu Band 2 der Werke, JWA 2,1, 387.
Grenzen der Vernunft
der einen materialistischen bzw. idealistischen Monismus ermöglicht. Wenn, so Jacobi, das Unendliche Inbegriff aller endlichen Dinge sei, dann sei es »der strengsten Bedeutung nach, ein Ganzes, dessen Theile nur in und nach ihm seyn, nur in und nach ihm gedacht werden können« ( JWA 1,1, 95 f.). Dies könne entweder die spinozistische Substanz sein – die realistische oder materialistische Variante – oder aber eine (subjektive) Vorstellung wie bei Kant – die idealistische Variante. Die Pointe besteht darin, dass für Jacobi beide Systemvarianten letztlich konvergieren. Er macht dies deutlich, indem er in einer Anmerkung Spinoza durch Zitate aus der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) erläutert, die von einer ursprünglichen Vorstellung von Raum und Zeit als einem Ganzen bzw. Einigen ausgehen (vgl. A 25), wobei das Mannigfaltige darin als Einschränkung dieses Ganzen gedacht werden müsse (vgl. JWA 1,1, 96). Das wiederum kommt mit dem dann später von Hegel hervorgehobenen spinozistischen Grundsatz überein, wonach Bestimmtheit Negation sei. Bei Jacobi heißt es hierzu: »Die einzelnen Dinge also, in so ferne sie nur auf eine gewisse bestimmte Weise da sind, sind die non-entia; und das unbestimmte unendliche Wesen, ist das einzige wahrhafte ens reale« ( JWA 1,1, 100). Hierin liegt dann das entscheidende Argument sowohl gegen das konsequent realistische als auch gegen das konsequent idealistische System. In beiden Systemen werden die Dinge zu einem Nichts verflüchtigt. In Bezug auf Kant hat Jacobi dies bereits 1782 in dem Text »Meine Vorstellungen …« polemisch zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt, dass bei Kant nur Vorstellungen von nichts übriggeblieben seien (vgl. JWA 2,1, 3 f.). In einem Brief an Goethe heißt es am 13. Dezember 1785 entsprechend, wir hätten bei Kant »nur Erscheinungen […] von – Nichts, das er Etwas nennt« ( JBW I,4, 277). Um diesen Punkt geht es bei Jacobi: »Also was wir Realisten würkliche Gegenstände, von unseren Vorstellungen unabhängige Dinge nennen, das sind dem transscendentalen Idealisten nur innerliche Wesen, die gar nichts von dem Dinge, das etwa ausser uns seyn, oder worauf die Erscheinung sich beziehen mag, darstellen« ( JWA 2,1, 106 f.). Das eigentliche Argument gegen Kant besagt auf dieser Grundlage, dass er mit der Bindung objektiv gültiger Erkenntnis an Sinnlichkeit so etwas wie Etikettenschwindel betreibt: »Denn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und Realem, ein würkliches Mittel von Etwas zu Etwas darunter verstanden werden, und in seinem Begriffe, die Begriffe von aussereinander und verknüpft seyn, von Thun und Leiden, von Causalität und Dependenz, als realer und objectiver Bestimmungen schon enthalten seyn sollen« ( JWA 2,1, 109). Jacobis Argumentation ist meiner Auffassung nach nur dann sinnvoll zu rekonstruieren, wenn ihre verschiedenen Ebenen angemessen berücksich-
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Andreas Arndt
tigt werden, die in seinen in der Regel ja eher rhapsodischen und weniger streng diskursiven Texten vielfach ineinander fließen. Immanente Kritik und äußere Kritik von den eigenen Positionen Jacobis aus bilden dabei zumeist ein schwer zu entwirrendes Knäuel. Hinzu kommt, dass Jacobi immer wieder seine Nähe zu Kant und später zur Transzendentalphilosophie überhaupt betont, mit dem ihn, wie es in der Vorrede zum Überflüssigen Taschenbuch 1799 heißt, eine »Blutsfreundschaft« verbinde ( JWA 2,1, 168). Der Realismus, den Jacobi gegen Kant anmahnt, bedeutet nicht, dass Kant in der transzendentalen Ästhetik sozusagen heimlich von ihm Gebrauch mache, um dann, in der transzendentalen Analytik, zu zeigen, dass wir von den Gegenständen, die uns affizieren, nichts wissen. Auf einer solchen Interpretation basiert die Auffassung, Jacobi habe Kant im Eingang in die Kritik der reinen Vernunft einen fälschlichen Gebrauch der Kausalitätskategorie in Bezug auf die sinnliche Affektion durch Gegenstände unterstellt. Dass das nicht der Fall ist, hat nach meiner Auffassung Birgit Sandkaulen überzeugend gezeigt – entgegen der von Tobias Rosefeldt vorgetragenen Gegenkritik.4 Der entscheidende Einwand Jacobis läuft vielmehr darauf hinaus, dass bei Kant der Begriff der Sinnlichkeit entleert und, im buchstäblichen Sinne, sinnlos wird. Das wird schon im Spinoza-Buch deutlich, wenn Jacobi bemängelt, dass die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit die Dinge nur als »non-entia« thematisierbar machen. Nach Kant, so heißt es dann in der »Beilage« zum David Hume, seien »sowohl die Gegenstände als ihre Verhältnisse, blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres eigenen Selbstes« ( JWA 2,1, 110). In dem Gespräch selbst wird dies auf den sinnentleerten Begriff der Sinnlichkeit zurückgeführt, »eine […] gar nichts von den Dingen selbst darstellende, objectiv platterdings leere Sinnlichkeit« ( JWA 2,1, 61). Zwar könne, so die »Beilage«, nach Kant auch »eingeräumt werden […], daß diesen blos subjectiven Wesen […] ein transscendentales Etwas als Ursache entsprechen mag: so bleibt doch in der tiefsten Dunkelheit verborgen, wo diese Ursache, und von was Art ihre Beziehung auf die Würkung sey.« ( JWA 2,1, 110) Obwohl Jacobi sich hier auf Formulierungen Kants beziehen kann, die eine solche Kausalität nahelegen,5 gebraucht Jacobi die einschränkende Formulierung, es könne 4
Vgl. Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, S. 169–197 (»Das ›leidige Ding an sich‹. Kant – Jacobi – Fichte«). – Tobias Rosefeldt hat dem widersprochen (»Dinge an sich und der Außenweltskeptizismus. Über ein Missverständnis der frühen Kant-Rezeption«, in: Dina Emundts (Hg.): Self, World, and Art. Metaphysical Topics in Kant and Hegel, Berlin und Boston 2013, S. 221–260). Rosefeldt möchte vor allem zeigen, dass G.E. Schulze, der auch nach Sandkaulen das Kausalitätsargument vertritt, sich von Jacobi nicht wirklich unterscheidet. 5 Vgl. dazu in JWA 2,2, 585 die Erläuterungen.
Grenzen der Vernunft
nach Kant zwar »eingeräumt« werden, dass eine solche Kausalität bestehen möge, doch selbst unter dieser Annahme bleibt der Begriff der Sinnlichkeit für ihn leer, da die mögliche Kausalbeziehung sinnlicher Gegenstände auf die Rezeptivität der Sinne im vollkommenen Dunkel bleibe. Tatsächlich ist Jacobi, worauf ich noch zurückkommen werde, ja auch der Ansicht, dass hier gar nicht von einer Kausalität die Rede sein könne. In der »Vorrede« zum zweiten Band seiner Werke (1815) hat Jacobi präzise Formulierungen gebraucht, die noch einmal die Argumente aus der »Beilage« zum David Hume aufgreifen: »Mich scheidet von der Kantischen Lehre das allein, was sie auch von sich selbst scheidet und mit sich uneins macht, nämlich, daß sie das Daseyn zweyer spezifisch von einander unterschiedener Erkenntnißquellen im menschlichen Gemüth zugleich voraussetzt und bestreitet«, und zwar so, dass sie auf der einen Seite »[o]ffenbar und ausdrücklich« behauptet, »daß es außer der sinnlichen Anschauung (der empirischen und reinen) keine andre Erkenntnißquelle gebe, aus welcher der Verstand objectivgültige, seine Erkenntniß wahrhaft erweiternde Begriffe schöpfen könne«; auf der anderen Seite jedoch »schweigend und sich selbst unbewußt« dies bestreitet ( JWA 2,1, 388 f.). Der nach seiner Auffassung von Kant uneingestandene konsequente Idealismus, der die Sinnlichkeit aushebelt, kommt nach Jacobi dadurch zustande, dass die offene und ausdrückliche Behauptung nicht substantiiert und dargelegt wird, wodurch und wie die Sinnlichkeit sich auf Gegenstände bezieht. Dieser blinde Fleck, den Jacobi immer wieder aufweisen will, schlägt dann auf den weiteren Gang der Kritik der reinen Vernunft so durch, dass auch der Verstand im eigentlichen Sinne leer wird: »Der Verstand selbst, obgleich ein zweyter Erkenntnißquell genannt, ist in Wahrheit keiner, indem durch ihn Gegenstände nicht gegeben sondern nur gedacht werden.« ( JWA 2,1, 389) Ich weiß dann, wie es bereits im David Hume heißt, nicht mehr, »was ich an einer solchen Sinnlichkeit und einem solchen Verstande habe, als daß ich damit lebe; aber im Grunde nicht anders wie eine Auster damit lebe«, eingekapselt in mich selbst in einer durchgängigen Unwissenheit ( JWA 2,1, 61). Das Proton Pseudos der Kantischen Vernunftkritik besteht nach Jacobi demnach darin, dass eine Sinnlichkeit vorausgesetzt wird, die in Wahrheit keine ist und daher leer bleibt – und diese Leere breitet sich dann gleichsam über das ganze System aus und kann vom Standpunkt der reinen Vernunft aus auch nicht mehr mit wirklichem Inhalt gefüllt werden, wenn darunter – mit Jacobi – der Bezug auf sinnlich gegebene Dinge verstanden werden soll. Das Unternehmen der Vernunftkritik werde so zu einem Spiel der Formen mit sich selbst, einem gespenstischen Blendwerk. Dieser Befund, über dessen Berechtigung sich natürlich streiten ließe, hat nun auch Folgen für die Begrenzung
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Andreas Arndt
der Vernunft. Eine Grenze kann nur dort markiert werden, wo eine Wechselbeziehung zwischen dem Begrenzten und dem Begrenzenden besteht. Für Jacobi wäre diese Beziehung zweifellos die Sinnlichkeit, durch die uns reale Gegenstände gegeben sind. Da Kant diesen Bezug nach Jacobi abschneidet, verschwindet im Grunde die Grenze: Selbst dort, wo Kant einen solchen Bezug einzuräumen scheint, könne er weder den Ort des ›transzendentalen Etwas‹ noch die Art seiner Beziehung auf das Erkenntnisvermögen angeben. In der Konsequenz werde die Subjektivität auf sich selbst zurückgeworfen: das Bild der Auster steht hierfür. Wenn, wie bereits in dem Spinoza- Buch behauptet, ein solches, in sich geschlossenes System nichts anderes ist als ein in sich selbst Unendliches – um es noch einmal zu zitieren: »der strengsten Bedeutung nach, ein Ganzes, dessen Theile nur in und nach ihm seyn, nur in und nach ihm gedacht werden können« ( JWA 1,1, 95 f.) – dann ist die Frage nach einer Grenze sinnlos geworden, denn zur Totalität gibt es kein Außen. Diese Auffassung bildet, so meine These, einen Dreh- und Angelpunkt der Jacobischen Auseinandersetzung mit Kant in Bezug auf die Grenzen der Vernunft. Zum einen hat er zur Konsequenz, dass der Totalitätsanspruch des transzendentalen Idealismus – der in sich ebenso konsequent und folgerichtig sei wie das (materialistische) spinozistische System – nicht von innen aufgebrochen werden kann. Der nach seiner Auffassung uneingelöste Anspruch des Rekurses auf Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle bildet für Jacobi vielmehr den Ansatzpunkt, eine andere Auffassung ins Spiel zu bringen. Die Sinnlichkeit ist, um im Bild zu bleiben, der Punkt, an dem das Austernmesser sich von außen zwischen die Schalenhälften schieben und sie aufhebeln kann. Dadurch wird es allererst möglich, eine Grenze der Vernunft im weitesten Sinne (unter Einschluss des Verstandes) zu markieren. – Zum anderen aber – auch dies wird bereits in der Bezugnahme auf Kant im Spinoza-Buch deutlich – bedeutet der von Kant nach Jacobis Meinung nicht offen eingestandene Totalitätsanspruch des transzendentalen Idealismus in der Konsequenz nicht notwendig eine Selbstentgrenzung der Vernunft, sondern ermöglicht eine Begrenzung der Vernunft in sich selbst. Dies vollzieht Kant nach Jacobi in der transzendentalen Dialektik, worin »sein unsterbliches Verdienst« liege ( JWA 2,1, 390). Im Weiteren werde ich beiden Konsequenzen nachgehen und, wie angekündigt, zunächst die Öffnung und Grenzziehung der Vernunft im Verhältnis zur Sinnlichkeit betrachten.
Grenzen der Vernunft
II.
Jacobi gibt sich, wie gezeigt, mit Kants Einräumung eines transzendentalen Etwas keineswegs zufrieden. Es ist also nicht damit getan, dass den Erscheinungen noch Dinge unterlegt werden, wovon sie Erscheinungen sind, sondern es ist zu klären, wie sie erscheinen und in welcher Beziehung dieses Verhältnis zur Vernunft steht. Leitend für die Lösung dieser Aufgabe ist für Jacobi offenbar die Einsicht, dass die Grenze von beiden Seiten aus zu bestimmen ist. Es ist nicht nur so, dass die Erfahrung – genauer: das Gegebensein von Gegenständen in der Erfahrung – Voraussetzung objektiv gültigen Erkennens ist, sondern umgekehrt setzt auch die Bestimmtheit der Vernunft der Erfahrung Grenzen; beides ist voneinander nicht zu trennen. Eine solche, auf den ersten Blick überraschende Drehung der Perspektive findet sich in der Epistel über die Kantische Philosophie (1791), wo Jacobi sich selbst aus seinen Notizen bei der Lektüre der Kritik der reinen Vernunft im Winter 1785 zitiert: »Kein Wunder ists, daß wir über Mögliches und Unmögliches a priori entscheiden und der Erfahrung feste Gränzen setzen können.« ( JWA 2,1, 129) Was das für die Beziehung des Erkennens auf Objekte bzw. generell für das Verhältnis von Subjekt und Objekt bedeutet, wird im David Hume näher erläutert. Auch hier geht es darum, dass beide Seiten nicht voneinander getrennt werden können. Nach Jacobis Auffassung ist dies nur möglich, wenn hier eine unmittelbare Einheit zugrunde gelegt wird. Hierzu heißt es in einem Brief Jacobis an Friedrich Bouterwek vom 8. Januar 1804: »Das seit Locke angenommene Dritte zwischen dem erkennenden Subject und dem [zu] erkennenden Dinge ist, soviel ich weiß, von mir zuerst gründlich weggeräumt worden«.6 Zum Beleg verweist Jacobi auf eine Passage des David Hume; es geht dort, im Anschluss an Franz Hemsterhuis, um die unmittelbare Überzeugung des wirklichen Daseins der Dinge außer uns. Nach Lockes Essay concerning Human Understanding 7 sind Ideen (Vorstellungen), die aus äußerer oder innerer Erfahrung entspringen, das Objekt des Denkens, so dass sie sich als ein Drittes zwischen uns und das in der Erfahrung Wahrgenommene schieben und beides miteinander vermitteln. Das grundsätzliche Problem einer solchen Erkenntniskonstellation sieht Jacobi darin, dass dieses Dritte eine Ambiguität aufweist, denn nur die Ideen, die auf äußeren Wahrnehmungen beruhen (bei Locke: sensation), entstünden notwendig und unwillkürlich und würden 6
Fried[rich] Hein[rich] Jacobi’s Briefe an Friedr[ich] Bouterwek aus den Jahren 1800 bis 1819. Mit Erläuterungen hrsg. von W. Mejer, Göttingen 1868, S. 64. – Jacobi verweist auf die Seiten 59 bis 64 des »Gesprächs« von 1787 (JWA 2,1, 35–38). 7 Vgl. John Locke: An Essay concerning Human Understanding, hrsg. von Anthony Douglas Woozley, London und Glasgow 1974, S. 89: »Idea is the Object of Thinking« (II, 1, 1).
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auf Dinge außer uns verweisen. Der Verstand müsse beide Sorten von Ideen miteinander vergleichen, um dann von den unwillkürlichen Ideen auf die Existenz von Dingen außer uns und unabhängig von unserem Bewusstsein zu schließen. »Einen Theil meiner Vorstellungen«, so heißt es im David Hume, »bringe ich willkührlich hervor, und verknüpfe sie nach Wohlgefallen: hier fühle ich mich als ein thätiges Wesen. Eine Menge anderer Vorstellungen kann ich nicht willkührlich hervorbringen, noch sie beliebig verknüpfen: hier fühle ich mich als ein leidendes Wesen. Die Vergleichung beyder Vorstellungen, der willkührlichen und unwillkührlichen in ihrer Entstehung und Verknüpfung, leitet mich zu dem Schlusse, daß jene eine Ursache ausser mir haben müssen: folglich zu dem Begriff und der Ueberzeugung, von würklich ausser mir vorhandenen, von meinen Vorstellungen unabhängigen Gegenständen.« ( JWA 2,1, 36) An der Vermittlung von Subjekt und Objekt durch den Vergleich von Ideen bemängelt Jacobi, dass damit die »Vorstellung, als bloße Vorstellung«, der Gewissheit der Dinge vorhergehe. Der Schluss auf die Dinge hänge dann an ihrer Denkmöglichkeit, d. h. an der formalen Stimmigkeit des Schlusses: »Aus dem Orpheischen Ey des Denkbaren, das ist, aus dem Principio Contradictionis, gehen die Dinge, ohne den entbehrlichen Umstand der Realität, zuerst hervor«; ihre Realität, ihr Sein, sei, mit Kant gesprochen, nur ein nachträglich »hinzukommendes Prädicat«; dadurch werde das Verhältnis des Seins zum Bewusstsein umgekehrt: »Mir ist, als sähe ich die Leute auf den Köpfen gehen, unterdessen sie aus vollem Halse schreyen: Kopf oben! Kopf oben! Und, Kopf ab dem Ketzer, dem Kopf Verächter, der auf seinen Füßen stehen bleibt!« ( JWA 2,1, 36) Das erinnert an die von Friedrich Engels (nicht von Marx8) in Bezug auf Hegel gebrauchte Metapher, jedoch geht es Jacobi, anders als vielen Marxisten, nicht darum, das Verhältnis von Sein und Bewusstsein so umzukehren, dass das Sein – wie auch immer – das Bewusstsein bestimmt. Was, so fragt der Gesprächspartner im David Hume, sei denn eigentlich ungereimt an der Vorstellung, »daß wir die Ueberzeugung von dem würklichen Daseyn der Gegenstände ausser uns daher erhalten, daß uns ihre Vorstellungen ohne unser Zuthun gegeben werden« ( JWA 2,1, 37). Dies wäre die geläufige realistische bzw. materialistische Auffassung: das Sein bestimmt das Bewusstsein und Letzteres widerspiegelt das Sein. Allerdings, so wendet Jacobi ein: »Auch das Bewußtseyn wird uns ohne unser Zuthun gegeben; wir sind auch dieses nicht vermögend abzuweisen, und fühlen uns dabey nicht weniger paßiv als bey denen Vorstellungen, die wir, von äusseren Dingen, nennen.« (Ebd.) 8 Vgl.
Friedrich Engels: »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 293.
Grenzen der Vernunft
Diese Einheit von äußerer Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung bzw. Gegenstands- und Selbstbewusstsein liegt zunächst auf der Linie der Bewusstseinstheorien des 18. Jahrhunderts, denen zufolge Selbstbewusstsein durch die Hinwendung auf äußere Gegenstände begründet ist.9 Im Unterschied zum mainstream dieser Theorien interpretiert Jacobi dieses Reflexionsverhältnis aber als gleichsam doppelte Passivität und damit als Unmittelbarkeit: »Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas ausser mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblicke leidet meine Seele vom Gegenstande nicht mehr als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung.« ( JWA 2,1, 37) Dieser Augenblick liege allen Vorstellungen und aller Verstandestätigkeit voraus und bedeute, »daß auch bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, das Ich und das Du, inneres Bewußtseyn und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn muß; beydes in demselben Nu, demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach, ohne irgend eine Operation des Verstandes, ja ohne in diesem auch nur von ferne die Erzeugung des Begriffes von Ursache und Würkung anzufangen« ( JWA 2,1, 38). Damit wird zugleich deutlich, dass Jacobis eigene Auffassung keineswegs darin besteht, den Dingen an sich eine Kausalität in Bezug auf unser Bewusstsein zuzuschreiben; vielmehr gehen Realitäts- und Selbstgewissheit unmittelbar zusammen, so dass sich die Frage nach einer Kausalität, die der Reflexion angehört, hier gar nicht stellt. Die Reflexion erfolgt erst unter der Voraussetzung dieser unmittelbaren Gewissheit. Für sich genommen bewegt sie sich in einem unendlichen Regress, weil sie allein Bedingtes vermitteln kann, ohne das erreichen zu können, wodurch es bedingt ist. Wir können, wie es bereits in dem Spinoza-Buch heißt, in der Reflexion nur »Aehnlichkeiten (Uebereinstimmungen, bedingt nothwendige Wahrheiten) demonstriren, fortschreitend in identischen Sätzen. Jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes zum voraus, dessen Principium Offenbarung ist.« ( JWA 1,1, 124) Was bedeutet dies nun für die Grenzziehung der Vernunft (im weitesten Sinne) im Blick auf die Realität der sinnlichen Welt? Es ist nicht eine Grenze zwischen Verstand und Sinnlichkeit und auch nicht zwischen Vorstellung bzw. Erscheinung und Realität. Die Grenzziehung erfolgt vielmehr zwischen der uns unbegreiflichen, unmittelbaren Einheit von Subjekt und Objekt, äußerer Realität und Selbst sowie Realitäts- und Selbstbewusstsein auf der einen Seite sowie der reflektierenden Tätigkeit des Verstandes auf der anderen Seite. Die Grenze liegt damit eigentlich im Bereich des Bewusstseins, wo 9
Vgl. Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts (= Quellen und Studien zur Philosophie 64), Berlin und New York 2005.
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zwischen dem Bereich des Wissbaren und Unwissbaren unterschieden wird, und in dieses begrifflich nicht einholbare Unwissbare fällt die Einheit von Bewusstsein und Realität. Diese Grenzziehung hat auch Konsequenzen für das Verhältnis von Verstand und Vernunft und das Verhältnis der Vernunft im weitesten zum Unbedingten, denn die nicht wissbare, unmittelbare Einheit schließt ja zusammen mit der ansichseienden Realität auch das Gegebensein der Vernunft mit ein, verweist also auf das, was Kant in der trans zendentalen Dialektik das Bedingende der Vernunft bzw. das Unbedingte nennt.
III.
In der »Vorrede« zum zweiten Band seiner Werke (1815) schreibt Jacobi, dass im David Hume »zwischen Verstand und Vernunft noch nicht mit der Schärfe und Bestimmtheit unterschieden wird, wie in den späteren Schriften des Verfassers«, und dass er den »Doppelsinn[] des Wortes Vernunft« noch nicht hinweggeräumt habe ( JWA 2,1, 377). Aus dieser Sicht ist die soeben erläuterte Grenzziehung zunächst keine der Vernunft, sondern des Verstandes, und die Grenze der Vernunft im eigentlichen Sinne ist zunächst gegenüber dem Verstand zu ziehen. Der Verstand bleibe, so heißt es in der Epistel über die Kantische Philosophie (1791), im unendlichen Regress von Bedingung zu Bedingung gefangen und könne daher dasjenige, was das Bewusstsein bedingt, nicht erreichen, wonach er »gemäß seiner einheitlichen Natur oder Form aber unverrückt streben muß« ( JWA 2,1, 154). Insoweit stimmt Jacobi mit Kant überein, der ja ebenfalls der Auffassung war, dass die transzendentale Dialektik als der Versuch, auf das Unbedingte auszugreifen, unabdingbar sei. Und er stimmt auch darin mit Kant überein, dass die Vernunft als das Vermögen der Ideen, also des Unbedingten, nicht auf das Wissen eines eigentlich Realen führe. Kants Kritik der reinen Vernunft habe »zur Hauptabsicht, den Verstand vor der reinen Vernunft, die ihm überall nur etwas weiß zu machen sucht, in so fern, öffentlich und heimlich zu warnen, und gegen ihre Verführungen ihn nach Möglichkeit sicher zu stellen, dadurch, daß er ihn, wie die Ideen ihn zum Besten haben, gleichsam mit Händen greiffen läßt« ( JWA 2,1, 155). Hierin besteht für Jacobi, wie schon zitiert, das unendliche Verdienst Kants. Die Konsequenz, der Jacobi zustimmt, fließt bei ihm jedoch aus einer anderen Quelle als bei Kant, nämlich der unmittelbaren Gewissheit einer unhintergehbaren Einheit des Bewusstseins überhaupt mit einer ansichseienden sinnlichen Realität. An dieser Gewissheit fehle es Kant, weshalb bei ihm alles
Grenzen der Vernunft
in der Luft hänge.10 Das Verhältnis von Verstand und Vernunft werde bei ihm daher zu einem Verwirrspiel wechselseitigen Voraussetzens und Kritisierens: »Die Vernunft hat dem Verstande das Verneinen zu verbieten, der Verstand hingegen der Vernunft das Bejahen; die Vernunft hat den Verstand zu respectiren und wird positiv durch ihn eingeschränkt, der Verstand hingegen erhält von der Vernunft nur eine scheinbare Begränzung, eine negative Einschränkung, und bedient sich ihrer Ideen, ohne seine Verständigkeit aufzugeben, zur äußersten Erweiterung seines Gebiets. Die Vernunft sitzt im Oberhause, der Verstand im Unterhause; letztrer repräsentirt die Sinnlichkeit, die eigentliche Souverainetät, ohne deren Ratification nichts Gültigkeit haben kann.« ( JWA 2,1, 272 f.) Eine solche Dialektik von Verstand und Vernunft, »welche es gar sehr verdient […] umständlich ausgeführt zu werden«, hat Kant im § 76 der Kritik der Urteilskraft skizziert (AA V, 401). Die Vernunft als ein »Vermögen der Principien« nehme im Ausgriff auf das Unbedingte den Verstand in den Dienst, verfalle aber darum der Kritik des Verstandes, weil die Vernunft ohne ihn nicht objektiv urteilen könne: »Man wird bald inne: daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft überschwenglich wird und in zwar gegründeten Ideen (als regulativen Principien), aber nicht objectiv gültigen Begriffen sich hervorthut; der Verstand aber, der mit ihr nicht Schritt halten kann, aber doch zur Gültigkeit für Objecte nöthig sein würde, die Gültigkeit jener Ideen der Vernunft nur auf das Subject […] einschränke, […] ohne doch zu behaupten, daß der Grund eines solchen Urtheils im Objecte liege.« (Ebd.) Diese Dialektik des wechselseitigen Voraussetzens und Kritisierens von Verstand und Vernunft führt zu dem von Jacobi behaupteten Ergebnis: Während die Vernunft hinsichtlich ihrer objektiven Gültigkeit an den Verstand gebunden bleibt und dadurch eingeschränkt wird, kann der Verstand sich auf seine Weise der Vernunftideen bedienen, ohne indes Gewissheit hinsichtlich ihrer objektiven Gültigkeit gewinnen zu können. Da die Vernunft dies aufgrund ihrer Bindung an den Verstand auch nicht vermag, fehlt auch ihr die Gewissheit und sie fällt immer wieder in den Verstand zurück, obwohl sie nicht davon ablassen kann, immer wieder das Unbedingte ergreifen zu wollen. Die Dialektik von Verstand und Vernunft bleibt somit aporetisch; sie fällt in sich zusammen und erneuert sich doch immer wieder selbst. Mehr noch: Die »Idee des Unbedingten« bleibt »durch und durch leer«: »Man hat nur alle Bedingungen weggedacht, und was übrig bleibt, ist – Nichts, eine offenbare Erdichtung.« ( JWA 2,1, 282 f.) 10
Bei Kant dagegen »schwebet, ohne irgend eine Haltung, im menschlichen Erkenntnißvermögen alles blos zwischen einem problematischen = X des Objects, und einem eben so problematischen = X des Subjects, welche beyde – herkommen, man weiß nicht woher« (Ueber das Unternehmen, JWA 2,1, 288 f.).
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Das negative Resultat der Transzendentalphilosophie ist für Jacobi aber mehr als ein bloßes Scheitern in der Erkenntnis des Unbedingten und damit in dem Versuch, dem reflektierenden Erkennen des Verstandes Halt zu geben; es hat vielmehr ein Wahrheitsmoment darin, dass es auf den eigentlichen Charakter des Wahren im emphatischen Sinne, also des Unbedingten, verweist, nämlich überhaupt außerhalb des Wissbaren zu liegen. Dieses Bewusstsein der Unwissenheit ist aber nicht nur ein negatives Resultat in Beziehung auf die Versuche des sich zur Vernunft erweiternden Verstandes, sondern schließt ebenso eine (negative) Beziehung auf das Wahre ein, das in dieser Unwissenheit aufscheint. In diesem Sinne heißt es in Jacobi an Fichte (1799): »Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was vor und außer dem Wißen ist; was dem Wißen, und dem Vermögen des Wißens, der Vernunft, erst einen Werth giebt.« ( JWA 2,1, 208) Vernunft bezeichnet demnach zunächst so etwas wie eine objektive Bindung des in sich selbst haltlosen Subjektiven; eine reine Vernunft ist demnach keine wahre Vernunft, sondern streng genommen Unvernunft:11 Jacobi leitet bekanntlich Vernunft von Vernehmen her, wobei die reine Vernunft »nur sich selbst vernimmt«, wodurch »alles außer ihr in Nichts verwandelt« werde ( JWA 2,1, 201). Wenn auch, wie wohl angenommen werden darf, so etwas wie eine Selbstreflexion der Vernunft möglich ist, so könnte sie damit nach Jacobi doch nicht ihr Sein, genauer: ihr Gegebensein, erfassen. Das Vernehmbare ist für Jacobi immer etwas außerhalb des Vernehmenden. »Vernehmen sezt ein Vernehmbares; Vernunft das Wahre zum voraus: sie ist das Vermögen der Voraussetzung des Wahren. […] Mit seiner Vernunft ist dem Menschen nicht das Vermögen einer Wißenschaft des Wahren; sondern nur das Gefühl und Bewustseyn seiner Unwißenheit desselben: Ahndung des Wahren gegeben.« ( JWA 2,1, 208) Die vernehmende Vernunft als Vermögen lässt von der Vernunft, trotz Jacobis Wertschätzung der Vernunft, eigentlich nur die Ahnung des Wahren übrig, jedenfalls, sofern sie als menschliche Vernunft gelten kann. Zwar müsse, so postuliert Jacobi, eine »nicht blos wahr-nehmende, sondern alle Wahrheit aus sich allein hervorbringende«, also göttliche Vernunft vorhanden sein, die »Mehr als Ich! Beßer als ich! – ein ganz Anderer« sei ( JWA 2,1, 209 f.), jedoch bleibe sie dem Wissen unzugänglich. Von der hochgeschätzten menschlichen Vernunft bleibt dann nicht viel zu sagen. Als »Ahndung des Wahren« gibt sie dem Verstand einen Halt und »erleuchtet« ihn, wie Jacobi es ausdrückt, aber sie selbst ist eben auch nicht mehr als diese Ahnung, dass 11
Vgl. Walter Jaeschke: »Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung«, in: ders. und Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (= Studien zum 18. Jahrhundert 29), Hamburg, S. 199–216.
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alles Bedingte und Erscheinende im unzugänglichen Wahren einen Grund habe. In der Konsequenz fällt die Unterscheidung von Verstand und Vernunft in sich zusammen. Die Vernunft, um Jacobis berühmte Frage zu bemühen (»Hat der Mensch Vernunft, oder hat Vernunft den Menschen?«; JWA 2,1, 232), hat den Menschen, aber der Mensch hat die Vernunft nur als Grenze des Verstandes so, dass er darüber hinaus ein Wahres ahnt, das auf den Verstand abfärbt: »Ueber dem von der Vernunft erleuchteten Verstande und Willen ist im Menschen nichts, auch nicht die Vernunft selbst; denn das Bewußtseyn der Vernunft und ihrer Offenbarungen ist nur in einem Verstande möglich. Mit diesem Bewußtseyn wird die lebendige Seele zu einem vernünftigen, zu einem menschlichen Wesen.« (JWA 2,1, 378) Anders gesagt: die menschliche Vernunft ist eine Bewegung auf der Grenze des Wissbaren; sie ist im Modus des Ahnens über sie hinaus und nur dadurch mehr als der Verstand, dass sie ihn durch diese Ahnung zur Vernunft bringt. Die menschliche Vernunft ist von dieser Seite aus nicht mehr als ihre eigene Grenze, nämlich die des zur Vernunft gebrachten Verstandes zur erahnten Wahrheit.
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Die Wirklichkeit des Wahren Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant I. Einleitende Bemerkungen
In allen philosophischen Schriften Jacobis spielt der Begriff einer unmittelbaren Gewissheit, Glauben genannt, eine fundierende Rolle. Nicht in allen Phasen seiner philosophischen Entwicklung vermochte er jedoch diese Konzeption in der ihr gebührenden Klarheit und Deutlichkeit zu artikulieren. Das hat Jacobi selbst erkannt. Seit der Arbeit an seinem 1787 publizierten Gespräch David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus bemüht er sich um Klärung dieses für ihn zentralen Begriffs. Besonders in seinen spätesten Schriften und zumal in der »Vorrede« zum zweiten Band seiner Werke (1815), die er ausdrücklich als »Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften« ( JWA 2,1, 374) verstanden wissen wollte, ist ihm eine solche grundsätzliche Klärung gelungen. Auch wenn Jacobi niemals Systemdenker im Sinne seiner nachkantischen Zeitgenossen Fichte, Schelling oder Hegel gewesen ist, zeigt er sich dem Leser in diesem späten Text mehr noch als in seinen früheren Schriften als systematischer Denker, der mit einem reichhaltigen und genau differenzierten begrifflichen Instrumentarium operiert. Der Mangel an begrifflicher Präzision, unter dem Jacobis erste philosophische Schriften leiden, hat sich auf seine gleichwohl für beide Denker sehr wichtige Auseinandersetzung mit Kant nachteilig ausgewirkt. Seine eigene Konzeption eines Vernunftglaubens hat Kant im Zusammenhang mit dem von Jacobi ausgelösten Pantheismusstreit weiterentwickelt und in seiner öffentlichen Stellungnahme dazu, dem sog. Orientierungsaufsatz (1786), eine gegenüber der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ausführlichere Diskussion der Thematik vorgestellt (AA VIII, 139–144; vgl. A 828–830). Aber in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi zielt Kant unwissentlich am eigentlichen Gehalt von Jacobis Glaubensbegriff vorbei und verfehlt deshalb sowohl die darin angelegte, genuin neue philosophische Perspektive als auch die Herausforderung, die sie für sein eigenes Denken hätte bedeuten können. Der vorliegende Beitrag versucht Ansätze zu einer angemessenen Gegenüberstellung beider Konzeptionen zu entwickeln – der kantischen Konzeption eines Ver-
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nunftglaubens an die Wirklichkeit des Unbedingten auf der einen Seite, der Jacobischen Konzeption einer im Gefühl gegebenen Gewissheit desselben auf der anderen. Die sechs hier folgenden Abschnitte gliedern sich grob in zwei Teile. Abschnitte (II) bis (IV) positionieren Jacobi im Kontext der neuzeitlichen Erkenntnistheorie unter besonderer Berücksichtigung seines erkenntnistheoretischen Partikularismus und der damit zusammenhängenden Kritik an intellektualistischen Ansätzen. Im Mittelpunkt steht Jacobis Konzeption der Wahrnehmung als einer nicht-repräsentational vermittelten Existenzgewissheit. Abschnitte (V) bis (VII) vertiefen diese Idee im Hinblick auf das Thema einer spezifisch sittlichen Rezeptivität der Vernunft. Abschnitt (V) expliziert die begrifflichen Verhältnisse zwischen Glauben, Gefühl und Vernunft auf der Grundlage von Jacobis eben erwähnter terminologischer Klärung dieser Begriffe in der genannten »Vorrede und Einleitung«. Abschnitt (VI) zieht Strawsons einflussreiches Konzept der »reactive attitudes« heran, um Jacobis Einsicht in den inneren Zusammenhang zwischen den sittlichen Gefühlen und der Realität menschlicher Freiheit zusätzlich zu beleuchten. Abschnitt (VII) unterstreicht die Stärken von Jacobis Position im Vergleich zu Kants dualistisch geprägter Konzeption des Gefühls der Achtung und des dadurch motivierten »Vernunftglaubens«. Die Anerkennung einer nicht-»pathologischen« Empfänglichkeit für spezifisch sittliche Gefühle ist der Schlüssel zum Verständnis und zur Würdigung von Jacobis Beitrag zu einer personalistischen Ethik und Philosophie des Geistes.
II. Jacobis Anti-Cartesianische Lehre von der Gewissheit meiner selbst
Gegenüber seinen philosophischen Zeitgenossen positioniert sich Jacobi ausdrücklich als Anti-Cartesianer. »Ich gehe«, erklärt er, »wie die Morgenländer in ihren Conjugationen von der dritten, nicht von der ersten Person aus, und glaube, man dürfe schlechterdings nicht das sum dem cogito nachsetzen.« ( JWA 1,1, 157)1 Zu dieser Formulierung ist er wahrscheinlich durch Hamann inspiriert worden, der sich in diesem Sinne mehrfach äußert, z. B. im Brief an Jacobi vom 1./2. Juni 1785: »Nicht Cogito; ergo sum, sondern umgekehrt, oder noch Hebräischer Est; ergo cogito, und mit der Inuersion eines so einfachen Principii bekommt vielleicht das ganze System [der Vernunft] eine andere Sprache, und Richtung.« ( JBW I,4, 107) Die Erklärung ist freilich mehrdeu1
Vgl. den Brief Hamanns an Jacobi vom 15.1.1786, in: JBW I,5, 23. Den Hinweis auf die Stellen bei Hamann verdanke ich John Betz.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
tig und lässt, wie wir sehen werden, drei sich gegenseitig erhellende Lesarten zu. Die erste dieser Lesarten ergibt sich im Zusammenhang mit Jacobis These, dass ich keine Vorstellung, keinen Begriff im eigentlichen Sinn von der inneren Quelle meines eigenen Seins und Lebens bilden kann: »[D]enn das Eigenthümliche ihres Wesens ist, sich von allen Empfindungen und Vorstellungen zu unterscheiden. Sie ist dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande mich selbst nenne, und von dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subject aller seiner Veränderungen ist. Die Seele, um eine Vorstellung von sich zu haben, müßte sich von sich selbst unterscheiden, sich selbst äusserlich werden können.« (JWA 2,1, 83; vgl. JWA 1,1, 258 Fn.)
Die These stützt sich auf Jacobis (mit Kant geteilte: vgl. JWA 2,1, 46) kategoriale Unterscheidung zwischen Eigenschaft und Existenz und seine grundsätzliche Beschränkung von repräsentationalem Gehalt auf dasjenige, was sich als Eigenschaft abstrahieren und verallgemeinern lässt. Vorstellungen enthalten demnach »nur Beschaffenheiten der würklichen Dinge, nicht das Würkliche selbst« ( JWA 2,1, 69). Dass ich von mir selbst im eigentlichsten Verstande keine Vorstellung haben kann, folgt also zunächst daraus, dass Sein keine Beschaffenheit ist und sich deshalb durch keine Vorstellung vertreten lässt (vgl. JWA 2,1, 44–47). Nicht nur von dem Sein, das ich bin, kann ich also keine Vorstellung haben; von keinem wirklichen Wesen kann dessen eigentliches Sein, dessen eigene Wirklichkeit zum Vorstellungsinhalt werden (vgl. JWA 2,1, 69). Wenn ich im Allgemeinen keine Vorstellung von dem Wirklichen als solchem habe, dann habe ich also auch im besonderen Fall meiner selbst keine Vorstellung von dem, was im eigentlichsten Verstande ich selbst bin. Das Besondere am Selbstbewusstsein erschöpft sich indessen darin noch nicht. Um von mir selbst eine Vorstellung bilden zu können, müsste ich mich in einer Weise von mir selbst unterscheiden und mir selbst äußerlich werden, wie es Jacobi an der eben zitierten Stelle als unmöglich ausschließt (vgl. JWA 2,1, 83). Ich müsste nämlich imstande sein, mich dergestalt auf anderes vergleichend zu beziehen, dass ich dadurch eine besondere Beschaffenheit an mir selber identifizieren könnte, die mich zwar nicht meiner Wirklichkeit, wohl aber meiner inneren Möglichkeit nach als diesen und keinen anderen vertreten, repräsentieren könnte. Aber zu einem im logisch-diskursiven Sinn besonderen Fall kann ich (für mich selbst) unmöglich werden, und zwar aus eben demselben sachlichen Grund, aus dem auch das Cartesische Cogito seine einzigartige Gewissheit bezieht: Ich kann mir nämlich selbst niemals in der Weise eines möglicherweise unerfüllten Zeichens meiner selbst als bloß möglicherweise
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wirklich präsent werden. Die Weise, in der ich meines eigenen, wirklichen Daseins gewahr werde, schließt alle Möglichkeit der Vorstellung desselben, ja in gewissem Sinn sogar alle bloße Möglichkeit als solche schlechterdings aus. Mein Dasein ist mir also auf eine Weise gegeben, die sowohl seine Vergleichbarkeit als auch sein bloß mögliches Sein ausschließt, eine Weise, die meine Individualität und Wirklichkeit unmittelbar bezeugt.2 Jacobis Aussage, man dürfe schlechterdings das ›Ich bin‹ dem ›Ich denke‹ nicht nachsetzen, lässt sich also zunächst in diesem Sinn verstehen: Das wirklich Seiende kann mir nur in oder als Wahrnehmung gegeben werden; meine eigene Wirklichkeit geht der Vorstellung nicht nur vorher, sondern es ist sogar unmöglich, dass sie jemals in ihr aufgehen, geschweige denn aus ihr hervorgehen könnte. Auch dem Denken im engeren Sinn der Repräsentation und der abstrahierenden Reflexion geht das ›Ich bin‹ vorher. Denn Denken setzt voraus, dass man sich die zu denkenden Gegenstände anhand von Begriffen, d. h. Teilvorstellungen ihrer besonderen Beschaffenheiten, repräsentiert. Indem diese niemals das wirkliche Sein selbst beinhalten können, stellen sie das Vorgestellte immer nur als etwas bloß Mögliches vor. Von der Art kann jedoch das Bewusstsein meiner selbst niemals sein. Ich bin mir selbst in meiner Wirklichkeit unmittelbar präsent, und zwar als dieser, ohne dass ich zu dieser Gewissheit auf das Vorhandensein von irgendwelchen Eigenschaften oder Beschaffenheiten meiner selbst angewiesen wäre, die als Kriterien zur Identifikation dienen müssten oder auch nur könnten. Nach dieser ersten Lesart fordert uns Jacobi dazu auf, die Cartesische Folge umzukehren und das Sum dem Cogito vorzusetzen. Allerdings lässt sich Jacobis Satz ebenso gut als Aufforderung lesen, überhaupt das Verhältnis der Folge aufzuheben und das ›Ich bin‹ dem ›Ich denke‹ beizuordnen. Für diese zweite, alternative Lesart spricht Jacobis häufig zitierte Erklärung: Es sei das »unabläßige[] Bestreben« der spekulativen Philosophie, »die dem natürlichen Menschen gleiche Gewißheit dieser zwey Sätze: Ich bin, und es sind Dinge außer mir, ungleich zu machen. Sie mußte suchen den Einen dieser Sätze dem andern zu unterwerfen; jenen aus diesem oder diesen aus jenem – zulezt vollständig – herzuleiten« ( JWA 2,1, 194; vgl. ebd., 38). Im Lichte dieser Erklärung besehen, besagt Jacobis Kritik am »Cartesischen Axiom«: Selbst- und Gegenstandsbewusstsein sind von gleicher Unmittelbarkeit. Keines der beiden folgt aus dem anderen; ebenso wenig, wie ich in die eine Richtung vom Bewusstsein meiner selbst auf das Dasein von Dingen außer mir schließen müsste oder 2
Zu dieser und zur folgenden Überlegung vgl. in sachlicher Hinsicht Birgit Sandkaulen: »›Ich bin und es sind Dinge außer mir‹. Jacobis Realismus und die Überwindung des Bewusstseinsparadigmas«, in: dies.: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, S. 135–167, bes. S. 136–141.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
auch nur könnte, ebenso wenig ist umgekehrt meine eigene Daseinsgewissheit durch einen Schluss vom Vorhandensein bewusster Inhalte vermittelt. Jacobis direkter Realismus gehört in der Tat zum Kern seiner Position. »[D]ie Erkenntniß des Würklichen ausser uns«, schreibt er, werde »uns geradezu durch die Darstellung des Würklichen selbst gegeben […], so daß kein andres Erkenntnißmittel dazwischen eintrete« ( JWA 2,1, 68 f.; vgl. JWA 1,1, 116). Gleichwohl gilt umgekehrt, dass ich die Gewissheit meines eigenen Seins faktisch von der unmittelbaren Gewissheit der Wirklichkeit von »Dingen außer mir« nicht trennen kann. »Es ist klar«, resümiert der Dialogpartner »Er« im David Hume, »daß wir zu dem Bewustseyn unseres Bewustseyns, dem Gefühl von uns selbst nicht gelangen können, als indem wir uns von etwas ausser uns unterscheiden.« ( JWA 2,1, 85 f.; vgl. ebd., 57 sowie JWA 1,1, 116) Es kommt allerdings auf die richtige Bestimmung dieses Bedingungsverhältnisses an. In seiner Methodenabhandlung fügt Descartes dem Cogito eine kurze Erläuterung bei, der zufolge die Gewissheit seines Satzes auf der Einsicht beruhen sollte, »dass, um zu denken, man da sein muss«3 – so, als würde man von der Präsenz der Vorstellungsinhalte auf das Dasein eines diese Inhalte vorstellenden Subjektes schließen, welches zudem noch ich selbst sein soll. Nun weist Descartes selbst an anderer Stelle das Missverständnis ausdrücklich zurück, als handelte es sich beim Cogito um eine Schlussfolgerung im gewöhnlichen Sinne; insbesondere bedarf es keines vermittelnden Grundsatzes, um mit dem Gegebensein der Vorstellung die Gewissheit und Wirklichkeit des Ich zu verknüpfen (vgl. AT VII, 140).4 Auch Jacobi anerkennt die einzigartige Gewissheit des Cogito; er bestreitet nur, dass Descartes selbst die wahre Natur dieser Gewissheit erfasst und richtig dargestellt habe. Gleich starke Vorbehalte dürfte Jacobi auf der anderen Seite auch gegen Humes Ansicht hegen: »Mich selbst kann ich niemals ohne eine Vorstellung [perception] erhaschen und niemals kann ich irgend etwas außer der Vorstellung beobachten. Werden meine Vorstellungen auf eine gewisse Zeit entfernt, […] so lange bin ich aller Empfindung meiner selbst beraubt und existiere wahrhaftig nicht.«5
3 René
Descartes: Discours de la Méthode, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Hamburg 2011, S. 59/AT VI, 33. 4 Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hrsg. von Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 127 f./AT VII, 140. 5 Übers.: B.B.; vgl. David Hume: A Treatise of Human Nature, hrsg. von Lewis A. SelbyBigge, zweite Aufl. von Peter H. Nidditch, Oxford 1978, S. 165.
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Aus Jacobis Sicht begeht Hume nämlich gleich einen zweifachen Fehler, indem er erstens das bewusste Sein auf Vorstellung und Empfindung reduziert, ohne die Möglichkeit (und Wirklichkeit) einer nicht weiter qualitativ verfassten Gewissheit der Wirklichkeit zu bedenken; und zweitens, indem er nicht nur das je meinige Selbstgewahrsein, sondern auch sogar das je meinige Dasein selbst von der Empfindung abhängen lässt. Der Sache nach kritisiert Jacobi denselben Fehler an Kants Widerlegung des Idealismus. Durch den Nachweis, dass »selbst unsere innere, dem Cartesius unbezweifelte, Erfahrung nur unter Voraussetzung äußerer Erfahrung möglich sei« (B 275), will Kant das idealistische Spiel umgekehrt haben. Mit dieser »Umkehrung des Spiels« sei indessen nichts gewonnen, denn dadurch komme »dem Cartesianischen Cogito ergo sum, nur ein gleich beschaffenes Cogito ergo es, gegen über zu stehen« ( JWA 2,1, 393). Weder also auf die bloße Umkehrung der Cartesianischen Reihenfolge noch allein auf die Aufhebung des Folgeverhältnisses zugunsten eines Verhältnisses der wechselseitigen Voraussetzung kommt es demnach an, sondern auf den spezifischen Charakter der Gewissheit, mit der ich meiner selbst notwendig nur durch Interaktion mit Dingen und denkenden Wesen außer mir gewahr werden kann. Die doppelte Gewissheit meiner eigenen Wirklichkeit zusammen mit der Wirklichkeit von Dingen außer mir entspringt nur in und durch mein Handeln. Wie Birgit Sandkaulen betont, ist diese Einsicht in die praktische Fundierung des Selbst- und Weltverhältnisses von grundlegender Wichtigkeit, denn sie motiviert Jacobis Umstellung der philosophischen Reflexion von dem sonst vorherrschenden »Beobachtermodell« auf die »ganz andere Perspektive des Lebensvollzugs«.6 Handeln bedeutet für Jacobi eine »Grunderfahrung« ( JWA 2,1, 54), in der nicht nur die basale nicht-repräsentationale Wahrnehmungsgewissheit meiner eigenen sowie der Wirklichkeit von Dingen außer mir entspringt, sondern auch die damit unmittelbar zusammenhängende Gewissheit, dass ich als verkörpertes Wesen in zeitlich-sukzessiver kausaler Interaktion mit anderen Wesen grundsätzlich gleicher Natur stehe. In seiner scharfsinnigen Analyse von Humes eigenen Beobachtungen zur Entstehung des Begriffs von Ursache und Wirkung argumentiert Jacobi, dass Hume selbst gezwungen ist, die wichtige Rolle anzuerkennen, die unsere Erfahrung des absichtlichen Handelns spielt. Hume gibt, schreibt er, »[d]as Gefühl einer Kraft, und die Wahrnehmung des Erfolgs ihrer Anwendung […] also zu« ( JWA 2,1, 55). Humes Fehler liegt darin, dass er dieses »für keine vollständige Erfahrung von Ursache und 6 Siehe
Birgit Sandkaulen: »Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens«, in: Jacobis Philosophie, S. 33–54: S. 48.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
Würkung« anerkennt, »weil wir nicht auch empfinden, wie diese Kraft diesen Erfolg zuwege bringt« (ebd.). Humes Weigerung, diese Kraft als hinreichend zur Erklärung (zur »vollständigen Erfahrung«) der Kausalität anzuerkennen, beruht indessen allein auf einer nicht weiter gerechtfertigten, intellektualistischen Vorannahme: dass nämlich nur solche Erfahrung als adäquat gelten dürfe, aus der man Einsicht in die mechanischen Bedingungen der Machbarkeit gewinnen könne. Doch wie Jacobi an dieser sowie an zahlreichen weiteren Stellen betont, setzt unsere Wirklichkeitsgewissheit keineswegs Einsicht in die Bedingungen voraus, unter denen das uns gewisse Wirkliche möglich wird; umgekehrt ist es vielmehr das Wirkliche selbst, welches die notwendige Voraussetzung des Möglichen bildet. Jacobis Zurückweisung des Cogito ergo sum lässt also zunächst zwei unterschiedliche, aber sich gegenseitig erhellende Lesarten zu. In der einen Lesart, als direkte Umkehrung des Cartesianischen Satzes, behauptet Jacobi die Priorität des Wirklichen vor dem bloß (Denk-)Möglichen, der Wahrnehmung vor der bloßen Vorstellung, und zwar zunächst im Hinblick auf die Gewissheit meiner selbst. In der anderen Lesart, als Verneinung jedweden Folgeverhältnisses zwischen Selbst- und Welterfahrung, drückt sie eine Grundeinsicht von Jacobis Philosophie überhaupt aus: Meiner selbst werde ich erst in und durch die handelnde Interaktion mit Dingen außer mir, vorzüglich aber mit meinesgleichen bewusst; Selbstgewissheit ist zuerst und wesentlich Handlungsgewissheit. Beiden Lesarten gemeinsam ist Jacobis Zurückweisung der Forderung nach »mechanischer Erklärung«, nach Einsicht in die Bedingung der Möglichkeit (d. h. der Machbarkeit) als Kriterium der berechtigten Gewissheit, und zwar sowohl im Falle des Selbstbewusstseins als auch im Falle der Gewissheit eigener ursächlicher Wirksamkeit im Handeln, die ja in ihrem Grunde zusammenfallen. Noch eine dritte, ebenfalls kompatible Lesart ist, wie wir sehen werden, möglich und zur vollständigen Aufschließung von Jacobis Standpunkt auch notwendig. Ehe wir uns ihr jedoch zuwenden, ist noch eine wichtige Implikation zu betrachten, die in Jacobis Stellung zur Frage des Kriteriums berechtigter Gewissheit liegt.
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III. Jacobis erkenntnistheoretischer Partikularismus; Folgen für seinen Begriff des Glaubens im Vergleich zu Kants Begriff des Vernunftglaubens
Mit Jacobis Konzept der Wahrnehmung hängt auch seine Richtung gegen den Methodismus zusammen, der für die neuzeitliche Erkenntnistheorie insgesamt prägend geworden ist, und zwar bei Hume und Kant nicht weniger als bei dem Urmethodisten Descartes.7 Der Methodismus im hier gemeinten Sinne setzt entweder bei einem formalen Wissenskriterium an, um zu prüfen, ob sich unter unseren Überzeugungen solche finden, die dem Kriterium genügen; oder aber er setzt bei Erkenntnisregeln an, welche bereits im Voraus die Form des dadurch etwa zu entdeckenden Wahren festlegen. Im Gegensatz dazu geht der Partikularismus vom tatsächlichen Fürwahrhalten bestimmter, inhaltlich-konkreter Sätze aus. Ob die Gewissheit von der Wahrheit dieser Sätze etwa stets von derselben Form sein möchte, ob sich ihre Wahrheit nur durch bestimmte Untersuchungsmethoden bewähren oder sich ihr Inhalt einem besonderen Typus oder Gegenstandsbereich vorzugsweise zuordnen lasse – kurz, ob sie einen Leitfaden zur Bestimmung eines allgemeingültigen formalen Kriteriums an die Hand geben, ist eine Frage, die sich, wenn überhaupt, so erst durch Betrachtung der inhaltlich konkreten Wahrheiten und die Art ihrer Gewissheit entscheiden lässt. Als Partikularist in diesem Sinn darf Jacobi gelten. »Wie können wir nach Gewißheit streben«, fragt er in den Spinoza-Briefen, »wenn uns Gewißheit nicht zum voraus schon bekannt ist; und wie kann sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas das wir mit Gewißheit schon erkennen?« ( JWA 1,1, 115, Hervorhebung: B.B.) Basaler als die Gewissheit ist also das Gewisse selbst, d. h. das inhaltlich bestimmte Wirkliche, anhand von dessen eigener Wirklichkeit wir erst eine allgemeine Vorstellung von Gewissheit bilden können. »Dieses führt zu dem Begriffe einer unmittelbaren Gewißheit«, fährt Jacobi an der zitierten Stelle fort, »welche […] einzig und allein die mit dem vorgestellten Dinge übereinstimmende Vorstellung selbst ist« (ebd.) – oder wie man im Sinne 7
Die Unterscheidung zwischen erkenntnistheoretischem Methodismus und Partikularismus stammt von Roderick Chisholm (The Foundations of Knowing, Minneapolis 1982, S. 63–75), der neben Descartes auch Locke und Hume zu den Methodisten zählt, als Vertreter des Partikularismus aber Thomas Reid nennt. Zu Jacobis Verhältnis zu Reid siehe George di Giovanni: »Hume, Jacobi, and Common Sense. An Episode in the Reception of Hume in Germany at the Time of Kant«, in: Kant-Studien 89 (1998), S. 44–58, sowie Brady Bowman: »Notiones Communes und Common Sense. Zu den Spinozanischen Voraussetzungen von Jacobis Rezeption der Philosophie Thomas Reids«, in: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (= Studien zum 18. Jahrhundert 29), Hamburg 2004, S. 159–176.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
Jacobis wohl präziser sagen müsste: die das Wirkliche bezeugende Wahrnehmung selbst.8 Das bedeutet offenbar erstens, dass wir die Form der Gewissheit vom gewussten Inhalt allenfalls logisch, durch Abstraktion unterscheiden können. Zweitens bedeutet es, dass zwei verschiedene Vorstellungen allenfalls eine ähnliche Gewissheit, und zwar aufgrund inhaltlicher Ähnlichkeit, haben können, niemals aber dieselbe Gewissheit. So haben wir Jacobi zu verstehen, wenn er an derselben Stelle fortfährt: »Gründe sind nur Merkmale der Aehnlichkeit mit einem Dinge dessen wir gewiß sind. Die Ueberzeugung, welche sie hervorbringen, entspringt aus Vergleichung, und kann nie recht sicher und vollkommen seyn.« ( JWA 1,1, 115, Hervorhebungen: B.B.) Weil Jacobi den Methodismus zumal in seiner spezifisch Cartesianischen, an der mathematisierten Naturwissenschaft orientierten Form implizit ablehnt, weist er auch explizit den damit zusammenhängenden Intellektualismus zurück. Unter ›Intellektualismus‹ verstehe ich hier einen Standpunkt, der die wissenschaftliche Erklärbarkeit, d. h. die Begründbarkeit durch klar und deutlich einsehbare Axiome zum Maßstab der Realität nicht weniger als der Erkenntnis erhebt. Daher Jacobis kritische Haltung gegen die sogenannte »Erklärungssucht« ( JWA 1,1, 29). Dem wahrhaften Forscher sei Erklärung immer »Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache« (ebd.). Halten wir den methodologischen Unterschied zu Kant fest, mit dem sich Jacobi in mancher kritischen Folgerung dennoch einig weiß, insbesondere was die Zurückweisung des philosophischen Naturalismus betrifft. Alle »Nichtplatonischen Philosophen«, erklärt Jacobi, »von Aristoteles an bis auf Kant« ( JWA 2,1, 387), hätten eine Kontinuität der Art nach zwischen Tier und Mensch angenommen und in Einklang damit einen kontinuierlichen begrifflichen Aufstieg von der Sphäre des sinnlich erfahrbaren Bedingten in diejenige des Unbedingten behauptet. Diese dem Naturalismus zugrundeliegende Annahme als intellektualistischen »Selbstbetrug« ( JWA 2,1, 389) enthüllt und die Unmöglichkeit eines Übergangs vom Bedingten zum Unbedingten auf dem Wege bloßer Erklärung dargetan zu haben, würdigt Jacobi als »Kants wahrhaft große That, sein unsterbliches Verdienst« ( JWA 2,1, 390). Aber Kant erreicht dieses Resultat als Konsequenz seines erkenntnistheoretischen Methodismus. Er schränkt das Recht auf objektive Gewissheit von vornherein auf die natürliche, durch sinnliche Anschauung vermittelte Erkenntnis des Bedingten ein. Ein Bewusstsein des Unbedingten erkennt er zwar ebenfalls an, aber als dessen Stammform betrachtet er die Gewissheit 8
Vgl. Baruch de Spinoza: Ethica, II, Prop. XLIII, Scholium.
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des Sollens, nämlich als gleichsam adverbiale Gewissheit des eigenen unbedingten Verpflichtetseins durch das Sittengesetz. Das ist eine wesentlich ungegenständliche Gewissheit, die sich unmittelbar auf die Bestimmung des Sollens, dadurch auf diejenige meines Könnens und erst über Letzteres vermittelt auf die als objektiv vorgestellten Bedingungen der Möglichkeit dieses meines Könnens bezieht (vgl. AA V, 49 f.). Diese objektiven Bedingungen selbst – Freiheit, Unsterblichkeit und das Dasein eines weisen und allmächtigen Schöpfers – sind indessen Gegenstände einer Gewissheit, die an sich selbst ebenso wenig objektiv wie unmittelbar ist. Der Begriff des Vernunftglaubens, den Kant einführt, um das praktisch vermittelte gegenständliche Bewusstsein des Unbedingten zu bezeichnen, trägt seiner methodistischen Erkenntniskonzeption Rechnung. Daher unterscheidet sich Kants Konzeption des »Glaubens« grundlegend von Jacobis, und das, obwohl sie in zwei wichtigen Punkten miteinander übereinstimmen, und zwar (1) in ihrer Ablehnung des Naturalismus und (2) darin, dass beide dem Bewusstsein des Unbedingten einen Charakter zuschreiben, der von dem des Bedingten grundverschieden ist. Darum soll es nun im Folgenden gehen.
IV. Jacobis Zurückweisung aller Ansätze zur rationalen Demonstration des Daseins Gottes. Beweggründe und Perspektive
Von meinem eigenen Dasein weiß ich nicht durch Vorstellung, noch ist mir die Einsicht in dessen innere Möglichkeit vergönnt. Dasselbe gilt a fortiori vom Dasein eines persönlichen Gottes und von der Möglichkeit seiner Existenz (vgl. JWA 2,1, 92; 1,1, 347 f.). Wie Kant, weist auch Jacobi alle Ansätze zu einer Demonstration des Daseins Gottes als fehlgeleitet zurück. Doch er tut es aus anderen Gründen. Jacobi sieht in der gesamten neuzeitlichen Philosophie seit Bacon – in derjenigen von Locke und Hume nicht minder als in derjenigen von Descartes und Spinoza – einen »sich selbst betrügenden unächten, die Wissenschaft verfälschenden Rationalismus« ( JWA 2,1, 389) am Werke, der Wissen als Macht konzipiert.9 In diesem »Nominal-Rationalismus« ( JWA 2,1, 383) verbindet sich folglich der Erklärungsanspruch des Naturalismus mit dem Herrschaftsanspruch der technologischen Vernunft auf unheilvolle Weise. Erkenntnis wird mit Einsicht in die »Bedingungen der Möglichkeit« gleichgesetzt, vermöge 9 Der
»unächte« »Nominal-Rationalismus« steht im Gegensatz zu einem auf die im Jacobischen Sinn »ächte[] ursprüngliche[] Vernunft« gegründeten ›Real-Rationalismus‹ (JWA 2,1, 379), den er mit Platon assoziiert (vgl. JWA 2,1, 387, 410).
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
deren das Erkenntnisobjekt, sei es reell, sei es ideell, mechanisch hervorgebracht werden kann: »[D]as absolut Nothwendige muß anfangen das Mögliche zu werden, damit es sich construiren lasse« ( JWA 1,1, 261). Anders als Kant, orientiert sich Jacobi in seiner Kritik der Gottesbeweise an dieser noch grundlegenderen Kritik an der naturbeherrschenden Verfügbarmachung allen Seins, mithin an der wesentlich technologisch inspirierten Priviligierung des Möglichen (des Machbaren) vor dem Wirklichen. Aus seiner Sicht stellt also das Unternehmen der Gottesbeweise eine »Anmaßung der Vernunft« in einem ganz anderen Sinn dar, als dies bei Kant der Fall ist. »Ein Gott, der gewußt werden könnte, wäre gar kein Gott« ( JWA 2,1, 193). Gleichwohl haben wir, schreibt Jacobi, vom Dasein des Unbedingten »eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem eigenen bedingten Daseyn haben« ( JWA 1,1, 260; vgl. ebd., 220). Diese Nähe und Ähnlichkeit zwischen der Gottesgewissheit und der Gewissheit meiner selbst ist für Jacobi sachlich begründet. »[D]er Mensch findet Gott, weil er sich selbst nur in Gott finden kann«, schreibt Jacobi; er fährt fort: »er ist sich selbst unergründlich, weil ihm das Wesen Gottes nothwendig unergründlich ist. Nothwendig! weil sonst im Menschen ein übergöttliches Vermögen wohnen, Gott von dem Menschen müßte erfunden werden können« ( JWA 2,1, 220). Hier finden wir das spezifisch menschliche Selbstbewusstsein auf eine andere, viel intimere Weise als bei Kant mit dem Bewusstsein vom Dasein Gottes – und zwar eines persönlichen Gottes – verknüpft. Zugleich ist die Verknüpfung so beschaffen, dass sie ein Bewusstsein der rationalen Unverfügbarkeit (»Unergründlichkeit«) sowohl des Unbedingten als auch meines eigenen bedingten Wesens impliziert. Betrachten wir von diesem Standpunkt aus Jacobis eingangs zitierte Erklärung gegen den Cartesianismus, entdecken wir nun eine dritte Lesart, die sich mit den ersten beiden überschneidet, ohne sich mit ihnen zu decken. Genauer besehen wird nämlich keine der beiden bisher erwogenen Deutungen dem Wortlaut von Jacobis Erklärung voll gerecht. »Ich gehe«, schreibt er, »wie die Morgenländer in ihren Conjugationen von der dritten, nicht von der ersten Person aus, und glaube, man dürfe schlechterdings nicht das sum dem cogito nachsetzen.« ( JWA 1,1, 157) Die erste unserer beiden bisherigen Lesarten liefert eine sinnvolle Deutung der Aussage als Inversion: Nicht von der ersten, sondern von der dritten Person; oben geschah das jedoch um den Preis einer Vertauschung, denn was dort sich umkehrte, war nicht die erste gegen die dritte Person, sondern das erstpersonale Cogito gegen das ebenfalls erstpersonale Sum. Die zweite Lesart trägt Jacobis Betonung der dritten Person zwar Rechnung, aber diesmal um den Preis, den Gedanken der Inversion aufzugeben und stattdessen durch ein Verhältnis der gegenseitigen Bedingung zu erset-
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zen. Eine kompromisslose Deutung müsste beides vereinigen, die Inversion von Cogito und Sum einerseits, andererseits die Betonung der dritten Person. Erfordert wird also ein drittpersonales Sum, welches das erstpersonale Cogito erst hervorruft. Der oben bereits zitierte Brief von Hamann hilft hier weiter: »Nicht Cogito; ergo sum, sondern umgekehrt, oder noch Hebräischer Est; ergo cogito« ( JBW I,4, 107). Hier finden sich ausdrücklich sowohl die Inversion als auch die dritte Person beisammen, nur verschwindet das Sum. Noch ausführlicher entwickelt Hamann denselben Gedanken aber knappe zehn Jahre früher in dem gedruckten Text »Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht« (1776). An den »morgenländischen« Sprachen hebt er die Nachsetzung der ersten Person vor. Aus dieser »Prädilection der dritten Person und Nachsetzung des lieben Ich’s«, schreibt er, könnte man »auf eine eben so umgekehrte Logik und Moral schließen, worauf vielleicht die ganze Schwierigkeit beruht, daß die meisten Leser und Kunstrichter unter seinem Er, Sie, Es immer ihr eigenes Ich generis omnis verstehen, und bey einem Ich nullius generis in der größten Verlegenheit sind, das Er, Sie oder Es zu treffen«.10
Hier verbindet sich die Umkehrung der Folge der ersten und dritten Person mit dem höchst suggestiven Kontrast zwischen einem »Ich generis omnis« und einem »Ich nullius generis« – d. h. zwischen einem Ich, das sich abwechselnd durch alle (grammatischen) Geschlechter bestimmen, und einem, das sich durch kein einziges bestimmen lässt, sondern gewissermaßen als das bzw. der ganz Andere jenseits aller bloß relativen Bestimmungen steht. Es liegt nahe, hier an das »Ich bin, der ich bin« bzw. »Ich werde sein, der ich sein werde« (2. Mose 3,14) zu denken. Das »Ich bin« ist der (drittpersonale) Eigenname des persönlichen Gottes, der seinerseits eben auch in der grammatikalisch dritten Person nullius generis bleibt, der absolut Andere. In analoger Weise misst Jacobi den Grad der Personalität daran, inwieweit ein Wesen in der Lage ist, sich zu unterscheiden, d. h. also gerade nicht generis omnis zu setzen (vgl. JWA 2,1, 86 f.). Folglich gilt Gott als ein Wesen nullius generis: »Gott unterscheidet sich von allen Dingen auf das vollkommenste, und muß die höchste Personalität […] besitzen« ( JWA 2,1, 87): Er ist der ganz Andere. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, gewinnt die ganze Problematik des Selbstbewusstseins für Jacobi ein anderes Aussehen als bei Kant. Jacobis Kritik an Kants Widerlegung des Idealismus wurde oben bereits erwähnt: Die 10 Johann
Georg Hamann: Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht, in: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 3, hrsg. von Josef Nadler, Wien 1951, S. 178 f.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
Gewissheit meiner selbst gewinne ich ursprünglich im Handeln auf meinesgleichen, andere endliche Wesen hin. Aber das ist noch nicht das volle Bild, denn es zeigt erst nur die Einheit eines sich im Endlichen »extensiv und intensiv« unterscheidenden Wesens, aber nicht die Einheit eines Wesens, das sich zur eigenen Endlichkeit als solcher und im Ganzen verhält – es zeigt noch nicht die Einheit des spezifisch menschlichen, des vernünftigen oder geistigen Selbstbewusstseins. Wie Birgit Sandkaulen ausgeführt hat, wird dieses spezifisch geistige Selbstverhältnis durch das Verhältnis zum Unbedingten erst möglich.11 Und zwar handelt es sich um eine wesentlich persönliche Beziehung zu einem persönlich verfassten Unbedingten. So im Brief an Fichte: »So gewiß ich Vernunft besitze, […] so gewiß weiß ich, es ist ein höheres Wesen, und ich habe in ihm meinen Ursprung. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: Ich; sondern, Mehr als Ich! Beßer als ich! – ein ganz Anderer. Ich bin nicht, und ich mag nicht seyn, wenn Er nicht ist!« (JWA 2,1, 209 f.)
Ist die Gewissheit meiner selbst als endliches Verstandeswesen bedingt durch Interaktion mit anderen endlichen Wesen, so ist die geistige Selbstgewissheit bedingt durch ein das Handeln begleitendes und ermöglichendes Vertrauen auf das persönlich verfasste Unbedingte. Wenn daher bei Jacobi – nicht anders als bei Kant – das Bewusstsein des Unbedingten praktischen Charakters ist, so ist es dennoch völlig anders strukturiert und hat auch einen anderen Inhalt. Nicht die unbedingte Verpflichtung ist das unmittelbar Gewisse und Gott ein daraus abgeleitetes Postulat, sondern der Mensch findet sich erst im »Vernehmen« (vgl. JWA 2,1, 208) des Göttlichen und weiß dadurch um seine Bestimmung als geistig-vernünftiges Wesen. Daraus ergeben sich Folgen sowohl für den Begriff der Vernunft als auch für den des Glaubens.
V. Glaube, Vernunft, Gefühl. Jacobis späte Präzisierung ihrer Begriffe
Wir haben bereits gesehen, dass Jacobi den Terminus Wahrnehmung verwendet, um eine von der Vorstellung spezifisch unterschiedene Weise des Bewusstseins zu bezeichnen. Sie zeichnet sich im Allgemeinen durch die unmittelbare Präsenz des darin sich »bezeugenden« Wirklichen aus. In Jacobis früheren Schriften ist weder der Begriff der Wahrnehmung noch auch der damit eng verwandte Begriff des Glaubens vollständig terminologisch fixiert. Den letzteren verwendet er in seinen frühen Schriften synonym mit ›unmittelbarer 11
Birgit Sandkaulen: »Wie ›geistreich‹ darf Geist sein? Zu den Figuren von Geist und Seele im Denken Jacobis«, in: Jacobis Philosophie, S. 55–76. Vgl. JWA 1,1, 167 f.
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Gewissheit‹ zur allgemeinen Kennzeichnung jeglichen Fürwahrhaltens ohne Gründe (vgl. JWA 1,1, 115). So spricht er z. B. vom Glauben, durch den wir wissen, dass wir einen Körper haben, sowie vom Glauben eines persönlichen Schöpfergottes, ohne einen Unterschied beider terminologisch zu markieren (vgl. JWA 1,1, 116). Nach Jacobis eigenem Urteil ist es ein Fehler seiner früheren Schriften gewesen, keinen systematischen Unterschied zwischen Verstand und Vernunft markiert zu haben, infolgedessen er dort noch keine adäquate Darstellung seiner Überzeugungen zu geben vermocht habe (vgl. JWA 2,1, 63 f. Fn.; ebd., 377 f.). In seinen späteren Schriften ändert sich das. Konsequent unterscheidet er nunmehr die verschiedenen Arten oder Modi der Wahrnehmung, d. h. der unmittelbaren Gewissheit, voneinander, was ihm zugleich die begriffliche Differenzierung zwischen Verstand und Vernunft ermöglicht. Folgende Tafel bildet die unterschiedenen Arten der Wahrnehmung auf die Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft ab und charakterisiert sie im Hinblick auf ihren jeweils spezifischen phänomenalen Charakter und den darin präsenten Gegenstand. Wahrnehmungsvermögen
Phänomenaler Charakter der Wahrnehmung
Objekt der Wahrnehmung Epistemischer Charakter
Sinnlichkeit
qualitativ bestimmte Empfindung
wirkliche, aber bedingte Dinge außer mir
»das eigent liche Wissen«
Verstand
Apperzeption (ohne eigene qualitative Bestimmtheit)
ich selbst als wirkliches, aber bedingtes unum per se
Gewissheit seiner selbst
Vernunft
qualitativ bestimmtes das wirkliche Dasein des Glaube Gefühl Unbedingten
Für gegenwärtige Zwecke ist es vor allem wichtig zu bemerken, dass Jacobi die Vernunft als ein spezifisches Wahrnehmungsvermögen begreift (vgl. JWA 2,1, 395), welches sich durch den phänomenalen Charakter (Gefühl) sowie den Inhalt des Wahrgenommen (das Unbedingte) von Verstand und Sinnlichkeit qualitativ unterscheidet (vgl. JWA 2,1, 377, 395). Anders als Kant, der im eigentlichen Sinn als Quelle inhaltlich-gegenstandsbezogener Erkenntnisse letztlich nur die Sinnlichkeit gelten lässt (vgl. B 145), erkennt Jacobi auch die Vernunft als eigenständige Quelle an, durch welche »dem Verstande das den Sinnen Unerreichbare in überschwänglichen Gefühlen allein, und doch als ein wahrhaft Objectives […] zu erkennen gegeben wird« ( JWA 2,1, 402).
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
Entsprechend versteht Jacobi auch unter dem Terminus ›Glaube‹ etwas anderes als Kant, der ihn zur Bezeichnung einer allgemein auf propositionale Gehalte bezogenen epistemischen Modalität verwendet, die zwar stärker ist als bloßes Meinen, aber schwächer als das eigentliche Wissen, nämlich für das Fürwahrhalten, wenn es von der glaubenden Person für subjektiv zureichend, jedoch »zugleich für objektiv unzureichend gehalten« wird (A 822 / B 850). Bei Jacobi kennzeichnet ›Glaube‹ keinen besonderen Grad des Fürwahrhaltens, sondern eben dessen Gegenstandsbezug und die spezifische Quelle, aus der das Fürwahrhalten entspringt: »Von dem, was wir wissen aus Geistes-Gefühl, sagen wir, daß wir es glauben. So reden wir Alle. An Tugend, mithin an Freyheit, mithin an Geist und Gott, kann nur geglaubt werden.« ( JWA 2,1, 402 f.) Damit hängt ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen beiden Denkern zusammen. Versteht Kant die Vernunft in ihrem theoretischen nicht minder als in ihrem praktischen Gebrauch als ein Vermögen reiner Spontaneität (vgl. A 548 / B 576), so ist sie dagegen für Jacobi wesentlich ein Vermögen der Rezeptivität: »Das Vermögen der Gefühle, behaupten wir, ist […] mit der Vernunft Eines und Dasselbe« ( JWA 2,1, 403). Der Gegensatz zu Kant könnte größer nicht sein, der im Orientierungsaufsatz pointiert festhält: »Die Vernunft fühlt nicht« (AA VIII, 139 f. Fn.). Was Kant Vernunft nennt, ist ein spontan aus sich selbst wirkendes, wesentlich propositional verfasstes »Vermögen der Prinzipien« (A 299 / B 356); ihren Inhalt, d. h. die für ihren theoretischen Gebrauch regulativen Ideen und das ihren praktischen Gebrauch prinzipiierende Sittengesetz, bringt sie selbst aus sich selbst hervor. Was Jacobi dagegen Vernunft nennt, ist ein wesentlich nicht-propositionales Vermögen der offenen Empfänglichkeit für etwas, das nicht »ich selbst« bin und welches meinem Denken und Handeln erst einen spezifisch menschlichen, geistigen Gehalt verschafft, wie ihnen die Sinnlichkeit einen spezifisch menschlichen, natürlichen Gehalt verschafft. Vernunft, wie Jacobi sie versteht, »schafft keine Begriffe, erbaut keine Systeme, urtheilet auch nicht, sondern ist, gleich den äußeren Sinnen, blos offenbarend, positiv verkündend« ( JWA 2,1, 402). Die so verstandene Vernunft steht in einem besonderen Verhältnis zu einem personal verfassten unbedingten Wesen, vermöge welchen Verhältnisses ich erst zum spezifisch menschlichen, geistigen Bewusstsein meiner selbst gelange, und zwar ebenfalls in grundsätzlich affektiver Form. In dem Bezug auf diese in ihrer Spontaneität schlechthin unendliche Person entdecke ich erst meine eigene, spezifisch sittliche Spontaneität. Vernunft hat außer diesen Gefühlen und über sie hinaus keine eigenen, eigentümlich logisch verfassten Inhalte (etwa Prinzipien, Ideen im Kantischen Sinn), sondern sie
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orientiert und leitet den Verstand auf eine grundsätzlich nicht-propositional gesteuerte Art und Weise.
VI. Gefühl, Freiheit, personales Verhältnis
Gefühl unterscheidet sich von sinnlicher Empfindung durch seinen Charakter als Wertwahrnehmung und durch die Unbedingtheit der wahrgenommenen Inhalte. In Jacobis Schriften finden wir viele Beispiele für Gefühle in diesem Sinn: Dankbarkeit (vgl. JWA 2,1, 160 f.), Bewunderung, Hochachtung und Verehrung (vgl. JWA 2,1, 159, 398, 410; 1,1, 350), Reue und Selbstverachtung (vgl. JWA 1,1, 165 f.), nicht zuletzt auch die Gefühle der Ehre und der Liebe (vgl. ebd., 167) sowie der sittlichen Freude (vgl. ebd., 168). Sie sind Wahrnehmungen nicht von allen Werten überhaupt (zu denen das Gefühl des Angenehmen, des Nützlichen und von deren Gegenteilen ebenfalls zu zählen wären), sondern von ethischen Werten. Für diese Werte bzw. Wertungen ist es konstitutiv, dass die Personen, Handlungen usw., die ihre Träger bzw. ihre Gegenstände sind, von der Erklärung durch Naturgesetzlichkeit ausgenommen sind, soweit sie als Realisierungen der betreffenden Werte erfahren werden (vgl. JWA 2,1, 398 f.). In dieser Hinsicht ist Jacobis Begriff des Gefühls mit dem verwandt, was Strawson die »reactive attitudes« nennt. Diese sind für das spezifisch personale Verhältnis grundlegend, in dem wir zu anderen Menschen stehen, wenn wir sie als Agents im vollgültigen Sinn betrachten und uns in entsprechender Weise zu ihnen verhalten.12 Tatsächlich führt auch Strawson viele derselben Gefühle als Beispiele an, die Jacobi nennt. Wichtig ist auch die Möglichkeit, aufgrund von besonderen Umständen diese Einstellung zugunsten einer anderen aufzugeben, die Strawson »the objective attitude« nennt. Und zwar nehme ich diese de-personalisierende, objektivierende Einstellung ein, wenn ich den anderen Menschen als unfrei in seinem Tun betrachte – als determiniert, beispielsweise durch eine Geisteskrankheit. Strawson macht diese Konzeption zur Grundlage eines Arguments gegen die These des Determinismus. Es ist nicht nur zweifelhaft, argumentiert er, ob wir die mit jenen Gefühlen verbundene Einstellung überhaupt in dem Maße dauerhaft und allgemein aufgeben könnten, wie es die Rationalität vielleicht zu fordern scheinen könnte, wenn wir die These des Determinismus als wahr annehmen würden; denn diese Gefühle gehören zum »general framework of human life«,13 aus dem auszusteigen schon aus rein pragma12
Siehe Peter F. Strawson: »Freedom and Resentment«, in: ders.: Freedom and Resentment and Other Essays, Oxford 2008, S. 1–28. 13 Ebd., S. 14.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
tischen Gründen keine Option ist. Der Irrtum besteht vielmehr schon darin, die Option für die objektivierende Einstellung überhaupt als rational geboten zu betrachten; denn rational könnten wir die Entscheidung doch nur in Erwägung »des Gewinns oder des Verlustes für das menschliche Leben, dessen Bereicherung oder Verarmung« treffen und im Hinblick auf diese Erwägung ist – so Strawson – die Wahrheit oder Falschheit des Determinismus letztlich irrelevant.14 Wir können nicht in und nach den Gefühlen der Liebe, Dankbarkeit, Bewunderung usw. leben und uns zugleich für unfrei halten. Jacobi kommt im Gange seiner eigenen Reflexionen zu einer grundsätzlich ähnlichen Einsicht. Unter Freiheit sei zu verstehen, »was ich nothwendig voraussetzen, also auch wohl im Innersten des Gemüths mir vorstellen muß, wenn ich Jemanden wegen eines Werkes oder einer That bewundre, hochachte, liebe, verehre« ( JWA 1,1, 350, Hervorhebung: B.B.). Verlangt man für diese Überzeugung von der Wirklichkeit der Freiheit eine Begründung, so räumt Jacobi ein, »daß eine Begründung durch Gefühle gar keine Begründung sey« (ebd.). Allerdings geht es hier auch gar nicht um eine Begründung nach ratio nalistischer Maßgabe; es kommt vielmehr darauf an, jene Maßgabe durch eine ihr selbst noch vorgeordnete axiologische Überlegung zu ersetzen: Man kann nicht vernünftigerweise wollen, was das vernünftige Wollen in seiner Wurzel untergräbt. Auch die Forderung nach rationaler Begründung lebt selbst von einer im geistigen Selbstverhältnis verankerten Wertschätzung der Wahrheit (vgl. JWA 1,1, 339). Gefühle im Jacobischen Sinn haben also Wahrnehmungscharakter, und der Gehalt solcher Wahrnehmungen sind Werte oder vielmehr konkret-individuelle Wertrealisierungen, welche jeweils nur innerhalb der Perspektive des freien Handelns sichtbar, erfahrbar werden können. Ihre Wertigkeit ist von den Personen und Handlungen, welche die Subjekte und Objekte solcher Gefühle sind, allenfalls durch (unter Umständen gewaltsame) Abstraktion zu trennen; das Wertsein gehört wesentlich mit zu ihrem So-Sein, zu ihrem Was- oder Wer-Sein. Um dies zu verleugnen, muss man vorher schon die Möglichkeit einer objektiven Wertinhärenz verneinen, die – so Jacobis Argument – durch die Wirklichkeit der »Geistes-Gefühle« selbst verbrieft ist. In diesem Sinne müssen wir Jacobis Insistenz auf der »Objektivität« der Gefühle verstehen (vgl. JWA 1,1, 349; 2,1, 402), die nicht etwa primär auf die allgemeingültige Erkennbarkeit der darin präsenten Werte abhebt, sondern auf das interpersonal geteilte menschliche Leben, das sie in seinem Wertsein zugleich ermöglichen und ausfüllen.
14 Ebd.
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VII. Gefühl, Gewissheit, Glaube. Gegen den Kantischen Dualismus
Zentrales Anliegen von Kants Kritik der praktischen Vernunft ist es, die Wirklichkeit der praktischen Vernunft darzutun (vgl. AA V, 3). Er sieht ihre Wirklichkeit durch die Tat erwiesen, und zwar »durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That practisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur That bestimmt« (AA V, 42). Doch unmittelbar wirksam und erfahrbar in ihrer Wirksamkeit wird die Vernunft nur negativ, im »Abbruch aller Neigungen«, den sie im moralischen Subjekt bewirkt (AA V, 72). Diese »negative Wirkung aufs Gefühl« ist als solche, schreibt Kant, »selbst Gefühl«: Sie ist ein »Schmerz«, der aber dennoch erhebend ist, indem er dem Subjekt die Gewissheit seiner mit dem Moralgesetz übereinstimmenden Gesinnung verschafft, welche »die erste Bedingung alles Werths der Person ist« (AA V, 73). Dies Gefühl ist das Gefühl der Achtung (vgl. ebd.). Zum Erweis der Wirklichkeit einer sittlich gebietenden Vernunft beruft sich also auch Kant selbst auf ein Gefühl. Freilich will er diesem Gefühl der Achtung einen einzigartigen Status zugestanden wissen: Sie sei »kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen [anderen] Gefühlen […] specifisch unterschieden« (AA IV, 401 Anm.). Hierin steht Kant gewissermaßen unter dem Zwang seiner eigenen unhinterfragten Vorannahme, alle Gefühle gehörten als solche – mit der einzigen Ausnahme der Achtung – zur Sinnlichkeit und ließen sich auf Lust und Unlust zurückführen; folglich, dass jeder Ansatz, moralisches Handeln und Urteilen als emotional informiert, geleitet oder gar bestimmt zu betrachten, notwendig im Eudaimonismus, mithin in der Heteronomonie enden müsse.15 Ein besonderes Argument für diesen auf die Ethik übertragenen Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. von Rezeptivität und Spontaneität lässt sich bei Kant nicht finden. Er widerstreitet auch der Erfahrung, welche die Verschiedenheit der sog. »moralischen Empfindungen« von Gefühlen bloß »sinnlicher« Lust und Unlust lehrt und zumindest auch deren faktischen Einfluss aufs Handeln und Urteilen beweist. Aber auch im Rahmen der Kantischen Lehre selbst führt seine dualistische und schon darum unterkomplexe Auffassung des Gefühls zu Verwerfungen, zunächst einmal im Hinblick auf die kontraintuitive Alleinstellung des Gefühls der Achtung. Die postu15
In diesem Sinn schon Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Hamburg 2014, S. 301 f.; vgl. S. 27.
Gewissheit und Glauben bei Jacobi und Kant
lierten Glaubensinhalte – Freiheit, Unsterblichkeit und das Dasein Gottes – sind ebenfalls betroffen. Indem besonders die zwei letzteren auf die Funktion reduziert werden, die im »Faktum der Vernunft« gelegene Implikation: »Du kannst, denn du sollst«, zu rationalisieren, büßen sie nahezu alle die religiösen und damit auch positiv-motivationalen Dimensionen ein, die ihren Inhalt außerhalb der Kantischen Philosophie ausmachen. Jacobis Moralphilosophie und Philosophie des Geistes zeigen, dass Kants Dualismus in seiner Zeit nicht alternativlos gewesen ist. Das hat eben auch Konsequenzen für das, was Kant und Jacobi jeweils unter dem Begriff des Glaubens fassen. Beiden beruht der Glaube auf der nicht weiter ableitbaren Gewissheit der Wirklichkeit. Für Kant liegt diese in dem die Wirklichkeit der praktischen Vernunft verbürgenden Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz. Der darin fundierte Glaube ist wesentlich propositional; sein Inhalt ist ein die Gewissheit des unbedingten Verpflichtetseins rationalisierendes Postulat. Für Jacobi ist sie eine Gewissheit »der Wirklichkeit des Wahren, und in ihm des an sich Guten und Schönen« ( JWA 2,1, 376), die sich unmittelbar mit einer konkreten Vielfalt an ethischen Gefühlen verbindet, die das moralische Streben beleuchten, anstatt es nur zu rationalisieren. Der darin fundierte Glaube ist wesentlich personal; wie die Gewissheit der Wirklichkeit von endlichen Dingen außer mir durch Interaktion bedingt ist, entsteht der gewisse Glaube in und durch Berührung mit anderen sittlichen Wesen, anderen Personen. Der Inhalt des Glaubens, wie Jacobi ihn fasst, ist nicht die Proposition, dass Gott ist, sondern zuletzt und eigentlich die Person, die Gott ist. So gilt ihm entgegen allem Intellektualismus die moralische Gewissheit als Sache der Kenntnis, des Wissens Wer, und nicht der Erkenntnis, nicht des Wissens Was.16
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Siehe JWA 1,1, 342; vgl. Birgit Sandkaulen: »Dass, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen«, in: Jacobis Philosophie, S. 95–117.
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Die Wirklichkeit der Dinge Objektive Bezugnahme bei Jacobi, Kant und Fichte I. Einleitung
In seinem Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre von 1795 thematisiert Fichte ein Problem für die Transzendentalphilosophie, dessen Entdeckung er Salomon Maimon zuschreibt: »Maimon sagt über die Kategorie der Wirksamkeit dasselbe, was die Wissenschaftslehre sagt: nur nennt er ein solches Verfahren des menschlichen Geistes eine Täuschung.« (GA I,3, 189) Das Problem, das Maimon hier im Hinblick auf die Frage der Kausalität formuliert, tritt in der Frage der Realität der ursächlichen Verknüpfung lediglich zugespitzt auf. Denn hinter dieser Zuspitzung verbirgt sich die grundsätzliche Frage, ob eine kritische Philosophie im kantischen Sinne die Möglichkeit einer objektiven Bezugnahme auf wirklich existierende Gegenstände oder Dinge begründen kann: Wie soll eine derartige Bezugnahme möglich sein, so fragt Fichte hier rhetorisch mit Maimon, wenn die empirische Realität doch lediglich ein Produkt der Einbildungskraft ist? Der Verweis auf die allgemeinen Gesetze des Denkens nützt hier nichts: »›Möget ihr doch immer,‹ würde Maimon sagen, ›Gesetze des Denkens a priori haben, […] so könnt ihr dieselben auf Objekte, doch nur vermittelst der Einbildungskraft anwenden; mithin muß im Geschäft der Anwendung in derselben Objekt und Gesez zugleich seyn. Wie kommt sie doch zum Objekte‹? Diese Frage kann nicht anders beantwortet werden, als so: sie muß es selbst produciren […].« (GA I,3, 190) »Lediglich durch die Einbildungskraft wendet ihr das Gesez der Wirksamkeit auf Objekte an, erweißt Maimon; mithin hat eure Erkenntniß keine objektive Gültigkeit, und die Anwendung eurer Denkgesetze auf Objekte ist eine bloße Täuschung.« (GA I,3, 191)
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Die Schriften Maimons, auf die Fichte sich hier bezieht, stammen aus den frühen 1790er Jahren.1 Er hat allerdings eine ganz ähnlich lautende Kritik bereits früher bei Jacobi finden können. Denn der schreibt 1787 in seiner Beylage. Ueber den Transscendentalen Idealismus Sätze wie diesen: »Also was wir Realisten würkliche Gegenstände, von unseren Vorstellungen unabhängige Dinge nennen, das sind dem transscendentalen Idealisten nur innerliche Wesen, die gar nichts von dem Dinge, das etwa ausser uns seyn, oder worauf die Erscheinung sich beziehen mag, darstellen, sondern von allem würklich objectiven ganz leere blos subjective Bestimmungen des Gemüths.« (JWA 2,1, 106 f.)
Und Jacobi fährt fort, indem er Kant nun (nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) direkt zitiert: »›Vorstellungen‹ – nichts als Vorstellungen – ›sind diese Gegenstände, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, ausser unsern Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben‹ (S. 491.). ›Sie‹– diese Gegenstände die nur Erscheinungen sind, welche nichts, schlechterdings nichts, würklich objectives, sondern überall nur sich selbst darstellen – ›sind das bloße Spiel unserer Vorstellungen, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen (S. 101.).‹« (JWA 2,1, 107)
Gegenstände, die nur Erscheinungen sind, sind nichts ›wirklich Objektives‹: Mit dieser Behauptung stellt Jacobi implizit einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Begriff der Objektivität und dem Begriff der Dinge an sich her, die eben gerade nicht bloße Erscheinung oder, wie er sagt, ›bloß subjektive Bestimmungen des Gemüts‹ sind. Denn, wenn »alle Grundsätze des Verstandes nur subjective Bedingungen ausdrücken, welche Gesetze unseres Denkens, aber keinesweges der Natur an sich, sondern ohne allen wahrhaft objectiven Inhalt und Gebrauch sind« ( JWA 2,1, 111), dann sei das, so Jacobi, unvereinbar mit der »Voraussetzung von Gegenständen, welche Eindrücke auf unsere Sinne machen, und auf diese Weise Vorstellungen erregen« (ebd.). Denn diese Gegenstände müssten »im transscendentalen Verstande ausser uns vorhanden« (ebd.) sein, d. h. an sich existieren, wenn man dem Begriff des uns affizierenden Gegenstandes nicht »einen ganz mystischen Sinn beylegt« (ebd.). Der transzendentale Idealist müsse deshalb, so diagnostiziert Jacobi, die Annahme uns affizierender Dinge an sich ganz fallen lassen und »den Muth haben, den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten« ( JWA 2,1, 112). Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass das für Jacobi 1
Vgl. GA I,3, 189 Fn. 5; 190 Fn. 7; 191 Fn. 10.
Die Wirklichkeit der Dinge
bedeutet, den Begriff des Dinges an sich ganz aufzugeben. Fichtes eigene Position, so könnte man meinen, sei ein naheliegendes Beispiel für eben so einen extremen Idealismus – eben weil er die Affektion durch Dinge an sich fallen lässt bzw. aus der Selbstsetzung des Subjekts rekonstruiert. Jacobi selbst jedenfalls liest Fichte so – und der scheint ihm darin zu folgen.2 Ich möchte im Folgenden unter anderem dafür argumentieren, dass das ein Missverständnis ist – zumindest was die Wissenschaftslehre aus den frühen Jenaer Jahren angeht. Der Grund dafür ist letztlich ein methodologischer: Anders als Fichte unterschätzt Jacobi, so scheint mir, die Radikalität der methodologischen Wende, die mit Kants kritischer Philosophie vollzogen wurde. Wenn das richtig ist, dann liegt seiner Kritik zu einem nicht unerheblichen Teil ein Missverständnis zugrunde, das Kant beim Göttinger Rezensenten vermutet, der »immer in dem Glauben stand ich befinde mich mit ihm im Felde der Metaphysik indeßen ich mich ganz außerhalb derselben in einen Standpunkt versetzt hatte von da ich die Moglichkeit der Metaphysik selber beurtheilen könte« (AA XXIII, 57). Um Gegenstände, so Kant in den Prolegomena, gehe es ihm überhaupt nicht, sondern, wie schon der Ausdruck »transzendental« verdeutlichen sollte, um unser Erkenntnisvermögen und dessen »Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt«:3 »Das Wort transscendental aber, welches bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntniß auf Dinge, sondern nur aufs Erkenntnißvermögen bedeutet, sollte diese Mißdeutung verhüten.« (AA IV, 293) Anders als der Göttinger Rezensent übersieht Jacobi diese methodologische Wende nicht einfach. Allerdings will ich zeigen, dass er die Bedeutung dieser Wende für die von ihm diskutierte Objektivitätsthematik unterschätzt hat. Zumindest in dieser Hinsicht kann Kant ihm etwas entgegensetzen. Und dafür, dass Fichte später den Begriff des Dinges an sich in der Kantischen 2
So schreibt Fichte am 30.8.1795 an Jacobi: »Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als Kant es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung, zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen producirt werde.« (GA III,2, 391/JBW I,11, 55) Dennoch erklärt Fichte gegenüber Jacobi, dass er den Standpunkt des Realismus mit einer »Welt für uns, unabhängig von uns […], die wir nur modificiren können« (ebd., 392) vor dem Hintergrund des »praktischen Reflexionspunktes« (ebd.) durchaus als notwendig akzeptiere. Allerdings sei dieser eben aus dem ›spekulativen Gesichtspunkt‹, d. h. »vom absoluten Ich« (ebd.) erst herzuleiten und so die Philosophie mit dem gesunden Menschenverstand auszusöhnen. Diese Aussöhnung ist sicherlich nicht durch die Aufgabe des Objektivitätsstandpunkts möglich. 3 Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frank furt/M. 2011, S. 60.
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Form aufgibt, ist keineswegs die Akzeptanz der Jacobi’schen Kritik ausschlaggebend: Fichte ist der Ansicht, dass gerade unter Zugrundelegung eben dieser methodologischen Wende der Begriff des Dinges an sich transzendentalphilosophisch so rekonstruiert werden kann, dass es möglich ist, ihn mit dem uns in der Erfahrung gegebenen Gegenstand der Repräsentation zu identifizieren.4 Der Begriff eines unabhängig von der Erfahrung existierenden Gegenstands wäre, wenn Fichte recht hätte, überflüssig – nicht aber inkohärent, wie Jacobi behauptet. Fichte und Kant verfügen demnach über philosophische Mittel, mit Jacobis Kritik umzugehen, auch wenn diese sich, wie wir sehen werden, durchaus substantiell unterscheiden.
II. Jacobis Kritik am Transzendentalen Idealismus in der Beylage
Jacobis Kritik in der Beylage. Ueber den Transscendentalen Idealismus ist häufig wie folgt rekonstruiert worden: Kants Theorie postuliere eine Affektionsbeziehung zwischen Dingen an sich und uns selbst als Subjekten der Vorstellung, die wir doch nicht anders als kausal denken können. Da diese Beziehung aber zwischen Relata bestehen soll, auf die die Kategorie der Kausalität nicht angewendet werden könne, da deren Anwendung ausschließlich auf die empirische Realität beschränkt sei, scheint Kants Konzeption sich an dieser zentralen Stelle in einen Widerspruch zu verwickeln.5 Diese Rekonstruktion von Jacobis Argumentation, die ich selbst an anderer Stelle vertreten habe,6 scheint mir nunmehr falsch. Sie reduziert Jacobis Kritik auf einen Punkt, den Gottlob Ernst Schulze in seinem Aenesidemus (1792) einige Jahre nach Jacobi vorgebracht hat. Dass diese Identifikation Jacobis ungleich komplexeren Überlegungen unrecht tut, hat Birgit Sandkaulen in aller wünschenswerten Klarheit nachgewiesen.7 Dass Jacobi mit seiner Kant-Kritik wie auch mit seinem Kant-Verständnis sehr viel tiefer ansetzt, verrät eigentlich schon die Auswahl kantischer Formulierungen aus der Kritik der reinen Vernunft, die er in seiner Beylage ausführlich zitiert. In seiner Kritik orientiert sich Jacobi überwiegend an Texten, 4
Vgl. GA I,2, 397. Vgl. Birgit Sandkaulen: »Das ›leidige Ding an sich‹. Kant – Jacobi – Fichte«, in: dies.: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, S. 169–197: S. 173. 6 Vgl. Johannes Haag: »Jacobi, Friedrich Heinrich«, in: Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr und Stefano Bacin (Hg.): Kant-Lexikon, Berlin 2015, S. 1195–1198: S. 1198. 7 Vgl. Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 174–191. 5
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die sich nur in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft finden – vor allem in der Passage über die Synthesis der Rekognition aus der A-Deduktion und dem Vierten Paralogismus, insbesondere der dortigen ursprünglichen Fassung einer Widerlegung des Idealismus. In der Literatur ist gelegentlich versucht worden, Kant dann unter Verweis auf Passagen aus den Prolegomena und der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu verteidigen.8 Ich glaube nicht, dass solche Versuche erfolgreich sind. Ihnen liegt im Wesentlichen das erwähnte simplifizierende Verständnis der Jacobi-Kritik zugrunde. Jacobi hat recht damit, diese Passagen aus der ersten Auflage in den Mittelpunkt seiner Diskussion zu rücken. Für die von ihm diskutierte Thematik sind sie oft klarer als die späteren Reformulierungen. Und im Hinblick auf die von ihm problematisierten Behauptungen ändert sich nur wenig. Die TextAuswahl und auch die Art und Weise der Collage, die er uns in der Beylage anbietet, ist nicht nur fair gegenüber Kant – sie scheint mir in großen Teilen auch sachlich durchaus angemessen. Dennoch will ich im Weiteren plausibel machen, dass es einige wichtige interpretatorische Entscheidungen gibt, die letztlich verhindern, dass Jacobi Kants kritischer Philosophie wirklich gerecht wird: Es gibt einen Weg, die von Jacobi diskutierten Passagen so zu verstehen, dass die von ihm vorgebrachte Kritik – zumindest sofern sie die Objektivitätsthematik betrifft – letztlich ins Leere läuft. Worin genau besteht nun Jacobis Kritik?9 Im Kern läuft Jacobis Kritik darauf hinaus, dass Kant, einerseits, durch seine Zwei-Stämme-Lehre und das dadurch implizierte Festhalten am Begriff der Sinnlichkeit auf die Annahme der Existenz an sich existierender Gegenstände festgelegt sei, die zu uns in einer Affektionsbeziehung stehen; dass er aber, andererseits, genau diese Exis tenz nicht mit seinem transzendentalen Idealismus vereinbaren könne. Zum ersten Punkt schreibt Jacobi: »Denn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und Realem, ein würkliches Mittel von Etwas zu Etwas darunter verstanden werden […] sollen« ( JWA 2,1, 109). Ein ›Medium zwischen Realem und Realem‹: das ist es, was hier in Frage steht. Sinnlichkeit selbst kann, so Jacobi, nur real sein, wenn sie sich als eine ihrerseits reale Vermittlung zwischen realen Relata manifestiert. Die 8
Vgl. Tobias Rosefeldt: »Dinge an sich und der Außenweltskeptizismus. Über ein Missverständnis der frühen Kant–Rezeption«, in: Dina Emundts (Hg.): Self, World, and Art. Metaphysical Topics in Kant and Hegel, Berlin 2013, S. 221–260. 9 Ich werde mich in dieser Zusammenfassung sehr eng an der ausführlichen Darstellung orientieren, die Birgit Sandkaulen vorgelegt hat. Vgl. Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 177–191.
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Affektion durch ›reale‹, ›wirkliche‹ Gegenstände soll im realen Subjekt eine Wirkung auslösen, die eine Empfindung ist. Sandkaulen spricht von der »Eingangsbehauptung affizierender Gegenstände«,10 die »identisch sein muss mit der Behauptung einer realen Affektion durch reale Dinge an sich«11 – gemeint ist: eine Eingangsbehauptung ins kantische System. Der zweite Punkt besagt nun, dass diese Eingangsbehauptung »sich unter den Bedingungen des transzendentalen Idealismus nicht halten lässt«.12 Denn, so rekonstruiert Sandkaulen, sie »müssten […] eine Realität darstellen, die in der subjektiven Konstitutionsleistung nicht aufgeht«.13 Dafür aber könne, so Sandkaulen, »die Vergewisserung […] weder unter empirischen noch unter transzendentalen Vorzeichen erbracht werden«.14 Kants Fehler bestünde demnach darin, an einer zentralen Stelle mit einer Prämisse zu arbeiten, die er transzendentalphilosophisch nicht einholen kann, da eine subjektive Konstitutionsleistung niemals eine reale Beziehung konstituieren kann. Sandkaulens Fazit fällt dementsprechend ernüchternd aus: »[D]er Umstand, seine affektionstheoretischen Prämissen einer eigenen Aufklärung nicht für bedürftig gehalten zu haben, lässt das verwirrend widersprüchliche Bild entstehen, das Kants Philosophie der Diagnose Jacobis zufolge bietet.«15 Dies ist, auf den Punkt gebracht, die von Jacobi diagnostizierte »Uneinigkeit des Systemes mit sich selbst, gleich in der Grundlage« ( JWA 2,1, 269), wie er fast fünfzehn Jahre später in Ueber das Unternehmen des Kriticismus formuliert. So weit der Kern von Jacobis Kritik. Sehen wir uns kurz an, wie sie im Detail funktioniert. Sandkaulen rekonstruiert Jacobis Argumentation als sukzessiven Ausschluss von vier Alternativen, die innerhalb des kantischen Theorierahmens prima facie geeignet sein könnten, den Bezug auf reale, im emphatischen Sinne wirkliche Gegenstände zu ermöglichen. Vorausgesetzt, die Liste erschöpft die Alternativen, ließe sich so zeigen, dass Kant seine Prämisse tatsächlich nicht transzendentalphilosophisch einholen kann. Was sind die vier Alternativen?
10
Ebd., S. 181 (Hervorhebung: J.H.).
11 Ebd. 12 Ebd. 13
Ebd., S. 185. Ebd., S. 184. 15 Ebd., S. 191. 14
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1. der empirische Gegenstand oder Gegenstand der Erfahrung 2. der Gegenstand = X 3. der transzendentale Gegenstand (Noumenon im negativen Verstande; der uns unbekannte Grund empirischer Erscheinungen) 4. ein Relatum der Passivität unserer Wahrnehmung (Noumenon im positiven Verstande?) Die erste Alternative, den Gegenstand der Erfahrung, schließt Jacobi ohne weiteres aus: »nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht ausser uns vorhanden, und noch etwas anders als eine Vorstellung seyn« ( JWA 2,1, 108). Der empirische Gegenstand ist ja als Erscheinung von vornherein bloße Vorstellung. Auch wenn es also nicht ganz richtig ist zu sagen, dass ein Gegenstand, der Erscheinung ist, ›nicht außer uns sein kann‹, wird man Jacobi einräumen müssen, dass der empirische Gegenstand selbst als das gesuchte im »emphatischen Sinne«16 reale Relatum der Erscheinung nicht in Frage kommt.17 Denn hier wäre die Vorstellung gleichsam Relatum ihrer selbst. Die zweite Alternative, so Jacobi unter Verweis auf die Diskussion der Synthesis der Rekognition in der A-Deduktion, sei aus ähnlichen Gründen unbefriedigend. Denn der Begriff des Gegenstands = X bezeichne lediglich den Einheitsgedanken, der in der Gegenstandssynthesis immer mitgedacht wird. Kant paraphrasierend schreibt Jacobi, dass »der Begriff dieser Einheit […] die Vorstellung vom Gegenstande = X« ist (A 105; zitiert in JWA 2,1, 108), von dem ausdrücklich gilt: »Dieses = X ist aber nicht der transscendentale Gegenstand« ( JWA 2,1, 108). Auch der Begriff vom Gegenstand = X wäre demnach ganz und gar auf die Bezugnahme auf Gegenstände der Erscheinungswelt beschränkt. Die dritte Alternative ist schwieriger auszuschließen. Jacobi argumentiert, dass der transzendentale Gegenstand dieses Bezugsobjekt nicht sein könne, da der Begriff von diesem Gegenstand lediglich ein problematischer sei. »[V]on dem transscendentalen Gegenstande aber wissen wir nach diesem Lehrbegriffe nicht das geringste; und es ist auch nie von ihm die Rede, wenn Gegenstände in Betrachtung kommen; sein Begriff ist höchstens ein problematischer Begriff, welcher auf der ganz subjectiven, unserer eigenthümlichen Sinnlichkeit allein zugehörigen Form unseres Denkens beruht; die Erfahrung giebt ihn nicht, und kann ihn auf keine Weise geben, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, nie ein Gegenstand der Erfahrung seyn kann; die Erscheinung aber, und daß diese 16 17
Ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 185; JWA 2,1, 108.
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oder jene Affection der Sinnlichkeit in mir ist, gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellungen auf irgend ein Object ausmacht.« (JWA 2,1, 108)
Es ist der kantische Begriff des Noumenon in negativer Bedeutung, den Jacobi hier charakterisiert – oder genauer, das, was er darunter versteht. Denn an anderer Stelle zitiert er eine Passage aus dem Amphibolie-Kapitel der ersten Kritik, wo es heißt, dass der Verstand, indem er Gegenstände der Erfahrung als Erscheinungen denkt, »sich einen Gegenstand an sich selbst [denkt; JH], aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist« (A 288/B 344). Es ist nicht ohne Weiteres klar, dass diese Behauptung Kants verträglich ist mit Jacobis Insistieren darauf, dass »die Erscheinung […] gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellungen auf irgend ein Object ausmacht« ( JWA 2,1, 108). Das Denken von etwas als Ursache einer Vorstellung bezieht natürlich sehr wohl diese Vorstellung (qua Erscheinung) intentional auf jene Ursache. Allerdings, so verdeutlicht Jacobi im Weiteren, eben nicht auf die richtige Weise: Das Denken einer Ursache kann die Ursache nicht ersetzen – denn wir benötigen ein reales Relatum für die gesuchte Einwirkung auf unsere Sinnlichkeit: »Denn wenn nach ihr auch eingeräumt werden kann, daß diesen blos subjectiven Wesen, die nur Bestimmungen unseres eigenen Wesens sind, ein trans scendentales Etwas als Ursache entsprechen mag: so bleibt doch in der tiefsten Dunkelheit verborgen, wo diese Ursache, und von was Art ihre Beziehung auf die Würkung sey.« (JWA 2,1, 110)
Die Ursache ist, wie Sandkaulen formuliert, »unmöglich zu verifizieren«:18 Der »unschematisierte Kategoriengebrauch«,19 der dafür verantwortlich ist, dass hier keine bestimmte Erkenntnis möglich ist, richtet deshalb »hinsichtlich des Problems der Affektion nicht nur nichts aus []«, sondern »untergräbt […] sie eigentlich«.20 Ein Gegenstand, auf den man sich in dieser Weise – sozusagen unter prinzipieller epistemischer Unsicherheit – bezieht, kann nicht Gegenstand einer objektiven Bezugnahme sein. Was vor diesem Hintergrund einzig noch übrig bleibt, ist, viertens, der vollständig unbestimmte Verweis auf das Gefühl der Passivität, das qua Empfindungsaspekt gleichsam die erfahrbare Dimension der behaupteten Affektion unserer Sinnlichkeit sein soll. Doch zu Recht verweist Jacobi darauf, dass dieses Faktum – die Erfahrung unserer Passivität in der Wahrnehmung – nur 18
Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 187. Ebd., S. 188. 20 Ebd. 19
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dann den Schluss auf eine reale, nicht erfahrbare Ursache dieses Faktums erlauben würde, wenn der Schluss von der Wirkung auf die Ursache nicht den Rahmen der schematisierten Kategorisierung von Realität überschreiten würde. Doch genau das ist natürlich gemäß der Lehre des Transzendentalen Idealismus der Fall. Die Behauptung eines solchen Schlusses läuft dieser Grundannahme also zuwider.21 So weit also in groben Umrissen Jacobis Argumentation. Der entscheidende Kritikpunkt war, dass Kant an einer zentralen Stelle mit einer Prämisse arbeitet, die er transzendentalphilosophisch nicht einholen kann, da eine subjektive Konstitutionsleistung niemals eine reale Beziehung konstituieren kann. Diese Kritik ist offenbar fundamental: Zwar besteht der Anspruch der Transzendentalphilosophie nicht unbedingt darin, alles vollständig zu erklären, was sie voraussetzen muss; aber sie muss dennoch zeigen, dass sie zu allen ihren Annahmen berechtigt ist. Das impliziert nicht, dass sie für alle ihre Annahmen einen zureichenden ontologischen oder metaphysischen Grund angeben, wohl aber, dass sie diese epistemologisch begründen muss. Auch das Prinzip des zureichenden Grundes unterliegt, mit anderen Worten, der trans zendentalphilosophischen Wende.
III. Methodologisches: Transzendentalphilosophie
Doch worin genau besteht die hier angesprochene transzendentalphilosophische Wende?22 Es geht bei ihr – wenigstens was die theoretische Philosophie angeht – um Fragestellungen, die die Bedingungen der Möglichkeit unseres intentionalen Bezugs auf Gegenstände überhaupt betreffen. Zur Begriffsverwendung, die uns in der Transzendentalphilosophie beschäftigt, gehört auch die Beziehung dieser Begriffe auf einen möglichen Gegenstand. Dieser Gegenstandsbezug kann in unterschiedlichen Graden der Abstraktion gedacht werden, allerdings darf von diesem Bezug selbst in der transzendentalphilosophischen Analyse nicht abstrahiert werden. (Diese minimale inhaltliche Bestimmung unterscheidet die Notwendigkeit, an der wir in der Trans zendentalphilosophie interessiert sind, von den logischen Notwendigkeiten, die eine formale, logische Analyse der Begriffsverwendung untersucht.) 21
Zu Recht verweist Sandkaulen darauf, dass Jacobi diesen Schritt nur hypothetisch durchspielt und ihn nicht etwa Kant unterstellt. Vgl. ebd., S. 188 f. 22 Ausführlicher hierzu Johannes Haag: »Die Personalität empirischer Subjekte«, in: Georg Gasser und Martina Schmidhuber (Hg.): Personale Identität, Narrativität und Praktische Rationalität. Die Einheit der Person aus metaphysischer und praktischer Perspektive, Paderborn 2013, S. 103–125: S. 104–111.
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Eine transzendentalphilosophische Untersuchung ist demnach zunächst mit Notwendigkeiten befasst, die sich aus der Analyse von Begriffen ergeben, die wir verwenden müssen, sofern wir überhaupt Begriffe verwenden können, d. h. sofern wir uns intentional auf etwas beziehen können sollen. Prima facie scheint diese Art der Theoriebildung auf den intentionalen Bezug unseres Denkens auf die Welt, als deren Teil wir uns begreifen, und dessen epistemische Konsequenzen eingeschränkt. Nur in diesem Fall haben wir, so scheint es, deshalb die Möglichkeit, selbst zu überprüfen, ob etwas tatsächlich eine alternativlose Bedingung der Möglichkeit im relevanten Sinne ist. Wir haben diese Möglichkeit, weil wir selbst intentionale und epistemische Subjekte sind und die reflexive Analyse unserer Intentionalität zur Grundlage der systematischen Verallgemeinerung der Frage nach den gesuchten Bedingungen machen können. Das ist der Kern von Kants methodologischer Wende. Aufbauend auf diese methodologischen Überlegungen können wir uns nun aus einer transzendentalphilosophischen Perspektive mit Jacobis Kritik auseinandersetzen.
IV. Fichtes Alternative
Ich habe bereits erwähnt, dass ich Fichte zumindest in seinen frühen Jenaer Schriften als konsequenten Vertreter einer transzendentalphilosophischen Methodologie betrachte. Seine Überlegungen zur objektiven Bezugnahme auf Gegenstände in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) und im Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre (1795) sollen mir als Einstieg in die Diskussion des Verhältnisses von transzendentalem Gegenstand (oder Noumenon in negativer Bedeutung) und Gegenstand = X bei Jacobi und Kant dienen. Fichte identifiziert die beiden Begriffe letztlich: sein Begriff vom Ding an sich ist kein anderer als der vom Gegenstand = X. Eine kantische Differenzierung wird für ihn so schlicht überflüssig: Wenn sich zeigen lässt, dass sich nicht nur der Begriff eines einheitlichen Bezugspunkts unserer Vorstellungen (= X) im Rahmen der Selbstkonstitution der vorstellenden Bezugnahme auf einen Gegenstand der Erfahrung als Bedingung der Möglichkeit dieser Konstitution ergibt; sondern dass, darüber hinaus, dieser einheitliche Bezugspunkt bereits eine Differenzierung von Vorstellung und vorgestelltem Gegenstand qua objektiv existierend impliziert, dann ist der einheitliche Bezugspunkt (= X) immer schon als transzendentaler, d. h. unabhängig von der Vorstellung existierender Gegenstand gedacht. Das ist das Ergebnis der sog. ›pragmatischen Geschichte des Bewusstseins‹, die in Fichtes Deduktion der Vorstellung am Ende des theoretischen Teils der Grundlage gipfelt.
Die Wirklichkeit der Dinge
Die resultierende allgemeine Vorstellung von Objekten überhaupt ist allerdings noch nicht die Vorstellung von wirklichen Dingen oder Gegenständen der Erfahrung. Sie sind, so Fichte, am Ende der Deduktion der Vorstellung lediglich charakterisiert durch unschematisierte Kategorien von Substantialität und Kausalität. Für die Vorstellung eines »wirkliche(n) Ding(es)« (GA I,3, 188) müssen die Vorstellungen noch der raum-zeitlich schematisierten Kategorie der Kausalität bzw. Wechselwirkung unterliegen. Dieser Übergang findet sich explizit allerdings erst im Grundriß – und nicht zufällig genau im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Maimons Kritik an seinem Objektivitätsbegriff: objektive Bezugnahme wird so transzendentalphilosophisch rekonstruiert, indem sie als Produkt einer Konstitutionsleistung erwiesen wird, die begrifflich notwendig ist. Die Details der transzendentalphilosophischen Rekonstruktion dieses Konstitutionsprozesses müssen uns hier nicht interessieren. Ich habe sie an anderer Stelle ausgeführt.23 Für mich kommt es hier darauf an, dass Fichte Maimons Vorwurf begegnet, indem er dessen Prämisse akzeptiert, aber dessen Konklusion zurückweist: »Lediglich durch die Einbildungskraft wendet ihr das Gesez der Wirksamkeit auf Objekte an, erweißt Maimon, mithin hat eure Erkenntniß keine objektive Gültigkeit, und die Anwendung eurer Denkgesetze auf Objekte ist eine bloße Täuschung. Die Wissenschaftslehre gesteht ihm den Vordersatz nicht nur für das Gesez der Wirksamkeit, sondern für alle Gesetze a priori zu, zeigt aber durch eine nähere Bestimmung des Objekts, welche schon in der Kantischen Bestimmung liegt, daß unsre Erkenntniß gerade darum objektive Gültigkeit habe, und nur unter dieser Bedingung sie haben könne.« (GA I,3, 191)
Fichte sieht sich zu dieser Zurückweisung berechtigt, weil und sofern er den Nachweis erbracht zu haben glaubt, dass die Deduktion der objektiven Bezugnahme im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Überlegung erfolgt ist, die durch ihre dem Anspruch nach alternativlose Konstitutionslogik alle notwendigen Elemente für eine solche objektive Bezugnahme geleistet hat. Die später von ihm selbst festgestellte Übereinstimmung mit Jacobi 24 ist also, was diese Überlegung angeht, nur oberflächlich: Die Affektionstheorie 23 Vgl.
Johannes Haag: »Imagination and Objectivity in Fichte’s Early Wissenschaftslehre«, in: Gerad Gentry und Konstantin Pollok (Hg.): The Imagination in German Idealism and Romanticism, Cambridge 2019, S. 109–128. 24 Vgl. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), GA I,4, 235 ff. Vgl. dazu Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 171 f., 175, 192–195, die in diesem Zusammenhang einen größeren Einfluss von Jacobi auf Fichte zu vermuten scheint. Vgl. z. B. ebd., S. 172 und 179. Die Situation ist strategisch kompliziert, da Fichte hier versucht, den ›echten‹
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wird nicht zurückgewiesen, weil die Realität der postulierten Relation nicht nachweisbar ist; sie wird vielmehr zurückgewiesen, weil das Postulat trans zendentalphilosophisch nicht gerechtfertigt werden kann, da es eine Alternative gibt, die ohne diese Zusatzprämisse (oder ›Eingangsbehauptung ins Kantische System‹) auskommt. Denn selbst Kants »Mannigfaltiges der Erfahrung« wird »von uns durch ein schöpferisches Vermögen producirt« (Brief an Jacobi, 30.8.1795, GA III,2, 391 / JBW I,11, 55). Wenn Fichtes Rekonstruktion überzeugt, ist Jacobis Kritik an Kants Überlegung aus transzendentalphilosophischer Perspektive deshalb berechtigt – wenn auch aus anderen Gründen. Die Konsequenz ist, dass Fichte in der Tat »transzendentaler Idealist, härter als Kant es war« (ebd.) ist, weil und sofern seine transzendentalphilosophische Rekonstruktion des objektiven Gegenstandsbezugs auf eine realistische Annahme verzichten kann, die Kant noch für notwendig hielt. Das ist allerdings weder der ›kräftigste Idealismus, der je gelehrt worden ist‹, noch ›spekulativer Egoismus‹.25 Die transzendentalphilosophische Wende ist kein ontologischer und auch nicht primär ein epistemologischer, sondern ein methodologischer Neuanfang. Es ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, dass die transzendentalphilosophische Analyse nicht auf die Etablierung konstitutionslogischer Zusammenhänge eingeschränkt ist, wie sie Fichte etabliert. Wäre das der Fall, dann ließe sich in der Tat aus begrifflichen Gründen keine Kantische Antwort auf Jacobis Herausforderung finden. Doch genau das scheint Jacobi vorauszusetzen: Die Forderung realer Ursachen unserer vorgestellten Wirklichkeit ist bei ihm eine metaphysische Annahme, die darauf basiert, dass wir die transzendentalphilosophisch vorausgesetzte Realität konstitutionslogisch begründen müssten. Das ist aber nicht der Fall. Denn im Kontext transzendentalphilosophischer Analyse der apriorischen Bedingungen der Möglichkeit objektiver vorstellender Bezugnahme impliziert Denknotwendigkeit bereits Verifikation. Mehr ist nicht gefordert – und mehr kann nach der methodologischen Wende, die Kant eingeleitet hat, auch nicht mehr gefordert werden. Denn das ist die einzige Art und Weise, wie wir in einer kritischen Metaphysik nicht erfahrbaren Gegenständen apriorische Realität gerechtfertigt zuschreiben können. Ein Blick in Jacobis Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus von 1802 kann demgegenüber seine konstitutionslogische Voraussetzung verdeutlichen. Sie ergibt sich offenbar aus einer Interpretation von Kants Behauptung aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, dass man Kant (mit Jacobi (!) und gegen den »Kantianismus der Kantianer« (GA I,4, 237)) ganz im Sinne seiner Wissenschaftslehre zu deuten. Indem er Jacobi so instrumentalisiert, tut er dann nicht nur diesem, sondern auch Kant Unrecht. 25 Vgl. JWA 2,1, 112 und Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 196.
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doch einmal annehmen möge, »die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten« (B XVI). »Also, wenn David Hume widerlegt und das apriorische System […] gerettet werden sollte, so mußte die Möglichkeit dessen, was er für unmöglich gehalten hatte, dargethan werden; und sie war dargetan, wenn gezeigt wurde, man hätte sich bisher allgemein geirrt, indem man […] angenommen, unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten, da in der Wahrheit sich doch umgekehrt die Gegenstände nach unserer Erkenntniß richten müßten. Dieses Zeigen aber, wenn es philosophisch geschehen sollte, war nur durch eine Deduction des Objects allein aus dem Subject, das ist, durch eine Construction zugleich des Objects und Subjects […] möglich« (JWA 2,1, 267).
Diese Passage bringt Jacobis Verständnis des Kantischen Unternehmens auf den Punkt. Und sie macht deutlich, dass er die Konstruktion für den entscheidenden methodologischen Aspekt dieses Unternehmens hält. Darauf, dass sich die transzendentalphilosophische Wende nicht auf diesen Aspekt beschränken lässt, habe ich bereits hingewiesen. Doch die Stelle ist darüber hinaus auch verräterisch, weil sie eine letztlich eben doch metaphysische Deutung des kritischen Unternehmens selbst impliziert, in der sich die Gegenstände tatsächlich ›nach unserem Erkenntnis richten‹ und deshalb konstruiert werden müssen. Jacobi scheint hier ein wenig zu sehr ›im Felde der Metaphysik‹ unterwegs zu sein. Und Kant selbst leistet dieser Deutung in der B-Vorrede Vorschub. Doch sein tatsächliches Vorgehen muss ein anderes sein.
V. Kant und »das, was erscheint«
Allerdings bleibt natürlich die Möglichkeit, dass Kant selbst diesen Weg nicht konsequent genug beschritten hat. Er wäre dann sozusagen vor den radikalen Konsequenzen seiner eigenen methodologischen Wende zurückgeschreckt – oder hätte schlicht übersehen, dass auch sein eigenes philosophisches System noch unkritische Annahmen enthält. Vielleicht war es ja Jacobis Verdienst, auf diese vorkritischen Reste hingewiesen zu haben? Ich denke, dass man Kant gegen diesen Vorwurf verteidigen kann. Ein guter Ansatzpunkt für solch eine Verteidigung ist einmal mehr die Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Gegenstand qua Noumenon im negativen Verstand und qua Gegenstand = X. Jacobi liest, wie wir gesehen haben, die Rolle des Begriffs des transzendentalen Gegenstands = X in Kants Diskussion der Synthesis der Rekognition in der A-Deduktion als beschränkt auf dessen Einheitsfunktion und findet Kants Behandlung des transzenden-
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talen Gegenstands als Noumenon im negativen Verstande eher in den Passagen gegen Ende der Transzendentalen Analytik (Phaenomena & Noumena, Amphibolie) sowie in der Widerlegung des Idealismus der A-Ausgabe (in der Kritik des vierten Paralogism). Bei näherem Hinsehen sieht man jedoch schnell, dass Kant im fraglichen Abschnitt der A-Deduktion mehrfach und ohne erkennbare Mühe zwischen den beiden Bedeutungen wechselt – ohne deshalb die terminologischen Anpassungen vorzunehmen, die man erwarten dürfte, wenn es sich dabei um zwei strikt unterschiedene Begriffe handeln würde. Es sieht vielmehr so aus, als würde hier ein und derselbe Begriff zugleich zwei Funktionen erfüllen, die dementsprechend eng miteinander verknüpft sein sollten. Sehen wir uns die Passagen kurz an: Kant erklärt gleich zu Beginn, dass er hier die für unsere Zwecke – d. h. die Frage nach der objektiven Bezugnahme auf vorgestellte Gegenstände – höchst relevante Frage klären will, »was man unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellung meine« (A 104). Und er fährt fort: »Wir haben oben gesagt: daß Erscheinungen selbst nichts als sinnliche Vorstellungen sind, die an sich, in eben derselben Art, nicht als Gegenstände (außer der Vorstellungskraft) müssen angesehen werden. Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegen über setzen könnten.« (Ebd.)
Hier scheint klarerweise nicht lediglich die Vorstellung des Gegenstands = X in seiner Funktion als Begriff der Einheit des vorgestellten Mannigfaltigen gemeint zu sein. Es geht vielmehr um den Gegenstand, der uns in der Erscheinung erscheint. Es ist dieser Gegenstandsbegriff, der zunächst dafür verantwortlich ist, dass »unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe« (ebd.). Denn es ist der Begriff von einem Gegenstand als etwas, »was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt« sind (ebd.). 26 Diese ›Bestimmung a priori‹ ist hier noch nicht als Bestimmung durch kategoriale Gesetze zu lesen. Gemeint ist vielmehr, dass es sich um eine begriffliche Wahrheit handelt, die in unserem Begriff eines unabhängig von 26
Die möglicherweise etwas irritierende doppelte Verneinung (»dawider […], daß […] nicht«) fungiert hier als Unterstreichung bzw. Verstärkung.
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uns existierenden Gegenstands enthalten ist: es ist ein Merkmal des Begriffs der Unabhängigkeit des Gegenstandes, dass unsere wahrnehmende Vorstellung von ihm eben nicht ›aufs Geratewohl oder beliebig‹ ist. Unsere Vorstellungen »sollen« (ebd.) zum Zweck einer erfolgreichen Bezugnahme auf einen unabhängig existierenden Gegenstand eben »notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen« (A 104 f.). Doch das heißt wiederum nichts anderes, als dass sie »diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht« (A 105). Diese Einheit des ›notwendiger Weise untereinander Übereinstimmens‹ folgt aus dem Begriff des der Erkenntnis korrespondierenden Gegenstands, der eben nicht bloß Erscheinung ist, sondern das, was erscheint. Begrifflich gefordert ist also im Begriff des Gegenstands als etwas überhaupt = X, dass er als verantwortlich für eine Einheit betrachtet werden muss. Objektivität ist so im Begriff des Gegenstands der Vorstellung enthalten. Gleichzeitig folgt aus dem Begriff des Gegenstands, der keine Erscheinung ist, dass er die so begrifflich geforderte Einheit inhaltlich selbst weder formal noch material bestimmen kann. Sein Begriff ist lediglich funktional bestimmt als dasjenige, was da erscheint bzw. der Vorstellung korrespondiert. Denn: »jenes X, was ihnen [d. i. den Vorstellungen; JH] korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, [ist] vor uns nichts« (ebd.). Gerade die begriffliche Forderung der Verschiedenheit von unseren Vorstellungen – der Kerngedanke der objektiven Existenz – impliziert also, dass der Gegenstand als verantwortlich für eine Einheit gedacht werden muss, die er auf Grund eben dieser begrifflichen Festlegung nicht inhaltlich bestimmen kann. Alles, was für diese Bestimmung material zur Verfügung steht, ist »bloß die Erscheinung von etwas, und die Art, wie wir dadurch affiziert werden« (A 44 / B 61). Formal aber kann diese Einheit nichts anderes sein »als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen« (A 105). Die Einheit des Gegenstandes, die als Einheit des ›notwendiger Weise untereinander Übereinstimmens‹ die für die objektive Bezugnahme begrifflich erforderliche Notwendigkeit garantiert, ist also gesichert, »wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben« (ebd.). Und dafür, dass wir diese Einheit in Anschauungen bewirken können, ist das Zusammenspiel von empirischen und reinen Begriffen auf der einen Seite mit transzendentalen Begriffen auf der anderen verantwortlich: Denn »der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstande = X, den ich durch die gedachte Prädikate […] denke« (ebd.). Im Begriff des Gegenstands = X denke ich also die Einheit des ›notwendiger Weise untereinander Überein-
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stimmens‹; und ich denke diese Einheit als »notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben« (A 106). Da aus transzendentalphilosophischer Perspektive »[a]ller Notwendigkeit […] jederzeit eine transzendentale Bedingung zum Grunde« (ebd.) liegen muss, »muß ein transzendentaler Grund der Einheit des Bewußtseins, in der Synthesis […] der Begriffe der Objekte überhaupt, folglich auch aller Gegenstände der Erfahrung, angetroffen werden« (ebd.). Ohne diesen ›transzendentalen Grund der Einheit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen‹ wäre es »unmöglich […], zu unsern Anschauungen irgend einen Gegenstand zu denken« (ebd.). Denn ein Gegenstand »ist nichts mehr, als das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdruckt« (ebd.). Die Notwendigkeitsforderung, die im Begriff des Gegenstands liegt, der selbst keine Erscheinung, aber für diese verantwortlich sein soll, wird demnach erfüllt durch die »ursprüngliche und transzendentale Bedingung« (ebd.) der »transzendentale[n] Apperzeption« (A 106 f.). Kant führt diese komplexen Überlegungen zusammen, wenn er gegen Ende dieses Abschnitts schreibt: »Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann, und daher der nichtempirische, d. i. transzendentale Gegenstand = X genannt werden mag.« (A 108 f.)
Hier scheint es sehr plausibel, den transzendentalen Gegenstand = X mit dem zu identifizieren, was nicht Erscheinung ist, aber erscheint. Unser reiner Begriff von dem, was da erscheint, kann nun aber, wie wir gesehen haben, nichts anderes sein als das, was allen möglichen Gegenständen der Erfahrung notwendige formale Einheit, verstanden als ›Einheit des notwendiger Weise Übereinstimmens‹, verleiht – und damit unsere intentionale Bezugnahme zur objektiven Bezugnahme macht: »Der reine Begriff von diesem transzendentalen Gegenstande, (der wirklich bei allen unsern Erkenntnissen immer einerlei = X ist,) ist das, was allen unsern empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d. i. objektive Realität verschaffen kann. Dieser Begriff kann nun gar keine bestimmte Anschauung enthalten, und wird also nichts anders, als diejenige Einheit betreffen, die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muß, so fern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Beziehung aber ist nichts anders, als die notwendige Einheit des Bewusstseins, mithin auch der
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Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden.« (A 109)
Ich habe bereits bemerkt, dass Kant in diesen Passagen scheinbar jederzeit mühelos, ja: sorglos zwischen Gegenstandsbegriffen zu wechseln scheint, die Jacobi (in 2. und 3.) unterscheidet. Doch bereits die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass der Schein trügt: Es handelt sich nicht um einen Wechsel (oder gar eine Verwechslung) von Gegenstandsbegriffen, vielmehr ist es immer ein und derselbe Gegenstandsbegriff, der hier zur Diskussion steht, nämlich der Begriff des Gegenstands der Vorstellung, d. h. unser Gegenstandsbegriff. Dieser enthält den Gedanken der objektiven Existenz als einer Exis tenz unabhängig von eben den Vorstellungen, für die der Gegenstand verantwortlich sein soll, ebenso wie die begriffliche Konsequenz daraus, dass nämlich die Einheitsbildung nicht vom Gegenstand selbst herrühren kann, der ja gerade von den Vorstellungen verschieden sein soll. Unabhängigkeit von unseren Vorstellungen; gleichzeitig aber Verantwortlichkeit für diese Vorstellungen – das ist der Kern der klassischen Objektivitätskonzeption. Vereinigt werden diese Aspekte im Begriff des Bezugsobjekts unserer Vorstellungen: Gegenstand sein bedeutet das intentionale Objekt unserer Vorstellungen zu sein, das von diesen Vorstellungen zugleich wesentlich verschieden ist. Wir können in der Entwicklung des kantischen Begriffs des Gegenstands der Vorstellung die verschiedenen Schritte einer transzendentalphilosophischen Untersuchung als sukzessive Erschließung der Bedingungen der Möglichkeit des Begriffs eines Gegenstands intentionaler Bezugnahme beobachten:
① Wir beginnen mit der begrifflichen Implikation der unabhängigen Exis
tenz des von der Vorstellung verschiedenen Gegenstands dieser Vorstellung, der zugleich den materialen Inhalt dieser Vorstellung erzwingt. ② Da die materiale inhaltliche Bestimmung ebenso wie die formale Einheit des ›notwendiger Weise untereinander Übereinstimmens‹ der Vorstellungen in der Erscheinung durch diesen Gegenstand eben auf Grund seiner wesentlichen Verschiedenheit von der Vorstellung selbst nicht geleistet werden kann, wird die Bestimmung des Mannigfaltigen der Vorstellungen durch den konkreten (empirischen oder reinen) Begriff vom Gegenstand notwendig. ③ Doch solche Begriffe können die erforderliche Notwendigkeit nicht garantieren. Dazu bedarf es einer apriorischen Einheitsbildung, die aus der einheitlichen strukturierenden Bestimmung des Mannigfaltigen in Übereinstimmung mit den rein formalen Eigenschaften eines Begriffs vom Gegenstand = X resultiert, die entsprechend der raum-zeitlichen Struktu-
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rierung des Mannigfaltigen durch unsere Sinnlichkeit ihrerseits raumzeitlich schematisiert sein müssen. ④ Im resultierenden Begriff des Gegenstands der Erfahrung ist damit jederzeit der Begriff des Gegenstands = X mitgedacht, der für die Vorstellungseinheit verantwortlich sein soll, dieser Rolle aber nur als vorgestellter Bezugspunkt für die apriorische Einheit gerecht wird, die unserer intentio nalen Bezugnahme auf Gegenstände der Erfahrung deshalb die notwendige Einheit verleiht.27 Wir beginnen also mit einer begrifflichen Minimalannahme im Hinblick auf den Begriff des Gegenstands der Vorstellung und gelangen auf dem Wege transzendentalphilosophischer Analyse schrittweise zum vollständigen Begriff des Gegenstands der Erfahrung. Die objektive Realität dieses Begriffs selbst ist dabei noch nicht Gegenstand der Analyse. Letztere schafft für diesen weiteren Schritt nur die begrifflichen Rahmenbedingungen. Dass der so erhellte Begriff des Gegenstands der Erfahrung selbst Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt ist, versucht Kant erst in der transzendentalen Deduktion selbst zu zeigen – die diskutierte Passage geht dieser noch als Vorbereitung voran. Der reale Begriff des Dinges an sich als Pendant der Wahrnehmung, als notwendig unbekannter Grund der Erscheinungen, als etwas, »was […] an sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, […] Etwas, d. i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß« (A 252), ist jedoch begrifflich eingeholt am Beginn der diskutierten Überlegung aus der A-Deduktion (A 104 ff.) mit der dortigen Reflexion auf den Begriff des Gegenstands der Vorstellung. Sofern sich (im Zuge der eigentlichen transzendentalen Deduktion) nachweisen lässt, dass dieser Begriff selbst eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, ist damit auch der Begriff des objektiv exis tierenden Gegenstands selbst transzendentalphilosophisch gesichert – und nicht, wie Jacobi meint, eine unreflektierte oder vorkritische Prämisse.28 27 »Da
nun diese Einheit als a priori notwendig angesehen werden muß, (weil die Erkenntnis sonst ohne Gegenstand sein würde) so wird die Beziehung auf einen trans zendentalen Gegenstand d. i. die objektive Realität unserer empirischen Erkenntnis, auf dem transzendentalen Gesetze beruhen, daß alle Erscheinungen, so fern uns dadurch Gegenstände gegeben werden sollen, unter Regeln a priori der synthetischen Einheit derselben stehen müssen« (A 109). 28 Es ist dann auch dieser Begriff, der den Hintergrund für die Wahrnehmungstheorie im von Jacobi zu Recht in den Mittelpunkt gerückten Vierten Paralogism bildet, die ich hier nicht mehr im Detail erörtern kann. Eine vertiefende Analyse müsste auch die entsprechenden Ausführungen aus dem Phaenomena-und-Noumena-Kapitel (in beiden Auflagen) mit einbeziehen.
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Wenn diese Überlegungen in die richtige Richtung weisen, wird auch Kants wiederholtes Insistieren darauf, dass der Begriff der Erscheinung doch etwas voraussetze, was erscheint, verständlich als transzendentalphilosophisch motivierte Begriffsklärung – und nicht als eine (allerdings ziemlich verzweifelte) Form von ›question-begging‹. Eigentlich ist das eben nicht nur eine begriffliche, sondern eine transzendentalphilosophische Beobachtung: Es gibt keine Vorstellung mit Wahrheitsanspruch ohne die Vorstellung einer vorstellungsunabhängigen Wahrheit. Sofern wir Vorstellungen mit Wahrheitsanspruch haben – und darauf können wir nicht verzichten! –, müssen wir uns deshalb als vom Gegenstand affiziert denken. Hierin liegt so zugleich eine über die gefühlte Passivität in der Wahrnehmung, die klassischen kausalen Wahrnehmungstheorien von jeher zugrunde lag, im Begründungsanspruch weit hinausgehende transzendentalphilosophische Argumentation für den Ausgang von der Rezeptivität als einer der beiden »Grundquellen des Gemüts« (A 50 / B 74). Die Annahme einer solchen Grundquelle ergibt sich, vermittelt über die Affektionsbeziehung, direkt aus der transzendentalphilosophischen Analyse des Begriffs eines Gegenstands der Vorstellung.29 Nun liegt es aber am Begriff des Gegenstands der Vorstellung, wie Kant nun wirklich von Berkeley und Hume lernen konnte, dass wir unabhängig von Vorstellungen nicht zu vorgestellten Gegenständen durchdringen können. Also muss die Objektivität anders sichergestellt werden. Und genau dies geschieht in der Konstruktion notwendiger Einheit. Der entscheidende Schritt in der (von Jacobi nach Sandkaulen geforderten 30) Verifikation des Begriffs des affizierenden Gegenstands der Vorstellung ist ein Schluss auf die begriffliche Bedingung der Möglichkeit, nicht ein Schluss von der Wirkung auf die Ursache. Dass Letzteres für Kant keine Option sein kann, hat Jacobi mit großer Klarheit gesehen. Die Schwäche seiner Kritik scheint mir darin zu liegen, dass er nicht gesehen hat, dass die konstitutionslogische (Fichte’sche) Alternative nicht die einzig transzendentalphilosophisch akzeptable Alternative zur metaphysischen Annahme eines realen Relatums ist. (Eine solche Annahme würde tatsächlich die Grundprinzipien der kritischen Wende verletzen.) Wie deutlich geworden sein sollte, ist keineswegs jeder Schritt dieser trans zendentalphilosophischen Überlegung ein konstitutionslogischer. Aber das ist auch keine Anforderung an die transzendentalphilosophische Methodo 29 Dies
ergänzt und korrigiert den auf Passivität als phänomenologisches Faktum konzentrierten Diskussionsansatz des rezeptiven Vermögens in Johannes Haag: Erfahrung und Gegenstand. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand, Frankfurt/M. 2007, S. 93–97. 30 Vgl. Sandkaulen: Das ›leidige Ding an sich‹, S. 187.
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logie. Die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung kann auch andere Schlüsse rechtfertigen – darunter den von der Erscheinung auf etwas, was da erscheint.
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Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich? I. Kants Argumente für den transzendentalen Idealismus
In der letzten zusammenfassenden Darstellung seiner Philosophie, der 1793 (also nach den drei Kritiken) verfassten, nicht ganz vollendeten Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik schreibt Kant, es seien zwei Angeln, um welche die Vernunftkritik sich drehe: die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit und die Lehre von der Realität des Freiheitsbegriffs (vgl. AA XX, 311). Die erstere gilt sogar noch als die Grundlage der zweiten: Ohne die These der Idealität von Raum und Zeit sei Freiheit nicht zu retten (vgl. A 536 / B 564 u. KpV, AA V, 95 u. 101 ff.). Kein Wunder, dass Kant großen Wert darauf legt, dass es sich bei ihr um eine »demonstrirte Wahrheit« (AA XX, 268; ähnlich z. B. A 490 / B 518) handelt – sie ist die entscheidende Angel. Kant war davon überzeugt, dass eine Reihe von Argumenten diese Wahrheit »demonstrieren«. Eines wurde gerade schon erwähnt: Die zweite Angel, die Lehre von der Realität des Freiheitsbegriffs, soll die erste voraussetzen. Kant sieht – anders als Spinoza, Leibniz oder Hume und sehr viele moderne Freiheitstheoretiker – einen kompatibilistischen (also mit dem Determinismus verträglichen) Freiheitsbegriff als unzureichend an. Zu Freiheit gehöre, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, so oder anders (speziell gut oder böse) zu handeln. Für eine freie Person muss es möglich sein, sich genau dann, wenn sie handelt, zu entscheiden, ob sie dem kategorischen Imperativ gehorcht oder nicht; diese Entscheidung darf nicht durch etwas Vorhergehendes determiniert sein, weil sie dann zum fraglichen Zeitpunkt nicht mehr in der Hand der Person läge. Man nennt diese These das Prinzip der alternativen Möglichkeit; seine Annahme charakterisiert einen starken libertarianischen und inkompatibilistischen Freiheitsbegriff. Für die Vorgänge in Raum und Zeit hat Kant nun den Determinismus, der für jeden Zeitpunkt nur eine Möglichkeit der Fortentwicklung zulässt, als zwingend beweisbar angesehen. Entweder also keine Freiheit und damit auch keine Sittlichkeit – dass Freiheit eine Voraussetzung für Sittlichkeit ist, hat er häufig betont – oder es müssen Prozesse möglich sein, die Komponenten enthalten,
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die zu einer Wirklichkeit außerhalb von Raum und Zeit gehören. Das aber sei nur denkbar auf der Basis der Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit. Ohne die erste könne also die zweite Angel nicht bestehen, was als indirektes Argument für die erste gilt. Die wichtigen Argumente für die erste Angel sind jedoch andere gewesen. In den sogenannten »Raumargumenten« (A 22 ff./B 37 ff.) soll aufgrund der Prämisse, dass die Empfindungen als solche keine Informationen liefern über räumliche Verhältnisse und Formen, gezeigt werden, dass der Raum eine Vorstellung a priori ist. Diese Prämisse ist wenig plausibel und auch bald angegriffen worden.1 Ich nehme an, dass für Kant vor allem die Überzeugung maßgeblich war, dass die euklidische Geometrie a priori gilt. Da deren Sätze synthetische Urteile a priori sind, bedürfen sie zur Rechtfertigung einer reinen Anschauung. Wenn die mathematische Theorie auch für die raumzeitlichen Bestimmungen physischer Gegenstände gelten soll, muss diese Anschauung zugleich als Anschauungsform für die sinnliche Anschauung dieser Gegenstände fungieren. Nur so kann ihre Leistung für die mathematische Theorie auch Geltung für die physischen Gegenstände bekommen. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass schon die mathematischen Alternativen zur euklidischen Geometrie erst später durch Gauss, Riemann und andere entwickelt worden sind. Die empirische Relevanz dieser alternativen Geometrien ist sogar erst durch Einstein ans Licht gekommen. Für Kant war die euklidische noch die einzig mögliche Geometrie. Die beiden bedeutsamsten zu Kants Zeit vorliegenden Theorien von Raum und Zeit, die von Leibniz und die von Newton, können nun diese AprioriGültigkeit der euklidischen Geometrie nicht rechtfertigen, weswegen sie Kant (schon in der Schrift von 1770 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis) scharf kritisiert. Beide Theorien müssen deswegen falsch sein. Der Theorie von Newton hält er außerdem vor (ebenfalls schon 1770), dass sie dazu zwinge, »zwei ewige und vor sich bestehende Undinge« anzunehmen, »welche dasind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist)« (A 39 / B 56). Schon 1770 war das als ein »commentum absurdissimum« bezeichnet worden (AA II, 400). Für Newton existieren Raum und Zeit unabhängig von und vor allem materiellen Inhalt, für Kant ist das unmöglich. Die eigene Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit wird also eingeführt als Alternative zu den unhaltbaren Theorien von Leibniz und Newton. Zugrunde liegt dabei die Überzeugung Kants, dass nur durch synthetische Urteile a priori ein umfassender Skeptizismus abgewehrt werden kann, dass die Rechtfertigung solcher Urteile aber 1
Vgl. Hans Vaihinger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, Stuttgart 1922, S. 177–184.
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
idealistische Prämissen erfordert. Wir können »von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (B XVIII). An anderer Stelle (z. B. A 128 f.) begründet Kant, weshalb wir von Dingen an sich keine Erkenntnis a priori haben können: Das Erkennen einer unabhängig vorliegenden Wirklichkeit könnte nur ein passives Abbilden sein, das nicht zu einer Erkenntnis a priori führen kann. Und Gesetze, also Sätze, die apodiktisch und universell für alle Raumzeitpunkte gelten sollen, könnten auf diesem Wege grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden. Deswegen gilt die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit auch als »das einzige Mittel […], die Anwendung einer der allerwichtigsten Erkenntnisse, nämlich derjenigen, welche Mathematik a priori vorträgt, auf wirkliche Gegenstände zu sicheren« (Prol. § 13, Anm. 3, AA IV, 292). Nur sie erlaubt es, die Apriori-Gültigkeit der euklidischen Geometrie für die physische Realität zu behaupten, und zwar in Übereinstimmung mit dem Prinzip, dass wir nur das a priori einsehen können, was wir selbst in die Gegenstände hineinlegen. Kant protestiert deswegen häufig gegen den Vorwurf, seine Theorie verwandle die ganze Wirklichkeit in Schein. Für ihn ist sie im Gegenteil die einzige, die imstande ist, einen weitgehenden Skeptizismus zu vermeiden. Dass etwas »real« oder »wirklich« ist, bedeutet für ihn, dass sich bestimmte Urteile als objektiv gültig beweisen lassen. Wenn für solche Beweise die Apriori-Gültigkeit der euklidischen Geometrie in Anspruch genommen werden muss, dann sind sie nur möglich auf der Basis der Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit. Also würde eher die Bestreitung dieser Lehre alles in Schein verwandeln. Einer der ersten Einwände gegen die Lehre der ersten Angel, vorgebracht von Selle,2 ist gewesen: Wenn die Dinge an sich unerkennbar sind, dann lässt sich doch nicht ausschließen, dass sie ebenfalls in Raum und Zeit existieren. Kant kann das jedoch nicht zugestehen, denn dann müsste er die Möglichkeit einräumen, dass doch eine der beiden anderen Theorien, entweder die von Leibniz oder die von Newton, wahr ist. Das aber würde den Boden der eigenen Theorie untergraben. Es müsste auch unentscheidbar werden, ob die euklidische Geometrie auch für die Dinge an sich gilt oder nicht.
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Vgl. den Brief Kiesewetters an Kant vom 20.4.1790 (AA XI, 155–160) sowie Vaihinger: Kommentar, S. 315.
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II. Folgerungen aus den idealistischen Annahmen
Aus der ersten Angel, die so demonstriert sein soll, folgt nun die kantische Unterscheidung von empirischem Realismus und transzendentalem Idealismus. Der empirische Realismus besagt: Es gibt physische Gegenstände im Raum außer uns, für die synthetische Urteile a priori bewiesen werden können; sie können deswegen auch Gegenstand objektiv gültiger empirischer Erfahrung sein. Kant hat also keinen Grund, Fakten wie z. B. die, dass der Mond rund 400.000 km von der Erde entfernt ist, eine Kugelgestalt besitzt und aus Mineralien besteht, zu bezweifeln oder gar zu bestreiten. Derartige Fakten sollen durch den empirischen Realismus abgedeckt werden. Der transzendentale Idealismus auf der anderen Seite, also die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, besagt: Da der Raum als Anschauungsform nur in uns existiert, können Gegenstände, die im Raum außer uns existieren, gerade ihrer Räumlichkeit zufolge auch nur in uns existieren. Das In-unsSein des Raumes überträgt sich auf alles, was im Raum existiert und eine räumliche Gestalt hat. Kant mutet uns also zu, sowohl zu akzeptieren, dass der Mond 400.000 km von uns entfernt ist, als auch, dass er »nur in uns« existiert. Das eine ist ein objektives empirisches Faktum, das andere gleichsam ein transzendentales Faktum. Ja er behauptet sogar, der Mond könne nur deswegen 400.000 km von uns entfernt sein, weil er nur in uns existiert, denn Sätze über solche räumlichen Verhältnisse können nur deswegen als objektiv gültig erwiesen werden, weil die euklidische Geometrie a priori gilt, was wiederum nur gerechtfertigt werden kann auf der Basis der Idealität des Raumes. Kant hat versucht, diese problematische Struktur zu erläutern auch durch den Hinweis auf den analogen Fall der sekundären Eigenschaften. Es gebe eine Menge von Prädikaten – bei Wärme, Farbe Geschmack etc. – die nicht zu den Dingen an sich selbst gehören, sondern nur zu ihren Erscheinungen, wie vor allem seit Locke angenommen werde (vgl. Prol. § 13, Anm. 2, AA IV, 289). Jemand, der glaubt, dass Farben erst in unserem Sinnesorgan entstehen, muss nicht bestreiten, dass Gras grün ist und Schnee weiß. Das In-uns-Sein der Farben hindert also nicht, ihr Vorliegen realistisch zu interpretieren. Der für Kant wesentliche Unterschied zu den Anschauungsformen besteht darin, dass durch diese synthetische Urteile a priori möglich werden sollen, was bei den sekundären Eigenschaften nicht der Fall sei. Beide Fälle sollen aber darin übereinkommen, »daß sie bloß zur subjektiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören« (B 44). Dadurch, dass man Gegenstände anschaulich zur Erscheinung bringt, erhalten sie nicht nur ihre Farbigkeit, sondern auch ihre raumzeitlichen Formen.
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
Es gibt jedoch grundliegende Unterschiede zwischen beiden Fällen, sodass die Analogie ihre Grenzen hat. Im Fall der sinnlichen sekundären Eigenschaften kann man ja kausal einsichtige Dispositionen der Dinge angeben, die sie hervorrufen, bei Farben etwa die Disposition, einfallende elektromagnetische Wellen auf bestimmte Weise zu reflektieren. Es gibt keinen Anlass, anschauungsunabhängige Dinge an sich als Noumena, als Entitäten außer Raum und Zeit, zu interpretieren. Aufgrund der Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit dagegen müssen die Dinge an sich aber doch als solche Noumena bestimmt werden. Was aber sollen unräumliche Dispositionen sein, die auf kausal einsichtige Weise zu Vorstellungen von räumlichen Gestalten, Abständen usw. führen? Derartige noumenale Eigenschaften lassen sich kaum denken. Die Ausbildung konkreter raumzeitlicher Formen kann also nicht durch Beschaffenheiten anschauungsunabhängiger Dinge an sich erklärt werden (das war ein schon bald vorgebrachter Einwand). Es müsste überdies auch anders als im Fall der sekundären Eigenschaften eine noumenale, der raumzeitlichen Wirklichkeit vorausgehende Form von Kausalität unterstellt werden. Auf die Frage, ob eine solche Kausalität denkbar ist, ist zurückzukommen. Noch befremdlicher scheint es zu werden, wenn man die Zeit hinzunimmt. Da sie eine Anschauungsform des inneren Sinnes sein soll, muss alles, was eine zeitliche Existenz hat (und das gilt für alles, was im Raum existiert), auch ein Gegenstand des inneren Sinnes sein, ohne dass sich dadurch an seinem räumlichen Außer-uns-Sein im Geringsten etwas ändern soll. Obwohl der Mond nur in uns existiert, bleibt er ja ein Gegenstand der äußeren Anschauung und wird nicht zu einem der inneren. Aber sein Lauf um die Erde vollzieht sich in der Zeit und diese ist eine Anschauungsform des inneren Sinnes. Also scheint er doch auch irgendwie ein Gegenstand des inneren Sinnes sein zu müssen. Es ist ja nicht die Vorstellung des Mondes, sondern er selbst, was die Erde umkreist. Also sollte auch er selbst ein Gegenstand der inneren Anschauung sein. Wie Kant sich das genau denkt, ist nicht ganz klar und unter den Interpreten umstritten. Die zeitliche Existenz physischer Gegenstände muss aber ebenfalls als eine außer uns und auch vor bzw. nach uns möglich sein. Wie Kant zulassen muss, dass der Mond 400.000 km von uns entfernt ist, so sollte er auch zulassen können, dass der Mensch ein spätes Produkt der Evolution ist, es also schon vor seiner Existenz zeitliche Relationen zwischen Ereignissen gegeben haben kann. Kant hat ja 1755 selbst eine Hypothese vorgetragen über den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, die das voraussetzt. Es sollte also im empirischen Realismus als möglich zugelassen sein. Dieser Dualismus von empirischem Realismus und transzendentalem Idea lismus zieht nach sich, dass der Ausdruck »außer uns« zweideutig wird, wie
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Kant selbst anmerkt (A 373). Er spaltet sich auf in ein räumliches Außer-unsSein (was wie der Mond in einer messbaren Entfernung außer uns ist) und in ein nichträumliches Außer-uns-Sein, dem keine räumlichen Verhältnisse zugrunde liegen. In der platonischen Tradition sollten die Phaenomena im ersteren Sinn außer uns sein, die Noumena in dem anderen. Da Kant ebenfalls annimmt, dass es sowohl Wirkliches gibt, das räumlich außer uns ist, als auch Wirkliches, das nichträumlich außer uns ist, kann er diese Termini aufgreifen. Alle Gegenstände überhaupt können in Phaenomena und Noumena unterschieden werden (vgl. A 235 / B 294). Beide sind in einem je anderen Sinn außer uns. Diese Zweideutigkeit zieht weitere nach sich, die Kant, soweit ich sehe, nicht explizit anmerkt. Auch der Ausdruck »in uns« wird angesteckt, denn auch wenn der Mond mitsamt dem Raum nur in uns ist, kann er nicht so in uns sein wie z. B. ein Schmerzgefühl. Für den Mond soll ja gültig bleiben, dass er in einer messbaren Entfernung außer uns existiert, für das Schmerzgefühl gilt etwas Entsprechendes nicht. Das In-uns-Sein des Mondes ist ein indirektes; er ist nur deswegen in uns, weil er im Raum existiert, der Raum aber nur in uns sein soll. Das In-uns-Sein des Schmerzgefühls ist ein direktes, das nicht darin gegründet ist, dass es in einer messbaren Entfernung außer uns existiert. Da das In-uns-Sein des Mondes gerade daraus folgen soll, dass er in messbarer Entfernung außer uns ist, sollte es mit diesem Faktum verträglich sein. Beim Schmerzgefühl gibt es keine solche Komplikation. Auch der Ausdruck »Realismus« wird mehrdeutig. Es gibt erstens den empirischen Realismus, der zugleich ein epistemischer Realismus ist, denn was im empirischen Sinn real ist, muss, wie die Theorie behauptet, auch ein Gegenstand objektiv gültiger Erfahrung sein können. Da dies aber nur möglich ist, wenn bestimmte synthetische Urteile a priori als »Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung« gelten, dies aber nur unter idealistischen Prämissen denkbar ist, ergibt sich, dass der empirische Realismus den transzendentalen Idealismus voraussetzt. Daraus folgt, dass er zugleich ein phänomenaler Realismus ist. Objektiv gültige Erkenntnis ist nur von Gegenständen in Raum und Zeit, also von (der ersten Angel zufolge) Gegenständen in uns, von Erscheinungen möglich. Daneben gibt es zweitens aber auch einen transzendenten Realismus. In diesem Sinn real ist, was unabhängig von uns und unseren epistemischen Möglichkeiten existiert, für Kant die Noumena oder Dinge an sich, der »mundus intelligibilis«. Entitäten, die in diesem Sinn real sind, können ja der ersten Angel zufolge keine ausgedehnten und veränderlichen Körper sein. In Kants Theorie muss unterstellt werden, dass es derart transzendent Reales gibt, nicht nur im Fall Gottes oder des »homo noumenon«, die ja keine Erschei-
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
nungen werden können, sondern auch im Fall der Dinge an sich, die den Erscheinungen zugrunde liegen. Wie schon die Unterscheidung von Form und Materie in Erkenntnissen verdeutlicht, vertritt Kant keinen Total-Idealismus. Daraus ergeben sich zwei Forderungen, die einander zu widersprechen scheinen: Einerseits muss das transzendent Reale unerkennbar sein, denn wenn es erkennbar sein soll, müsste es anschaulich gegeben sein können, dafür aber müsste es, da es für Menschen keine nichtsinnliche Anschauung gibt, eine Raumzeitgestalt annehmen, also aufhören, ein Noumenon und transzendent real zu sein. Andererseits aber muss doch angenommen werden, dass es irgendwie kausal an der Konstitution von Erscheinungen beteiligt ist. Ohne das transzendent Reale kein phänomenal Reales, ohne Dinge an sich keine Erscheinungen. Einer der wichtigsten Einwände gegen die kantische Theorie ist gewesen, dass diese beiden Forderungen einander widersprechen, dass die Theorie also inkonsistent ist. Damit sind wir bei der Kritik Jacobis an ihr. Seine Einwände haben Fichte und Schelling überzeugt und so bedeutenden Einfluss gewonnen auf die Entwicklung des Idealismus nach Kant. Eine inkonsistente Theorie kann durchaus bedeutende Einsichten enthalten, es können aber nicht alle ihre Sätze wahr sein. Es hat seitdem zahllose Versuche gegeben, die bedeutenden Einsichten Kants auch in eine theoretisch konsistente Fassung zu bringen.
III. Jacobis Kritik am Idealismus
Jacobi wendet sich in der Beilage »Ueber den transscendentalen Idealismus« zu seiner Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787) gegen diesen Idealismus schon deswegen, weil er seiner Auffassung nach unserer Erkenntnis jede objektive Bedeutung nimmt. Obwohl er den Passus aus der Kritik der reinen Vernunft über die Zweideutigkeit des Ausdrucks »ausser uns« dort selbst zitiert ( JWA 2,1, 105), heißt es wenige Seiten später: Die kantische Philosophie bemühe sich zu beweisen, »daß sowohl die Gegenstände als ihre Verhältnisse, blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres eigenen Selbstes, und ganz und gar nicht ausser uns vorhanden« seien (ebd., 110). Aus der transzendentalen Idealität macht er ohne weiteres ein »ganz und gar nicht ausser uns vorhanden«. Für Kant ist ja in einem bestimmten Sinn der Mond sehr wohl außer uns vorhanden: Es ist eine objektive Tatsache, dass er rund 400.000 km von uns entfernt ist. Aber seiner Auffassung nach kann das nur deswegen eine Tatsache sein, weil die euklidische Geometrie a priori gilt, und das soll wiederum nur möglich sein, weil der Raum nur in uns ist und so zuletzt indirekt auch der Mond. Auf die
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Argumente von Kant lässt Jacobi sich nicht ein; er fragt nicht, ob man auf die Apriori-Gültigkeit der euklidischen Geometrie verzichten kann oder ob sie sich auch ohne idealistische Prämissen beweisen lässt, er lässt uns auch nicht wissen, ob er die Raumzeittheorie von Leibniz oder die von Newton als gültig ansieht oder ob er noch einen weiteren Vorschlag hat, und ebenfalls nicht, wie er die im Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke diskutierten einschlägigen Probleme zu lösen gedenkt, – er hält sich allein an das Resultat Kants, dass räumliche Gegenstände nur Erscheinungen in uns sein können, und protestiert dagegen: »Kurz unsere ganze Erkenntniß enthält nichts, platterdings nichts, was irgend eine wahrhaft objective Bedeutung hätte.« (Ebd., 111) Es ist nicht klar, ob Jacobi bestreiten will, dass Sätze wie der über die Entfernung des Mondes auch nach Kant objektiv wahr sein können, aber er bestreitet eindeutig, dass diese Wahrheit etwas mit einer unabhängigen Wirklichkeit zu tun hat. Er verlangt für eine »wahrhaft objektive Bedeutung« eben mehr, als dass bestimmte Urteile objektiv wahr sind, er akzeptiert nicht die Möglichkeit der von Kant intendierten Vereinbarkeit von »in uns sein« in tran szendentaler und »außer uns sein« in empirischer Perspektive. Die von Kant angenommene komplexe Struktur wird aufgelöst in ein schlichtes »in uns sein«, bei dem kein »außer uns sein« mehr übrig bleibt. Vorstellungen seien Gegebenheiten in uns, sie können nicht zugleich noch etwas außer uns sein. Dass diese Interpretation nicht ohne Grund ist, zeigen Sätze Kants wie »daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjektes und eine Art Vorstellung desselben« (A 383). Es gilt analytisch, dass Körper ausgedehnt sind, Ausdehnung aber gibt es nur im Raum, dieser aber ist nach Kant, wie Jacobi zitiert, »in uns« ( JWA 2,1, 104). Es folgt also zwingend, dass die ganze Körperwelt wegfällt, wenn die denkenden Subjekte, deren Anschauungsform der Raum ist, wegfallen. Der Mond wäre dann nicht mehr rund 400.000 km von der Erde entfernt, und Mond und Erde wären auch keine Körper mehr. Freilich gäbe es auch keine Urteile mehr, die wahr oder falsch sein könnten. Einen Beleg für die Lesart Jacobis stellt auch Kants Versuch dar, die Möglichkeit einer psychophysischen Wechselwirkung zu verteidigen. Seit der Theorie dazu von Descartes und der Kritik an ihr durch Spinoza und Leibniz hat das Problem ja im Zentrum der philosophischen Diskussion gestanden. Kants Lösungsvorschlag (zumindest in der ersten Auflage der Kritik) ist: Wir dürfen äußere Erscheinungen nicht hypostasieren. Die Schwierigkeit beruhe auf einem bloßen Blendwerk, »nach welchem man das, was bloß in Gedanken existiert, hypostasiert, und in eben derselben Qualität, als einen wirklichen Gegenstand außerhalb dem denkenden Subjekte annimmt« (A 384). Auch das
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
Gehirn, das ja ebenfalls ein Gegenstand mit räumlichen Eigenschaften ist, existiert nur als Vorstellung im denkenden Subjekt und darf nicht »hypostasiert« werden. Kant sieht darin sogar eine Abwehr der »Gefahr des Materialismus« (A 383). Wenn man diese Hypostasierung bloßer Vorstellungen vermeidet, werde verständlich, wie Gedanken auf das Gehirn und so den ganzen Körper einwirken können. Alles geschehe ja »in uns«. Kant löst in solchen Kontexten selbst die Komplexität seiner Konzeption auf zu einem eindeutigen Vorstellungsidealismus (was, nebenbei bemerkt, dazu führt, dass sein Vorschlag in den aktuellen Diskussionen zum Problem der mentalen Verursachung kaum berücksichtigt wird; dass das Gehirn, weil es eine räumliche Struktur besitzt, bloß in Gedanken existiert und nicht hypostasiert werden darf, gilt als unannehmbar). Man kann Jacobi also kaum vorwerfen, dass er Kant missversteht, wenn er dem transzendentalen Idealismus vorhält, dass ihm zufolge unsere Erkenntnis platterdings nichts von objektiver Bedeutung enthält. In der zweiten Auflage der Kritik von 1787 hat Kant sein Argument für die Möglichkeit einer psychophysischen Wechselwirkung abgeändert, aber auch da wird vorausgesetzt, dass das Gehirn, insofern es ein raumzeitlich strukturiertes Organ ist, nur eine Vorstellung in uns sein kann. An der Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit ändert sich ja in der zweiten Auflage und auch durch die in ihr befindliche »Widerlegung des Idealismus« (B 274) nichts, sie gilt wie gesagt noch 1793 als erste Angel der gesamten Vernunftkritik.
IV. Der Einwand der Inkonsistenz
Von der vieldiskutierten Schwierigkeit, dass die Annahme einer Affektion durch Dinge an sich die kantische Theorie inkonsistent werden lässt, war noch gar nicht die Rede. Es ging nur um Jacobis Einschätzung der idealistischen Konsequenzen von Kants Lehre von Raum und Zeit. Aber Kant muss einräumen, dass die Entitäten außer Raum und Zeit, die Dinge an sich, ebenfalls kausalen Einfluss haben auf die Bildung von Erscheinungen. Sie stellen eine »intelligibele Ursache der Erscheinungen« (A 494 / B 522) dar. Auch die einschlägige kausale Struktur – Kant spricht von einem Affizieren – erhält also zwei Formen. Neben die empirische Affektion, einen Vorgang in Raum und Zeit, muss eine transzendentale Affektion treten, ein kausaler Vorgang außer Raum und Zeit. Beide Vorgänge müssen nicht nur denkbar sein, sondern auch als wirklich vorliegend angenommen werden. Die Annahme einer intelligiblen oder noumenalen Verursachung aber lasse die Theorie inkonsis tent werden, so der Einwand.
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Die empirische Affektion als solche sollte nun für den transzendentalen Idealismus kein Problem darstellen, wenn man ihm zubilligt, gezeigt zu haben, wie Kausalbeziehungen erkannt werden können. Kant hat ja beansprucht, den Kausalskeptizismus von Hume widerlegt zu haben. Die empirische Affektion kann als ein normales Kausalverhältnis betrachtet werden. Schon in den ersten Sätzen der »transzendentalen Elementarlehre« schreibt Kant, dass eine Anschauung nur möglich ist, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; das aber sei wenigstens für uns Menschen »nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affizier[t]« (A 19 / B 33). Mir scheint, dass die einfachste Interpretation dieser Sätze ist, dass sie etwas so Triviales und Selbstverständliches besagen, wie dass wir z. B. einen Baum oder den Mond nur deswegen sehen können, weil das von diesen Gegenständen reflektierte Sonnenlicht in unser Auge kommt und dort gewisse Wirkungen auf das Sinnesorgan ausübt. Es wäre nun in der Tat seltsam, wenn die kantische Theo rie gezwungen wäre, derart offenkundige Wahrheiten zu bezweifeln oder gar zu bestreiten. Davon kann jedoch keine Rede sein. Es mag sein, dass die Aussage, dass wir Gegenstände nur deswegen sehen können, weil Licht von ihnen in unsere Augen kommt, aus Sicht der vollendeten Theorie noch zu ergänzen ist, aber es kann nicht sein, dass sie sich am Ende als falsch herausstellt. Kant muss so wenig bestreiten, dass wir den Mond nur deswegen sehen, weil er Licht reflektiert, wie er bestreiten muss, dass er rund 400.000 km von der Erde entfernt ist. Es sind Gegenstände im Raum außer uns, die das Licht reflektieren, und auch die Lichtstrahlen breiten sich in Raum und Zeit aus. Ein Wahrnehmungspsychologe kann diese empirische Affektion an Versuchspersonen und sogar an Tieren untersuchen und dabei z. B. feststellen, dass Bienen auch ultraviolette Strahlung rezipieren und Fledermäuse mit selbsterzeugten Lauten in völliger Dunkelheit ihre Gegenstände erkennen. Es handelt sich um einen Sachverhalt, der aus der Perspektive der dritten Person erforscht werden kann. Die Untersuchung derartiger Kausalprozesse stellt nicht vor andere Probleme als die, wie Sonnenstrahlen einen Sonnenbrand hervorrufen oder auch einen Stein erwärmen. Sofern der transzendentale Idealismus überhaupt imstande ist, die Annahme von Kausalverhältnissen zu rechtfertigen, kann die in Raum und Zeit sich vollziehende empirische Affektion kein unauflösliches Problem für ihn sein. In Kants Text gibt es auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass mit dem gegebenen Gegenstand einer außerhalb von Raum und Zeit gemeint ist oder die Affektion selbst sich außer Raum und Zeit vollziehen soll. Die Theorie von Raum und Zeit wird erst danach entwickelt, und sie setzt ja selbst voraus, dass es reale Gegenstände in Raum und Zeit gibt, für die die Geltung a priori der euklidischen
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
Geometrie bewiesen werden soll. Diese Voraussetzung genügt aber, um die ersten Sätze angemessen zu verstehen. Diese empirische Affektion spielt sich allerdings vollständig in Raum und Zeit ab, also aus der Perspektive des transzendentalen Idealismus in uns. Alle beteiligten Gegenstände und Prozesse, Körper und Wellen, existieren nur als Vorstellungen. Kant zweifelt nun nicht daran, dass dieses System von Vorstellungen einer Basis in einer transzendenten Realität bedarf. Es muss gestützt sein in etwas, das unabhängig von den erkennenden Subjekten vorhanden ist. Also muss auch eine »intelligible Ursache« angenommen werden, eine Affektion, die sich nicht in Raum und Zeit vollzieht. Wenn dieser gesamte Vorgang außerhalb von Raum und Zeit geschehen soll, muss nicht nur das, was eigentliche Ursache sein soll, den Status eines Noumenon haben, auch z. B. dem phänomenalen sich in Raum und Zeit ausbreitenden Licht müsste ein noumenales Etwas entsprechen. Und da sogar der raumzeitliche Organismus nur Erscheinung sein kann, müssten wir auch noumenale Pendants für Augen, Nerven und Gehirn postulieren, alles Entitäten außer Raum und Zeit. Ist ein solcher noumenaler, sich vollständig außer Raum und Zeit vollziehender Kausalprozess als Basis unserer empirischen Erfahrung konsistent denkbar? Kann man sogar wissen, dass es ihn gibt? Jacobi und ihm folgend Schulze-Aenesidemus haben das bestritten. Zwei Fragen sind hier zu diskutieren: Erstens, ist es überhaupt denkbar, dass etwas, das nicht in Raum und Zeit existiert, kausal wirksam ist? Und zweitens, wenn sich eine solche Annahme als sinnvoll herausstellen sollte, ist es möglich, sie in bestimmten Fällen sogar als zutreffend zu erweisen? Das erste Problem betrifft im Rahmen der kantischen Theorie nicht nur die Affektion durch die Dinge an sich, sondern auch Freiheit, bei der ebenfalls etwas Noumenales kausal wirksam sein soll, und auch die Religionsphilosophie – man kann nicht wissen, aber doch sinnvoll glauben, dass ein transzendenter Gott die Welt geschaffen hat. In allen Fällen wird eine zeitlose Kausalität als möglich unterstellt. In der traditionellen Metaphysik platonischer Provenienz hat eine solche Annahme als sinnvoll gegolten. Schon für Platon sollten die transzendenten Ideen auch kausal wirksam sein. In der Nus-Metaphysik hat sich das fortgesetzt, in der neuplatonisch orientierten metaphysischen Ontologie ohnehin. Heute wird eine solche Möglichkeit jedoch mit guten Argumenten bestritten. Geert Keil z. B. hat in einem interessanten Aufsatz unter dem Titel »Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen?« die Auffassung vertreten, dass eine solche Verursachung unverständlich ist.3 Er befasst sich vor allem mit 3 Geert
Keil: »Kann man nichtzeitliche Verursachung verstehen? Kausalitätstheore-
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Kants Freiheitstheorie und kommt so zu dem Ergebnis, dass sie unhaltbar ist. In Abwandlung von Kants Diktum, dass ohne die Idealität von Raum und Zeit Freiheit nicht zu retten ist, heißt es: »Wenn Freiheit noumenale Kausalität erfordert, ist Freiheit nicht zu retten.«4 Eine noumenale Affektion durch Dinge an sich muss aus den gleichen Gründen unverständlich sein. Kants Äußerungen zu dieser Frage sind nicht ganz einheitlich. Einerseits betont er, dass unsere Kategorien, wenn sie auf noumenale Gegenstände angewandt werden sollen, keinen Sinn haben und völlig leer an Inhalt, ja ein bloßes Spiel sind (vgl. A 239 / B 298). Wir können sie nicht einmal so definieren, dass die Möglichkeit ihrer Objekte verständlich wird, ohne uns zu Bedingungen der Sinnlichkeit herabzulassen (vgl. A 240 / B 300). Bei Kausalität z. B. bliebe nur die Form des hypothetischen Urteils, die aber nichts mit Kausalität zu tun hat. Auf der anderen Seite aber unterscheidet er zwischen Erkennen und Denken (vgl. z. B. B XXVIII) und meint, dass man manches (z. B. Freiheit) zwar nicht erkennen, wohl aber denken könne. Was aber soll ein Denken durch Begriffe ohne Sinn und Inhalt sein? In der Sache scheint mir alles dafür zu sprechen, mit Keil die Vorstellung einer zeitlosen noumenalen Kausalität als sinnlos und unverständlich abzulehnen. Da die affizierenden Dinge an sich außer der Zeit existieren sollen, müssten sie auch unveränderlich sein. Es ist also nicht zu sehen, welchen Einfluss sie auf die veränderliche Erscheinungswelt haben könnten. Solche Dinge an sich können nicht zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Wirkungen hervorbringen. Von diesem Einwand wird auch die Philosophie von Jacobi betroffen. In ihr werden ebenfalls eine »übersinnliche« Wirklichkeit und ein »extramundaner Gott« angenommen. Wird das im Sinn der traditionellen Transzendenz verstanden, zugleich aber versichert, dass Gott die Welt und speziell den Menschen geschaffen hat, muss ebenfalls eine Form noumenaler Kausalität vorausgesetzt werden, sodass wiederum der Verdacht der Sinnlosigkeit entsteht. Swinburne z. B. hat den »timeless-view of God« als inkohärent bezeichnet, weil er mit den für Kausalität gültigen Regeln nicht vereinbar sei.5 Damit ist die zweite Frage eigentlich ebenfalls beantwortet. Sätze, die sinnlose Begriffe enthalten, können nicht als wahr ausgewiesen sein. Aber selbst wenn man die fraglichen Kausalbegriffe als sinnvoll zuließe, könnten die tische Anmerkungen zu Kants Freiheitsantinomie«, in: Mario Brandhorst, Andree Hahmann und Bernd Ludwig (Hg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung, Hamburg 2012, S. 223–257. 4 Ebd., S. 223 u. 252. 5 Richard Swinburne: »God and Time«, in: Eleonore Stump (Hg.): Reasoned Faith. Essays in Philosophical Theology in Honor of Norman Kretzmann, Oxford 1993, S. 204–222; dt. in: Christoph Jäger (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, S. 196–217.
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einschlägigen Sätze nach Kant nicht als objektiv gültig behauptet werden. Dafür wäre eine anschauliche Bezugnahme auf die involvierten Gegenstände erforderlich, die es aber bei Noumena nicht geben kann. Außerdem setzt jede Rechtfertigung einer speziellen Kausalaussage die Gültigkeit des allgemeinen Kausalprinzips voraus, das aber nach Kant nur für den Bereich der Erfahrung gilt, weil es nur als Bedingung der Möglichkeit derselben bewiesen werden kann. Mir scheint also das Resultat unausweichlich zu sein, dass Jacobi und Schulze-Aenesidemus im Recht sind: Eine Theorie der von Kant intendierten Art, in der eine Affektion durch noumenale Dinge an sich angenommen wird, ist nicht konsistent formulierbar. Die beiden Sätze »Nur Kausalverhältnisse zwischen raumzeitlichen Ereignissen sind objektiv feststellbar« und »Es gibt objektiv feststellbare Kausalverhältnisse zwischen Entitäten außer Raum und Zeit« können nicht zugleich wahr sein. Das spezifisch kantische Problem bei den Dingen an sich besteht also darin, dass sie als Noumena gedacht werden müssen. Ohne das sind Konzeptionen, denen zufolge wir die Welt nur so erkennen, wie sie uns erscheint, und nicht so, wie sie an sich ist, durchaus konsistent formulierbar. Von Kutschera z. B. behauptet in seiner Interpretation der Quantenphysik, dass sich aufgrund des Umstandes, dass Beobachtungen notwendig Interventionen sind, keine Natur der physischen Welt an sich angeben lässt: »Wir müssen vielmehr einen schwachen Realismus akzeptieren, der zwar am Bezug unserer Erfahrung auf eine äußere Wirklichkeit festhält, für den sich jedoch die Beziehungen zwischen Erfahrungsinhalten und der Beschaffenheit der Welt an sich nicht feststellen lassen.«6 Diese Auffassung ähnelt offenbar der von Kant. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ist, dass für von Kutschera die »Welt an sich« nicht zu einem »mundus intelligibilis« wird, sodass die spezifisch kantischen Probleme auch nicht entstehen – wie gut begründet auch immer die Konzeption von Kutscheras ist. Etwas Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen Davidsons Wahrheitstheorie und der von Kant. Davidson möchte zeigen, dass es keine interessanten Entitäten in der Welt gibt, die erklären können, warum die wahren Sätze wahr und die falschen falsch sind,7 und er behauptet im Anschluss an Frege, dass, wenn Sätze überhaupt auf etwas referieren, alle wahren auf dasselbe referieren.8 Das erinnert an die Antwort, die Kant auf die Frage gibt, 6 Franz
von Kutschera: Die missverstandene Revolution – Zum Weltbild der modernen Physik, Münster 2017, S. 86. 7 Vgl. Donald Davidson: Truth, Language and History, Oxford 2005, S. 6. Dt.: Wahrheit, Sprache und Geschichte, Frankfurt/M. 2008, S. 29. 8 Vgl. Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, S. 132. Dt.: Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1985, S. 191.
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was man denn verstehe, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand redet: »Es ist leicht zu sehen, dass dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden« (A 104). Auch dieses X soll bei allen Erkenntnissen immer einerlei sein (vgl. A 109). Sowohl Davidson wie Kant begründen ihre Auffassung damit, dass der Gedanke, man könne Vorstellungen mit ihren Gegenständen vergleichen, unsinnig ist. Jacobi dagegen stellt sich vor, Vorstellungen seien Kopien der wirklichen Dinge (vgl. JWA 2,1, 69). Wenn man jedoch nicht Vorstellungen mit wirklichen Dingen vergleichen kann, dann macht es keinen Sinn, jene als Kopien von diesen zu bezeichnen (noch ganz abgesehen von den Problemen bei den sekundären Eigenschaften, die ja nichts abbilden). Die Ähnlichkeit zwischen den Konzeptionen von Davidson und Kant geht allerdings verloren, wenn man annimmt, dass das kantische X, der »transzendentale Gegenstand« (A 109), als Noumenon zu denken ist. In der Konzeption von Davidson wird kein Noumenon benötigt. Die mit einem »transzendentalen Gegenstand« verbundenen Probleme entstehen auch in diesem Fall erst dann, wenn er ein Noumenon sein soll.
V. Vorschlag für eine zeittheoretisch begründete Version von Transzendentalphilosophie, die den Einwänden von Jacobi nicht ausgesetzt ist
Ich möchte zuletzt noch andeuten, wie auf den Vorwurf, die Annahme kausal affizierender noumenaler Dinge an sich sei inkonsistent, reagiert werden kann. Inzwischen hat sich ja herausgestellt, dass die wichtigste Prämisse Kants, die Annahme der Apriori-Gültigkeit der euklidischen Geometrie, aufgegeben werden muss. Kant hat seine Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit entwickelt als das einzige Mittel, das diese Gültigkeit zu verteidigen erlaubt. Aber es wird eben nicht gebraucht. Raum und Zeit gehören zu einer untrennbaren Einheit, der Raumzeit, zusammen, sie können also nicht Formen unterschiedlicher Anschauungen sein. Und diese Raumzeit wird durch die in ihr befindliche Energie bzw. Materie verformt – wo viel beisammen ist, wird sie stark gekrümmt, wo weniger, weniger stark. Die Ontologie der Raumzeit muss als Feldtheorie entwickelt werden. Wer heute in systematischer Absicht kantische Gedanken verteidigen möchte, ist also genötigt, den transzendentalen Idealismus mindestens so weit zu modifizieren, dass er mit diesen Fakten verträglich wird. Wenn das gelingt, wird, so hoffe ich, auch so etwas wie ein möglicher Ausgleich zwischen Kant und Jacobi
Was ist das Problem bei Kants Annahme einer Affektion durch Dinge an sich?
sichtbar werden. Wie ich mir das vorstelle, sei zum Schluss noch kurz angedeutet.9 Die physikalischen Aspekte der Raumzeit – also das, was sich in Koordinatensystemen erfassen lässt – werden realistisch und nicht idealistisch als Anschauungsformen gedeutet. Das entspricht der Auffassung der heutigen Physik, dass die Raumzeit nur zusammen mit der physischen Realität in ihr und also nur empirisch beschreibbar ist. Dieser Bereich wird auch als »Blockuniversum« bezeichnet. Die zum zeitlichen Werden gehörigen Strukturmomente dagegen, die nicht mehr durch Koordinatensysteme und Funktionen von Koordinaten dargestellt werden und die auch nicht rezeptiv in Sinnesdaten gegeben sein können, werden unter den kantischen Begriff einer Anschauungsform des inneren Sinnes subsumiert. So bleibt die kantische Unterscheidung von phänomenaler und transzendenter Realität, von Erscheinungen und Dingen an sich in revidierter Form erhalten. Mit Kant: das denkende Subjekt ist sich selbst nur als Erscheinung gegeben, gegen Kant und mit Jacobi: physische Gegenstände sind transzendent real. Auf diese Weise betreffen die unterschiedlichen Realitätsformen jedoch unterschiedliche Gegenstandsbereiche. Nach Kant gilt die phänomenale Realität für die mentalen Vorgänge in der Zeit und die physischen in Raum und Zeit, die transzendente für Noumena außer Raum und Zeit. In der hier vorgeschlagenen Version gilt die phänomenale Realität ausschließlich für die mentalen Vorgänge, die transzendente für die rein physischen im Blockuniversum; Noumena sind nicht mehr vorgesehen. An die Stelle des Dualismus von mundus sensibilis und mundus intelligibilis tritt dann der von einer tensed ontology und einer tenseless ontology, von einer Ontologie des zeitlichen Werdens und einer Blockuniversums-Ontologie; statt über den »Grund[] der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« (A 235 / B 294) ist über den Grund der Unterscheidung aller Prozesse überhaupt in »tensed processes« und »tenseless processes« zu handeln, die einen die im inneren Sinn gegebenen und damit durch dessen Anschauungsform geformten, die anderen die, die nicht so gegeben und deshalb auch nicht so geformt sind. Die grundlegenden Prozesse der ersten Art sind Tätigkeiten, die nicht ohne das Gegenwärtigwerden von Zukünftigem möglich sind (nach Fichte ist schon das Ich als solches eine in sich zurückgehende Tätigkeit). Die der anderen Art sind Ortsbewegungen von Partikeln und das Sich-Ausbreiten von Wellen. Im Hintergrund stehen die Annahmen, dass einerseits für die von der Physik erforschte Realität der Fluss der Zeit »gefroren« ist, in ihr ein 9 Für
das Folgende vgl. ausführlicher Peter Rohs: Geist und Gegenwart. Entwurf einer analytischen Transzendentalphilosophie, Münster 2016.
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solcher Fluss nicht vorhanden ist,10 andererseits aber der Geist nicht nur der einzige »Zufluchtsort« für ihn ist,11 sondern er auch von ihm lebt und nur in ihm existiert. Searle spricht bei dem Bereich des Mentalen von einer »Ontologie der ersten Person«.12 Die erste Person aber gibt es nur in der und durch die Anschauungsform, sodass diese Ontologie eine »tensed ontology« sein muss. Das physische Blockuniversum wird auf diese Weise also durchaus transzendiert, freilich nur im Sinn dieser Ontologie und eines Prozess-Dualismus. Es bleibt aber bei einer nicht-naturalistischen Theorie. Freiheit wird so auf eine der kantischen Konzeption formal entsprechende Weise möglich. Für ihn ja deswegen, weil Einwirkungen aus der noumenalen Sphäre in die phänomenale denkbar sein sollen. Es sei dann widerspruchsfrei möglich, dass die empirischen Kausalgesetze zwar ausnahmslos für alle auf die raumzeitliche Welt beschränkten Vorgänge gelten, dass jedoch Vorgänge, bei denen eine noumenale Einwirkung stattfindet, nicht mehr vollständig durch sie erklärt werden können und damit auch nicht mehr vollständig durch sie determiniert sind. Nach der revidierten Konzeption wird Freiheit deswegen möglich, weil neben den Einwirkungen des physischen Blocku ni versums auf das Mentale auch eine entgegengesetzte Einwirkung aus der phänomenalen Sphäre in die transzendent reale möglich wird, eine genuine, nicht epiphänomenalistisch entleerte mentale Kausalität. Es werden Prozesse möglich, die mental initiiert und kontrolliert sind und die deswegen nicht vollständig durch die für das Blockuniversum zuständigen Gesetze erklärt werden können. Durch diese kann ja, auch wenn sie innerhalb des Block universums ausnahmslos und universell gelten, die phänomenale Einwirkung nicht erfasst werden. Kant nimmt zwar ebenfalls eine mentale Kausalität z. B. des Willens an, schließt aber aus, dass sie Freiheit ermöglicht, da der Determinismus für die »kantische« phänomenale Realität insgesamt gelten soll. Genuine mentale Kausalität muss als die Basis und der Garant für Freiheit gelten. Sie ist offenbar eine notwendige Bedingung für sie, denn nur mental initiierte und kontrollierte Prozesse können freie Handlungen sein. Freiheit wird dann möglich aufgrund der formalen Andersartigkeit der zugehörigen Gesetze. Die für das Blockuniversum zuständigen Kausalgesetze sind stetige Sukzessionsgesetze, formulierbar als Differentialgleichungen für zeitabhängige Parameter. Derartige Gesetze haben deterministische Konsequenzen. In den Gesetzen für die genuine mentale Kausalität müssen Tätigkeitsverben vorkommen und damit auch Referenzen auf Akteure. Derartige Ausdrücke 10
Brian Greene: Der Stoff, aus dem der Kosmos ist, München 2004, S. 166 ff.
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John R. Searle: Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993, S. 32.
11 Ebd.
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sind nicht »differentialgleichungstauglich«, die zugehörigen Gesetze können keine stetigen Sukzessionsgesetze mehr sein und haben deswegen auch keine deterministischen Konsequenzen. Sie erlauben der Anschauungsform entsprechend nur Ex-post-Erklärungen, die Strukturgleichheit von Erklärung und Prognose geht verloren. Der Geist kann nur als Erscheinung kausal wirksam sein.13 Für die von ihm hervorgebrachten Wirkungen gilt deswegen mit Kierkegaard: »Es ist völlig wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rücklings verstanden werden müsse. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorlings gelebt werden muss.«14 Daran, dass vorlings gelebt wird und dass das etwas völlig anderes ist als z. B. eine bloße Zunahme von Entropie, liegt es, dass Freiheit möglich ist. Wie aber steht es mit dem Problem der synthetischen Urteile a priori? Für Kant war die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung verbunden mit seiner Weise, Phaenomena und Noumena zu unterscheiden, also überhaupt mit idealistischen Prämissen und letztlich seiner Raum-Zeit-Theorie. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass es bei ihnen um Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung geht und dass es deshalb darauf ankommt, dass sie unterstellt werden dürfen, nicht jedoch darauf, dass wir selbst sie der Natur als Gesetze vorschreiben. Kant hat das 1790 in der Kritik der Urteilskraft selbst anerkannt. In der Einleitung zu ihr heißt es, dass wir über das hinaus, was der Verstand der Natur vorschreibt, ein transzendentales Prinzip a priori der »Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnißvermögen« annehmen müssen (AA V, 182). Durch es schreiben wir weder der Natur ein Gesetz vor, noch lernen wir eines von ihr durch Beobachtung, »man will nur, daß man, die Natur mag ihren allgemeinen Gesetzen nach eingerichtet sein, wie sie wolle, durchaus nach jenem Princip und den sich darauf gründenden Maximen ihren empirischen Gesetzen nachspüren müsse, weil wir, nur so weit als jenes Statt findet, mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung fortkommen und Erkenntniß erwerben können« (ebd., 186). Es ist nun also auch für Kant klar, dass es Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung geben muss, die wir nicht der Natur vorschreiben, aber auch nicht empirisch durch Erfahrung lernen können. Wenn man aber ohnehin solche Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zulassen muss, dann kann man nicht mit guten Gründen ausschließen, dass sie alle von dieser Art sind. 13
Vgl. Peter Rohs: »Warum der Geist nur als Erscheinung wirksam sein kann«, in: Oliver Koch und Johannes-Georg Schülein (Hg.): Subjekt und Person. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der klassischen deutschen Philosophie, Hamburg 2019, S. 61–75. 14 Sören Kierkegaard: Die Tagebücher, Erster Band, Simmerath 2003, S. 318.
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Sätze, in deren Rechtfertigung die Prämisse eingeht, dass sie Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind, können nicht im strengen Sinn a priori gelten, weil die Prämisse, dass Erfahrung möglich ist, nicht so gilt. Kant selbst bezeichnet mögliche Erfahrung als etwas »ganz Zufälliges« (A 737 / B 765), als etwas also, was nicht a priori gewiss sein kann. Was davon abhängig ist, kann dann ebenfalls nur bedingter Weise »a priori gewiss« sein (ebd.). Es kann freilich auch nicht empirisch »durch Beobachtung der Natur«, also durch Verallgemeinerung von Beobachtungen »gelernt« werden. Es handelt sich um Sätze, die nach Gesichtspunkten der Kohärenz gerechtfertigt werden müssen, weil sie als notwendige Elemente in das System der Erfahrung zu integrieren sind. Daraus ergibt sich, dass sie unter Umständen mit diesem System weiterzuentwickeln sind. Die von Kant formulierten Grundsätze sind ja, beim Wortlaut genommen, ebenfalls mindestens teilweise durch die moderne Physik widerlegt worden. Die physikalische Bedeutung von Symmetrieprinzipien dagegen ist von Kant gar nicht gesehen worden, weil das System der Erfahrung noch nicht so weit war, dass das gesehen werden konnte. Erhaltungssätze z. B. werden heute auf der Grundlage eines Theorems von Emmy Noether gerechtfertigt. Smolin bezeichnet diese Verbindung von Symmetrien und Erhaltungssätzen als »eine der Säulen der Physik«.15 Die Rechtfertigung von synthetischen Urteilen a priori in diesem kohärenztheoretischen Sinn ist nicht mehr an die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit gebunden. Höffe nennt als den »Kerngedanken« der kantischen »epistemischen Revolution« die Formel »Objektivität durch Subjektivität«.16 Das gilt aber nur für das, was Resultat einer Synthesis sein kann, also nicht für Raumzeitgebiete, deren objektive Wirklichkeit nicht auf eine Synthesis zurückgehen kann. Kants Synthesis-Theorie kann als eine Theorie der Intersubjektivität verstanden werden. Begriffe, Sachverhalte und Tatsachen kommen nicht an Raumzeitstellen vor und haben auch kein raumzeitliches Volumen, sind aber intersubjektiv zugänglich. Sie sollten also im Sinne Kants als Produkte synthetischer Leistungen denkender Subjekte interpretiert werden. Für sie bleibt darum Kants epistemische Revolution in Geltung. Allerdings dürften im Einzelnen einige Anpassungen an neuere Entwicklungen in Logik und Semantik erforderlich werden. Auf diese Weise kommt ein Ausgleich zwischen Kant und Jacobi in Sicht: Jacobi behält darin recht, dass sich unsere Erkenntnisse, zumindest soweit sie physische Gegenstände betreffen, auf eine von uns unabhängige Realität 15
Lee Smolin: Im Universum der Zeit, München 2014, S. 176. Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2004, S. 42 ff. 16
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beziehen, die schon selbst in einer einheitlichen Raumzeit gegründet ist, Kant darin, dass das Mentale den Status einer Erscheinung hat, dass das, was wahr oder falsch ist, ein intersubjektives Produkt von dessen Synthesisleistungen ist, und schließlich auch darin, dass unser Wissen Voraussetzungen hat, die wir nicht von der Natur durch Beobachtung lernen können. Gegen beide aber ergibt sich, dass es bei diesem Umbau keinen Platz mehr gibt für eine übersinnliche Wirklichkeit und dass deshalb die Religionsphilosophie gut beraten ist, ohne dieses neuplatonische Erbstück auszukommen.17 Gott ist, wenn es ihn gibt, Geist, also zwar im Besitz unbeschränkter genuiner mentaler Kausalität, aber kein übersinnlicher Akteur. Er existiert nicht in einem mundus intelligibilis, sondern in der Welt der tensed ontology.
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Vgl. Peter Rohs: »Ein Plädoyer für eine Theologie ohne Übersinnliches«, in: Benedikt Paul Göcke und Christian Pelz (Hg.): Die Wissenschaftlichkeit der Theologie (= Theologie und Metaphysik 3), Münster 2019, S. 141–162.
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Möglich, wirklich oder notwendig? Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
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acobis Bedeutung für Hegels Denken im Allgemeinen und seine Logik im Besonderen wird auch in der neueren Hegel-Forschung immer noch unterschätzt.1 Nach Robert Pippin etwa ist Hegels Kategorienlehre ganz Kant und seinem Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption als Bedingung der Möglichkeit selbstbewusster Gegenstandserkenntnis verpflichtet.2 Bei aller Kritik stimmt Terry Pinkard mit Pippin darin überein, dass Hegels Denken als Ausführung von Kants Programm einer transzendentalen Kategoriendeduktion verstanden werden muss.3 Eine Sonderstellung in der Entwicklung von Kant zu Hegel nimmt in diesem Narrativ nur Fichte ein: Nach Houlgate etwa ist es Fichtes ursprüngliche Einsicht, dass die Kategorien aus der Tätigkeit des Intellekts entwickelt werden müssen, anstatt wie bei Kant aus den gegebenen Urteilsformen.4 Jacobis Bedeutung für Hegels »völlig verändert[e] Ansicht des Logischen« (GW 15, 25),5 deren Notwendigkeit Jacobi nach Hegel mit Kant zusammen begründet habe, spielt dagegen bei den genannten Autoren kaum eine Rolle. Hierfür gibt es mindestens zwei Gründe: 1
Erst durch Birgit Sandkaulens Freilegung des handlungsphilosophischen Fundaments von Jacobis Glaubensbegriff und ihre endgültige Widerlegung religiös-christlicher oder naiv-realistischer Fehldeutungen lässt sich die Relevanz Jacobis für Hegel angemessen beurteilen und Jacobi als systematische Alternative zu Hegel ins Spiel bringen (Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000). Für die Bedeutung von Jacobis »Spinoza und Antispinoza« hat dies neuerlich geleistet: Daniel Althof: System und Systemkritik: Hegels Metaphysik absoluter Negativität und Jacobis Sprung (= Hegel-Jahrbuch Sonderband 11), Berlin und Boston 2017. 2 Robert B. Pippin: Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness, Cambridge 1989, S. 6; Terry Pinkard: »How Kantian was Hegel?«, in: Review of Metaphysics 43,4 (1990), S. 831–838: S. 831 f.; Terry Pinkard: »The Logic of Hegel’s ›Logic‹«, in: Journal of the History of Philosophy 17,4 (1979), S. 417–435: S. 418; vgl. ebenso: Stephen Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic. From Being to Infinity, West Lafayette 2006, S. 12 ff. Allerdings ersetze Hegel Kants abstraktes transzendentales Ich durch ein sich entwickelndes historisches, sozial situiertes Ich (Pinkard: How Kantian was Hegel?, S. 832). 3 Pinkard: How Kantian was Hegel?, S. 837. 4 Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, S. 23. 5 Vgl. hierzu bereits: Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 18.
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Zum einen war das Bild Jacobis gerade in der angelsächsischen Literatur lange von Frederick Beisers Fate of Reason (1987) geprägt. Beiser setzte darin zwar zu Recht die Bedeutung von Jacobis Spinozabriefen für die klassische deutsche Philosophie mit der von Kants Kritik der reinen Vernunft gleich.6 Gleichzeitig reduzierte er Jacobi jedoch auf die Rolle eines »überzeugten Irrationalisten«, der der aufgeklärten Vernunft nur seinen irrationalen religiösen Glauben entgegensetze.7 Im Anschluss an Beiser bezeichnet dann auch Pippin Jacobi als »undurchsichtige« Gestalt, deren Kritik an der Transzendentalphilosophie in gegen-aufklärerischen und religiösen Motiven begründet sei.8 Vor allem der Jenaer Hegel selbst hat durch seine Jacobi-Kritik in Glauben und Wissen jedoch wesentlich dazu beigetragen, Jacobis Bedeutung für seine »veränderte Ansicht des Logischen« zu verschleiern.9 Als relevante Vorläufer macht er für seine Logik in der Differenzschrift (DS) nur Kant und Fichte geltend (vgl. GW 4, 5). Demgegenüber verdient nach Glauben und Wissen (GuW) Jacobis Kategoriendeduktion in David Hume »so wenig den Namen einer Deduction, daß sie nicht einmal eine gemeine Analyse des Vorausgesetzten, nemlich des Begriffs der Gemeinschaft einzelner Dinge, genannt werden kann« (GW 4, 349). Dagegen sollen die folgenden Überlegungen die systematische Bedeutung von Jacobis Kritik an Kants Begründung der Möglichkeit synthetischer 6
Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge MA und London 1987, S. 44. Auch Gawoll sieht Jacobis Bedeutung für das spekulative nachkantische Denken wesentlich in seiner Darstellung und Kritik Spinozas begründet (Hans-Jürgen Gawoll: »Von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung der Substanz«, in: Hegel-Studien 33 (1998), S. 133–151: S. 133). 7 Beiser: The Fate of Reason, S. 47; 58. 8 Robert B. Pippin: »Avoiding German Idealism: Kant and the Reflective Judgment Problem«, in: Proceedings of the Eighth International Kant Kongress, Memphis 1995, Milwaukee 1995, S. 977–997: S. 978. Ebenso: George di Giovanni: »Hegel, Jacobi and ›CryptoCatholicism‹ or Hegel in Dialogue with the Enlightenment«, in: Ardis B. Collins (Hg.): Hegel on the Modern World, Albany 1995, S. 60 f.; Kenneth P. Westphal: Grounds of Pragmatic Realism. Hegel’s Internal Critique & Transformation of Kant’s Critical Philosophy, Leiden 2018, S. 302. Auch Horstmann sieht in Jacobi einen »Vertreter der anti-aufklärerischen Kritik an Kant« (Rolf Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 32004, S. 31). Dabei macht Horstmann jedoch deutlich, dass sich ein angemessenes Verständnis der klassischen deutschen Philosophie nur vor dem Hintergrund von Jacobis Kant-Kritik entwickeln lässt (ebd., S. xviii). Jacobis eigenständige Position habe dagegen für die Nachfolger Kants keine große Überzeugungskraft besessen (ebd., S. 42). 9 Horstmann weist zu Recht darauf hin, dass Hegel in seinen Schriften nur seine »Abhängigkeit« von Kant, aber nicht von anderen Zeitgenossen angemessen klärt und würdigt (Horstmann: Die Grenzen der Vernunft, S. 60).
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
Urteile a priori für Hegels »veränderte Ansicht des Logischen« zeigen. Hegel selbst stellt in seiner Jacobi-Rezension fest, Jacobi setze sich in seiner Schrift vom Unternehmen des Kriticismus mit Kants Begründung synthetischer Urteile a priori »auf die wahrhafte Weise, nämlich dialektisch« (GW 15, 15) auseinander.10 Hegels Verhältnis zu Kants transzendentaler Einheit der Apperzeption wird, wie ich zu zeigen versuche, erst durch den Rekurs auf diese Schrift Jacobis verständlich. Ihr entnimmt Hegel bereits in GuW seine Begründung für das Scheitern Kants, die Kategorien aus der reinen Identität der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu deduzieren.11 Auch Hegels logischer Ausgangspunkt vom reinen Sein, das zugleich Nichts ist, verdankt sich nicht zuletzt Jacobi.12 Ist diese Rezeption erst einmal geklärt, lässt sich Jacobi dann auch als relevante philosophische Alternative zu Hegel ins Spiel bringen. Denn Hegel übernimmt zwar von Jacobi wesentliche Elemente seines KantVerständnisses, glaubt aber dessen Defizite auf grundsätzlich andere Weise beheben zu können als Jacobi. Während Jacobi sich mit seinem Salto mortale in die wirkliche Erfahrung einer ursprünglichen, im Handlungsbewusstsein immer schon verwirklichten Synthesis rettet, überwindet Hegel Kant durch die Figur der selbstbezüglichen Negation und begründet die Notwendigkeit einer reinen Synthesis a priori. Um dies zu zeigen, werde ich in drei Schritten vorgehen: In einem ersten Schritt analysiere ich das nach Hegel Spekulative oder Idealistische in der Philosophie Kants (I). Anschließend rekonstruiere ich Hegels Kritik, nach der 10
Birgit Sandkaulen spricht entsprechend von einer »immanenten Kritik« Jacobis an Kant (Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 51). Hegels veränderte Beurteilung Jacobis hat sicher auch mit dem veränderten Status des Endlichen zu tun: Sind am Beginn von Hegels Jenaer Zeit die Logik-Konzeptionen (1801–1802/03) mit einer dialektischen Vernichtung des Endlichen bzw. des endlichen Denkens befasst, um zur positiven Erkenntnis des Absoluten zu gelangen, so ändert sich dies in den folgenden Jahren fundamental (Brady Bowman: »Zum Verhältnis von Hegels Wissenschaft der Logik zur Phänomenologie des Geistes in der Gestalt von 1807. Ein Überblick«, in: Michael Quante et al. (Hg.): Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik (= Hegel-Studien Beiheft 67), Hamburg 2018, S. 1–42: S. 8; Althof: System und Systemkritik, S. 52 f.). Jonkers hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es wiederum Jacobi war, der Hegel die Beschränktheit seiner von Schelling beeinflussten Jenaer Philosophie vor Augen geführt hat (Peter Jonkers: »F.H. Jacobi, ein ›Galimathias‹ der spekulativen Vernunft? Einige Bemerkungen zu Hegels Jacobi-Deutung in seinen Jenaer Schriften«, in: Dietmar H. Heidemann und Christian Krijnen (Hg.): Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 2007, S. 203–217: S. 205). 11 Nach Jonkers hingegen ignoriert Hegel in GuW Jacobis Kritik an Kant vollständig (Jonkers: F.H. Jacobi, S. 207). 12 Umgekehrt hat sich Jacobi mit Hegel anders als mit Kant, Fichte und Schelling abgesehen von GuW kaum auseinandergesetzt. Vgl. hierzu bereits Valerio Verra: »Jacobis Kritik am deutschen Idealismus«, in: Hegel-Studien 5 (1969), S. 201–223: S. 204 f.
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Kant dieses Vernünftige nur verständig aufgefasst hat (II). Zuletzt betrachte ich Hegels Versuch der Überwindung dieses Kantischen Defizits (III). Dabei setze ich die Position von Hegels Glauben und Wissen einerseits sowie seiner späteren Philosophie andererseits jeweils in ein Verhältnis zu Jacobis Unternehmen.
I. Das Spekulative oder Idealistische in Kant
Für Hegel in GuW sind synthetische Urteile a priori in der Tat möglich. Dabei müsse man jedoch ein Missverständnis abwehren, das, wie wir gleich sehen werden, nach Hegel Jacobis Kant-Kritik zu Grunde liegt: Der Terminus »synthetische Einheit« setzt nach Hegel keine Antithesen und keine durch solche Antithesen begründete Mannigfaltigkeit voraus. Die ursprüngliche Synthesis bedarf keiner von ihr unabhängigen Mannigfaltigkeit. Sie ist nicht später als die Antithesis, sondern geht ihr voraus. Kants synthetische Einheit ist für Hegel nicht das Produkt Entgegengesetzter, sondern ihre notwendige und absolute Identität (vgl. GW 4, 327). Im synthetischen Urteil sind entsprechend Subjekt und Prädikat, Besonderes und Allgemeines als absolut identisch gesetzt (vgl. ebd.). Damit drückt das synthetische Urteil die absolute Vernunft aus, die die Identität dieser Ungleichartigen ist. Diese Identität bringt Kant nach Hegel in seiner Formulierung »Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer« zum Ausdruck. Diese Formulierung meint, so Hegel, dass die einander entgegengesetzten Bestimmungen Begriff und Anschauung isoliert voneinander nichts sind, sondern in ihrer Identität begriffen werden müssen (vgl. ebd., 326). Der Terminus »synthetisch« drückt nur die absolute Einheit der Entgegengesetzten aus (ebd., 328). Diese Einheit ist die ursprüngliche Identität des Selbstbewusstseins, die »apriorisch absolut aus sich das Urtheil« setze (ebd.). Im Bewusstsein erscheint die ursprüngliche Identität des Selbstbewusstseins als Urteil. Die Trennung des leeren Ich und der Mannigfaltigkeit sind erst Resultat dieser Trennung. Synthetische Urteile a priori sind also möglich, insofern die absolute Identität von Entgegengesetzten oder Ungleichartigen in der Form des Urteils als Trennung von Subjekt und Prädikat erscheint (vgl. ebd.). Die Kopula, also das ist, das Subjekt und Prädikat verbindet, drückt im Urteil die Identität beider aus, wenn auch nicht als vernünftig erkannte, sondern nur als verständig aufgefasste Identität (vgl. ebd., 329). Die Kopula ist die von der Differenz abgesonderte, allgemeine Identität. Damit unterscheidet sie sich von der Differenz,
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
in die sie im Anschauen noch versenkt ist, ist aber noch nicht die Einheit mit dem Besonderen wie im Vernunftschluss. Für den späteren Hegel ist hingegen die Frage Kants nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori schief gestellt. Kant hätte anstatt nach der Möglichkeit synthetischer Urteile nach ihrer Notwendigkeit fragen sollen (vgl. GW 15, 15). Inwieweit Hegels spätere Deduktion der Notwendigkeit von Jacobi abhängt, darauf wird zurückzukommen sein. Vergleichen wir aber zunächst Hegels Verständnis von Kants synthetischen Urteilen a priori in GuW mit ihrem Verständnis bei Jacobi, so zeigt sich, dass ersteres ein Gegenentwurf zu letzterem ist. Für Jacobi müsste Kant nämlich zur Erklärung einer reinen Synthesis a priori zunächst die Möglichkeit einer reinen Antithesis a priori erklären. Denn die reine Synthesis ist auf ein gleichartiges Mannigfaltiges angewiesen, das synthetisiert werden kann. Kant müsste hierzu die Möglichkeit einer reinen Mannigfaltigkeit, das heißt einer reinen Bestimmung von Raum und Zeit unter Abstraktion von allem empirischen Gehalt deduzieren. Gerade das kann Kant, wie wir im Folgenden sehen werden, nach Jacobi jedoch nicht leisten. Eine ursprüngliche Synthesis würde ein ursprüngliches Bestimmen voraussetzen, eine Selbstbestimmung und Selbstdifferenzierung des Verstandes, der Einbildungskraft bzw. der Sinnlichkeit, und dies wäre »ein Erschaffen aus Nichts« ( JWA 2,1, 271), dessen Möglichkeit nicht deduziert werden kann. Weil Kant jedoch die Mannigfaltigkeit als unproblematisch gegeben voraussetzt, überspringt er dieses Problem. Aus unseren bisherigen Feststellungen scheint sich nicht allzu viel für ein positives Anknüpfen Hegels an Jacobi zu finden: Jacobi ignoriert ja nach GuW Kants Konzeption der synthetischen Einheit a priori als ursprüngliche Identität Entgegengesetzter. Jedoch zeigt Hegels Verständnis von Kants Einbildungskraft und die zentrale Stellung, die er ihr in GuW zuweist, die immense Abhängigkeit seines Verständnisses synthetischer Urteile a priori von Jacobis Unternehmen. Zwei Indizien machen diese Abhängigkeit schon einmal plausibel: Zum einen spielt die Einbildungskraft in Hegels vor dem Unternehmen verfasster DS keine besondere Rolle. Zum anderen verweist Hegels Charakterisierung der Einbildungskraft in GuW auf die erste Auflage der KrV. Diese kannten aber weder Hegel noch Schelling, wohl aber Jacobi, der sie seiner Kritik im Unternehmen auch zu Grunde legt.13 Sehen wir aber auf die Inhalte:
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Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt/M. 22012, S. 25.
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In GuW bezeichnet Hegel Kants produktive Einbildungskraft als »wahrhaft speculative Idee« (GW 4, 328).14 Als spontane, synthetische Tätigkeit ist sie zwar zunächst nur das Prinzip der Sinnlichkeit (vgl. ebd., 327). Ihr Prinzip ist jedoch die absolute Identität Entgegengesetzter, nämlich die Identität von Anschauung und Denken, Besonderem und Allgemeinem. Insofern ist die Einbildungskraft die spekulative Idee der Einheit Entgegengesetzter. In der Einbildungskraft ist diese synthetische Einheit jedoch noch in die Anschauung und Mannigfaltigkeit »versenkt« (ebd.). Hegel identifiziert die synthetische Einheit der Apperzeption mit der Einbildungskraft als der Vernunft selbst, so wie sie dem empirischen Bewusstsein erscheint. Diese ist die ursprüngliche Einheit von Subjektivität und Objektivität, aus der das subjektive Ich und die objektive Welt erst als Getrennte hervorgehen. Die produktive Einbildungskraft ist so nicht ein Vermögen neben Verstand und Vernunft, sondern ist eine Erscheinungsweise des An sich der Vernunft. In ihr erscheint die Identität des Empirischen und des Verstandes. Als erfahrende Einbildungskraft erscheint sie dann als Verstand mit den Kategorien als ihren besonderen Formen (vgl. ebd., 329). Das Verständnis der Einbildungskraft ist für Hegel deshalb auch die notwendige Voraussetzung für das Verständnis von Kants transzendentaler Deduktion der Formen der Anschauung und der Kategorien. Die Einbildungskraft ist die Wurzel des Verstandes: Die Kategorien des Verstandes »sind die fixierten Begriffe der bestimmenden, formalen Aktualität der produktiven Einbildungskraft«.15 Kants Einbildungskraft ist für Hegel aber vor allem auch deshalb relevant, weil sie an sich das ist, was nach Kants KU zwar gedacht werden muss, für den Menschen mit seinem diskursiven Verstand aber nicht wirklich werden kann: der intuitive Verstand. Dieser anschauende Verstand erfasst im Begriff die Anschauung, im Allgemeinen das Besondere, und für ihn wären deshalb »Möglichkeit und Wirklichkeit Eins« (GW 4, 340).16 Diesen intuitiven Ver14
Nach Ameriks handelt es sich hierbei um eine Hypostasierung der produktiven Einbildungskraft Kants durch Hegel (Karl Ameriks: »Hegel’s Critique of Kant’s Theoretical Philosophy«, in: Philosophy and Phenomenological Research 46 (1985/86), S. 1–35: S. 7 f.). 15 Rainer Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen (= Hegel-Studien Beiheft 45), Hamburg 2001, S. 12. 16 Hier bezieht sich Hegel im Besonderen auf die erste Auflage der KrV, die ihm durch die Vermittlung Jacobis bekannt war. Denn in dieser hat die transzendentale Einbildungskraft die Funktion, die reinen Bestimmungen der Zeit mit denen des Verstandes im Schema zu einer Einheit zu verbinden (Kristina Engelhard: »Hegel über Kant. Die Einwände gegen den transzendentalen Idealismus«, in: Heidemann und Krijnen (Hg.): Hegel und die Geschichte der Philosophie, S. 150–170: S. 158). Engelhard sieht hierin eine »radikal[e] Umdeutung der Einbildungskraft« (ebd.).
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stand setzt Kant nach Hegel mit der produktiven Einbildungskraft: In ihr ist die Kategorie in die Anschauung »versenkt«. Sie wird erst Verstand durch die Absonderung der Kategorien, also durch einen Abstraktionsprozess. In der Depotenzierung zum Verstand geht die Einheit von Verstand und Anschauung, wie sie in der Einbildungskraft vorliegt, in die Trennung von Form und Inhalt über. An dieser Interpretation der Einbildungskraft hält Hegel auch später, etwa in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, weiter fest. Diese Interpretation der Einbildungskraft als der Grundkraft der Lehre Kants, die später auch Heidegger übernimmt, ist nun die ursprüngliche Einsicht Jacobis.17 Schwebt die Einbildungskraft bei Fichte zwischen Rezeptivität und Spontaneität und vermittelt zwischen beiden,18 so ist Kants Einbildungskraft in Jacobis Unternehmen »die eine Grundkraft des Gemüths, und alle übrigen angeblich verschiedenen Kräfte desselben nur Modificationen von ihr« ( JWA 2,1, 266). Kants transzendentale Einbildungskraft ist die »Grundeigenschaft des Gemüths«, »das ursprüngliche Vermögen sowohl absoluter Antithesis als Synthesis, und dadurch die Schöpferin sowohl der quantitativen Einheit, die das Instrument der Synthesis ist, als der Wiederholung dieser Einheit, welche die Vielheit erzeugt« (ebd., 279 Fn. 2). Aus ihr muss Kant deshalb unser gesamtes Erkenntnisvermögen »als ein Object-Subject« (ebd., 266) konstruieren. Dazu muss das Objekt der Erkenntnis aus dem Subjekt als subjektives Subjekt-Objekt deduziert werden. Gleichzeitig muss das Subjekt selbst mit seinen Bestimmungen konstruiert werden, wobei das Subjekt und das Objekt »als sich gegenseitig voraussetzend und zugleich identisch« nachgewiesen werden (ebd., 267). Wie später für Hegel sind das Subjekt und das Objekt in Kants Einbildungskraft also auch bei Jacobi identisch und gehen erst aus ihr als Getrennte hervor. In der transzendentalen Einbildungskraft bedingen sich reproduzierende und produzierende Funktion wechselseitig. Die produktive Einbildungskraft produziert das Objektive (Gegenstände), die reproduzierende das Subjektive (Vorstellungen von diesen Gegenständen). 17
Heidegger sieht in Hegels (und damit eigentlich Jacobis) Umdeutung der produktiven Einbildungskraft ein ursprünglicheres Verständnis als bei Fichte. Ganz im Sinne Jacobis sieht Heidegger zudem in der ersten Auflage der KrV Kants grundlegendere Einsicht von der Einheit von Rezeptivität und Spontaneität offener ausgesprochen als in der zweiten Auflage (Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen, S. 15). 18 Zu Fichtes Konzept der Einbildungskraft vgl. Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, S. 198 f. Zwar sind die Kategorien, anders als bei Kant, bereits bei Fichte in der Einbildungskraft begründet. Allerdings erfährt diese Umdeutung bei Hegel noch einmal eine Transformation: Die Kategorien werden zu formalen Abstraktionen der synthetischen Einheit der produktiven Einbildungskraft. Die Einbildungskraft wird zudem die »Quelle von Rezeptivität und Spontaneität« und schwebt nicht bloß zwischen beiden Polen (Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen, S. 14).
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Darüber hinaus übernimmt Hegel auch Jacobis Einsicht, dass die Einbildungskraft der Ursprung der Kategorien und der Formen der Anschauungen ist. Die ursprüngliche Bestimmung des Nichts der Anschauungsformen und des Bewusstseins wird bei Kant, so Jacobi, durch die Einbildungskraft erzeugt: Denn Kants Einbildungskraft ist das »Vermögen der Anschauungen [im Plural!] a priori« (ebd., 278). Dies bedeutet für Jacobi, dass Raum und Zeit unter Abstraktion vom Konkreten und Realen allein durch »a priori entworfn[e] Gesetze« (ebd., 270) der Einbildungskraft bestimmbar sein müssen. Die Einbildungskraft muss hierzu die unendliche, kontinuierliche Einerleiheit von Raum und Zeit zu Quantitäten bestimmen und dadurch die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung und des Bewusstseins hervorbringen (vgl. ebd., 286). Es ist also erst die transzendentale Einbildungskraft, die im reinen Raum Raumeinheiten hervorbringt und die reine Zeit, die als leere, nicht sukzessive Zeit eigentlich ein nunc stans ist, in die sukzessive Zeit transformiert (vgl. ebd., 301). Die Zeit, insofern sie Anfang, Mitte und Ende hat, wird bei Kant erst durch die produktive Einbildungskraft hervorgebracht (vgl. ebd., 306). Andererseits ermöglicht die Einbildungskraft auch erst den Verstand mit seinen Kategorien. Diese sind eigentlich nur Gesetze des Einbildens (vgl. ebd., 266). Die Einbildungskraft bestimmt und verknüpft das Nichts der Anschauungsformen zunächst zu den Schematismen. Insofern ist die Einbildungskraft die transzendentale Urteilskraft. Der Verstand ist dann nichts weiter als die Weiterverknüpfung dieser Verknüpfungen der Einbildungskraft zu Begriffen als Begriffen. Der Verstand ist so bereits für Jacobi, wie später für Hegel, die (de)potenzierte Einbildungskraft, die, entäußert von der Anschauung, keine Synthesis der Anschauung mehr ist, sondern »blos intellectuelle Synthesis« (ebd., 296). Die Vernunft wiederum ist nur eine weitere »Erweiterung des Verstandes auf dem bloßen blanken Boden der Einbildungskraft« (ebd., 281). Die ganze Erkenntnis- und Erfahrungskonzeption Kants ruht also nach Jacobi auf der Einbildungskraft. Während Bewusstsein, Raum und Zeit nur bestimmbar sind, ist die Einbildungskraft die »eine reine Actuosität im reinen Bewußtseyn« (ebd., 282). Ohne Verstand bzw. noch nicht zum Verstand fortgebildet ist sie ein »blindes Treiben«, »eine Urgeschäftigkeit aus und zu Nichts« (ebd., 280), die als »absolute[r] Grund« selbst auf Nichts ruht und sich a priori aus sich selbst als »das Producirende des Producirens« produziert (ebd., 290).
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
II. Die Kritik an Kant: Die Vernunft wird zu Verstande gebracht
Bisher haben wir gesehen, dass Hegels Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft Kants als »wahrhaft spekulative Idee« sich bis in feinste Verästelungen hinein offensichtlich seiner Lektüre von Jacobis Unternehmen verdankt. Dies wird noch deutlicher, wenn wir uns nun der Kritik Hegels zuwenden, Kant habe das Vernünftige nur verständig aufgefasst.19 Denn dies entspricht Jacobis Diagnose, Kant habe die Vernunft »zu Verstande gebracht« ( JWA 2,1, 273), indem er sie über ihre dialektischen Forderungen verständigt hat. Die Vernunft und ihre Ideen werden, so Jacobi, von Kant zunächst den theoretischen Bedürfnissen des Verstandes unterworfen. Der Verstand instrumentalisiert die Vernunft für die Naturerkenntnis. Die Vernunft wird gelehrt, verständig zu sein, das heißt ihre Ansprüche auf den empirischen Verstandesgebrauch einzuschränken. Demgegenüber ist es für Jacobi allein die Affirmation der unbedingten Realität menschlicher Freiheit, die die Vernunft zur Vernunft macht (vgl. ebd., 274). Bei Kant hingegen kann die Vernunft nichts an sich selbst erkennen, sondern auf dem »vernünftigen Verstandesweg« (ebd., 275 Fn. 2) nur einsehen, dass sie von ihren Ideen des Unbedingten nichts erkennt. Der Weg der praktischen Vernunft ist dann dagegen der »unverständige[] Vernunftweg« (ebd.), auf dem die Ideen aber auch nicht in ihrer objektiven Wirklichkeit erkannt, sondern nur als Postulate gefordert werden und so ihren rein subjektiven Status beibehalten. In dieser Beurteilung antizipiert Jacobi wiederum Hegels Kritik von Kants abstrakter Entgegensetzung von Vernunft und Glauben, was übrigens ein Hinweis darauf ist, dass Jacobis Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glauben anders beschaffen sein muss als von Hegel behauptet:20 »Die Vernunft, nachdem sie, als kritische, die Augen, mit welchen sie zu sehen nur wähnte, sich selbst herzhaft ausgestochen hat, gebietet nun, […] sich selbst […] in rein praktischer Absicht, zu trotzen, durch einen blinden, d. i. ganz Erkenntnißleeren Glauben.« (Ebd., 278 Fn. 1)
Kants Philosophie zeigt nach Jacobi aber auch, dass mit diesem erkenntnisleeren Glauben an die Ideen der Vernunft auch die Verstandeserkenntnis letzt19 Auch Horstmann hält es für eine zulässige Vermutung, dass Jacobi für die Bestimmung von Verstand und Vernunft durch den Jenaer Hegel bedeutender ist als durch Hegel selbst ausgewiesen (Horstmann: Die Grenzen der Vernunft, S. 132 f.). 20 Hegels Kritik in GuW an Jacobis vermeintlicher Entgegensetzung von Denken und subjektivem Gefühl scheint mir so eher eine Revision seiner eigenen Frankfurter JacobiRezeption zu sein, nach der er die »Aufklärung des Verstands« (GW 1, 94) der »Güte und Reinigkeit des Herzens« (ebd., 97) sowie die subjektive, individuelle Religion des Herzens der objektiven Religion entgegensetzt und beide für inkommensurabel erklärt.
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lich leer sein muss. Kants verständige Auffassung des Vernünftigen führt nämlich dazu, dass die Momente der konkreten Einheit des Erkennens auf dem Wege des Verstandes via abstractionis in isolierte Elemente transformiert werden (als da sind: Ding an sich, Raum, Zeit und das transzendentale Subjekt), die als Abstraktionsprodukte unbestimmt und inhaltlich leer sind, aus deren Verbindung dann aber die Bestimmung resultieren soll. Dieses Verfahren scheitert nach Jacobi aber notwendig: Das Ding an sich, von dem wir keine Bestimmungen denken können, bleibt »für uns ein offenbares Nichts« (ebd., 268). Auch die Vernunftidee vom Unbedingten ist »eine durch und durch leere Vorstellung« (ebd., 282), die durch Abstraktion von allen Bedingungen gewonnen wird, bis der Vernunft als Gegenstand nur noch ein reines »Nichts« bleibt (ebd., 283). Als passive Einheiten können sich auch der reine Raum und die reine Zeit nicht in sich bestimmen. Die reine Raumanschauung etwa ist nicht »ein Vieles und Mannichfaltiges – nur ohne Einheit«, sondern »ein absolutes Eines – ohne alle Mannichfaltigkeit und Vielheit«, »die Vertilgung und Vernichtung alles Mannichfaltigen und Vielen« (ebd., 307). Der reine Raum ist ein »absolutes Nichtseyn« (ebd.). Raum und Zeit als bloß bestimmbare, unendliche Kontinua bedürften zu ihrer Bestimmung einer sie bestimmenden Einheit (vgl. ebd., 298). Diese müsste jedoch selbst bestimmt sein. Weil die reine Einbildungskraft bzw. das reine Bewusstsein nicht in sich bestimmt sind, können auch sie keine Bestimmung in den reinen Raum und die Zeit setzen. Der Übergang von der unbestimmten Unendlichkeit von Raum und Zeit zur Endlichkeit ist deshalb ausgeschlossen.21 Hierzu müsste das reine Bewusstsein ein Vermögen einer ursprünglichen Antithesis sein. Mit der Nichtigkeit des zu erkennenden Objekts an sich muss so auch Kants Ich »ein leeres Blendwerk von Etwas« (ebd., 61), ein Nichts der Unbestimmtheit werden. Transzendentales Subjekt und Objekt sind Abstraktionen, für sich unbestimmt und leer. Sie sollen sich aber durch ihr Verhältnis zueinander bestimmen, ohne dass es ein Bestimmendes und ein zu Bestimmendes gäbe (vgl. ebd., 277). Die Möglichkeit einer solchen ursprünglichen Bestimmung des Unbestimmten kann Kant jedoch nicht zeigen. »Alles sollt ihr gewonnen haben, wenn ihr nur dieses Sollen könnt; Alles, wenn ihr mir die Möglichkeit irgend einer ursprünglichen Bestimmung, in welcher von eueren drey Regionen des Reinen ihr wollet, zu bedeuten im Stande seyd.« (Ebd., 309) 21
»Der reine Raum ist unendlich, nur ein einziger: woher nähme man nun in ihm die Endlichkeit der Räume, durch welche die Bewegung sich bewegt?« (JWA 2,1, 318)
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
»Der ganze Zweck der kritischen Philosophie enthält eine Unmöglichkeit. Sie will, ohne es anzukündigen, Unendlichkeit durch Unendlichkeit bestimmen; ausgehen vom Unbegränzten, und durch dasselbe zugleich die Gränze entstehen lassen. Der Verstand soll dies Geschäft vornehmen, soll, als productive Einbildungskraft, das Einzelne und Viele im Unendlichen hervorbringen, soll das Individuum ursprünglich erzeugen, und gelangt mit seinem Bemühen nicht ans Ziel, weil er nach seinem Wesen nicht begränzen und erzeugen kann.« (Ebd., 320)
Kants reiner Raum, reine Zeit und reines Bewusstsein sind für Jacobi also abstrakte Einerleiheiten und keine in sich bestimmten Einheiten. Weder im reinen Bewusstsein noch im reinen Raum noch in der reinen Zeit lässt sich eine erste Bestimmung erzeugen. Sie sind reine Qualitäten, die sich nicht in quantitative Mannigfaltigkeit ausdifferenzieren können. Die Bestimmtheiten »schlummern […] noch im unendlichen = 0 des Unbestimmten«, aus dem Bestimmtheit erzeugt werden soll (ebd., 289). Unmöglich können hieraus Endlichkeit, Mannigfaltigkeit, Zahl und Maß hervorgehen, die Kant aber für die Möglichkeit einer reinen Synthesis a priori voraussetzt. Hieraus ergibt sich das Scheitern von Kants Versuch, die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zu deduzieren: Der reine Verstand kann nicht ursprünglich bestimmend sein, die reinen Anschauungen stellen jedoch keine Mannigfaltigkeit a priori vor (vgl. ebd., 294). Die reine transzendentale Apperzeption ist als Synthesis gedacht, die eine gegebene Vielheit zu Aggregaten verbindet, ohne dass Kant die Möglichkeit einer ursprünglichen Antithesis und damit einer reinen Vielheit aufgezeigt hätte (vgl. ebd.). Reiner Raum und reine Zeit müssten für die reine Synthesis des Verstandes, die nach Kant eine Sammlung und Vereinigung der in Raum und Zeit a priori gegebenen Mannigfaltigkeit ist, schon bestimmt sein (vgl. ebd., 297). Ohne eine Mannigfaltigkeit der Anschauungen a priori hat auch der reine Verstand keine Anschauungen, die er synthetisieren kann. Gleichzeitig sollen er und seine Kategorien jedoch die Einbildungskraft und ihre Tätigkeit bedingen. Als Bedingung der Einbildungskraft, die die Tätigkeit der Einbildungskraft erst möglich macht, ist der Verstand ohne vorausgesetzte, die reinen Formen der Anschauungen bestimmende Einbildungskraft ein bloßes Verbinden »noch von Nichts, noch in Nichts, noch durch Nichts« (ebd., 278). Für eine bestimmende Synthesis würde er bereits Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit voraussetzen. Ohne Mannigfaltigkeit ist er ganz leer, kann nichts synthetisieren und insofern auch nichts von sich wissen, kein Selbstbewusstsein haben (vgl. ebd., 279). Der Verstand, isoliert für sich betrachtet, ist deshalb ein leeres Blendwerk, weil er die Tätigkeit der Einbildungskraft erst ermöglichen soll, andererseits von ihrer bestimmten Tätigkeit schon abhängt.
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Das ursprüngliche Synthetisieren des Verstandes, die »Synthesis an sich«, ist deshalb notwendig ein Urteilen ohne Begriffe, also noch ohne Subjekt und Prädikat, die bloße Wiederholung eines leeren ist. »Denn nun wird es klar, daß die reine, von Antithesis und Thesis unabhängige Synthesis, daß die Synthesis an sich, nichts anders ist, als die Copula an sich; ein von Subject und Prädicat unabhängiges Verbinden ohne zu Verbindendes; ein Ist, Ist, Ist, ohne Anfang und Ende und ohne Was, Wer oder Welche.« (Ebd., 295)
Dieses unbestimmte ist identisch mit dem Nichts. So ist die reine Spontaneität des Verstandes ein Denken, das nicht ein bestimmtes Etwas denkt, sondern ein »nichts denkendes Denken« (ebd., 306). Sein und Nichts wären also im reinen Denken identisch – diesen Gedanken wird Hegel als Anfang der Logik wieder aufgreifen. Hegel stimmt mit Jacobi aber bereits in GuW darin überein, dass Kant die Vernunft zu Verstande bringt: Die Einbildungskraft werde von Kant nämlich nicht vernünftig, sondern nur verständig und damit auch abstrakt aufgefasst. So ist die absolute Identität im Verstand zwar in höherer Potenz gesetzt als in der Einbildungskraft, sie wird damit aber gleichzeitig abstrakter gefasst. Denn in der Einbildungskraft ist die Identität noch als Einheit von Anschauung und Begriff bzw. Allgemeinheit und Mannigfaltigkeit gegeben. Demgegenüber setzt der Verstand die absolute Identität als der Anschauung und Mannigfaltigkeit entgegengesetzte Allgemeinheit (vgl. GW 4, 327). Die Fixierung der Einbildungskraft als Verstand bringt die nur relative Identität des Allgemeinen hervor: die Kategorien, die dem Besonderen entgegengesetzt sind. Damit tritt der absoluten Identität, die die Vernunft selbst ist, das Besondere als ein Fremdes, nur empirisch Gegebenes gegenüber, von dem sie affiziert wird, ohne dass die ursprüngliche Identität mit dem Empirischen zur Geltung gebracht würde.22 In GuW übernimmt Hegel nun zwar einige Aspekte der Kritik Jacobis, jedoch spielt das Problem, dass sich das Nichts des Denkens nicht selbst bestimmen kann, hier noch keine entscheidende Rolle. Im Zentrum steht Kants Festhalten der Differenz von Verstand und Sinnlichkeit: Das Mannigfaltige der Sinnlichkeit werde bei Kant als an sich selbst zerfallen aufgefasst und erst durch das verständige Selbstbewusstsein des Menschen objektiv geordnet und bestimmt (vgl. GW 4, 330). Die Dinge an sich und Empfindungen 22
Auch später wird Hegel – ganz im Sinne Jacobis – es weiter für ein dogmatisches Vorurteil Kants halten, dass er das Recht der Vernunft und ihrer Ideen dem Verstand und seinen empirischen Begriffen unterordnet (vgl. John E. Smith: »Hegel’s Critique of Kant«, in: Joseph O’Malley et al. (Hg.): Hegel and the History of Philosophy, Den Haag 1974, S. 109–128: S. 124 f.).
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
blieben unbestimmt. An sich könne ihnen keine Einheit zukommen, da sie diese erst durch das Subjekt erhalten (vgl. ebd.). Subjekt und Dinge existieren »jedes für sich« ohne jede Bestimmtheit. Das Ich wäre nur die formale, isolierte Einheit des Mannigfaltigen, das Ding an sich bzw. die Empfindung die formlose Unendlichkeit. Die objektive Bestimmtheit sei erst Resultat ihrer Beziehung aufeinander. So sei die Identität von Subjekt und Objekt nur formal. Damit erkenne Kant die absolute Identität und die Erscheinung des Absoluten nicht »nach ihrer [der Erscheinung] Wahrheit« (ebd., 332). Die formale Identität des Denkens werde der »unendliche[n] Nichtidentität« der Empfindung entgegengesetzt und beide würden »auf eine unbegreifliche Weise« vereinigt (ebd.). In seiner späteren Logik wird Hegels Affinität zu Jacobis Kritik an Kant noch deutlicher. So heißt es in der Enzyklopädie: »Das Ding an sich […] drückt den Gegenstand aus, in sofern von Allem, was er für das Bewußtseyn ist, von allen Gefühlsbestimmungen, wie von allen bestimmten Gedanken desselben abstrahirt wird. Es ist leicht zu sehen, was übrig bleibt, – das völlige Abstractum, das ganz Leere, bestimmt nur noch als ein Jenseits; das Negative der Vorstellung, des Gefühls, des bestimmten Denkens u.s.f. Eben so einfach aber ist die Reflexion, daß dies Caput mortuum selbst nur das Product des Denkens ist, […] des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht.« (GW 19, 60)
Nicht nur die Rede vom Ding an sich als »caput mortuum« ist Jacobi entnommen, sondern auch Kants Ding an sich und die reine Einheit des Selbstbewusstseins würden von Jacobi zu Recht als »abstracte Allgemeinheiten« (GW 15, 14) entlarvt. Bei Kant kämen Subjekt und Objekt im Verstand nur äußerlich zusammen. Kants Verstand sei keine konkrete Einheit, sondern nur eine »abstracte Identität« (ebd., 15). Diese liege der gesamten KrV zu Grunde und so entwickle Jacobi immanent aus selbiger, dass auch Raum, Zeit und Bewusstsein reine Abstraktionen sind. Diese Abstraktionen entlarve Jacobi zu Recht als in sich selbst nichtige, »leere Gedankendinge« (ebd.). Einbildungskraft, Urteilen, Apperzeption würden abstrakt gegeneinander, als für sich bestehend festgehalten (vgl. ebd., 16). Jacobi halte diesen Abstraktionsprodukten wiederum zu Recht das Ursprünglich-Synthetische, das Geistige entgegen: die Konkretion (vgl. ebd., 25). Wie Jacobi sieht Hegel keine Möglichkeit, dass Kant von der abstrakten und unbestimmten Einheit des Ich zu den Kategorien als Bestimmungen dieses Ich übergehen könnte. Aus der Leere von Kants »Ich denke« folgt für Hegel die Willkür seiner Kategorientafel: Aus dem unbestimmten »Ich denke« lassen sich dessen bestimmte Formen des Denkens nicht unmittelbar ablei-
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ten.23 Die reine Synthesis Kants sei nämlich »die ganz abstracte Copula Ist, Ist, Ist, ohne Anfang und Ende« (GW 15, 15). Hier gebe es in der Tat keine »Möglichkeit, daß ein Knoten geschlungen werde« (ebd.), also dass der Verstand bestimmt würde. »Glücklicherweise finden sich in der gewöhnlichen Logik die verschiedenen Arten des Urtheils bereits empirisch angegeben vor. Urtheilen aber ist Denken eines bestimmten Gegenstandes. Die verschiedenen schon fertig aufgezählten Urtheilsweisen liefern also die verschiedenen Bestimmungen des Denkens.« (GW 19, 59)
III. Hegels und Jacobis Überwindung Kants
Für Jacobi wie für Hegel fasst Kant die Vernunft also verständig auf. Dies heißt, dass Kant die Momente der Vernunft zu voneinander isolierten, leeren Elementen abstrahiert. Resultat dieser Abstraktion ist eine Tätigkeit des Verstandes, die eine Bewegung von Nichts zu Nichts ist. Demgegenüber muss die Vernunft als konkrete, organische Einheit von Mannigfaltigkeit und Vielheit gedacht werden: »Ich habe nun achtzehn Jahre lang zu begreifen gesucht […], wie ihr ein Mannichfaltiges, zu welchem die Einheit; und eine Einheit, zu welcher das Mannichfaltige – nur hinzukommt, euch vorzustellen, oder diese reine Begebenheit auf irgend eine Weise zu denken vermögt. Vermögt ihr aber dieses nicht, sondern setzen beyde, Mannichfaltigkeit und Einheit, sich gegenseitig dergestalt voraus, bedingen sie sich gegenseitig dergestalt, daß sie nur in einander und zugleich gedacht werden können, als forma substantialis alles Denkens und Seyns: was wird dann aus euerer ganzen apriorischen Weberey?« (JWA 2,1, 289)
Für Jacobi muss dabei von der Wirklichkeit dieser Einheit ausgegangen werden. Kants Nichts ist dann die elastische Stelle, auf die Jacobi tritt, um seinen Salto mortale zu vollziehen. Die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori beweist sich so für Jacobi »durch die That« (ebd., 265). Im menschlichen Handlungsbewusstsein erfährt der Mensch nämlich je schon die Wirklichkeit der Kategorien und Anschauungsformen. Diese sind Handlungsbegriffe, deren Wirklichkeit sich in der Tat beweist: »Raum und Zeit sind Thatsachen, weil Bewegung eine Thatsache ist. Ein Mensch, der sich nie bewegt hätte, könnte sich keinen Raum vorstellen; wer sich nie verändert hätte, kennte keinen Begriff der Zeit.« (Ebd., 318) 23
Robert B. Pippin: Die Aktualität des Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2016, S. 124.
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
Die Philosophie muss mit dem Bestimmten anfangen und kann es nicht aus dem Unbestimmten entwickeln. In der lebendigen Erfahrung der eigenen Individualität, im Bewusstsein, diese Person und keine andere zu sein, erfährt der Mensch die ursprüngliche Verbindung von Einheit und Mannigfaltigkeit: »Als Individua leben, denken und fühlen wir; uns selbst nicht verständlich und begreiflich, weil wir dann aufhören würden Individuen zu seyn, begreifend nur in und mit dieser Individuation. In ihr liegt das tiefe Geheimniß des unauflöslichen Zusammenhanges der Einheit und der Mannichfaltigkeit, der Gestalt und der Sache. […] Darum giebt es weder eine ursprüngliche Antithesis, Synthesis noch Analysis, sondern alles mit einander. Wird diese Urgemeinschaft aufgehoben und auf der logischen Folter isolirt: so ist alles Leben, aller Bestand, alles Seyn verschwunden.« (Ebd., 321)
Als »abstracte Grundlagen fixirt« können die isolierten Elemente nun auch für Hegel nicht mehr synthetisiert werden (GW 15, 16). Für Hegel gilt es jedoch, sich nicht mittels eines Salto mortale aus der Nichtigkeit der Abstraktionen des reinen Denkens – also reiner Raum, reine Zeit und reines Bewusstsein – zu befreien, sondern diese Nichtigkeit zunächst als deren immanente Bestimmungen aufzuweisen und dann aus der immanenten Unwahrheit dieser abstrakten Bestimmungen mittels einer objektiven Dialektik die Notwendigkeit des Konkreten als Synthetisches a priori zu entwickeln. Die Vernunft muss sich »durch sich selbst, das heißt nicht durch einen salto mortale auf[…] heben« (GW 4, 76). Dann schlägt die Unmöglichkeit und Nichtigkeit dieser abstrakten Bestimmungen immanent in die Notwendigkeit des Konkreten um (vgl. GW 15, 16 f.). Tatsächlich muss ein ursprüngliches Synthetisieren als ursprüngliches Bestimmen wie nach Jacobi ein Erschaffen aus Nichts sein. Gerade darin besteht für Hegel aber die theoretische wie die praktische Selbstbestimmung (vgl. ebd., 17). »Die Grundfigur aller spekulativen Gedanken des Absoluten« ist für Hegel gerade »das Prinzip der absoluten Negativität« in ihrer strikten Selbstbeziehung.24 Diese »ungeheure Macht des Negativen« ist die »Energie des Denkens, des reinen Ichs«, seine »abgesonderte Freyheit« (GW 9, 27). Für Hegel gilt es, die Kraft aufzubringen, das Nichts festzuhalten, 24
Dieter Henrich: »Erkundung im Zugzwang: Ursprung, Leistung und Grenzen von Hegels Denken des Absoluten«, in: Wolfgang Welsch und Klaus Vieweg (Hg.): Das Interesse des Denkens – Hegel aus heutiger Sicht, München 2003, S. 9–32: S. 25. Für Henrich löst Hegel mit diesem Gedanken Jacobis Gegensatz von Unmittelbarkeit und Vermittlung auf, indem die in Selbstbeziehung zu sich gebrachte Vermittlung eben Jacobis Unmittelbarkeit ist (ebd., S. 26). Der Anspruch Hegels wäre dann auch so zu reformulieren, Jacobis Handlungsbewusstsein in der Figur einer selbstbezüglichen Vermittlung in der Logik spekulativ rekonstruieren und integrieren zu können.
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sich nicht davor zu scheuen, sondern es zu ertragen. »Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr diß zumuthet was sie nicht vermag.« (Ebd.) Dem Negativen muss »ins Angesicht« (ebd.) geschaut werden, um es so ins Sein zu verkehren. Darin besteht nach Hegel das »Leben des Geistes« (ebd.). Dieser theoretischen Freiheit reiner Selbstbestimmung aus Nichts verleiht Kant nach Hegel mit der synthetischen Einheit der Apperzeption Ausdruck.25 Kant erfasst, dass die Freiheit des Denkens in seiner Selbstbestimmung besteht. Diese Selbstbestimmung geht für Hegel gerade vom reinen Denken aus, für das Sein und Nichts identisch sind und das sich durch die von Jacobi perhorreszierte »Bewegung von Nichts durch Nichts zu sich selbst zurück« (GW 11, 341) selbst bestimmt. Der fundamentale Unterschied zwischen Jacobi und Hegel in der Überwindung Kants ist also ganz analog zu dem, den Jacobi selbst in einem Brief an Neeb vom 5.8.1817 in ihrem Verhältnis zu Spinoza wie folgt bestimmt: »Der Unterschied zwischen Hegel und mir bestehet darin, daß er über den Spinozismus […] welcher Spinozismus auch ihm das letzte, wahrhafte Resultat des Denkens ist, auf welches jedes consequente Philosophiren führen muß, hinauskommt zu einem System der Freiheit, auf einem nur noch höheren, aber gleichwohl demselben […] Wege des Gedankens – ohne Sprung; ich aber nur mittelst eines Sprunges, eines voreiligen, von dem Schwungbrete aus des bloß substan tiellen Wissens, welches zwar auch Hegel annimmt und voraussetzt, aber anders damit umgegangen haben will«.26
Resümee
Aus kantischer Sicht werden die Kritiken Jacobis und Hegels an Kant häufig als extern und nicht immanent zurückgewiesen.27 Nun haben sicher gerade die Kritiken Hegels und Jacobis überhaupt erst zu immer elaborierteren Inter25
Allerdings identifiziert Hegel in WdL erst den Begriff mit der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption. Vgl. hierzu: Schäfer: Die Dialektik und ihre besonderen Formen, S. 10. 26 Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, hrsg. von Friedrich Roth, Leipzig 1825–27, Band II, S. 467 f. 27 Vgl. etwa: Rolf-Peter Horstmann: Bausteine kritischer Philosophie, Bodenheim 1997, S. 191; Paul Guyer: »Thought and Being: Hegel’s Critique of Kant’s Theoretical Philosophy«, in: Frederick C. Beiser (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 171–210: S. 179. Eine äußerst lehrreiche und faire Studie zu Hegels Kant-Kritik aus Perspektive Hegels ist dagegen: Sally Sedgwick: Hegel’s Critique of Kant. From Dichotomy to Identity, Oxford 2012.
Kant, Jacobi und Hegel über synthetische Urteile a priori
pretationen Kants geführt und sind so für die Kant-Deutung selbst produktiv geworden. Relevanter ist für uns jedoch folgende Überlegung: Die Aneignung großer Denker durch andere große Denker erfolgt fast immer in den Denk kategorien und gemäß den philosophischen Interessen der Aneignenden.28 Insofern ist die Übernahme von Jacobis Kritik an Kant durch Hegel von besonderer Bedeutsamkeit. Denn sie zeigt, wie weit Hegel sich in seinen philosophischen Kategorien und seinem philosophischen Projekt an Jacobi anschließt, andererseits zeigt sich dann aber auch ihre fundamentale Differenz: Jacobi setzt Kants Transzendentalphilosophie seine Handlungsmetaphysik der individuellen Person entgegen. Letztere bleibt zwar auf Erstere (wie schon auf den Spinozismus) als ihre elastische Stelle bezogen, von der aus sie ihren Salto mortale überhaupt erst vollziehen kann. Für Jacobi bedeutet dies jedoch einen Standortwechsel von der bloßen Urteilsperspektive des »Ich denke« zur Erfahrung des Individuums, ein Handelnder zu sein. Die Handlungspraxis hat bei Jacobi den Primat gegenüber unserer Urteilspraxis. In unserem Handeln erfahren wir uns als frei und selbstbestimmend. Hegel hingegen kommt gewissermaßen über den Umweg Jacobi wieder zu Kant und zum Primat des Urteilens zurück.29 Seine Logik ist eine Logik des Urteilens.30 Der fundamentale Unterschied in der Deduktion der Kategorien zwischen Hegel und Jacobi ist so auch, dass für Jacobi die Kategorien im selbstbestimmten Handeln, für Hegel hingegen – wie für Kant – im reinen Denken und spontanen Urteilen begründet sind.31 Allerdings verändert sich – vermittelt über die Interpretation und Kritik Jacobis – bei Hegel der Status des Urteils gegenüber Kant: Die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat ist nicht die Synthese zweier Vorstellungen, sondern die unmittelbare und fundamentale Einheit von Denken und Sein. Damit glaubt Hegel freilich Kants Urteilslehre besser zu verstehen als Kant selbst. Für Hegel liegt in synthetischen Urteilen a priori eine absolute Identität vor, für Kant gerade nicht.32 Das Sein, das die Kopula anzeigt, ist das unterschiedslose »veritative Sein«,33 also Jacobis »ganz abstrakte Kopula Ist, Ist, Ist«, und nicht das prädikativ gegliederte »der-Fall-sein des aussageförmigen Wissens«,34 das einen bestimmten Sachverhalt bezeichnet. Dieses 28
Smith: Hegel’s Critique of Kant, S. 109. Für diesen Hinweis danke ich Gunnar Hindrichs. 30 Pippin: Die Aktualität des Deutschen Idealismus, S. 166. 31 Houlgate: The Opening of Hegel’s Logic, S. 12. 32 Guyer: Thought and Being, S. 179 f. 33 Gunnar Hindrichs: »Kategorienrahmen und Begriffswandel«, in: Kazimir Drilo (Hg.): Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System (= Collegium Metaphysicum 10), Tübingen 2015, S. 119–155: S. 140. 34 Ebd. 29
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Sein erhebt aber nur den Anspruch, das veritative Sein darzustellen, es enthüllt sich aber in der Logik als Nichts (wieder ein Gedanke Jacobis) und geht über in die reine Prozessualität des Werdens.35 Wenn also die transzendentale Einheit der Apperzeption Ausgang der gesamten Kategoriendeduktion Hegels ist, dann ist sie bereits mit Jacobis Kritik amalgamiert. Man kann sagen, dass Jacobi das »rein spekulative Princip« (GW 4, 5) für Hegel aus der kantischen Philosophie herausgehoben und dessen spekulativen Geist von seinem trans zendentalen Buchstaben befreit hat.
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Ebd., S. 144. Eben dies ist aber für Jacobi die Konsequenz aus dem transzendentalen Seinsverständnis, wie sie sich bei Fichte und Schelling zeigt: Das Sein wird zum reinen Werden. Was bei Jacobi kritisch gemeint ist, wird bei Hegel aber wieder versucht, spekulativ zu wenden.
II. ME TA PH YSIK
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Kausaler Zusammenhang und lebendige Einheit Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
W
er Gott nicht siehet, für den hat die Natur kein Angesicht; dem ist sie ein Vernunftloses, Herz- und Willenloses Unding; eine gestaltende düstere Ungestalt; ein Wesenloses, das, aus Wesenlosem, Gleichnisse ohne Urbild ins Unendliche – nur nach Gleichnissen bildet; eine gräßliche, von Ewigkeit zu Ewigkeit nur Schein und Schattenleben brütende Mutter Nacht – Tod und Vernichtung, Mord und Lüge wo es taget.« ( JWA 3, 12) Jacobis Worte aus der Schrift Ueber eine Weissagung Lichtenbergs reichen in ihrer sprachlichen Kraft durchaus heran an Jean Pauls berühmte und mit ihnen in Inhalt und Gestus eng verwandte »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«.1 Jacobi fokussiert hier eine Ansicht von Natur, die diese, wie es heißt, als ›Vernunftlosen, Herz- und Willenlosen‹ und als solchen realitätslosen Zusammenhang auffasst. Zugleich stellt er aber auch eine zweite, alternative Naturauffassung in Aussicht, in der die Natur im Licht Gottes ein ›Angesicht‹ besitzt. Um die Frage, was es mit diesen beiden Ansichten der Natur nach Jacobi auf sich hat und wie sie sich zum Naturverständnis Kants verhalten, soll es im Folgenden gehen. Dazu zunächst eine grundsätzliche Vorverständigung, insofern der Begriff der Natur in der Tradition äußerst vielgestaltig ist. Redet Jacobi hier von einem vernunftlosen ›Unding‹, meint dies zunächst weder den Begriff der Natur als wesentliche Beschaffenheit von etwas, noch zielt es auf ein Metaphysikum im Sinne einer allwaltenden Schöpfungsmacht, wie sie bspw. die natura naturans Spinozas darstellt. Vielmehr geht es zunächst einmal um die Gesamtheit aller existierenden Dinge. Jacobi spricht in diesem Sinne wiederholt von der Natur als dem »Inbegriff aller bedingten Wesen« ( JWA 1,1, 259) bzw. als »Inbegriff des Endlichen« ( JWA 1,1, 345); Kant bestimmt diesen Begriff als den materialen Begriff der Natur und verwendet dafür abwechselnd die einander erläuternden Bestimmungen »Inbegriff[] aller Erschei1
Zum Verhältnis von Jean Paul und Jacobi vgl. Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul, Hamburg 2013, darin zur »Rede des toten Christus« S. 171–175.
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nungen« (B 163), »Inbegriff[] der Gegenstände der Erfahrung« (B XIX) bzw. »Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne […] sein können« (AA IV, 467). Im Ausgang von diesem materialen Begriff der Natur sind schließlich dann aber auch Natur im Sinne einer wesentlichen Beschaffenheit und im metaphysischen Sinne einer Schöpfungsmacht mit im Spiel: Denn selbstverständlich besitzt auch die materiale Natur selbst eine formale Natur, d. i. eine wesentliche Bestimmtheit. Und insofern die Natur der Inbegriff des Endlichen ist, das als solches nicht allein aus sich bestehen kann, führt er auch auf die Frage nach einem Unbedingten und mithin auf die Diskussion, ob dieses im Sinne von Natur als unbedingter Schöpfungsmacht verstanden werden kann.
I. Mechanismus I – der Zusammenhang der ›würkenden Kräfte‹ a) Kant
Doch wie bestimmen Jacobi und Kant nun die materiale Natur? Schauen wir zuerst kurz auf Kant. Mit der Natur als ›Inbegriff der Erscheinungen‹ sind dabei wenigstens sechs wesentliche Merkmale verbunden. Natur als ›Inbegriff‹ zeigt an, dass es sich dabei erstens um etwas irgendwie Einheitliches handelt: »[A]lle Erscheinungen liegen«, so Kant, »in einer Natur« (A 216 / B 263); sie bilden einen Zusammenhang, ein in sich verbundenes Ganzes. Insofern die Gegenstände der Natur die ›Gegenstände unserer Sinne‹, d. h. von innerem und äußerem Sinn sind, sind sie zweitens genuin in Zeit und Raum. Drittens meint Natur damit zugleich ein »Dasein«, etwas Bestehendes, Wirkliches (A 419 / B 447). Die entscheidende Bestimmung liegt viertens schließlich aber darin, dass die Natur ein »dynamisches Ganzes«, ein durch das »innere[] Prinzip[] der Kausalität« Zusammenhängendes ist (A 419 / B 446 Anm.). Die natürlichen Dinge stehen im Verhältnis von Ursachen und Wirkungen. Der Satz »nichts geschieht durch ein blindes Ohngefähr« ist, so Kant, das grundlegende »Naturgesetz a priori« (A 228 / B 280). Jede wirkende Ursache ist selbst aus einer ihr zeitlich vorangehenden Ursache »nach einer Regel« entstanden; die Natur ist vollständig kausal determiniert (A 444 / B 472); sie ist ein »Naturmechanism« (B XXVII). Im Architektonik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft und vor allem in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft spitzt Kant den Naturbegriff schließlich ausdrücklich auf »die körperliche Natur« zu (A 846 / B 874), d. i. auf diejenige Natur, deren mathematische Konstruktion in der äuße-
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
ren Anschauung möglich ist. Gegenstand der Naturwissenschaft sind dann die Dinge, die sich in den Grundbegriffen der (rationalen) Physik, also mit Naturgesetzen vor allem der Mechanik und Dynamik beschreiben lassen: mit Gesetzen von Materie und Bewegung, Raumerfüllung, Trägheit, Attraktionsund Repulsivkraft. Ausgeschlossen aus der Natur als Naturmechanismus ist aber nicht nur, und dies ist der fünfte Punkt, das ›blinde Ungefähr‹, der Zufall, sondern auch die Möglichkeit freien Handelns, also eines Wirkens, das nicht vollständig von den vorangehenden Zuständen der Natur bestimmt, sondern »[e]ine ursprüngliche Handlung [ist], wodurch etwas geschieht, was vorher nicht war« und die somit einen »Anfang, der sich von selbst zutrüge«, setzt (A 543 f. / B 571 f.). Das Prinzip der Kausalität, das den Naturzusammenhang bestimmt, ist aber, und das ist sechstens nun eben die Pointe der transzendentalphilosophischen Wende Kants, ›Kategorie‹, reiner Begriff des Verstandes. Die Natur kommt bei Kant unter der Perspektive der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und damit als Korrelat der Erkenntnistätigkeit des Subjekts in den Blick. »Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist […] zugleich das allgemeine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstern sind selbst die Gesetze der letztern.« (AA IV, 319) Nur weil die Natur bloße Erscheinung ist, der Verstand selbst also den »Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur« bildet (AA IV, 322), ist diese möglicher Gegenstand der Wissenschaft, können die Naturgesetze Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit erheben. Und nur bei einem Naturbegriff als bloße Erscheinung ist nach Kant zugleich Freiheit nicht gänzlich undenkbar, obwohl sie dem Naturmechanismus widerspricht. Denn dadurch besteht die Möglichkeit einer doppelten Perspektive auf empirische Handlungen: Der durchgängigen Naturkausalität tue es »nicht den mindesten Abbruch«, wenn die wirkende Ursache in anderer Hinsicht, d. i. als Ding an sich betrachtet, zugleich mit einem »Vermögen« ausgestattet gedacht werde, »welches nur intelligibel ist« (A 545 / B 573).
b) Jacobi
Lässt man die Frage nach dem Status von Natur und Naturgesetz als bloße Erscheinung beiseite, so stimmt Jacobi mit Kants Auffassung, dass die Natur als möglicher Gegenstand der Wissenschaft ein kausalgesetzlich vollständig determinierter, mechanistischer Zusammenhang ist, durchaus überein: »Das Hervorbringen der Natur allein, ist ein blindes, vernunftloses, nothwendiges,
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blos mechanisches Hervorbringen« ( JWA 2,1, 234), eine »Verkettung von blos wirkenden Ursachen« ( JWA 1,1, 229), »ohne Vorsehung, Entwurf, freye Wahl und Absicht« ( JWA 2,1, 234). Jacobi folgt damit wie Kant dem Naturbegriff der neuzeitlichen Wissenschaft, bestimmt diesen zugleich aber insofern auf originelle Weise, als er ihn in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas gewinnt. Spinoza ist nach Jacobi keineswegs der erste Vertreter einer durchgängig mechanistischen Naturauffassung, stellt aber dessen konsequenteste, ja geradezu paradigmatische Form dar. Und zwar deshalb, weil der Geist des Spinozismus erstens im »a nihilo nihil fit« liegt ( JWA 1,1, 18), d. h. im Satz: Nichts geschieht ohne (zureichenden) Grund – oder auf die Natur bezogen: ohne bewirkende Ursache; durch den Grund bzw. die Ursache aber ist die Folge oder Wirkung notwendig bestimmt. Und weil Spinoza nach Jacobi zweitens als Konsequenz des ›a nihilo nihil fit‹ die absolute Ursache der (mechanischen) Reihe wirkender Ursachen als ›causa immanens‹, als immanente Ursache denkt. Spinoza unterläuft nach Jacobi damit (anders als Kants erste Vernunftantinomie) die alternativen, aber selbstzerstörerischen konzeptionellen Optio nen des Gedankens vollständiger Begründung, entweder einen unendlichen Regress in immer weiter voran liegende Gründe bzw. wirkende Ursachen oder aber einen ersten, nicht selbst mehr begründeten Grund als Anfang der Begründungskette annehmen zu müssen. In Spinozas erster Ursache als »nur immanentes Ensoph«, als »ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt, welche mit allen ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe« ist ( JWA 1,1, 18), ist hingegen zugleich ein unendliches und daher anfangsloses Bedingungsgefüge von bedingten Bedingungen, also ein endloses, selbst ungewordenes, ewiges Werden, und eine absolute, in jedem Glied gleich unmittelbar wirkende Ursache gedacht, also ein erstes »Unwandelbare[s]« und Reales ( JWA 1,1, 94). Beide Annahmen schließen sich, so Jacobis Spinozarekonstruktion, keineswegs gegenseitig aus, sondern ergänzen sich notwendigerweise: Während erstere unmittelbar aus dem »a nihilo nihil fit« folgt, ist letztere noch dessen Voraussetzung. Der Mechanismus der Natur resultiert nach Jacobis an Spinoza orientierter Diagnose letztlich also darauf, dass das Absolute, die Substanz Spinozas, die endlichen Dinge, mit Spinoza gesprochen: die endlichen ›Modi‹, auf doppelte Weise bewirkt. Erstens gilt Spinoza jeder endliche Modus, sofern er allein als ›Affektion‹ der Substanz, d. h. in seinem Wesen, betrachtet wird, als von Gott hervorgebracht »auf eine ewige und unendliche, nicht auf eine vorübergehende, endliche und vergängliche Weise« ( JWA 1,1, 252) und daher in dieser Hinsicht selbst als unveränderlich und ewig. Hinsichtlich seiner aktualen Existenz ist jeder endliche Modus als zeitlich verfasstes Einzelnes
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
zweitens aber auch Glied einer unendlichen mechanischen Wirkungskette existierender endlicher Modi und insofern durch seine Beziehung auf anderes Einzelnes hervorgebracht und zum konkreten Wirken bestimmt. ›Unmittelbar‹ ist also ein endlicher Modus in seinem Existieren von anderen endlichen Modi abhängig. Von Gott wird er in dieser Hinsicht zugleich in dem Maße verursacht, wie die göttliche Substanz der »Inbegriff aller endlichen Dinge« und ihrer Ordnungsprinzipien ist ( JWA 1,1, 95). Zum Verständnis des Mechanismus der Natur ist zudem noch Spinozas nur attributive Unterscheidung von Ausdehnung und Denken, Körper und Geist zu beachten. Indem diese nämlich nicht als wesentlich verschiedene unmittelbare Hinsichten der Substanz, sondern als bloß verschiedene Perspektivierungen ihrer Wirkungsmacht gefasst werden, kann Spinoza die vollständige Parallelität zwischen den Ausdruckssphären von »extensio« und »cogitatio« behaupten und alle kausale Interaktion bestreiten: Die »Ordnung und der Zusammenhang der Begriffe« ist, so Jacobi, unmittelbar einerlei »mit der Ordnung und dem Zusammenhange der Dinge« ( JWA 1,1, 100). Beide sind schlechthin notwendige Folgen aus der allein aus ihrem Wesen, d. h. absichtslos wirkenden ewigen Macht der Substanz, insofern diese »im körperlichen als Bewegung; im denkenden [aber] als Begierde« wirkt ( JWA 1,1, 241). In diesem mechanistischen und deterministischen Verständnis der Welt bzw. der Natur, so ist Jacobi genauso wie Kant überzeugt, ist Freiheit prinzipiell ausgeschlossen, sofern diese als Fähigkeit verstanden wird, aus der Vorstellung von Handlungszwecken absichtlich neue Kausalketten in der Zeit zu beginnen. Jeder Determinismus bzw. Mechanismus, so daher Jacobis berühmte These, ist unausweichlich »Fatalismus« ( JWA 1,1, 123).
c) Zur Differenz von Jacobi und Kant
Darauf, dass sich, wie ich durch die etwas vereinfachte Skizze der Konzeption einer doppelten Verursachung bereits kurz andeutete, Jacobis Auffassung des Naturmechanismus in seiner Orientierung an Spinozas Immanenzmodell strukturell von dem Kants unterscheidet, indem es ihm etwas Wesentliches hinzufügt, komme ich später noch einmal zurück. Zunächst aber ein Wort zur anderen grundlegenden Differenz, auf die Jacobi in seinem Brief an Kant vom 16.11.1789 selbst ausdrücklich hinweist und die aus dem bloßen Erscheinungscharakter der Natur bei Kant folgt. Statt die Form der Natur aus der Form des Vorstellungsvermögens zu begründen, sei er, Jacobi, »im Gegen theile […] geneigter, die Form der menschlichen Vernunft in der allgemeinen Form der Dinge zu suchen« ( JBW I,8, 325). Oder wie Jacobi in der ebenfalls
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1789 geschriebenen Vorrede zur zweiten Auflage der Spinozabriefe schreibt: er sei »kein Cartesianer« und »gehe, wie die Morgenländer in ihren Conjugatio nen von der dritten, nicht von der ersten Person aus, und glaube, man dürfe schlechterdings nicht das sum dem cogito nachsetzen« ( JWA 1,1, 157). Kurzum und mit dem Ausdruck aus dem David Hume: Im Gegensatz zu Kant ist Jacobi »entschiedene[r] Realist« ( JWA 2,1, 32). Zwar adressiert das eingangs wiedergegebene Zitat aus Über eine Weissagung Lichtenbergs die Diagnose des Mechanismus ausdrücklich auch an eine Auffassungs- oder Beschreibungsweise der Natur. Jedoch gilt Jacobis Realismus ebenso für den Begriff der Natur als Naturmechanismus. Die Natur, rein als solche betrachtet, wird nach Jacobi m.a.W. zu Recht als kausal determiniert aufgefasst; sie ist objektiv ein Mechanismus: »Selbstständigkeit der Natur setzt, als wissenschaftlicher Naturforscher, auch der Theist insofern und dergestalt voraus, daß er sich streng untersagt, irgend etwas in der Natur anders als aus ihr selbst verstehen und erklären zu wollen.« ( JWA 3, 96) »Die Gesetze des Verstandes beziehen sich subjectiv und objectiv auf die Gesetze der Natur« ( JWA 1,1, 263). Beilage VII der Spinozabriefe zeigt dies an, indem die Auffassung der Natur als Mechanismus als das Resultat einer natürlichen Entwicklung dargestellt wird. Natürlich ist diese, weil sie von der realen sinnlichen Erfahrung der Natur ihren Ausgang nimmt, insofern nach Jacobi alle begreifende Tätigkeit des Verstandes nur darin besteht, auf Grundlage von ursprünglich wahrgenommenen Qualitäten, »Unterschiede [zu] setzen und wieder auf[zu]heben« ( JWA 1,1, 249). Natürlich ist die Herausbildung des mechanistisch-fatalistischen Naturverständnisses zudem, weil sie das Produkt der natürlichen Anlage im Menschen ist, um der Befriedigung seiner Bedürfnisse und der Erhaltung seines (lebendigen) Daseins willen »dem Beständigen in dem ihn umgebenden und ihn durchdringenden Unbeständigen der Natur nachzuforschen« ( JWA 1,1, 248).
II. Mechanismus II – das Organische und das Psychische
Allerdings greift es viel zu kurz, versteht man Natur als kausal-mechanischen Zusammenhang nur im Sinne eines physisch-physikalischen Mechanismus. Nach dem bisher Gesagten könnte dieser Eindruck bei Kant durch die Fokussierung auf die rationale Physik und die Natur als Inbegriff des äußeren Sinnes vor allem in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft entstehen. Bei Jacobi vor allem aber daraus, dass er das Parallelismustheorem von extensio und cogitatio bei Spinoza an einigen Stellen als latenten Materia
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
lismus zu deuten scheint, insofern Spinoza selbst, so Jacobi, die Seele allein als unmittelbaren Begriff des Körpers bzw. »die Entschlüsse des Willens« als bloße »Bestimmungen des Körpers« ( JWA 1,1, 108) vorstellt.2 Doch täuscht in beiden Fällen dieser Eindruck. Vielmehr erstreckt sich der Begriff der Natur als Naturmechanismus bei Jacobi wie bei Kant (zumindest vor der Kritik der Urteilskraft) ebenso auf das Feld des Biologischen und Psychologischen. In einer Anmerkung in der Schrift Von den göttlichen Dingen hält Jacobi in diesem Sinne fest: »Der lebendige, von Innen heraus sich entwickelnde Mechanismus, wird Organismus genannt.« Und zur Bestätigung und Bekräftigung dieses »Begriff[s] des Mechanismus in seiner weitesten Ausdehnung« verweist Jacobi ausdrücklich auf Kant, genauer auf die Kritik der praktischen Vernunft ( JWA 3, 104 Anm.).
a) Kant
An der von Jacobi benannten Stelle, die die Frage der Unvereinbarkeit von Naturmechanismus und Freiheit aufgreift, bestreitet Kant, dass dieses Problem durch die Unterscheidung von inneren und äußeren (empirischen) Bestimmungsgründen gelöst werden könne; auch rein »innerlich im wirkenden Wesen« liegende Bestimmungen seien unfrei, d. h. notwendig bedingt, insofern der »Begriff der Causalität als Naturnothwendigkeit« für jede sich in der Zeit vollziehende Begebenheit gelte, insofern sie vollständig unter »der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war«, stehe. Dies gelte für die Bewegung der Uhr, die aus einem nur inneren Bewegungsprinzip geschieht, genauso wie für empirische Handlungen, obwohl diese durch »durch unsere eigene Kräfte hervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben« bewirkt sind (AA V, 96). Denn auch hier liegen, so Kants Argument, die »bestimmende[n] Gründe« meiner Handlung dieser zeitlich voran und befinden sich damit »in dem Zeitpunkte, darin ich handle« nicht mehr »in meiner Gewalt« (AA V, 94). Dabei sei es ganz gleich, ob die Bestimmungsgründe wie bei animalischen Lebewesen aus dem Instinkt kommen oder wie beim Menschen als denkendem Wesen (empirische) Begriffe sind. 2 Anders
hingegen im David Hume: »[W]enn auch, nach Spinoza, die Vorstellungen die Handlungen nur begleiten, so ist doch beydes in einander; beydes in Einem und demselben untheilbaren Wesen und Bewustseyn unzertrennlich verknüpft. Der Wille ist zwar nicht vor der Handlung und ihre würkende Ursache; aber die Handlung ist auch nicht vor dem Willen und seine würkende Ursache: sondern dasselbige Individuum will und handelt zugleich, in demselben untheilbaren Augenblick.« (JWA 2,1, 56)
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Diese Notwendigkeit sei zwar als Bestimmung durch Vorstellungen von einem engen Sinn des Naturmechanismus, d. h. der Kausalbeziehung der »körperliche[n] Bewegung« verschieden, fällt nach Kant aber sehr wohl unter den (allgemeineren) Begriff des »Mechanismus der Natur« (AA V, 96 f.). M.a.W. ist also auch der Mensch als ein seiner selbst bewusstes, (empirische) Begriffe bildendes Lebewesen »der Kausalverbindung unterworfen« (A 540 / B 568): Aus dem »empirischen Charakter« eines Menschen und »den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur« sind alle seine Handlungen determiniert und erfolgen mit strenger Notwendigkeit (A 549 / B 577).
b) Jacobi
Wie sein Verweis auf Kants Bestimmung des Begriffs des Naturmechanismus in der Kritik der praktischen Vernunft schon nahelegt, verwendet auch Jacobi den Begriff des Mechanismus sehr weit: Er meint »jede nothwendige Verkettung […] nach dem Gesetze der Causalität in der Zeit«. Neben physikalischen Vorgängen umfasst er auch »chemische[], organische[], und psychologische[] Wirkungsarten«, insofern diese notwendig und gesetzmäßig ablaufen ( JWA 2,1, 230 Anm.). Ein Tier ist wie ein Unbelebtes, so Jacobi, »ein bloßes Getriebe« ( JWA 1,1, 141 Anm.); es unterliegt auch mechanischen Gesetzen, dem Mechanismus der »größere[n] sinnliche[n] Begierde, und der größere[n] sinnliche[n] Abscheu« ( JWA 3, 102). D.h. das Tier kennt keine Unterscheidung von übernatürlichnatürlich, »kein[en] Vorsatz, keine Selbstbestimmung: es wird durchaus nur getrieben, und wie es von sich nichts weiß, so weiß es auch von keinem Zweck. Gleich allem dem Naturreich allein Angehörigen, ist es einem unüberwindlichen Schicksal unterworfen und ihm ganz dahin gegeben.« ( JWA 3, 102) Daher, so Jacobi 1816 erneut im Verweis auf Kants Kritik der praktischen Vernunft, sei Gott auch in der Natur als beseeltes Wesen genauso verborgen wie im »unbeseelte[n] Wesen« ( JWA 3, 141 Anm.). Das gilt auch für beseelte Wesen, die über ein begriffliches Bewusstsein ihres Wirkens verfügen, also denkende Wesen. Und zwar dann, wenn dieses Bewusstsein, wie in Folge des Parallelismustheorems Spinozas, so gedacht wird, dass es das natürliche körperlich-organische Wirken bloß reflektiert, dass »die Vorstellungen [von Zwecken] die Handlungen nur begleiten« ( JWA 2,1, 56). Sind Verstand und Wille nicht das oberste, d. h. geschieht Veränderung nicht, indem absichtlich neue Kausalketten aufgrund der Vorstellung eines Zweckes begonnen werden, gehören sie nach Jacobi zum mechanischen »Räderwerk« der Natur. Alles, was nicht freies Handeln ist, ist m. a. W.
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
Naturmechanismus: Ein Mittelsystem zwischen dem »System der Endursachen« und dem »System der bloß wirkenden Ursachen« schließt Jacobi kategorisch aus ( JWA 1,1, 228). Freiheit besteht nur beim Vorrang des Geistes vor dem Körper, beim wirkenden Übergreifen des vernünftigen Willens auf den Naturtrieb. Alles, dem diese Fähigkeit fehlt, unterliegt dem Mechanismus der Natur. Und zwar nach Jacobi unabhängig davon, ob es sich um einen ›Grund‹ am Anfang (Wirkursachen) oder am Ende (Naturzwecke) einer Wirkungsreihe handelt. Wenn ein lebendiges Wesen »nur Zweckmäßig [sic!] nach ihm inwohnenden nothwendigen Gesetzen ohne Vorstellung eines Zweckes« wirkt ( JWA 3, 142 Anm.), ist dies nach Jacobi in keiner Weise mit Freiheit qua bewusst-zweckgeleiteter, d. i. intentional-absichtsvoller, Handlungsbestimmung zu vergleichen. Zur Stützung dieser These beruft sich Jacobi erneut auf Kant, und zwar auf den vorkritischen. Dieser habe im Einzig möglichen Beweisgrund bereits ganz ähnlich gezeigt, dass »[e]ine nicht mechanische Verkettung« allein eine »Verkettung nach Absichten oder vorgesetzten Zwecken« ist. Diese schließe »die wirkenden Ursachen, folglich auch Mechanismus und Nothwendigkeit nicht aus, sondern hat allein zum wesentlichen Unterschiede, daß bey ihr das Resultat des Mechanismus, als Begriff vorhergeht, und die mechanische Verknüpfung durch den Begriff, und nicht, wie in dem andern Falle, der Begriff im Mechanismus gegeben wird« ( JWA 1,1, 230).
III. Die ›lebendige‹ Natur
Wenn die Natur aber sowohl als unbelebte als auch als belebte, beseelte, ja mit begrifflichem Bewusstsein ausgestattete Gott verbirgt, wie kommt sie dann zu dem ›Angesicht‹, das das Eingangszitat in Aussicht stellt? Wie sieht m. a. W. eine solche alternative Ansicht der Natur nach Jacobi aus? Folgte man Friedrich Schlegels Rezension von Jacobis Schrift Von den göttlichen Dingen, müsste man sogar nicht nur nach dem ›wie‹, sondern vor allem nach dem ›ob‹ fragen: ob es nach Jacobi überhaupt eine philosophisch gerechtfertigte Ansicht der Natur gibt, die ihr im Gegensatz zum Naturmechanismus in Kenntnis Gottes ein ›Angesicht‹ verleiht. Denn Friedrich Schlegel, so führt es Jacobi selbst an, sieht bei diesem gerade aufgrund des vollständigen kausalen Determinismus eine so starke Trennung von »›Gott und Natur […], daß sie auch nicht die mindeste Gemeinschaft mit einander oder Beziehung auf einander haben könnten und haben sollten‹« ( JWA 3, 140, Hervorhebung: O.K.).3 Als Beleg führt Schlegel u.a. Äußerungen Jacobis an, wonach der Mensch 3
Vgl. Friedrich Schlegel, [Über F.H. Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offen
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Gott nur offenbart, »indem er mit dem Geiste sich über die Natur erhebt, und, kraft dieses Geistes, sich ihr als eine von ihr unabhängige, ihr unüber windliche Macht, entgegenstellt, sie bekämpft, überwältigt, beherrscht«. Denn die Natur, so Jacobi, verberge »Gott, weil sie überall nur Schicksal, eine unu nterbrechbare Kette von lauter wirkenden Ursachen ohne Anfang und Ende offenbaret, ausschließend mit gleicher Nothwendigkeit beydes: Vorsehung und Ungefähr« ( JWA 3, 117). – Das klingt zunächst einmal wirklich nicht unbedingt nach einer zweiten Ansicht der Natur, in der sie im Blick auf Gott, auf das Unbedingte des freien Geistes, ein ›Angesicht‹ erhält. Ganz anders hingegen Kant: Dieser behauptet seit und in der Kritik der Urteilskraft tatsächlich eine zweite, von der kausalen Determination grundverschiedene Art von Kausalität in der Natur: Zweckmäßigkeit, die Natur bzw. der natürliche Gegenstand als Naturzweck, d. h. als Organismus. Eröffnet Kant hier also einen Weg, der auch für Jacobi bzw. die Interpretation der eingangs zitierten Passage aus Jacobi gangbar ist? Bevor ich abschließend zu Jacobi zurückkehre, sei daher kurz an die zentralen Thesen von Kants Naturteleologie erinnert: 1. Die Entwicklung des Gedankens der Naturteleologie in der Kritik der Urteilskraft erfolgt im systematischen Bemühen, zwischen der in der Natur bzw. Epistemologie herrschenden Gesetzgebung des Verstandes und der Unbedingtheit der Vernunftgesetzgebung auf dem Feld der Moral zu vermitteln. Trotz einer objektiv unüberwindbaren »Kluft« zwischen Naturmechanismus und Freiheit fordert nach Kant das Moralgesetz eine Wirkung des Freiheitsbegriffs in der Natur, so dass denkbar sein müsse, »daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme« (AA V, 175 f.). Dies leistet nach Kant das Vermögen der Urteilskraft (in ihrem reflektierenden Gebrauche), insofern deren apriorisches Prinzip die Zweckmäßigkeit darstellt. Mit dem »Begriffe einer Zweckmäßigkeit« und seiner Anwendung auf die Natur wird in dieser nach Kant etwas aus den mechanischen Naturgesetzen nicht allein Erklärbares als Analogon der praktischen Gesetzgebung der Vernunft gedacht (AA V, 196). 2. Ausgangspunkt der Rechtfertigung des Gedankens der Zweckmäßigkeit der Natur ist dabei das Problem der Einheit der empirischen Naturerkenntnis – und zwar angesichts dessen, dass die apriorische Gesetzgebung des Verstandes das Empirische unbestimmt lässt, die allgemeinen Naturgesetze barung] [1812], in: Kritische Schriften und Fragmente: in 6 Bden, hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Studienausgabe, Bd. 3 »[1803–1812]«, Paderborn u.a. 1988, S. 158–169: S. 166.
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
den »durchgängige[n] Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung« m. a. W. nur allgemein, nicht spezifisch bestimmen. Sie gewährleisten damit auch nicht die systematische Einheit der empirischen Naturgesetze angesichts einer unendlichen Menge oft sehr disparat, ja unverträglich erscheinender Naturphänomene und -formen (AA V, 183). Im Prinzip der Zweckmäßigkeit werde die Einheit der Natur unter empirischen Gesetzen so gedacht, »als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnißvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte« (AA V, 180). Kant nimmt damit Überlegungen wieder auf, die ihn im Rahmen der Analyse des regulativen Ideengebrauchs bereits in der Kritik der reinen Vernunft zur Annahme der zweckhaften Einrichtung der Natur als ›regulatives Prinzip‹ für die empirische Einheit der Erkenntnis geführt hatten (vgl. A 690 ff. / B 718 ff.). 3. Auch in der Kritik der Urteilskraft gilt der Begriff der Zweckmäßigkeit als Prinzip der (reflektierenden) Urteilskraft als rein subjektiv. Die Urteilskraft schreibt m.a.W. mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit nicht der Natur, sondern nur sich selbst ein Gesetz für ihre Reflexion über die Natur vor, d. h. für ihre Tätigkeit, zum Besonderen, welches die Wahrnehmung bietet, und zu konkreten Gesetzen das Allgemeine zu finden (vgl. AA V, 180 f.). Objektiv (als ›Erscheinung‹), mithin unter der kausal-mechanistischen Naturgesetzlichkeit betrachtet, ist die Zweckmäßigkeit der und in der Natur hingegen nur zufälliges Ergebnis der Natur als bloßer Mechanismus, d. h. sie lässt sich nicht aus »der allgemeinen Idee der Natur, als Inbegriffs der Gegenstände der Sinne«, aber auch nicht aus der »Erfahrung [der] Wirklichkeit derselben« begründen (AA V, 359). 4. Ist der Begriff eines Gegenstandes gegeben, stellt die Urteilskraft nach Kant gleichwohl dem Begriff der Zweckmäßigkeit eine »correspondirende Anschauung zur Seite«, wodurch der Gegenstand »als Naturzweck«, als »Darstellung des Begriffs einer realen (objectiven) Zweckmäßigkeit« erscheint (AA V, 192 f.). Ein Naturding, dem wir eine innere (objektive) Zweckmäßigkeit zuschreiben und dessen Form nur unter Einbeziehung dieser erkannt werden kann, ist aber ein »organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen« (AA V, 374). Als dem Prinzip der Zweckmäßigkeit gehorchend, kommt m. a. W. einem Organismus nach Kant nunmehr eine eigene vom Naturmechanismus gänzlich verschiedene Form von Kausalität zu: die Kausalität von Teil und Ganzem, die sich »wechselseitig […] Ursache und Wirkung« sind (AA V, 372): im Wachstum, in der Selbsterhaltung, in der Fortpflanzung. Jeder Teil eines Naturprodukts wird »so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existirend« angesehen, »als ein die andern
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Theile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ« (AA V, 373 f.). »Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« (AA V, 376) Einen Körper (aber auch die Natur als Ganzes) als Naturzweck aufzufassen, bedeutet m.a.W., »daß […] die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurtheilt« wird (AA V, 373). Auch wenn Teile eines tierischen Körpers »als Concretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden« können, müsse zudem eine teleologische Ursache in ihm gedacht werden, »welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so modificirt, formt und [als Organ, O.K.] an ihren gehörigen Stellen absetzt« (AA V, 377). Kommen wir zurück zu unserer Frage: D.i. kann uns Kants Ergänzung des mechanistischen Naturkonzepts durch den Begriff des Naturzwecks, in dem die Ordnung der Natur als Ergebnis einer ganz anderen Art der Kausalität betrachtet und als Analogon unbedingten, d. i. freien Handelns verstanden wird, auch auf die Spur der von Jacobi angedeuteten Aussicht bringen, dass, wer Gott sieht, der Natur ein Angesicht geben kann, also eine andere Ansicht der Natur als die bloß mechanische erlangt? Um das zu entscheiden, ist zunächst noch zu klären, was bei Jacobi überhaupt damit gemeint ist, ›Gott zu sehen‹? Wieder lassen sich im Brief Jacobis an Kant vom 16.11.1789 entscheidende Hinweise finden: »Ich behaupte nehmlich«, so schreibt Jacobi, »eine dem Menschen eben so evidente als unbegreifliche Verknüpfung des Sinnlichen mit einem Uebersinnlichen, des Natürlichen mit einem Uebernatürlichen«. Alles Bedingte beziehe sich auf ein Unbedingtes, »aller Mechanismus [beziehe] sich zuletzt auf ein nicht mechanisches Prinzip der Aeußerung und Verkettung seiner Kräfte […]; alles nach Gesetzen physischer Nothwendigkeit erfolgendes auf etwas nichterfolgtes, ursprünglich handelndes, Freyes; Universalia auf Particularia; Individualität auf Person. Und es entspringen diese Erkenntniße, nach meiner Meynung, aus der unmittelbaren Anschauung, welche das vernünftige Wesen von sich selbst, von seinem Zusammenhange mit dem Urwesen, und einer Abhängigen Welt hat.« ( JBW I,8, 324) Jacobi spricht hier aus, was bereits der wesentliche Gehalt seiner berühmten, Lessing gegenüber offenbarten Konsequenz aus dem Determinismus und Fatalismus Spinozas, mithin aus einer im weitesten Sinne rein kausal-mechanischen Ansicht der Welt ist: »Ich helfe mir« – so Jacobi – »durch einen Salto mortale aus der Sache […]. Die ganze Sache bestehet darinn, daß ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schließe.« ( JWA 1,1, 20)
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
Was mit dieser Operation gemeint ist, sei in fünf Punkten kurz erinnert:4 1. Kern von Jacobis Widerspruch gegen Spinozas Philosophie und gegen die ausschließliche Auffassung der Natur als Mechanismus ist die oben schon notierte Diagnose, dass sie notwendig Endursachen und Freiheit im Sinne eines Vermögens, aus Zweckbegriffen Handlungen zu beginnen, bestreiten muss. Statt sie wie diese als in Wahrheit kausal-mechanische natürliche Vorgänge zu verstehen, insistiert Jacobi umgekehrt mit aller Vehemenz auf der Freiheit des Handelns. Er habe, so Jacobi gegen Lessing, »keine lebendigere Ueberzeugung, als daß ich thue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich thue«, auch wenn diese Überzeugung notwendigerweise rational »durchaus unerklärlich bleib[e]« ( JWA 1,1, 28). Dabei ist der Ausgang vom Naturmechanismus für die philosophische Aufdeckung der Freiheitserfahrung methodisch konstitutiv. Oder wie Jacobi 1819 rückblickend als persönliches Bekenntnis formuliert: »Der Umgang mit der Natur sollte mir zum Umgang mit Gott verhelfen. Ewig in der Natur bleiben und in ihr Gott entbehren und vergessen lernen, wollte ich nicht.« ( JWA 1,1, 340) 2. Insofern sich die feste Überzeugung freien Handelns aller rationaler, d. i. mechanistischer, Erklärung entzieht, stellt sie einen eigenen Typ von Operation dar: Während rationales Erkennen ein »Setzen«, ein Hervorbringen von begrifflichen Bestimmungen sei, gehe es hier um ein »[F]inden« ( JWA 1,1, 29) oder, wie es im Brief an Kant heißt, eine ,unmittelbare Anschauung‹, das Aufnehmen eines Vorhandenen und vorausliegenden Realen. 3. Genauer ist es das Auffinden der nichtlogischen, mithin der praktischexistentiellen Voraussetzungen aller rationalen Erklärung und damit der Auffassung der Natur als Mechanismus selbst. Statt das handelnde Ich aus dem Naturmechanismus zu verstehen, geht es nach Jacobi vielmehr gerade umgekehrt darum, dass es das reale praktische Ich und damit ein je konkretes Individuum, eine Person mit Namen, ist, das die Auffassung der Natur des Mechanismus allererst bildet, verantwortet und gebraucht. Vernunft, hier als rationales Begreifen verstanden, und »Freyheit« sind, so Jacobi, dergestalt »unzertrennlich mit einander verknüpft, […] daß von dem freyen Vermögen (dem Substantivo) die Vernunft abgeleitet werden muß« ( JWA 2,1, 234). 4. Dies bedeutet auch, dass die Begriffe zur Beschreibung der Natur als mechanischer Zusammenhang und damit als vom Verstand selbst hervorgebrachter, gerade auch der der Kausalität im Sinne der wirkenden Ursache, nur sachhaltig und verständlich sind, weil ihnen im freien Handeln erfahrene, ursprünglich Reales benennende Begriffe zugrunde liegen. Der Satz des 4 Eine
grundlegende und umfassende Analyse von Jacobis ›Salto mortale‹ ist entwi ckelt in Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000.
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zureichenden Grundes, der als zeitlich-sukzessive Beziehung von wirkender Ursache und Wirkung Prinzip des Zusammenhangs der Natur unter Naturgesetzen ist (vgl. JWA 1,1, 257), wäre nach Jacobi unverständlich und leer ohne den Begriff der Ursache, über den wir nur durch das »Gefühl des: Ich bin, ich handle, schaffe, bringe hervor« verfügen ( JWA 3, 110). Den Naturbegriff als »Inbegriff des Endlichen«, so Jacobi, könnte es nicht geben bzw. er wäre ein bloß »erdichteter Begriff«, wäre er »geschieden vom Begriff eines Ueber natürlichen«, einer unbedingten Tätigkeit ( JWA 1,1, 345). 5. Weil das praktische Ich genuin ein konkretes Einzelnes ist, nicht aber ein sich in einem absoluten Akt der Selbstsetzung selbst begründendes allgemeines Subjekt, ist es nicht selbstständig, sondern macht gleichursprünglich mit seiner praktischen Selbsterfahrung auch die Erfahrung, konstitutiv in doppelter Weise in Beziehung zu einem anderen zu stehen. Einerseits zu anderen Einzelnen in einer gemeinsamen Welt, in der wir miteinander und aufeinander handeln. Andererseits steht das Ich als Individuum aber in Beziehung zu Gott: »der Mensch findet Gott«, so Jacobi im Sendschreiben an Fichte, »weil er sich selbst nur zugleich mit Gott finden kann« ( JWA 2,1, 220). Als Überzeugung von Endursachen und der Fähigkeit, frei zu handeln, habe ich m.a.W. nicht nur und nicht primär eine unmittelbare Gewissheit anderer Endlicher und der empirischen Welt, sondern vielmehr ›höherer‹ (geistiger) Gegenstände bzw. Tätigkeiten. Und insofern ich ein gebrochenes Wesen bin, in dem Übernatürliches und Natürliches, freies Handeln und kausaler Naturmechanismus gemeinsam bestehen, kann ich mir nicht selbst die Urheberschaft an dem in mir erfahrenen Unbedingten und seiner moralischen Verbindlichkeit für mich zuschreiben, sondern finde mit diesem zugleich die Gewissheit eines persönlichen Gottes. Die Natur im Sehen auf Gott aufzufassen als eine, die ein ›Angesicht‹ zeigt, ist damit nach Jacobi nicht nur eine alternative Naturauffassung, sondern die ursprünglichere. Allerdings darf die Natur dabei nicht unmittelbar als Ausdruck Gottes aufgefasst werden, wie es, so heißt es in Beilage VII der Spinozabriefe, die »rohe[n] Völker« taten, indem sie jede Veränderung der Natur als Handlung verstanden und auf ein »selbstthätiges Wesen« bezogen. »Sie irrten, weil sie unmittelbar bezogen« ( JWA 1,1, 262). Vielmehr ist die Natur nur mittelbarer Ausdruck des Unbedingten. Für sich selbst gibt die Natur, so Jacobi, »nur stumme Buchstaben an. Die heiligen Vocale, ohne welche ihre Schrift nicht gelesen, das Wort nicht ausgesprochen werden kann, das aus ihrem Chaos eine Welt hervorruft, sind im Menschen « ( JWA 3, 66). Auch Woldemar muss im gleichnamigen Roman Jacobis in diesem Sinne erst lernen, dass die Natur nicht selbst unmittelbar das Absolute zu erkennen gibt, sondern nur vermittelt durch die Beziehung zu einem konkreten Menschen
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
als Gegenüber: »Jeder Sonnenstrahl wird lebendig, wenn ich ihn Allwinens oder Henriettens Auge erhellen sehe; Mond und Sterne werden lebendig, wenn Allwina und Henriette in ihrem Scheine mich umarmen: so wird mir alle die Liebe wieder gegeben, die ich hoffnungslos ausgoß ins Unendliche« ( JWA 7,1, 354). – Etwas abstrakter und weniger emphatisch: Die Natur bekommt ein Angesicht, wenn sie als Mittel und Ort des Handelns des einzelnen Menschen mit anderen Einzelnen, mit Heidegger gesprochen, wenn sie als Zuhandenes in den Blick kommt – und in diesem Sinne, wie es das Eingangszitat sagt, vom Ich als Handelndem beherrscht und in Dienst genommen wird, ohne sie dabei aber als Natur und damit als Mechanismus zu vernichten. Trotz Übereinstimmungen in der Überzeugung von der Doppelnatur des Menschen, zugleich frei und kausal bedingt, übernatürlich und natürlich zu sein und beides auf eine geheimnisvolle, rational nicht zu begründende Weise zu vereinen, beschreitet Jacobi damit aber einen anderen Weg als die Naturteleologie Kants. Denn aus der Perspektive der Position Jacobis ist die Naturteleologie der Kritik der Urteilskraft in wenigstens drei Hinsichten nicht die Lösung, die der Natur ein Angesicht gibt. Dies liegt erstens am Status der Zweckmäßigkeit, die als bloß subjektives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft nur regulative Funktion innerhalb der empirischen Naturwissenschaft besitzt. Einmal abgesehen von der Frage, ob dieser Status sich überzeugend mit Kants Auffassung verbinden lässt, dass der Naturzweck eine für das Verständnis eines Naturdings als Organismus, als lebendiges Wesen durchaus konstitutive und objektive Kausalitätsbeziehung, zumindest im Modus des als ob, darstellt,5 ist er unverträglich mit Jacobis Überzeugung, dass das praktische Naturverhältnis, die Natur als ein Zuhandenes, als Mittel und Gegenstand des menschlichen Handelns, die ursprüngliche und damit vorgängige und eigentlich reale Naturauffassung darstellt. Damit hängt zweitens ganz unmittelbar der unterschiedliche methodische Zugang zur Frage der Zweckmäßigkeit zusammen. Während dieser bei Jacobi, wie skizziert, ein originär praktischer ist, soll das Prinzip der Zweckmäßigkeit zwar auch bei Kant das Verbindende von theoretischer und praktischer Gesetzgebung sein, seine Einführung erfolgt jedoch unter rein epis 5 Vgl.
»[W]ir führen einen teleologischen Grund an, wo wir einem Begriffe vom Objecte, als ob er in der Natur (nicht in uns) befindlich wäre, Causalität in Ansehung eines Objects zueignen, oder vielmehr nach der Analogie einer solchen Causalität (dergleichen wir in uns antreffen) uns die Möglichkeit des Gegenstandes vorstellen, mithin die Natur als durch eignes Vermögen technisch denken; wogegen, wenn wir ihr nicht eine solche Wirkungsart beilegen, ihre Causalität als blinder Mechanism vorgestellt werden müßte.« (AA V, 360)
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temischer Perspektive, so dass er zu den Naturbegriffen zählt (vgl. AA V, 186 u. 190 f.). Kant selbst sieht sich daher genötigt einzuräumen, dass der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur bzw. des Naturzwecks von der »praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten) ganz unterschieden [sei], ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird« (AA V, 181). Verbunden damit ist schließlich drittens auch der entscheidende strukturelle Aspekt: Wenn Kant den wesentlichen Unterschied der Kausalität des Naturzweckes von der effizienten mechanistischen Kausalität der leblosen Naturgegenstände als die wechselseitige Verursachung von Teil und Ganzem beschreibt, kann dies aus der Sicht Jacobis nicht zum Nachweis einer eigenen vom Mechanismus gänzlich unterschiedenen natürlichen Kausalitätsweise genügen. Denn die Beziehung von Ganzem und Teilen zeigte sich in der Spinozarekonstruktion Jacobis als die entscheidende Struktur der kausal-mechanistischen Welt- und Naturauffassung selbst, insofern diese als konsequenterweise auf den Immanenzgedanken von Gott und Natur führend erschien. Gott verhält sich bei Spinoza zu den Modi, so Jacobi, wie ein [logisch] Ganzes zu seinen Momenten, die »nur in und nach ihm seyn, nur in und nach ihm gedacht werden können« ( JWA 1,1, 96). Daher hält Jacobi auch in den Göttlichen Dingen fest: »Was in der Natur erfolgt, erfolgt nach dem Gesetze des Zusammenhanges aller ihrer sich gegenseitig voraussetzenden Theile, das heißt, auf eine durchaus nothwendige, blos mechanische Weise.« ( JWA 3, 104) Organologische Lesarten Spinozas und des Naturbegriffs als ganzem, die sich als Folge der Kritik am behaupteten Mechanismus Spinozas herausbildeten, konnten Jacobi also weder überraschen, noch konnten sie ihm als eine veritable Alternative erscheinen. Dies heißt schließlich aber nicht, dass für den originären praktischen Naturbegriff Jacobis der Umstand, dass der Körper des Individuums kein bloßer Stein, sondern ein organischer Körper ist, ohne Bedeutung bleibt. Während Carmen Götz vor allem anhand von Jacobis Briefwechsel ein starkes »Begehren nach Autonomie und Freiheit, verstanden […] als Absolution vom Körper« diagnostiziert und eine »totale« »Körpernegation Jacobis« sieht,6 versichert der späte Jacobi in den Göttlichen Dingen selbst hingegen ausdrücklich, dass der »im Menschen über die Natur sich erhebende Geist […] keineswegs ein der Natur widerwärtiger und ihr feindlicher Geist« sei. Und zwar deshalb nicht, weil alles außer Gott der Natur angehöre und »nur im Zusammenhange mit ihr bestehen« könne ( JWA 3, 103). 6
Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur, Hamburg 2008, S. 240 u. 242.
Zum Naturbegriff bei Jacobi und Kant
Überlegungen zur konstitutiven Verbundenheit des konkreten Ich mit der organischen Natur seines Körpers finden sich dabei insbesondere im letzten Drittel des David Hume, der der Bekräftigung der Darstellung von Jacobis Position durch die ausführliche Berufung auf Leibniz dient. Sie sind mithin drei Jahre vor Kants Kritik der Urteilskraft entstanden. Es sei schon eine zentrale Überzeugung von Leibniz gewesen, so Jacobi ganz affirmativ, dass es kein »›vernünftiges Geschöpf ohne irgend einen organischen Cörper‹« gebe ( JWA 2,1, 73). Die »mit einem Leibe vereinigte Entelechie« sei nach Leibniz »ein Unum per se«, eine ursprüngliche innerliche, wahrhaft »objectiv[e]« und »real[e]« Einheit ( JWA 2,1, 74 f. u. 81). Dabei bestimmt schon Jacobi unter Berufung auf Leibniz als zentrales Merkmal des organischen Wesens als unum per se die Beziehung von Ganzem und Teilen, allerdings so, und das scheint mir als Differenz zur Naturteleologie der Kritik der Urteilskraft wichtig, dass »dasjenige was seine Einheit ausmacht zuerst: das Ganze vor seinen Theilen zu denken« sei ( JWA 2,1, 82, Hervorhebungen: O.K.). Das wahrhaft gedachte Verhältnis von Ganzem und Teilen geht m.a.W. nicht im Gedanken der wechselseitigen Verursachung auf. Es sei, so Jacobi, die »einfache[] Natur des Lebens« ( JWA 2,1, 91), die die »unendliche[] Menge von Theilen«, aus der der Körper besteht, zu einer Einheit macht ( JWA 2,1, 82 f.).7 Diese einfache Natur des Lebens ist aber nichts anderes als das Ich als »reale Individualität«, »dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande mich selbst nenne, und von dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subject aller seiner Veränderungen ist« ( JWA 2,1, 83 f.). Das ist aber, und hier liegen dann die Grenzen der Berufung auf Leibniz, eine genuin praktische, sich in ihrem Handeln ursprünglich erfahrende Individualität. Diese ist zwar unabdingbar verleiblicht, ihre Identität gründet sich aber nicht auf die Wechselbeziehung mit dem Leib. Nur weil sie schon eine Einheit ist, kann sie auch den organischen Teilen zum Einheitsprinzip werden; sie ist aber eben nicht nur wie der Naturzweck Begriff dieser Einheit. Die wahre, d. i. nichtmechanische Einheit des organischen Leibes ist nach Jacobi m. a. W. seine tatsächliche Funktionalität für das freie Handeln eines konkreten Menschen, nicht seine natürliche Selbstorganisation.
7 Zur
zentralen Rolle des Lebensbegriffs und seine über den naturphilosophischen Rahmen genuin und ursprünglich hinausgehende lebensweltlich-praktische Bedeutung bei Jacobi und in der nachkantischen Philosophie im Ganzen vgl. Birgit Sandkaulen: »Der Begriff des Lebens in der Klassischen Deutschen Philosophie – eine naturphilosophische oder lebensweltliche Frage?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67,6 (2019), S. 911–929.
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Catia Goretzki
Jacobis Denken im Spannungsfeld des Kantischen Theismus-Begriffs
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ie Beziehung des Jacobischen Denkens zum Theismus-Begriff Kants näher zu untersuchen heißt, die philosophische Entwicklung dieses Denkens in den Blick zu nehmen, insofern sie zu demjenigen Punkt hinführt, an dem dieser Begriff konstitutiv für Jacobis Gottesverständnis wird. Das bedeutet nun keineswegs, dass der Begriff des Theismus für ihn zuvor keine Rolle gespielt habe, es bedeutet vielmehr, dass er ihn ehedem verwendet habe, um seine Position von einer philosophisch-theologischen Tradition abzugrenzen, die seiner Theorie zufolge lediglich das tote Konstrukt eines höchsten Wesens beinhaltet. Die Rede ist von der Tradition des Deismus, insbesondere derjenigen des englischen Deismus des 17. Jahrhunderts. Das wirft natürlich sogleich die Frage auf, inwiefern Jacobi seine Distanz zum Deismus ausgerechnet durch einen Begriff markiert, der doch ohnehin in einem signifikanten Gegensatz dazu steht: Denn dem geläufigen Verständnis zufolge bezeichnet der Theismus eine Position, die Gott zwar als verschieden von seiner Schöpfung, aber gleichwohl als in einem immanenten Verhältnis zu ihr verbleibend denkt, während der Gott des Deismus sich nicht nur von der durch ihn geschaffenen Welt unterscheidet, sondern auch in ein äußerliches Verhältnis zu seiner Schöpfung tritt, d. h. mit dem Weltgeschehen in keiner Weise mehr in Beziehung steht. Diese deutliche Abgrenzung des Theismus vom Deismus ist jedoch keineswegs charakteristisch für die schon genannte englische deistische Epoche; und auch für die Religionskritik der Aufklärung im Frankreich des 18. Jahrhunderts spielt sie keine Rolle. Das zeigt sich zum einen auf der rein terminologischen Ebene: Deismus und Theismus werden schlicht synonym gebraucht – je nachdem, ob man sich am lateinischen »deus« oder am griechischen »θεόϛ« orientiert –, und zwar sowohl von den Gegnern als auch den Vertretern des Deismus: Der antideistische Geistliche und Theologe William Nicholls (1646–1712) etwa veröffentlicht 1696 die Schrift Conference with a Theist;1 Voltaire betitelt seine Darstellung der Merkmale einer Vernunftreligion La profession de foi des théistes 1
William Nicholls: A Conference with a Theist, in five parts, London 1696.
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Catia Goretzki
(1768) (Glaubensbekenntnis des Theisten). Zum anderen wird dies aber auch in inhaltlicher Beziehung deutlich: Die für die spätere Unterscheidung von Theismus und Deismus wesentliche Frage, wie das Verhältnis Gottes zur Welt und auch der Begriff Gottes selbst zu bestimmen seien, ist, sofern sie überhaupt aufgeworfen wird, für die damalige Kontroverse um den Deismus nicht relevant. Vielmehr bezeichnen Deismus und der gleichbedeutende Theismus eine Gegenposition zum orthodoxen Christentum bei gleichzeitiger Abgrenzung gegen den Atheismus. Manche Vertreter des englischen Deismus/Theismus konzentrieren sich dabei vor allem auf die Herausstellung der wesentlichen und d. h. der vernunftkompatiblen christlichen Vorstellungsgehalte, zugunsten derer sie den Offenbarungs-, den Wunder- und Aberglauben als irreführend verwerfen oder doch zumindest als überflüssig in den Hintergrund gestellt wissen wollen. In Frankreich hingegen ist die Absetzungsbewegung gegen das Christentum grundsätzlicher Art: Dieses wird gleichsam ersetzt durch eine reine Vernunftreligion. »Après avoir jugé«, so heißt es in dem eben erwähnten theistischen Glaubensbekenntnis Voltaires, »par la raison entre la sainte & éternelle religion du théisme, & les autres religions si nouvelles, si inconstantes, si variables dans leurs dogmes contradictoires, si abandonnées aux superstitions, qu’on les juge par l’histoire & par les faits«.2 Es folgt ein sehr geraffter Abgleich des vernunftbasierten Theismus mit den Widersprüchlichkeiten und Schismen im Christentum, Islam, Judentum und in einigen anderen, z. T. schon untergegangenen Religionen, den Voltaire mit der Bilanz beschließt: »le théisme seul est resté debout parmi tant de vicissitudes, & dans le fracas de tant de ruines immuable comme le Dieu qui en est l’auteur & l’objet éternel.«3 Theismus steht also ebenso wie der Deismus für die Position der Vernunftreligion, und Vernunftreligion ist die Restriktion der positiven, historischen Religionen auf ihre rational einzusehenden und somit in der Natur des vernünftigen Wesens Mensch verankerten Inhalte. Dieses Rationalisie2
Voltaire, Profession de foi des théistes, in: Oeuvres complètes de Voltaire. Tome trentedeuxieme, [Kehl] 1784, S. 349–378: S. 372. (Vgl. Voltaire, Glaubensbekenntnis des Theisten, in: Kritische und Satirische Schriften, hrsg. von Karl August Horst, Darmstadt 1984, S. 466– 490: S. 485: »Nachdem wir uns über die heilige und einzige Religion des Theismus und über die anderen Religionen, die so neu, so unbeständig, durch ihre widersprüchlichen Dogmen so wandelbar, allen Formen des Aberglaubens so preisgegeben sind, vom Standpunkte der Vernunft ein Urteil gebildet haben, wollen wir sie an der Geschichte und an den Tatsachen messen«.) 3 Ebd., S. 373. (Vgl. Voltaire: Glaubensbekenntnis, S. 486: »Inmitten so vieler Wechselfälle und im Tumult so zahlreicher Untergänge und Zerstörungen ist allein der Theismus bestehen geblieben, unwandelbar wie der Gott, der sein Schöpfer und gleichzeitig seine ewige Bestimmung ist.«)
Jacobis Denken im Spannungsfeld des Kantischen Theismus-Begriffs
rungsprogramm verfechten auch diejenigen Vertreter des Deismus, die dem Christentum enger verhaftet bleiben, weil sie, im Vergleich zu den Inhalten anderer positiver Religionen, eine größere Affinität der christlichen Inhalte zur Vernunft- oder natürlichen Religion zu erkennen meinen. Dies gilt z. B. für Matthew Tindal (1657–1733), einen Hauptvertreter des englischen Deismus. Seine wichtigste Schrift, die zugleich als »the Deist’s Bible« gehandelt wird, zeigt schon im Titel die Engführung von Vernunftreligion und Chris tentum. Er lautet: Christianity as old as the Creation: Or, the Gospel a Republication of the Religion of Nature.4 Gleichwohl lässt auch Tindal keinen Zweifel daran, dass die Inhalte der Vernunftreligion dem Menschen unabhängig von den Lehren der christlichen Religion zugänglich sein und damit – wie vermittelt auch immer – jeder positiven Religion zugrunde liegen müssen. Und kennzeichnend für diese vernunftgeleitete Herausarbeitung religiöser Kerngehalte ist häufig eine Fokussierung auf moralische Grundsätze, ob diese nun orientiert am Christentum oder mit Blick auch auf andere historische Religionen erfolgt.
I.
Vor diesem historischen Hintergrund wird nun plausibel, inwiefern Jacobi sich mittels des Begriffs des Theismus von derjenigen geistigen Tradition abgrenzen kann, die uns heute unter dem Terminus Deismus sehr viel geläufiger ist. Doch über die terminologische Klärung hinaus ist damit auch derjenige inhaltliche Aspekt des Deismus/Theismus in den Vordergrund getreten, von dem Jacobi sich rigoros abgrenzt, nämlich der Anspruch auf eine Religion aus reiner Vernunfterkenntnis. Doch bevor diese für ihn so essentielle antideistische Einstellung weiterverfolgt wird, darf nicht unterschlagen werden, dass sein Denken andererseits zwei wichtige mit dem Deismus übereinstimmende Merkmale aufweist: Erstens spricht Jacobi sich deutlich gegen die Offenbarungsreligion aus. Ihm zufolge vermögen äußere Erscheinungen, welcher Art auch immer, keine Gotteserfahrung zu stiften; eine Beziehung zu Gott kann der Mensch vielmehr nur aus dem Innersten seines Selbst entwickeln. Diesen zentralen Gedanken einer gleichsam seelenimmanenten Offenbarung, den Jacobi in seiner späten Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung5 so emphatisch und in Opposition zu dem auf Kulte bezogenen 4
Matthew Tindal: Christianity as old as the Creation: Or, the Gospel a Republication of the Religion of Nature, London 1730. 5 Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, Leipzig 1811, in: JWA 3.
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religiösen Materialismus formuliert,6 unterstreicht er durch das Bekenntnis, kein historischer Christ zu sein, das er in einem Brief an Johann Georg Schlosser ablegt (von diesem Brief, den Schlosser ihm gezeigt habe, berichtet Friedrich Leopold Graf zu Stolberg am 2. November 1796 Fürstin Amalia von Gallitzin7). Er artikuliert ihn aber auch schon sehr früh in einem – in französischer Sprache geschriebenen – Brief vom 17. Juli 1771 an Franz von Fürstenberg, für dessen reformpädagogisches Konzept, das Kurt Christ einleuchtend als deistisch-moralphilosophischen Ansatz bezeichnet, Jacobi sich begeistert: »C’est un bien beau triomphe pour la saine raison et la vraie philosophie, que ce principe que Vous etablissez; qu’on doit enseigner separement dans les colleges la morale naturelle ou philosophique, et la morale chretienne. Lorsqu’on batit le sisteme de nos obligations uniquement sur la religion revelée, on detruit presque toujours le germe precieux de la moralité dans le coeur des enfans. Selon cette methode, au lieu de leur faire puiser les idées de vertu dans la nature de l’homme, ils apprennent à n’en regarder les preceptes que comme des émanations de la volonté arbitraire d’un être puissant. Et comment deviendroient-ils reellement bons, quand on ne leur presente d’autre motif pour s’empecher de mal faire, que la crainte des punitions; quand les excercices de pieté sont confondus dans leur tete avec les devoirs les plus essentiels de l’humanité, et que même l’infraction 6
Jacobi sieht sich andererseits jedoch genötigt, die, wie er es nennt, »äußere Gestalt«, durch welche Menschen einen Gottesbezug entwickeln und sich darin erhalten, nicht grundsätzlich als Objekt der Götzenanbetung zu verwerfen. Denn er muss nicht nur zugestehen, dass solche »äußere Gestalt« – religiöse Bildmotive, Naturerlebnisse als Gotteserfahrung u.ä. –, sofern sie als »Mittel der Einbildungskraft« fungiert (JWA 3, 46), als Ausdruck des individuellen Menschen zu respektieren ist; er weiß auch, dass sich der Mensch, dessen Wesen durch das Sinnliche ebenso wie durch das Geistige bestimmt ist, ohne Gestalten und Anschauungen nichts zu erschließen vermag: »Kann wohl irgend eine Erkenntniß, Tugend oder Schönheit gestaltlos zu uns kommen; sich uns ohne Offenbarendes offenbaren? – Und das Unmögliche gesetzt: wir empfiengen ihren Begriff. Würden wir ihn allein, abgesondert von aller Gestalt – diesen anschauungslosen, Nichts darstellenden Begriff, in uns aufstellen und bewahren können – würde er in uns etwas seyn, das uns lebendig machte und mit Lebendigen vereinigte?« (Ebd., 51) Dies aber bedeutet doch, dass das Gestalthafte der Gotteserfahrung nicht äußerlich, sondern vielmehr ein wesentlicher Bestandteil derselben ist. Jacobi zeigt in diesem Punkt eine ambivalente Haltung, die besonders scharf in seinem Verhältnis zur Christologie hervortritt: Einerseits widerstrebt es ihm, dass »im achten und neunten Jahrhundert« aus dem Gedanken des Gottmenschentums die Verpflichtung abgeleitet wurde, »der Gottheit Christi und seiner leiblichen Gestalt die gleiche Ehrfurcht und Anbetung« zuzuerkennen und als Konsequenz daraus einen »Bilderdienst« zu etablieren (ebd., 47); andererseits ist für ihn selbst das Menschentum und die damit wesentlich verbundene Leiblichkeit Christi von grundlegender Bedeutung, wie unten noch gezeigt werden wird. 7 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe, hrsg. von Jürgen Behrens, Neumünster 1966, S. 333.
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de ceuxci peut être reparée par des observances, qui semblent n’avoir aucun rapport direct avec la moralité. Puis, si jamais leur croyance vient à vaciller, ils n’ont plus alors de devoirs, toute leur morale a disparue.« (JBW I,1, 118 f.)8
Diese Zeilen illustrieren allerdings nicht nur Jacobis Distanz zum Offenbarungsglauben, sie verweisen auch zugleich auf das zweite Merkmal, welches sein Denken mit deistischen Positionen verbindet: auf die dem Menschen als natürliche Anlage gegebenen »Ideen der Tugend«. Auch der Deist sucht die Quelle von Tugendideen oder moralischen Grundsätzen in der – von Gott geschaffenen – Natur des Menschen und nicht in den äußerlich vermittelten ethischen Wertekatalogen positiver Religionen. Jedoch versteht er unter dem natürlichen Sitz der Moralität, anders als Jacobi, nicht die »saine raison« als Innerlichkeit des »Herzens«, sondern die Vernunft als diskursives Erkenntnisvermögen.
II.
Damit ist der Bogen zurückgeschlagen zu demjenigen deistischen Merkmal, von dem Jacobi sich dezidiert abgrenzt, und zwar, wie gesagt, zunächst unter dem Stichwort »Theismus«, das ihm übrigens Moses Mendelssohn vorgibt: In der gegen Jacobi gerichteten Schrift An die Freunde Lessings von 1786 bezeichnet Mendelssohn Lessing als Vertreter des Theismus, insofern er ein »Ver theidiger […] der Vernunftreligion«9 sei. In diesem Sinne greift Jacobi dann den Begriff des Theismus in seiner Erwiderung Wider Mendelssohns Beschul8 Vgl.
die deutsche Übersetzung in Kurt Christ: Friedrich Heinrich Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis, Würzburg 1998, S. 159 f.: »Das von Ihnen etablierte Prinzip, in den einzelnen Stufen die natürliche oder philosophische Moral getrennt von der christlichen Moral zu lehren, ist ein sehr schöner Triumph für den unverdorbenen Geist und die wahre Philosophie. Wenn man den Pflichtenkatalog allein auf die Offenbarungsreligion baut, so zerstört man fast immer die kostbare Quelle der Moralität im Herzen der Kinder. Gemäß dieser Methode lernen sie die Gebote nicht anders anzusehen als aus dem willkürlichen Willen eines mächtigen Wesens hervorgegangen, anstatt die Kinder die Ideen der Tugend aus der Natur des Menschen schöpfen zu lassen. Und wie sollen sie wirklich gut werden, wenn man ihnen keinen anderen Beweggrund vorstellt als die Furcht vor Strafen, wenn Frömmigkeitsübungen in ihrem Kopf verwechselt werden mit den zuhöchst essentiellen Geboten der Menschlichkeit und wenn selbst deren Übertretung durch eine Satzung wieder gut gemacht werden kann, die keinen direkten Bezug zur Moralität aufzuweisen scheint. Weiter noch, sollte je ihr Glaube schwankend werden, so haben sie dann keinen Halt mehr, und all ihre Moralität ist dahin.« 9 Moses Mendelssohn: An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobis Briefwechsel über die Lehre des Spinoza, Berlin 1786, S. 3.
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digungen10 auf. Und am 19. Mai 1786 formuliert er in einem Brief an Franz Bucholtz unmissverständlich: »Der Gott der Theisten ist nichts anderes, als die vergötterte menschliche Vernunft; ihr Ideal.« ( JBW I,5, 213) Worin aber ist der Grund der gegen das Konzept der deistischen Vernunftreligion gerichteten heftigen Ablehnung Jacobis eigentlich zu suchen? Um dies zu verstehen, muss geklärt werden, wie Jacobi den Vernunftbegriff entwickelt. Ganz im Sinne Kants definiert er 1788 in seinen Betrachtungen über den frommen Betrug die Vernunft als »von dem Menschenverstande abgesondert, für sich allein […] [als] ein bloßes Vermögen, mittelbar zu schließen.«11 Und sofern Vernunft sich bei ihren Operationen darauf beschränkt, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, ist sie unabhängig vom Verstand auch autark. Geht es aber darum, Erkenntnisse der äußeren Welt zu gewinnen, so ist sie auf Datenlieferung durch den »mit der Anschauung unzertrennlich vereinigte[n] Menschenverstand« ( JWA 5,1, 113) angewiesen. Komplizierter wird es, wenn es um das Erkenntnisbedürfnis im Hinblick auf Dinge geht, die kein Gegenstand der äußeren sinnlichen Wahrnehmung sind: Die Frage nach dem Ganzen der Natur, der Stellung des Menschen in ihr und ihrem Urgrund stellt die Vernunft, zumindest wenn sie redlich bleibt, vor unlösbare Schwierigkeiten. Übersieht sie diese Schwierigkeiten und versteigt sich zu willkürlichen Begriffskonstruktionen eines Urwesens und zu vermeintlichen Beweisen seines Daseins, so ist mit Kant die Diagnose zu stellen, dass die Vernunft anmaßend, weil überschwänglich und damit, wie Jacobi hinzufügt, »ungesund[]« ( JWA 5,1, 113) wird, zur »perversa ratio« mutiert (ebd., 112). Welche Konsequenz ist aber nun aus dieser Problemlage zu ziehen? Muss Gott, wie Kant in seiner theoretischen Philosophie konstatiert, ein problematischer Begriff bleiben, dem lediglich regulative Funktion zuzuerkennen ist? Jacobi weist dies zurück, weil es in der Konsequenz bedeute, aus dem unbedingten göttlichen Wesen eine Zwittergestalt zu machen, indem seine nicht zu erweisende Realität in eine bloße Idealität umgekehrt, aus dem wahrhaft Unbedingten ein bloß erdichtetes und damit ein »Trugbild« des Unbedingten gemacht werde ( JWA 3, 110). Ist dann aber nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, die Annahme der Exis tenz Gottes als unzumutbar zurückzuweisen? Für Jacobi stellt dies bekanntlich keine Möglichkeit dar; er beschreitet sehr dezidiert einen anderen Weg, und zwar einen Weg, der das in Aporien führende demonstrierende Denken 10
Friedrich Heinrich Jacobi wider Mendelssohns Beschuldigungen betreffend die Briefe über die Lehre des Spinoza, Leipzig 1786, in: JWA 1,1, [269]–331. 11 Friedrich Heinrich Jacobi: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist (1788), in: JWA 5,1, 113.
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verlässt und in die Innerlichkeit, d. h. in das geistige Selbst des individuellen Menschen führt. Unter Geist versteht Jacobi die menschliche Vernunft, sofern sie die unabhängig von ihr bestehende Natur, auf die sie sich durch die Anschauungen des Verstandes bezieht, als hervorgebracht durch ein unbedingtes Wesen und dadurch sich selbst als »Abdruck der Natur und ihres Urhebers« ( JWA 5,1, 114) erfasst. M.a.W.: Geist ist nicht nur die Erkenntnis des Menschen, dass das Unbedingte durch das demonstrierende Denken seiner Vernunft nicht zu erkennen ist, sondern auch und vor allem die sich im Menschen entfaltende Gewissheit, dass sein Vernunftvermögen in Gott als dem Unbedingten gründet und unmittelbar von ihm zeugt: »Wir besitzen sie [sc. die Vernunft] nicht«, so heißt es in den Betrachtungen über den frommen Betrug weiter, »als ein Eigenthum, sondern nur Lehnsweise, wie unser Leben, unser persönliches Bewußtseyn, unsere ganze Existenz«; unsere Vernunft ist also »kein Apoll, sondern nur die Priesterin des Gottes« (ebd.).12 Jacobi versucht nun ausgehend von der einzigartigen Beschaffenheit des Menschen, sowohl natürliches als auch geistiges Leben und damit wesentlich durch einen fundamentalen Gegensatz belastet zu sein, die Implikationen dieser schwierigen Ausgangslage menschlicher Existenz zu analysieren. Er stellt dabei zunächst einmal fest, dass wir, entsprechend unserer Doppel- und Gegensatzstruktur, in zweifacher Weise ausgerichtet sind: durch unsere Sinnlichkeit nach außen auf die Objektwelt und andere lebendige Wesen, durch unseren Geist nach innen konzentriert und um unser Selbst wissend. Zwischen Objekt- und Selbstbezogenheit besteht den Erörterungen des Gesprächs über Idealismus und Realismus zufolge eine unauflösliche Wechselbeziehung, die gleichwohl nicht so misszuverstehen ist, dass Selbst und äußere Welt nicht auch Wirklichkeiten für sich darstellten: »Wie sehr nun auch, das Individuum 12
Die Unterscheidung der Vernunft als des diskursiven Vermögens von der Vernunft als dem Organ unmittelbarer Gewissheit des Unbedingten wird Jacobi ein Jahr später in der Beilage VII der 2. Auflage seiner Briefe über die Lehre des Spinoza ausgehend von der Frage: »hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?« schärfer konturieren und zum Begriff des Geistes in Beziehung setzen: »Versteht man unter Vernunft«, so führt er dort aus, »die Seele des Menschen, nur in so fern sie deutliche Begriffe hat, mit denselben urtheilet, schließt, und wieder andre Begriffe oder Ideen bildet: so ist die Vernunft eine Beschaffenheit des Menschen, die er nach und nach erlangt, ein Werkzeug, dessen er sich bedient, sie gehört ihm zu.« (JWA 1,1, 259) Dieser instrumentellen Vernunft, die der Mensch hat und die Jacobi mit dem Verstand gleichsetzt, stellt er die Vernunft, die den Menschen hat, gegenüber: »Versteht man aber unter Vernunft das Prinzip der Erkenntniß überhaupt; so ist sie der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist: durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen hat.« (Ebd., 260)
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von aussen her bestimmt werden mag, so kann es doch nur zufolge den Gesetzen seiner eigenen Natur bestimmt werden, und bestimmt sich in so fern also selbst. Es muß schlechterdings etwas für sich seyn, weil es sonst nie etwas für ein anderes seyn, und diese oder jene zufällige Bestimmung annehmen könnte«.13 Entscheidend für Jacobis Existenzanalyse ist, dass in der Wirklichkeit, dem Insich- und Selbstsein des Individuums ganz unabhängig von der Objektwelt ein Empfinden und Streben, ein Leben sich regt, das von seiner sinnlichen Natur, seinen Neigungen und Begierden fortdrängt. Es ist dasjenige Streben, das Jacobi den Grundtrieb oder die Bestimmung des Menschen nennt, »über das seinem Wesen beygemischte Thierische sich mit dem Geiste zu erheben« ( JWA 3, 62). Einen solchen über das Sinnliche hinausdrängenden Grundtrieb anzunehmen hat insoweit Plausibilität, als der Geist diejenige Instanz ist, die auf Allgemeines zielt und dadurch den Menschen notwendig in eine Distanz und gegebenenfalls auch Opposition zu seiner Natürlichkeit, und d. h. ja doch Einzelheit bringt. Anders ausgedrückt: Als geistiges, sich selbst wissendes und reflektierendes Wesen wird dem Menschen seine sinnliche Triebstruktur, sein ausschließlich in seine Einzelheit verstricktes Selbst suspekt. Und insofern geht Jacobi mit einem gewissen Recht davon aus, dass uns als geistigen Wesen so etwas wie eine tugendhafte oder sittliche Kraft inhäriert, die die Forderung enthält, den Blick von sich selbst auf anderes Leben, vom Ich auf ein Du zu richten, d. h. sich auf ein Allgemeines zu besinnen. Zugleich bedeutet für ihn dieses geistbezogene Sein des Menschen aber den höchsten Ausdruck, die tiefste Erfahrung seiner Individualität, die tiefste Erfahrung dessen, was er so emphatisch Persönlichkeit nennt. In der Konsequenz läuft das auf den nicht leicht nachzuvollziehenden Gedanken hinaus, dass der ausgeprägteste Ausdruck von Individualität einhergeht mit der höchstmöglichen Abstraktionsfähigkeit des Menschen von seiner sinnlichen Natur, seiner Einzelheit, die doch zugleich konstitutiv für seine Individualität ist. Und es ist dieser Weg des Menschen hinein in sein geistiges Selbst, dieser Prozess der Individualitätsausprägung durch Zurückdrängung ihrer natürlichen Seite, der Jacobi zufolge die Voraussetzung für Gotteserfahrung darstellt: Durch Anwendung unserer dem Geist entspringenden sittlichen Kräfte im Handeln werden wir uns des Göttlichen in uns bewusst. Es ist die Geburt Gottes im Menschen, die zugleich »zeugt von einem Allerhöchsten außer ihm« ( JWA 3, 65) – Jacobis Gedanke einer immanenten Offenbarung, die er der äußeren Offenbarung des historischen Christentums entgegensetzt. 13
David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch von Friedrich Heinrich Jacobi, Breslau 1787, in: JWA 2,1, 56.
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Ob diese immanente Offenbarung aber tatsächlich dem deistischen Konzept einer Vernunftreligion so diametral entgegengesetzt ist, erscheint fraglich. Das Innewerden und Realisieren moralischer Kräfte in uns durch Bezugnahme auf unsere geistige Struktur und d. h. ja wesentlich auch auf unser Denken ist doch so weit nicht entfernt von einer deistischen Herleitung moralischer Grundsätze aus der Vernunft als eines diskursiven Erkenntnisvermögens des Menschen. Dass Jacobi die Vernunft im Sinne des in seinem Brief an Fürstenberg verwendeten Ausdrucks vom Herzen als ein individuelles intuitives Erfassen einer unbedingt geltenden sittlichen Struktur versteht, die den Menschen auf ein höchstes ihn bedingendes Wesen verweist, ist nicht nachzuvollziehen; zum einen, weil das geistige Prinzip damit willkürlich transformiert wird in eine persönliche, vom Menschen verschiedene Instanz, zum anderen, weil dadurch das Streben zum Geistigen, das doch ins Innerste des Menschseins führt, das Menschsein transzendiert. Diese Modifikation des Vernunftbegriffs in Jacobis Konzept einer immanenten Offenbarung ist nicht schwer zu erklären: Beließe er es bei einem Gegensatz des Geistigen und Natürlichen im Menschen, so ließe sich entweder nur noch eine abstrakte, inhaltlich nicht näher bestimmte unbedingte Ursache der Welt annehmen oder man müsste voraussetzen, dass das Geistige selbst eine, wenn auch komplexe, Wirksamkeit des Natürlichen wäre. Die letztere Position erledigt sich für Jacobi von selbst, weil damit Freiheit des Menschen nicht mehr zu legitimieren ist; und die Annahme einer abstrakten Weltursache weist er als unlebendiges Konstrukt, als »ein bloßes IST und absolutes Nicht-Ich« ( JWA 3, 75), zurück.
III.
Jacobis vehemente Verteidigung eines lebendigen Gottes, und das ist für ihn ein Gott, dem Persönlichkeit, Freiheit, Verstand, Willen zukommen und der die Welt aus Liebe erschaffen hat, erfährt schließlich durch Kant eine entscheidende Bestätigung. In der Kritik der reinen Vernunft, mit der Jacobi während der Ausarbeitung seines Gesprächs über Idealismus und Realismus sich intensiv zu beschäftigen beginnt, stößt er auf eine Stelle, an der Kant nicht nur eben diesen Begriff eines lebendigen Gottes erläutert, sondern im Sinne dieses Begriffs auch eine folgenreiche Unterscheidung trifft. In Einige Betrachtungen über den frommen Betrug verweist Jacobi auf diese Stelle (vgl. JWA 5,1, 116 Fn.):
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»Da man unter dem Begriffe von Gott nicht etwa bloß eine blindwirkende ewige Natur, als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, zu verstehen gewohnt ist, und auch dieser Begriff allein uns interessiert, so könnte man, nach der Strenge, dem Deisten allen Glauben an Gott absprechen, und ihm lediglich die Behauptung eines Urwesens, oder obersten Ursache, übrig lassen. Indessen, da niemand darum, weil er etwas sich nicht zu behaupten getrauet, beschuldigt werden darf, er wolle es gar leugnen, so ist es gelinder und billiger, zu sagen: der Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott (summam intelligentiam).« (A 632 f . / B 660 f.)
Diese Neudefinition des Begriffs des Theismus greift Jacobi auf, so dass von nun an seine Unterscheidung des lebendigen und unlebendigen Gottes mit der Unterscheidung von Theismus und Deismus zusammenfällt.14 Im Kontext der Betrachtungen über den frommen Betrug wird über die Neubestimmung des Theismus hinaus auch eine andere begriffliche Differenzierung zwar nicht neu eingeführt, aber dafür schärfer konturiert: Jacobi hatte schon im Kontext seiner Briefe über die Lehre des Spinoza und seiner Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn von einem speziellen Typus des Deisten gesprochen, den er durch die Bezeichnung des »rechtgläubigen Deisten« positiv vom dem ansonsten pejorativ gebrauchten Begriff des einfach »Deist« genannten Typus absetzt: »Ehe mir Leßings Meynungen auf die bisher erzählte Weise bekannt geworden«, schreibt er in den Spinozabriefen, »und in der festen Ueberzeugung, die sich auf Zeugnisse stützte; Leßing sey ein rechtgläubiger Deist, war mir in seiner Erziehung des Menschengeschlechts einiges ganz unverständlich«.15 Auch in Bezug auf Moses Mendelssohn sagt er in einem Brief an Herder vom 13. November 1784: »Was mir bei der Sache gefällt, ist, daß er nicht weiß, bin ich ein Atheist, oder bin ich ein 14
Dass diese Unterscheidung in der Editionsgeschichte seiner Schriften von diesem Zeitpunkt an gleichwohl nicht konsequent berücksichtigt wird, weil lange gebrauchte Terminologien auch dann, wenn sie schon nicht mehr in Geltung sind, hier und da noch wirksam sein können, zeigt sich an der Neuauflage der Betrachtungen über den frommen Betrug im 2. Band der von Friedrich Roth und Friedrich Köppen herausgegebenen Werke Jacobis, der 1815 erscheint: Hier wird an mehreren Stellen, an denen deutlich Bezug auf den Kontext der Vernunftreligion genommen wird und an denen folglich vom Deismus bzw. vom Deisten gesprochen werden müsste, der Begriff des Theismus bzw. Theisten unausgesprochen in seiner alten synonymen Bedeutung verwendet. Dieser sinnverwirrende Rückfall in die alte überholte Terminologie ist in der Edition der Betrachtungen über den frommen Betrug in JWA 5,1 durch den Variantenapparat angezeigt. 15 Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, 21789, in: JWA 1,1, 39.
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Christ? Beides ist ihm fatal. Im Grunde aber hält er mich für einen Christen, der aus bloßer christlicher Bosheit dem rechtgläubigen Deisten [sc. Moses Mendelssohn] eine unangenehme Stunde machen will.« ( JBW I,3, 385) Warum Jacobi Mendelssohn für einen »rechtgläubigen Deisten« hält, wird deutlich aus einer Stelle seiner Schrift Wider Mendelssohns Beschuldigungen, an der er auf folgende Passage aus dessen Werk Jerusalem repliziert: »Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben«, so Mendelssohn, »ist Menschenliebe eine angebohrne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Gekerey«.16 Über eine solche Position Mendelssohns als einem dezidierten Verfechter der Vernunft- oder natürlichen Religion ist Jacobi verwundert. Er habe, so schreibt er, »nie begreifen können, wenn ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben, ein solches Wohlwollen nur Geckerey, und Menschenliebe eine angebohrne Schwachheit sey – wie wir dann, natürlicher Weise, zu einer solchen Gottes Erkenntniß gelangen können, durch welche das Wohlwollen aufhört, eine Geckerey zu seyn, und Tugend anfängt, vernünftig zu werden« ( JWA 1,1, 313). Rechtgläubig ist Mendelssohn also, weil er über den Begriff eines lebendigen Gottes verfügt – denn seinem Gott kommt ja Vorsehung und damit auch Allmacht und Allwissen zu; Deist aber ist er nach Jacobis Verständnis, weil er versucht, Gewissheit über diesen lebendigen Gott auf dem Weg von Gottesbeweisen, also auf dem Weg der Demonstration, zu erlangen. Einen Prototypen des »rechtgläubigen Deisten« skizziert Jacobi schließlich auch in den Betrachtungen über den frommen Betrug, ohne ihn dort freilich noch ausdrücklich so zu bezeichnen. D.h. er erkennt diesem Prototypen durchaus die Setzung eines Gottes zu, der frei, vernünftig und voraussehend, also ein lebendiger Gott, ist, aber er kritisiert auch hier wieder den Anspruch, Gewissheit von Gott auf dem Weg des Gottesbeweises zu erlangen und insofern den Glauben als überflüssig zu verwerfen. Die Lebendigkeit des Gottesglaubens bemisst sich für Jacobi also nicht allein daran, mit welchen Attributen das göttliche höchste Wesen versehen wird, sondern ebenso sehr an der Weise, in der wir des göttlichen Wesens inne werden: Und diese kann ihm zufolge nicht darin bestehen, dass wir uns auf die instrumentelle Vernunft bzw. den Verstand beziehen und versuchen, Gottes Dasein durch Schlussoperationen zu erweisen, die, wie Kant schließlich zeigt, in der Durchführung unzureichend sind, sondern einzig darin, dass wir über unsere sittliche Natur die Vernunft für Gott als den Grund des Geistes öffnen und sie als das erkennen, was sie wahrhaft ist: Eingebung.
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Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, Berlin 1783, S. 70. – Jacobi wider Mendelssohns Beschuldigungen, in: JWA 1,1, 313.
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Der bei Jacobi ausschließlich negativ besetzte Typus des Deisten, den man, einen Terminus aus seinen Kladden aufgreifend, in Absetzung zum »rechtgläubigen Deisten« vielleicht als »reinen Deisten« bezeichnen könnte, verfehlt Gott nicht nur durch den Anspruch, ihn demonstrierend zu erweisen, sondern auch dadurch, dass sein Gott jenes unbestimmte, tote Abstraktum ist, von dem schon die Rede war. Wiederum in den Betrachtungen über den frommen Betrug bringt Jacobi im Rahmen einer an Kant orientierten, sehr bündig ausfallenden Kommentierung der Gottesbeweise diesen reduzierten Gottesbegriff insbesondere mit denjenigen Ansätzen in Verbindung, die sich des kosmologischen Beweises bedienen: Dieser Beweis, so merkt er an, »wenn man ihn auch seiner erwiesenen Gebrechen ungeachtet gelten ließe, liefert doch nur eine naturam naturantem, aus der keine rednerischen oder poetischen Floskeln je einen Gott machen werden, so gerne mancher auch, auf allen Fall, der Decenz zu Liebe, ihr diesen Nahmen aufdrücken möchte« ( JWA 5,1, 114 f.). Zu dem ganz und gar unlebendigen Deismus dieser Art merkt Jacobi um 1790 in den Kladden an: »Ich sage es euch vor die Stirne, daß der reine Deismus ein leeres Hirngespinste ist, womit sich weder der Philosoph noch der gemeine Mann behelfen kann.«17 Mittels des von Kant neu definierten Begriffs des Theismus kann Jacobi nun sein eigenes theologisches Konzept durch einen spezifischen Terminus profilieren: Im Gegensatz zum »reinen Deismus« und dem »rechtgläubigen Deismus« positioniert er sich als Verfechter des Theismus.
IV.
Doch geht Jacobis Aufnahme dieses Begriffs auch einher mit einer affirmativen Rezeption der Behandlung der Gottesfrage in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft und der Postulatenlehre in der Kritik der praktischen Vernunft ? Es ist schon angedeutet worden, dass Jacobi zwar Kants Widerlegung der Gottesbeweise zustimmt, insofern auch er die Unmöglichkeit des Erweises der objektiven Realität erfahrungsüberschreitender Gedankendinge durch das Verstandesdenken anerkennt: Doch das Dasein des unbedingten Wesens als eines genuin vernünftigen Gegenstandes überhaupt von den Gesetzen des Verstandesdenkens abhängig zu machen, heißt Jacobi zufolge, die Vernunft zu Verstande zu bringen und damit das wahre 17
Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis, hrsg. von Sophia Victoria Krebs, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020, S. 32 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Nachlass. Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hrsg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Reihe I; Band 1,1).
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Wesen der Vernunft zu verkennen. Wenn Kant zudem den nicht zu demon strierenden Gott gleichwohl als transzendentales Ideal weiterbestehen lässt, weil sich »der Verstand der ihm von der Vernunft aufgedrungenen Idee des Unbedingten, als einer nothwendigen Voraussetzung bey allem Bedingten, nicht gerade zu entschlagen« kann ( JWA 3, 110), so produziere er ein »Trugbild, ein Gespenst« (ebd.), und ein Gespenst hat mit dem lebendigen Gott des Theismus naturgemäß nichts mehr gemein. Doch ist es zulässig, wegen des Mangels an objektiver Realität die regulative Funktion, die dem transzendentalen Ideal immerhin zukommt, kurzerhand als ein »Trugbild« abzutun? Schließlich überträgt Kant mit dieser Funktion der Vernunft die wesentliche Aufgabe, die Verstandesurteile in ein systematisches Ganzes zu bringen und so ihre wissenschaftliche Dignität zu gewährleisten. Und er verfolgt mit der Kritik der reinen Vernunft ja bekanntlich das Interesse, die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis aufzuzeigen. Insofern bezeichnet Jacobi ihn sicherlich zu Recht als einen »Vertreter der Wissenschaft« (ebd., 90). Aber ist er deswegen auch berechtigt, in ihm einen Vertreter »des Naturalismus wider den Theismus« (ebd.) zu sehen? Zutreffender ist es wohl, Kant als Vertreter eines Naturalismus zu verstehen, der nicht darauf zielt, dem Theismus seine Berechtigung abzusprechen. Schließlich weist er selbst die Anmaßung des Empirismus zurück, im Namen der Wissenschaft »dasjenige dreist« zu verneinen, »was« – wie das Dasein Gottes und die Freiheit des Menschen – »über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist« (A 471 / B 499). Damit entspricht Kant in jedem Fall Jacobis Forderung, »der Wissenschaft« zu geben, »was der Wissenschaft, und Gott oder dem Geiste« zu geben, »was Gottes und des Geistes ist« ( JWA 3, 90). Dass sein Vernunftbegriff in keiner Weise kompatibel ist mit Jacobis Vernunftkonzept, kann man Kant kaum vorhalten, weil Vernunft im Sinne des Vermögens der Eingebung, des Innewerdens eines unbedingten persönlichen Wesens als individuelles Erleben zweifellos zu respektieren ist, keinesfalls aber mit einem allgemeinen Geltungsanspruch verknüpft werden kann. Somit fällt die Kritik Jacobis am Kantischen transzendentalen Ideal keineswegs überzeugend aus – so beeindruckend seine Analyse anderer Problematiken der Kritik der reinen Vernunft auch ist. Völlig anders ist seine Rezeption der Postulatenlehre in Kants Kritik der praktischen Vernunft einzuschätzen, die – zu Recht – einer Destruktion derselben gleichkommt. Zum einen verweist Jacobi darauf, dass im Kantischen System die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch gerate, wenn sie das, was sie theoretisch der Möglichkeit nach als unerweislich gelten lassen müsse, in praktischer Hinsicht doch wieder mit Realität ausstatte. »Müssen wir nicht«, so fragt Jacobi, »scheiden von jedem Gedanken der Objectivität unsrer prak-
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tischen Ideen; giebt es eine objective Regeneration derselben durch ein lückenbüßendes Postulat? Die Ideen von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit haben ja nicht einmal Anspruch auf den Rang einer bloßen Hypothese!«18 Noch desas tröser fällt jedoch die Diagnose aus, dass das von Kant praktisch postulierte Dasein eines Gottes, der ja gerade seiner Definition zufolge ein lebendiger Gott sein solle, für das irdische Leben des Menschen keine Relevanz habe. In der Tat wird Gott im Kontext der Kantischen Ethik nur gebraucht, um einen Ausgleich zu schaffen zwischen der Tugendhaftigkeit des Menschen und der ihr entgegenarbeitenden Befriedigung seiner sinnlichen Neigungen, die seine Glückseligkeit ausmacht: Das Maß an Glückseligkeit, das ihm proportional zum Maß seiner Tugendhaftigkeit zusteht, ermittelt Gott in der Rückschau auf das gelebte Leben des Einzelnen, das nur er in seiner Gesamtheit zu überschauen vermag. Sein Wirken spielt demnach für die Moralität des irdischen Menschen keine Rolle, die Vorstellung eines göttlichen Wesens ist also »zum Gebrauche der irdischen Moralität«, wie Jacobi feststellt, »eine verbotne Frucht« ( JWA 2,1, 328). Ein solcher dem irdischen Leben des Menschen ferner Gott ist aber ein dem Menschen äußerlicher, fremder Gott, der genauso unlebendig bleibt wie der abstrakte Gott des »reinen Deismus«. Und in diesem Punkt unterscheidet sich der Theismus Kants, der damit eigentlich aufhört, ein Theismus zu sein, diametral von demjenigen Jacobis. Denn seiner Vorstellung zufolge ist ja, wie gezeigt wurde, das gegen die Sinnlichkeit kämpfende Streben des Menschen hin zum Geistigen gleichbedeutend mit einer inneren Offenbarung Gottes.
V.
Paradoxerweise ist es aber wiederum Kant, der einen Begriff bereitstellt, der für diesen von Jacobi geltend gemachten Gott-Mensch-Bezug im Geistigen konstitutiv wird. Und es sind wieder seine Betrachtungen über den frommen Betrug, in denen er sich nachdrücklich auf diese Stelle bezieht: »Zugleich verweise ich auf Kants Prolegomena, […] wo mit hohem philosophischen Geiste und bewundernswürdigem Scharfsinne, zwischen absolutem Anthropomorphismus und Atheismus (oder Deismus) ein Weg durch symbolischen Anthropomorphismus gezeigt wird, welcher als der einzige erscheint, und die größte Aufmerksamkeit verdient.« ( JWA 5,1, 119 Fn) Kant entwickelt diesen Unter18
Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben (1802), in: JWA 2,1, 323 f.
Jacobis Denken im Spannungsfeld des Kantischen Theismus-Begriffs
schied des »absoluten« oder, wie er selbst sagt, »dogmatischen Anthropomorphismus« vom »symbolischen Anthropomorphismus«, um das von David Hume in seinen postum erschienenen Dialogues Concerning Natural Religion19 formulierte Problem zu lösen, dass der theistische Gott notwendig anthropomorph gedacht und damit in sich widersprüchlich sei, ohne diesen Anthropomorphismus jedoch auf den unbestimmten deistischen Gott reduziert werde. Mit einem »symbolischen Anthropomorphismus«, der nur in Bezug auf das Verhältnis der Welt zu Gott, nicht aber in Bezug auf Gott selbst, der objektiver Erkenntnis nicht zugänglich ist, zur Anwendung kommt, will Kant den Begriff des theistischen Gottes sichern. Dass Jacobi allerdings diesen »symbolischen Anthropomorphismus« für seine Konzeption der immanenten Offenbarung adaptiert, ist verwunderlich. Denn der Geist im Menschen ist nicht nur ein dem Geist Gottes ähnlicher Geist, vielmehr ist der menschliche Geist Geist von Gottes Geist. Insofern ist Jacobis Theismus eigentlich nicht durch einen »symbolischen Anthropomorphismus«, sondern durch einen Anthropomorphismus charakterisiert, der zwar nicht im Kantischen Sinne dogmatisch, aber ein Anthropomorphismus ist, dem ebenso sehr ein »Theomorphismus« korrespondiert: Denn »[d] en Menschen erschaffend theomorphisirte Gott«, wie Jacobi triftig und in höchst origineller Weise formuliert ( JWA 3, 112). Und das heißt ja doch: Im Geist ist das Verhältnis des Menschen zu Gott unauflösbar gebunden an das Verhältnis Gottes zum Menschen. Und so lässt Jacobi in demselben späteren Kontext der Göttlichen Dinge dem »theomorphisirenden« Gott noch einmal den anthropomorphisierenden Menschen folgen: »Was hat der Mensch, daß man ihn ehre, wenn nicht dieses, daß er zu denken vermag, was höher ist als seine Vernunft, erhabener als das Weltall, den Geist, den allein durchaus selbstständigen, aus dem alle Wahrheit kommt, und ohne den keine Wahrheit ist. Wir bekennen uns demnach zu einem von der Ueberzeugung: daß der Mensch Gottes Ebenbild in sich trage – unzertrennlichen Anthropomorphismus, und behaupten, außer diesem Anthropomorphismus, der von jeher Theismus genannt wurde, ist nur Gottesläugnung oder – Fetischismus.« (Ebd., 115)
Es ist gleichwohl nicht nur dieser Anthropomorphismus der Gottes-Ebenbildlichkeit im Geiste, zu dem Jacobi sich bekennt. Der Gott seines Theismus muss, um ein lebendiger Gott zu sein, nicht nur Geist, sondern auch auf das Leid des Menschen bezogen sein, d. h. er muss um dieses Leid wissen und sich dieses Leides auch erbarmen. Im Sinne dieses erweiterten Anthropomorphis19
David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion, London 1779.
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Catia Goretzki
mus, der auch die körperlich sinnliche Seite auf Gott bezieht, schreibt Jacobi in dem schon genannten Brief an Herder vom 13. November 1784: »Lieber Gott, was ist der Mensch, wenn kein Wesen aller Wesen waltet, das auch menschlich weiß, auch menschlich für ihn sorget. […] Was wäre Religion ohne einen Christus, ohne nahes und gewisses Band des Niedrigsten und Höchsten? Ein Gott ohne Erbarmung könnte mich leidendes und so innigst mitleidendes Geschöpf nicht aufrichten, erheben, trösten. […] Nichts hat mir im kleinen Golgatha unseres Hamann so sehr gefallen, als die Worte S. 63. ›Bei dem unendlichen Mißverhältnisse des Menschen zu Gott – um es zu heben und aus dem Weg zu räumen, muß der Mensch entweder einer göttlichen Natur theilhaftig werden, oder auch die Gottheit Fleisch und Blut an sich nehmen‹.« (JBW I,3, 384)20
Und 27 Jahre später findet sich dieses Bekenntnis zum menschlich wissenden und leidenden Christus am Ende der Schrift Von den göttlichen Dingen: »Chris tus selbst stößt am Kreuze den erschütternden Ruf aus: ,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‹ Verscheidet aber mit den Worten: ›Vater in deine Hände befehl’ ich meinen Geist!‹ So der Mächtigste unter den Reinen, der Reinste unter den Mächtigen. Dieser Kampf und dieser Sieg ist Christen thum. Zu diesem Christenthum bekennet sich der Verfasser dieser Schrift, und schließet mit diesem Bekenntniß sein Werk.« ( JWA 3, 118 f.)
20 Dass
der des Göttlichen teilhaftige Mensch und der Fleisch und Blut gewordene Gott notwendig zusammengehören, liegt im Begriff des Gottmenschentums; und dem trägt Jacobi in kluger Weise Rechnung, indem er nicht nur vom anthropomorphisierenden Menschen, sondern ebenso vom theomorphisierenden Gott spricht. Der Einheit von Göttlichem und Menschlichem, von Geistigem und Natürlichem bzw. Gestalthaftem setzt er aber immer wieder den harten Dualismus beider Seiten, dem Geist als dem Wesentlichen die Gestalt als das Unwesentliche entgegen (vgl. JWA 3, 46) und gerät damit in diejenige ambivalente Haltung, die oben (Fußnote 6) schon angesprochen wurde.
Gunnar Hindrichs
Nihilismus I.
Einer der wichtigsten Einsätze Jacobis lautet auf die Ontologisierung des trans zendentalen Denkens. Das transzendentale Denken prüft die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis a priori. Hierzu verlässt es seine intentio recta auf das Seiende, um in einer intentio obliqua die Voraussetzungen aller intentio recta auf das Seiende in den Blick zu nehmen. Diese Voraussetzungen sind die Geltungsvoraussetzungen von Urteilen. Denn Urteile bilden die artikulierte Form der Ausrichtung des Denkens auf Seiendes. Entsprechend prüft das transzendentale Denken die Geltungsvoraussetzungen von Urteilen. Alle seine Hauptstücke – die Untersuchung der Formen der Sinnlichkeit, die Untersuchung der Kategorien, die Untersuchung der Grundsätze, die Untersuchung der Reflexionsbegriffe, die Untersuchung der Ideen – stehen unter dieser Aufgabe. Sie gewinnen ihren Sinn im Rahmen der Geltungsreflexion des Denkens. Die intentio recta auf Seiendes steht unter dieser Voraussetzung. Bereits aus dieser allgemeinen Verfassung des transzendentalen Denkens ergibt sich die Nachrangigkeit der Ontologie. Nicht nur die Wissenschaften von den besonderen Gebieten des Seienden, sondern auch die Wissenschaft vom Seienden als solchem wird zu einer Wissenschaft zweiter Linie. Denn jede Wissenschaft vom Seienden nimmt eine intentio recta auf das Seiende ein, und sei’s die intentio recta auf das Seiende als Seiendes. Letzteres – das ens inquantum ens – bildet das Thema der Ontologie. Von der transzendentalen intentio obliqua wird die Ontologie daher auf ihren nachrangigen Ort verwiesen. In Kants berühmten Worten: »[D]er stolze Name einer Ontologie […] muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen.« (A 247 / B 303) Systematisch folgt hieraus nicht, dass ontologische Untersuchungen vom transzendentalen Denken ausgeschlossen würden. Es folgt jedoch, dass solche Untersuchungen unter den Bedingungen erfolgen, die von der transzendentalen Geltungsreflexion des Denkens gewonnen werden. So ermöglicht etwa die Reflexion auf die Grundform des Urteils »S ist P« deren Artikulation in vier Klassen, die sich aus den Gesichtspunkten des
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Gunnar Hindrichs
Urteilssubjektes, der Urteilskopula, des Urteilsprädikates sowie der Urteilsgesamtheit ergeben und die selber eine jeweils dreifache Gliederung erlauben.1 Aus dieser Gliederung lassen sich viermal drei Urteilsformen ableiten. Sie bilden die zwölf Grundformen der intentio recta auf Seiendes. Aus diesen Grundformen des Urteils wiederum lassen sich die Kategorien des Seienden ableiten. Denn anders als in den Grundformen der intentio recta auf Seiendes kann das Seiende dem Denken nicht thematisch werden. Entsprechend sind die Kategorien gleichermaßen auf das Denken wie auf das Seiende bezogen, und Wolffs Bezeichnung der Kategorien als »termini ontologici«2 bleibt – nicht verbal, aber systematisch – auch für das transzendentale Denken in Kraft, sosehr sie ihren Begründungsrahmen sprengt. Das bedeutet: Kategorien sind seinsausweisend. Aber sie sind nicht seinsbestimmt.3 Denn sie ergeben sich aus der Geltungsreflexion des Denkens. Deshalb steht die Lehre vom Seienden unter den Bedingungen der Lehre vom Urteil. Sie ist eine von der Apophantik gebundene Ontologie. Vor diesem Hintergrund bedeutet jede Ontologisierung des transzendentalen Denkens dessen Aufhebung. Die Ontologie ist eine Wissenschaft der zweiten Linie. In der ersten Linie steht die transzendentale Geltungsreflexion. Wenn nun das transzendentale Denken selber ontologisiert wird, dann bestimmt die zweite Linie die erste Linie. Entsprechend wird das Begründungsverhältnis sinnlos. Das transzendentale Denken, das dieses Verhältnis behauptet, zerfällt. Es wird zu nichts. Da es aber gar keine andere Ausweisung von Sein zulässt als dessen apophantische Ableitung, droht auch insgesamt nichts mehr übrig zu bleiben, solange das transzendentale Denken den Vorsitz am Gerichtshof der Vernunft führt. Eine ontologische Bestimmtheit des transzendentalen Denkens bedeutet daher nicht nur einen Widerspruch in seinem Konzept. Vielmehr bedeutet es den Nihilismus. Wenn also das trans zendentale Denken in ontologischen Begriffen bestimmt werden muss, dann entpuppt es sich als der Triumph des Nichts über das Etwas. Eben hier setzt Jacobi ein. Er bejaht das Antezedens und begreift daher das transzendentale Denken als nihilistisches Denken.
1
Diese Gliederung besprechen Reinhard Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft (A 67–76; B 92–101) (= Kant-Forschungen 4), Hamburg 1991; Michael Wolff: Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges »Begriffsschrift« (= Philosophische Abhandlungen 63), Frankfurt/M. 1995; Werner Euler: »Rezension von Wolff«, in: Kant-Studien 88 (1997), S. 242–255. 2 Christian Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia, Frankfurt 1730, § 10. 3 Dazu Rudolf Zocher: Kants Grundlehre. Ihr Sinn, ihre Problematik, ihre Aktualität, Erlangen 1959.
Nihilismus
II.
Jacobi vollzieht seinen Einsatz am deutlichsten in zwei Zusammenhängen. Auf der Oberfläche hat keiner dieser Zusammenhänge direkt mit Kant zu tun. Den ersten Zusammenhang bilden die Spinozabriefe von 1785 und 1789, den zweiten Zusammenhang bildet das Sendschreiben von 1799. Jene handeln – an der Oberfläche – von Spinoza, dieses von Fichte. Unter der Oberfläche aber handeln beide von Kant und der von ihm eingeführten transzendentalen Wende. In den Spinozabriefen wird die Philosophie Spinozas als die folgerichtige Gestalt einer Vernunft dargestellt, die die Dinge aus ihren Ursachen zu begreifen sucht. Das Denken, das die Dinge aus ihren Ursachen zu begreifen sucht, ist die Aufklärung. Lessing ist ihr Repräsentant. Von ihm berichtet Jacobi unter anderem die folgenden Äußerungen: »Εν και παν! Ich weiß nichts anders.« ( JWA 1,1, 16) »Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so wei ß ich keinen andern [als Spinoza].« ( JWA 1,1, 17) »Es giebt keine andre Philosophie, als die Philosophie des Spinoza.« ( JWA 1,1, 18) In diesen Äußerungen identifiziert sich die Aufklärung selber mit der Philosophie Spinozas. Das hatte damals einen unangenehmen Beigeschmack. Denn Spinozas Konzeption galt immer noch als verderblicher Atheismus. Wenn daher das die Dinge aus ihren Ursachen heraus begreifende Denken als unterschwelliger Spinozismus entlarvt wird, dann gerät die Aufklärung insgesamt in den Ruch des gottleugnenden Verderbens. Entsprechend nervös reagierten ihre Vertreter.4 Systematisch geht es aber in den Spinozabriefen nicht um die abfällige Diskreditierung der Aufklärung. Vielmehr spitzt Jacobi den Zusammenhang zu einer allgemeinen Problematik des Denkens zu. Diese Problematik ist die Problematik der naturbeherrschenden Vernunft. Indem die Vernunft die Dinge aus ihren Ursachen begreift, erklärt sie sie und macht sie vorhersehbar. Dadurch vermag sie die Natur zu beherrschen. Eine solche vernünftig beherrschte Natur besitzt eine bestimmte Gestalt. Erstens bildet sie eine Reihe von Ursachen. Diese Reihe ist durch das Nacheinander 4 Dazu
die bedeutende Studie von Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit I: Die Spinozarenaissance (= Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 22), Frankfurt/M. 1974, S. 360 ff. Ferner Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge MA 1987, Kapitel 2; Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988, S. 125 ff. und S. 151 ff.; Jürgen Teller: »Das Losungswort Spinoza. Zur Pantheismusdebatte zwischen 1780 und 1787«, in: Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin und Weimar 1989, S. 135–192.
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von Ursache und Wirkung bestimmt. Als ein Nacheinander von Ursache und Wirkung steht die Natur, zweitens, in der Ordnung der Zeit. Die Natur bildet eine Zeitreihe von Ursachen und Wirkungen. Hieraus ergibt sich, dass die Reihe der Ursachen keinen Anfang kennt. Ihr Anfang würde in einer unverursachten Ursache bestehen, die die Reihe der Ursachen begönne. Da die Reihe der Ursache die Zeitreihe der Natur ist, finge die natürliche Zeit mit dieser ersten Ursache an. Aber der Begriff des Anfanges ist im Bezug auf Ursachen selber ein zeitlicher Begriff. Folglich stünde eine anfangende Zeitreihe der Natur in der Zeitreihe der Natur. Die Zeitordnung würde sich selbst voraussetzen. Da der Gedanke einer Zeitordnung, die nur unter ihrer eigenen Voraussetzung anfangen kann, ein sinnloser Gedanke ist, beginnt die Zeitordnung nicht. Sie hat keinen Anfang. Entsprechend ist die Zeitreihe der Ursachen eine potentiell unendliche Reihe. Ihre aktuale Unendlichkeit lässt sich hingegen nicht denken (vgl. JWA 1,1, 256 f.). Das heißt, die naturbeherrschende Vernunft vollzieht sich als die Erklärung und als die Vorhersage der Dinge in der Ordnung einer potentiellen Unendlichkeit. Mit dieser Bestimmtheit geht die Problematik der naturbeherrschenden Vernunft einher. Erklärungen können als die Angabe von Bedingungen verstanden werden, unter denen etwas erfolgt. Wenn diese Bedingungen Ursachen darstellen, dann betrifft die Bestimmtheit, die die Ordnung der Ursachen aufweist, auch die Ordnung der Bedingungen. Das heißt: Die Ordnung der Bedingungen ist potentiell unendlich. Jacobi sagt das so aus: Die Ordnung bildet eine »Kette bedingter Bedingungen« ( JWA 1,1, 261). Hiermit ist die Formalstruktur der naturbeherrschenden Vernunft ausgesprochen. Die naturbeherrschende Vernunft bringt die Natur in eine potentiell unendliche Bedingungsreihe. Ihr Problem besteht nun darin, dass sie in einer potentiell unendlichen Bedingungsreihe das »wirkliche Daseyn« der Dinge, ihre Aktualität, nicht zu erklären vermag. Denn um das Dasein der Dinge zu erklären, müsste sie das Dasein der gesamten Kette erklären können, in der die Dinge verursacht werden. Eben dazu ist sie jedoch nicht fähig. Jede Erklärung besteht in der Angabe einer Ursache. Die Ursache der Ursachenkette wiederum wäre die erste Ursache. Sie kann es nicht geben, weil dann die Zeitordnung selber in der Zeit stehen würde. Das wirkliche Dasein der Reihe kann also nicht erklärt werden. Alles, was bleibt, ist ihre potentielle Unendlichkeit ohne Aktualität. Und mit dieser Unfähigkeit zur Erklärung des wirklichen Daseins der Reihe wird die naturbeherrschende Vernunft zugleich unfähig zur Erklärung des wirklichen Daseins eines einzelnen Reihengliedes. Als Moment der Reihe bleibt auch es diesseits aller Aktualität. Das bedeutet: Das wirkliche Dasein der Dinge zergeht. Die naturbeherrschende Vernunft erklärt zuletzt gar nichts mehr. Sie erklärt nicht etwas, sondern nichts.
Nihilismus
All das steht im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Spinozas Denken. Dadurch lässt sich die Kritik der naturbeherrschenden Vernunft radikalisieren. Jacobi kennzeichnet den Spinozismus folgendermaßen: »Der Gott des Spinoza, ist das lautere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich.« ( JWA 1,1, 39) Die Formel »Wirklichkeit in allem Wirklichen« muss hier von dem Begriff der Wirkung her verstanden werden. Dann besteht das Dasein in den Wirkungen und in dem Wirkenden, während das Sein in allem Dasein das Bewirken selber darstellt. Zurückgebunden an die naturbeherrschende Vernunft heißt das: Alles Dasein wird von den Ursachen und Wirkungen ausgemacht, und das Sein in allem Dasein ist die Kausalordnung selber. Nun hat aber die potentiell unendliche Kausalordnung keine andere Wirklichkeit als in dem Wirkenden und den Wirkungen. Insofern ist das Sein tatsächlich nur in allem Dasein. Wenn nun – wie gesehen – das Problem der naturbeherrschenden Vernunft darin besteht, dass ihr das wirkliche Dasein der Dinge zergeht, dann zergeht auch das Prinzip der Wirklichkeit in allem Wirklichen. Das Sein in allem Dasein zergeht. Mit dem wirklichen Dasein verschwindet auch das Sein selbst. Das bedeutet: Nicht nur erklärt die naturbeherrschende Vernunft nichts. Es bleibt auch insgesamt nichts. Dasein und Sein lassen sich nicht erfassen. Dieses insgesamt negative Ergebnis zeitigt die Engführung mit Spinozas Philosophie, sofern deren Begriff der Substanz als Sein und ihr Begriff des Modus als Dasein gedeutet werden.
III.
Nun ist diese Deutung problematisch. Aber Spinoza ist ohnehin nur der Sack. Der Esel ist Kant. Kant hat die Kausalität – also die Ordnung der beherrschten Natur – gegen Humes skeptische Einwände transzendental begr ündet (B 232 ff.). Diese Begründung erfolgt in einer Kritik der reinen Vernunft selber. Das heißt, sie erfolgt nicht – wie bei Spinoza – als Weltentwurf, der die Naturerscheinungen als natura naturata begreift und in Gott als natura naturans setzt.5 Vielmehr erfolgt sie als Vernunftbestimmung. Kant also ist es, der die Struktur der naturbeherrschenden Vernunft – Kausalität – als die Bestimmtheit der Vernunft schlechthin begründet hat. Erst aus dieser Bestimmtheit der Vernunft hat Kant sodann die Ordnung der Natur abgeleitet. In seiner Formulierung: Das von der Kausalstruktur bestimmte Denken 5
Baruch de Spinoza: Ethica, I, Prop. XXIX, Scholium.
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»schreibt« seine Gesetze »der Natur vor«, und die Frage »Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?« wird gleichbedeutend mit der Frage »Wie ist Natur selbst möglich?« (AA IV, 318 ff.). Entsprechend wird erst in Kants Vernunftkritik die Verknüpfung von Vernunft und Kausalität ausdrücklich durchgeführt, so dass in der Konsequenz auch die Wirklichkeit als eine Zeitfolge von Ursachen und Wirkungen dargestellt zu werden vermag. Spinozas Konzepte einer natura naturans und einer natura naturata, auch sein Begriff von Rationalität hingegen arbeiten mit der Verknüpfung von Vernunft und Kausalität, ohne sie in ihrer Eigenbestimmtheit auszuweisen. Deshalb bildet Kants transzendentale Begründung der Kausalität als eines Grundsatzes a priori, auf dem das begründete Denken ruht, das geheime Angriffsziel von Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza. Warum aber dann der Rückgriff auf Spinoza? Er erlaubt die ontologische Deutung der Transzendentalphilosophie. Im Blick auf den Spinozismus wird die transzendentale Vernunft in den Begriffen des Seins und des Daseins lesbar. Unter deren Anleitung lässt sich die Ordnung der Vernunft – die Kausalordnung der Natur als synthetisches Urteil a priori – darum neu entziffern: erstens als eine potentiell unendliche Bedingungsreihe und zweitens als eine These vom Sein in allem Dasein. Diese These verwickelt sich in die beschriebene Problematik. Man kann somit die vernunftkritische Begründung der Kausalordnung, die Spinozas direkter Ontologie der kausalen Welt sachlich voransteht, mit den Begriffen dieser Ontologie interpretieren und so in das Problem überführen, dass der naturbeherrschenden Vernunft am Ende nichts bleibt. Entsprechend entpuppt sich unter dem Gesichtspunkt jener Begriffe die Transzendentalphilosophie als ein nihilistisches Denken. Ihm zergeht das Sein und alles Dasein. Das macht die Spinozianisierung Kants möglich. Freilich haftet dieser Deutung etwas Willkürliches an. Sie arbeitet mit der spinozistischen Überlagerung der Transzendentalphilosophie. Mit deren Eigenbestimmtheit argumentiert sie hingegen nicht. Um das transzendentale Denken entscheidend zu treffen, ist daher eine weitere Kritik nötig.
IV.
Auch diese Kritik des transzendentalen Denkens nimmt einen Umweg, diesmal aber über eine Gestalt, die sich sehr viel näher an Kant bewegt, weil sie sich als dessen Konsequenz versteht. Gemeint ist Fichte. In dem Sendschreiben an Fichte spitzt Jacobi die in den Spinozabriefen geübte Kritik der naturbeherrschenden Vernunft zum ausdrücklichen Nihilismusvorwurf zu. Das kann er, weil Fichte selber sich als Zuspitzung des transzendentalen Den-
Nihilismus
kens bestimmt. Jacobi folgt ihm in dieser Selbstbestimmung. Entsprechend führt er auch die Ontologisierung der Transzendentalphilosophie zu ihrer Pointe. Jacobi sieht bei Fichte offen daliegen, dass das transzendentale Denken alle seine Gegenstände selber hervorzubringen versucht. Das Argument lautet: Das transzendentale Denken setzt die reine Vernunft zur Grundlage alles anderen. Ihrem Begriff nach besteht die reine Vernunft »in sich« und »durch sich«. Das heißt, sie wird in ihrem Vollzug nicht von etwas anderem bestimmt, sie bestimmt sich in ihrem Vollzug vielmehr selbst. Ihre Inhalte stellen daher die Ergebnisse ihrer Selbstbestimmung dar. Sie sind ihre Produkte. Sie sind ihre Setzungen. All das, was zu einem Gegenstand des sich selbst tragenden Denkens werden soll, muss daher zu einem Erzeugnis des Denkens zurechtgestutzt werden. Das transzendentale Denken muss sich daher von seiner Bedingtheit lösen und zu einer Unbedingtheit erheben. »In sich« und »durch sich« sind wiederum die Kennzeichen der Substanz. Das transzendentale Denken erhebt sich folglich zur Substanz. Es vollzieht einen »umgekehrten Spinozismus« ( JWA 2,1, 195). Es wird zum Sein in allem Dasein. Das hat eine weitreichende Folge. Jacobi beschreibt sie folgendermaßen: »Das Philosophieren der reinen Vernunft muß also ein chemischer Proceß seyn, wodurch alles außer ihr in Nichts verwandelt wird, und sie allein übrig läßt – einen so reinen Geist, daß er, in dieser seiner Reinheit, selbst nicht seyn, sondern nur alles hervorbringen kann; dieses aber wieder in einer solchen Reinheit, daß es ebenfalls nicht seyn, sondern nur als im Hervorbringen des Geistes vorhanden, angeschaut werden kann: das Gesamte eine bloße ThatThat.« ( JWA 2,1, 201) In dieser Wendung steckt der Kern von Jacobis Kritik der naturbeherrschenden Vernunft. Der Kern lautet: Das sich selber tragende Denken kann bloß hervorbringen, aber selbst nichts sein. Denn es vermag nichts anderes gelten zu lassen als das, was es erzeugt hat. Auch sein eigenes Selbstverhältnis kann darum nur als eine Selbsterzeugung bestehen. Muss es sich aber auch noch selbst erzeugen, so besitzt es keinen anderen Anfangspunkt als den unentwegten Vorgang der Erzeugung all dessen, was ist. In der Transzendentalphilosophie wird diese Struktur »Spontaneität« genannt: der durch nichts als den eigenen Antrieb motivierte Ursprung. Jacobi indessen legt den Finger in eine Wunde. Sie besteht darin, dass das ganz und gar spontane Denken noch seine eigene Spontaneität erzeugen muss. Aber vor dem spontanen Denken gibt es nichts. Also beginnt das spontane Denken mit nichts, und es setzt sich als mit nichts beginnendes Denken fort in die Erzeugung aller Dinge. Wie diese Dinge dann noch »etwas« sein sollen, nachdem sie sich als die Erzeugnisse eines Denkens, das selber nichts außer ein Erzeugen aus nichts darstellt, erwiesen haben, kann nicht begriffen werden.
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Vor diese Leere, die die Wunde des spontanen, sich selbst tragenden Denkens bedeutet, schiebt sich das Erzeugen selbst, dessen unentwegte Arbeit vorgaukelt, es sei etwas da. Was da ist, ist aber nicht »etwas«, sondern nur das Erzeugen. So beansprucht das transzendentale Denken zwar die Merkmale der alten Substanz, das Insichsein und Durchsichsein, aber es vermag bei Licht besehen selber nicht substanziell zu werden. Das Sein in allem Dasein ist nichts, und darum wird auch alles Dasein zunichte. Entsprechend stellt das transzendentale Denken wahrlich eine »Tat-Tat« dar: ein unaufhörliches Machen, neben dem nichts bleibt, »reine[s] absolute[s] Ausgehen und Eingehen, ursprünglich – aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts« ( JWA 2,1, 202). Was aber bleibt dann noch, wenn die Inhalte des Denkens als dessen Erzeugnisse zu »An-sich-Gespenster[n]«, zu »Erscheinungen von Nichts« ( JWA 2,1, 208) geworden sind, wenn die »hohle Nuß der Selbstständigkeit und Freyheit im absolut Unbestimmten« ( JWA 2,1, 210) das letzte Wort des transzendentalen Denkens darstellt? Für Jacobi bleibt der Sprung. Der Sprung aus dem transzendentalen Denken in – etwas und nicht nichts. Erst dieser Sprung gewährt den vollen Gehalt von Vernunft. Denn Vernunft kommt, so Jacobi, von Vernehmen. Jedes Vernehmen aber benötigt ein Vernehmbares. Eine Vernunft, der alles Seiende zu nichts zergeht, ist daher strenggenommen keine Vernunft. Vernunft, die ihrem Begriff gerecht wird, muss etwas vernehmen, das sie nicht erzeugt. Die Spinozabriefe sprechen diese Notwendigkeit so aus, dass der Vollzug des reinen Denkens – das begriffliche Zurechtstutzen der Dinge – verlassen werden muss zugunsten der Hinnahme eines Gegebenen, einer »Thatsache – Es ist! « ( JWA 1,1, 261). Die Regeln des transzendentalen Denkens darf eine solche Vernunft durchaus brechen. Denn diese Regeln entstehen ja aus nichts und führen zu nichts. Daher Jacobis Ironie: »Wahrlich […], es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze«. Denn: »Ich habe ja nichts wider mich als das Nichts; und mit ihm können auch Chimären sich wohl noch meßen.« ( JWA 2,1, 215) Die scheinbare Chimäre aber ist der Sprung in das Etwas und nicht Nichts. Mit diesen Überlegungen hat die Ontologisierung der Transzendentalphilosophie ihre kritische Wendung entfaltet. Sie lautet auf den Nihilismus des transzendentalen Denkens. Und sie hat zugleich den Gegenzug eröffnet. Er lautet auf den Sprung aus der naturbeherrschenden Vernunft in die Tatsache »Es ist«. Der Sprung weiß, dass er keinen Grund für sich anführen kann. Er weiß aber auch, dass er nicht beliebig ist. Denn er springt als Antwort auf den begründeten Aufweis des Nihilismus.
Nihilismus
V.
Nun scheint all das an der Verfassung der Transzendentalphilosophie vorbeizugehen. Die Ontologisierung mag ein geschickter Schachzug sein. Aber sie beruht auf der Überschichtung des transzendentalen Denkens durch eine bestimmte Interpretation des Spinozismus. Nur in ihr wird die reine Vernunft zum Sein in allem Dasein und mündet daher im Nihilismus. Indessen scheint diese Überschichtung der Transzendentalphilosophie äußerlich. Das zeigt der folgende Zusammenhang. Von der Überschichtung Kants durch Spinoza werden die Begriffe »Sein«, »Dasein« und »Nichts« verwendet. Sie macht diese Begriffe für die Deutung der Transzendentalphilosophie geltend. Will die Überschichtung die Transzendentalphilosophie treffen, dann muss sie sich zu der Geltungslogik jener Begriffe verhalten, die die transzendentale Reflexion behauptet. Aber die Überschichtung bleibt vor dem Bereich der Geltung einfach stehen. Sie verwendet die Begriffe »Sein«, »Dasein« und »Nichts« ohne Geltungsreflexion. Anders die Transzendentalphilosophie. Weil sie in ihrem Kern gar nichts anderes als eine Geltungslogik darstellt, besitzen für sie die Begriffe »Sein«, »Dasein« und »Nichts« ihre genaue Bestimmtheit in der Logik der Geltung: einmal als Kategorie von Gegenständen eines geltungsdifferenten Urteils (Sein, Dasein), das andere Mal als Erstbestimmung des Gegenstandes überhaupt, von dem geltungsdifferente Urteile schlechthin handeln wollen (Nichts). Als eine Kategorie von Urteilsgegenständen wird deren Dasein eingeführt. Genauer gesagt ist »Dasein« eine Kategorie der Modalität (A 80 / B 106). Die Kategorien der Modalität nehmen keine sachhaltige Bestimmung eines Gegenstandes vor. Vielmehr bestimmen sie dessen sachhaltige Bestimmungen insgesamt. Denn die Modalität von sachhaltigen Bestimmungen – deren Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Dasein oder Nichtsein, Notwendigkeit oder Zufälligkeit – ist eine Modalität von sachhaltigen Bestimmungen und nicht selber eine sachhaltige Bestimmung. Im Fall der Kategorie »Dasein« besteht diese Modalität der sachhaltigen Bestimmungen eines Gegenstandes in dessen absoluter Setzung. Dasein »ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst« (A 598 / B 626). Nur als Bezeichnung dieser Modalität sachhaltiger Bestimmungen eines Gegenstandes haben die Begriffe »Sein« und »Dasein« einen Rechtsgrund. Und der von ihnen erhobene Anspruch ist dann erfüllt, wenn es sinnliche Informationen gibt, die zu den Bestimmungen verarbeitet werden, deren Modalität als Dasein bestimmt wird. Solche Informationen über die Welt beglaubigen die Position gewisser Bestimmungen an sich selbst.
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Ersichtlich berührt die Überschichtung der Transzendentalphilosophie durch den Spinozismus diese Argumentation nicht. Sie beabsichtigt etwas anderes als die Bezeichnung einer Modalität sachhaltiger Bestimmungen. Denn sie bestimmt das transzendentale Denken selber durch Begriffe »Sein« und »Dasein«. Das transzendentale Denken findet seine Eigenbestimmung in dem »Ich denke« (B 131 ff.). Das »Ich denke« ist kein Gegenstand. Es denkt alle Gegenstände, indem es Urteile über sie bildet. Von ihm gibt es keine sachhaltigen Bestimmungen, weil alle sachhaltigen Bestimmungen in seine Reichweite fallen. Das »Ich denke« wird daher weder sachlich bestimmt, noch werden seine Bestimmungen an sich selbst gesetzt. Das bedeutet: Man kann ihm Sein oder Dasein weder zuschreiben noch nicht zuschreiben. Umgekehrt erfolgt die Zuschreibung von Sein oder Dasein unter seiner Voraussetzung problemlos. Denn das »Ich denke« vermag Bestimmungen zu synthetisieren, in die sinnliche Informationen eingegangen sind, und also das Dasein eines Gegenstandes zu bestimmen. So ergibt die Bestimmung des Denkens durch die Begriffe »Sein« oder »Dasein« geltungslogisch keinen Sinn. Ähnliches gilt für den Begriff des Nichts. Auch seine Anwendung auf das transzendentale Denken verfehlt seine Geltungslogik. In deren Rahmen stellt der Begriff »Nichts« den Gegenbegriff zu dem Begriff »Etwas« dar. Unter einem Etwas wird kein bestimmter Gegenstand verstanden, sondern der Gegenstand überhaupt, von dem ein Urteil etwas auszusagen beabsichtigt. Anders gesagt: Der Begriff »Etwas« zeigt an, dass ein Urteil von etwas gilt. Noch anders gesagt: Er zeigt die Erfüllungsbestimmtheit des Urteils als solchen an. Mit dem Begriff »Etwas« wird bestimmt, dass der Anspruch des Urteils, etwas als etwas auszusagen, statt ins Leere zu laufen erfüllt ist. Entsprechend kann sein Gegenbegriff, der Begriff »Nichts«, seinen Sinn nur im Bezug auf das Vorhaben besitzen, etwas von etwas auszusagen. Er bezeichnet das Misslingen dieses Vorhabens. Und weil wir etwas von etwas in Urteilen aussagen, kann sich das Misslingen in jeder der vier Urteilsklassen vollziehen. Genauer: Es kann misslingen, die Quantität des Urteilssubjektes zu erfassen: dann ist der Subjektbegriff leer; es kann misslingen, die Qualität des Prädikatsbegriffes zu erfassen: dann ist die prädikative Bestimmtheit leer; es kann misslingen, die Relation von Urteilssubjekt und Urteilsprädikat zu erfassen: dann gibt es eine leere Anschauungsform ohne Substantialität und deren Verhältnisse; und es kann misslingen, die Modalität des Urteilsbezuges auf etwas zu erfassen: dann ist die existentiale Bestimmtheit leer. Entsprechend gibt es vier Typen des Nichts: Nichts als leerer Begriff ohne Gegenstand (ens rationis), Nichts als leerer Begriff eines Gegenstandes (nihil privativum), Nichts als leere Anschauung ohne Gegenstand (ens imaginativum) und Nichts als leerer Gegenstand ohne Begriff (nihil negativum)
Nihilismus
(A 292 / B 348).6 Ersichtlich kann das Denken selber keinen der vier Typen darstellen. Es ist ja kein Gegenstand überhaupt, sondern das Denken von Gegenständen überhaupt. Folglich ergibt auch die Anwendung des Begriffes »Nichts« auf das transzendentale Denken keinen Sinn, während umgekehrt seine Verwendung unter der Voraussetzung des transzendentalen Denkens auf eine problemlose und artikulierte Weise erfolgt. Von der Gefahr des Nihilismus keine Spur. Mit dem Begriff des Nichts befindet man sich im Zentrum des Verhältnisses von Ontologie und Transzendentalphilosophie. Auch in der Wolffischen Schulmetaphysik, etwa bei Baumgarten,7 bildet das Nichts den Gegensatz zum Etwas. Aber hier artikulieren diese Begriffe den Begriff des Seienden – sie bilden dessen erste interne Allgemeinbestimmungen (praedicata entis interna universalia). Sie erfüllen ihre Aufgabe somit im Aufbau der Ontologie. Anders als man denken könnte, verläuft der Weg dieser internen Allgemeinbestimmungen nicht vom Etwas zum Nichts, sondern vom Nichts zum Etwas. Den Begründungsanfang bildet der Satz vom Widerspruch. Was diesem verfällt, ist nichts. Das Nichts wird so durch den Widerspruch definiert (contradictionem involvens). Als Zweites kann das Etwas durch die Verneinung dessen eingeführt werden, das einen Widerspruch beinhaltet. Es wird definiert durch die Verneinung des Nichts: »Nichtnichts ist etwas« (nonnihil est aliquid). Hiernach lauten die beiden Erstbestimmungen des Seienden auf die durch den Satz vom Widerspruch und die Verneinung erzeugten Bestimmungen »Etwas« und »Nichts«. Indem nun Kant das Seiende als Seiendes, was in den deutschsprachigen Darstellungen der Schulmetaphysik auch als »Ding überhaupt«8 bezeichnet wurde, nach der Vernunftkritik in den »Gegenstand überhaupt« verwandelt, müssen ihm auch die Erstbestimmungen des Seienden als Seiendem zu Erstbestimmungen des Gegenstandes überhaupt werden. Der Gegenstand überhaupt ist kein Ding überhaupt, sondern das, wovon ein Urteil ohne weitere Bestimmtheit handelt. Er ist mit jedem Urteil gesetzt. Entsprechend erfüllen die Bestimmungen »Etwas« und »Nichts« ihre Aufgabe statt im Aufbau der Ontologie in der Artikulation der Apophantik. Für deren Geltungslogik wiederum kann der Anfang nicht mit dem Nichts gemacht werden, sondern nur mit dem Etwas, von dem etwas geurteilt wird. Darum ist Kants Unterscheidung der vier Arten des Nichts 6
Die kantische Ordnung des Nichts erhellt Alessandra Organte: Sul concetto kantiano di nulla (= La filosofia e il suo passato 7), Padova 2003. 7 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica, Halle 1739, §§ 7–9. 8 So von Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720 u.ö.: Theologie (Gott), Kosmologie (Welt), Psychologie (Seele), Ontologie (alle Dinge überhaupt).
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eine sekundäre Angelegenheit. Sie stellt ein Thema dar, »was, obgleich an sich von nicht sonderlicher Erheblichkeit, dennoch zur Vollständigkeit des Systems erforderlich scheinen dürfte« (A 290 / B 346). Mit alledem wird deutlich, dass die Ontologie in die zweite Linie gerückt ist. Von ihren Begriffen können daher keine Folgen für das transzendentale Denken ausgehen – auch nicht von ihren Erstbegriffen des Etwas und des Nichts. Somit laufen Jacobis Wortkaskaden angesichts der urteilslogischen Nüchternheit hinsichtlich der Begriffe »Sein«, »Dasein«, »Nichts« ins Leere. Sie scheinen nicht nur listig eine Chimäre gegen das Nichts aufzubieten, sondern selber gegen eine Chimäre zu kämpfen.
VI.
Seltsam nur, dass Jacobis Überschichtung die nachkantianischen Kantianer allesamt bewegte. Fichte, Schelling, Hegel: sie alle suchten das Nihilismusproblem des transzendentalen Denkens durch die Entwicklung neuer Logiken der Vernunft zu bewältigen.9 Waren sie schlicht irregeleitet? Es gibt einen versteckten Punkt, an dem Jacobis Erwägung trotz ihrer Äußerlichkeit das Innere des transzendentalen Denkens trifft. Denn das transzendentale Denken sagt seine geheime ontologische Bestimmtheit selber aus. Sein Herz ist das »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen [muß] begleiten können« (B 131 f.). In ihm äußert sich die Spontaneität der reinen Vernunft. Das »Ich denke« aber beinhaltet das »Ich bin«. Das wird nicht nur in Fichtes Umformulierung des »Ich denke« zum »Ich bin« ausdrücklich. Auch Kant selber sagt es in den Paralogismen aus: in einer Fußnote (B 422). In Abgrenzung zu Descartes, der das »Ich bin« aus dem »Ich denke« in einem 9 Die
lesenswerte Arbeit von Karin Nisenbaum: For the Love of Metaphysics. Nihilism and the Conflict of Reason from Kant to Rosenzweig, Oxford 2018, verfolgt die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus von Jacobi und Maimon über Fichte und Schelling bis hin zu Rosenzweig. Sie vertritt die These, dass die Antwort auf den Nihilismus im Primat der praktischen Vernunft bestehe. Das ontologische Thema gerät hierdurch in den Hintergrund. – Die Darstellungen des frühen Deutschen Idealismus von Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992 und Manfred Frank: »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997, die Jacobi berücksichtigen, sind zu sehr auf Fragen der Subjektivitätsphilosophie gerichtet, als dass sie das Nihilismusproblem angemessen in den Blick nähmen. – Keren Gorodeisky: »Encountering Individuality. Schlegel’s Romantic Imperative as a Response to Nihilism«, in: Inquiry 54,6 (2011), S. 567–590, arbeitet hingegen die frühromantische Philosophie als Antwort auf Jacobis Nihilismusvorwurf überzeugend heraus.
Nihilismus
Schluss gewann, bekräftigt Kant, dass das »Ich bin« – Kant übersetzt das sum als »Ich existiere« – nicht aus dem »Ich denke« geschlossen werde, sondern in diesem enthalten sei. Die Abgrenzung zu Descartes ist in unserem Zusammenhang unwichtig. Wichtig ist hingegen das Folgende. Alle Gehalte des geltungsdifferenten Denkens müssen sich von dem »Ich denke« begleiten lassen. Wenn nun nach jener Fußnote das »Ich denke« das »Ich bin« beinhaltet, dann müssen sich die Gehalte des geltungsdifferenten Denkens von dem »Ich bin« begleiten lassen. Das bedeutet, dass die geltungsdifferenten Gehalte des Denkens zu einem Sein gehören, das das Denken selber ist. Die Gehalte des Denkens sind die Prädikate seines Seins. Deshalb vermag Jacobis Ontologisierung zu greifen. Auch wenn sie selber – soweit ich sehe – nicht über den Zusammenschluss von »Ich denke« und »Ich bin« argumentiert, besitzt sie in diesem Zusammenschluss ihren Rechtsgrund. Im Blick auf ihn trifft sie das transzendentale Denken ins Herz. Denn nach der Behauptung der Fußnote ist die intentio obliqua des transzendentalen Denkens ihrer ontologischen Bestimmtheit nicht entzogen. Vielmehr stellt die intentio obliqua des »Ich denke« selber ein Seiendes dar: »Ich bin«. Entsprechend hat sich die von dem »Ich denke« gebundene Ontologie an dem höchsten Punkt der intentio obliqua aus ihrer Bindung befreit. Und folglich steht das transzendentale Denken in dem Koordinatensystem von Sein und Nichts. Verfällt es aber darum auch dem Nihilismus? Auf den ersten Blick: ja. Denn das »Ich denke« ist die Leistung der Synthesis. Von ihr hängt alle andere Zuschreibung von Sein und Dasein ab. Sie steht daher nicht in der Ordnung des Seienden, sondern bedingt weiterhin diese Ordnung. Wird sie nun als Ichsein bestimmt, so ist die Erstzuschreibung von Sein allein auf ein Tun bezogen, von dem die Ordnung des Seienden abhängt. Und dann stechen die Jacobischen Schlüsse auf das Sein als Tat-Tat. Mit der Gleichsetzung von »Ich denke« und »Ich bin« erfolgt die Nihilierung des transzendentalen Denkens.
VII.
Doch so sieht es nur auf den ersten Blick aus. Auf den zweiten Blick liegt die Sache verwickelter. Sie führt über Kant und über Jacobi hinaus. Kants unausgeführte Überlegungen im Zusammenhang von »Ich bin« und »Ich denke« gehen in die folgende Richtung. Ihre positive Aussage lautet: Das »Ich bin« ist in dem »Ich denke« enthalten, weil das »Ich denke« mit einer unbestimmten Wahrnehmung vor aller kategorial bestimmten Erfahrung einhergeht und darum ein gegebenes Reales bedeutet. Diese Aussage bedarf
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der Erläuterung. Zunächst bildet das Reale, von dem hier die Rede ist, weder einen empirischen Gegenstand noch einen intelligiblen Gegenstand. Entsprechend ist das Ich, um das es hier geht, weder das intelligible Ich der rationalen Psychologie noch das empirische Ich des inneren Sinnes.10 An ihre Stelle tritt ein »rein intellektuell[es]« Ich, das zum »Denken überhaupt« gehört. Soweit Kants Fußnote. Nun ist das Ich, das zum »Denken überhaupt« gehört, das »Ich denke«: die transzendentale Apperzeption, an die man »allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß«, und die am Ende »der Verstand selbst« ist (B 132 und B 134 Anm.). Nimmt man dies zu den Aussagen der Fußnote hinzu, so sagen Kants Überlegungen aus, dass die transzendentale Apperzeption »Ich denke« mit einer unbestimmten Wahrnehmung vor aller Erfahrung einhergehe, entsprechend ein gegebenes Reales bedeute und daher das »Ich bin« in sich enthalte. Der Grund dafür lautet: Das Ich des »Ich denke« muss existieren, wenn ihm das Reale der unbestimmten Wahrnehmung gegeben sein soll. Weil das »Ich bin« diese Existenz ausdrückt, ist es in dem »Ich denke« enthalten. Um zu verstehen, was das erwähnte Reale der unbestimmten Wahrnehmung sein soll, sind Kants Untersuchungen über die Antizipationen der Wahrnehmung heranzuziehen. Deren Kernbestimmung lautet: »In allen Erscheinungen hat die Empfindung, und das Reale, welches ihr an dem Gegenstande entspricht, (realitas phaenomenon) eine intensive Größe, d. i. einen Grad.« (A 166) Hiernach hat der Gehalt unbestimmter Wahrnehmungen – das Reale – einen Grad. Ihm gegenüber steht der Mangel an Gehalt oder dessen Negation (Null). Da nun jeder Grad verringert werden kann, steht das Reale der unbestimmten Wahrnehmung in einem Kontinuum von Graden, das sich gegen Null bewegt (vgl. A 167 ff. / B 209 ff.). Auf diese Weise finden die Kategorien »Realität«, »Negation« und »Limitation«, in denen die Wahrnehmung zur Erfahrung bestimmt wird, in der unbestimmten Wahrnehmung ihre Entsprechung. Die Realität bestimmt das Reale, die Negation bestimmt dessen Mangel und die Limitation bestimmt seine graduelle Einschränkung. Unsere Wahrnehmung lässt sich daher a priori antizipieren: als graduelle Sachhaltigkeit im Kontinuum gegen Null, die sich zur kategorial bestimmten Sachhaltigkeit unserer Erfahrung synthetisieren lässt. Das »Ich denke« synthetisiert das gegebene Reale der unbestimmten Wahrnehmung zur bestimmten Erfahrung. Demgemäß operiert das »Ich denke« auf einer graduellen Sachhaltigkeit im Kontinuum gegen Null. Gege10
Anders die wichtigen Darlegungen von Tobias Rosefeldt: Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst (= Monographien zur Philosophischen Forschung 278), Berlin 2000, S. 214 ff. Sie identifizieren das Ich mit dem Ich des inneren Sinnes.
Nihilismus
benheit des Realen heißt in diesem Zusammenhang folglich: Gegebenheit des Kontinuums realer Grade. An dieser Gegebenheit aber setzt die Verbindung zum »Ich bin« an: Das »Ich bin« ist im »Ich denke« enthalten, weil es mit der Gegebenheit des Realen der unbestimmten Wahrnehmung einhergeht, deren das »Ich denke« bedarf. Dieser Zusammenhang lässt sich nun präzisieren. Die Gegebenheit des Realen, die das »Ich bin« festlegt, ist die Gegebenheit des Kontinuums gradueller Sachhaltigkeit. Dieses Kontinuum antizipiert das »Ich denke« um seiner synthetisierenden Operation willen. Folglich holt das Kontinuum gradueller Sachhaltigkeit das »Ich denke« aus dem Bereich des nur Denkbaren heraus und verbindet es dadurch mit dem »Ich bin«. Und das heißt: Das Faktum eines kontinuierlich graduellen Gehaltes trägt das »Ich bin« ins »Ich denke« ein. Hieraus macht sich ein Gedanke geltend, den weder Kant noch Jacobi erfassten. Größen, die in Annäherung zur Null vorgestellt werden, sind intensive Größen. Intensive Größen sind Erzeugungsgrößen.11 Denn im Kontinuum entstehen die Grade im Fluss. Sie folgen stetig auseinander. In diesem Sinn ist das Kontinuum die Methode ihrer Erzeugung. Und das Reale der unbestimmten Wahrnehmung wird im gegen Null verlaufenden Kontinuum von Graden erzeugt. Wenn nun das »Ich bin« durch das Faktum eines kontinuierlich graduellen Gehaltes ins Spiel kommt, dann bezeichnet es demgemäß keine extensive Größe, die in Abgrenzung zu anderen extensiven Größen identifiziert werden könnte. Vielmehr bezeichnet es eine intensive Größe, die in Annäherung zur Null vorgestellt wird. Es bezeichnet eine Erzeugungsgröße. Das »Ich bin« wird im Blick auf stetige Erzeugung ins »Ich denke« eingetragen. Solche Erzeugung bestimmt das Ichsein. Nun bietet die stetige Erzeugung von Gehalten einerseits die Erzeugnisse, anderseits die Erzeugung als Berührungspunkte zum »Ich bin« an. Von den Erzeugnissen her lässt es sich nicht bestimmen. Denn dann wäre es an einen bestimmten Gehalt gebunden, während es im Fall der unbestimmten Wahrnehmung, auf der das »Ich denke« operiert, um die stetige Erzeugung von Gehalten geht. Das »Ich bin« muss sich deshalb statt von den Erzeugnissen von der Erzeugung her bestimmen lassen. Die Erzeugung aber ist nicht weiter bestimmt denn als Erzeugung von Gehalten. Folglich wird auch das »Ich bin« durch die Erzeugung von Gehalten bestimmt. Diese Erzeugung ist nicht blindwütig. Sie erfolgt im Zusammenhang von Antizipationen, richtet sich demnach auf bestimmbare Gehalte aus und 11
Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, in: Werke, Bd. 1,1, Hildesheim 1987, S. 542 ff. Ferner ders., Logik der reinen Erkenntnis, in: Werke, Bd. 6, Hildesheim 1977, S. 123 ff.
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gewinnt nur in dieser Ausrichtung ihren Sinn. »Ich bin« bedeutet kein blindes Sein, sondern die Vorwegnahme von zu erzeugender Bestimmtheit. Das erlaubt die angemessene Bestimmung des Ichseins. Das »Ich bin« durch die Erzeugung von Gehalten zu bestimmen klingt wie bei Jacobi. Es könnte also sein Nihilismusvorwurf greifen. Aber das durch die Erzeugung bestimmte Ichsein arbeitet nicht aus nichts, in nichts, zu nichts. Es ist keine hohle Nuss. Stattdessen bildet es den graduellen Fluss auf das Noch nicht. Als Antizipation von Bestimmtheit bestimmt sich die Erzeugung im Bezug auf das, was noch nicht ist. Sie erzeugt das Noch-nicht-Seiende. Die freie Ontologie, in der das Ichsein steht, erweist sich somit als eine Ontologie des Noch nicht. Entsprechend besagt das im »Ich denke« enthaltene »Ich bin« weder das Ein-fürallemal meines Daseins noch dessen Zergehen in Nichts. Vielmehr besagt es das fortwährende Werden jener Sachhaltigkeit, die das »Ich denke« stets von Neuem zur Bestimmtheit bringt. So wird in dem Streit zwischen Transzendentalphilosophie und Unphilosophie ein Konzept sichtbar, das weder Kant noch Jacobi artikulieren, aber in ihrer gegenseitigen Spiegelung erscheinen lassen: das Denken im eschatologischen Vorbehalt.
Majk Feldmeier
Der Mensch, ein »krummes Holz«? Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant Einleitung
»[A]us so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« (AA VIII, 23) Diese von Kant im Blick aufs Politische formulierte Einsicht über die nur eingeschränkte Fähigkeit des Menschen, aus den eigenen Reihen ein gerechtes Oberhaupt für eine »allgemein das Recht verwaltende[] bürgerliche[] Gesellschaft« (AA VIII, 22) stellen zu können, obwohl dies zugleich seine unabweisliche Aufgabe darstellt, ist nicht nur fürs Politische gültig. Indem ich das behaupte, möchte ich diesen Ausdruck Kants vom ›krummen Holz Mensch‹ ein wenig weiter und allgemeiner, und damit vielleicht auch lockerer, zum Aufhänger meiner Überlegungen machen. Ich möchte mit ihm das Problem einer fundamentalen Unzulänglichkeit des Menschen bezeichnen, die bei Kant immer wieder begegnet. Folgt man Jacobi, dann handelt es sich dabei um ein Grundproblem, mit dem die Kantische Philosophie als ganze stets ringt. Nicht nur entwirft Kant den Menschen als aufgespalten in zwei widerstreitende Naturen: Er ist Vernunftwesen auf der einen und Sinnenwesen auf der anderen Seite. Auch steht seiner natürlichen Anlage zum Guten ein ebenso natürlicher Hang zum Bösen entgegen. Als ein ›krummes Holz‹, aus dem ›nichts ganz Gerades gezimmert‹ werden kann, erscheint der Mensch hier wie dort. Damit aber nicht genug. Im Durchgang durch entscheidende Etappen der Kantischen Philosophie nach der Kritik der reinen Vernunft entdeckt Jacobi, dass all diese Zwiespalte im Menschen begleitet werden von dem einen ursprünglichen Problem, das er in bestimmter Weise bereits in seiner Kritik am Ding an sich aufgewiesen hatte und das sich, wie ich meine, ganz grundsätzlich als das Problem einer Depotenzierung der Vernunft bezeichnen lässt. Die Geschichte dieses Problems erlebt Jacobi zufolge zwei Fortsetzungen im Entwicklungsgang der Kantischen Philosophie. Im ersten Teil meines Beitrags (I) versuche ich nachzuverfolgen, wie diese sehr komplexe Problemlage Jacobis Ausführungen in seiner Schrift Ueber
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das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen von 1802 zufolge im Bereich des Praktischen, und damit v.a. auch der Religionsphilosophie, zu Tage tritt und sich dort radikalisiert.1 Aus der Sicht Jacobis wird sie im Bereich der Religionsphilosophie erst eigentlich akut. Denn die »große[] Aufgabe allen Philosophierens« bestehe in »einer Religion und Freyheit« ( JWA 2,1, 324, Hervorhebung: M.F.). Beides geht für Jacobi zusammen; und Kant, so sein Urteil, scheitert in beiderlei Hinsicht. Und dies insbesondere auch deshalb, weil all dasjenige, was Kant dann in der Folge unter dem Rubrum ›Religion‹ affirmiert, eine letztlich bloß kompensatorische Funktion erfüllt, indem es Antwort gibt auf bestimmte Mängel, die aus dem erwähnten vielfältig zwiespältigen Wesen des Kantischen Menschen resultieren. Diese Mängel, die ich im zweiten Teil meines Beitrags (II) skizzieren werde, begegnen spätestens in der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft, ganz offenkundig werden sie mit dem Lehrstück vom radikalen Bösen in Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft – einem Lehrstück, für das Jacobi nur Missbilligung übrig hat, da dort, wie er in einer seiner Kladden notiert, »[d]er Begriff der Freyheit […] alle Würde, alle Erhabenheit« verliert, indem »er ein Vermögen auch Böses zu wählen ausdrücken soll«.2 Insbesondere hier wird dann auch deutlich, inwiefern es sich um eine im Endeffekt anthropologische Problemlage handelt. Denn sie beeinflusst letztlich nicht nur Kants Antwort auf die Frage, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (AA VII, 119) – so lautet bekanntermaßen Kants Definition der zentralen Frage einer pragmatischen Anthropologie. Sie beeinflusst ebenso sehr seine Antwort auf die Frage, wie, d. h. mit welchen konkreten Mitteln, er das überhaupt nur aus sich machen kann, was er aus sich machen soll. Damit kommt der engere Bereich einer »moralische[n] Anthropologie« (AA VI, 217) in den Blick. Entscheidendes Mittel wird hier die Religion sein. Kants Auffassung einer solchen Religion, d. h. dann sowohl seinem Vernunftglauben als auch einem von 1
Die Passagen aus der Kritizismusschrift, auf die ich mich im Folgenden in der Hauptsache beziehen werde, um Jacobis Kritik an Kants praktischer Philosophie darzustellen, sind, wie Jacobi selbst in seinem Vorbericht erläutert und auch im Text selbst vermerkt, durch seinen Freund Friedrich Köppen ausgearbeitet worden (vgl. JWA 2,1, 263 f.; 312). Da Jacobi diese wegen einer Krankheit von ihm selbst in Auftrag gegebenen Ausarbeitungen, trotz anfänglicher Unzufriedenheiten (vgl. JWA 2,2, 484), in seine Schrift eingefügt und zur Publikation freigegeben hat, gehe ich davon aus, dass hier Jacobis eigene Position abgebildet ist. 2 Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis, hrsg. von Sophia Victoria Krebs, StuttgartBad Cannstatt 2020, S. 216 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Nachlass. Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hrsg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Reihe I; Band 1,1).
Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant
dort aus zu rechtfertigenden Offenbarungs- oder Kirchenglauben, setzt Jacobi eine eigene, seinem Urteil über Kant entsprechend grundsätzlich andere Konzeption von Vernunftreligion entgegen. Diese trifft, insbesondere im Hinblick auf das Lehrstück vom radikalen Bösen, eine völlig gegensätzliche Aussage über den Menschen. Dem widme ich mich im dritten und letzten Teil meines Beitrags (III).
I.
Ich komme zum ersten Schritt. Was ist das nun für eine Problemlage, die Jacobi im Auge hat? Sie kommt auf mit den klassischen metaphysischen Fragen nach Gott, der Freiheit des Menschen und der Unsterblichkeit der Seele. Diese Fragen, mit denen die »Vernunft«, wie Kant schreibt, »belästigt wird«, kann »sie nicht abweisen […]; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben«, sie kann diese Fragen »aber auch nicht beantworten […], denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (A VII). So heißt es bekanntermaßen in der A-Vorrede der Kritik der reinen Vernunft. Kants These hier lautet, dass uns eine Beantwortung dieser Fragen – ob Gott existiert, ob der Mensch frei ist und ob wir ein Leben nach dem Tod zu erwarten haben – auf Basis von Erkenntnis nie möglich sein wird, da die in ihnen adressierten Gegenstände nie Gegenstände möglicher Erfahrung sein können. Es handelt sich um bloße Ideen. Und mehr noch – eine Erkenntnis dieser Gegenstände ist uns nicht nur nicht möglich, sondern, wie Kant schreibt, »zum Wissen gar nicht nötig« (A 799 / B 827). Das »bloß spekulative Interesse der Vernunft« an diesen Gegenständen ist entsprechend »nur sehr gering« (A 798 / B 826). »Wir sollen das Daseyn Gottes, und ein Leben nach dem Tode«, so reformuliert Jacobi diese These Kants in einem Brief an Goethe, zwar »nicht läugnen; aber schlechterdings beydes philosophisch ignorieren.« ( JBW I,4, 277) Dass es sich hierbei natürlich bereits um eine kritische Spitze gegen Kant handelt, sei dahingestellt. Die zu konstatierende Dringlichkeit der Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit entspringt – dies ist eine beachtenswerte Unterscheidung, die Kant vornimmt und mit der Jacobi ohne Zweifel einverstanden gewesen sein wird – nicht dem »Felde der Wissenschaften«, sondern liegt im »Interesse der Menschen« (B XXXI f., Hervorhebung: M.F.) begründet. Sie verweist somit, wie auch Birgit Sandkaulen bereits betont hat, auf eine »ursprüngliche«, und d. h. vorphilosophische, »metaphysische Disposition«,3 auf ein existenzielles Bedürfnis nach Metaphy3 Birgit
Sandkaulen: »Letzte oder erste Fragen? Zum Bedürfnis nach Metaphysik in
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sik. Die »Wichtigkeit« einer solchen Metaphysik wird entsprechend nicht im Rahmen des Theoretischen verhandelt werden können, sondern wird, so Kant in diesem Sinne, »wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen« (A 799 f. / B 827 f.). Setzt man hier nun die Bestimmungen des Theoretischen auf der einen und des Praktischen auf der anderen Seite an, die Kant selbst, in der B-Vorrede der Kritik der reinen Vernunft, anbietet, dann geht es also letztlich nicht darum, die entsprechenden Ideen begrifflich »zu bestimmen«, sondern das an ihnen für den Menschen Entscheidende zu verwirklichen, sie, wie Kant schreibt, »wirklich zu machen« (B X). Dieses »Wirklich-machen« von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gegenüber dem Nachweis ihrer bloßen Denkmöglichkeit geschieht im Rahmen der Kritik der praktischen Vernunft, und dort vor allem im Theoriestück der sogenannten Postulatenlehre. Hier bekommen diese »drei Ideen der speculativen Vernunft«, die zwar keine Erkenntnis der in ihnen adressierten Objekte bedingen, durchaus aber »Gedanken« sind, »in denen nichts Unmögliches ist«, Kant zufolge »objective Realität«, insofern wir genötigt sind anzunehmen, dass sie nichtsdestotrotz »Objecte haben« (AA V, 135). Das Dasein Gottes, die Freiheit des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele sind für Kant folglich »nicht theoretische Dogmata«, d. h. über die Restriktion theoretischer Vernunfterkenntnis hinaus unbegründete Setzungen, sondern »Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht« (AA V, 132) – dies jedoch in zweierlei Hinsicht. Während Freiheit die »Bedingung des moralischen Gesetzes ist«, so Kant in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft, sind die »Ideen von Gott und Unsterblichkeit […] nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens«, oder genauer: »Bedingungen der Anwendung des moralisch bestimmten Willens auf sein ihm a priori gegebenes Object« eines »höchste[n] Gut[es]« (AA V, 4, Hervorhebungen: z. T. M.F.). Ohne mich hier in die umfangreichen Diskussionen um Kants Lehre vom höchsten Gut vorzuwagen, scheint mir hiermit aber doch Folgendes gesagt: Zwar ist das Moralgesetz als »der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens« (AA V, 109) anzusehen – dies geht, wie Kant den Leser zu Beginn des Dialektik-Kapitels der Kritik der praktischen Vernunft erinnert, aus deren Analytik hervor. Gleichwohl »abstrahirt es« als ein solcher »von aller Materie, mithin von allem Objecte des Wollens« (ebd.). Während eine solche Abstraktion zunächst nötig war, um nicht »vor dem moralischen Gesetze irgend ein Object unter dem Namen eines Guten als Bestimmungsgrund des Willens« einer Skizze zu Kant und Jacobi«, in: Markus Gabriel, Wolfram Hogrebe und Andreas Speer (Hg.): Das neue Bedürfnis nach Metaphysik, Berlin und Boston 2015, S. 49–58: S. 54.
Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant
anzunehmen »und von ihm dann das oberste praktische Princip« abzuleiten, was, wie Kant schreibt, »alsdann jederzeit Heteronomie herbeibringen […] würde« (ebd.), bedarf es nun jedoch durchaus wieder eines solchen Objekts. Denn es geht hier letztlich um einen zwar »reinen«, nicht jedoch »heiligen Willen«, mithin um den Willen des Menschen als zwar »vernünftige[s]«, aber »endliche[s] Wesen« (AA V, 32, Hervorhebung: z.T. M.F.), um das also, was Kant im engeren Sinne ›Willkür‹ nennt. Eine solche Willkür ist nun erstens überhaupt nicht ohne einen Gegenstand zu denken, auf dessen Verwirklichung als Zweck er sich bezieht. Denn »eine Willkür, die sich keinen weder objectiv noch subjectiv bestimmten Gegenstand (den sie hat, oder haben sollte) zur vorhabenden Handlung hinzudenkt«, kann, so Kant in der Religionsschrift, indem sie zwar dazu angewiesen ist, »wie sie, aber nicht wohin sie zu wirken habe […], sich selbst nicht Gnüge thun« (AA VI, 4, Hervorhebungen: z. T. M.F.). Zweitens bedarf es hier auch eines ganz speziellen Gegenstands, eines Gegenstands nämlich, der die Glückseligkeit in sich zu integrieren vermag, denn »[g]lücklich zu sein«, so heißt es bereits in der Anmerkung II zum § 3 der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft, »ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens« (AA V, 25). So ist zwar klar, »[d]aß Tugend (als die [durch einen moralisch bestimmten Willen bedingte] Würdigkeit glücklich zu sein) die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswerth scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das oberste Gut sei […]. Darum ist sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert« (AA V, 110) – in welchem Verhältnis auch immer; diesen Punkt stelle ich zunächst zur Seite. Nun hob die Kritik an einem aus Tugend und Glückseligkeit zusammengesetzten höchsten Gut mit der unmittelbaren Rezeption der Kantischen Moralphilosophie an. Als störend wurde vor allem die Einmengung eines vermeintlich eudaimonistischen Elements empfunden.4 Wenngleich sich auch bei ihm ein solcher Gedanke finden lässt, ist das eigentliche Problem, das Jacobi im Folgenden ausmacht, demgegenüber jedoch ein sehr viel fundamentaleres, insofern es nicht eigentlich die internen Bestandteile des höchsten Gutes, sondern dessen Funktion innerhalb der praktischen Philosophie als solcher betrifft. Denn wenn Kant schreibt, dass die »Ideen von Gott und Unsterblichkeit […] nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines 4 Vgl.
Michael Albrecht: Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim und New York 1978, S. 43–48.
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durch dieses Gesetz bestimmten Willens« (AA V, 4, Hervorhebungen: M.F.) sind, so ist das durchaus nicht wenig. Eine allzu privilegierte Stellung des Zusammenhangs von Freiheit und Moralgesetz gegenüber dem des höchsten Gutes und den dazugehörigen Überlegungen zum Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, die diese Formulierung Kants suggeriert, ist mit Blick auf seine eigene Systematik nicht zu rechtfertigen. Auch wenn Kant seit seiner von Dieter Henrich so bezeichneten »Selbstrevision« in der »Begründung des sittlichen Bewusstseins«5 ab 1784 und also auch in der Kritik der praktischen Vernunft darum bemüht ist, das höchste Gut aus der Begründung der Verbindlichkeit des Prinzips einer Moralphilosophie herauszuhalten, hängt es letztlich doch gerade an der Möglichkeit eines solchen höchsten Gutes, dass sich, so Kant an späterer Stelle selbst, nicht auch das Moralgesetz letztlich als »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt«, mithin als »an sich falsch« (AA V, 114) erweist. Jacobi bemerkt dies nicht nur auch, sondern erkennt zugleich, dass »[d]as Kantische Moralsystem« sich gerade damit, mit dieser entscheidenden Stellung des höchsten Gutes, »in seinem eignen Ende gefangen« nimmt ( JWA 2,1, 328, Hervorhebung: M.F.). Es tut dies, insofern die Möglichkeit dieses höchsten Gutes nämlich selbst wiederum am Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele hängt. Der »moralische Glaube« an Gott und die Unsterblichkeit der Seele – so formuliert Walter Jaeschke dieses Problem – »ist nicht erst die Folge einer in sich gegründeten, autarken Ethik. Entgegen dem Anschein ist er – wie in der ersten Kritik – die Voraussetzung ihrer Verbindlichkeit«.6 Jacobi macht nun seinen ersten Punkt in bestimmter Weise auch mit Blick auf Kants erste Kritik bzw. mit Blick auf seine eigene Kritik dieser ersten Kritik. Es sei nämlich einer der zentralen »Grundsätze«, die »uns ohne Zweifel, mit Einwilligung der kritischen Philosophen, auf ihr praktisches Feld begleiten [dürfen]« ( JWA 2,1, 322) – so setzt er an –: dass nämlich »der Religion und Freyheit Realität zugeschrieben« werden muss, »sonst gehörten sie ins Reich der subjectiven Ideen und Dichtungen, und verdienten keinen Platz in einem Systeme des Wahren« ( JWA 2,1, 322 f.). Und jetzt ist schon klar, in welche Richtung das geht. Jacobi kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie schon in seiner Kritik am Ding an sich. Auch im Bereich des Praktischen, und das heißt hier genauer: im Bereich des »Vernunftglaube[ns]« (AA V, 126), ergeht es Kant 5 Dieter
Henrich: »Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft«, in: ders., Walter Schulz und Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Hg.): Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1960, S. 77–115: S. 106. 6 Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der spekulativen Religionsphilosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 66.
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»wie mit allem Realen, für sich Bestehenden überhaupt, es ist verschwunden, sobald man es genauer ins Auge faßt« ( JWA 2,1, 325). Denn es bleibt nicht nur unklar, welchen Zugewinn die von Kant angestrengte Rede davon mit sich bringen soll, dass die Ideen von Gott und Unsterblichkeit in praktischer Rücksicht ›Objekte haben‹, die wir in theoretischer Rücksicht jedoch nicht erkennen können. Für Jacobi ist es vielmehr umgekehrt völlig klar, dass, vor dem Hintergrund der auch von Kant vielfach beteuerten Einheit der Vernunft, »die Objectivität, welche postulirt wird«, gar nichts anderes sein kann als die, wie er schreibt, »nämliche Objectivität, welche durch jeden objectiven Vernunftgebrauch aufgehoben wurde« ( JWA 2,1, 323). Die von Kant vorgenommene Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Objektivität ist für Jacobi folglich nichts mehr als eine Scheindifferenz. Denn wenn nämlich erstens gilt, dass »die Vernunft, vermöge welcher wir philosophiren, […] eine und dieselbe« ist, »obgleich sie, durch die Verschiedenheit ihres Gebrauchs bald praktisch, bald theoretisch genannt wird«, und, daraus folgend, zweitens gilt, »daß sie in ihrem Gebrauche sich selbst nicht widerspreche« (ebd.), so kann sie auch hinsichtlich der Objektivität der nunmehr praktischen Gegenstände von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht mehr erwirken als zuvor, indem sie nun »etwas theoretisch Unerweisliches nothwendig postulirt« ( JWA 2,1, 322 f.). Der »Widerspruch«, der als ein Widerspruch eines weder abweisbaren noch aber zu stillenden Bedürfnisses nach Metaphysik zunächst scheinbar harmlos auf den Plan trat, fällt hier also, entgegen der von Kant evozierten Erwartung, »nicht weg, sondern erhält durch den Namen eines Postulats« sogar vielmehr »systematische Sanction« ( JWA 2,1, 323, Hervorhebung: M.F.). Insofern nämlich, als er, auf die nächsthöhere Systemebene transponiert, sich zu einem Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft – zwischen dem, was die eine nicht kann, und dem, was die andere aber können soll – erweitert: »Der Mensch«, so Jacobi, »steht nach Kantischer Angabe, durch seine Vernunft, in einem ewigen Widerspruch zwischen seinen praktischen Postulaten und seinem Vernunftgebrauche; er kann nicht gelangen zum Erkennen jener großen Aufgabe alles Philosophirens, einer Religion und Freyheit«, aber auch »nicht zum Glauben derselben; sondern besitzt an ihnen ein […] für etwanigen Gebrauch« zwar scheinbar »nützliches Ideenmagazin«, das de facto jedoch »bloß problematisch[]« bleibt, denn »[d]ie Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit auf, gewissen Ideen objective Existenz zu verleihen« ( JWA 2,1, 324 f.). Vielmehr muss man mit Jacobi fragen, woher überhaupt dieses Bedürfnis kommt. Auf jeden Fall wird der Anspruch auf »Realität«, mit deren Hilfe »Religion und Freyheit« aus dem »Reich der subjectiven Ideen und Dichtungen« in ein »System[] des Wahren« hinüber-
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gerettet werden sollten, zumindest vorerst für den Bereich dessen, was hier Religion abdecken soll, seiner Ansicht nach nicht eingelöst ( JWA 2,1, 322 f.). Der Vorwurf eines »Nichts«, das Kant bloß ein »Etwas nennt«, ist einmal mehr der »Schlüßel zu dem ganzen System« ( JBW I,4, 277) – so eine Formulierung Jacobis aus dem bereits zitierten Brief an Goethe. Denn er gilt Jacobi zufolge nun nicht mehr nur für Kants Ding an sich, sondern in analoger Weise auch für die Postulate von Gott und Unsterblichkeit. Hier tritt also erneut das Problem auf den Plan, das ich anfangs als Depotenzierung der Vernunft bezeichnet habe. War die Vernunft bereits im Rahmen des Theoretischen, wie erneut Birgit Sandkaulen bemerkt, nie »eine genuine – ursprüngliche – Quelle der Erkenntnis«, sondern lediglich »ein Vermögen, das stets nur rückbezüglich auf den Verstand operiert«, und waren alle »metaphysischen Ideen« als »stets nur ins Unbedingte erweiterte Kategorien der Relation« entsprechend zu restringieren,7 ist es im Praktischen nun umgekehrt der Verstand, der im operativen Ausgriff auf die Vernunft, deren Ausruf »sic volo, sic jubeo, sic est« ( JWA 3, 85) – so heißt es in den Göttlichen Dingen – gerade im Blick auf den entscheidenden letzten Aspekt des ›sic est‹, der emphatischen Realität Gottes und der Unsterblichkeit, nicht nur in seine Schranken weist. Der Vernunft wird hier vielmehr erneut und mit sehr viel weiterreichenden Konsequenzen eine Grenze gesetzt, die Jacobi zufolge nicht besteht – was nicht bedeutet, keine andere, »schon gesetzte« Grenze zu »finden, und sie [zu] lassen« ( JWA 1,1, 29), wie Jacobi im Gespräch mit Lessing bemerkt. Dazu gleich mehr. Für Kant gilt, im Praktischen wie im Theoretischen, dass »[d]er Verstand, welcher in seinen Kategorien die Bedingung aller Erfahrung enthält«, diese ebenso wenig auf jene nun »praktischen Gegenstände anwenden« kann, sodass die Vernunft, vom Verstand erneut begrenzt, die nurmehr »sonderbare Rolle [spielt], daß sie ›als nothwendig voraussetzt, was der Verstand unmöglich heißt‹« ( JWA 2,1, 323). Indem diese Voraussetzung aber nicht eingeholt werden kann, da Kant nie zur objektiven Realität Gottes und der Unsterblichkeit, sondern bloß zur subjektiven Annahme derselben gelangt, erweist sich »das ganze Gerüst« auch der praktischen Philosophie als ein »Nihilismus; eine Luftsäule in Luft angesetzt und in Luft aufgelöst« ( JWA 2,1, 325).
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Sandkaulen: Letzte oder erste Fragen, S. 57.
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II.
Ich komme zum zweiten Schritt. Und dieser Schritt markiert nun den Übergang, den Robert Louden als Übergang vom ›rational being‹ zum ›human being‹, wie ich finde, sehr treffend bezeichnet hat.8 Und das ist nun der Übergang zu dem sozusagen anwendungsbezogenen Sachbereich einer »moralische[n] Anthropologie« (AA VI, 217). Diese, als »das andere Glied der Eintheilung der praktischen Philosophie überhaupt«, befasst sich nun v.a. auch mit den konkreten »subjective[n], hindernde[n] […] Bedingungen« der Verwirklichung von Moralität »in der menschlichen Natur« (ebd., Hervorhebung: M.F.). Diese Bedingungen lassen den Menschen überhaupt erst als moralischen Akteur in der Welt in den Blick kommen. Dies geschieht aus Jacobis Perspektive sehr spät. Ihm geht es von vornherein um einen solchen Akteur. Bis Kant aber so weit ist, hat er sich Jacobi zufolge längst schon mit Problemen beladen, die er nicht mehr richtig auflösen kann. Er verzettelt sich sogar noch weiter. Der von Jacobi ausgewiesene Widerspruch zwischen praktischen Postulaten und theoretischem Vernunftgebrauch betrifft nämlich ganz entscheidend auch diesen Sachbereich des Menschen als moralischen Akteur in der Welt. Es bleibt entsprechend nicht beim Nachweis dieser vernunftimmanenten Strukturproblematik einer für Kant rückwirkend nicht einzuholenden Voraussetzung. Das volle Ausmaß des problematischen Charakters insbesondere der Postulate von Gott und Unsterblichkeit ergibt sich nicht allein aus der ihnen zugeschobenen Beweislast, sondern Jacobi zufolge auch aus einer ihnen zukommenden kompensatorischen Funktion. Die starke Beweislast, die in der Rede davon zum Ausdruck kommt, dass es an der Möglichkeit eines höchsten Gutes hängt, ob sich das Moralgesetz nicht letztlich als ›an sich falsch‹ erweist, wird nämlich nur deshalb überhaupt auf die Postulate verschoben, da sich mit Blick auf den Menschen als möglichen moralischen Akteur zunächst zwei entscheidende Mängel offenbaren, die es nicht so einfach machen, diese so dringend geforderte Möglichkeit des höchsten Gutes aufzuweisen. Das lediglich »subjective[] Object« eines praktischen Postulats ist in diesem Sinne, so Jacobi, »ein Gift«, das gerade deshalb »unheilbar wirkt, weil es unter dem Scheine der Arzney gegeben wird« ( JWA 2,1, 325). Was aber ist hier die vermeintliche Krankheit? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst noch auf eine letzte Näherbestimmung des höchsten Gutes hinzuweisen, die ich bisher ausgespart habe: das interne Verhältnis der beiden Bestandteile dieses höchsten Gutes zueinander ist dasjenige der ange8 Vgl.
Robert B. Louden: Kant’s Impure Ethics. From Rational Beings to Human Beings, Oxford 1999.
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messenen Proportion. Das höchste als »das ganze« und damit »das vollendete Gut« definiert Kant sogar entsprechend als »Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit […] ausgetheilt« (AA V, 110, Hervorhebung: M.F.). Dass eine solche Austeilung de facto nicht geschieht, ist das eine. Dazu, dass unsere Welt aber überhaupt erst als eine Welt angesehen werden kann, in der eine solche Austeilung überhaupt nur möglich ist (vgl. ebd.), bedarf es nun der Annahme der Existenz Gottes – und zwar genauer: der Existenz Gottes als »oberste Ursache der Natur« (AA V, 125), die somit eine vernünftige Ursache ist. Nur über diesen Weg ist die scheinbar der Möglichkeit der angemessenen Proportion von Tugend und Glückseligkeit widerstreitende Naturkausalität als eine letztlich doch »der moralischen Gesinnung gemäße Causalität« (ebd.) anzunehmen. Der Mensch allein ist zu dieser Annahme in keiner Weise gerechtfertigt, denn als »handelnde[s] vernünftige[s] Wesen in der Welt« – man beachte die Wortwahl Kants – ist er gerade »nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst« (AA V, 124, Hervorhebungen: M.F.). Also – und das betont Kant selbst noch einmal dezidiert – liegt auch »in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem nothwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionirten Glückseligkeit eines zur Welt als Theil gehörigen und daher von ihr abhängigen Wesens, welches eben darum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein und sie, was seine Glückseligkeit betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann« (AA V, 124 f., Hervorhebungen: M.F.).
Das Postulat der Existenz Gottes antwortet also auf den Mangel an Einstimmigkeit von natürlicher und vernünftiger Weltordnung, von »Natur und Sitten« (AA V, 128). Dieser – so kann man vielleicht sagen – kosmologische Mangel wird flankiert durch einen im engeren Sinne anthropologischen Mangel, den Kant in der Reflexion 6634 nun dezidiert als einen »Mangel der heiligkeit« [sic] (AA XIX, 120) bezeichnet. »Heiligkeit«, als die, so Kant, »völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetze«, ist einerseits »oberste Bedingung des höchsten Guts«, da sie Sittlichkeit in vollem Sinne erst eigentlich konstituiert, stellt anderseits jedoch »eine Vollkommenheit« dar, »deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt«, also kein Mensch, »in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist« (AA V, 122). Sie kann, wenn überhaupt, so Kant weiter, »nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden«, dessen Möglichkeit wiederum »nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich« ist (ebd.).
Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant
Jacobi bemerkt hier nun eine wichtige Problemverschiebung. Beim kosmo logischen Mangel an Einstimmigkeit von vernünftiger und natürlicher Weltordnung ging es um Glückseligkeit in ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit. Indem mit dem anthropologischen Mangel der Heiligkeit nun aber nicht mehr nur auf das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit, sondern vielmehr zurück auf die Sittlichkeit selbst als ein Verhältnis von menschlichem Willen und moralischem Gesetz zurückgegangen werden muss, gerät nun auch die Freiheit als letzte der ›drei spekulativen Ideen‹ in den Blick, die es im Praktischen ›wirklich zu machen‹ galt. Auch diese Freiheit offenbart aber nurmehr, so formuliert Jacobi, ihre »problematische Natur« und »[z]erstört sich […] durch einen unvertilgbaren Widerspruch in ihrer eignen Definition« ( JWA 2,1, 325). Und Jacobi meint hier: in ihrer Definition, wie Kant sie im Laufe der Entwicklung seines Denkens ändert. Er meint also das, was Gordon Michaelson Kants ›fallen freedom‹ genannt hat.9 Jacobi zufolge ist nämlich in diesem Mangel der Heiligkeit und dem darin problematisierten Verhältnis von menschlichem Willen und moralischen Gesetz dasjenige problematische Verhältnis von Willkür und Freiheit vorgezeichnet, das erst einige Jahre später im dem Lehrstück vom radikalen Bösen in der Religionsschrift explizit wird. Dort entwirft Kant einen völlig anderen Freiheitsbegriff, der schwer in Einklang zu bringen ist mit demjenigen der Kritik der praktischen Vernunft. Jacobi bringt diesen erneuten Widerspruch nun auch der Freiheit auf den Punkt, indem er entscheidende Passagen aus der Religionsschrift zitiert: »Die praktische Vernunft entwirft, unabhängig von aller Sinnlichkeit und Begierde, ein moralisches Gesetz, und unsere Freyheit besteht: ›in der Unabhängigkeit der Willkühr von der Bestimmung durch alle andren Triebfedern außer dem moralischen Gesetz, welches sich schlechthin als die höchste Triebfeder verkündigt.‹ Wollten wir nun in unsrer Freude glauben, diese Abhängigkeit der Willkühr vom sittlichen Gebote mache ihre Freyheit aus, und der moralische Mensch sey ein redendes Beyspiel dieser Freyheit: so würden wir dennoch ihre wahre Natur verkennen. Denn die Freyheit der Willkühr ist ›von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur so fern sie der Mensch in seine Maxime aufgenommen hat.[‹] Hätte er sie also nicht in seine Maxime aufgenommen: so wäre die Willkühr, nach der ersten Aussage, nicht frey; und handelte doch, nach der zweyten Aussage, ihrer eignen freyen Natur gemäß.« (JWA 2,1, 326) 9
Vgl. Gordon E. Michaelson: Fallen Freedom. Kant on Radical Evil and Moral Regeneration, Cambridge 1990.
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Mit dieser hier angeführten Maxime, genauer: mit dieser obersten Maxime eines ganzen, aus ihr hervorgehenden Systems von Maximen, die Kant auch als ›Gesinnung‹ bezeichnet,10 ist, wie Jacobi erneut die Religionsschrift zitiert, auch der »[›]Grund zum Bösen‹« ( JWA 2,1, 327) gegeben. Hat Jacobi bisher erneut und nun auch für den Bereich des Praktischen gültig auf eine problematische Depotenzierung der Vernunft durch die Suprematie des Verstandes hingewiesen, wird eine solche Depotenzierung nun auch vonseiten der Willkür betrieben. Und das ist nun die angekündigte zweite Fortsetzung dieser Geschichte. Sie gipfelt im Lehrstück vom radikalen Bösen. Kant versucht mit diesem Lehrstück dem Problem zu begegnen, wie der Mensch als konkreter Akteur für sein konkretes amoralisches Handeln in der Welt verantwortbar gemacht werden kann. Sein Ausgangspunkt ist also ein dezidiert empirischer. Der Mensch soll danach beurteilt werden, »wie man ihn durch Erfahrung kennt« (AA VI, 32). Die bisherige Dualität von Freiheit als durchs Moralgesetz bestimmter Wille auf der einen und der sinnlichen Natur entspringenden Neigungen auf der anderen Seite reicht zur Zuschreibung von Verantwortbarkeit aber nicht hin. Amoralisches Handeln wäre eo ipso immer schon unfreies Handeln. Kant verlegt die Freiheit also in die Willkür, sodass die Instanziierung sowohl des moralischen Gesetzes als auch der diesem Gesetz entgegenstehenden Selbstliebe als oberste Maxime als strukturell gleichwertig angesehen werden kann. Um aber dem Bedingtheitscharakter der Willkür zu entkommen, die ja der Wille eines konkreten endlichen, d. h. in zeitliche und räumliche Kausalverhältnisse eingebundenen, in der Welt handelnden Menschen ist, muss Kant zuletzt noch diese Instanziierung in ein ontologisches Jenseits zu dieser weltlichen Eingebundenheit konkreten Handelns verlegen; sie ist »intelligibele That« (AA VI, 31), als solche dann »unerforschlich[]« (AA VI, 21), insofern von ihr »nun nicht wieder der subjective Grund oder die Ursache erkannt werden« kann, »weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß« (AA VI, 25), und so weiter. Wir hätten es also mit einem Regressproblem zu tun und hätten die Möglichkeit von Verantwortbarkeit direkt wieder verspielt. Das heißt aber umgekehrt, dass Kant durch dieses Konzept der intelligiblen Tat wieder abrücken muss von jedem, wie er schreibt, »Zeit-Actus der Willkür«, somit wieder abrücken muss vom Menschen als konkretem moralischen Akteur. Er ist nurmehr berechtigt, vom Menschen als Gattungswesen zu sprechen. In diesem Sinne sei der Mensch, so erklärt sich Kant, »von Natur gut oder 10
Vgl. Matthew Caswell: »Kant’s Conception of the Highest Good, the Gesinnung, and the Theory of Radical Evil«, in: Kant-Studien 97,2 (2006), S. 184–209: S. 191–196.
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böse« (ebd., Hervorhebung: M.F.). Indem er sich nun noch dazu berechtigt sieht, von einem »natürlichen Hang zum Bösen« im Sinne einer Aussage über den universalen, jede Empirie zuallererst begründenden Status des Menschen an sich zu sprechen, wird der Charakter des Guten im Wesentlichen – und das ist nun Jacobis entscheidender letzter Vorwurf – durch das Böse bestimmt. Denn in der Tat – Kants Antwort auf die eingangs gestellte Frage, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll« (AA VII, 119), lautet entsprechend, sich in seiner Gattungsgemeinschaft »zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren«, und d. h. näherhin, sich stetig »im Kampf« zu befinden »mit den Hindernissen, die ihm von der Rohheit seiner Natur anhängen« (AA VII, 324 f., Hervorhebungen: z. T. M.F.). »[D]ie Geschichte der Freiheit«, verstanden als ihre Verwirklichung in der Welt, fange schlechterdings »vom Bösen [an], denn sie ist Menschenwerk« (AA VIII, 115). Das Gute in diesem Sinne »wird im Kantischen Systeme«, wie Jacobi entsprechend kritisiert, zu einer bloß negativen Bestimmung, es wird bloß »auf das Böse geimpft; das Verdienst der Tugend und die Größe der Sittlichkeit auf die Unterjochung schlimmer Maximen; die Gerechtigkeit der Kinder Gottes auf eine Enterbung des Teufels« ( JWA 2,1, 327).
III.
Ich komme zum dritten und letzten Schritt. Während der Vernunftglaube und dessen Gegenstände Gott und Unsterblichkeit auf den Mangel der Einstimmigkeit von Natur und Sittlichkeit einerseits und auf den Mangel an Heiligkeit anderseits antworten, kommt dem Kirchenglauben in analoger Weise kompensatorische Funktion zu für dieses im eigentlichen Sinne anthropologische Problem einer bösen Gesinnung des Menschen. So ist »die Offenbarung als an sich zufällige Glaubenslehre«, wie Kant in Der Streit der Fakultäten schreibt, aus der Perspektive der Vernunft zwar »außerwesentlich, darum aber doch nicht […] unnöthig und überflüssig« (AA VII, 9). Ganz im Gegenteil sogar kompensiert eine solche Glaubenslehre »den theoretischen Mangel des reinen Vernunftglaubens«, den dieser Kant zufolge nun auch gar nicht »abläugnet«, z. B. hinsichtlich der ganz entscheidenden Frage des »Übergang[s] [vom Bösen] zum Guten« (ebd.), d. h. der moralischen Regeneration. Laut Kants Anthropologie ist sie gerade in dieser Hinsicht nicht nur die »einige Zeit nützliche«, sondern sogar »nöthige Hülle von der Sache selbst« (AA VII, 192, Hervorhebung: M.F.), d. h. des Sittengesetzes, das als oberste Maxime instanziiert werden soll.
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Eine besondere Funktion nimmt hier der Glaubensartikel von Jesus Chris tus als Sohn Gottes ein. Wir haben es also, wenn man es mit Begriffen aus der Theologie bezeichnen möchte, mit so etwas wie einer philosophisch domestizierten Christologie als Antwort auf eine ebenso philosophisch domestizierte Hamartiologie, einer Lehre von der Sünde, zu tun. Das Ideal »einer moralischen Vollkommenheit«, d. h. das »Ideal der Heiligkeit«, das Kant in der Religionsschrift ausdehnt auf das »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit« (AA VI, 61), ist uns nämlich nicht nur deshalb Ideal, weil wir, wie gesehen, als endliche Vernunftwesen nie den »moralische[n] Zustand« der »Heiligkeit« als »vermeintlichen Besitz[] einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens« erreichen und uns, zumindest in dieser Welt, wenn überhaupt nur im Zustand der Tugendhaftigkeit als »moralische Gesinnung im Kampfe« befinden können (AA V, 84). Es ist auch deshalb Ideal, weil wir es uns »nicht anders denken [können], als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre« (AA VI, 61).
Nur »[i]m praktischen Glauben« an einen solchen »Sohn Gottes (sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden« (AA VI, 62). Insbesondere angesichts der Gefahr des natürlichen Hangs zum Bösen, d. h. zur willentlichen Aufnahme des dem moralischen Gesetze widerstreitenden Prinzips der Selbstliebe zur obersten Maxime, ist es gerade dieser Artikel vom Gottessohn, den das Christentum als Symbol des Sittengesetzes bereitstellt und das zur »motivationalen Erbauung des Individuums«11 unabdingbar ist, wie Stefan Schick jüngst formuliert hat. Unabdingbar, nämlich insofern der Glaube daran »dem Menschen Hoffnung« gibt, »dass auch seine moralische Gesinnung allen Angriffen widerstehen kann«.12 Wie »Religion ohne moralische Gewissenhaftigkeit« zu bloß »abergläubische[m] Dienst« wird, so formuliert Kant in seiner Vorlesung über Pädagogik, bleibt jede »moralische Gewissenhaftigkeit […] ohne Wirkung«, wenn nicht »die Religion […] hinzukommt« (AA IX, 495).
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Stefan Schick: Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt/M. 2019, S. 454. 12 Ebd., S. 451.
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Dem stimmt Jacobi nicht zu. Zwar bekennt er sich zu einer in gewisser Hinsicht religiösen Motivation seines Denkweges. Seine »Philosophie« sei in bestimmter Weise auch durchaus selbst »Religion«, insofern sie, so sein Verständnis dieses Ausdrucks hier, »nicht nach Wahrheit überhaupt – einem Ungedanken, wie Daseyn oder Wirklichkeit überhaupt – sondern nach einer bestimmten, Kopf und Herz befriedigenden Wahrheit« strebe ( JWA 1,1, 339). Ein wie von Kant entworfenes Verhältnis der Abhängigkeit sowohl moralischer Begründung als auch Verwirklichung von Religion – das eine Mal in Form von Vernunft-, das andere Mal in Form von Kirchenglauben – findet sich bei Jacobi jedoch nicht. Vielmehr geht er gleichermaßen hinter Philosophie, und d. h. auch Moralphilosophie, und positive Religion zurück und legt ihr gemeinsames Fundament in der ursprünglichen Erfahrung freiheitlichen Handelns des Menschen als Person frei. Und damit, so meine ich, findet sich in entscheidender Weise auch bei Jacobi eine im Kern anthropologische Fundierung dessen, was er dann im engeren Sinne Religion nennt. Jacobis Überlegungen dazu setzen an bei einer Phänomenologie der Freiheitserfahrung. Indem ich meine Freiheit im Handeln als wirklich erfahre, erfahre ich erstens, dass ich es bin, der da handelt, und kein anderer. Zweckursächliches, den »Mechanismus, welcher das sinnliche Daseyn des einzelnen Wesens ausmacht«, überwindendes und darin, wie Jacobi schreibt, »überwiegen[des]« ( JWA 1,1, 164) Handeln bedarf eines personalen Autors eines entsprechenden Zwecks und eines personalen Akteurs einer diesem Zweck entsprechenden Handlung. In der Regel ist das ein und dieselbe Person. Ich erfahre mich in diesem Sinne als absolut, als unbedingt. Verantwortbarkeit liegt für Jacobi genau in diesem Aspekt einer jeden konkreten Handlung begründet. Es bedarf hier keiner Metaphysik eines bösen Charakters. In dieser Unbedingtheitserfahrung, so gehen seine Überlegungen weiter, erfahre ich zugleich aber auch zweitens, dass ich nicht ich wäre ohne ein mir ebenso personales Gegenüber. Ich erfahre mich als bedingt. Und hierin liegt die angekündigte Grenze, die es Jacobi zufolge zu ›finden‹ und zu ›lassen‹ gilt. »[O]hne Du, ist das Ich unmöglich«, heißt es bereits in der ersten Auflage der Spinozabriefe ( JWA 1,1, 116). Und auch die Freiheitsabhandlung, die Jacobi zuerst als Erweiterung der zweiten Auflage der Spinozabriefe und später noch einmal seinem Brief an Fichte als Anhang beigefügt hat, arbeitet mit genau dieser Dialektik der Dialogizität: »Daß sich das Daseyn aller endlichen Dinge auf Mitdaseyn stütze, und wir nicht im Stande sind, uns von einem schlechterdings für sich bestehenden Wesen eine Vorstellung zu machen, ist unläugbar«, schreibt er dort; »aber ebenso unläugbar« sei es, »daß wir noch weniger im Stande sind, uns eine Vorstellung von einem schlechterdings abhängigen Wesen zu machen« ( JWA 1,1, 163). »Ich nehme
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den ganzen Menschen, ohne ihn zu theilen«, so der dieser Dialektik korrespondierende Wortlaut aus der Beilage VII, »und finde, daß sein Bewußtseyn aus zwey ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt ist. Beyde sind unzertrennlich mit einander verknüpft« ( JWA 1,1, 260, Hervorhebungen: M.F.). Eine Aufspaltung dieser beiden Vorstellungen, vor deren Hintergrund eine wie auch immer im Widerstreit mit sich selbst liegende menschliche Natur erst denkbar wird, ist für Jacobi eine künstliche. Zum ›krummen Holz‹ werden wir also, wenn überhaupt, nachträglich nur gemacht. Auch geraten wir deshalb nicht in die Verlegenheit, uns mit den ›nicht ganz geraden‹ Antworten praktischer Postulate zufrieden geben zu müssen. Denn, so geht die Beilage VII weiter, »[w]ir brauchen […] das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Daseyn dieselbige, ja eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem eigenen bedingten Daseyn haben« (ebd.). Ich hätte die Vorstellung meiner eigenen Unbedingtheit, die sich in der konkreten Erfahrung der Freiheit instantan als immer schon bedingte Unbedingtheit offenbart, nicht, wenn ihr nicht ein absolut Unbedingtes zugrunde liegen würde. Das mit dem unmittelbaren Bewusstsein freiheitlichen Handelns, d. h. mit dem unmittelbaren Bewusstsein personalen Selbstseins gleichursprünglich mitgegebene Bewusstsein des Unbedingten ist für Jacobi deshalb Gottesbewusstsein. Religion in diesem Sinne ist für ihn sehr viel mehr als für Kant Anthropologie als »Menschenkenntniß« (AA VII, 119); Jacobi schreibt: »Erkenne dich selbst, ist nach dem Delphischen Gott und nach Sokrates das höchste Gebot, und sobald es in Anwendung kommt, wird der Mensch gewahr: ohne göttliches Du sey kein menschliches Ich, und umgekehrt« ( JWA 1,1, 348 f.). Die Erfahrung des eigenen Personseins gründet sich entsprechend »auf ein unabweisbares unüberwindliches Gefühl als ersten und unmittelbaren Grund aller Philosophie und Religion; auf ein Gefühl, welches den Menschen gewahren und inne werden läßt: er habe einen Sinn für das Uebersinnliche. Diesen Sinn« nennt Jacobi nun »Vernunft, zum Unterschiede von den Sinnen für die sichtbare Welt« ( JWA 1,1, 341). »Vernunft«, so fasst Gunnar Hindrichs den nun auch mit Blick auf Jacobis Kant-Kritik entscheidenden Gedanken zusammen, »kommt […] von Vernehmen. Jedes Vernehmen aber benötigt ein Vernehmbares. Eine Vernunft, die alles Seiende zu nichts verstümmelt« – man denke an den Brief an Goethe – »ist daher strenggenommen keine Vernunft. Sie kann nichts mehr vernehmen und will es ja auch gar nicht. Sie will bloß erzeugen. Vernunft hingegen, die ihrem Begriff gerecht wird und vernimmt, muß etwas annehmen, das sie nicht erzeugt«.13 Die praktischen Postulate vom Dasein 13
Gunnar Hindrichs: »Der Standpunkt des natürlichen Denkens. Fichtes Bestimmung
Zur anthropologischen Fundierung von Religion bei Jacobi und Kant
Gottes und der Unsterblichkeit der Seele sind aber in diesem Sinne erzeugt. Der Modus, in dem das absolut Unbedingte dem nur bedingt Unbedingten zugrunde liegen muss, wenn es nicht durch dieses selbst erzeugt sein soll, ist der Modus willentlicher Urheberschaft, d. h. der Schöpfung. Schöpfen kann aber nur ein persönlicher und von mir real unterschiedener Gott. All diese Aspekte bündeln sich in Jacobis Betonung, dass seine Philosophie fragt: »wer ist Gott; nicht: was ist er?« ( JWA 1,1, 342), und in seinem Bekenntnis gegenüber Lessing, er glaube »eine verständige persönliche Ursache der Welt« ( JWA 1,1, 20). Zwar rechnet Jacobi Kant zumindest die fundamentale Einsicht zu, dass »Gotteserkenntniß und Religion […] die höchsten Zwecke der Vernunft und des menschlichen Daseyns« sind ( JWA 3, 73). Jedoch sei Kant in einen »Zwiespalt mit sich selbst« geraten: »als Mensch« habe er »den unmittelbaren positiven Offenbarungen der Vernunft, ihren Grundurtheilen, unbedingt vertraut[], und auch dieses Vertrauen nie, wenigstens nie ganz und entschieden, verlor[en]; als Lehrer der Philosophie aber« sah er sich genötigt, »dieses rein offenbarte selbstständige Wissen in ein unselbstständiges aus Beweisen, das unmittelbar Erkannte in ein mittelbar Erkanntes zu verwandeln« ( JWA 3, 88, Hervorhebungen: z.T. M.F.). Die nachgezeichneten Bemühungen der Kritik der praktischen Vernunft sind für Jacobi ein Zeugnis dessen, insofern hier eine genuin lebenspraktische »Vernunft-Anschauung« ( JWA 2,1, 402) dem rational operierenden Rechtfertigungsprozess einer Moraltheorie einverleibt wird. Und das ist etwas, das uns diese Einsicht letztlich nur verstellen kann. Für Jacobi ist uns ganz entgegen einem jeden, auch moralischen, Versuch eines Gottesbeweises mit der unmittelbaren Gewissheit des eigenen personalen Selbst auch das Dasein Gottes als ebenso personales und damit im vollen Sinne reales Gegenüber »das Sicherste und Gewisseste« ( JWA 2,1, 329). Diese dem Menschen durch sein Menschsein gegebene Gottesgewissheit nennt Jacobi in der Freiheitsabhandlung »das θειον im Menschen«, und »die Ehrfurcht vor diesem Göttlichen, ist was aller Tugend […] zum Grunde liegt« ( JWA 1,1, 167). Damit ist zugleich »der Gegenstand der reinen Liebe« (ebd.) gegeben. Mit dieser Liebe, so verstehe ich diesen Ausdruck Jacobis, rückt dann auch das ›Du‹ als nicht mehr göttliches, sondern mitmenschliches Gegenüber in den Blick, dem nicht nur Anerkennung, sondern Ehre und Wertschätzung gebührt. Wenn auf diese Weise »im Herzen des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt«, dann erhält der Glaube an Gott, der Gottes- und des Menschen in der Auseinandersetzung mit der ›Unphilosophie‹ Jacobis«, in: Birgit Sandkaulen (Hg.): System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, Würzburg 2006, S. 109–129: S. 116.
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Selbstgewissheit zugleich ist, wie Jacobi schreibt, »seine volle Kraft« und wird nun im eigentlichen Sinne »Religion« (ebd.). Vor diesem Hintergrund bekommen auch Aspekte des Kirchenglaubens eine völlig andere Stellung als bei Kant. Zwei Punkte möchte ich mit Blick auf das zu Kant Ausgeführte hervorheben. Erstens braucht der Mensch das Übersinnliche, um mit einer Wendung aus der Kritizismusschrift zu sprechen, nicht erst »zu erringen«, er kann es vielmehr »nur verlieren« – verlieren »durch das Böse«, ja, so formuliert auch Jacobi. Dies Böse ist aber nicht zu verstehen als eine wie auch immer domestizierte Sünde. Das Übersinnliche durch das Böse zu verlieren heißt hier nicht viel mehr, als es »mit Kunst und List aus unsrer Erinnerung [zu] vertilgen« ( JWA 2,1, 330, Hervorhebung: M.F.). Es geht also ganz analog zur Liebe als sittlicher Praxis um habituelle Verhaltensweisen, die uns umgekehrt die ursprüngliche Gewissheit der göttlichen Natur des Menschen nachträglich fragwürdig erscheinen lassen und uns die Einsicht in diese letztlich vielleicht sogar ganz verstellen. Mit unserer Natur hat dies jedoch nichts zu tun. Mit dem ›θειον im Menschen‹ als dem ›Gegenstand‹, ja sogar dem »Prinzip der Liebe« ( JWA 1,1, 167) ist für Jacobi nämlich letztlich nichts anderes ausgesprochen als die Überzeugung von der »Vollkommenheit der menschlichen Natur an sich« ( JWA 1,1, 164, Hervorhebungen: z. T. M.F.), vor deren Hintergrund dann im Übrigen auch eine wie auch immer geartete Variante einer Gnadenlehre systematisch aus Jacobis Religionsverständnis auszuschließen ist. Kirchenglaube und Religionsphilosophie können so gar keine kompensatorische Funktion übernehmen. Sie können stets nur, wie es in der Kritizismusschrift heißt, »ein Zeugniß der im Menschen gefundnen Religion« sein ( JWA 2,1, 330). Indem eine solche Religion zweitens immer an die Personalität des Menschen geknüpft ist, wird, »[w]o starke Persönlichkeit hervortritt, […] in ihr und durch sie die Richtung zum Uebersinnlichen und die Ueberzeugung von Gott« lediglich »am entschiedensten zur Sprache gebracht« ( JWA 1,1, 341, Hervorhebung: M.F.). Dann ist aber auch Jesus Christus – und damit komme ich zum Ende – nur eine, beispielhafte Persönlichkeit neben anderen; auf gleicher Stufe stehen für Jacobi z. B. Sokrates und François Fénelon (vgl. ebd.). Und das steht nicht nur im Kontrast zu Kant, sondern ist in seinem Geiste dann auch in der Tat, wie Jacobi an Mendelssohn schreibt, etwas ganz anderes als »die Religion der Christen« ( JWA 1,1, 116).
Walter Jaeschke
Kant in Jacobis Kladden I.
Jacobis Werk – dies sind fraglos in erster Linie die von ihm veröffentlichten Schriften und, wenn man einen erweiterten Werkbegriff zu Grunde legt, auch die mehreren tausend Briefe, die er geschrieben hat. Diese Einschätzung hat bisher die Grundlage der Jacobi-Forschung gebildet. Doch jetzt zeigt sich, dass sie zwar nicht falsch, aber ergänzungsbedürftig ist: Denn neben den gedruckten Werken und den handschriftlichen Briefen steht ein umfangreicher Block von nachgelassenen Notizen und Ausarbeitungen: Jacobis »Denkbücher« oder »Kladden«. Bei ihnen handelt es sich um eine Textart sui generis, und zudem um eine bisher nahezu unbekannte Textart. Bekannt geworden sind bislang nur einige Kostproben durch die verdienstvolle, aber für die Kenntnis der Kladden insgesamt doch nicht ausreichende Dissertation, die Peter-Paul Schneider vor mehr als drei Jahrzehnten über die »Denkbücher« Jacobis veröffentlicht hat.1 Daneben hat – soweit ich sehe – nur Birgit Sandkaulen einen persönlichen Einblick in die Kladden erhalten und sie für das Verständnis der Philosophie Jacobis fruchtbar gemacht.2 Der Ungunst der Editionsgeschichte ist es anzulasten, dass eine vollständige Ausgabe dieser »Kladden« erst jetzt, zu Beginn des Jahres 2020, erschienen ist.3 Die Kladden – das sind Jacobis sorgfältig geführte Notizbücher. Von den 13 Kladden, die er selber nummeriert hat, sind 11 Kladden überliefert; zwei sind verschollen, ebenso wie leider auch alle sogenannten »Werkkladden«, die er sich für die Ausarbeitung einzelner Werke – etwa seines Briefes an Fichte – angelegt hat. In die uns vorliegenden 11 Kladden hat Jacobi in bunter 1 Peter-Paul
Schneider: Die »Denkbücher« Friedrich Heinrich Jacobis, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986 (= Spekulation und Erfahrung. Abt. 2: Untersuchungen, Bd. 3). 2 Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, S. 56, FN 52. 3 Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis, hrsg. von Sophia Victoria Krebs, StuttgartBad Cannstatt 2020 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Nachlass. Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hrsg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Reihe I; Band 1,1 und 1,2). Diese Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahl im Text zitiert.
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Folge eigene Gedanken, Lesefrüchte, kritische Einfälle und Einwände, Brief entwürfe oder auch Ausschnitte aus erhaltenen Briefen eingetragen. Schon dieser Hinweis lässt allerdings vermuten, dass man eines in den Kladden nicht finden wird: ausführliche, durchgeführte Auseinandersetzungen, wie sie etwa in Jacobis »Beylage. Ueber den transscendentalen Idealismus« (aus dem Jahre 1787) oder in seiner Abhandlung Ueber das Unternehmen des Kritizismus (aus dem Jahre 1802) zu finden sind – sondern eben: mehr punktuelle, aus dem Moment heraus geborene, vielleicht als Frucht der Lektüre einer anderen Schrift entstandene Einsichten oder Einwendungen. Doch auf der anderen Seite erlaubt dieser Charakter der Kladden Jacobi, seine Ansichten so unverblümt zu formulieren, wie er dies in einer Publikation schwerlich je getan hätte. Hier eine kleine Kostprobe zur Triebfederlehre der Kritik der praktischen Vernunft: »Diese einzige u unbezweifelte Triebfeder, welche die reine Vernunft sich aus der Sinnlichkeit – wie paßt dieser Mistkarren Gaul vor den Himmlischen Wagen? – Es schleppt den himmlisch〈en〉 Wagen in den Mist. – Diese ganze Fabrication des Achtungsgefühls ist eins der schändlichsten Gewebe von Sophistereyen, so jemals gemacht worden ist.« (195) Die Notizen der ersten Kladde setzen Ende der 1780er Jahre ein, und die letzte endet mit seinem Tod. Und wenn es einen Namen gibt, der von den ersten Seiten der ersten Kladde bis zu den letzten Seiten der letzten Kladde präsent ist, so ist es der Name Kants. Auch wenn die Auseinandersetzung mit Kant nicht gleichsam einen »roten Faden« bildet, der die unterschiedlichen Einträge der Kladden zusammenbände (hierfür sind sie zu disparat), so gilt doch: Alle eigenständig veröffentlichten Werke Kants aus der »kritischen Epoche« werden angesprochen – von der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft über die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft, weiter zu den Kritiken der praktischen Vernunft und der Urteilskraft, zur Religionsschrift, zur Metaphysik der Sitten und zu Kants Anthropologie. Und der letzte Kladdeneintrag, in dem Kants Name genannt ist, gilt einer Rezension der zweiten Auflage von Kants Physischer Geographie aus dem Jahre 1817. Dieser Eintrag ist insofern kennzeichnend für die späte Phase von Jacobis Kantrezeption, als sich in diesen letzten Jahren nur noch Einträge finden, die sein anhaltendes Interesse an Kants Philosophie belegen; die Phase der produktiven Auseinandersetzung mit ihr endet jedoch schon im Jahr 1804, also zwei Jahre nach seiner fundamentalen, der Tendenz nach vernichtenden Kritik an Kants theoretischer Philosophie in der Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen.4 4
Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben. In: JWA 2,1, 259–330.
Kant in Jacobis Kladden
II.
Jacobis Notizen zur Philosophie Kants offenbaren seine in vielen Aspekten ambivalente, aber letztlich überwiegend kritische Haltung zu ihr. Kant nähert sich in Jacobis Augen »der Wahrheit fast bis zur Berührung« (131) – aber dann berührt er sie eben doch nicht, sondern er bleibt im Irrtum befangen. Vernichtende Urteile und Ausdrücke hoher Wertschätzung sind manchmal nur durch wenige Seiten getrennt. Eines der härtesten Urteile über Kant findet sich gegen Anfang von Kladde 2, etwa aus dem Jahr 1790; hier heißt es: »Die Kantische Philosophie ist keine Philosophie, sondern nur eine transcendentale Vernunftlehre« – und es ist sicherlich ein vernichtendes Urteil, von einem Philosophen zu sagen, sein Werk sei gar »keine Philosophie« – und ihr Autor somit auch kein Philosoph. Allerdings hat diese vordergründig sehr abwertende Kritik Jacobis noch einen Nebenaspekt: Seine Notiz beginnt nämlich mit den Worten: »Wenn eine dogmatische Philosophie a priori So muß man in d⟨en⟩ Spinozismus gerath⟨en⟩.« (72) Und nun folgt der eben zitierte Satz, dass Kants Philosophie keine Philosophie sei, »sondern nur eine transcendentale Vernunftlehre, die man sonders Decorier⟨en⟩ kann, nach den Umständ⟨en⟩ u Erforderniß⟨en⟩ der Zeit«. Jacobi bestreitet somit einerseits den PhilosophieCharakter des Kantischen Werks, doch andererseits entzieht er Kants Philosophie dem Verdacht, dass auch sie in den Spinozismus gerate – aber eben doch nur um den hohen und wohl zu hohen Preis der Bestreitung ihres Charakters als einer Philosophie. Und nur wenige Seiten weiter rühmt Jacobi, es sei »ein großer Gedanke von Kant« gewesen, »alle Menschliche Erkenntniß, unter gewiße allgemeine subjective Regeln der Anschauung u des Denkens bringen zu wollen« (77) – wobei freilich auch dieses Lob nicht ohne doppelten Boden ist: Die Wortwahl, Kant habe dies gewollt, lässt anklingen, dass seine Absicht nicht gelungen sei – zumindest in Jacobis Augen. Und diese nicht bloß einfache, sondern ›doppelte Ambivalenz‹, die sich in der Kontrastierung der beiden in sich kontrastierenden Sätze zeigt, ist charakteristisch auch für viele weitere Stellungnahmen Jacobis zu Kant – obschon in seinen Augen vom Gebäude der Kantischen Philosophie letztlich kein Stein auf dem anderen bleibt. Ich möchte nun zunächst auf Jacobis Kritik der theoretischen Philosophie Kants, auf seine Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft, genauer: mit der »transzendentalen Analytik«, eingehen, und zwar zunächst auf den Themenkreis ›Ding an sich und Erscheinung‹ – denn dieser Themenkreis steht ja im Vordergrund der späteren Rezeption. Gleich in einem der ersten Einträge zitiert Jacobi Kants bekanntes Dictum: »Sind Erscheinung⟨en⟩ Dinge an sich selbst, so ist Freyheit nicht zu rett⟨en⟩« (5), und in einem der
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letzten Beiträge zitiert er das Resümee einer kurz zuvor erschienenen Rezension, fraglos deshalb, weil es zugleich seine eigene Position resümiert: »Der Grundcharacter der Kantisch⟨en⟩Kritik ist […] daß das Verhältniß der Dinge an sich zu den Erscheinung⟨en⟩ auf seiner Unerklärbarkeit beruh⟨en⟩ müße« – wie übrigens auch »das Verhältniß des Subjectiven zum Objectiven« (555). Oder, anders ausgedrückt: »Kants Ding an sich ist eine wahre Qualitas occulta« (224), und ebenso sind Kants »Erscheinungen« »Worte einer Sprache, die man nicht versteht« (232). Jacobi greift hier, in den für den persönlichen Gebrauch angelegten Kladden, mehr noch als in seinen Druckwerken, häufig zu Wendungen wie »Ich verstehe nicht, wie …«, oder wie Kant selbst sich seine »Lehre v d Causalität« »weis machen konnte begreife ich nicht so gut« (132). Diese subjektiv gefärbte Aussage muss natürlich in eine objektive transformiert werden. Jacobi lässt es auch keineswegs bei solcher Bekundung seines Unverständnisses bewenden, sondern er formuliert sehr direkte Fragen an Kant, allerdings auch solche Fragen, die sich auf dem Boden des Kantischen Idealismus schwerlich beantworten lassen und die geeignet sind, Kants – inkonsequenten – Idealismus weiter in die Richtung des radikaleren, Fichteschen Idealismus zu treiben – wohl in der Erwartung, dass er sich dadurch von selber ad absurdum führen werde: »Ich frage also, mit welchem Fug u Recht spricht der Kantianer« – und dieser »Kantianer« ist manchmal identisch mit Kant, manchmal aber auch nicht – »von einem Dinge an sich, welchem die Erscheinung correspondiert, u wovon sie blos die Erscheinung ist?« Übrigens: Von einer Affection unseres Vorstellungsvermögens durch die Dinge an sich spricht Jacobi hier natürlich nie – sondern er fragt nur, wie der Kantianer dazu komme, eine solche Korrespondenz von Ding an sich und Erscheinung anzunehmen. Und er gibt sich selber die Antwort: Der Rede vom Ding an sich liege dann lediglich das vorphilosophische Vorurteil des gemeinen Menschenverstandes von der Realität der Außendinge zu Grunde; es lasse sich aber nicht mehr aufrechterhalten, »wenn ich einmal mit Gewißheit weiß, daß die Dinge, die mir als außer mir erschein⟨en⟩, nicht außer mir, sondern meine eigenen Empfindungen sind« (233). In dieser Position besteht für Jacobi, den prononcierten Realisten Jacobi, die »Schlußfolge der Idealisten«: Alle (vermeintlich äußeren) »Gegenstände der Wahrnehmung« sind, »in so fern ich sie wahrnehme in mir, u in so fern nichts als Empfindung« (232). Wer, wie Kant, unter diesen Bedingungen des Idealismus weiterhin von einem, der Erscheinung korrespondierenden X oder einem Ding an sich redet, der postuliert auf eine Weise, wie nach Kants »eigen⟨en⟩ Grundsätzen […], nicht postuliert werd⟨en⟩ darf« (220). Diese Vermengung von philosophischer und vorphilosophischer Begrifflichkeit wirft Jacobi
Kant in Jacobis Kladden
Kant übrigens ganz allgemein vor: »Kant […] wäre nicht durchgekomm⟨en⟩, wenn er die natürlich⟨en⟩ Begriffe nicht überall heimlich u unter der Hand einschleich⟨en⟩ ließe.« (194) Es mag sein, dass dieses Verständnis Kants als eines halbherzigen Idealisten, das ja die bekannte »Beylage« zum David Hume erstmals vorträgt, vor allem durch Jacobis Orientierung an der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft« bedingt sei. Allerdings würde sich von der zweiten Auflage her kein anderes Resultat ergeben. Eigentümlich ist es jedoch, dass Jacobi sich – eben wegen seines ausgeprägten und anhaltenden Interesses an der Thematik »Idealismus vs. Realismus« – in den Kladden nicht ausführlich mit Kants sogenannter »Widerlegung des Idealismus« auseinandersetzt. Zu ihr findet sich lediglich der eine Satz: »Die Kantische Widerlegung des Idealismus beruhet daraus, daß der von dem = X seines _tr_ Subjects u dem = X seines tr. Objects in gleicher Entfernung in der Mitte _stehende Verstand;_ daß der Mensch seines Leibes u der Korperwelt eben so gewiß, d. i. +verstehe+ ungewiß ist, als seiner Seele u der Geisterwelt.« (330).5 Eine implizite Antwort auf die Frage, warum Jacobi sich mit dieser »Widerlegung des Idealismus« nicht ausführlicher auseinandergesetzt habe, bildet seine Einschätzung, dass erste Fassungen von Werken, in denen ein Verfasser seine Ansichten »aus der ersten Fülle mittheilt«, allgemein lehrreicher seien als die späteren: »So ist die erste Ausgabe v Kants Kr. d. r. V. viel lehrreicher als die später⟨en⟩, in den⟨en⟩ er unheilbare Schäden zu heil⟨en⟩ versucht, u sie nur überheilt« (512) – und als eine solche verfehlte »Überheilung«, die die inneren Brüche in Kants Konzeption nur noch vertieft, wird ihm insbesondere Kants »Widerlegung des Idealismus« vor Augen gestanden haben. Kants Philosophie – könnte man diese Einwände zusammenfassen – scheitert in Jacobis Augen daran, dass er zwar von Erscheinungen und Dingen an sich spricht, aber ihr Verhältnis zueinander nicht klärt – und im Rahmen seiner Philosophie auch gar nicht klären kann. Dies ist bereits ein schwerwiegender Einwand, doch für Jacobi schiebt sich noch ein weiterer, mit dem vorhergehenden zwar verbundener, jedoch auch eigenständiger Themenkreis in den Vordergrund: das Thema ›Causalität‹ – und dies mit dem gleichen desolaten Ergebnis. »Von dem Causalitäts Begriffe, deßen Realität Hume bestritten hatte, gieng die Kantische Philosophie aus, und gerade dieser Begriff ist _es_ auch, woran wie mir dünkt die Kantische Philosophie scheitert.« (259) Doch warum scheitert Kants Philosophie am Begriff der Causalität? Zwei Antworten lassen sich unterscheiden. Gegen Kants Aussage, es müsse »zu aller Reihe der Bedingung⟨en⟩ nothwendig etwas Unbedingtes, mithin auch eine sich gänzlich v selbst bestimmende Causalität geben«, wendet Jacobi ein, 5
Vgl. JWA 2,1, 393.
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dies heiße »weiter nichts, als alles vermitteltes, setzt ein unvermitteltes, jede Wirkung ein selbstthatiges Princip in ihrem Ursprunge voraus« – aber dies sei in Kants Philosophie »nicht einmal wahr, denn sie giebt ein⟨en⟩ solch⟨en⟩ Begriff d⟨er⟩ Causalität, der kein Unbedingtes zuläßt« (194). Diese Überzeugung, dass Kants Philosophie am Causalbegriff scheitere, spricht Jacobi an anderer Stelle konkreter so aus: »Kant sagt in Absicht des Causalitäts Prinzips nicht mehr als Hume. Hume weiß nur v einem Nacheinanderseyn. Kant nur von nothwendig〈en〉 innerlich〈en〉 Verhältniß〈en〉 der Zeit, von Zeitbestimmung〈en〉.« (74) Nun scheint der zweite Satz den ersten zumindest zu korrigieren. Denn wenn Kant von notwendigen innerlichen Verhältnissen der Zeit weiß, so weiß er doch von mehr als von Humes Begriff des bloßen Nacheinanderseins, nach dem wir nur aus »Gewohnheit« annehmen, dass auf einen bestimmten Vorgang ein ebenso bestimmter anderer eintreten werde. Dass Kant hier nicht erfolgreicher sei als Hume, muss, so scheint es, am Verhältnis des Causalbegriffs zum Zeitbegriff liegen. Die Lage ist hier aber etwas komplizierter. Vorweg: Jacobi räumt durchaus ein: »Kraft, Handlung, Ursache u Wirkung, sind freylich keine Dinge, die wir außer uns wahrnehm〈en〉 können. Ihrer Natur nach können sie nur im eigen〈en〉 Bewustseyn wahrgenomm〈en〉 werd〈en〉.« (131) Nun könnte man ja annehmen, dass es sich dann bei diesen Begriffen um Verstandesbegriffe handeln müsse und somit das Wichtigste schon zugegeben sei – auch wenn die Formulierung, dass wir diese Begriffe im eigenen Bewusstsein »wahrnehmen«, etwas überraschend ist. Doch für Jacobi sind mit dieser Einräumung die eigentlichen Probleme noch nicht angesprochen. In seiner Kritik des Kantischen Causalitätsbegriffs lassen sich hier, in den Kladden, soweit ich sehe, zwei zumindest unterschiedliche oder sogar gegenläufige Argumentationsstränge unterscheiden, deren Verhältnis zu einander nicht ganz durchsichtig ist und die sich auch nicht zwei unterschiedlichen entwicklungsgeschichtlichen Phasen zuordnen lassen. Der erste Argumentationsgang entwickelt sich aus Jacobis Frage: »Wie ist also ein reiner Verstandes Begriff v Ursache möglich?« (217) Und die Antwort, die dieser Frage genau genommen im Text bereits vorausgeht, lautet: Ein reiner Verstandesbegriff von Ursache ist nicht möglich, da dem Begriff der Ursache der – empirische – Begriff von »Veränderung« vorausgehen müsse und mit ihm der Begriff der Zeit. Denn: »Veränderung […] ist nur in der Zeit möglich« (217). Dieses Argument schärft Jacobi mehrfach, in etwa gleichlautenden Wendungen, ein: Kant zeige ja selber, »daß der Grundsatz der Causalität nicht zu Stande kommen kann, wenn nicht der NB bloß empirische Begriff der Veränderung, anticipiert wird. / Wenn ich Veränderung denke, muß ich Zeit denk⟨en⟩; u wenn ich Zeit denke, Veränderung.« (259) Dies betont
Kant in Jacobis Kladden
Jacobi auch später noch, in Kladde 10, also im Jahr 1806, gegen eine These in Schellings Rezension der Schrift Fichtes Ueber das Wesen des Gelehrten: »Von allem, was Kant u Fichte behauptet, ist das wahreste ohne Zweifel, das die Zeit eine durchaus blos subjective Vorstellungsweise ist, der nichts wirklich Stattfindendes, auch nicht einmal in den Ding⟨en⟩ entsprech⟨en⟩ kann.« Gegen diese Auffassung der Zeit wendet sich Jacobi mit Emphase, weil mit ihr auch der Causalitätsbegriff hinfällig würde: »Ursache […] ist ein Ungedanke ohne Wirkung, Ursache u Wirkung aber wieder ein Ungedanke ohne Zeit!« (472) Doch diese Betonung der grundlegenden Funktion der Erfahrung von Veränderung, einer objektiven Folge und der hierfür vorausgesetzten Erfahrung der Zeit ist nur die eine Hälfte der Auseinandersetzung Jacobis mit Kants Causalbegriff. Im zweiten Argumentationsstrang setzt er andere Akzente: »Bey der Causalitäts Verbindung ist kein Aufeinanderfolg〈en〉 der Erscheinun〈en〉. Eine Kugel die auf eine andre zu läuft erscheint nicht als Ursache. Nur in dem untheilbar〈en〉 Augenblicke, wo sie fortstößt, wo eine verknüpfte Erscheinung entsteht, sehen wir Ursache u Würkung; sehen wir, daß etwas zu etwas hinzukommt. Den Augenblick darauf sind Ursache u Würkung nicht mehr da.« (10) Nun ist dies ein sehr früher Eintrag, vom Ende der 1780er Jahre – aber somit gerade aus der Zeit der Abfassung des David Hume. Und auch später betont Jacobi, »daß wir bey Ergründung der Ursach〈en〉 immer v der Zeit abstrahier〈en〉, u was in der Zeit auf ein ander folgte, als zugleich vorhanden betrachten« (131). Ausdrücklich hebt Jacobi in der folgenden Aussage aus Kladde 6 auf die »Nothwendigkeit« des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung ab: »Das Gesetz des Grundes u d〈er〉 Ursache ist das Gesetz des nothwendig〈en〉 Zusam〈en〉hanges, der die Natur unseres Lebens u Bewustseyns ausmacht.« (227) Und in Kladde 7, vom Ende der 1790er Jahre, heißt es schließlich unter Verweis auf Fichtes Wissenschaftslehre: »Ich behaupte daß sich der Begriff der Causalität mit dem Begriffe des Succeßieven gar nicht vereinigen lässt. Das Suceßive entsteht durch etwas der Causalität Entgegen gesetztes. Nachgehen u Wirkung seyn, sind ganz verschiedene Dinge – Etwas kann blos vorgeh⟨en⟩ u bloß nachgehen, ohne Ursache u Wirkung zu seyn. Was aber Nothwendig vorgeht, oder nothwendig nachgeht, schließt im Begriffe selbst die Zeitfolge aus, denn nichts v dem was wir als nothwendig denken kann in der Zeit dargestellt werden – denn Nothwendigkeit ist Identität.« (268) Von den drei Textstellen der Wissenschaftslehre, auf die Jacobi sich hier bezieht, scheint mir die erste nicht einschlägig, da sie nur von der Teilbarkeit von Ich und Nichtich handelt; doch die beiden anderen betreffen die »Synthesis der Wirksamkeit (Kausalität)«. Und hier führt Fichte aus: »In dem Begriffe der Wirksamkeit […] ist völlig zu abstrahiren von den empirischen Zeitbedingungen; und er lässt auch ohne sie sich recht wohl denken. Theils ist die Zeit
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noch nicht deducirt, und wir haben hier noch gar nicht das Recht, uns ihres Begriffes zu bedienen; theils ist es überhaupt gar nicht wahr, dass man sich die Ursache, als solche, d. i. insofern sie in der bestimmten Wirkung thätig ist, als dem bewirkten in der Zeit vorhergehend denken müsse […].« (GA I,2, 294 f.) Dies scheinen zwei nicht nur unterschiedliche, sondern gegenläufige Deutungen des Causalverhältnisses zu sein. Nach der ersten geht der Begriff der Zeit dem Begriff der Ursache voraus, nach der zweiten ist die Deutung des Causalverhältnisses »völlig« unabhängig vom Begriff der Zeit. Eine Möglichkeit zur Annäherung beider Positionen scheint mir in den zwei Sätzen angedeutet, mit denen Fichte seine eben zitierten Aussagen beschließt: »Nicht die Ursache, als solche, aber die Substanz, welcher die Wirksamkeit zugeschrieben wird, geht der Zeit nach der Wirkung vorher […]. Aber in dieser Rüksicht geht auch die Substanz, auf welche gewirkt wird, dem in ihr bewirkten der Zeit nach vorher.« Doch bleibt die Differenz bestehen, ob der Begriff der Causalität den der Zeit voraussetzt oder nicht. Plausibler ist es deshalb, die zweite, zeit-unabhängige Deutung des Causalverhältnisses als eine Kritik an der Brauchbarkeit der Kategorie der Causalität überhaupt zu lesen. Die sehr verknappte, oft punktuelle Darstellungsweise der Kladden gibt dazu zwar keinen Hinweis, doch wird man gut daran tun, sie vor dem Hintergrund des David Hume zu lesen. Denn wenn, wie es dort heißt, jede »Würkung als mit ihrer Ursache objectiv zugleich vorhanden gedacht werden« muss und jede Wirkung ja zugleich wieder als Ursache, so »können wir auf diese Weise schlechterdings nicht zu einem Begriffe gelangen, der uns die Erscheinungen der Folge, der Zeit oder des Fließenden erklärte«. Doch »der Begriff von Ursache und Wirkung, und die Vorstellung des Succeßiven«, sind »zwey ganz verschiedene Dinge«. Oder anders: Die zeitunabhängige Deutung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung würde uns dazu verführen, ja geradezu nötigen, »die Realität aller Succeßion zu läugnen« ( JWA 2, 53) Deshalb erhebt Jacobi gegen Kants Vermischung von objektiver Folge und Causalverknüpfung den Vorwurf der Erschleichung. »Objective Succeßion u Causalverknüpfung sind offenbar verschiedene Dinge.« »Kant scheint mir unwidersprechlich darin zu fehl⟨en⟩, daß _er_ die Möglichkeit der Wahrnehmung +der+ Objectiv〈en〉 Folge allein auf d〈en〉 CausalitätsBegriff gründet« (131) – was nicht allein eine Erschleichung, sondern eben wegen der Zeit-Indifferenz des Causalbegriffs ein Unding ist. Kant brauche – oder besser: missbrauche – aber den Begriff der Ursache, »Um eine Objective Folge wahrzunehm〈en〉, u sie von der blos subjectiv〈en〉 zu unterscheiden« (259), weil eben in seinem idealistischen Ansatz eine objektive Folge sonst nicht wahrnehmbar sei – und dies aus prinzipiellen Gründen.
Kant in Jacobis Kladden
Denn: »Wäre eine objective Folge wahrnehmbar, so scheiterte sein ganzes System.« (131) Auf einer anderen und höheren Ebene liegt Jacobis letzter und fundamentaler Einwand gegen Kants Behandlung der Causalität.6 Er richtet sich gegen den systematischen Ort der Kategorie der Causalität, in Kants Aufzählung der Stammbegriffe des reinen Verstandes. Jacobi stimmt Kant zu, wenn dieser den »Begriff der Erzeugung« auf den Begriff der Handlung zurückführe – doch der Begriff der Handlung »ist in seinem System […] ein abgeleiteter Begriff, der seinem Urbegriffe, der Causalität gemäß erklärt, u in seiner Anwendung eben so bestimmt werd⟨en⟩ muß«. Vom Begriff der Handlung leite Kant schließlich den Begriff der Kraft her – und dies, »weil seine Vorstellungsart durchaus keine ursprüngliche Wahrnehmung, keine Wahrnehmung v etwas wahrhaft objectivem verträgt«. Mit dieser Reihung der Begriffe aber mache Kant sich eines »Hysteron Proteron« (131) schuldig: Denn, so Jacobi weiter: »Ich habe die Vorstellung der Ursache blos dadurch, dass ich mich selbst als Ursache erfahre, daß ich mich selbst bestimme. Der Begriff der Causalität ist der Begriff der Kraft u Handlung, u Kraft u Handlung sind nicht bloße Folgebegriffe des Begriffs der Causalität als einer Categorie.« (282)7 Mit diesen Sätzen aus Kladde 7 (also aus den späten 1790er Jahren) greift Jacobi auf den Dialog des »Ich« und des »Er« in seinem David Hume zurück – und wir müssen ihm dahin folgen. Dort ist es der Gesprächspartner »Er«, der seine Ratlosigkeit bekennt: »wenn der Begriff von Ursache und Würkung, und die Vorstellung des Successiven, zwey ganz verschiedene Dinge sind, so kann jener Begriff eben so wenig sich aus jener Vorstellung entwickelt haben«, und er wundert sich, wie die Wörter »Ursache und Würkung« wohl in die Sprache gekommen seien – doch der Gesprächspartner »Ich« gibt ihm den Aufschluss: In die Sprache von nur anschauenden und urteilenden Wesen wären sie in der Tat nicht gekommen – aber: »wir können ja auch handeln!« Im Anschluss daran führt Jacobi die »unzweydeutigsten Nachrichten« an, dass alte und ungebildete neuere Völker »keine Begriffe von Ursache und Würkung haben«, sondern nur von lebendiger Kraft und Tat – und ohne diese hätten auch wir »nicht die geringste Vorstellung von Ursache und Würkung« ( JWA 2,1, 53 f.). Nun ist der Verweis darauf, dass solche Völker nicht über die Begriffe von Ursache und Wirkung verfügt haben, fraglos kein durchschla6 Zum
Folgenden vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, insb. Kap. VII, S. 171–228, zu Kant v.a. S. 205–213. 7 Eben dies könnte man auf Grund eines anderen Satzes Jacobis annehmen: »Wenn ich Veränderung denke, muß ich Zeit denken; u wenn ich Zeit denke, Veränderung. Hiezu kommt ein Drittes: Handlung, wenn das Entstehen einer Veränderung: Ursache gedacht wird.« (259)
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gendes Argument gegen das Verständnis dieser Begriffe als Verstandeskategorien – denn die Ausbildung solcher Verstandesbegriffe ist bekanntlich ein durchaus begrüßenswertes Ergebnis der kulturgeschichtlichen Entwicklung. Doch bleibt Jacobis Hinweis insofern wichtig, als er die primäre Verankerung dieser Kategorien im Zusammenhang unseres praktischen Weltumgangs betont. Sie sind aber auch aus dem theoretischen Weltverhältnis nicht wegzudenken, zumal Jacobi selbst der Ansicht ist, dass die genannten Völker zum Verständnis solcher Prozesse nicht durch ihr eigenes Handeln gekommen seien, sondern dadurch, dass sie lebendige Wesen »erblicken« – also in Folge einer theoretischen Einstellung. Jacobi mag im Recht sein mit seiner Behauptung, dass wir ohne die »lebendige Erfahrung« der in uns liegenden Kraft, zu handeln, nicht über den Causalitätsbegriff verfügen würden. Doch scheint mir zweierlei davon unberührt zu bleiben: zum einen, dass wir nun auf Grund der kulturgeschichtlichen Entwicklung unseres Denkens über einen solchen Verstandesbegriff verfügen und dass die handlungstheoretische Deutung zwar einen wichtigen Aspekt insbesondere zur Genese dieses Begriffs beibringt, aber eine handlungstheoretische Engführung des Causalverhältnisses eine unangemessene Verengung wäre. Und dies läge auch gar nicht in Jacobis Interesse, wie seine im David Hume geführte Deduktion der »absoluten Allgemeinheit oder Nothwendigkeit« ( JWA 2,1, 56–60) hinlänglich beweist. In einer menschlichen Gemeinschaft »müssen auch die Begriffe von Ausdehnung, von Ursache und Würkung, und von Succession schlechterdings vorhanden seyn. Ihre Begriffe sind also in allen endlichen denkenden Wesen nothwendige Begriffe«. Das eigentliche Problem, das die Verständigung zwischen Kant und Jacobi blockiert, scheint mir in der unvermittelten Kontrastierung von »rein« und »empirisch« zu liegen – als ob beide durch Welten getrennt seien und in dem Empirischen nicht auch das »Reine« enthalten sei. Wenn, wie Jacobi an anderer Stelle in den Kladden schreibt, der Begriff der Ursache »allein auf der Erfahrung der Causalität durch Vernunft« beruht (60), so scheint mir darin die Einheit empirischer und verständiger Momente treffend ausgesprochen zu sein. Und ähnlich scheint mir in Jacobis Aussage, der Raum sei »das Geis tige der Körperwelt« (227), der apriorische Charakter angedeutet, den Kant dem Raum als einer Form der Anschauung zuschreibt – und derartige Beziehungen ließen sich noch mehrere knüpfen. Mit diesem Rückgriff auf den David Hume bin ich, so scheint es, von meiner Aufgabe abgekommen, über Kant in Jacobis Kladden zu sprechen. Aber doch nur scheinbar – denn ich bin dem methodologischen Hintergedanken gefolgt, zu zeigen, dass die Kladden mit all ihrem gedanklichen Reichtum nicht für sich alleine stehen und behandelt werden dürfen. Insbesondere dort,
Kant in Jacobis Kladden
wo sie Themen abhandeln, die Jacobi auch in eigenen Monographien oder Abhandlungen erörtert hat, müssen diese zur Interpretation der Kladden herangezogen werden. Und umgekehrt steuern dann die Kladden auch wichtige Gesichtspunkte oder prägnante Formulierungen bei – aber sie können und wollen die gedruckten Texte nicht ersetzen.
III.
Ich bin nun genötigt, weitere, zentrale Themenkreise zu überspringen: das Thema ›Praktische Vernunft‹ und ebenso den Themenkreis ›Verstand, Vernunft und Einbildungskraft‹ – wobei ich nur erwähnen möchte, dass sich der Bruch in Jacobis Verständnis von Vernunft selbstverständlich auch in den Kladden spiegelt. Sein früher Begriff von Vernunft spricht sich in Kladde 1 deutlich aus: »Vernunft ist kein Ding im Mensch〈en〉 das ihm die Wahrheit sagt, u eben so die Wahrheit kein Ding das die Vernunft sagt.« (31) In Beilage VII zu den Spinozabriefen unterscheidet Jacobi dann bereits zwischen instrumenteller und substantiver Vernunft, und seit dem Sendschreiben Jacobi an Fichte, seit dem Verständnis der Vernunft als »Vernehmen«, gilt es als Aufgabe der Vernunft, »auf die Gottheit« zu weisen (262). Ich möchte diesem Hinweis nun folgen und mich im dritten Teil meines Berichts Jacobis Rezeption von Kants »Kritik aller philosophischen Theologie aus spekulativen Prinzipien«, aber auch seiner Kritik einer philosophischen Theologie aus praktischen Prinzipien zuwenden. Auch hier zeigt sich in Jacobis Stellung zu Kant wieder die bekannte Ambivalenz. Er schließt sich vorbehaltlos Kants Kritik der metaphysischen theologia naturalis an, denn: »Ein Metaphysischer Gott ist zu gar nichts nütze – Der Nichtgott des Spinoza mag sie nur alle verschling⟨en⟩. – Es sind selbst gemachte Gotter die uns v dem wahr⟨en⟩ Gotte nur abtrünnig machen – Die Furcht vor Einwürf〈en〉 gegen die metaphysische Gottheit komt v dem inner〈en〉 Bewustseyn daß +sie+ nur Hypothesen, Geschopfe unserer Imagination sind« (3). »Die metaphysische Gottheit«: Dies ist der Gott, von dessen Dasein man sich durch die bekannten Gottesbeweise zu vergewissern gesucht hat – aber: »Der Beweis v Daseyn Gottes a priori ist abgewiesen; es bleibt also nur der phisico Theol〈ogische〉 Beweis, der auf einen Histeron proteron beruht« – doch nun fährt Jacobi fort: »worüber Hume nachzuseh〈en〉 ist« (31) – Hume übrigens, und nicht etwa Kant. Dass in Jacobis Augen aber auch Kants Kritik der metaphysischen Theologie ein epochaler Rang zukommt, kann man aus einer etwas späteren Notiz ersehen, in der Jacobi den bewusstseinsgeschichtlichen Ort von Kants Kritik bedenkt: »Die Idee zu seinem Werk
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entstand sehr früh bey ihm, nehmlich zu einer Zeit, Wo man Daseyn u Eigenschaften Gottes, Zufälligkeit der Welt, Unsterblichkeit der Seele, allein aus der Vernunft demonstrier⟨en⟩ zu könn⟨en⟩ allgemein behauptete. Er mußte also, um sich Gehör zu verschaffen, der reinen Vernunft so viel einräumen als möglich war. Diese Vorsorge hat sein Werk unnöthig weitläufig gemacht, u ihm ein〈en〉 Ton im Ganzen, auch eine Einrichtung gegeb〈en〉, die das Verständniß deßelb〈en〉 erschwert.« (224) Trotz der hierin ebenfalls hörbaren Distanzierung ist er sich mit Kant, dem Kritiker, im Ergebnis einig, auch wenn die Begründung unterschiedlich ausfällt: »Alle Theorie stellt ein〈en〉 Mechanismus dar. Es ist also unmöglich zu einer theoretisch〈en〉 Erkenntniß Gottes zu gelangen.« (62) Umso schärfer bricht der Kontrast zwischen beiden jedoch im Blick auf Kants eigene Ansätze zu einer philosophischen Theologie auf, und zwar sowohl im Blick auf die theoretische als auf die praktische Vernunft: Den Gott Kants nennt Jacobi »ein nothwendiges Gedicht der Vernunft. Es folgt aus dem was er ist, dass er nicht ist.« (323) Und dies bleibt in Jacobis Augen – ohne dass er dies näher begründete – nicht ohne Folgen für unser Weltverständnis: »Wenn wir nur einen erdichteten Gott haben, wie Kant will, so haben wir auch nur erdichtete sinnliche Gegenstände. […] Das ganze Erkenntnißvermögen gespenstert mir.« (325) Die Kritik Kants am metaphysischen Gottesbegriff, die Jacobi ja geteilt hat, wird hier gegen Kant selber gewandt: Wie der von Kant destruierte Gott der Metaphysik erdichtet war, so ist sein eigener Gott nicht minder erdichtet. Gott sei in der Transzendentalphilosophie »nur ein psychologisches Phänomen – Dieses Phanomen wird darin erklärt, wie in der Naturlehre der Regenbog〈en〉« (328) – ja eigentlich noch schlimmer: »Gott wird theoretisch […] gesetzt ausdrücklich als ein Hirngespinst, das vielleicht ein Unding ist, […] von dem es aber nicht bewiesen werd〈en〉 _kann_ weil v ihm nichts bewiesen werden kann«. Und »In der practischen Philosophie wird Gott aus einem moralischen Intereße gesetzt, […] damit an d⟨en⟩ Effect der Befolgung des Sittengesetzes wirklich _geglaubt werde_, ohne welchen _Effect_ ich an das Sittengesetz selbst nicht wirklich glaub〈en〉 könnte.« (331) »Es ist eine fürchterliche Verirrung des menschl〈ichen〉 Verstandes, eine Verdrehung des ganzen Menschen, eine Theologie wie die Kantische, der natürlich〈en〉 des gesund〈en〉 Menschenverstandes vorzuzieh〈en〉. […] Die Kantianer« – und dies gilt hier fraglos auch für Kant selbst – »sind Arger, als der Bilderschnitzer im Buche der Weisheit Cap. 14.« (122) Und da das Wirken dieses »Bilderschnitzers« fraglos nicht allgemein bekannt ist, hier eine kleine Illustration: Der Bilderschnitzer ist derjenige, der sich aus Holzabfällen einen Fetisch schnitzt, ihn anstreicht und mit Nägeln an der Wand befestigt, weil er sonst ja keinen Halt hat. »Betreffs seines Besitzes und seiner Weiber und
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seiner Kinder richtet er aber Gebete [an dieses Bild] und schämt sich nicht, das Leblose anzureden.«8 So schlimm also – und noch schlimmer – steht es um Kants philosophische Theologie. Doch wie steht es um Jacobis Gegenposition? In einem wichtigen Punkt stimmt sie mit der Position Kants und der Kantianer überein: Gott kann nicht erkannt werden – zumindest nicht im eigentlichen, strengen Sinne. Und auch in einer kleinen Modifikation dieser Antwort sind Kant und Jacobi sich wohl noch einig: »Es gelingt uns doch noch immer beßer Gott zu erkenn〈en〉, als ihn zu entbehr〈en〉« (285) – und deshalb bezeichnet Jacobi den Atheismus als »die Kunst mit der Welt u in der Welt ohne Gott fertig zu werd〈en〉« (329). Doch im Blick auf dieses Nicht-Erkennen Gottes geht Jacobi noch einen Schritt über Kant hinaus: Während dies für Kant eine neutrale Feststellung ist, die aus der Organisation unseres Erkenntnisvermögens folgt, handelt es sich für Jacobi beim Erkennen-Wollen zwar nicht gerade um eine kriminelle, aber doch um eine unfromme Handlung: Gott erkennen zu wollen bedeutet, ihn »zu unserem Geschöpf machen zu wollen« (285). »Das Bestreb〈en〉, den Glaub〈en〉 an Gott in ein Wißen zu verwandeln, ist das Bestreb〈en〉 selbst Gott zu seyn« (418) – und dies ist ja eine im höchsten Maße unfromme, von Hybris gezeichnete Handlung. Doch wenn Gott nicht erkannt, zumindest nicht »im eigentlichen Verstande« (285) erkannt werden kann – wie kann ich dann wissen, dass Gott ein persönliches, und nicht nur ein persönliches, sondern ein liebendes Wesen, ja »das seeligste Wesen, durch die Allmacht seiner Liebe u Weisheit« (306) sei? Auf diese Frage bieten die Kladden nicht nur eine Antwort, sondern vielmehr einen bunten Strauß von Antworten, in dem jedoch eine – häufig als die wichtigste angesehene – Blume fehlt. Noch sehr unspezifisch heißt es in einer der frühesten Notizen, der wahre Gott offenbare sich allen Menschen (3). Unspezifisch ist aber auch noch die spätere Auskunft, dass Gott sich dem Menschengeschlecht durch seine Schöpfung offenbare (306) oder dass er den Menschen »in der Gestalt der Natur« anrede (307, 320). Dieser Verweis auf die Natur ist zudem nicht unproblematisch – teils, weil Jacobi im Umkreis des Theismusstreites, im Kontext seiner Polemik gegen Schelling, über die Natur auch noch manches Gegenteilige sagt, teils – und vor allem – deshalb, weil er an anderer Stelle betont, dass erst die Erhebung des Menschen über die Natur eine Erhebung zu Gott sei (306). »Natur« ist ja das, was das vernünftige Wesen vernimmt, »in so fern es durch Sinnlichkeit bedingt ist«; hingegen das, 8
Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments in Verbindung mit Fachgenossen übersetzt und herausgegeben von Emil Kautzsch. Bd. 1: Die Apokryphen des Alten Testaments, Tübingen 1900, Nachdruck Darmstadt 1962. Darin S. 476–507: Die Weisheit Salomos, Zitat 498.
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»was es vernimt in so fern es durch Sinnlichkeit nicht bedingt ist, heißt es Gott« (268, vgl. 308). Und somit ist der Blick auf die Natur eigentlich ein Blick in die falsche Richtung: nicht nach oben, sondern nach unten. Der gott-suchende Blick muss somit von der Natur abgewendet und nach innen gerichtet werden. An der Grenze zwischen dem Außen, der Natur, und dem Innen ist jedoch noch der »Instinkt« angesiedelt, und »Gottähnlichkeit ist der Instinkt des Menschen. / Ohne diesen Instinkt, wie wäre ein Pythagoras, Sokrates, Confutse, Epictet; ein χstus, ein Fenelon möglich gewesen.« (366) Noch einen Schritt weiter in diesen Innenraum liegt die »Seele«, und: »Ein Gottesgedanke ist in d〈er〉 Seele des Mensch〈en〉, den will d〈er〉 +grübelnde+ Verstand ausrott〈en〉, er ist seiner Vollendung im Wege«. (568, vgl. 418) Anders jedoch die Vernunft – sie weist auf die Gottheit (262). »Sie siehet den Schöpfer, sie siehet Gott« (320), aber sie beweist ihn nicht, sondern sie wird ihrerseits erst aus Gott bewiesen. Denn sie »wäre kein Vermögen der Wahrheit, wenn kein Gott wäre« (350), sie entlehnt ihre Gültigkeit aus Gott (386). Doch Jacobi nennt hier nicht allein die Vernunft. Neben sie stellt er das »Gefühl« – jedoch nicht etwa das Gefühl schlechthin: Nur »wo wir in unserem übersinnlich⟨en⟩, vernünftigen, geistig⟨en⟩ Theile leben, da haben wir Gefühle des Ubersinnlich⟨en⟩ u Geistigen, welches wir auch das Göttliche nen⟨en⟩« (535). Und hier spricht Jacobi auch von der »Herrlichkeit des Gefühls«: »Nur im Gefühl ist wahrhaft der Geist, der gewiße, der Paraklet.« (523) Doch um Jacobis Aussage nicht einseitig zu verzerren, muss man die wechselseitige Verschränkung beider ernst nehmen: Nur im Gefühl ist wahrhaft der Geist – aber eben nur in einem Gefühl, das seinerseits inhaltlich vom Vernünftigen bestimmt wird: »Es giebt ein lebendiges Gefühl des Schön〈en〉, des Wahr〈en〉, des Guten, des Erhaben⟨en⟩ u Heiligen, das an seiner Objectivität nicht zweifeln lässt, das uns aufdringt den Glauben an _ein_ Höchstes Wesen, welches alle Zungen nenn⟨en⟩ Gott, Weltschöpfer, Vater. Es ist unmöglich, _wenn man_ belebt _ist_ v diesen Gefühlen, an Gott nicht zu glaub〈en〉« (433). Dies sind sehr emphatische Aussagen – doch ist es wohl im Sinne Jacobis, eine sehr viel frühere, aber ebenfalls auf das Gefühl bezogene, einschränkende Äußerung hier einzuschalten: »Wohl kann er Gott damit nicht erkenn⟨en⟩; aber er kann sich doch damit ihm nähern, u gewiß ist das beßer, als auf alles Comerz mit Gott renuntiir〈en〉.« (122) Und eine weitere Aussage Jacobis bringt diese strittige Frage nach der Erkenntnis Gottes wohl auf den entscheidenden Punkt: »Wir erkennen was Gott in uns ist, nicht was er in sich selbst ist. So erkennen wir unvollkomm〈en〉 beydes, Ihn u den eigen〈en〉 Geist.« (446) Und außerhalb des eigenen Geistes wird man vergeblich suchen, ihn zu erkennen.
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Das Medium dieser Erkenntnis dessen, »was Gott in uns ist«, sind also Gefühl und Vernunft – das Gefühl als mit der Vernunft vermitteltes Gefühl und die Vernunft als eine mit dem Gefühl, mit Liebe und Herz vermittelte (446) und nicht bloß abstrakt-theoretische Vernunft, die nichts anderes als der Verstand wäre. Auf diese Formel lässt sich der vorhin von mir genannte bunte Strauß von Antworten Jacobis zusammenfassen – und es ist eine ausschließende Formel. Und nun kann ich auch die – potentielle – Blume beim Namen nennen, die keinen Platz in diesem Strauß findet, weil sie bereits verwelkt ist: der kirchliche Glaube an eine einmal in der Geschichte geschehene Offenbarung. Von dieser Option spricht Jacobi geradezu abschätzig in Kladde 12, also in einem seiner letzten Einträge: »Die Behauptung der Offenbarungsgläubigen besteht darin, daß sie sagen: Gott ist nicht blos dem Menschen ein für allemahl und auf gleiche Weise offenbart in der Vernunft u im Gewißen, sondern er hat sich ihnen auch noch äußerlich offenbart in der Zeit.« (556) Diese »Behauptung der Offenbarungsgläubigen« bildet gleichsam den Gegenpol zu Jacobis Rede vom Göttlichen – sie zeigt einen religiösen Materialismus und ignoriert oder zerstört gar all das, was Jacobi über die Vernunft und das Gefühl als die Formen des Göttlichen ausführt: Das Göttliche kann nirgend anderswo sein als in diesem von Vernunft und Gefühl gebildeten Innenraum. Doch drängt sich hier noch eine letzte Frage auf: die Frage, wie es von diesem vernunftgeleiteten »Gefühl des Schön〈en〉, des Wahr〈en〉, des Guten, des Erhaben⟨en⟩ u Heiligen«, von diesem Gefühl eines unspezifisch-allgemeinen Göttlichen zu dem Gedanken eines persönlichen göttlichen Wesens kommt. Jacobis Antwort auf diese Frage ist nicht nur eine der spätesten, sondern sie ist zugleich die brisanteste unter seinen vielen Antworten: »In dem Menschen ist ein Trieb nach Gottähnlichkeit, u es erwächst ihm aus den Regung⟨en⟩ dieses Triebes eine Idee des Gegenstandes, dem er ähnlich zu werden strebt. Er will sich erheben über die Welt u was in der Welt ist; v dem Erschafenen zu dem Unerschaffen〈en〉, durch den alles geworden ist; Er will seine Erkenntniß schöpf〈en〉 aus Gott.« (536) Und diese Erhebung verwirft Jacobi nicht – wie man erwarten könnte – als Hybris, sondern er wertet sie als ein Indiz für die göttliche Herkunft und Leitung auch des Instinkts. Man muss sich diese Antwort gleichsam auf der Zunge zergehen lassen: Die Kunde von dem göttlichen Wesen als persönlichem kommt nicht von außen, etwa durch eine einmal geschehene Offenbarung oder durch eine direkte Gnadenwirkung Gottes, sondern aus den Regungen seines Triebes nach Gottähnlichkeit erwächst dem Menschen die Idee dieses Gegenstandes – man könnte ja auch argwöhnen: erdichtet er sich einen Gegenstand –, dem er ähnlich zu werden strebt. In diesen knappen Sätzen skizziert Jacobi gleichsam eine Theogonie – die
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Theogonie des persönlichen göttlichen Wesens. Damit aber ist er – fraglos unbeabsichtigt – nur noch zwei Schritte weit von den Antworten entfernt, die erst eine auf ihn folgende Generation geben wird.
III. PHILOSOPHIE DE S GEIS TE S UND MOR A LPHILOSOPHIE
Birgit Sandkaulen
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit I. Einleitung
In einer Epoche wie der der klassischen deutschen Philosophie, deren prominenteste Vertreter Philosophie emphatisch als Wissenschaft betreiben wollen, scheint das Thema »Philosophie und Common Sense« auf Anhieb nicht ins Zentrum zu führen. Vielleicht assoziiert man das populärphilosophische, an ein breiteres Publikum adressierte Genre, das es, wie etwa bei Fichte, um 1800 durchaus auch gibt, das sich aber bereits in der ganzen Textur von den Grundlegungsschriften unterscheidet. Und was insbesondere Kant betrifft, drängt sich die beinahe höhnische Verurteilung auf, die er im Vorwort der Prolegomena an die schottische Common-Sense-Philosophie adressiert hat. Die Berufung auf den »gemeinen Menschenverstand« sei »nichts anders als eine Berufung auf das Urtheil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph erröthet, der populäre Witzling aber triumphirt und trotzig thut« (AA IV, 259). Bei näherem Hinsehen ist es mit solchen Einschätzungen keineswegs getan. Im Folgenden möchte ich im Gegenteil zeigen, dass das Thema »Philosophie und Common Sense« auf ein zentrales und anspruchsvolles Spannungsverhältnis verweist. Seine Problematik prägt die Debatte zwischen Jacobi und Kant substantiell und ist mit nichts Geringerem als einem epochalen Paradigmenwechsel verbunden. Vorauszuschicken ist meinen folgenden Ausführungen zweierlei. Erstens kann ich die Diskussion weder chronologisch noch sachlich in einem einfachen linearen Gang entfalten. Dafür ist die Sachlage, in der auch auf den Spinozastreit zwischen Jacobi und Mendelssohn zurückgegriffen werden muss, bei weitem zu komplex und auch durch zu gravierende Fehlverständnisse verstellt. Ich werde also einige Schritte mit einigen Perspektivwechseln unternehmen. Damit hängt zweitens zusammen, dass ich den Ausdruck »Common Sense«, den weder Jacobi noch Kant wörtlich verwenden, wie einen Platzhalter behandle, dessen Bedeutung im konkreten Fall erhoben werden muss. Daher ist auch die Frage, in welcher Art Spannungs-
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verhältnis Philosophie und Common Sense zueinander stehen, nicht ein für allemal entschieden. Gerade darin besteht die Pointe.
II. Strukturelle Vorklärung: Kants Zwiespalt mit sich selbst
Im Interesse einer nötigen Vor-Orientierung auf dem zwischen Jacobi und Kant aufgespannten Problemfeld ist mit einer zunächst rein strukturell orientierten Beobachtung zu beginnen. Ebenso notwendig, heißt es in Jacobis später Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften von 1815, wie der »Weg der Kantischen Lehre […] zu einem System absoluter Subjectivität« führt, ebenso notwendig führt der »Weg der Jacobischen Lehre […] zu einem System absoluter Objectivität« ( JWA 2,1, 391). Eine strikte und dabei spiegelbildlich aufeinander bezogene Entgegensetzung zweier Positionen. Das klingt so, als würde Jacobi sein Verhältnis zu Kant zuletzt in diejenige antithetische Struktur der Doppelphilosophie einpassen, die sein Denken von Beginn an charakterisiert und die ihm seinen besonderen Zuschnitt und provokativen Nachdruck gibt.1 So spricht Jacobi zunächst von »meine[m] Spinoza und Antispinoza« im Zusammenhang des Spinozastreits mit Mendelssohn ( JWA 1,1, 274), um diese Konstellation im Streit mit Fichte in der Figur von »Alleinphilosophie« und »Unphilosophie« zu wiederholen ( JWA 2,1, 198) und gegenüber Jean Paul dann in der Behauptung zuzuspitzen: »es giebt kein vernünftiges Mittelsystem, zwischen totalem Idealism oder totalem Realism«.2 Das nimmt die spätere Formulierung einer totalen Opposition von »absoluter Subjektivität« und »absoluter Objektivität« offenbar vorweg, einschließlich der zugespitzten Rede von einem auf beiden Seiten virulenten Interesse am »System«. Zugespitzt ist diese Rede deshalb, weil natürlich über das ganze Werk Jacobis hinweg klar ist, und eben das macht nicht den geringsten Teil seiner doppelphilosophischen Provokation aus, dass es auf der Seite der Antithese gerade nicht um ein alternatives System, sondern im Gegenteil um die Position einer radikalen Systemkritik geht: um ein »Antisystem«, wie man mit Adorno (und dessen Opposition zu Hegels System) ganz zutreffend sagen 1
Von Jacobis Doppelphilosophie hat zuerst Dieter Henrich gesprochen, was strukturell ein entscheidender Fortschritt in der Jacobi-Forschung war (Dieter Henrich: »Der Ursprung der Doppelphilosophie. Friedrich Heinrich Jacobis Bedeutung für das nachkantische Denken«, in: ders. (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Präsident der Akademie, Philosoph, Theoretiker der Sprache, München 1993, S. 13–27). Nur unter Voraussetzung dieser Doppelstruktur werden Topographie und Vollzug des Sprungs verständlich. Vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000. 2 Brief an Jean Paul vom 16.03.1800, in: JBW I,12, 208.
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit
kann.3 Die Verwendung des Ausdrucks »System« für die Seite der »Jacobischen Lehre« sollte man also an dieser Stelle (wie auch an anderen vergleichbaren Stellen) nicht buchstäblich belasten. Viel wichtiger ist eine andere Frage: ob nämlich der Eindruck einer Einpassung Kants in die antithetische Konstellation der Doppelphilosophie überhaupt richtig ist. Tatsächlich ist das nicht der Fall, und das ist für meine weiteren Überlegungen entscheidend. Hätte Jacobi eine solche Einpassung vorgenommen, hätte er sein Verhältnis zu Kant zuletzt grundlegend geändert, und davon kann keine Rede sein. Jacobis häufiger Versicherung, seine Positionen seien zeitlebens immer dieselben geblieben, kann man auch hier vertrauen. Im Fall der Beziehung zu Kant tritt damit eine ausgesprochen interessante und auch singuläre Konstellation in den Blick. In die antithetische Struktur der Doppelphilosophie passt Kant nämlich deshalb nicht hinein, weil das Kriterium solcher Passung – beginnend mit Spinozas »reiner Metaphysik« – Konsequenz ist, die Philosophie Kants jedoch Jacobi zufolge von Inkonsequenzen und substantiellen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Dass Kant »zwiespaltig blieb und zweydeutig, und voll Doppelsinn bis ans Ende seiner Tage, gehört zu den lehrreichsten Ereignissen in der Geschichte der Philosophie« (JWA 3, 85). Was sich je nach Debattenlage ändert, ist nicht diese bemerkenswerte Diagnose Jacobis, sondern ihre Bewertung, je nachdem, welche der beiden doppelphilosophischen Perspektiven zugrunde gelegt wird, wobei auch der – seinerseits durch Jacobi angestoßene – Gang der nachkantischen Systemphilosophie eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Am Maßstab von Spinozas konsequentem Monismus gemessen, erscheint Kants Zwiespältigkeit als gravierendes Defizit. Hierher gehört Jacobis berühmte Kritik in der Beilage zum David Hume, wonach Kants transzendentaler Idealismus zu einem konsequenten »spekulativen Egoismus« allererst umgeformt werden müsste, um die Widersprüche dieser Position erfolgreich aufzulösen (JWA 2,1, 112). Mit dem Auftreten Fichtes ist dieses Desiderat dann bestmöglich erfüllt. Der neue Systemmonismus der Wissenschaftslehre, der das spinozanische Paradigma der Substanz im Konstruktivismus der absoluten Tathandlung des Ich sogar überbietet, findet Jacobis größte Anerkennung. Parallel dazu erscheint nun aber Kant – und zwar gerade aufgrund seiner systemischen Defizite – als der »Vornehmere« (JWA 2,1, 192). Aus der Perspektive der Systemkritik betrachtet, betont Jacobi eine Nähe zur Philosophie Kants, in der er nicht wenige eigene Anliegen wiedererkennt.
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Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6), Frankfurt/M. 1970, S. 10.
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Einer der sprechendsten Belege für die fallweise je anders akzentuierte Diagnose von Kants fehlender systemischer Konsequenz ist der Einsatz des Topos von Geist und Buchstabe, bekanntlich einer der prominentesten Topoi im Ringen der nachkantischen Philosophie um eine angemessene Verständigung über Kant. Behauptet Jacobi im David Hume, dass der Geist der Kantischen Philosophie entgegen ihrem Wortlaut ganz klar monistisch verstanden und in diese Richtung weiterentwickelt werden muss (vgl. JWA 2,1, 108 f.), so heißt es später in den Göttlichen Dingen genau umgekehrt, der »Geist der Kantischen Philosophie [sei] entgegengesetzt dem Geiste der Alleinheitslehre« ( JWA 3, 81). In gewisser Weise nimmt Jacobi damit die bis auf den heutigen Tag andauernde – und dann unter dem fragwürdigen Label »Kant und der Deutsche Idealismus« geführte – Diskussion vorweg, ob Kant einerseits und die nachfolgenden Systemphilosophien Fichtes, Schellings und Hegels andererseits einen konzeptionellen Zusammenhang bilden oder nicht. Dieser philosophiegeschichtlichen Konstitution und Selbstreflexion der Epoche bei anderer Gelegenheit weiter nachzugehen, wäre interessant – die angeblich plausible Aufspaltung zwischen historischer und systematischer Philosophie wird hier ab ovo widerlegt. An dieser Stelle geht es mir jedoch anschließend an die dargestellte strukturelle Übersicht um etwas anderes: nämlich um die Frage nach dem inhaltlichen Motiv, das Jacobi zufolge für die Zwiespältigkeit Kants verantwortlich ist. Es müsste dies, wenn man an die eingangs zitierte Opposition von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität zurückdenkt, etwas sein, das den »Weg der Kantischen Lehre« gleichsam aufhält und daran hindert, sich vollends zu einem »System absoluter Subjektivität« zusammenzuschließen. Die Antwort ist eine Provokation und durchquert dabei insbesondere auch, woran wir uns beinahe topisch mit Schelling und Hegel gewöhnt haben, Dualismen aller möglichen Art auf die Tätigkeit der Reflexion zurückzuführen. Jacobi identifiziert das Zwiespalt verursachende Motiv woanders: in der mit dem konsequenten Systemvollzug hadernden Verpflichtung Kants auf einen »natürlichen Vernunftglauben« ( JWA 2,1, 391 f.). Auf das Natürliche dieses Vernunftglaubens kommt es an. Damit verweist »Kants Zwiespalt mit sich selbst« darauf, dass Kant »als Mensch, den unmittelbaren positiven Offenbarungen der Vernunft, ihren Grundurtheilen, unbedingt vertraute, und auch dieses Vertrauen nie, wenigstens nie ganz und entschieden, verlor«, während er »als Lehrer der Philosophie« diese Geltung der Vernunft unterminiert hat ( JWA 3, 88). In solchen Äußerungen steckt eine dreifache Pointe. Wie im doppelphilosophischen Fall formuliert Jacobi sein Verhältnis zu Kant erstens nicht im Modus äußerlicher, sondern immanenter Kritik. Dass er dieses methodische Verfahren, Einwände aus dem sympathisierenden Mit-
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vollzug einer Position zu entwickeln, ganz bewusst gewählt hat, wird im autobiographischen Teil des David Hume explizit erläutert. Anders aber als im doppelphilosophischen Fall wird das Verhältnis zu Kant zweitens nicht wie bei Spinoza oder Fichte via negationis, über eine bis zum höchsten Grad der Sympathie gesteigerte »Antipathie« ( JWA 2,1, 198), sondern aus systemkritischer Perspektive direkt und geradezu in der Feststellung einer gemeinsamen Basis beschrieben. Damit aber nicht genug. Denn drittens wird diese Basis in kritischer Absicht in der vorphilosophischen Sphäre des Common Sense verortet, deren offenbar starkes Spannungsverhältnis zur Philosophie gegenüber dem eingangs aus Kants Prolegomena zitierten Wort genau umgekehrt gewichtet wird. Die Frage des Common Sense ist massiv in Bewegung geraten.
III. Kants Vernunftglaube und Mendelssohns Salto mortale in den Common Sense
Dass Jacobis Ansatz im Umgang mit Kant einleuchtend und attraktiv ist, werde ich im Weiteren behaupten. Allerdings dürfte seine Unterstellung eines mit Kant gemeinsam im Common Sense bezogenen Ausgangspunktes, der durch einen gravierenden Konflikt zwischen menschlichen und philosophischen Überzeugungen geradezu definiert sein soll, aus Kantischer (und auch Kantianischer) Sicht zunächst einmal abwegig erscheinen. Das lässt sich im direkten Rekurs auf Kants Orientierungsschrift belegen, mit der Kant auf Drängen der Vertreter der Berliner Aufklärung 1786 zur »Mendelssohn- und Jacobi’schen Streitigkeit« Stellung bezogen hat (AA VIII, 134). Zeitlich versetzt mich dieser zweite Schritt meiner Überlegungen in die frühe Formationsphase der 80er Jahre zurück, in der der von Jacobi ausgelöste Spinozastreit und die Ausarbeitung von Kants kritischem Werk sich vielfach berühren und zusammen die explosive Mischung ergeben, die ab den 90er Jahren zu der sich förmlich überschlagenden Entwicklung der nachkantischen Philosophie in ihren sämtlichen Spielarten führt. Worum geht es in Kants Orientierungsschrift? Unübersehbar ist der dramatische Appell an die »Männer von Geistesfähigkeiten und von erweiterten Gesinnungen«: mit ihren »Angriffen auf die Vernunft« setzen sie nichts Geringeres als die Freiheit und mit ihr das Grundversprechen der Aufklärung aufs Spiel (AA VIII, 144). Kants Verurteilung von »Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung der Vernunft« (AA VIII, 134) zielt zweifellos auf Jacobi und trägt damit zu dessen noch bis vor kurzem umlaufenden Ruf, vermeintlich ein Gegenaufklärer zu sein, entscheidend
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bei.4 Zur Enttäuschung der Berliner schlägt sich Kant jedoch auch nicht ohne weiteres auf die Seite Mendelssohns. Das scheint plausibel, weil er ja vor dem Hintergrund seiner eigenen Vernunftkritik nun nicht einfach die Position des Rationalismus verteidigen kann. Interessanterweise ist dies in Kants Argumentation aber gar nicht der zentrale Punkt. Vielmehr wird Mendelssohn – und nicht Jacobi – für den drohenden Umsturz der Vernunft ursächlich haftbar gemacht, mit dem Argument nämlich, dass er sich in seinen an den Spinozastreit mit Jacobi anschließenden Schriften dafür ausgesprochen habe, sich im »spekulativen Gebrauche der Vernunft« durch das »Leitungsmittel« des Common Sense, hier »Gemeinsinn«, »gesunde Vernunft« oder »schlichte[r] Menschenverstand« genannt, zu orientieren (AA VIII, 133). Das war, so Kant, ein schwerer Fehler, dem er in einer Reihe vertrackt schwieriger Ausführungen ein anderes Orientierungsmittel, den »Vernunftglauben«, entgegensetzt. Ganz anders als im Vorwort der Prolegomena klingt Kant inzwischen ernsthaft besorgt. Zumindest an einer Diskussion über Status und Gewicht des Common Sense führt jetzt kein Weg mehr vorbei, wenn nicht irgendwelche »populären Witzlinge«, sondern renommierte Philosophen und Vertreter des Rationalismus wie Mendelssohn im Common Sense ein berechtigtes und hilfreiches Mittel philosophischer Orientierung sehen. Und sogar so weit geht Kant in seiner Replik, das Bedürfnis nach Orientierung als solches anzuerkennen. Leider aber hat Mendelssohn im Rekurs auf die »gesunde Vernunft« die Orientierung verloren, weil er, das ist Kants entscheidender Einwand, die »Ausübung dieses Vermögens im Gegensatze mit der Speculation« in gefährlicher »Zweideutigkeit« ließ (AA VIII, 134). Es ist nicht klar, ob Kant meint, dass das Spannungsverhältnis zwischen Spekulation und gesundem Menschenverstand per se zweideutig ist oder ob sich die Zweideutigkeit spezifisch aus dem Verfahren Mendelssohns ergibt. Mendelssohn verfährt evident zirkulär, wenn er sich gegen mögliche Verirrungen der Vernunft auf den Common Sense beruft und zugleich umgekehrt die »Aussprüche des gesunden Menschenverstandes« durch die Spekulation »berichtigen, und so viel, als möglich, in Vernunfterkenntniß […] verwandeln« will.5 Tatsache ist jedenfalls, und dies haben Kant zufolge die allerdings sehr scharfsinnigen Ausführungen Thomas Wizenmanns, eines 4 Mit
der großen Studie von Stefan Schick (Die Legitimität der Aufklärung. Selbst bestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi (= Philosophische Abhandlungen 116), Frankfurt/M. 2019) sollte diese leidige Diskussion nun endgültig überwunden sein. 5 Moses Mendelssohn: An die Freunde Lessings (1786), in: Ausgewählte Werke. Studienausgabe, Bd. II, hrsg. von Christoph Schulte et al., Darmstadt 2009, S. 335–367: S. 352.
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mit Jacobi befreundeten jungen Theologen, der zunächst anonym und ohne Wissen Jacobis eine analytische Rekonstruktion des Spinozastreits vorgelegt hat,6 gezeigt, dass der von Mendelssohn ja nach wie vor beanspruchte Primat der Vernunft nicht mehr eindeutig gesichert ist. In der Umkehrung der Geltungsansprüche des gesunden Menschenverstandes gegenüber der Spekulation unterscheidet sich Mendelssohns Rekurs auf den Common Sense demnach nicht von der von Jacobi behaupteten unmittelbaren Gewissheit des Glaubens, womit der Schwärmerei laut Kant Tür und Tor geöffnet sind. Dass diese in sich völlig plausible Darstellung Kants die Position Jacobis gar nicht trifft, wird gleich zu erörtern sein, wie überhaupt festzustellen ist, dass Kants Orientierungsschrift ohne jede konkrete Bezugnahme auf Jacobis Spinozabriefe auskommt und sich allein auf Mendelssohn und Wizenmann stützt.7 Die höchst misslichen und Jacobis Problemvorlage in keiner Weise gewachsenen Argumentationsbemühungen Mendelssohns werden so aber triftig auf den Punkt gebracht. Kaum hält man es für möglich, dass es in Gestalt Mendelssohns ein und derselbe Autor in ein und demselben Text sein soll, der Jacobi sowohl einen irrationalen Sturz in den christlichen Glauben zum Vorwurf macht (und damit eines der folgenreichsten Fehlurteile über Jacobi begründet: vgl. JWA 1,1, 179 f.) als auch zu gleicher Zeit den Sprung Jacobis für eigene Zwecke vereinnahmen will: »Ihr Salto mortale«, so Mendelssohn in seinen Erinnerungen an Jacobi, »ist ein heilsamer Weg der Natur. Wenn ich der Spekulation eine Zeitlang durch Dornen und Hecken nachgeklettert bin; so suche ich mich mit dem bon sens zu orientiren und sehe mich wenigstens nach dem Wege um, wo ich wieder mit ihm zusammen kommen kann.« ( JWA 1,1, 175)8 6
Thomas Wizenmann: Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie; kritisch untersucht von einem Freywilligen, Leipzig 1786. 7 Vgl. zu dieser Diskussion: Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Frankfurt/M. 1974, S. 421 ff., Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge MA und London 1987, S. 109 ff., Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie, München 2003, S. 351 ff., Robert Nehring: Kritik des Common Sense. Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus Communis bei Kant, Berlin 2010, S. 258 ff. Unter Auslassung von Kants Schrift: Paul Franks: »Divided by Common Sense: Mendelssohn and Jacobi on Reason and Inferential Justification«, in: Reinier Munk (Hg.): Moses Mendelssohn’s Metaphysics and Aes thetics (= Studies in German Idealism 13), New York 2011, S. 203–215. Alle genannten Beiträge stellen zu Recht die zentrale Rolle der Common-Sense-Thematik für die Debatte heraus, teilweise auch unter Bezug auf Wizenmann. Gleichwohl unterbieten sie die Lage, weil sie die Position Jacobis nicht adäquat erfassen, vgl. dazu das Folgende. 8 Vgl. dazu auch Mendelssohn: An die Freunde Lessings, S. 353 ff., wo die 1784 brieflich übermittelten »Erinnerungen an Herrn Jacobi« erstmals abgedruckt worden sind.
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Mit der Position Jacobis hat das gar nichts zu tun. Oder anders gesagt: Wenn Kant sich bemüht, Mendelssohns haltlosem Sprung in den Common Sense ein Konzept entgegenzusetzen, das das äußerliche und dabei zirkuläre Spannungsverhältnis zwischen Spekulation und Common Sense zugunsten eines intrinsisch verfassten »Vernunftglaubens« überwinden soll, »welcher sich auf keine andere Data gründet als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind« (AA VIII, 141), und wodurch sich sowohl der »speculative Denker« als auch der »Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft« orientieren kann (AA VIII, 142), dann mag damit die Logik eines sich selbst ruinierenden Rationalismus durch ein anderes Denkmodell ersetzt worden sein. Gegenüber Jacobi trägt dies jedoch nichts aus, weil sein doppelphilosophisches Konzept die dargestellte Konstellation von Spekulation und gesundem Menschenverstand von jeher unterlaufen hat, wie gleich zu zeigen sein wird. Jacobis trockene Replik auf den Vernunftglauben der Orientierungsschrift lautet daher, Kant wolle offenbar »mit aller Gewalt eine Secte stiften«.9 Dass dieser philosophische ›Sektenglaube‹ unmöglich identisch mit dem »natürlichen Vernunftglauben« sein kann, den Jacobi in seinem späteren Text als mit Kant gemeinsamen Ausgangspunkt unterstellt, ist klar. Aber was heißt das nun konkret? IV. Jacobis Paradigmenwechsel: Common Sense als lebensweltliche Praxis
Dass es sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Common Sense nicht um eine Marginalie handelt, wird inzwischen deutlich geworden sein. Vielmehr geht es um einen zentralen Problemkomplex, der von der um 1800 ganz neu aufgebrochenen Frage nach Verfassung und Geltung der Vernunft gar nicht zu trennen ist. Dass dieser Zusammenhang dann auch die nachkantische Philosophie affiziert, zeigt sich exemplarisch in Hegels Differenzschrift, wo dem »Verhältnis der Spekulation zum gesunden Menschenverstand« ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Gut zu sehen ist hier auch, dass Hegel sich zwar der Mendelssohn-Kantischen Terminologie bedient, der Sache nach jedoch längst etwas ganz anderes meint. Hegel zufolge zielt die Spekulation monistisch (in Anlehnung an Spinoza) auf das Wissen des Absoluten und bedarf gar keiner Orientierung mehr, weder in Form des Common Sense noch in Form eines Vernunftglaubens, weil sie die Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes in sich aufgehoben hat. 9
Brief an Hamann vom 31.10.1786, in: JBW I,5, 388; vgl. Brief an Müller vom 14.10.1786, in: JBW I,5, 384.
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit
Dabei ist Hegels Bemerkung: die »Spekulation versteht deßwegen den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Thun der Spekulation« (GW 4, 20), als implizite Adresse an Jacobi aufschlussreich. Dem von Jacobi vertretenen Common Sense schreibt Hegel zu Recht eine antimonistische Weltsicht zu, woraus in einer recht durchsichtigen Invektive folgen soll, dass das Beharren auf dieser Position auf spekulativen Unverstand zurückzuführen ist. Was es mit der Spekulation auf sich hat, versteht Jacobi indessen sehr gut, und Hegel weiß dies auch, wie man bis hin zur späten Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Wissen im »Vorbegriff« der Enzyklopädie beobachten kann. Umso interessanter ist, was Hegel am Ende des fraglichen Kapitels in der Differenzschrift sagt, dass sich nämlich Spekulation und gesunder Menschenverstand »in dieser Nacht der blossen Reflexion […], die der Mittag des Lebens ist«, begegnen können (GW 4, 23). Mit dem Stichwort des Lebens zeigt Hegel die entscheidende Neujustierung der ganzen Problematik durch Jacobi an, dessen doppelphilosophischen Ansatz Hegel seinerseits in eine gegenüber Spinoza neue Systemphilosophie zu transformieren sucht. Ob Hegel damit Erfolg hat oder nicht, ist hier nicht die Frage. Meine eher skeptischen Überlegungen dazu habe ich anderswo geäußert.10 Wichtig an dieser Stelle ist im nächsten Schritt, und dies war mit dem eingangs genannten Paradigmenwechsel avisiert, dass sich tatsächlich alles ändert, wenn es sich mit der fraglichen Konstellation von Philosophie und Common Sense nicht um so etwas wie wechselseitig korrekturbedürftige Ansprüche handelt, die man womöglich in einen reinen Vernunftglauben transformieren kann, sondern um das fundamentale Spannungsverhältnis von System und Leben. Die Analyse dieser Konstellation entwickelt Jacobi, wie in der Bezeichnung »meines Spinoza und Antispinoza« bereits erwähnt, ursprünglich in der Auseinandersetzung mit Spinoza – und das ist aus zwei Gründen von entscheidender Bedeutung. Erstens verkörpert Spinozas Ethik nach Jacobis Argumentation den Inbegriff einer reinen, das heißt unwiderlegbaren Metaphysik, deshalb nämlich, weil sie in perfekter Entsprechung von Inhalt und Form das Paradigma einer lückenlosen, in sich geschlossenen Erklärung der Welt vorgelegt hat. Dieser Erklärung zufolge sind Unendliches und Endliches, Denken und Materie sowie Geist und Körper so aufeinander bezogen, dass es nirgends, weder in 10
Nicht zuletzt mit Blick auf die dritte Stellung im »Vorbegriff« gehört hierher die Beobachtung, dass Hegel aus der Assoziation des unmittelbaren Wissens mit dem »common sense« (Enz, § 63) jegliche handlungsphilosophische Grundlage tilgt, auf die es bei Jacobi aber ankommt. Vgl. das Folgende und Birgit Sandkaulen: Jacobis Philosophie. Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg 2019, S. 289–315.
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göttlicher noch in menschlicher Hinsicht, den Anfang intentionalen Handelns geben kann. Die totale Vermittlung nach dem Satz des zureichenden Grundes, der Entwurf einer radikal neuen Metaphysik der Immanenz und das Profil des Fatalismus sind nichts anderes als drei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Im Umkehrschluss – und genau diesen Schluss vollzieht Jacobi im Sprung des Salto mortale – bedeutet das zweitens, dass es auf der Seite des Antispinoza um die Verteidigung der Freiheit geht. Es geht darum, die Überzeugung freien Handelns als eine lebensweltliche Tatsache zur Geltung zu bringen, die sich in genau dem Maße dem Interesse rationaler Erklärung entzieht, wie dieses Interesse – Spinoza führt es konsequent vor – intentionales Handeln als Illusion behauptet. Jacobi kennt den Ausdruck »Lebenswelt« noch nicht, der erst in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts prominent geworden ist. Jedoch halte ich es für höchst angemessen, Jacobi dieses Wort zu leihen, ist er doch genau der, der das Thema »Leben« als lebensweltliches Thema nachdrücklich ins Spiel bringt und der mit der berühmt gewordenen Formel von der »Enthüllung des Daseins« (vgl. JWA 1,1, 29) im Interesse der Erschließung und Selbstverständigung menschlicher Lebenswelt einen ganz neuen Horizont philosophischer Diskussion eröffnet. Hegels Rede vom »Mittag des Lebens« bestätigt das. Zahllose Äußerungen dieser Art, insbesondere bei Fichte und Schelling, aber auch bei den sogenannten Frühromantikern, ließen sich ergänzen. Kierkegaard führt diese Motivlage fort.11 Festzuhalten ist somit, dass Jacobis Hinsicht auf den Common Sense auf die vorphilosophische, existentielle Sphäre lebensweltlicher Praxis zielt. Dementsprechend hat seine Position nichts mit einem Sturz in den christlichen Glauben oder in irrationale Schwärmerei zu tun, aber auch nichts mit propositionalen Aussprüchen, die der gesunde Menschenverstand mit Recht oder Unrecht äußert. Bereits der Sprung aus dem System ist weder eine bloße Metapher noch ein theoretischer Satz, sondern ein performativer Akt, der Vollzug eines praktischen Widerspruchs, wie Jacobi in der Unterscheidung zur ausgeschlossenen Option der Widerlegung ausdrücklich notiert (vgl. JWA 1,1, 290). Damit aber kehrt sich buchstäblich alles um. Was Jacobi zunächst einem präreflexiven, von der Form diskursiver Vernunft unterschiedenen Glauben, bereits ab der Zweitauflage der Spinozabriefe 1789 aber einer als Organ des Vernehmens verstandenen »substantiven« Vernunft zuschreibt, kennzeichnet dieser Umkehrung zufolge den praktischen 11
Vgl. Birgit Sandkaulen: »Der Begriff des Lebens in der klassischen deutschen Philosophie – eine naturphilosophische oder lebensweltliche Frage?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67,6 (2019), S. 911–929.
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit
Primat einer Handlungsmetaphysik, wie ich dies andernorts zusammen mit der handlungsphilosophischen Profilierung von Jacobis Philosophie genannt habe.12 In der Form unmittelbarer Gewissheit (vgl. JWA 1,1, 115) bilden die praktischen Überzeugungen, in denen Menschen sich die Realität ihrer Lebenswelt erschließen, die Basis aller Selbst- und Weltverständigung, ein »Wissen aus der ersten Hand«, ein »Wissen ohne Beweise, welches dem Wissen aus Beweisen nothwendig vorausgehe, es begründe, es fortwährend und durchaus beherrsche«, wie es dann in der späten Einleitung heißt ( JWA 2,1, 375). Verblüffend und auch wieder nicht ist der Umstand, dass Kant diese praktische Ausrichtung von Jacobis »Antispinoza« offenkundig überhaupt nicht bemerkt hat, obwohl er selbst in der Orientierungsschrift den Vernunftglauben »in praktischer Absicht« (AA VIII, 141) akzentuiert und obwohl Wizenmann, auf dessen Resultate Kant sich ja bezieht, in der praktischen Orientierung Jacobis den entscheidenden Unterschied zu Mendelssohn explizit hervorgehoben hat.13 De facto zeigt dies, dass man mit der pauschalen Feststellung einer positionsübergreifenden Priorisierung der praktischen Vernunft um 1800 nichts gewinnt. Dass Kant diesen Primat in Anspruch genommen, mitlaufend aber unterminiert hat, genau darin besteht Jacobis fundamentaler Einwand, auf den ich zurückkommen werde.
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Vgl. Sandkaulen: Grund und Ursache, S. 220, 255 ff., sowie Sandkaulen: Jacobis Philosophie, S. 46 ff. 13 Wizenmann: Resultate, S. 147–166. Franks: »Divided by Common Sense« arbeitet die Differenz im Verständnis des Common Sense und des jeweils angenommenen Konflikts mit der Spekulation zwischen Jacobi und Mendelssohn anhand der These heraus, dass Mendelssohn ganz in rationalistischer Tradition zwei Hinsichten inferentieller Vernunft annimmt, während Jacobi in Anlehnung an Thomas Reid einen nicht-inferentiellen direkten Realismus vertrete. Gegenüber einer undifferenzierten Identifizierung beider Positionen etwa bei Beiser ist dies dem Ansatz nach zunächst richtig. Abgesehen davon aber, dass eine genuine Verpflichtung Jacobis auf Reid von Brady Bowman völlig plausibel widerlegt worden ist (Brady Bowman: »Notiones Communes und Common Sense. Zu den Spinozanischen Voraussetzungen von Jacobis Rezeption der Philosophie Thomas Reids«, in: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (= Studien zum 18. Jahrhundert 29), Hamburg 2004, S. 159–176), ist die Analyse von Franks nach wie vor rein epistemisch-propositional angelegt. Übersehen wird die entscheidende, an der Praxis orientierte Wendung, die Jacobi der Debatte gibt.
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V. Lebensweltliche Praxis und der Weltbegriff der Philosophie bei Kant
Was heißt es vor dem jetzt dargelegten Hintergrund, bei Kant einen »Zwiespalt mit sich selbst« zu diagnostizieren? Ich möchte diese abschließende Überlegung mit zwei Bemerkungen einleiten, die das Terrain noch besser sondieren helfen sollen. Erstens ist ein für Jacobis Ansatz strukturell wichtiger Punkt zu betonen: Danach gilt, dass der in der Umkehrung des Salto mortale freigelegte praktische Ursprung aller unserer Überzeugungen zugleich aller Philosophie zugrunde liegt und Jacobi zufolge als lebensweltliche Basis nicht etwa nur exklusiv im Falle Kants ausgemacht werden kann. Auch im Falle Spinozas verhält es sich so, wie es nach Jacobis Analyse die Vermischung des logischen Grundes mit dem Handlungsbegriff der Ursache in der Ethik zeigt. Damit geht weiter einher, dass ein monistisches System genau in dem Maße, wie es ein in sich geschlossenes System ist und also nicht einem Begründungsregress verfällt, auch die Voraussetzung substantiver, auf den Anfang bezogener Vernunft je schon implizit in Anspruch genommen, wenngleich in ihrer Geltung explizit »zu Verstande« gebracht hat. Anders formuliert bedeutet das, dass Jacobis Projekt der Enthüllung des Daseins sich in subversiver Manier auch auf die Analyse der Systemphilosophien selber erstreckt und hier – sozusagen inmitten ihrer Konsequenz – zur Aufdeckung eklatanter interner Widersprüche führt. Was diese Widersprüche jedoch von Kants zwiespältiger Lage unterscheidet, ist die ungleich größere systemische Verfremdung ihrer inhaltlichen Aussagen. Wenn hingegen Kant von »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« spricht, meint er, so Jacobi, genau das, was diese Worte »dem blos gesunden Menschenverstande von jeher bedeutet und gegolten haben; Kant trieb mit ihnen keineswegs nur Betrug oder Spiel« ( JWA 3, 74).14 Eben das scheint Kant selbst 14
Interessanterweise zitiert Jacobi an dieser Stelle in den Göttlichen Dingen vor der Erwähnung der Kritik der reinen Vernunft zunächst aus Kants vorkritischer Schrift zum Einzig möglichen Beweisgrund, wonach laut der vierten Betrachtung ein zureichender Begriff Gottes »die Eigenschaften des Verstandes und Willens« involviert und das »Urwesen« »ohne eigene Erkenntniß und Entschließung« nur »ein blindlings nothwendiger Grund anderer Dinge, und sogar anderer Geister seyn, und sich von dem ewigen Schicksale einiger Alten in nichts unterscheiden« würde, »als daß es begreiflicher beschrieben wäre« (JWA 3, 74; vgl. AA II, 89). Interessant ist das deshalb, weil Jacobi früher in der autobiographischen Sequenz des David Hume geschildert hatte, wie er bei der Lektüre von Kants Beweisgrund mit Ende der dritten Betrachtung die Triftigkeit von Spinozas Konzept der Substanz bestätigt sah (vgl. JWA 2,1, 44–47). Im Sinne von Jacobis Diagnose könnte man also sagen, dass Kants »Zwiespältigkeit« bereits in der frühen Schrift zum Beweisgrund steckt und sie gleichsam in zwei miteinander unvereinbare Hälften zerlegt. Dass Kant in den Erörterungen zum Ideal der reinen Vernunft in der KrV dieselbe Problematik in der Unterscheidung zwischen »Deismus« und »Theismus« fortschreibt, ist
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zweitens bekräftigen zu wollen, wenn er nämlich in der Kritik der reinen Vernunft zwei Typen der Philosophie unterscheidet: den »Schulbegriff« und den »Weltbegriff« der Philosophie, wobei Letzterer sich »auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« und damit auf das bezieht, »was jedermann notwendig interessiert« (A 838–840/B 866–868). Ich habe diese Hinsicht Kants auf jedermanns notwendiges Interesse eigentlich immer wunderbar gefunden und mich seit langem gefragt, warum der Weltbegriff der Philosophie, der ja im Kontrast zu anderen Äußerungen Kants sichtlich positiv auf den Common Sense zielt, weder in der Kant-Literatur noch bei Jacobi und der nachkantischen Philosophie eine wichtige Rolle spielt. Womöglich bietet Jacobis Ansatz hier aber die Lösung. Der Diagnose der Zwiespältigkeit Kants folgend, ist der Weltbegriff dann vielleicht doch nur »populär«, aber nicht konzeptionell zentral.15 Dies ist nicht klar. Verbunden damit kann man weiter feststellen, dass die Unterscheidung Kants zwischen Schule und Welt weit, aber offensichtlich nicht weit genug geht. Sie lenkt den Blick von der Philosophie auf die Welt, aber sie kehrt das Verhältnis nicht zugleich um. In diesem Sinne ist die praktische Basis der Lebens-Welt etwas anderes als die Welt – wie auch die Kontrastgestalt des Systems etwas ganz anderes als die innerakademische Verständigung der Schule ist, wie allein schon Spinozas gänzlich unscholastischer Ansatz der Ethik zeigt. Nicht zuletzt für die Einschätzung der nachkantischen Systemphilosophie hat das weitreichende Folgen. Keiner ihrer Protagonisten möchte in der Schule sitzen, während alle im Anschluss an Jacobi beanspruchen, aus dem Leben zu sprechen. Das gilt für alle Texte, selbstverständlich auch für die Grundlagenschriften und keineswegs allein für das sogenannte populäre Genre.16 Zurück zu Jacobis Verhältnis zu Kant, dessen Pointe sich jetzt präzise angeben lässt. Sie besteht darin, Kant weit mehr als nur einen Bezug zur Welt, nämlich den Ausgang von der Praxis der Lebenswelt zu unterstellen, den Kant aber zugleich dem Interesse der Wissenschaft geopfert hat. Dafür sind die Hindeutlich erkennbar. Der theistische Glaube an einen »lebendigen Gott« wird von Jacobi in Parallele zur vierten Betrachtung des Beweisgrundes gesetzt (JWA 3, 74; vgl. A 632 f. / B 660 f.). 15 So klingen, ohne einen Zwiespalt anzunehmen, die kurzen Ausführungen von Christian Bermes: »Welt« als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004, S. 62–65. Eine zentrale Bedeutung spricht Jürgen Stolzenberg dem Weltbegriff zu: »›Was jedermann notwendig interessiert‹. Kants Weltbegriff der Philosophie«, in: Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener und Arnulf von Scheliha (Hg.): Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth (= Beiträge zur rationalen Theologie XVI), Frankfurt/M. 2005, S. 83–94. 16 Hierher passt natürlich auch der Einstieg des sogenannten »Ältesten Systemprogramms« mit dem Wort: »eine Ethik« (GW 2, 615).
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sichten in der eben schon erwähnten topisch gewordenen Formel »Gott, Freiheit, Unsterblichkeit« zentral. Die erste Auseinandersetzung, die Jacobi mit Kant führt, setzt aber bekanntlich früher an, sie gilt dem Problem der Dinge an sich. Ich habe mich andernorts ausführlich mit dieser Debatte beschäftigt und möchte hier nur noch einmal den entscheidenden Punkt hervorheben, dass Jacobis Argument im Gefolge neukantianischer Missverständnisse völlig falsch kolportiert worden ist, so als hätte er Kant vorgeworfen, in der Theorie der Affektion die Kategorie der Kausalität über die Erscheinung hinaus ausgedehnt und damit selber gegen ein zentrales Lehrstück des transzendentalen Idealismus verstoßen zu haben. Nicht zufällig stammt dieser spätere Einwand aus skeptizistischer Quelle, von Schulze-Aenesidemus, der Jacobis Text wohl kennt, aber etwas ganz anderes daraus macht. Jacobi sitzt nicht im Gehäuse des Bewusstseins, um zu fragen oder zu bezweifeln, ob es »außerhalb« eine reale Referenz unserer Vorstellungen gibt oder nicht. Er durchquert dieses ganze erkenntnistheoretische Repräsentationsmodell, um ihm einen robusten direkten Realismus als basale Überzeugung unseres alltagsweltlichen In-der-Welt-Seins entgegenzusetzen. In eins damit lautet das Argument, dass Kant – schon allein mit der ansonsten leeren Rede von rezeptiver Sinnlichkeit und der nötigen Distinktion zwischen Erscheinung und Schein – genau aus dieser realistischen Quelle des Common Sense gleichfalls schöpft, aber – das ist der Punkt – diese Quelle im Rahmen seiner Philosophie nicht ausweisen kann, sondern konstruktivistisch annulliert.17 Dass dieser mit Beginn der transzendentalen Ästhetik in der Logik von Kants Theorie angelegte Zug zum Nihilismus einerseits unverkennbar ist und andererseits so offensichtlich nicht dem entspricht oder zu entsprechen scheint, was Kant behaupten möchte, bestimmt in seiner Ambivalenz dann auch Jacobis weitere Analysen. Nicht von ungefähr rekurriert er mehrfach auf das in der Tat eindrucksvolle Wort Kants eingangs der transzendentalen Dialektik, wonach Platon sehr wohl bemerkte, »dass unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und dass unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als dass irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihm kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges bloße Hirngespinste sein« (A 314 / B 370 f.; JWA 3, 82; JWA 2,1, 384). Die Frage ist: Was sichert diese Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion? 17
Vgl. Sandkaulen: Jacobis Philosophie, S. 169–197.
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit
Gesichert ist sie nur, das ist Jacobis wiederkehrendes Argument, wenn man in Kants Überzeugung, in Gestalt der Ideen (und später auch der Postulate) nicht von Fiktionen zu sprechen, den Ausgang von der praktischen Gewissheit des Common Sense aufdeckt und anerkennt.18 Eines Common Sense wohlgemerkt, der in Jacobis Modell nicht etwa weniger vernünftig als die Spekulation ist und über seine berechtigten oder verfehlten Ansprüche allererst aufgeklärt werden müsste, sondern der hier emphatisch mit dem Vermögen der Vernunft als einem genuinen, auf die Wirklichkeit der sinnlichen und übersinnlichen Welt bezogenen Vermögen der Wahr-Nehmung zusammengeschlossen ist. Genealogisch, sowohl kulturgeschichtlich als auch geltungslogisch, sind wir als menschliche Wesen früher vernünftig als rational. Wir können diese anthropologisch konstitutive Vernunft, die sich etwa auch in Formen der Idolatrie früher Kulturen zeigt, auch nicht gänzlich verlieren, aber sehr wohl verfremden, verstellen und aus ihrer Position verdrängen.19 Kants Philosophie liefert dafür exemplarisches Anschauungsmaterial, eben weil sie diesen Zwiespalt offen darbietet. Entgegen der Voraussetzung einer genuinen Vernunft, die Kants Aussagen überhaupt mit Leben füllt, ist es der Verstand, der zugunsten des Wissenschaftsformats die Führung übernimmt und damit die Vernunft sowohl in ihrer theoretischen als auch in ihrer praktischen Form Kriterien unterwirft, die die unmittelbare Gewissheit des Common Sense auf doppelte Weise vermitteln. Der Verfremdungseffekt solcher Vermittlung, den der Primat der praktischen Vernunft nicht etwa aufhebt oder auch nur kompensiert, sondern vielmehr exekutiert, liegt praktisch auf der Hand: Mit dem Moralgesetz des kategorischen Imperativs abstrahiert Kant vom konkreten Selbst, von der handelnden Person in ihrer Individualität und persönlichen Zurechenbarkeit, er führt eine ruinöse Spaltung zwischen der »Menschheit« und dem empirischen Individuum ein, das »ich selber« gar nicht bin. Und doch könnte Kant – dies ist hier wiederum Jacobis entscheidende These – so etwas wie ein Gesetz, das frei von strategischen Rücksichten allein das Gute befördern soll, gar nicht formulieren, geschweige denn Verständnis dafür erwarten, wenn ein im Leben praktiziertes Vorverständ18
Vgl. die Notiz in Jacobis Kladde 5: »Kant aber wäre nicht durchgekommen, wenn er die natürlichen Begriffe nicht überall heimlich u unter der Hand einschleichen ließe.« (Die Denkbücher Friedrich Heinrich Jacobis, hrsg. von Sophia Victoria Krebs, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020 (= Friedrich Heinrich Jacobi: Nachlass. Fortsetzung der Gesamtausgabe bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hrsg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Reihe I; Band 1,1 und 1,2), S. 194 f.). 19 »Denn es kann zwar der Mensch in seiner Thorheit die Vernunft sich abläugnen oder den Glauben ihr versagen; aber sie ganz zum Schweigen bringen und verhindern, dass sie nicht mehr in ihm wirke, vermag er nicht.« (JWA 2,1, 422) Eine restaurative Sehnsucht nach einem vermeintlich heilen Ursprung geht damit nicht einher.
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nis des Guten nicht je schon im Spiel gewesen wäre. »Ihrem Geiste nach«, vermerkt Jacobi daher, »ist die Glaubenslehre, welche Kant an die Stelle der von ihm zerstörten bisherigen Metaphysiken treten läßt, eben so wahr als sie erhaben ist.« ( JWA 2,1, 395) Strukturell wichtig ist, und dies führt bereits die Beilage VII der Spinozabriefe 1789 in aller Deutlichkeit vor, dass sich Jacobi nicht nur nicht an Kants transzendentaler Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft orientiert, sondern auch nicht an der von Kant überall »natürlich« genannten Bewegung der Vernunft, ausgehend vom Bedingten nach dem Unbedingten zu suchen. In dieser behaupteten Natürlichkeit ist keine Nähe zu Jacobis Verständnis des Common Sense erfasst, vielmehr ist sie längst nach dem Wissenschaftsparadigma des Verstandes modelliert. Noch einmal gilt es die ganze Konstellation umzukehren. Mit dem Ausgang von der Sphäre lebensweltlicher Praxis wird auch der Richtungssinn im Verhältnis von Bedingtem und Unbedingtem vertauscht und das Bewusstsein des Unbedingten als originäre Voraussetzung freigelegt. Nur weil wir ein genuines Bewusstsein des Unbedingten haben, können wir uns in unserem Leben als vielfach bedingte natürliche Wesen verstehen. Fälschlich hat man dieses Bewusstsein des Unbedingten mit einer religiösen Adresse direkt identifiziert. Das meint Jacobi aber gar nicht. Was er meint, hat er in größtmöglicher Klarheit in seinem Brief an Kant formuliert – mit einem kurzen Blick auf diese Korrespondenz komme ich zum Schluss.
VI. Freiheit – Anfang oder Schlussstein?
Der durchaus rätselhafte Brief Kants an Jacobi anlässlich des Erhalts der Zweitauflage der Spinozabriefe würde eine ausführliche Analyse lohnen. Für meine Zwecke muss die Hinsicht auf zwei Punkte genügen. Erstens nimmt Kant Abstand von seinem in der Orientierungsschrift gegen Jacobi geäußerten Vorwurf der Schwärmerei (was in der Wirkungsgeschichte von Jacobis angeblichem Irrationalismus immer übersehen worden ist). Auch Jacobi, so heißt es jetzt, bezieht sich auf die Vernunft. Und mit der gemeinsamen Anerkennung der Vernunft ist aus Sicht Kants auch verbunden, dass beide, Kant und Jacobi, eine ihrer Grenzen gewärtige Vernunft adressieren: »Etwas, was über die Speculation hinzukommt, aber doch immer in ihr, der Vernunft, selbst liegt und was wir zwar (mit dem Nahmen der Freyheit, einem übersinnlichen Vermögen der Caussalität in uns,) zu benennen, aber nicht zu begreifen wissen, ist das nothwendige Ergänzungsstück derselben.«20 Mit dieser Überle20
Brief Kants an Jacobi vom 30.08.1789, in: JBW I,8, 272.
Philosophie und Common Sense: Eine Frage der Freiheit
gung, die Kant auf den Begriff des »Theismus« bringt, unterscheidet er dann aber zweitens zwischen der Geltung solcher Vernunft und der Genesis ihrer Überzeugungen. Woher die Vernunft ihre Überzeugungen bezieht, sei es aus der Geschichte oder einer übernatürlichen Offenbarung, ist nebensächlich – Hauptsache ist, wie Kant auch an der Instruktion der Sittengesetze durch das »Evangelium« illustriert, dass, »da sie einmal da sind, man einen jeden von ihrer Richtigkeit und Gültigkeit (anjetzt) durch die bloße Vernunft überzeugen kan«.21 Es ist unklar, welche Absicht Kant hier verfolgt. Meint er Jacobi entgegenzukommen, indem er konzediert, dass es statthaft, wenn auch zweitrangig sei, nach den religiösen Quellen der Vernunft zu fragen? Oder gilt das Gesagte auch für Kant selbst – im Sinne eines gegenüber der Orientierungsschrift geschärften Problembewusstseins darüber, dass die Behauptung, sich im Vernunftglauben ausschließlich auf solche »Datas« zu gründen, die »in der reinen Vernunft enthalten sind«, die Frage ja geradezu provoziert, wie und woher denn solche »Datas« in die Vernunft gelangt sind? Umso interessanter ist Jacobis Replik: »Was mich so sehr bey dieser Stelle beschäfftigte, war die Frage: Wie sie sich auf meine Theorie beziehen, oder wie sie auf dieselbe sich nicht beziehen könne?« Weit entfernt von irgendeinem externen Bezug auf religiöse Quellen »habe ich meinen Theismus«, so Jacobi, »überall nur aus dem allgegenwärtigen facto menschlicher Intelligenz, aus dem Daseyn von Vernunft und Freyheit hergeleitet«.22 Gestützt auf eine lebensweltliche Tatsache des Common Sense, die Erfahrung menschlicher Freiheit, fallen Genesis und Geltung vernünftiger Überzeugungen einschließlich ihres Verweises auf einen personalen Gott bei Jacobi zusammen. Personale Freiheit bildet die Basis, sie füllt das Bewusstsein des Unbedingten, wie Jacobi durch sein ganzes Werk hindurch betont.23 Nach allem soll aber der Rekurs auf die Basis des Common Sense etwas sein, was nicht gegen Kant, sondern mit ihm zusammen, wenngleich unter Bedingungen Kantischer Zwiespältigkeit, gesagt werden kann. Und in der Tat: Kants merkwürdigen Ausgriff auf angeblich nebensächliche und doch offenbar benötigte religiöse Ressourcen der Vernunft kann man als Ausdruck einer inhaltlichen Verlegenheit deuten, die daraus resultiert, dass nach seinem Konzept der »Begriff der Freiheit« im wissenschaftlichen Interesse zum »Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der 21
Ebd., S. 273. Brief an Kant vom 16.11.1789, in: JBW I,8, 324. 23 Vgl. z. B. JWA 1,1, 156, JWA 2,1, 411; und noch ganz zuletzt wird die »Lehre von der Freyheit« als die »Grundlage meiner Philosophie« bezeichnet (JWA 1,1, 349). 22
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speculativen Vernunft« gemacht werden soll (KpV, AA V, 3 f.). Das kehrt Jacobi um: Systemkritisch betrachtet bildet Freiheit nicht den Schlussstein, sondern das Fundament.24 Als in sich gehaltvolle Tatsache rückt sie vom systemisch konstruierten Schluss an den Anfang lebensweltlicher Praxis.
24 Ähnlich,
wenngleich ohne Rekurs auf Jacobis systemkritische Akzentuierung, argumentiert Hans-Friedrich Fulda: »Der Begriff der Freiheit – Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen Vernunft?«, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.): Kant und der Frühidealismus (= System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus II), Hamburg 2007, S. 15–44.
Ulrich Schlösser
Persönlicher Mensch, identisches Selbst, allgemeines Bewusstsein Kant vs. Jacobi
M
it Bezug auf Lavater erwähnt Jacobi den »persönliche[n] Mensch[en]«1 und beschwört in seinem Schreiben Über die Weissagung Lichtenbergs dessen je Eigenes: »Ein Unvergleichbares, ein Eines für sich und ohne anderes ist der Mensch sich selbst durch seinen Geist, den eigenthümlichen, durch welchen er der ist, der er ist, dieser Eine und kein anderer.« ( JWA 3, 26) Kant hingegen ist das Ich eine »an Inhalt gänzlich leere Vorstellung«. Um seine Pointe noch etwas zuzuspitzen, fügt er die Formel vom »Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket« (A 345 f. / B 404) hinzu. Diese Gegenüberstellung legt den Verdacht nahe, dass beide Denker bei unserem Thema – dem Ich oder Subjekt und seiner Identität – nur schwer an einen Tisch zu bringen sind. Damit meine ich nicht nur, dass beide zu einer genau umrissenen Fragestellung unterschiedliche Thesen vertreten. Vielmehr hat man den Verdacht, dass ihr philosophisches Nachdenken zu diesem Themenfeld von vornherein durch unterschiedliche Fragestellungen und Zielsetzungen bestimmt ist. Entsprechend wird dieser Beitrag kontinuierlich damit zu kämpfen haben, einen gemeinsamen Boden für die Diskussion beider Positionen zu finden – und Letzteres geht nicht ohne die konstruktive Zutat des Interpreten. Aspekte der Heterogenität werden verbleiben. Ich beginne mit Jacobis Konzeption der Identität unserer selbst, die an Spinoza und vor allem an Locke anknüpft. Sie gibt dessen Position aber nicht einfach wieder, sondern geht auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit zurück. Nun muss ich in meinem Vorgehen zugleich beachten, dass es einer philosophischen Analyse letztendlich nicht möglich ist, eine Position einfach darzustellen. Sie kann dies nur vor dem Hintergrund einer systematischen philosophischen Herausforderung tun. Haben wir es aber mit zwei heterogenen Perspektiven zu tun, die sich nicht ganz zur Deckung bringen lassen, wird man annehmen, dass dies von einer der beiden Seiten aus geschehen muss. Ich akzeptiere das und baue – vielleicht im Gegenzug zu dem, was nahelie1
Brief an Lavater vom 14.11.1787, in: JBW I,7, 11.
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Ulrich Schlösser
gen mag – die Herausforderung von der Kantseite her auf: Wie ist es möglich, dass ein Wesen in seinem Selbstverhältnis zugleich ein Denker sein kann, d. h. etwas, das als Ich Gegenstand von Identitätsbehauptungen und damit Einzelnes ist, sich aber doch Gedanken zuschreiben kann – und von Gedanken gilt, dass sie einen Anspruch an potentiell jedermann stellen können, was selbst wieder voraussetzt, dass auch ihr Inhalt interpersonell teilbar ist. Letzteres ist der Fall, obwohl es für unsere mentalen Zustände, darunter auch die, durch die wir direkt mit der Welt in Kontakt stehen, prima facie nicht gilt. Mit einem Schritt auf Jacobi zu formuliert: Warum sind wir, anders als wohl die meisten Tiere, in unserer Selbstbeziehung als Selbsterhaltung – ein Term, der auch in Jacobis Theorie der Kognition eine Rolle spielt – nicht eingeschlossen? Die latenten Spannungen, die im kantischen Ich denke … liegen, werden also zum Angelpunkt. Nach Kant können wir auf diese Spannungen nur reagieren, wenn wir einen zweifachen Sinn des Selbst einführen: den eines mit sich identischen, aber doch logischen Selbst und den des allgemeinen Bewusstseins. Beide sind voneinander, aber auch von dem von Jacobi aus der Diskussion der personalen Identität übernommenen Modell verschieden. Ich führe aus, warum Kant seine These vertritt und komme von dort zu Jacobi zurück, der – so befragt – nicht stumm bleibt. Nicht nur finden wir bei Jacobi, wenn wir die Kontexte der Kognition hinzuziehen, ähnliche Theorieelemente wie bei Kant, aber ins Existentiell-Empirische verlagert. Vor allem steht auch bei Jacobi der Bezug auf die Vernunft im Hintergrund. Nur verbindet er diese, anders als Kant, nicht mit dem Vermögen der Selbsttranszendenz hin zu einem universellen Standpunkt, sondern eher mit der Fähigkeit der Responsivität zu einem anderen, der selbst Person ist. Das führt wiederum auf die ganz unterschiedliche Stellung beider Philosophen zur Aufklärung, wodurch deutlich wird, inwiefern sich beide Gedankenlinien, trotz der hergestellten Nähe, doch verfehlen.
I.
In der Freiheitsabhandlung in der 2. Auflage des Spinozabuches macht Jacobi geltend: »Das Daseyn vernünftiger Naturen wird, zum Unterschiede von allen andern Naturen, ein persönliches Daseyn genannt. Dieses besteht in dem Bewußtsein, welches das besondere Wesen von seiner Identität hat […]. Das Daseyn eines jeden endlichen Wesens ist ein succeßives Daseyn; seine Personalität beruht auf Gedächtnis und Reflexion« (JWA 1,1, 159).
Persönlicher Mensch, identisches Selbst, allgemeines Bewusstsein
Wie Birgit Sandkaulen in ihrem thematisch maßgeblichen Aufsatz2 zu Recht argumentiert hat, bewegt sich Jacobi hier in der Tradition der Lockeschen Diskussion der personalen Identität. Bei der personalen Identität in diesem Sinn geht es um die Frage, ob bestimmte, aktuale Zustände zu einem anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit oder auch solche, die in der Zukunft aktual werden, mir, d. h. demselben Subjekt, das ich hier/jetzt bin, zugehören, so dass ich eine durch diese Zustände hindurch sich vollziehende, über mich (hier/ jetzt) hinausreichende, diachrone Persistenz habe. Die implizite Alternative scheint zu sein, dass die Zustände jemand anderem angehören. Bin ich tatsächlich derselbe wie an einem schnell vergessenen Kindergartenmorgen, wie vor einer Amnesie oder einer Verpflanzung von Gehirnteilen eines anderen Menschen? Anders als wir es heute gewohnt sind, denkt Jacobi selbst weniger in Begriffen der science fiction, sondern aus einem lebenspraktischen Kontext heraus: Er weist (vermutlich zu streng) darauf hin, dass schon die »Befriedigung einer jeden unvernünftigen Begierde« ( JWA 1,1, 160) die Person in ihrer Identität gefährden könne. Das müsste man so formulieren, dass die noch vernünftige Person dem Entschluss und der Befriedigung zuvor und die Person in ihnen nicht mehr ganz dieselbe sei; die Letztere erinnert sich nicht daran, dass die Vernunft doch ihre ist. Dass Jacobi Locke im Sinn hat, zeigt sich daran, dass er eben das Gedächtnis, das Vermögen der Erinnerung, anführt – jenes inhaltliche, teils zu anspruchsvolle, teils nicht hinreichende Kriterium 3 psychologischer Kontinuität, das gemeinhin mit Locke in Verbindung gebracht wird. (Auch ›reflection‹ wird von Locke gebraucht.) Dass die personale Identität bei Jacobi inhaltlich konkret bestimmt gedacht wird, zeigt ein weiteres Indiz, das nicht auf Locke verweist, sondern schon eine Abgrenzung gegen Kant enthält. In der Herder betreffenden Beilage III des Spinozabuches schreibt Jacobi »Einheit des Selbstbewußtseyns macht die Persönlichkeit aus, und ein jedes Wesen, welches das Bewußtseyn seiner Identität hat: eines bleibenden, in sich seyenden und von sich wissenden Ich, ist eine Person. Wenn ich also, wie Kant behauptet, zweifeln kann, ob mein Bewußtseyn nicht fließend sey, so ist es mög2
Birgit Sandkaulen: »Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen«, in: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (= Studien zum 18. Jahrhundert 29), Hamburg 2004, S. 217– 237. 3 Es ist teils zu anspruchsvoll, weil auch vergangene Zustände, die ich nicht mehr erinnern kann, vielleicht aber kurz danach noch erinnert oder sogar in einem plötzlichen Schreck sogleich vergessen habe, doch auch mir zugehören. Es ist zu wenig anspruchsvoll, wenn man das Gedankenexperiment anführt, demzufolge mit einigen wenigen Gehirnzellen mir Erinnerungen eines anderen eingepflanzt werden, ohne dass ich doch mit ihm identisch bin.
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lich, daß ich an meiner eigenen Persönlichkeit (das ist, der wirklichen Identität meines Subjects) zweifle« (JWA 1,1, 220).
Die Differenz von Jacobis Konzeption der Einheit des Selbstbewusstseins (die in seiner Terminologie = der Persönlichkeit ist) zu derjenigen Kants wird deutlich, wenn man beachtet, worauf in Kant sich Jacobi bezieht. Es ist die folgende Passage aus dem dritten Paralogismus in der A-Auflage: »Wenn gleich der Satz einiger alten Schulen: daß alles fließend und nichts in der Welt beharrlich und bleibend sei, nicht statt finden kann, sobald man Substanzen annimmt, so ist er doch nicht durch die Einheit des Selbstbewußtseins widerlegt.« (A 364) Kants Sinn der Einheit des Selbstbewusstseins, der lediglich darauf zurückgeht, dass ich durchgängig etwas mit der Vorstellung Ich denke begleiten kann, reicht nicht aus, um auszuschließen, dass wir selbst als konkrete Personen doch nur eine fließende, d. h. in keinen relevanten Aspekten beharrende Existenz haben. Kants berühmte Fußnote, der zufolge das Bewusstsein wie ein Impuls zwischen Kugeln von einem Wesen zum nächsten übertragen werden könnte, spitzt den Punkt noch zu. Wenn die Einheit des Selbstbewusstseins à la Kant diese Diskontinuität nicht ausschließt, heißt dies, sie ist kompatibel damit. Jacobis Begriff der Einheit des Selbstbewusstseins und damit der Persönlichkeit wird durch solche Möglichkeiten – so das Zitat – aber gerade in Zweifel gezogen. Daraus folgt: Jacobi muss einen anderen und inhaltlich reicheren Begriff derselben haben, der auch substantiellere Fragen der personalen Identität, wie etwa die, ob ich nach einer dramatischen Persönlichkeitskrise noch derselbe bin, überhaupt zu diskutieren erlaubt. Es reicht nicht aus, dass es möglich ist, etwas auf das Bewusstsein zu beziehen, es kommt darauf an, dass ich mich mit bestimmten tatsächlichen Zuständen identifiziere.4 Wie von seiner Formulierung schon nahegelegt, ist zu vermuten, dass Jacobi nicht gerne auf den von Kant zum Ausweis der Lücke genutzten Standpunkt eines Fremden (vgl. ebd.) zurückgreifen möchte. In Blick auf uns als erlebende und denkende Wesen müsste der Fremde ja gänzlich äußerliche Kriterien verwenden wie etwa das der Konsistenz, das häufig noch weniger leistet als der kantische Ausgangspunkt. Dass Jacobi nicht nur Locke im Sinn hat, sondern über ihn hinausgeht hin zu den Bedingungen der Möglichkeit seiner Position, legt folgende Passage nahe, die auch Birgit Sandkaulen anführt, der ich genau in dieser Hinsicht aber eine etwas andere Nuance geben will:
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Auf diesen Terminus hebt auch Sandkaulen ab: Daß, was oder wer?, S. 230.
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»Als diesen Einen, der allein ist dieser Eine, und derselbe bleibt unter allen möglichen Veränderungen, findet er sich nicht erst hintennach durch Selbstvergleichung, ein Wesen des Begriffes, das ist, der bloßen Einbildung; denn worin geschähe die Vergleichung und Einbildung; worin würde das Selbst dem Selbste gleich? und was wäre das noch nicht gleichgesetzte Selbst, das Selbst noch ohne eigenes Seyn und Bleiben, das durch gleich- ungleich- und zusammensetzen, durch verknüpfen erst zu einem Selbste mit einem Seyn und Bleiben, mit Selbstseyn würde? Was endlich verübte alles dieses? – Er findet sich als dieses Wesen durch ein unmittelbares, von Erinnerung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl, nicht durch Erkenntniß; er weiß, er ist dieser Eine und derselbe, der kein anderer ist noch werden kann, weil unmittelbare Geistes-Gewißheit von dem Geiste, von der Selbstheit, von der Substantivität unzertrennlich ist.« (JWA 3, 26 f.)
Zu dem entscheidenden Terminus »Wesenheitsgefühl« fügt er hinzu: »Gedächtniß und Einbildung [setzt] aber ein absolut Erstes und Ursprüngliches des Bewußtseyns und der Thätigkeit, ein Princip des Lebens und der Erkenntnis, ein in sich Seyendes zum voraus, das […] auf keine Art und Weise ein in der Zeit Entstandenes seyn kann; sondern Selbst-Wesen, Selbst-Ursache, ein Außerzeitliches seyn muß, und, in dieser Eigenschaft, auch im Besitz eines außerzeitlichen blos inwendigen Bewußtseyns. Dieses außerzeitliche, bloß inwendige, von dem auswendigen und zeitlichen auf das klarste sich unterscheidende Bewußtseyn, ist das Bewußtseyn der Person« (JWA 3, 26 f. Fn. 1).
Zunächst einmal ist gleichsam als Punkt 0 klar: Wenn man nur ein gegenwärtiges Bewusstsein hat, in das mit Hilfe von Gedächtnis und Einbildung eine vergangene Sequenz als vergangene hochgeladen wird, ohne dass der zugrunde liegende Träger in der Beschreibung angesprochen würde, dann ist man nicht in der Lage, durch Verbindung dieser Elemente ein kontinuierliches Selbst der Person zu erzeugen. Man bekommt das Problem nicht einmal in den Blick. Ein Selbst, d. h. das, was die Person ausmacht, muss schon vorausgesetzt werden. Die Operation der Vergleichung mit früheren Zuständen via Gedächtnis kann es nicht hervorbringen. Wenn Jacobi nun fragt: »Worin geschähe die Vergleichung?«, so erweckt das zunächst den Eindruck, als ginge es um ein vorausgesetztes Bewusstsein als den Ort, an dem beide – Gegenwärtiges und als vergangen Vergegenwärtigtes – auftreten können, damit ein Vergleich möglich wird. Wir wissen aber bereits aus der vorangegangenen Diskussion, dass das bloße Beziehenkönnen von etwas auf ein Bewusstsein für die Identität der Person, die Jacobi interessiert, nicht viel auszurichten vermag. Wenn Jacobi fortführt: »Worin würde das Selbst dem Selbst gleich?« verschiebt sich
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der Sinn in relevanter Weise, denn jetzt kann das gelesen werden als: In welcher Hinsicht ist das Selbst mit dem vergangenen Selbst gleich? Inwiefern ist jenes je meines – d. h., inwiefern ist es so, dass ich mich als dieser bestimmte Mensch darin wiederfinden kann? Die stets kontrafaktisch bleibende Möglichkeit angenommen, es würde mir ein gänzlich anderes Erleben präsentiert, etwa das eines Heldencharakters statt meines, müsste mir dieses Erleben fremd bleiben. Im nächsten Schritt schließlich nimmt Jacobi die Möglichkeit in den Blick, dass, wenn schon nicht das Selbst, so doch dessen Sein und Bleiben durch die diachron-vergegenwärtigende Verknüpfung ausgewiesen werden könnte. Hier, denke ich, will Jacobi im Gegenzug darauf hinweisen, dass die Voraussetzung einer diachronen Identifikation – und darum geht es – selbst überhaupt nicht wieder nach dem Muster des zeitlichen Ablaufs gedacht werden darf. Als noch nicht stehendes und bleibendes erscheint das Selbst so, als wäre es in der zeitlichen Abfolge, aber auf einen Strich geschrumpft. Als solches ist das Selbst aber nicht wirklich. Ist es zeitlich erstreckt, würde es die erfolgreiche diachrone Identifikation aber schon voraussetzen. Der Bezug auf das Außerzeitliche meint also nicht Göttliches, sondern das, was die diachrone Identität à la Locke aufschließt. Es ist aber auch nicht die ›identity over time‹ wie Birgit Sandkaulen suggeriert,5 denn diese ist das Ergebnis der diachronen Identifikation und Jacobi wäre bei Locke stehen geblieben. In Bezug auf das Vorausgesetzte spricht Jacobi nicht umsonst von dem »Bewußtsein, welches das besondere Wesen von seiner Identität hat« ( JWA 1,1, 159). Ein bloß formaler Bezug auf ein Subjekt des Denkens könnte bei dem Lockeschen empirischen Identitätsproblem: was gehört mir zu und was nicht? nicht durchgreifen. Wir brauchen das Modell eines inhaltlich konkreten Selbst. Dabei können wir aber auch nicht auf empirische Eigenschaften gleichsam als öffentliche Fakten zurückgreifen, denn diese ›passen‹ so ihrem Status nach nicht in das Selbstverhältnis hinein. Es bleibt also nichts übrig, als anzunehmen, dass ich mir in meiner Individualität als dieser konkrete unmittelbar gegeben bin – also z. B. in der Weise, was es heißt, Ulrich Schlösser zu sein. Jacobis Vorbehalt gegen einen Begriff bei Sympathie für eine Präsenz des Selbst im Gefühl gründet sich darauf, dass Begriffe doch stets generisch und geteilt sind, was hier nicht weiterführt.
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Vgl. Sandkaulen: Daß, was oder wer?, S. 233.
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II.
Dies ist der Punkt, an dem Jacobis Bemerkungen den von Locke her stammenden Problemhorizont überschreiten, zugleich aber seinem Zeitgenossen Kant, wie übrigens auch Fichte und Schelling, weitgehend fremd bleiben müssen. Eher lässt Jacobi sich als jemand beschreiben, der Ansätze entwickelt, die Parallelen zeigen zu Positionen, die in ganz unterschiedlichen Theorietraditionen des frühen 20. Jahrhunderts deutlicher zur Ausarbeitung kommen. Man denke hier an Heideggers bezeichnenden Term der Jemeinigkeit, mit dem er das Ausschlaggebende an dem Selbstverhältnis, das er als Sich-zusich-Verhalten fasst, hervorheben möchte. Auch von der Jemeinigkeit gilt ja, dass sie sich nicht auf ein Selbst bezieht, das dem zeitlichen Wandel unterliegt und dann erst im Nachhinein, etwa durch Identifikation in der Erinnerung, seine Einheit in der Zeit herstellt. Vielmehr ist die Jemeinigkeit als Aspekt der Struktur des Sich-auf die-Zukunft-Projizierens und vor einem Hintergrund auf sich selbst Zurückkommens Bestandteil dessen, was dem Selbst die Möglichkeit, überhaupt eine zeitlich erstreckte Existenz zu haben, aufschließt.6 Weiter gilt: Als ausschlaggebender Faktor der Unterscheidung zwischen eigenen Lebensläufen und solchen, die als nur mitgemachte fremd bleiben,7 muss sie zudem wie bei Jacobi inhaltlich konkret sein und kann doch keine empirischen Inhalte als Kriterien ausweisen, weil diese außerhalb der Selbstbeziehung des Einzelnen stünden. Anklänge an die Position, auf die Jacobi zuletzt verpflichtet ist, leuchten auch in ganz anderen Theorietraditionen des frühen 20. Jahrhunderts auf, etwa in Freges Kommentar zur ersten Person. In seiner bekannten Analyse des unterschiedlichen Bezugnehmens auf einen Dr. Lauben und seine Kriegsverletzung schreibt er: »Nun ist jeder sich selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben, wie er keinem anderen gegeben ist«.8 Frege nimmt weiter an, dass auch Herrn Laubens eigene gedankliche Bezugnahme auf das vergangene Ereignis seiner Verwundung auf dieser Weise der Selbstgegebenheit aufbaut, und fügt hinzu: »Und den so bestimmten Gedanken kann nur Dr. Lauben selbst fassen«.9 Wiederum ist es nicht so, dass sich jeder zwar auf sich selbst bezieht, wir darin aber alle gleich sind, sondern es gibt eine ursprüngliche Gegebenheitsweise als dieser und kein anderer – sozusagen eine Gottlob-Fregeheit. Gerade so, wie Jacobi in dem zu Beginn des Bei6
Vgl. z. B. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 71976, S. 191 ff. Vgl. ebd., S. 267 ff. 8 Gottlob Frege, Der Gedanke – Eine logische Untersuchung, in: Logische Untersuchungen, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen 1993, S. 39. 9 Ebd., S. 39. 7
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trags angeführten Zitat aus der Weissagung Lichtenbergs sagt, dass der Mensch durch seinen Geist für sich ein ›Unvergleichbares‹, ›für sich ohne anderes‹ sei, so geht auch Frege davon aus, dass es zu meiner Selbstgegebenheit keinen Vergleichspunkt oder ein anderes gibt; denn ich kann das ihm eigene Seelenleben eines anderen nicht gleichsam aus seiner Person herausziehen und neben meines halten, als wären es zwei Bilder. Deutlicher noch als Jacobi in seinen vorsichtigen Ansätzen und Heidegger stellt Frege den Zusammenhang zur Privatheit her und diskutiert das Selbstverhältnis als je eigenes in Verbindung mit einer Innensphäre, die nicht nur Weisen der Erinnerung, sondern auch Sinneseindrücke, Empfindungen, Gefühle und Stimmungen umfasst, die selbst, d. h. als solche, nicht mitteilbar sind. Lassen Sie mich für einen Moment über die Bande spielen und eine weitere Analyse der beiden in der Fluchtlinie von Jacobi stehenden Positionen nutzen, um den Wendepunkt hin zu Kants ganz anders angelegter Theorie vorzubereiten. Blicken wir zunächst von der Perspektive Heideggers aus: Hier ist das menschliche Dasein, das je meines ist, zugleich auch der Bezugs- und Angelpunkt des Verstehens. In ihm projiziere ich die Dinge, mit denen ich umgehe, auf ihre Möglichkeiten und ordne sie in Zweck-Mittelketten an, die letztendlich in dem je-eigenen Dasein, dem es in seinem Sein um sein Sein, d. h. um sich selbst, geht, enden.10 Die Möglichkeit eines im gemeinsamen Verständnis geteilten Sinns11 hängt hier prima facie ganz von einem pragmatischen Overlap verschiedener instrumenteller Praktiken ab, über deren Konkordanz das Dasein als je-eigenes keine sichere Gewähr geben kann. (Sie hängt darüber hinaus von der Annahme des ›Mitseins mit anderen‹ ab, die aber unbestimmt bleibt).12 Nun soll sich das zu Verstehende in diesen Praktiken als es selbst zeigen, aber als was es hervortritt, hängt doch wohl davon ab, unter welcher Perspektive ich es anschneide. Darin liegt: Ein nicht nur instrumentell eingerahmter, sondern unbedingter Anspruch an andere und ein dem zugrunde liegendes Verstehen, dessen Vehikel kraft der Weise, wie ich in der Selbstbeziehung als Mensch auf die Welt bezogen bin, jedem prinzipiell offensteht, findet hier nicht leicht Platz.13 (Bekanntlich kämpft Heidegger darum, einem solchen Standpunkt als Merkmal einer nachgeordneten Existenzweise doch Platz einzuräumen und diese genetisch durch ein Zurücksetzen der konkreten Praxis sogar abzuleiten. Die Erfolgschance dieser Strategie ist für uns 10
Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 83 ff. Vgl. ebd., S. 151. 12 Vgl. ebd., S. 118. 13 Zum Verhältnis von Heideggers Betonung von Jemeinigkeit und Endlichkeit und Kants universellem Subjektstandpunkt vgl. auch die Davoser Debatte zwischen Cassirer und Heidegger. 11
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hier nicht ausschlaggebend, weil es in diesem Kontext nicht um eine vollständige und letztlich angemessene Heideggerdarstellung zu tun ist.) Mit Frege nähern wir uns dem Problem von der entgegengesetzten Seite. Hier wird das, was verstanden werden kann – der Gedanke – von vornherein analog zu der Form des Satzes gedacht: Der Gedanke wird in dem, was nach einer ›denkt/glaubt/meint, dass …‹-Formulierung steht, ausgedrückt. Die Unterstellung seiner interpersonellen Zugänglichkeit ist hier eine Prämisse. Wie sein Wahrheitswert, ist auch der Gedanke selbst von den denkenden Subjekten unabhängig und von der Innensphäre, in der ein Subjekt je für sich ist, totaliter verschieden. Zugleich darf er als abstractum doch auch nicht in der Sphäre der raum/zeitlich sich verändernden Dinge, von denen er handelt, lokalisiert werden. Ist er aber ein solches objektives abstractum, stellt sich die Frage, wie das Subjekt aus seiner ursprünglichen Innensphäre als je dieser heraus zu dem Gedanken überhaupt in Beziehung treten können soll. Frege ist sich dieser Problemstellung bewusst. Er spricht vom ›Fassen‹ eines Gedankens, weiß aber, dass dies doch bloß eine Metapher in Anlehnung an das Fassen eines Gegenstands ist.14 Gedanken kann man eben nicht wie einen Gegenstand greifen oder vorzeigen. Bei Heidegger kämpft der verstehbare Sinn also mit der Gefahr, sich nicht hinreichend von dem Subjekt in seiner Jemeinigkeit zu lösen. Der Ansatz könnte also in einer instrumentell-relativistischen Position enden. Bei Frege ist der Sinn als Gedanke zwar von vornherein ein Objektives, aber die Brücke zwischen dem Denker in seiner ursprünglichen Selbstgegebenheit als dieser und dem Gedanken ist brüchig. Beide Ansätze haben somit das Problem, die kantische Aufgabe aus gegensätzlichen Gründen nicht in direkter Weise lösen zu können. Die Aufgabe ist, das Ich denke … zu explizieren, das ist, die Beziehung zwischen dem Subjekt aus erst-personaler Perspektive und kognitiven Gehalten in ihren im Blickpunkt auf jedermann mitteilbaren Ansprüchen. Man darf vermuten, dass diese Schwierigkeit damit zu tun hat, dass beide eine Konzeption des Subjekts als grundlegend ansehen, die wiederum in der Fluchtlinie Jacobis steht.
14 Vgl.
Frege: Der Gedanke, S. 35. Freges Bewusstsein der Problematik dieser Konzeption zeigt Gottlob Frege: Logik, in: Nachgelassene Schriften, hrsg. von Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Hamburg 1969, S. 157.
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III.
Damit ist der Umschlagpunkt erreicht, der Kants im Vergleich zu Jacobi einer ganz anderen Zielsetzung verpflichtete Konzeption des Subjekts motiviert. Wie angekündigt, ist diese Konzeption intern doppelseitig. In der einen Seite drückt sich Kants Interesse an dem logischen Subjekt der Selbstzuschreibung aus, so, wie es sich aus der Erste-Person-Perspektive präsentiert. Auch hier geht es um dessen Identität in Anbetracht einer möglichen Pluralität von Fällen. Kant hebt in Bezug auf es (unter dem Titel Apperzeption) auf A 107 hervor, dass es »notwendig als numerisch identisch vorgestellt« werde. Da die Konzeption der numerischen Identität nur bei Einzelnen sinnvoll ist, unterstreicht Kant, dass es (bei dieser Seite) auch ihm um einen Einzelnen geht. Anders als bei der personalen Identität im Sinne von Locke sind der Bezugspunkt der Identität hier aber nicht die spezifischen Übergänge in der Sequenz faktischer Zustände, die den Prozess meines Lebens durch die Zeit hindurch ausmachen. Es handelt sich um eine Identität des Subjekts hinsichtlich aller möglichen Gedanken, die dieses unterhalten kann. Diese Identität gilt für uns von vornherein, d. h.: Dass wir uns in dieser Weise als identisch vorstellen, hängt nicht von vorliegenden, empirischen Erinnerungsleistungen ab. Sucht man nach einer Rechtfertigung für die von Jacobi wie Locke abweichende kantische These, könnte man wie folgt argumentieren: Wer einen Gedanken unterhalten kann, muss im Prinzip mögliche andere Gedanken unterhalten können. Dann muss er aber auch die Identität seiner selbst als Träger im Blick auf verschiedene solche Gedankenfälle unterstellen. In genau derselben Weise kann man sagen: Wer einen Begriff hat, muss im Prinzip auch in der Lage sein, ihn in Schlüssen zu gebrauchen. Das geht aber nur, wenn das Subjekt nicht zwischen Ober- und Untersatz ausgetauscht wird. Dies betrifft die Identität des jeweiligen Denkers, gilt für uns alle aber doch in gleicher Weise. Zu beachten ist: Diese kantische These ist kompatibel damit, dass ich in einem Moment des durchgreifend skeptischen Räsonierens hinsichtlich aller empirischen Eigenschaften zweifle, ob sie auf mich zutreffen – einschließlich solcher, die eine mutmaßliche Leistung, die als Erinnerung auftritt, als meine Vergangenheit vorstellen. Die andere Seite der kantischen Konzeption ist hingegen das sogenannte allgemeine Bewusstsein oder ›Bewusstsein überhaupt‹, das sich als generisches gerade dadurch auszeichnet, dass sich Fragen der numerischen Identität gar nicht stellen. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Seiten der Subjektkonzeption resultiert unmittelbar. Diese Frage stellt sich umso mehr, als beide Seiten der Konzeption in thematisch verwandten Argumentationen
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eine Rolle spielen, die aber entgegengesetzte Argumentationsrichtungen verfolgen: Die erste Seite wird in einem Gedankengang verwendet, der am besten als eine Argumentation von innen nach außen, vom Ichbewusstsein ausgehend, verstanden wird. Die zweite Seite spielt eine prominente Rolle in einer Überlegung, die von außen nach innen, vom geteilten Gegenstand auf Merkmale unseres Geistes schließt.15 Letzteres ist zumindest dann der Fall, wenn man sich bei dem allgemeinen Bewusstsein nicht auf die vereinfachte Darstellung in den §§ 18–20 der Prolegomena stützt, sondern wie bei der ersten Konzeption auf die ›Deduktion‹ – jetzt aber nicht in der Form, wie sie sich in der ersten Kritik darstellt, sondern vielmehr auf die rückbezügliche Darstellung derselben in der Kritik der Urteilskraft und ihrem Umfeld.16 In der ersten Argumentation geht es um die Bedingung, dass Gedanken meine sind, in der zweiten darum, dass sie potentiell von allen geteilt werden können, ich im Unterhalten also mit potentiell anderen eins bin. Wenden wir uns zunächst der Funktion der ersten Seite der Konzeption des Subjekts in Kants Deduktion zu. Bekanntlich ist eine der Schlüsselstellen die folgende Passage aus A 108: »[D]enn das Gemüt könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.«
Ist das ›Gemüt‹ nicht an die Identität der Handlung im Zusammenfassen von mannigfaltigen Vorstellungen gebunden, besteht die von Kant in der B-Deduktion beschworene Gefahr, dass ich »ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst habe[], als ich Vorstellungen habe« (B 134). Auch hier wird von der Möglichkeit, das Ich auf verschiedene Gedanken zu beziehen, Gebrauch gemacht. Der Bezugspunkt ist aber jetzt nicht nur der Gedanke, sondern auch der Gegenstand, sofern auf ihn Bezug genommen wird. Dieser muss selbst festen Regeln oder Prinzipien unterliegen, damit es möglich ist, von einem Gedanken über ihn zu einem anderen Gedanken über ihn überzugehen und erneut re-identifizierend auf den Gegenstand Bezug zu nehmen. Hätten wir es mit etwas zu tun, das ganz in seiner inneren Präsenz aufgeht, wie in einem inneren Film als bloße Präsenz von bunten Konfigurationen betrachtet, wäre dies nicht möglich. Ohne Annahmen der Regeln oder Prinzipien gäbe es also 15
Vgl. Ulrich Schlösser: »Kants Konzeption der Mitteilbarkeit. Über die intersubjektive Stellung von Erkenntnissen und ästhetischen Bewertungen in Kants kritischer Philosophie«, in: Kant-Studien 106,2 (2015), S. 201–233. 16 Vgl. z. B. AA V, 217, 238 und AA XI, 515.
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keinen Übergang und – da das Ich auf jeden Gehalt bezogen werden kann – kein identisches Ich. Die Identität des Subjekts ist für uns als Denker aber unvermeidlich, wie wir oben gesehen haben. Zu beachten ist, dass die mit den Regeln erreichte Einheit nicht einfach am Gegebenen abgelesen werden kann, sondern ihm unterstellt werden muss. Daher der Bezug zur Synthesis. Auf dieser Ebene gibt es in einem relevanten Sinn kein Fließen, wie der Hinweis auf die Identität der Handlung zeigt: Es muss ausgeschlossen werden, dass die Handlung anhand einer Regel erfolgt, die sich in jedem Schritt modifiziert, also fließend ist, denn damit wird auch die Identität des Subjekts brüchig. In dieser Überlegung haben wir es mit der Identität des Ich zu tun und dieses steht nachvollziehbar im Verhältnis mit den zugeschriebenen Gedanken in deren Bezugsleistung. Dies ist möglich, weil die Subjektkonzeption formaler ist und sich in dieser Hinsicht von der Subjekt- und Identitätskonzeption Jacobis und seiner Erben unterscheidet. Es stellt sich aber immer noch die Frage, ob diese Veränderung weg von Jacobi hinreicht, um auf die Probleme, die insbesondere bei Frege hervorgetreten sind, zu reagieren, denn Paul Guyer hat darauf hingewiesen, dass diese Gedankenkette Kants mit dem Solipsismus kompatibel ist.17 Dies würde besagen, dass sie weder den interpersonellen Gehalt und Anspruch unserer Repräsentation annimmt noch diesen in irgendeiner expliziten, leicht nachvollziehbaren Weise ausweist. Daher benötigen wir die zweite, auf die Kritik der Urteilskraft zurückgehende Gedankenlinie – jene, die auf das allgemeine Bewusstsein führt. Sie tut dies, indem sie die Deduktion mit der Mitteilbarkeit in Beziehung bringt. Mit der Mitteilbarkeit bereitet Kant Freges geteilten Gedanken im Gegensatz zu privaten Vorstellungen vor. Ausgangspunkt dieser inversen Argumentation ist die folgende, nicht auf die ästhetische Bewertung, sondern die Erkenntnis Bezug nehmende Betrachtung aus § 9 der Kritik der Urteilskraft: »Es kann aber nichts allgemein mitgetheilt werden als Erkenntniß und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntniß gehört. Denn sofern ist die letztere nur allein objectiv und hat nur dadurch einen allgemeinen Beziehungspunkt, womit die Vorstellungskraft Aller zusammenzustimmen genöthigt wird.« (KU, AA V, 217)
Systematischer Ausgangspunkt und Schlüssel zur Mitteilbarkeit ist hier der allgemeine Beziehungspunkt, d. i. der Gegenstand, auf den Bezug genommen wird. Dass dieser Beziehungspunkt allgemein ist, heißt hier weniger, dass wir es mit einer Gegenständlichkeit überhaupt zu tun haben, sondern vielmehr, dass der Gegenstand Bezugspunkt unterschiedlicher Perspektiven sein kann. 17
Paul Guyer: Kant and the Claims of Taste, Cambridge 21997, S. 257.
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Insofern ist er allen, die einen dieser Standpunkte einnehmen, gemein. Hier gilt auch umgekehrt: Insofern etwas gemeinsamer Gegenstand ist, werden einzelne Zustände zu Blickpunkten auf ihn und damit zu etwas, von dem ich erwarten kann, dass es auch ein anderer in meiner Position zu vollziehen hätte, weil er auf nachvollziehbare Weise meine Position als Perspektive auf den Gegenstand einnehmen könnte. Letzteres ist die Basis der Mitteilbarkeit. Auf dieser Basis erfolgt nun in, verglichen mit der vorigen Argumentation, umgekehrter Richtung ein Schluss nach innen. Anders als in der Ästhetik zielt er aber nicht auf die Erkenntniskräfte in ihrem freien Spiel, sondern auf diejenigen Zustände und Kompetenzen, über die der Gegenstand in der Kognition gegeben oder gedacht werden kann (vgl. z. B. AA V, 238). Aus der erst-personalen Perspektive ist die Gegebenheit nur über Anschauung möglich. Kraft des empirischen Gehalts der Anschauung stellt sich uns das qualitative Sosein der Gegenstände dar. Vermittels der Begriffsbildung geht der Gehalt der Anschauung auch in die empirischen Erkenntnisurteile ein. Bei diesem Bestandteil in unserem Gegenstandsbezug gilt zu beachten: Der Gehalt der Anschauung liegt in dem, was Kant Empfindung nennt. Von der Empfindung wissen wir aber, dass sie Kant zufolge nicht gesichert mitteilbar ist.18 Was kann aber in einem Urteil mitgeteilt werden, wenn dessen Mitteilbarkeit kraft des Bezugs zu dem Gegenstand besteht – zugleich aber die Beschaffenheiten desselben über Anschauungen zugänglich sind, die selbst wiederum ein inkommunikables Empfindungsmoment enthalten? Jetzt kann wie folgt argumentiert werden: Grundlage der Mitteilbarkeit unserer Erkenntnisse können nicht die qualitativen Beschaffenheiten der Gegenstände sein. Vielmehr müssen es die Aspekte der Komposition der Gegenstände und der Relationen zwischen ihnen sein, die die Mitteilbarkeit ermöglichen. Diese Verhältnisse können Kant zufolge niemals selbst etwas sein, das bloß gegeben ist: Für uns sind sie gegenwärtig, insofern wir sie anlässlich des Gegebenen mitvollziehen. Sie verweisen also auf den Verstand als aktives Vermögen. Der aus der ersten Kritik vertraute Zusammenhang zwischen Komposition bzw. Relation einerseits und synthetischer Aktivität des Verstandes andererseits tritt hier also erneut auf, spielt jetzt aber eine veränderte Rolle: Zuvor ging es darum, dass gedankliche Zustände meine sind, jetzt geht es darum, dass sie potentiell jedermann offen sind. Der dem entsprechende Sinn des Selbst ist das allgemeine Bewusstsein – Bewusstsein überhaupt (Prolegomena, vgl. AA IV, 300) oder Apperzeption überhaupt, wie § 20 der B-Deduktion (vgl. B 143) schreibt. Es ist der zweite Sinn des Selbst, den wir in seiner Rolle verstehen wollten. 18
Vgl. AA V, 291 und AA XV, 330.
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Mit dem bloßen Anführen der zwei Argumentationen scheint sich aber die ursprüngliche Fragestellung, nämlich die Frage nach dem Verhältnis des Ich zu dem gedanklichen, kognitiven Gehalt, zunächst nur verlagert zu haben hin zu dem Verhältnis des Identitäts-Ich zum allgemeinen Selbst, das den Gedanken zugrunde liegt. Für eine mögliche Auflösung der Spannung zwischen den Konzeptionen des Selbst und ihrer Rolle in den gegenläufigen Argumentationen gebe ich hier nur einige Stichwörter an. Ich beginne mit einer an den zweiten Gedankengang anknüpfenden, kritischen Rückfrage: Ist die synthetische Leistung des Verstandes nicht selbst wieder ein kontingentes mentales Ereignis? Und wenn dies der Fall ist, ist dann für uns nicht lediglich ein Gegenstand verfügbar, dessen empirische Gegebenheitsweisen ebenfalls nur intramental sind? Hier könnte man so vorgehen, dass man (a) zunächst die Notwendigkeit der Synthesis für jeden aus seiner Perspektive absichert. Dies kann auf der Grundlage des identischen Selbst erfolgen, gerade weil es mit dem Solipsismus kompatibel ist. Das allgemeine Bewusstsein wäre dann eine Folgerung. (b) Aus dem mentalen Charakter der Synthesis folgt nicht derjenige der Gegebenheitsweisen des Gegenstands. Zusammen mit dem Raum enthält die Synthesis gerade die Kriterien dafür, dass wir es mit einem von uns verschiedenen Gegenstand zu tun haben. Diese Kriterien selbst sind nun allerdings unweigerlich unsere; sie haben nicht wieder ein realistisches Back-up. Denn wenn die Frage auftauchen würde, ob unseren Kriterien für die Verschiedenheit des Gegenstandes von uns selbst wieder eine unabhängige Realität entspricht, wäre ein Regress die Folge. Nur unter dieser Lesart ist die von innen nach außen gerichtete Argumentation mit der in Gegenrichtung vorangehenden tatsächlich kompatibel und innerhalb eines Modells des Geistes möglich. (c) Mit diesem Schritt ist die Möglichkeit, dass ein Subjekt Gedanken hat, zugleich an eine (moderate) Spielart des Idealismus gebunden. Um zu verdeutlichen, inwiefern das interessant ist, bitte ich um Nachsicht, wenn ich noch eine weitere Position aus dem Spektrum unseres Themenfeldes aufführe, nämlich den semantischen Externalismus à la Davidson.19 Auch in dieser Theorie ist der gemeinsame Gegenstand die Basis für teilbare kognitive Gehalte. Aber der Gegenstand wird hier als gänzlich unabhängig vom Subjekt in seiner materiellen Bestimmung gefasst, die Beziehung zwischen ihm und mir als Linie der kausalen Einwirkung dargestellt. Wie häufig diskutiert, gilt: Ist der Gedanke in seinem Gehalt so bestimmt, läuft er Gefahr, zu objektiv zu 19 Vgl.
z. B. Donald Davidson: »What is Present to the Mind?«, in: ders.: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, S. 53–67: S. 59 ff. und Donald Davidson: »A Coherence Theory of Truth and Knowledge«, in: ebd., S. 137–153: S. 151.
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sein: Es könnte sein, dass ich selbst nicht weiß, was ich denke.20 Kant kann dieses Problem umgehen. Zwar bestimmt auch bei Kant der Gegenstand den Gehalt unserer mentalen Zustände in seiner Teilbarkeit, aber es ist doch der Gegenstand, wie er uns anhand unserer Kriterien für unseren Standpunkt gegenübertritt.
IV.
Bei Kant finden wir also zwei Konzeptionen des Selbst mit unterschiedlichen Rollen, deren Fundamentalität Jacobi vermutlich skeptisch gegenüberstehen würde. Zudem ist das Verhältnis des Selbst zu seinen Gedanken an eine Form des transzendentalen Idealismus gebunden, auf den Jacobi sich nicht einlassen will. Gibt es eine Antwort Jacobis auf die kantische Herausforderung, die sich nicht auf die (durchaus berechtigte) Reaktion zurückzieht, dass er, Jacobi, primär an einer anderen Fragestellung interessiert war? Wenn man Jacobis Überlegungen zur Kognition im Kontext seiner Theorie der Person hinzuzieht, so tritt zunächst einmal hervor, dass Kant und Jacobi gemeinsame Ressourcen nutzen. Bei Jacobi erlaubt das Lebensprinzip, das Organismen animiert, Grade. Diese Grade können auch solche der Persönlichkeit sein (vgl. JWA 1,1, 159) und hängen von den kognitiven Leistungen ab. Zu dem Hinweis auf Gedächtnis und Reflexion fügt er hinzu, die Persönlichkeit beruhe auch »auf Begriffen, folglich auf Abstraktion, und WortSchrift oder andern Zeichen« (ebd.). Noch vollständiger sind die Leistungen in Beilage VII des Spinozabuches ausbuchstabiert: »Wahrnehmen, Wiedererkennen und Begreifen, in steigenden Verhältnissen, macht die ganze Fülle unseres intellectuellen Vermögens aus.« ( JWA 1,1, 249) Durch diese Formulierung wird man nun unmittelbar an Aspekte der drei Formen der Synthesis in der von Jacobi favorisierten A-Auflage der ersten Kritik erinnert. Dies gilt umso mehr, wenn man aus den Parallelstellen im Text Über eine Weissagung Lichtenbergs den Bezug auf ein zugrunde liegendes Selbst hinzuzieht, das den Zeitbedingungen nicht unterliegt. Aber trotz der Parallelen ist hier Vorsicht geboten; denn das von Kant angestrebte Abstraktionsniveau will Jacobi aus wohl überlegten Gründen gerade nicht erreichen. Denn spricht Jacobi von der Funktion dieser Leistungen, so bleibt der umfassende Rahmen stets die Möglichkeit der Selbsterhaltung. Und hinsichtlich des zugrundeliegenden Selbst fügt er, wie 20 Zu
Davidsons Analyse dieses Problems vgl. Donald Davidson: »The Myth of the Subjective«, in: ders.: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, S. 39–52: S. 48 ff. und Donald Davidson: »Knowing One’s Own Mind«, in: ebd., S. 15–38: S. 25 ff.
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gegen eine von Kant theoretisch eingeräumte Möglichkeit gesprochen, hinzu: »[E]ntäussere dich für einen Augenblick aller der Erkenntnisse, welche dir im Gebrauch des Lebens und durch ihn geworden sind; lasse für diesen Augenblick dein Gedächtniß ausgelöscht seyn: – Was bleibt dir nach einer solchen Ausleerung von deinem Wesen übrig?« ( JWA 5,1, 204) In Anbetracht dieser Verschiebung der Theoreme sollte man sich jetzt daran erinnern, dass die kantische Herausforderung einer möglichen Selbsttranszendenz im Denken ja im Hinblick auf Jacobi in die Frage gekleidet wurde: Warum bin ich in meiner Selbstbeziehung als Selbsterhaltung nicht eingeschlossen? Solange die Selbsterhaltung der umfassende Rahmen bleibt, ist die kantische Herausforderung also noch nicht aufgenommen. Man könnte in einem zweiten Versuch einem generellen Hinweis von Brady Bowman21 folgen: Es könnte doch sein, dass nicht nur in der Betonung der Selbsterhaltung, sondern auch in Jacobis Theorie der Kognition mehr von dem von ihm kritisierten Spinoza steckt, als man gemeinhin annimmt. Diesem zufolge sind Gedanken und Begriffe in ihnen mir im Nachdenken unmittelbar präsent. Gemäß Spinozas strikter Aufteilung in Denken und Ausdehnung gehen sie zugleich in mentalen Prozessen kausal aus anderen Gedanken hervor. Die Möglichkeit, einen Gehalt haben zu können, ist aber daran gebunden, dass der korrespondierende Gegenstand eine kausale Einwirkung auf meinen Körper ausübt.22 Dieser Ansatz ist von mir, aber auch von Dominik Perler, in der Fluchtlinie des semantischen Externalismus interpretiert worden.23 Läge Jacobi auch in diesem Punkt in der Nähe von Spinoza, hätte er für eine zu Kant alternative, realistische Konzeption der Bestimmung von Gedanken optiert – allerdings ohne sich der Implikationen des Gegensatzes vollumfänglich bewusst zu sein. Denn solange er Kant so subjektivistisch interpretiert, wie er es tut, gibt es keine kantische Option in der Semantik.24 Nun glaube ich 21
Vgl. Brady Bowman: »Notiones Communes und Common Sense. Zu den spinozanischen Voraussetzungen von Jacobis Rezeption der Philosophie Thomas Reids«, in: Jaeschke und Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi, S. 159–176. 22 Ausgangspunkt einer solchen Lesart ist zum Beispiel Ethica, II, Prop. XXVI in seinem Rückbezug zu ebd., Prop. XVI. Der Bezug zum Gehalt kann hier insofern ins Spiel gebracht werden, als die Affektion des Körpers wegen des Dualismus von Geistigem und Körperlichem ja nicht die Ursache der Idee als Entität im Geist sein kann. Die Alternative ist, zu sagen: Sie bestimmt den Gehalt der Idee. 23 Vgl. Ulrich Schlösser: »Modifikationen des Spinozismus. Jacobi und der spätere Fichte über Erkenntnis und Freiheit im Anschluß an die ›Ethik‹«, in: Jaeschke und Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi, S. 301–318. Vgl. Dominik Perler: »Spinozas Antiskeptizismus«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 1– 26. 24 Hier denke ich an Jacobis Kantinterpretation in der Beilage zum David Hume: Ueber den Transscendentalen Idealismus, JWA 2,1, 213 ff.
Persönlicher Mensch, identisches Selbst, allgemeines Bewusstsein
aber nicht, dass sich dieser Schritt in Richtung auf Spinoza textlich und systematisch gut in Jacobis Position einfügt: Die Betonung der Innensphäre des Jemeinigen scheint sich nämlich mit einem so starken Objektivismus bis in die Gedanken hinein schwer zu vertragen. Als Hinweis mag genügen, dass auch bei Davidson der erstpersonale Zugang zu den eigenen Gedanken zu der Tatsache, dass ich meine eigenen Gedanken nicht übersetzen muss, verdampft.25 Der Schlüssel zu einer Antwort Jacobis auf Kant liegt woanders: Nicht primär bei den Einwirkungen des Endlichen, sondern bei Jacobis Bezug auf die Vernunft. Das »Daseyn vernünftiger Naturen« ist nach Jacobi geradezu dasselbe wie »persönliches Daseyn« ( JWA 1,1, 159). Nach dem, was wir oben über Jacobis Konzeption der Person gehört haben, folgt unmittelbar: Die Vernunft darf nicht, dem kantischen Muster gemäß, mit dem Einnehmen eines universellen Standpunkts identifiziert werden. Wie ist sie aber sonst zu verstehen? Gemäß Jacobis berühmter Unterscheidung geht es hier weniger um die Vernunft, die wir haben, sondern vielmehr um die Vernunft, die uns ausmacht. Diese ist durch den Bezug auf ein Unbedingtes als von uns verschieden bestimmt. Dieser Bezug ist uns als vernünftigen Wesen gemeinsam. Es ist kein Bezug auf etwas ganz anderes, er zielt auf etwas, das selbst Person ist – und ich bin überhaupt nur Person kraft seiner. »Die Ichheit endlicher Wesen ist nur geliehen, von Andern genommen, ein gebrochener Stral des transcendentalen Lichts, des allein Lebendigen«.26 Gerade weil das andere Selbst Ichheit ist, kann die Beziehung zu ihm in Begriffen der Kommunikation gedacht werden: Die Vernunft ist als Vernehmen (so Jacobi im Sendbrief an Fichte)27 responsiv und liegt nicht im Akt der Selbstuniversalisierung. Denken wir das Verstehen nun allerdings nach dem Muster einer dekomponierenden Analyse des Endlichen, so läuft es darauf hinaus, das zu Erklärende unter Bedingungen zu stellen – nämlich unter die Bedingungen, unter denen es in seiner Struktur aufgebaut werden könnte. Diesem Sinn des Verstehens sperrt sich die Unbedingtheit. Genauso lässt sich der andere in seinem Anspruch an mich in einem der relevanten Sinne ebenfalls nicht verstehen. Man könnte bei dem Thema der Mitteilung von einem durch die Vernunft inspirierten Staunen sprechen, dass wir weder in unserer Selbsterhaltung eingeschlossen noch einer babylonischen Sprachverwirrung ausgeliefert sind. Man könnte aber auch sagen, dass wir die Kommunikationssituation so wie die Ich-Du-Beziehung nicht verständig rekonstruieren können, weil wir nicht hinter sie zurücktreten können. Es ist zu ergänzen, 25
Vgl. Donald Davidson: »First Person Authority«, in: ders.: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford 2001, S. 3–14: S. 13. 26 Brief an Lavater vom 14.11.1787, in: JBW I,7, 11. 27 Vgl. JWA 2,1, 208.
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dass trotz des passiven Moments Jacobis resultierende Position nicht quietistisch ist. Wie die Freiheitsabhandlung zeigt, liegt es unter dem Vernunftanspruch an uns, an unserer empirischen, diachronen Identität, die nicht vorgegeben ist, zu arbeiten. Bei Jacobi verschiebt sich das Selbst also ins Individuelle, die Selbsttranszendenz erfolgt in der persönlichen Beziehung und der Zusammenhang zwischen Identität und Aktivität betrifft die Arbeit an seinem je-eigenen empirischen Dasein. In dieser Hinsicht sind beide Autoren zumindest in eine gewisse Nähe gekommen. Jetzt ist aber zu beachten: Dass das Ich spontan ist, gerade deshalb alle Kontexte transzendieren und einen universalen Standpunkt einnehmen kann, ist ein Herzstück der Aufklärung. Der Aufklärung geht es um das Verhältnis von Selbstsein und Denken. Wenn Aufklärung kein kulturelles Projekt auf einer Meta-Ebene ist, sondern so tief angelegt wird, dass sie schon in einem Modell der Möglichkeit, überhaupt Gedanken zu haben, wurzelt, dann gehört Jacobi nicht dazu. Sein Ziel ist ein anderes. Wenn überhaupt, so geht es ihm eher darum, kritisch den Preis der Aufklärung zu reflektieren. So entfremdet uns ein abstrakter Subjektbegriff von den Quellen konkreter Orientierung. Zudem können die Grundlagen des endlichen Verstehens, um das es der Aufklärung geht, selbst nach dessen Muster nicht verstanden werden. So unterscheidet sich Jacobis Stoßrichtung und deren Erfolgsbedingungen von Kant doch fundamental. Obwohl beide Gedankenlinien einander nahekommen, verfehlen sie sich doch.
Christoph Halbig
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit »Weg von diesen Allumfassern« ( JWA 6,1, 133)
Während Jacobis Stellung als eine Schlüsselfigur in zentralen Debatten der klassischen deutschen Philosophie im Bereich der theoretischen Philosophie als gesichert gelten kann1 und seine entsprechenden Positionen und Argumente inzwischen eine eingehende Rekonstruktion und Würdigung erfahren haben, ist es bisher nicht gelungen, seinen Beitrag zur praktischen Philosophie und namentlich zur Ethik auch nur in groben Umrissen kenntlich zu machen. Im Vordergrund steht hier zumeist seine Auseinandersetzung mit den Autonomie-Ethiken Kants2 und Fichtes, bei der Jacobi regelmäßig und zu Recht grundlegende Missverständnisse und Verzeichnungen der kritisierten Positionen zur Last gelegt werden. Dass Jacobis Argumente verstanden als immanente Kritik so offensichtlich scheitern, sollte indes Anlass dazu geben, nach seiner eigenen Position zu fragen; gerade weil sie als ständiger Bezugspunkt auch für die Abgrenzung von konkurrierenden Positionen fungiert und diese Abgrenzung sogar häufig in dem Sinne dominiert, dass die hermeneutische Adäquatheit gegenüber dem zu erhoffenden Gewinn an Selbstverständigung über das eigene Projekt in den Hintergrund tritt, wird die Erkundung
1
So konstatieren Jaeschke und Sandkaulen zu Recht: »Vorüber sind auch die Zeiten, in denen man Jacobi vor dem so völlig verfehlten Epitheton des ›Glaubens- und Gefühls philosophen‹ in Schutz nehmen mußte«, wie es sich etwa Heines Denunziation Jacobis als »Marketenderin dieser Glaubensarmee« verdankt. (Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen: »Friedrich Heinrich Jacobi – Werke und Briefwechsel«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64,6 (2016), S. 978–989: S. 978; Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin und Weimar 1978, S. 75. Vgl. dazu auch Birgit Sandkaulen: »Ich bin Realist, wie es noch kein Mensch vor mir gewesen ist«. Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus, Paderborn 2017, S. 10 f.) 2 Zu Jacobis Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik vgl. u. a. Klaus Hammacher: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis, München 1969, S. 150 ff. sowie Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl. Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul, Hamburg 2013, S. 80–90.
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von Jacobis eigener Position nicht zuletzt auch für eine angemessene Würdigung seiner kritischen Beiträge umso dringlicher. Exemplarisch deutlich wird diese Konstellation anhand von Jacobis Stellung zum kategorischen Imperativ Kants: Anders als sein brieflich geäußertes Eingeständnis, dass er selbst und Kant »in der Vorstellungsart und in den Principien so ganz voneinander ab[gehen, C.H.]«,3 erwarten lässt, neigt Jacobi überraschenderweise dazu, den kategorischen Imperativ als (i) »unstreitig vorhanden«4 und auch (ii) philosophisch unschwer zu begründen oder, in den Worten Jacobis, als »leicht zu deduciren«5 darzustellen – mehr noch: Ihm selbst sei »alles an der Wahrheit dieses Grundsatzes gelegen, dessen Festsetzung und Verbreitung das Ziel aller [s]einer philosophischen Bemühungen von jeher gewesen ist« ( JWA 5,1, 222). Überhaupt konstatiert Jacobi eine Konvergenz zwischen einem überzeitlichen moralischen common sense, der kantischen Moralphilosophie und seinem eigenen moralphilosophischen Ansatz.6 Gerade eine solche »Umarmungsstrategie« jedoch steht bei Jacobi einer eingehenden, argumentativen Auseinandersetzung mit Kants kategorischem Imperativ und dessen Begründung entgegen – es bleibt der Eindruck, dass Jacobi sich »auf eine direkte und argumentativ geführte Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie nicht eingelassen«7 habe, während einzelne Bezugnahmen etwa auf die von Jacobi als so unproblematisch eingeschätzte 3
Brief an Kleuker vom 13.10.1788, in: JBW I,8, 73. glaube, daß wenn man dieser Indication philosophisch nachgeht, mehrere schwer zu erklärende Erscheinungen, auch die eines unstreitig vorhandenen categorischen Imperativs der Sittlichkeit, seines Vermögens und Unvermögens, sich vollkommen begreiflich werden finden laßen.« (JWA 2,1, 253) 5 Vgl. JWA 2,1, 214, wo Jacobi erklärt, dass ihm »das Kantische Sittengesetz nie etwas anderes, als der nothwendige Trieb der Uebereinstimmung mit uns selbst, das Gesez der Identität gewesen ist. Ich habe nie begriffen, wie man in dem categorischen Imperativ, der so leicht zu deduciren ist […] etwas Geheimnißvolles und Unbegreifliches finden, und es unternehmen konnte, nachher, mit diesem Unbegreiflichen, die Lükenbüßer der theoretischen Vernunft zu Bedingungen der Realität der Gesetze der practischen zu machen.« 6 Vgl. insbesondere JWA 5,1, 218: »Die Lehre [sc. die der kantischen Moralphilosophie, C.H.], welche dir im Zusammenhange des Systems als neu erscheint, und dir in diesem Zusammenhange widert, ist in ihrem Selbstbestande uralt, durchaus menschlich und erhaben.«; sowie JWA 5,1, 222: »[…] daß der Hauptgrundsatz dieser Philosophie, die Unabhängigkeit des Princips der Sittlichkeit von dem Prinzip der Selbstliebe sey. Daß Kant die Annahme dieses Grundsatzes soweit durchgesetzt hat, erweckt in mir die lebhafteste Freude; […] Mir einmal ist alles an der Wahrheit dieses Grundsatzes gelegen, dessen Festsetzung und Verbreitung das Ziel aller meiner philosophischen Bemühungen von jeher gewesen ist.« 7 Jürgen Stolzenberg: »Was ist Freiheit? Jacobis Kritik der Moralphilosophie Kants«, in: Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004, S. 19–36: S. 20. 4 »Ich
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit
Deduktion des kategorischen Imperativs allenfalls »einen wunderlichen Eindruck«8 hinterlassen könnten. Ein Ansatzpunkt für eine Rekonstruktion von Jacobis eigenem Beitrag zur Debatte um die Begründung der Moral lässt sich so offensichtlich nicht gewinnen. Auch dem Versuch, Jacobis Ethik durch strukturelle Merkmale wie etwa die Kritik an universalen Prinzipien zugunsten einer partikularistischen Orientierung an der konkreten Handlungssituation oder dem Bestehen auf der ethischen Bedeutung von partikularen Bindungen auch dann, wenn diese dem Test einer Universalisierung nicht standhalten, werden durch die verwirrende Vielfalt schwer miteinander zu vereinbarender Äußerungen Jacobis schnell die Grenzen aufgezeigt: Wer Jacobi wie Di Giovanni und Livieri als »champion of the exception« einordnen möchte,9 muss erklären, warum Jacobi selbst wiederholt so ausdrücklich darauf insistiert, dass niemand die Notwendigkeit von Grundsätzen »gründlicher, mannigfaltiger, auffallender dargethan, u sie beßer eingeschärfet« hat als er selbst (Brief an Reimarus vom 23.10.1782, JBW I,2, 358), und eine Figur wie die der Amalia im Allwill reflektiert gerade die unvermeidlichen Spannungen zwischen universaler Menschenliebe und partikularen Bindungen, ohne sie nach einer Seite hin aufzulösen. In meinem Beitrag möchte ich den Versuch unternehmen, einen Schritt zurückzutreten und nach der Grundstruktur zu fragen, die Jacobis eigenes Verständnis von Ethik auszeichnet. Ein Blick auf die handlungstheoretischen und moralpsychologischen Grundlagen dieses Verständnisses lässt dabei ein überraschend konsistentes und auch im philosophischen Werk Jacobis überraschend konstantes Grundmodell erkennen, als dessen leitende Kategorien sich die zweier Triebe – nämlich der Begierde einerseits, der Ehre bzw. Liebe andererseits – sowie die des Willens erweisen (I). In einem zweiten Schritt wird der Frage nachzugehen sein, ob und aus welchen Gründen sich die für Jacobi unzweifelhaft zentrale Kategorie der Tugend als Leitkategorie seiner Ethik auszeichnen lässt (II). Auch wenn diese Frage letztlich verneint werden muss, bleibt es umso dringlicher, den Bezug der Tugend auf die Kategorien von Gesetz einerseits, Vollkommenheit andererseits zu klären, deren Verhältnis zueinander sich, wie in einem dritten Schritt gezeigt werden soll, nur in einem perfektionistisch-platonischen Rahmen explizieren lässt (III). Meine Ausführungen verdanken dabei entscheidende Anstöße dem wegweisenden Aufsatz Jürgen Stolzenbergs zu Jacobis Kritik der Moralphilosophie 8
Ebd., S. 23. Vgl. George di Giovanni und Paolo Livieri: »Friedrich Heinrich Jacobi«, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2018), URL = . 9
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Kants, auch wenn ich dessen Kernthese, dass es sich bei der Streitsache Jacobi vs. Kant letztlich um die zwischen einer aristotelischen Tugendethik, unter die Stolzenberg auch Jacobi subsumiert, und einer kantischen Pflichtethik handle,10 im Folgenden entgegentreten möchte. In Form eines kurzen Ausblicks werden abschließend einige zentrale Ergebnisse der hier angestellten Überlegungen zusammenzufassen sein, die indes auch die Grenzen für einen Dialog zwischen Jacobi einerseits, Autonomieethikern wie Kant und Fichte andererseits deutlich hervortreten lassen (IV).
I.
Jacobis Ethik geht aus von einer Hermeneutik menschlichen Handelns. Alternative Zugänge werden von ihm nicht einmal in Erwägung gezogen; umgekehrt wendet er diesen Ansatz ganz selbstverständlich bei seiner Rekonstruktion des von ihm ausdrücklich geteilten Kerns der kantischen Moralphilosophie an.11 Im Zentrum dieser Hermeneutik steht die Frage nach dem Verhältnis zweier grundlegender Triebe, denen Jacobi sowohl motivationale Kraft wie normatives Gewicht beimisst – in letzterer Hinsicht spricht Jacobi häufig auch von Gesetzen, wobei Gesetz und Trieb in diesem Gebrauch der Begriffe extensional äquivalent sind.12 Die beiden Triebe diskutiert Jacobi zumeist unter den Begriffen Begierde einerseits, Ehre bzw. Liebe andererseits; ersteren charakterisiert er als »eigennützig«, letzteren als »uneigennützig«.13 Mit den beiden Trieben sieht Jacobi ausdrücklich begründungstheoretischen bedrock erreicht: Die Frage nach ihren Möglichkeitsbedingungen weist er als sinnlos zurück, ihre grundlegende Rolle erscheint ihm als Implikat jedes menschlichen Handelns sowohl in erst- wie in drittpersönlicher Perspektive unzweifelhaft gegeben: »L. Wollte man mich über diese doppelte Richtung selbst zur Rede stellen; nach der Möglichkeit eines solchen Verhältnißes und der Theorie seiner Einrichtung fragen: so würde ich mit Recht eine solche Frage abweisen, weil sie die Möglichkeit und Theorie der Schöpfung, Bedingungen des Unbedingten zum Gegenstande hat. Es ist genug, wenn das Daseyn dieser doppelten Richtung und ihr Verhältniß durch die That bewiesen und von der Vernunft erkannt ist.« (JWA 2,1, 251) 10
Vgl. Stolzenberg: Was ist Freiheit? Vgl. exemplarisch JWA 5,1, 218–222. 12 Vgl. etwa JWA 5,1, 218: »Zwey verschiedene Triebe oder Gesetze offenbaren sich im Menschen.« 13 Vgl. etwa JWA 2,1, 248, 251; JWA 5,1, 219. 11
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit
Gegenstand des Triebs der Begierde bildet »die persönliche Wohlfahrt, eigene Glückseligkeit« ( JWA 5,1, 218), Gegenstand der Ehre das »Gute[]« (ebd., 219). Als vernünftiges Wesen zeichnet den Menschen die Fähigkeit aus, sowohl (i) überhaupt nach Gründen zu handeln, wie auch (ii) nach nicht ausschließlich egoistischen Gründen zu handeln.14 Den menschlichen Willen fasst Jacobi vor diesem Hintergrund als die Fähigkeit, auf der Basis von Prinzipien eine ratio nale Abwägung solcher Gründe, wie sie sich aus den beiden grundlegenden Trieben ergeben, vornehmen zu können. Zwischen beiden Trieben nun konstatiert Jacobi sowohl eine motivationale wie eine normative Asymmetrie – der Trieb der Ehre liefert Gründe mit größerem normativen Gewicht als der Trieb der Begierde und er vermag seinen normativen Vorrang auch motivational geltend zu machen. Letzteres sieht Jacobi sogar durch außer-moralische Beispiele belegt – Menschen setzen de facto ihr Leben aufs Spiel, um einer ihrer Überzeugungen zur Durchsetzung zu verhelfen: »Uebrigens, da dem Menschen jede Meynung lieber als sein Leben werden kann, so liegt die Gewalt überhaupt der Begriffe, die überwiegende Energie der vernünftigen Natur (nicht des Gedankendinges Vernunft) damit so klar zu Tage, dass nur ein Thor sie läugnen kann. Und wie sollte ihre Gewalt nicht die höchste, der Begriff nicht im allgemeinen mächtiger als die Empfindung seyn« (JWA 2,1, 254).
Auf der normativem Ebene entspricht dem ein »Vorrecht des uneigennützigen Triebes und die Autorität seines Gesetzes vor dem eigennützigen« ( JWA 5,1, 218); stärker noch: Nicht nur scheint bei Konfliktfällen Gründen der Ehre eine lexikalische Priorität gegenüber Gründen der Begierde zuzukommen (d. h. Letzteren darf erst dann gefolgt werden, wenn Ersteren im größtmöglichen Umfang Rechnung getragen wurde, egal, wie schwer sie unter Gesichtspunkten des eigenen Wohlergehens auch wiegen mögen);15 die Befriedigung einer unvernünftigen Begierde trägt Jacobi zufolge nicht einmal zum eigenen Wohlergehen bei (wenn auch auf Kosten des uneigennützig Guten insgesamt), weil auch dieses Wohlergehen eben das eines vernünftigen Wesens sein muss –
14
»XXXII. Es bestehet also die Freyheit nicht in einem ungereimten Vermögen, sich ohne Gründe zu entscheiden; eben so wenig in der Wahl des Beßern unter dem Nützlichen, oder der vernünftigen Begierde: denn eine solche Wahl, wenn sie auch nach den abgezogensten Begriffen geschieht, erfolgt doch immer nur mechanisch; – sondern es besteht diese Freyheit, dem Wesen nach, in der Unabhängigkeit des Willens von der Begierde.« (JWA 2,1, 248) 15 Vgl. JWA 5,1, 219: »Wir behaupten einmüthig: wo Pflicht und eigene Wohlfahrt in Streit kommen, müsse diese jener aufgeopfert werden.«
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und genau dieses rationale Wohlergehen wird durch ein solches irrationales Handeln gemindert.16 Während sich Jacobi bis zu diesem Punkt mit der kantischen Moralphilosophie einig glaubt, gewinnt seine eigene Position indes anhand der Frage Profil, wie sich die Zielperspektiven beider Triebe zueinander verhalten: Auch wenn nämlich der Trieb der Begierde in jedem einzelnen Konfliktfall gegenüber den konkurrierenden Forderungen des Triebs der Ehre normativ und motivational unterliegen sollte, hält es Jacobi für inakzeptabel, dass der Trieb der Begierde insgesamt unerfüllt bleibt, insofern etwa die Forderungen des eigenen Wohlergehens gemäß einer konsequentialistischen Logik der Maximierung einer globalen Nutzensumme, die durch die Lust- und Schmerzzustände aller empfindungsfähigen Wesen gebildet wird, nie oder nur insoweit zum Tragen kommen können, als ihre Erfüllung die instrumentelle Voraussetzung für weitere Tätigkeit im Dienst des globalen Nutzens bildet.17 Während Jacobi sich in den »Ergießungen« darauf beschränkt, die Kantische Postulatenlehre18 und damit die Annahme einer »moralischen Regierung Gottes« ( JWA 5,1, 221), die die Konvergenz zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit garantiert, als Lösung dieses Problems vorzutragen, weisen seine eigenen Überlegungen in eine dezidiert andere Richtung.19 Im Woldemar nämlich führt Jacobi noch einen dritten Trieb ein: »Der Mensch ist sich seiner als eines unausgemachten, unvollkommenen, zweydeutigen Wesens bewußt, und ringt nach Einheit und Vollendung: Dieses Ringen ist sein eigentlicher Trieb – der Menschliche.« (JWA 7,1, 444)
Die Zweideutigkeit erscheint hier also nicht als lediglich durch individuelles, rationales Entscheiden (zugunsten des Triebs der Ehre) zu überwindendes Durchgangsstadium, noch auch als Ansatzpunkt einer göttlichen Intervention, die im Jenseits die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit absichert, sondern als Konstituens der condition humaine überhaupt. Die Aufgabe des Willens sieht Jacobi vor diesem Hintergrund gerade nicht mehr darin, 16
»XV. Durch die Befriedigung einer jeden unvernünftigen Begierde, wird die Identität des vernünftigen Daseyns unterbrochen; folglich die Personalität, welche allein im vernünftigen Daseyn gegründet ist, verletzt: mithin die Quantität des lebendigen Daseyns um so viel vermindert.« (JWA 2,1, 244) 17 Vgl. JWA 5,1, 221. 18 Vgl. Kant, KpV, AA V, 110 ff. 19 Aus diesem Grund scheint es mir auch kein Zufall zu sein, dass Jacobi in den »Ergießungen« ausdrücklich nur die »Unabhängigkeit des Princips der Sittlichkeit von dem Princip der Selbstliebe« (JWA 5,1, 222), also die Dualität der beiden Triebe, als den ihn mit Kant verbindenden Grundsatz, nicht aber die Postulatenlehre als Lösung für die Frage nach deren Verhältnis hervorhebt.
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit
eine rational begründete Abwägung zwischen den beiden Trieben bzw. »Rotten« vorzunehmen; vielmehr richte er sich »wider diese Rotten« (ebd.) selbst – bereits die Opposition zwischen Begierde und Ehre und nicht erst deren irrationaler Austrag wird für den Willen also zum Ärgernis. Das Bedürfnis nach »Eintracht, Zufriedenheit, Glückseligkeit« (ebd.) meldet sich hier nicht als das einer umfassend befriedigten Begierde, sondern als Bedürfnis der menschlichen Person insgesamt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundlegende Frage nach der Integration der beiden Triebe erneut – eine Frage, die Jacobi an zentralen Stellen seiner moralphilosophischen Überlegungen nicht zufällig unter dem Gesichtspunkt der Tugend erörtert.
II.
Wie eingangs erwähnt, hat Jürgen Stolzenberg vorgeschlagen, Jacobis Kritik an Kants Moralphilosophie insgesamt positiv als ein »Plädoyer für eine Ethik der Tugend« (im Gegensatz zur Pflichtethik) Kants zu lesen.20 Näherhin möchte Stolzenberg Jacobi als Vertreter einer spezifisch aristotelischen Tugendethik verstanden wissen. Er stützt sich dafür auf die über ragende Rolle, die der Rekonstruktion der Ethik des Stagiriten im Woldemar zukommt und die dann auch den »Orientierungsrahmen für seine eigene ethische Konzeption«21 bilde.22 Tatsächlich rühmt Jacobi (im Munde seiner Romanfigur Dorenburg) Aristoteles ausdrücklich als den »nüchternste[n], scharfsinnigste[n], pünktlichste[n] und strengste[n] unter allen Philosophen« ( JWA 7,1, 435) und betrachtet seine eigene Rekonstruktion der aristotelischen Moralphilosophie im Woldemar gegenüber Wilhelm von Humboldt als Ergebnis der größten intellektuellen Anstrengung seines philosophischen Lebens.23 Im Folgenden möchte ich zunächst der Frage nachgehen, worin eigentlich die unbestreitbaren Sympathien Jacobis für eine spezifisch aristotelische Form der Tugendethik begründet sind, bevor ich dann die allgemeinere Frage dis20
Stolzenberg: Was ist Freiheit?, S. 31. Ebd., S. 32. 22 Jacobi selbst äußert sich freilich nicht ohne Ambivalenz zur Bedeutung des Woldemar als hermeneutischer Schlüssel zu seinem eigenen Denken: »Woldemars Philosophie ist eine Thür, und sie ist auch eine Mauer: wie man’s nehmen will.« (Brief an Hamann vom 16.6.1783, zitiert nach Hammacher: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis, S. 157) Dennoch hebt auch Hammacher zu Recht hervor, dass sich im Woldemar unverzichtbare »Ergänzungen zu den kritischen Untersuchungen über das Fundament der Moral« (ebd., S. 158) finden, ohne die Jacobis positiver Entwurf keine ausreichenden Konturen gewinnen kann. 23 Vgl. Brief an Wilhelm von Humboldt vom 02.09.1794, in: JBW I,10, 396. 21
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kutieren werde, ob sich Jacobi tatsächlich auch selbst als Tugendethiker einordnen lässt.
II.1
Die Gründe für Jacobis Affinität zur aristotelischen Konzeption von Tugend treten besonders deutlich aus seiner Abgrenzung zur epikureischen Tugendlehre einerseits, zur stoischen andererseits hervor. Beide betrachtet Jacobi als gleichermaßen abwegige Versuche, die Dualität der Triebe reduktionistisch aufzulösen: Die Epikureer reduzieren ihm zufolge den Trieb der Ehre auf den der Begierde, indem sie Tugend lediglich instrumentalistisch als »Mittel zur Glückseligkeit« ( JWA 5,1, 220) verstehen; die Stoiker reduzieren in umgekehrter Richtung den Trieb der Begierde auf den der Ehre, indem sie die Erfüllung der Pflicht durch den Tugendhaften als bereits hinreichend für die Glückseligkeit verstehen. Beide lassen mithin »diesen Einen [sc. Trieb, den sie jeweils als Reduktionsbasis ansetzen, C.H.] hernach beydes thun [sc. das Geschäft beider Triebe erfüllen, C.H.]« (ebd., 219) – und verstellen sich so ein adäquates Verständnis des Zusammenhangs beider Triebe von vornherein. Zu beachten bleibt hier insbesondere, dass Jacobi den stoischen Reduktionismus nicht weniger entschieden ablehnt als den epikureischen (auch wenn er an vielen Stellen, wie oben erwähnt, auf dem normativen und motivationalen Vorrang des Triebs der Ehre insistiert). Der Grund dafür ist nun ein spezifisch aristotelischer,24 nämlich die Beobachtung, dass die Erfüllung der Forderungen des uneigennützigen Triebs zumindest beim Tugendhaften (im Gegensatz zum bloß Selbstbeherrschten) zwar mit einem »köstliche[n] Gefühl der Selbstachtung« verbunden sei, ohne doch verhindern zu können, dass »der Tugendhafte mit demselben doch in einem hohen Grade unglücklich seyn« ( JWA 5,1, 220) könne. Mit Aristoteles und gegen die Stoa besteht Jacobi also darauf, dass die Tugend nicht selbst schon hinreichend für das Glück/ Wohlergehen des Tugendhaften sei.25 Freilich besteht insofern auch Jacobi zufolge eine Asymmetrie zwischen der Erfüllung der Forderungen des Triebs der Ehre und denen des Triebs der Begierde, dass Erstere die Voraussetzung dafür bildet, dass Letztere überhaupt einen Beitrag zum Wohlergehen leisten 24
Vgl. Aristoteles, NE II.2. würde mithin auch der von John McDowell geäußerten Auffassung widersprechen, dass für den Tugendhaften gelte: »no sacrifice necessitated by the life of excellence, however desirable what one misses may be by those sorts of canons, can count as a genuine loss.« (John McDowell: »The Role of Eudaimonia in Aristotle’s Ethics«, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hg.): Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley 1981, S. 359–376: S. 369) 25 Jacobi
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit
können: Die »Strafe der Selbstverachtung« (ebd.) führe nämlich dazu, dass die Erfüllung von Begierden ihren prudentiellen Wert für das Wohlergehen einbüßt, wenn sie den Verstoß gegen Forderungen der Ehre/Pflicht voraussetzt; umgekehrt gilt aber nicht, dass die Forderungen der Ehre/Pflicht durch die dafür verlangten Opfer an Wohlergehen in ihrem sittlichen Wert beeinträchtigt würden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Jacobi gerade der aristotelischen Tugendlehre eine so prominente Stelle im Woldemar zuweist: Sie vermeidet eine reduktionistische Perspektive auf das Problem des Verhältnisses der beiden Grundtriebe und erlaubt es zugleich, den normativen Ansprüchen beider zumindest insoweit Rechnung tragen zu können, dass Opfer im Dienste der Forderung der Pflicht/Ehre als Opfer sichtbar bleiben. Festzuhalten bleibt aber auch, dass die bisher diskutierten Gründe für Jacobis Nähe zur aristotelischen Position die Frage einer spezifischen Tugendethik im Gegensatz zu der nach dem Verhältnis von Tugend und Glück noch gar nicht berühren.
II.2
Die Frage, was eigentlich eine Tugendethik ausmacht, ist ebenso umstritten wie die, ob Aristoteles selbst überhaupt sinnvoll als Tugendethiker angesprochen werden kann. Beide Fragen können im Rahmen dieses Beitrags nicht sinnvoll diskutiert werden. Ich möchte daher – hoffentlich bloß stipulativ – folgende Thesen als konstitutiv für eine tugendethische Position verstehen:
① Eine Tugendethik ist in dem Sinne akteurszentriert, dass sie die Cha-
raktermerkmale des Handelnden als ontologisch primär gegenüber dessen Handlungen versteht – eine Handlung ist großzügig, insofern sie die Tugend der Großzügigkeit als Charaktermerkmal zum Ausdruck bringt (und nicht etwa umgekehrt: Jemand verfügt in dem Maße über das Charaktermerkmal der Großzügigkeit, als er hinreichend oft großzügig handelt). ② Einer Tugendethik zufolge wird der deontische Status einer Handlung (erlaubt, geboten, verboten) durch aretaische Merkmale des Handelnden (oder einer idealisierten Handelnden in der jeweiligen Handlungssituation) festgelegt. Nun vertritt Jacobi in der Tat eine entschieden akteurszentrierte Position im Sinne von (1), und zwar nicht in einer exemplaristischen Variante, sondern in einer, wie man formulieren könnte, hermeneutischen:
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»Wenn Du irgend einen Menschen großmüthig nennest, so thust Du es nicht, weil er Eine, oder auch zehn, oder auch hundert Handlungen verrichtete, die nach Großmuth aussahen, wenn auch noch so vollkommen; sondern weil Du ihm einen großmüthigen Character beimissest. Dasselbe gilt von der Gerechtigkeit, überhaupt von jeder Tugend. Nur denjenigen wirst Du tugendhaft nennen, von dem Du urtheilest, daß er eine Regel der Rechtschaffenheit in sich habe, die er immer befolgt, und der zu liebe er jede einzelne tugendhafte Handlung sich vorsetzt. Kraft dieses Archetyps, aus welchem die Tugend zuerst als Gattung hervorgeht, erzeugt der Mensch ihre Arten, und aus den Arten jede einzelne; an diesem Archetyp prüft er alle nachher abstrahirte Begriffe und Vorschriften von Tugenden, und urtheilt allein mit ihm über die Gültigkeit und durchgängige Wahrheit jener Vorschriften und Begriffe.« (JWA 5,1, 232)26
Diesen akteurszentrierten Ansatz möchte Jacobi zudem, wie man in zeitgenössischer Terminologie sagen könnte, ausdrücklich nicht-exemplaristisch verstanden wissen: »Aber […] wie kommt die Bewunderung jener großen Menschen, eines Confucius, eines Sokrates, und selbst Christus, in das Herz, in den Sinn und Geist des Bewunderers? Können sie wohl für irgend jemand anders da seyn, als in der Vorstellung, die er sich von ihnen gemacht, und die ihm ganz inwendig ist? Trifft nicht auch hier die Bemerkung des Verfassers zu, ›daß es beym Sehen hauptsächlich auf das Auge und den Seher ankomme, und ein jedweder nicht nur seinen eigenen Regenbogen, sondern auch seine eigene Sonne und seinen eigenen Mond sieht?‹« (JWA 3, 43)
Ratio cognoscendi für die Tugenden ist also nicht die Orientierung an Vorbildern, die etwa durch als basal verstandene Einstellungen wie Bewunderung identifiziert werden,27 sondern das Vorverständnis eines und einer jeden, das die unverzichtbare Grundlage für die Abgrenzung von Tugenden und Lastern und deren jeweilige Individuierung liefert.
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Vgl. auch JWA 2,1, 253 f.: »Ich traue dem Worte um des Mannes, und dem Manne um sein selbst willen. Was in ihm mich gewiß macht, ist seine Sinnesart, sein Geschmack, sein Gemüth und Charakter. Ich gründe meinen Bund mit ihm auf den Bund, den er mit sich selbst hat, wodurch er ist der er seyn wird.« Diesen eindeutigen Bekenntnissen zu einer akteurszentrierten Perspektive stehen freilich vereinzelte Äußerungen gegenüber, die in eine genau umgekehrte Richtung weisen: »Wer entschieden schlechte Handlungen thut, der ist ein schlechter Mensch, und damit Punctum.« (Brief an Boie vom 31.01.1788, in: JBW I,7, 86) 27 So die jüngst von Linda Zagzebski ausgearbeitete Variante des Exemplarismus. Vgl. Linda Zagzebski: Exemplarist Moral Theory, New York 2017.
Jacobi über Tugend, Gesetz und Vollkommenheit
An dieser Stelle treten freilich auch die erheblichen Missverständnisse zu Tage, die Jacobis Rekonstruktion der aristotelischen Ethik trotz aller von ihm selbst in dem oben zitierten Brief hervorgehobenen hermeneutischen Mühe nicht weniger belasten als die in der Literatur vielfach hervorgehobene der kantischen Ethik. Diese Missdeutung betrifft namentlich (i) die Unterscheidung zwischen natürlichen und ethischen Tugenden, (ii) die Rolle der praktischen Klugheit und (iii) die Lehre von der Einheit der Tugenden. Ad (i): An der Zusammenfassung der aristotelischen Ethik im Woldemar fällt zunächst auf, dass die zentrale aristotelische Unterscheidung zwischen natürlichen und ethischen Tugenden 28 zunächst ganz ausdrücklich eingeebnet wird: Tugenden werden als angeborene Merkmale des »gutgeschaffenen Menschen« ( JWA 7,1, 435) definiert; »eine gewisse Tugendfertigkeit« (ebd., 436) sei allen Menschen angeboren, wenn auch in unterschiedlichem Grade. Die Frage, ob solche angeborenen Merkmale überhaupt als Tugenden gelten können, insofern sie für Tugenden und Laster offensichtlich charakteristische reaktive Eigenschaften wie Lob oder bei Lastern Tadel schon allein deshalb nicht rechtfertigen, weil niemand für seine angeborene Ausstattung verantwortlich zu machen ist, stellt sich Jacobi erstaunlicherweise nicht. Erst im Fortgang der Diskussion wird dann die aristotelische Auffassung von Tugenden als erworbenen Vollkommenheiten der Seele ausdrücklich in Erinnerung gerufen: »Tugend also, die eigentliche, vorsetzliche Tugend, ist eine selbsterworbene Fertigkeit durch innere Seelenthätigkeit aus eigener Kraft.« (JWA 7,1, 442)
Tugenden können daher gerade nicht »allein durch die Natur« (ebd.) gegeben und also auch nicht angeboren sein. Jacobi scheint nun diese grundlegende Spannung dadurch vermitteln zu wollen, dass er selbst eine nichtaristotelische Kategorie einführt, nämlich die der »angeborne[n] Tugend« (ebd., 443), die sich zur »eigentliche[n] […] Tugend« (ebd., 442) gerade nicht so verhält wie die aristotelische natürliche zur ethischen Tugend. Vielmehr deutet Jacobi das Verhältnis beider analog zu der einer Sinnesfunktion und ihrer Ausübung (also etwa: Auge und Sehen). Die angeborene Tugend bildet zudem, und das ist entscheidend, die für Jacobi zentrale Quelle moralischer Erkenntnis, insofern sie »die Principien der sittlichen Handlungen« (ebd., 443) vermittelt. Sie erinnert damit an die scholastische Konzeption der synderesis,29 die mit den höchsten praktischen Prinzipien (etwa bei Thomas: Gutes ist zu 28
Vgl. Aristoteles, NE VI.13, sowie die Diskussion in Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, Kap. 2.2. 29 Vgl. Thomas von Aquin: Quaestio disputata de veritate XVI, art. 1, corp.
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tun, Schlechtes zu unterlassen) bekannt macht. Die natürlichen Tugenden bei Aristoteles hingegen spielen keinerlei moralepistemologische Rolle, schon gar nicht eine so grundlegende: Bei ihnen handelt es sich lediglich um Merkmale des eigenen Naturells, die ihrem Besitzer oder ihrer Besitzerin den Erwerb der entsprechenden ethischen Tugend erleichtern. Diese angeborene Tugend als Quelle der Erkenntnis moralischer Prinzipien parallelisiert Jacobi mit dem gesunden Menschenverstand, der den epistemischen Zugang zu den »ersten Denkgesetze[n]« ( JWA 7,1, 443) vermittle. Der Vernunft schreibt er dabei sowohl im Bereich des Theoretischen wie des Praktischen eine ausdrücklich instrumentelle Funktion zu:30 Ihre Aufgabe besteht darin, die Prinzipien situativ richtig anzuwenden; sie bildet aber ausdrücklich nicht selbst den Maßstab für praktische Normativität. Ad (ii): Hierin liegt eine weitere, grundlegende Differenz zu Aristoteles: Ebenso wie Jacobi die aristotelische Unterscheidung zwischen natürlichen und ethischen Tugenden entweder ganz einzieht oder sie einer tiefgreifenden Neuinterpretation unterzieht, übergeht er die für Aristoteles zentrale Frage nach dem Verhältnis der ethischen Tugenden zu der dianoetischen Tugend der praktischen Klugheit (phronesis): Beide stehen bei Aristoteles in einem Verhältnis wechselseitiger Implikation: Mutig sein kann etwa nur, wer praktisch klug in dem Sinne ist, dass er richtig einschätzt, ob das gefährdete Gut einen bestimmten, angstbesetzten Einsatz auch wirklich rechtfertigt; und umgekehrt bedarf es des Mutes, um eine solche Einschätzung überhaupt richtig treffen zu können. Die praktische Klugheit nun als Gelenkstelle der aristotelischen Tugendlehre insgesamt kommt bei Jacobi nicht einmal in den Blick; die Kategorie der eigentlichen (im Gegensatz zu: bloß angeborenen) Tugenden scheint sich für ihn in den ethischen Tugenden wie Mut, Großzügigkeit, Besonnenheit etc. zu erschöpfen. Dieser bemerkenswerte blinde Fleck lässt sich auf zwei wesentliche Ursachen zurückführen: Zum einen vertritt Jacobi eine keineswegs aristotelische, sondern eher kantische Auffassung der Grundstruktur der ethischen Tugenden: Die einzelnen Tugenden werden ihrerseits individuiert durch eine für sie spezifische »Regel der Rechtschaffenheit« ( JWA 5,1, 232), die es (i) durchgängig zu befolgen gilt und (ii) deren Befolgung auch als solche (»der zu liebe«, ebd.) intendiert werden muss, soll eine tugendhafte Handlung vorliegen. Zum anderen und vor allem aber erklärt sich das Fehlen der praktischen Klugheit bei Jacobi dadurch, dass er, wie gerade gezeigt, mit der Orientierung am Guten in Form der »Principien 30
Vgl. JWA 7,1, 443: Die Vernunft sei dem Wahrheitssinn – für Jacobi der Oberbegriff, der sowohl die Orientierung an den ersten Denkgesetzen wie an den Prinzipien sittlicher Handlungen einschließt – untergeordnet »wie Mittel dem Zweck«.
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der sittlichen Handlungen« ( JWA 7,1, 443) ein funktionales Äquivalent für diese identifiziert hat. Ad (iii): Da nun gerade die wechselseitige Implikation der praktischen Klugheit einerseits, der ethischen Tugenden andererseits die Grundlage für die aristotelische Lehre von der Einheit der Tugenden bildet (antakolouthie, scholastisch: connexio virtutum), kann es nicht überraschen, dass Jacobi auch diese Lehre de facto verabschiedet.31 Dies wird im Woldemar etwa an Dorenbergs Plädoyer zugunsten des vorgeblich ungerechten Tyrannen Kleomenes deutlich, dessen »Gewaltthätigkeit« ( JWA 7,1, 437) nicht in Frage gestellt, der aber dennoch insgesamt als »Salz der Erde« (ebd., 438) gepriesen wird – einzelne Laster scheinen also insbesondere in Zeiten kultureller Umbrüche den Status allgemeiner Tugendhaftigkeit des Helden nicht in Frage zu stellen. Die Zurückweisung der Einheitsthese erweist sich nun erneut als durchaus folgerichtig, sofern Jacobis eigener Bezugsrahmen zugrunde gelegt wird: Wenn die Tugenden über die für sie jeweils grundlegende Regel individuiert werden, dann bedarf es für den Erwerb jeder einzelnen Tugend im Widerspruch zur Einheitsthese nicht notwendig des Verfügens aller anderer Tugenden (und umgekehrt).32
III.
Mit Blick auf die drei gerade diskutierten Gesichtspunkte verbietet es sich mithin nicht minder, Jacobi für eine aristotelische Tugendethik in Anspruch zu nehmen wie für eine kantische Autonomieethik. Es bedarf eines Neuansatzes, der sich am besten an dem Ausgangs- und Bezugspunkt orientieren sollte, der für Jacobis Überlegungen zum menschlichen Handeln insgesamt bestimmend bleibt, nämlich der Hermeneutik der menschlichen Triebe. Dass die beiden grundlegenden Triebe, der der Ehre einerseits, der der Begierde andererseits, weder auseinanderfallen noch in einem unaufgehobenen Spannungsverhältnis zueinander bestehen bleiben, hält Jacobi für fundamental, und zwar sowohl anthropologisch wie ethisch:
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Zum Problem der Einheit der Tugenden vgl. Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Kap. 4. 32 Jacobi spricht freilich von einem »Archetyp[], aus welchem die Tugend zuerst als Gattung hervorgeht« (JWA 5,1, 232), die der Bildung der einzelnen Arten von Tugenden (vielleicht gemeint: die Kardinaltugenden) vorausliege. Ob und inwiefern sich der notwendige Bezug auf diesen Archetyp für eine Erneuerung der Einheitsthese eignen könnte, bleibt freilich unklar.
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»Ein gemeinschaftlicher Strebungspunkt der Kräfte muß sich in jedem Wesen finden, weil die verschiedenen Kräfte sonst nicht Ein Leben, Ein Wesen ausmachen, zu Einem Leben und Wesen gehören würden. Dieser gemeinschaftliche Strebungspunkt bestimmt die Natur des Wesens, und ihm selbst seinen Zweck. Was zu seinem Zwecke dient, empfindet es als gut: den Zweck selbst, als etwas an sich wünschenswürdiges, als sein höchstes Gut.« (JWA 7,1, 444) »Der Königliche Wille im Innern des Menschen […] verlangt Eintracht, und verheißt, mit dieser Eintracht, Zufriedenheit, Glückseligkeit.« (Ebd.)
Der »gemeinschaftliche Strebungspunkt« bezeichnet mithin zum einen in teleologischer Perspektive das, was den Menschen als »Ein Leben« (ebd.) in Abgrenzung zu anderen Arten von Lebewesen auszeichnet. Zugleich stellt er sich nicht wie bei Tieren oder Pflanzen durch bloß natürliche Prozesse im Zuge einer ungestörten Entwicklung von selbst ein, sondern wird zur normativen Forderung, die sich an den Willen richtet und ihn leitet, und zwar unter dem Gesichtspunkt des höchsten Guts bzw. der Glückseligkeit als Bezugspunkt seiner Entscheidungen. Jacobis Überlegungen zur Tugend bilden mithin lediglich einen Teil einer umfassenderen, perfektionistischen Perspektive,33 die von einer Bestimmung des Wesens des Menschen in doppelter Abgrenzung zu Tier und Gott ausgeht.34 Doch wie lässt sich der »gemeinschaftliche Strebungspunkt« bzw. die vom Willen angestrebte »Eintracht« inhaltlich bestimmen? Jedenfalls nicht – und hier liegt der entscheidende Dissens mit Kant – durch das bloß formale Prüfverfahren der Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen: 33 Auf
die zentrale Bedeutung dieser perfektionistischen Perspektive für die »moral vision« Jacobis hat insbesondere Benjamin Crowe zu Recht aufmerksam gemacht: »At the heart of Jacobi’s theory is the claim that human beings have natural tendencies toward the good, along with other basic moral sentiments, and that these require careful practical cultivation.« (Benjamin Crowe: »Jacobi on Kant, or Moral Naturalism vs. Idealism«, in: Matthew C. Altman (Hg.): The Palgrave Handbook of German Idealism, New York 2014, S. 205–221: S. 213) Hier bleibt freilich festzuhalten, dass diese perfektionistische Orientierung an einer Hermeneutik der Triebe als Schlüssel auch zur ethischen Theoriebildung keinesfalls, wie Bollnow behauptet, eine Verabschiedung spezifisch moralischer zugunsten lediglich vitaler Werte impliziert: »Die Basis der ethischen Beurteilung verschiebt sich aus der moralischen, durch den Gegensatz von ›gut‹ und ›böse‹ bezeichneten Schicht in jene andere, die Scheler als die der ›vitalen Werte‹ in ihrer besonderen Struktur zuerst herausgestellt hat und die mit derjenigen Schicht der menschlichen Seele übereinstimmt, die Plato als die des thymós bezeichnet hat, des ›Sieg- und Ehrliebenden‹.« (Otto Bollnow: Die Lebensphilosophie F.H. Jacobis, 2. Auflage, Stuttgart 1966, S. 33) 34 Jacobi vertritt ausdrücklich eine realistische Deutung von Gattung und Arten: »Ich verstehe unter Gattung keinen bloßen Verstandesbegriff, sondern eine wahrhafte und wirksame Ursache.« (JWA 5,1, 231)
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»Die eigene Kraft der Vernunft vermag nur den Wunsch im Menschen zu erregen, Eins mit sich selbst zu seyn, ohne weiteres; und dieser Wunsch ist ein schwacher Schild. Ich sage mit Bedacht, ein Schild; denn auch dieser Wunsch ist ohne Nachdruck, weil er ohne Inhalt ist« (JWA 7,1, 441).
Jacobi scheint hier durch Überlegungen geleitet zu werden, die auch dem Formalismuseinwand Hegels gegen den kategorischen Imperativ zugrunde liegen: Entweder stützt sich das Prüfverfahren tatsächlich nur auf die formalen Kriterien von Allgemeinheit und Notwendigkeit, dann bleibt es ohne Inhalt, oder aber es greift eben doch auf versteckte substantielle Annahmen zurück, dann generiert es einen Inhalt, der den eigenen Ansprüchen an das Verfahren nicht genügen kann und sich dem Verdacht des Dogmatismus ausgesetzt sieht.35 Und auch nicht, wie gezeigt, durch die praktische Klugheit, die in der aris totelischen Tradition die Einheit der Tugenden sicherstellt und ausschließt, dass es etwa zu tragischen Konflikten zwischen unvereinbaren Forderungen einzelner Tugenden kommen kann. Erneut glaubt Jacobi, allein mit Hilfe einer Hermeneutik menschlicher Triebe das Problem des Einheitspunkts lösen zu können: »Kein Trieb, wie sehr man ihn in sich allein betrachte, will nur seine eigene freye Wirksamkeit. Sein Wesen ist Verhältniß: er will Befriedigung. Der Trieb der vernünftigen Natur zum an sich Wahren und Guten ist auf ein Daseyn an sich, auf ein vollkommenes Leben, ein Leben in sich selbst gerichtet; er fodert Unabhängigkeit; Selbstgenügsamkeit; Freyheit! – Aber in wie dunkler, dunkler Ahndung nur!« (JWA 2,1, 255)
Das Telos eines Triebes muss also in seiner Befriedigung gesucht werden, nicht in seiner bloßen Ausübung. Was den Trieb der Ehre von dem der Begierde für Jacobi unterscheidet, ist nun aber der jeweilige Bezug auf das Selbst: Der Trieb der Begierde findet seine Befriedigung in der Herstellung von Empfindungszuständen im Selbst (»Wirkung in das Selbst«, JWA 5,1, 243),36 der Trieb der Ehre hingegen findet sie gerade umgekehrt in der Orientierung an seinen Gegenständen um ihrer selbst willen (»um sein selbst«, ebd.), und zwar im Lichte der evaluativen Gesichtspunkte des Wahren, Guten 35
Vgl. Hegel: Rechtsphilosophie, § 135 A (GW 14,1, 117 f.). Trieb der Begierde kann damit aus Sicht Jacobis genau genommen nicht einmal als egoistisch bezeichnet werden, insofern der Egoismus voraussetzt, dass das Selbst und seine Interessen in einem Maße thematisch wird, wie dies die Begierde ausschließt: »[E]s gehört zu ihrem [sc. der Begierde, C.H.] Wesen, anschauungslos zu seyn und blind. Auch das Selbst sieht sie nicht« (JWA 5,1, 243). 36 Der
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und Schönen.37 Während Jacobi diesen zweiten Trieb zumeist dann als Trieb der Ehre anspricht, wenn er dessen Verhältnis zum Trieb der Begierde thematisiert, spricht er in Kontexten, wo er in sich selbst charakterisiert wird, – bei extensionaler Äquivalenz beider – zumeist vom Trieb der Liebe. Und eben dieser Trieb der Liebe führt zurück zum Kern von Jacobis Tugend-Begriff. Im Woldemar nämlich tritt er unter ausdrücklicher Berufung auf Sokrates, Xenophon und Platon (die hier in auffälliger Weise den ansonsten ausschließlichen Bezug auf Aristoteles durchbrechen) für eine Konzeption der Tugend ein, der zufolge diese »in einer unüberwindlichen Lust und Liebe zum Guten bestünde« ( JWA 7,1, 441). Damit wird aber die eingangs benannte akteurszentrierte Perspektive der Tugend aufgesprengt zugunsten einer sog. rekursiven Konzeption der Tugend, 38 die diese als eine – wenn auch selbst intrinsisch wertvolle – Einstellung zu intrinsischen Gütern wie eben dem Guten, Wahren und Schönen versteht, die den Akteur oder die Akteurin gerade von der die Begierde leitenden Fokussierung auf sich selbst befreit.39 Ein elaboriertes Modell, wie es dem Willen gelingen kann, durch Kultivierung der Tugenden die geforderte Eintracht der beiden Triebe zu realisieren, fehlt bei Jacobi. Dass der Trieb der Liebe nicht nur normativen, sondern auch motivationalen Vorrang genießt, steht außer Zweifel.40 Gleichzeitig scheint Jacobi jedoch eine vollständige Aufhebung des Triebs der Begierde in den der Liebe für eine Überforderung zu halten, die im perfektionistischen Rahmen einer Orientierung an den Möglichkeiten spezifisch menschlicher Lebewesen als fragwürdig erscheinen muss. Das »Urbild freier Liebe« ( JWA 5,1, 236) bleibt dem göttlichen Sein vorbehalten und artikuliert sich in dem freien göttlichen Entschluss zu einer creatio ex nihilo, die sich ja als Entschluss eines schlechthin vollkommenen Wesens ipso facto jeder Logik der Bedürfnisbefriedigung entzieht. Zugleich tritt diese theistische Perspektive dem Menschen für Jacobi nicht von außen entgegen, sondern findet einen Anhalt in dessen Wesen selbst im Sinne der Gottesebenbildlichkeit, die »Gott in uns und über 37
Vgl. JWA 5,1, 238. Struktur rekursiver Theorien von Tugenden und Lastern vgl. Felix Timmermann: »Art. Laster«, in: Christoph Halbig und Felix Timmermann (Hg.): Handbuch Tugend und Tugendethik, Berlin 2020, i. Ersch. 39 Die Alternative von organischer Entwicklung des eigenen Wesens einerseits, die Orientierung an dem »Gesetz seiner eigenen praktischen Vernunft« (Stolzenberg: Was ist Freiheit?, S. 36), deren Glieder Stolzenberg als jeweils charakteristisch für Jacobi bzw. Kant betrachtet, andererseits, erweist sich also im Lichte von Jacobis perfektionistischplatonischer Konzeption keineswegs als erschöpfend. 40 Vgl. »Denn wenn gleich dies edelste unserer Natur nur den kleinsten Theil derselben auszumachen scheint, so übertrifft dieser kleinste Theil doch die übrigen alle an Würde und an Kraft.« (JWA 7,1, 451) 38 Zur
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uns; Urbild und Abbild, getrennt und doch in unzertrennlicher Verbindung« ( JWA 3, 42) sein lässt.41
IV.
Der Versuch, die Struktur von Jacobis eigenem, positiven Projekt einer Ethik offenzulegen, hat zu Ergebnissen geführt, die es in überraschendem Maße erlauben, seine verstreuten, heterogenen und prima facie oft schwer zu vereinbarenden Äußerungen zu diesem Problemfeld in einem einheitlichen Rahmen zu verorten. Dennoch bleibt der Eindruck von Spannungen bestehen, die von Jacobi gerade nicht in einer eindeutigen Richtung zum Austrag gebracht werden. Drei dieser Spannungen möchte ich abschließend hervorheben und dabei zugleich wesentliche Ergebnisse der hier angestellten Überlegungen zusammenfassen: ① Jacobi steht insgesamt eindeutig in der antiken Tradition einer Strebens ethik, deren Struktur sich aus einer Hermeneutik menschlicher Triebe und deren Objekte ergibt, wobei die Ziele dieses Strebens durchgängig in evaluativen Begriffen – das Gute, Wahre, Schöne – gefasst werden. Das Deontische tritt demgegenüber nicht nur zurück, sondern wird zum Indikator des Verfehlens der »Eintracht« ( JWA 7,1, 444), die in dem Maße zum Gegenstand von deontischen Forderungen werden muss, als es gerade nicht gelungen ist, diese Eintracht durch eine Orientierung des Willens am Guten zusammen mit einer stabilen affektiven Orientierung, die das Gute freudig bejaht und ganz selbstverständlich motivational wirksam werden lässt, zu verwirklichen. Dennoch individuiert Jacobi die einzelnen Tugenden selbst über die sie leitenden Handlungsprinzipien und fasst die geforderte Eintracht häufig auch selbst im Sinne rationaler Konsistenz (wobei er freilich die Grenzen einer solchen Konsistenz in seiner Kritik an Kant auch wie derum zum Thema macht). Das Changieren zwischen dem Evaluativen und dem Deontischen, die zuweilen als äquivalent erscheinen, zuweilen aber gerade in Opposition zueinander gebracht werden, steht einer Rekonstruktion der Architektur von Jacobis Ethik immer wieder im Wege. ② Die akteurszentrierte Perspektive, die Jacobi mit seinem hermeneutischen Ausgangspunkt bei den menschlichen Strebungen einnimmt, führt im 41 Zum
Verhältnis von Anthropomorphismus und Theomorphismus in Jacobis Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Gott vgl. die erhellenden Ausführungen von Catia Goretzki in diesem Band.
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Ergebnis über sich selbst hinaus: Das in der Eintracht der Triebe gesuchte Glück stellt sich nur ein durch Überwindung der für den eigennützigen Trieb charakteristischen Orientierung an zu realisierenden Zuständen des Selbst zugunsten der den Trieb der Liebe leitenden Orientierung, sei es am personalen Anderen (paradigmatisch in der Freundschaft) oder sei es an den Werten des Guten, Wahren und Schönen. Dennoch besteht für Jacobi – der damit dezidiert einem stoischen Reduktionismus entgegentritt – keine Garantie, dass das ihm zufolge faktisch wie normativ unaufhebbare Glücksverlangen des einzelnen Selbst allein durch eine solche Orientierung tatsächlich auch befriedigt werden kann; sie bildet eine notwendige und eine konstitutive, nicht aber eine hinreichende Bedingung für das Glück. ③ Jacobis Strebensethik findet sich schließlich eingebettet in einen perfektionistischen Rahmen, der in teleologischer Perspektive nach den Bedingungen für eine vollkommene Realisierung der für den Menschen spezifischen Strebungen fragt. Insofern sich das Wesen des Menschen jedoch durch seine prekäre Stellung zwischen Tier und Gott auszeichnet, bleibt auch hier notwendig eine Spannung bestehen: Der uneigennützige Trieb muss gleichzeitig Maß nehmen an dem göttlichen Ideal einer schöpferischen, auf keinerlei Bedürftigkeit beruhenden Liebe, ohne dabei jedoch den Anspruch auf eine einträchtige Integration mit den Ansprüchen des eigennützigen Triebs aufgeben zu können. Wiederum wäre es zu wünschen gewesen, dass Jacobi den normativen Implikationen dieser dritten, bei ihm wiederholt zu Tage tretenden Spannung weiter nachgegangen wäre. Vergegenwärtigt man sich die so gekennzeichnete Grundstruktur von Jacobis Ethik, vermag es kaum mehr zu verwundern, warum seine eigene Rekonstruktion von und Auseinandersetzung mit sowohl der kantischen und fichteschen Autonomieethik wie auch der aristotelischen Ethik hermeneutisch so wenig überzeugen kann – sie erfolgt jederzeit im Licht der Selbstverständigung über ein grundsätzlich anderes Projekt, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass Jacobi der praktischen Vernunft nicht nur in ihrem kantischen, sondern auch in ihrem aristotelischen Verständnis nahezu vollständig gleichgültig gegenübersteht. Es ist kein Zufall, dass Jacobi das Projekt der herzustellenden Eintracht zwischen den Trieben nie als eines der rationalen Abwägung distinkter Arten von Gründen auffasst, sondern es selbst, etwa an einer oben bereits zitierten Stelle des Woldemar, noch einmal in der Begrifflichkeit des Triebs formuliert:
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»Der Mensch ist sich seiner als eines unausgemachten, unvollkommenen, zweydeutigen Wesens bewußt, und ringt nach Einheit und Vollendung: Dieses Ringen ist sein eigentlicher Trieb – der Menschliche.« (JWA 7,1, 444)
Vor diesem Hintergrund lässt sich freilich auch vermuten, dass Jacobi die aufgezeigten, für seine Ethik insgesamt charakteristischen Spannungen selbst vermutlich als positives Zeichen für deren hermeneutische Adäquatheit aufgefasst hätte. Eine Ethik, die »Einheit und Vollendung« (ebd.), und sei es in ihrer eigenen Theoriearchitektur, als gegeben unterstellt, anstatt diese Einheit allenfalls im Lichte des Ringens zwischen den Polen von fundamentalen Spannungsverhältnissen aufscheinen zu lassen, wäre für Jacobi als menschliche schon gescheitert.
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