Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?: Grundzüge der Forschung zwischen Geistesblitz und Großlabor 9783495820940, 9783495491171


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German Pages [168] Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Einführung
Danksagung
1 Wissenschaft als Theoriendynamik
1.1 Wissen, Erkenntnis und Einsicht
1.2 Die Herrschaft der Theorie
1.3 Fakten sammeln und theoretisch ordnen
1.4 Theorien als Instrumente
2 Das wissenschaftliche Experimentieren
2.1 Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments
2.2 Epistemische Dinge in Experimentalsystemen
2.3 Experimentalsystem und Instrumente
3 Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung
3.1 Die Komplementarität von Theoretisieren und Experimentieren
3.2 Konstruktion und Manipulation
3.3 Wissenschaftlichkeit: Die Arbeit mit Modellen
3.4 Modelle außerhalb der Naturwissenschaften
4 Das Wissenschaftliche als soziale Praxis
4.1 Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive
4.2 Wissenschaft als Paradigmendynamik
4.3 Die wissenschaftliche Produktion von Text
5 Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens
6 Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?
6.1 Wie Wissenschaftlichkeit gelehrt wird
6.2 Ein alternatives Bild des wissenschaftlichen Betriebs
6.3 Fazit: Schafft Wissenschaft Erkenntnisse oder Wissen?
7 Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie
8 Literaturverzeichnis
9 Stichwortverzeichnis
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Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?: Grundzüge der Forschung zwischen Geistesblitz und Großlabor
 9783495820940, 9783495491171

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Jörg Phil Friedrich

Ist Wissenschaft, was Wissen schafft? Grundzüge der Forschung zwischen Geistesblitz und Großlabor

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820940

.

B

Jörg Phil Friedrich Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jörg Phil Friedrich

Ist Wissenschaft, was Wissen schafft? Grundzüge der Forschung zwischen Geistesblitz und Großlabor

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jörg Phil Friedrich The Product of Science: Knowlegde or Insight? Basic features of research between flash of inspiration and large-scale laboratory Modern sciences produce knowledge and findings which improve technological advance and our quality of life in every regard. But do the sciences also provide us with a genuine knowledge about the world in the sense of giving us insights into that which is taking place? This book traces the most important approaches, which have in past decades attempted to make intelligible the contemporary forms of scientific research and progress. The book suggests a new approach for a philosophy of science fit for the 21st century. This new approach brings together and unites the various competing trends, from the philosophy of science to the sociology of science. Based on the findings the book discusses whether the sciences do in fact follow »scientific« methods in order to reach their successes and whether what they produce can be considered »knowledge« for us as individuals and for society at large. The discussion also asks whether philosophy itself is a science that produces knowledge.

The Author: Jörg Phil Friedrich, born in 1965, is a philosopher, natural scientist and IT entrepreneur. He completed his studies in physics and meteorology in 1989 with a degree in meteorology. At the beginning of the new millennium, he then studied philosophy and graduated as a Master of Arts. Since then he has written essays and articles on various topics of practical philosophy. His book Kritik der vernetzten Vernunft was published in 2012. In 2019 his book Der plausible Gott was published by Alber.

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Jörg Phil Friedrich Ist Wissenschaft, was Wissen schafft? Grundzüge der Forschung zwischen Geistesblitz und Großlabor Moderne Wissenschaften produzieren Erkenntnisse, die den technischen Fortschritt und unsere Lebensqualität in jeder Hinsicht voranbringen. Aber versorgt sie die Menschen auch mit Wissen über die Welt in dem Sinne, dass sie uns Einblicke gewährt in das, was passiert, dass sie uns Einsichten gibt? Dieses Buch zeichnet die wichtigsten Ansätze nach, die in den letzten Jahrzehnten versucht haben, die gegenwärtige Form der Wissenschaftlichkeit philosophisch verständlich zu machen. Es gewinnt daraus einen neuen Ansatz für eine Wissenschaftsphilosophie des 21. Jahrhunderts, der die verschiedenen Strömungen von der Wissenschaftstheorie bis zur Wissenschaftssoziologie zusammenführt. Auf dieser Grundlage diskutiert es die Fragen, ob einerseits die Wissenschaften wirklich wissenschaftlich vorgehen, um ihre Erfolge zu erreichen, und ob andererseits das, was sie hervorbringen, für uns als Einzelne und als Gesellschaft als Wissen gelten kann. Dabei wird auch die Frage nicht ausgelassen, ob die Philosophie selbst eine Wissenschaft ist, die Wissen schafft.

Der Autor: Jörg Phil Friedrich, Jahrgang 1965, ist Philosoph, Naturwissenschaftler und IT-Unternehmer. Sein Studium der Physik und Meteorologie schloss er 1989 als Diplom-Meteorologe ab. Zu Beginn des neuen Jahrtausends studierte er dann Philosophie und beendete das Studium als Master of Arts. Seitdem schreibt er Aufsätze und Artikel zu verschiedenen Themen der Praktischen Philosophie. 2012 erschien sein Buch Kritik der vernetzten Vernunft. 2019 erschien bei Alber Der plausible Gott.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Sensay – photocase Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49117-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82094-0

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Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1

Wissenschaft als Theoriendynamik . . . . . . . . . .

1.1 1.2 1.3 1.4

Wissen, Erkenntnis und Einsicht . . . . Die Herrschaft der Theorie . . . . . . . Fakten sammeln und theoretisch ordnen Theorien als Instrumente . . . . . . . .

2

Das wissenschaftliche Experimentieren

3

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

21 21 28 44 50

. . . 2.1 Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments 2.2 Epistemische Dinge in Experimentalsystemen . 2.3 Experimentalsystem und Instrumente . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

60 63 69 76

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung . .

79

. . . .

. . . .

. . . .

3.1 Die Komplementarität von Theoretisieren und Experimentieren . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Konstruktion und Manipulation . . . . . . . . 3.3 Wissenschaftlichkeit: Die Arbeit mit Modellen 3.4 Modelle außerhalb der Naturwissenschaften . .

4

. . . .

. . . .

. . . .

. 80 . 84 . 91 . 104

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis . . . . . . . 106

4.1 Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive . . . 107 4.2 Wissenschaft als Paradigmendynamik . . . . . . . . . 116 4.3 Die wissenschaftliche Produktion von Text . . . . . . 122

7 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Inhalt

5

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

7

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie . 148

. . . . . . . . 6.1 Wie Wissenschaftlichkeit gelehrt wird . . . . . . . . . 6.2 Ein alternatives Bild des wissenschaftlichen Betriebs . 6.3 Fazit: Schafft Wissenschaft Erkenntnisse oder Wissen?

134 137 140 145

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

8 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

Was wissenschaftlich ist, ist richtig. Wir lassen uns von wissenschaftlichen Begründungen überzeugen, auch wenn wir sie nicht verstehen. Wir hoffen auf die Ergebnisse der Wissenschaften, denen wir die Lösung all unserer Probleme zutrauen. Keiner anderen menschlichen Praxis trauen wir mehr zu, dem künstlerischen Schaffen nicht, auch der politischen Gestaltung nicht, der religiösen Besinnung schon lange nicht mehr, und der philosophischen Reflexion natürlich schon gar nicht. Dem Argument, dass etwas wissenschaftlich erwiesen ist, haben wir in der Diskussion kaum etwas entgegenzusetzen, die Hoffnung, dass die Wissenschaft das Mittel zum Meistern aller Herausforderungen bereitstellen wird, muss sich am wenigsten den Vorwurf gefallen lassen, Träumerei zu sein. Christoph Hoffmann (2013) 1 nennt die moderne westliche Gesellschaft »verwissenschaftlicht«. Überall begegnet uns die Wissenschaft, oft unscheinbar, meist ist die Durchdringung des Alltags mit Wissenschaftlichkeit gar nicht direkt erkennbar. In den Medien erfahren wir Laien mit Staunen von den großen Erkenntnissen der Grundlagenforschung, die nicht viel mit unserem Alltag zu tun hat. Aber gerade in diesem Alltag, und gestützt auf die Autorität, dass die Wissenschaft in der Lage sei, zu allem die Wahrheit herauszufinden, entfaltet die Wissenschaft eine Faktengewalt, wie Hoffmann den Druck nennt, der uns zwingt, auf der Basis wissenschaftlicher Beurteilungen unser Leben zu ändern. Die Sprache der Autorität ist mit Verweisen auf die Wissenschaft Verweise auf andere Autoren erfolgen, indem in Klammern das Erscheinungsjahr der zitierten Ausgabe eines Werks und die Seitenzahl angegeben wird. Bei aufeinanderfolgenden Zitaten aus dem gleichen Werk wird in Klammern nur noch die Seitenzahl angegeben. Die genauen Angaben, die zum Auffinden der zitierten Ausgabe nötig sind, werden am Ende des Buchs im Literaturverzeichnis angegeben.

1

9 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

durchsetzt, auf »wissenschaftliche Erkenntnisse«, auf »neueste Studien«, auf »Forschungsergebnisse«. Aber was ist überhaupt wissenschaftlich, was meinen wir mit diesem Attribut und welche Vorstellungen von wissenschaftlicher Tätigkeit führen dazu, dass die Wissenschaften so große Autorität besitzen? Was macht Wissenschaftlichkeit aus? Arbeiten alle Wissenschaftler nach den Grundsätzen der Wissenschaftlichkeit, und wie könnte man das überprüfen? Genügt es, an einer Universität ein Fach studiert zu haben, das als Wissenschaft anerkannt ist, und nach den Grundsätzen der betreffenden Disziplin zu arbeiten, um als Wissenschaftlerin zu gelten? Gibt es etwas, was alle Wissenschaften eint und gleichzeitig von allen anderen Praktiken abgrenzt? Die Wissenschaften gliedern sich in eine Vielzahl von Disziplinen und Teilgebieten. Es gibt Theoretikerinnen, Experimentatoren, empirische Forscherinnen 2 . Alle scheinen ihre eigenen Verfahren und Methoden zu haben, die auf den ersten Blick verschiedener nicht sein können. Zugleich wird immer mehr »interdisziplinär« gearbeitet, d. h., Wissenschaftlerinnen und Forscher verschiedener Disziplinen arbeiten zusammen oder gleichzeitig an einem Gegenstand, jeweils mit ihren jeweiligen Methoden. Trotz der Differenz in den Methoden und Forschungsansätzen sind alle Beteiligten davon überzeugt, dass auch die anderen wissenschaftlich arbeiten und dass auch das gemeinsame, zusammengefügte Ergebnis oder die Zusammenfügung der verschiedenen Ergebnisse zu einem Bild ein wissenschaftliches Resultat sei. Welche Idee von »wissenschaftlich« liegt dem zugrunde? Es gibt offenbar Fächer, die studiert man, ohne dass sie als Wissenschaft gelten. Es gibt Menschen, die einmal geforscht haben, dann aber die Wissenschaften verlassen. Es gibt auch immer wieder Berichte, dass Wissenschaftler in ihrer Forschung die wissenschaftlichen Standards verletzen. Es gibt Disziplinen, die beIn diesem Buch wird bei anonymen und allgemeinen Benennungen von Personen und Personengruppen aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit im Wechsel die weibliche oder die männliche Form verwendet. Gemeint sind damit immer alle in Frage kommenden Personen jeglichen Geschlechts.

2

10 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

anspruchen, Wissenschaften zu sein, aber die Anerkennung wird ihnen verweigert. Die Reputation, die aus der Anerkennung folgt, eine Wissenschaft zu sein und wissenschaftlich zu arbeiten, ist in unserer modernen Gesellschaft groß, und so ist auch das Engagement der verschiedenen Fächer, als Wissenschaft anerkannt zu sein, intensiv. Das Gleiche gilt für die Auseinandersetzung um Fächer, die als unwissenschaftlich abqualifiziert oder gar verurteilt werden. Bedenkt man das alles, dann wird man erwarten, dass die Frage der Kriterien, nach denen wir ein Fach als Wissenschaft akzeptieren und die Praxis eines anderen Fachs als unwissenschaftlich ablehnen, längst beantwortet ist. Man wird vermuten, dass es in den Wissenschaften längst Einigkeit darüber gibt, wie man vorgehen muss und welche Anforderungen man erfüllen muss, um als Wissenschaftlerin oder als Forscher zu gelten. Aber dass ist nicht der Fall. Und obwohl sich kluge Köpfe seit fast einem Jahrhundert intensiv damit beschäftigen, was denn nun eigentlich Wissenschaftlichkeit ausmacht, gibt es bis heute zwar viele Vorschläge, wie diese Frage beantwortet werden könnte, aber es gibt keine allgemein akzeptierte Antwort. Das ist umso überraschender, wenn man bedenkt, dass wir intuitiv ziemlich genau wissen, welche der Fächer, die man an Universitäten studieren kann, Wissenschaften sind, und welche nicht: Die Physik gehört ganz sicher dazu, auch die Mathematik, die Chemie und die Biologie. Ganz sicher nicht dazu gehört etwa die Schauspielkunst, die Künste überhaupt. Auch die Journalistik werden wir nicht zu den Wissenschaften zählen. Aber auch die Geschichtswissenschaft und die Literaturwissenschaft zählen wir sicher zu den Wissenschaften. Dann gibt es eine Reihe von Fächern, bei denen wir nicht sicher sind, bei denen wir sagen, dass sie wohl wissenschaftliche Aspekte haben, aber auch Methoden, die nicht wissenschaftlich sind – ohne deshalb gleich unwissenschaftlich zu sein. Gerade diese Unsicherheit bei der Einordnung einer konkreten Disziplin zeigt, dass wir in unserem Urteil ziemlich sicher sind, denn es ist nicht der klare Begriff, der uns fehlt, wenn wir eine Beobachtung nicht ganz klar in eine Kategorie einordnen können, 11 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

sondern einfach die Tatsache, dass sich die Realität eben nie ganz unseren klaren Begriffen unterwirft. Also müssten wir doch eine klare Vorstellung davon haben, was wissenschaftlich ist und was nicht, wenn wir in unserem Urteil, dies sei eine Wissenschaft, jenes nicht, und das da doch ein bisschen, so sicher sind. Buchmüller und Jakobeit (2016, 4) etwa meinen, dass man einen Begriff von Wissenschaft bestimmen kann, der »Sozialund Geisteswissenschaften, Mathematik und Philosophie, moderne Physik und Literaturwissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften, Medizin und Nanowissenschaften« umfasst. Er orientiert sich daran, dass es in allen Wissenschaften »um Wissen oder, präziser gesagt, um Erkenntnis« (1) geht. Zu Wissenschaften werden die verschiedenen Disziplinen, weil sie sich an methodischen Standards orientieren. »Dazu gehören unter anderem die Objektivität bzw. intersubjektive Überprüfbarkeit ihrer Ergebnisse, die prinzipielle Ergebnisoffenheit sowie das Offenlegen von Quellen, Prämissen etc.« (4) Das klingt zunächst einleuchtend, sogleich stellt sich aber die Frage, ob diese Kriterien heute nicht als Norm für jede alltägliche, gesellschaftliche, politische oder juristische Form der Erkenntnisgewinnung und Entscheidungsfindung gilt, etwa, wenn in einem Strafprozess ermittelt wird oder wenn Journalistinnen versuchen, den Hergang eines Ereignisses zu recherchieren. Dass eine Journalistin und ein Richter nicht wissenschaftlich arbeiten, wissen wir ziemlich sicher, aber was ihre Arbeit genau von der aller Wissenschaftlerinnen unterscheidet, ist nicht so einfach zu sagen. Auch wenn wir sicher sind in dem Urteil, eine Disziplin zu den Wissenschaften zu zählen oder sie auszuschließen, können wir nicht so einfach sagen, was uns so sicher macht. Und in solchen Momenten wenden wir uns an die Philosophie. Wir wollen in den nächsten Kapiteln einen Überblick über die Versuche gewinnen, die Wissenschaftlichkeit selbst begrifflich in den Griff zu bekommen, und aus der Vielfalt der Ansätze wollen wir versuchen, das Gemeinsame herauszufinden. Auf diesem Weg werden wir ein neues Verständnis davon bekommen, was Wissenschaftlichkeit ist und wie sie sich vom Nicht-Wissenschaftlichen und vom Unwissenschaftlichen unterscheiden lässt. 12 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

Wir werden uns dabei in beispielhaften Illustrationen vor allem an den Disziplinen orientieren, bei denen kaum jemand Zweifel daran hat, dass es sich um Wissenschaften handelt. Das hat zwei Gründe: Einerseits muss der Begriff von Wissenschaftlichkeit, dem wir nachspüren, sich in diesen Disziplinen auf jeden Fall und möglichst umfassend bewähren können, andererseits hat sich die philosophische Reflexion, die sich seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts den Wissenschaften zuwandte, vor allem mit diesen Disziplinen, den Naturwissenschaften, befasst. Was wir hier am Ende finden werden, taugt aber sicherlich auch zur Einordnung der Disziplinen, die sich mit sozialen, ökonomischen und anderen Gegenständen befassen. Exemplarisch werden wir diese Frage am Schluss am Beispiel der Philosophie selbst untersuchen. Ist die Philosophie selbst eine Wissenschaft, die Wissen schafft? Diese Frage ist in den letzten Jahrzehnten durchaus umstritten, aber es besteht Hoffnung, dass der Wissenschaftsbegriff, der im Folgenden entwickelt wird, hier zur Klärung beitragen kann. Betrachten wir die philosophische Reflexion über das Wesen der modernen Wissenschaft, dann sehen wir ein Spektrum zwischen der Wissenschaftstheorie auf der einen Seite und Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte auf der anderen. Dieses Spektrum der Standpunkte ist groß und die Ansätze, ein Verständnis dessen zu entwickeln, was in allem Tun und allen Ergebnissen von Wissenschaftlern in den wissenschaftlichen Institutionen und im wissenschaftlichen Betrieb sich als grundlegendes Wissenschaftliches durchzieht, gehen in diesem Spektrum fließend ineinander über. Deshalb können wir hier kein erschöpfendes Bild des gegenwärtigen Standes der Debatte zeichnen. Exemplarisch werde ich in den nächsten Abschnitten einige Autoren zitieren, vor allem um deutlich zu machen, wie die Vielfalt der philosophischen Versuche selbst zustande kommt und was ihre Voraussetzungen und Grenzen zur Bestimmung des Wissenschaftlichen sind. Es geht mir dabei nicht darum, die verschiedenen Möglichkeiten, das Wissenschaftliche philosophisch zu fassen, zu beschreiben und etwa ihren deskriptiven oder normativen Umfang zu beurteilen. Vielmehr ist es mein Ziel, aus den vorhandenen Ansätzen abzuleiten, anhand welcher Art von Kriterien 13 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

etwas wie das Wissenschaftliche überhaupt umgrenzt werden kann und was schließlich mit ihm bezeichnet werden kann. Auch wenn die einzelnen Autoren jeweils klar erkennbare und von anderen unterscheidbare Ansätze, das Wesen der Wissenschaftlichkeit zu erfassen, entwickelt haben, so können wir doch recht genau jeweils gewisse zusammenhängende Prämissen und Annahmen erkennen, die zu einer charakteristischen Position in dem genannten Spektrum zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftssoziologie führen. Um diese Prämissen und Annahmen geht es im Folgenden, denn aus ihnen und ihren Begrenzungen werde ich ableiten, wie es überhaupt möglich ist, einen bestimmten konsistenten Begriff des Wissenschaftlichen zu entwickeln. Ein Spektrum zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Orte einen gewissen Abstand zwischen zwei Endpolen haben, und dass sie untereinander wiederum eine Nähe zueinander haben können, wobei zwei, die sich nahe sind, von den Endpolen ungefähr den gleichen Abstand haben. Worin zeigt sich eine solche Nähe der Positionen? Was auf den weiteren Seiten konkret gezeigt und differenziert werden wird, möchte ich hier schon einmal skizzieren, damit deutlich wird, warum das Bild eines Spektrums überhaupt tragfähig ist. Wissenschaften produzieren Wissen, das bringt das Wortspiel um das deutsche Wort, welches sich im Titel des Buchs findet, sehr schön zum Ausdruck. 3 In welchem Sinne das, was da produziert wird, als Wissen, als Einsicht oder als Erkenntnis bezeichnet werden kann, wird uns im Weiteren beschäftigen. In jedem Fall bring Wissenschaft etwas hervor, ist sie produktiv. Die philosophische Annäherung an einen solchen Produktionsprozess kann einerseits seine Ergebnisse oder Produkte ins Zentrum der Reflexion stellen oder sich andererseits das Handeln, die Praxis der Produzierenden, also der Wissenschaftlerinnen und WissenSelbstverständlich handelt es sich hierbei wirklich nur um ein Spiel mit dem Wort, denn die Silbe »schaft« hat in »Wissenschaft« natürlich die gleiche Bedeutung wie etwa in »Gewerkschaft«, »Kundschaft« und »Belegschaft«.

3

14 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

schaftler, zum Gegenstand machen. Das Produkt wissenschaftlicher Arbeit, wenn sie gelingt, ist eine bestimmte Art von Wissen, das Tun der Menschen in der Wissenschaft wiederum ist die Wissensproduktion, das Herstellen dieser bestimmten Art von Wissen. »Wie sieht wissenschaftliches Wissen aus?« ist die erste Frage, die für das Erkennen von Wissenschaft sinnvoll gestellt werden kann. »Was tun Menschen, die wissenschaftliches Wissen produzieren?« wäre die andere Frage. Karl Popper als einer der Stammväter der Wissenschaftstheorie hat sich in seinem Klassiker, der Logik der Forschung ausdrücklich für die erste Frage entschieden (2005, 7), und in jüngster Zeit hat etwa Paul HoyningenHuene eine Antwort auf die Frage »Was ist Wissenschaft?« zu geben versucht, indem er sich auf wissenschaftliches Wissen konzentrierte: »I will mostly deal with the epistemic aspects of science, i. e. science in the sense of scientific knowledge.« (»Ich werde mich vor allem mit den epistemischen Aspekten der Wissenschaft beschäftigen, d. h., mit Wissenschaft im Sinne von wissenschaftlichem Wissen«, 2013, 9) Dem gegenüber nehmen Wissenschaftssoziologen und -historiker wie etwa Bruno Latour, Steve Woolgar oder Steven Shapin das praktische Handeln der Wissenschaftler in den Blick (Latour und Woolgar 1986, 27, Shapin 2008, XV). Wenn wir daraus als vorläufiges Kriterium zur Einordnung ableiten, dass Wissenschaftstheorie die Wissenschaften von ihren Theorien her zu verstehen versucht, in denen das wissenschaftliche Wissen dokumentiert ist, während Wissenschaftssoziologie von der wissenschaftlichen Praxis aus startet, so bedeutet das nicht, dass im wissenschaftstheoretischen Begriff des Wissenschaftlichen die Praxis, etwa das Experimentieren oder das Beobachten, keine Rolle spielt oder das andererseits die Wissenschaftssoziologie sich nicht dafür interessieren würde, was am Ende bei der Arbeit der Wissenschaftler herauskommt. Gleichwohl sind aber durch die verschiedenen Ausgangspunkte weitere Schwerpunkte mitbestimmt. Aus der Konzentration der Wissenschaftstheorie auf die Frage, was Theorien in den Wissenschaften ausmacht und was sie leisten, leitet sich eine zurückhaltende, möglichst passive Rolle der Wissenschaftlerin gegenüber ihrem Gegenstand ab. Wissen15 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

schaftlerinnen sind hier zunächst eben Theoretikerinnen, die ihren Gegenstand, etwa die Natur, zu erklären versuchen, möglichst ohne ihn zu stören. Wissenschaftssoziologen, die von der praktischen Tätigkeit etwa der in Labors experimentierenden Wissenschaftler ausgehen, sehen als erstes den verändernden, stabilisierenden oder vereinfachenden Eingriff in den Gegenstand, und Theorie kann für sie damit kaum den ungestörten, sondern immer nur den im Experiment umgeformten Gegenstand, letztlich sogar nur das Experiment selbst beschreiben. Ebenfalls aus der Fokussierung auf die Theorie ergibt sich, dass die Wissenschaftstheorie die Wissenschaftlerin selbst als eine mehr oder weniger idealisierte Person darstellt, die im Wesentlichen nichts anderes tut, als wissenschaftlich zu arbeiten. Vorstellbar ist dabei letztlich sogar eine einzelne Wissenschaftlerin, die etwa Theorien aufstellt, entwickelt, prüft und verwirft oder weiterentwickelt. Die Tatsache, dass Wissenschaft in einem sozialen Zusammenhang stattfindet, wird von der Wissenschaftstheorie zwar nicht vollständig ignoriert, sie kommt aber vor allem deshalb zur Geltung, weil der Gegenstand der Wissenschaft die Fähigkeiten des Einzelnen überfordert oder weil der Einzelne nun einmal kein idealer Wissenschaftler ist, und seine Schwächen und Mängel durch Kritik und Korrektur anderer Wissenschaftler ausgeglichen werden müssen. Wer sich umgekehrt von der Praxis her den Wissenschaften nähert, der sieht von Beginn an eine Gemeinschaft, einen Betrieb, eine gesellschaftliche Organisation am Werke. Das impliziert zweierlei: Zum einen sieht die Wissenschaftssoziologie die Wissenschaften eingebunden in weitere, nicht-wissenschaftliche Restriktionen und Voraussetzungen, die die Wissenschaften wesentlich mit formen. Zum anderen begegnet dem Wissenschaftssoziologen nie ein idealer Wissenschaftler, sondern immer ein Mensch, der durch Leidenschaften, nicht-wissenschaftliche Ziele und Bedingtheiten geprägt ist, und dessen wissenschaftliches Arbeiten nie davon losgelöst betrachtet werden kann, dass es außerwissenschaftliche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen hat. Vorläufig können wir also das Spektrum der philosophischen 16 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

Reflexion über das Wissenschaftliche aufziehen zwischen einer theoretischen Erfassung eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch Personen, die als mehr oder weniger ideale Wissenschaftler Wissen gewinnen, auf der einen Seite und einer praktischen Bearbeitung (oder Gewinnung) eines wissenschaftlichen Gegenstandes durch interessierte und gesellschaftlich eingebundene Menschen auf der anderen Seite. Aufgrund der Idealisierung oder Abstraktionen, die die Wissenschaftstheorie vornehmen muss, läuft sie immer Gefahr, die wirkliche Wissenschaft zu verfehlen, insbesondere die Disziplinen, die weit von den Idealen entfernt sind. Andererseits besteht für die Wissenschaftssoziologie das Risiko, dass sie durch die Hinzunahme aller denkbaren außerwissenschaftlichen Bedingungen des Handelns der Wissenschaftler die Besonderheiten des Wissenschaftlichen aus dem Blick verliert. Am Ende kann sie vielleicht etwas über kulturelle Praxis im Allgemeinen und am Beispiel von Wissenschaften sagen, findet aber keine Kriterien, an denen die offenbar intuitiv erkennbaren Unterschiede der Wissenschaften etwa zu religiösen, ökonomischen oder anderen gemeinschaftsstiftenden Tätigkeiten festzumachen wären. Diese hier zunächst thesenhaft vorgestellten Unterscheidungen werden wir in den nächsten Abschnitten exemplarisch prüfen. Bei dieser Untersuchung folge ich drei Ideenbündeln, die wir in der wissenschaftsphilosophischen Debatte der letzten Jahrzehnte identifizieren können und zwischen denen eine Vielzahl von Verknüpfungen bestehen. Während Wissenschaftstheoretiker auf der einen Seite in erster Linie die Dynamik von Satzsystemen untersucht haben, die aus Hypothesen, Beobachtungssätzen und ähnlichem bestehen und letztlich wissenschaftliche Theorien konstituieren, steht auf der Seite der Wissenschaftssoziologie das soziale Verhalten der handelnden Personen, vor allem der Wissenschaftler, im Zentrum der Betrachtungen. Dazwischen, und mit diesen beiden Bündeln eng verknüpft, wurde ein Wissenschaftsverständnis entwickelt, das die Praxis des Experimentierens ins Zentrum rückt. Diese drei Grundideen sollen im Weiteren als Leitfaden dafür dienen, zu versuchen, einen konsistenten Begriff des Wissenschaftlichen zu erarbeiten. 17 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Einführung

Ziel dieses Buches ist es also nicht, einen Überblick über alle Disziplinen zu geben, die heute zu den Wissenschaften gezählt werden, ihre Methoden und Ergebnisformen darzustellen, um dann vielleicht so etwas wie Familienähnlichkeiten zwischen Wissenschaften zu ermitteln. Vielmehr geht es darum, aus einer kritischen Bestandsaufnahme der philosophischen Ansätze des 20. Jahrhunderts Begriffe zu finden, die verständlich machen, warum bestimmte Praktiken als wissenschaftlich gelten und inwiefern die so verstandenen Disziplinen gerechtfertigter Weise beanspruchen können, Wissen zu generieren.

18 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Danksagung

Meine Beschäftigung mit den Fragen der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften hat einen Zeitraum von fast 10 Jahren eingenommen und schließlich zu dem vorliegenden Büchlein geführt. Viele anregende Gespräche haben das Projekt weitergebracht. Nennen möchte ich Prof. Dr. Thomas Bedorf, der mich vor allem zu Beginn durch kritische Lektüre der ersten Entwürfe unterstützt hat. Wertvolle Hinweise, insbesondere zu Aristoteles, verdanke ich Prof. Dr. Niko Strobach. Mein besonderer Dank gilt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Arbeitskreises am Zentrum für Wissenschaftstheorie der Universität Münster für die unzähligen Anregungen und kritischen Diskussionen, insbesondere Dr. Markus Seidel, der durch die Organisation des Arbeitskreises wie auch durch seine fundierten Hinweise mein Denken immer wieder vorangebracht hat. Steffen Bonhoff vom Verlag Karl Alber danke ich für die kritischen und hilfreichen Hinweise zur ersten Fassung des Manuskriptes.

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1 Wissenschaft als Theoriendynamik

Folgt man der gängigen Vorstellung von der Entstehung des wissenschaftlichen Denkens, dann hat die Dominanz des theoretischen Wissens als ausgezeichneter und höchster Form des wissenschaftlichen Wissens eine lange Tradition. Als ersten Zeugen können wir Aristoteles, etwa mit dem ersten Buch seiner Metaphysik, aufrufen. Es lohnt sich für eine fundierte Annäherung an die Frage, ob Wissenschaft Wissen hervorbringt und ob dieses Wissen tatsächlich in den Theorien der Wissenschaftler gefunden werden kann, einen Blick in die Werke zu werfen, die am Beginn unseres philosophischen Denkens stehen. Allerdings ist hier Vorsicht geboten, denn die Übersetzungen, in denen uns heute der zweieinhalb Jahrtausende alte Text des griechischen Denkers zumeist begegnet, sind eher Interpretationen als wörtliche Übertragungen. Eine wörtliche exakte Übertragung in eine moderne Sprache ist im Grunde gar nicht möglich, zu weit liegen die Bedeutungsspannen der griechischen Begriffe mit denen der heutigen Begriffe auseinander. Trotzdem, oder gerade deswegen ist der Text des Aristoteles in den verschiedenen Übersetzungen eine gute Quelle, um zu verstehen, warum in der abendländischen Tradition das theoretische Wissen so hoch geschätzt ist – und was damit überhaupt gemeint ist.

1.1 Wissen, Erkenntnis und Einsicht Die Metaphysik des Aristoteles beginnt mit dem Urteil, dass es zur Natur des Menschen gehört, Wissen oder Erkenntnisse erlangen zu wollen: πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει (pántes ántropoi tou eidénai orégontai phýsei, Aristoteles, Meta-

21 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

physik, 980a) 4 . Die Übersetzer sind sich hier auch recht einig, in der Fassung von Bonitz, die etwa von 1890 stammt, lautet der Satz »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen« (Aristoteles, 1995, 1) während Adolf Lasson 1907 übersetzt »allgemein in der menschlichen Natur liegt der Trieb nach Erkenntnis« (Aristoteles 2014, 9). Zunächst scheint es so, als ob beide Übersetzungen das gleich sagen, denn bezeichnen die Begriffe Wissen und Erkenntnis nicht dasselbe? Für die Beantwortung der Leitfrage dieses Buches, ob Wissenschaft etwas sei, das Wissen schafft, ist es ratsam, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es einen Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis gibt. Ohnehin kommt man schon bei diesem Satz ins Zweifeln darüber, ob Aristoteles hier tatsächlich über das spricht, was wir heute als Wissen bezeichnen, und ob es wenigstens mit dem zu tun hat, was wir unter Berufung auf Aristoteles’ Lehrer Platon als »wahre gerechtfertigte Überzeugung« benennen. 5 Denn Aristoteles verwendet an der Stelle, wo seine Übersetzer »Wissen« oder »Erkenntnis« übersetzen, nicht das Wort ἐπιστήμη (epistéme), das sein Lehrer benutzt hat (Platon, Theaitetos 201d und Symposion 202a), sondern εἰδέναι (eidénai) (Aristoteles, Metaphysik, 980a), das zu οἶδα (oida) gehört, ein Wort, das Pape (1914, 297) im Handwörterbuch der griechischen Sprache zwar mit »wissen«, aber auch mit »sehen« übersetzt. »Sehen« passt auch deshalb besser, weil Aristoteles in den weiteren Sätzen vor allem vom Gesichtssinn spricht, davon, dass die Menschen das Sehen allen anVerweise auf die griechischen Originaltexte erfolgen bei Aristoteles entsprechend der Bekker-Zählung und bei Platon entsprechend der StephanusPaginierung. 5 Dass diese kurze, prägnante Definition nicht alle Formen dessen umfasst, was wir intuitiv als Wissen bezeichnen, hat sich spätestens seit der Debatte um diesen Begriff im Anschluss an Gettier im letzten halben Jahrhundert gezeigt (siehe Brendel und Gähde 2016). Für Wissen im Sinne von Erkenntnis, auf die sich Platon mit dem Wort ἐπιστήμη bezieht, kann man aber sicherlich sagen, dass Wahrheit und Rechtfertigung zwar nicht ausreicht, damit eine Überzeugung als Erkenntnis gilt, aber doch notwendig ist. Wobei dabei immer bedacht werden muss, dass etwas als Erkenntnis gelten kann, was sich aber später als Irrtum herausstellt, weil es zwar mit guten Gründen rechtfertigt wurde, aber doch nicht wahr war. 4

22 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissen, Erkenntnis und Einsicht

deren Sinnen vorziehen. Am Besten ließe sich der erste Satz der Metaphysik vielleicht übersetzen mit »Alle Menschen suchen von Natur aus nach Einsicht.« Einsicht kann aber viele Formen haben. Am deutlichsten wird das, wenn wir an die Verwendung des Verbs »einsehen« denken. »Ich sehe etwas ein« das bedeutet, dass ich mich von der Logik einer Argumentation überzeugen lasse. Das, was ich dann habe, ist »Einsicht«, mir wird etwas »einsichtig«, das heißt, mir wird klar, dass die Dinge offensichtlich so liegen, wie ich sie nun sehe. Gleichbedeutend ist dann, dass ich nun weiß, dass es genau so ist. Diese Einsicht ist oft mit einer moralisch positiven und ästhetisch angenehmen Beurteilung dessen, was ich nun weiß, verbunden. Wissen im Sinne einer Einsicht ist damit verbunden, dass ich das nun Gewusste auch akzeptieren und annehmen kann. Dass es für Aristoteles wichtig ist, zwischen Einsicht und Erkenntnis zu unterscheiden, zeigt er auch an anderer prominenter Stelle, nämlich zu Beginn seiner Physik. τὸ εἰδέναι καὶ τὸ ἐπίστασθαι (to eidénai kai to epistastai) (Aristoteles, Physik, 184a) – die Einsicht und die Erkenntnis sind es, die durch das Kennenlernen von Ursachen und Prinzipien erlangt werden können. Einsicht und Erkenntnis gehören also zusammen, sie haben die gleiche Grundlage, sind aber eben nicht dasselbe. So verstanden wird der Satz des Aristoteles, dass es zur Natur des Menschen gehöre, nach Einsicht zu streben, selbst einsichtig und akzeptabel. Er muss nicht zwingend bedeuten, dass die Menschen unbedingt ein Erkenntnisstreben haben, wie wir es in der Gegenwart als typisch für die moderne Gesellschaft annehmen, wenn wir in den Medien präsentiert bekommen, welche Erkenntnisse die Wissenschaften gerade wieder hervorgebracht und produziert haben, um sie sogleich technisch in nützliche Verfahren und technische Geräte zum Nutzen und zum Fortschritt der Gesellschaft anzuwenden. Es lohnt sich, die Lektüre der Metaphysik des Aristoteles noch etwas fortzusetzen um zu erfahren, dass Aristoteles eine Form der Einsicht besonders hoch schätzt: Die Einsicht in die allgemeinen Zusammenhänge, das allgemein formulierte Verständnis von Verursachung und Wirkung. Aristoteles erläutert das am Beispiel der 23 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Heilung von Krankheiten: Dabei mag es Personen geben, denen es gelingt, den einen oder den anderen Menschen zu heilen, indem sie dieses oder jenes tun. Sie stützen ihre Fähigkeiten auf Erfahrung. Sie arbeiten empirisch, um das griechische Wort, das Aristoteles benutzt, direkt ins Deutsche herüberzuholen. Es gibt hingegen andere, die an verschiedenen Kranken eine bestimmte Krankheit erkennen, und die einen Begriff von dieser Krankheit haben, ihr also einen Namen geben und ihre wesentlichen Merkmale definieren können, die sodann eine allgemeine Regel besitzen, nach der gegen diese Krankheit jenes Mittel hilft, und die heilen, indem sie diese Regel anwenden. Aristoteles gesteht zu, dass die Empiriker womöglich im Heilen erfolgreicher sind als die letzteren, weil schließlich immer ein einzelner konkreter Mensch geheilt werden muss, die Regel aber über etwas Allgemeines spricht. Trotzdem schätzt er den, der nach der Regel arbeitet und Gründe kennt, höher, und zwar eben deshalb, weil dieser eine Einsicht hat, die er zudem auch lehren kann. Für das, was diese höhergeschätzten gegenüber den ersten auszeichnet, verwendet Aristoteles das Wort τέχνη (téchne), welches wir heute noch benutzen, wenn wir von »Technik« sprechen, und so bezeichnet er sie auch als »Techniker«. Bonitz übersetzt dies mit »Kunst« und bezeichnet die Einsichtigen als »Künstler«, während Lasson hier schon das Wort »Theorie« und den »Theoretiker« verwendet. Das ist insofern überraschend, dass das Wort »Theorie« ja selbst aus dem Griechischen stammt und auch schon von Platon für das »wissenschaftliche Betrachten« genutzt wird, von Aristoteles hier aber nicht verwendet wird. Sowohl Bonitz als auch Lasson bringen zudem für das, was der »Techniker« sich als Einsicht aufbaut, das Wort »Wissenschaft« ins Spiel, sie übersetzen damit das schon genannte Wort ἐπιστήμη (epistéme), das Schleiermacher bei Platon wiederum schlicht mit »Wissen« oder »Erkenntnis« übersetzt, wobei dieses Wort dort eben für die »mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung« steht. Ein Grundzug der Wissenschaft ist dann also das Hervorbringen von richtigen und vor allem auf Erklärung gründenden Vorstellungen – von Erkenntnissen. Zweierlei hat dieser Ausflug in die Schriften des Aristoteles 24 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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und seine Übersetzungen erbracht: Zum einen können wir feststellen, dass Aristoteles tatsächlich bereits eine Form von Wissen auszeichnet, welches sich nicht in jedem Einzelfall der empirischen Beobachtung oder des Handelns bewähren muss, aber ihm trotzdem als höchste Form der Erkenntnis gilt, weil es auf der Einsicht in allgemeine Zusammenhänge des Verursachens, auf der Bildung von Begriffen, die verschiedenes unter einer gemeinsamen Vorstellung zusammenbringen und auf der Bestimmung von allgemeinen Regeln und Prinzipien des Bewirkens beruhen. Zum anderen sehen wir in den Übersetzungen, die um 1900 entstanden sind, den Wunsch, die zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien in der Tradition des von Aristoteles so hoch geschätzten Wissens zu verorten. Aristoteles wird so übersetzt, dass sich sein Text als Beginn einer ehrwürdigen und langanhaltend erfolgreichen Tradition wissenschaftlichen Arbeitens sehen lässt, in welcher Theorien die Krone und das Ziel aller Anstrengungen sind. Vielleicht war das Denken des Aristoteles unserem heutigen Denken viel fremder als die Übersetzungen uns glauben machen wollen. Letztlich basiert ein gehöriger Teil des Selbstverständnisses der europäischen Philosophietradition auf der Idee, dass sie einem Denken folgt, das etwa vor 2.500 Jahren in Griechenland begann und mit Platon und Aristoteles seine ersten Höhepunkte fand. Seitdem kreist dieses Denken, so der weitgehende Konsens der Beteiligten, auf verwandten Wegen immer wieder um die gleichen großen Menschheitsfragen, die schon deshalb die ganz großen Fragen sein müssen, weil sie eben in dieser Denktradition schon so lange bewegt werden. Man muss sich jedoch klar machen, dass die Verwandtschaft im Wesentlichen durch Übersetzungen und Lesetraditionen bezeugt wird, die eben genau diese Verwandtschaft auch finden wollten. Eine notwendige Dezentrierung des europäischen Denkens könnte auch damit einsetzen, die Fremdheit des Denkens der »alten Griechen« für unser heutiges Denken zu zeigen. In jedem Fall aber sah bereits Aristoteles das Ziel aller menschlichen Einsicht darin, allgemeine Sätze über die Wirklichkeit aufzustellen, Sätze, die sich vielleicht nicht in jedem einzelnen kon25 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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kreten Fall bewähren, etwa bei der Heilung eines konkreten Kranken, die aber den grundsätzlichen Lauf der Dinge einsichtig und durchschaubar machen, um in Aristoteles’ Redeweise zu bleiben. Solche allgemeinen Sätze werden im 19. Jahrhundert schon als Theorien bezeichnet, weshalb die Übersetzer des Aristoteles auch zu diesem Wort neigen. In dieser Tradition fasste auch Hegel, der die Entstehung der modernen Naturwissenschaften erlebte, den Zweck der empirischen Wissenschaften auf. Über sie schreibt er 1830, »das Wesentliche, das sie bezwecken und hervorbringen, sind Gesetze, allgemeine Sätze, eine Theorie; die Gedanken des Vorhandenen.« (Hegel, 47) Ob die Satzsysteme, in denen zu Hegels Zeiten wissenschaftliche Erkenntnisse als Theorien zusammengefasst werden, noch als Einsichten im Sinne des Aristoteles aufgefasst werden können, wird uns später beschäftigen. Auf jeden Fall wird verständlich, dass die europäische Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf gestimmt war, in den wissenschaftlichen Theorien den Zweck aller empirischen Wissenschaften und zugleich die reinsten und besten Formen menschlichen Wissens überhaupt zu sehen. Sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich Wissen im Sinne einer Einsicht? Diese Frage treibt die Überlegungen der folgenden Kapitel voran. Das Ziel dieses Buchs ist dabei, selbst eine Einsicht zu gewinnen: Einsicht in das, was als Wissenschaft gilt. Wir werden also versuchen, zu verstehen, was das Wissenschaftliche im Tun der Wissenschaftler ist. Dabei orientieren wir uns an den verschiedenen philosophischen Ansätzen, die moderne Wissenschaft auf den Begriff zu bringen, zu verstehen, was das Wissenschaftliche ausmacht. Am Ende werden wir diskutieren, ob dieses wissenschaftliche Vorgehen, welches alle Wissenschaften bestimmt, tatsächlich Einsicht bringt, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse als Wissen angesehen werden können, nach dem, wie Aristoteles meint, alle Menschen von Natur aus streben. Die Tatsache, dass wir gebannt, begeistert und hin und wieder erschrocken den Medienberichten über die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften folgen, ist dafür keine Garantie. In den 1930er Jahren begann eine intensive Beschäftigung 26 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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einiger Philosophen mit der Frage, was wissenschaftliches Arbeiten eigentlich ausmacht. Die Philosophie fühlte sich sicherlich herausgefordert durch eine stürmische und revolutionäre Entwicklungsphase der theoretischen Physik, die ihren Anfang mit Albert Einsteins Formulierung der Speziellen Relativitätstheorie nahm und gefolgt wurde durch die Entwicklung der Quantenmechanik durch Bohr, Schrödinger und Heisenberg. Es stellte sich die Frage, wie die Wissenschaft von anderen menschlichen Tätigkeiten abgegrenzt werden könnte und ob es etwas gibt, was ihren Erfolg verständlich machte, ihre offenbar große Bedeutung für das Verstehen der Welt und für technische Entwicklungen, die die Menschen beeindruckten und das Leben erleichterten sowie enorme neue Möglichkeiten menschlicher Betätigung schufen. Man kann die Rolle, die so verstandene Wissenschaften für die Gesellschaft, für die Menschen und für ihr Leben spielt, durchaus problematisch sehen oder als fragwürdig betrachten. Eine Reihe von Philosophen, die sich in dieser Zeit für die Wissenschaften zu interessieren begannen, stand den wissenschaftlichen Disziplinen insbesondere den Naturwissenschaften jedoch grundsätzlich zustimmend gegenüber. Der Erfolg und die segensreiche Rolle für die Menschheit waren ihnen offensichtlich und es galt, diesen Erfolg verständlich zu machen, die Methoden zu beschreiben, die einen solchen Erfolg ermöglichten und durch die präzise Darstellung dieser Methoden selbst einen Beitrag zur Sicherung des wissenschaftlichen Fortschritts zu leisten. Im Folgenden werde ich, ausgehend von Karl Poppers fundamentalem Beitrag zur Wissenschaftstheorie im 20. Jahrhundert, den Weg und das Spektrum dieses Feldes der philosophischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften exemplarisch nachzeichnen. Dabei werde ich Vollständigkeit weder hinsichtlich der Standpunkte noch hinsichtlich der Aspekte und Einzelfragen auch nur annähernd anstreben. Vielmehr werde ich diejenigen grundlegenden Thesen und Annahmen beleuchten, die zu einer konsistenten Synthese eines Konzepts der Wissenschaftlichkeit beitragen können. Auch wenn sich die Ansätze, die in diesem Kapitel präsentiert und diskutiert werden, vor allem auf die Naturwissenschaften 27 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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beziehen, ist das daraus gewonnene Verständnis des Wissenschaftlichen als Theoriendynamik nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt. Wir werden sehen, dass sich die Konzepte der Wissenschaftstheorie zwanglos auch zur Rekonstruktion der Wissenschaftlichkeit sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen nutzen lassen.

1.2 Die Herrschaft der Theorie Unter den Denkern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die dem Erfolg der Wissenschaften philosophisch auf die Spur kommen wollten, spielt Karl Popper mit seinem Werk Logik der Forschung eine zentrale Rolle. Der Klassiker der Wissenschaftstheorie erschien 1935 und erreichte bis 2005 elf Auflagen. Das Buch wurde dabei vom Autor immer wieder ergänzt und erweitert. In Vorworten zu neueren Auflagen sowie in umfangreichen Anhängen nahm Popper zu Kritiken Stellung und baute Ideen weiter aus. Popper hat sich aber auch in anderen Werken zu wissenschaftstheoretischen Fragen geäußert und auf alternative philosophische Reflexionen über die Wissenschaften reagiert. Insbesondere finden sich kritische Auseinandersetzungen mit der Wissenschaftssoziologie im zweiten Band von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, dort hat Popper auch seinen eigenen Standpunkt weiterentwickelt. Für uns ist Poppers Antwort auf die Frage, wann etwas als wissenschaftlich anzuerkennen ist und wann nicht, zunächst sekundär. Bedeutsam ist hingegen, worauf Popper und mit ihm viele Wissenschaftstheoretiker, die sich auf Popper beziehen, die ihn kritisieren oder seine Gedanken weiter entwickeln, oder die in Abgrenzung von Popper ganz eigenen Antworten entwickelt haben, die Frage nach dem Wissenschaftlichen überhaupt beziehen, was letztlich der zu befragende Gegenstand ist, der schließlich als wissenschaftlich anerkannt oder als vor- oder unwissenschaftlich ausgegrenzt wird. Popper geht davon aus, dass es »das Ziel der empirischen Wis28 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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senschaft ist, befriedigende Erklärungen zu finden für alles, was uns einer Erklärung zu bedürfen scheint« (Popper 1973, 229). Damit ist er von der auf Platon zurückgehenden Definition von Wissen als wahrer, gerechtfertigter Überzeugung sicher nicht weit entfernt, man kann wohl sagen, dass Popper in diesem Sinne als Ziel der Wissenschaften ansetzt, über Beobachtungen Wissen zu erlangen. Erklärungen sucht Popper in bestimmten »Klassen von Sätzen« (ebd.), in denen »das Bekannte durch das Unbekannte« (230) erklärt wird. Für Popper ist das »zentrale Problem der Erkenntnislehre […] das Problem des Wachstums oder des Fortschrittes unseres Wissens« (2005, XX). Dass er diesem Fortschritt zustimmt und ihn durch seine Untersuchungen befördern möchte, sagt Popper ausdrücklich bereits im Vorwort der Logik der Forschung (vgl. 2005, XXIV). Popper würde also die Frage, ob Wissenschaft das ist, was Wissen schafft, ganz selbstverständlich mit »Ja« beantworten. Welcher Art ist aber das wissenschaftliche Wissen, welches Popper zufolge stetig wächst und fortschreitet? In der für ihn typischen Klarheit gibt Popper darüber gleich zu Beginn seiner Logik der Forschung Auskunft. Er charakterisiert die wissenschaftliche Forschungstätigkeit dadurch, dass sie darin besteht, »Sätze oder Systeme von Sätzen aufzustellen und systematisch zu überprüfen; in den empirischen Wissenschaften sind es insbesondere Hypothesen, Theoriensysteme, die aufgestellt und an der Erfahrung durch Beobachtung und Experiment überprüft werden« (2005, 3). Die Tätigkeit, welche Popper also daraufhin überprüfen will, ob sie das Attribut »wissenschaftlich« verdient, ist die Produktion von Sätzen und Satzsystemen. In diesen Satzsystemen ist das Wissen dokumentiert. Genauer gesagt, ist es nicht die Tätigkeit der Produktion dieser Satzsysteme, sondern die Struktur dieser Systeme und die Dynamik ihrer mehr oder weniger notwendigen Veränderung. Man könnte ja zunächst meinen, dass somit auch etwa das Schreiben eines Romans, eines Zeitungsartikels oder einer politischen Rede, also die Erstellung eines jeden Textes, der aus zusammenhängenden Sätzen besteht, für die Prüfung auf ihre Wissenschaftlichkeit in Frage käme. Auch ein Schriftsteller und 29 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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ein Dichter oder ein Politiker könnte ein wissenschaftlicher Forscher sein, dessen Tätigkeit als Aufstellen und systematische Überprüfung von Satzsystemen angesehen werden könnte. Aber das Aufstellen und systematische Überprüfen von Satzsystemen in der Wissenschaft ist nicht gleichzusetzen mit dem Schreiben eines Textes. Die Satzsysteme, denen Poppers Interesse gilt, bestehen aus »allgemeinen Sätzen« und »besonderen Sätzen« und diese sind durch »logische Schlüsse« miteinander verbunden (ebd.). Sätze sind in diesen Systemen Aussagen, und diese haben eine bestimmte Gültigkeit, sie sind entweder allgemein, universell gültig oder in besonderen, einzelnen Situationen. Das Aufstellen von Sätzen und Satzsystemen und ihre systematische Überprüfung ist eine Tätigkeit, die dafür sorgt, dass aus der Gültigkeit einiger Sätze die der anderen Sätze des Systems folgt und dass insgesamt ein System entsteht, welches ausschließlich aus Sätzen besteht, die zueinander nicht im Widerspruch stehen und die durch logisches Schließen auseinander abgeleitet werden können. So konstruierte Satzsysteme dokumentieren wissenschaftliches Wissen, oder anders gesagt: Es gibt gewisse Verfahren, deren Anwendung garantiert, dass Satzsysteme entstehen, die Wissen dokumentieren, das den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erfüllt. In dieser Sicht auf die wissenschaftliche Forschungstätigkeit ist Popper sich einig mit einer Reihe von Philosophen seiner Zeit, mit denen er sich in der Logik der Forschung dennoch besonders vehement auseinandersetzte, insbesondere den Mitgliedern des Wiener Kreises (Carnap, Reichenbach, Kraft, Schlick, vgl. die Fußnoten in Popper 2005, 4–12) 6 . Differenzen zwischen Popper Auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten des Wissenschaftsverständnisses von Popper und den Positivisten des Wiener Kreises ist von verschiedenen Autoren hingewiesen worden, ausführlich dargestellt hat sie etwa Hacking (1996, 20 ff.). Auch Hoyningen-Huene (2013, 163) verweist ausführlich auf die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Wissenschaftstheoretikern. Sismondo (2004, 4) kennzeichnet diese Gemeinsamkeit dadurch, dass sowohl Popper als auch die Positivisten die Wissenschaften als eine »formale Aktivität« ansehen, die durch eine »strikte Methode« der Theoriebildung und -prüfung bestimmt wird – die Differenz zwischen ihnen liegt nur in der genauen Bestimmung dieser Methode.

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und dem Wiener Kreis oder später allgemein den »Sprachanalytikern« (mit denen Popper sich im Vorwort zur ersten englischen Ausgabe der Logik der Forschung von 1959 ausführlich beschäftigt) bestehen nicht darüber, dass in den Wissenschaften im Wesentlichen logisch konstruierte Satzsysteme aufgestellt werden. Die Meinungsverschiedenheiten bestehen darin, wie das Verfahren des Aufbauens dieser Satzsysteme gestaltet sein muss, damit es wissenschaftlich genannt werden kann, und wie die Verbindung der Satzsysteme mit der Erfahrung, der Beobachtung und dem Experiment, zu erfolgen hat. Aufgrund der bestimmenden Bedeutung, die Popper dem Aufstellen und systematischen Überprüfen von Satzsystemen in der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit gibt, ist es sicherlich gerechtfertigt, von einem Primat der Theorie in der Wissenschaftstheorie Poppers zu sprechen. Dies gilt in zweifachem Sinne. Erstens nimmt Popper an, dass das Erarbeiten von Theorien (eben den systematisch aufgebauten Satzsystemen) das vorrangige Ziel der wissenschaftlichen Forschung ist, dem andere Tätigkeiten, insbesondere die Beobachtung und das Experiment, zu dienen haben. Zweitens ist es eben auch der wesentliche Inhalt der wissenschaftlichen Arbeit, Theorien zu bilden, denen etwa das Beobachten und Experimentieren unterzuordnen sind, im besten Falle sind diese Tätigkeiten selbst Teil des Theoriebildungsverfahrens. Dies wird vor allem dort deutlich, wo Popper sein Verständnis des Zusammenhangs von Theorie und Experiment darstellt: »Der Experimentator wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen« (2005, 84). Aus dem Satzsystem, welches in der theoretischen Forschungstätigkeit aufgestellt wurde, ergeben sich also Fragen, die das Experiment zu beantworten hat. Bevor der Experimentator überhaupt mit der Arbeit beginnen kann, »muss der Theoretiker seine wichtigste Aufgabe bereits gelöst haben: die Frage möglichst scharf zu formulieren. Er ist es, der dem Experimentator den Weg weist.« (ebd.) Ohne Theorie gibt es also für Popper überhaupt kein Experiment, denn aus der Theorie wird die Frage abgeleitet, die das 31 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Durchführen eines Experiments überhaupt sinnvoll macht und die bestimmt, welches Experiment überhaupt durchzuführen ist: Das Experiment hat eine Aufgabe, die durch die Theorie bestimmt ist, es soll die Theorie überprüfen. Gäbe es keine wissenschaftliche Theorie, die zu ihrer Überprüfung eine experimentell beantwortbare Frage stellt, wäre das Durchführen von Experimenten sinnlos, jedenfalls, soweit es sich eben um wissenschaftliche Experimente handelt. »Experimentieren ist planmäßiges Handeln, beherrscht von der Theorie« (2005, 268). Die dominante Rolle, die Popper dem Theoretisieren gegenüber dem Experimentieren zuweist, ergibt sich natürlich aus dem Abgrenzungskriterium, welches Popper zufolge benötigt wird, um Wissenschaft von nichtwissenschaftlichen Tätigkeiten unterscheiden zu können. Dieses Abgrenzungskriterium besteht für Popper darin, dass Theorien falsifizierbar sein müssen, dass wissenschaftliche Satzsysteme so beschaffen sein müssen, dass aus ihnen Sätze folgen, die durch die Erfahrung, also durch Beobachtungen und Experimente, widerlegt werden können (2005, 16 ff.). Auf diese Weise wird es möglich, untaugliche Theorien, die von der Erfahrung widerlegt werden, auszusondern, und Theorien, die nicht durch die Erfahrung widerlegt werden können, zu bevorzugen. Dieses Verfahren löst Popper zufolge letztlich das zu Beginn der Logik der Forschung genannte Grundproblem, wie Wachstum von Wissen und Fortschritt möglich ist. Natürlich kann man auch umgekehrt sagen, dass die Theoriendynamik auf Basis des Falsifikationsprinzips genau genommen nichts anderes ist als eine Erläuterung dessen, was Popper zunächst etwas unpräzise als Wachstum von Wissen und Erkenntnisfortschritt bezeichnet. Fortschritt bedeutet für Popper, dass immer neue Theorien entwickelt werden, aus denen sich mehr Sätze ableiten lassen als aus den bisherigen Theorien. »Die Entwicklung der Physik schreitet in der Richtung von weniger allgemeinen zu allgemeineren Theorien fort« (2005, 264). Den Umfang der Sätze, die so gebildet werden können, setzt er offenbar mit »Wissen« gleich. So ist verständlich, dass der Prozess der Falsifikation bisheriger Theorien durch experimentelle Widerlegung bei gleichzeitiger Bewährung neuerer Theorien, die durch das Ex32 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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periment nicht widerlegt und somit vorläufig bestätigt werden, für Popper gewissermaßen die Lösung seines zentralen Problems der Erkenntnislogik, nämlich des Wachstums des Wissens und des Fortschritts der Wissenschaften, bedeutet. Auch wenn wir annehmen können, dass Popper selbst vor allem die Naturwissenschaften und unter ihnen insbesondere die Physik im Sinn hatte, wenn er über das Aufstellen von Theorien und ihre Prüfung im Experiment und in der Beobachtung schreibt, lassen sich seine Gedanken ebenso auf nicht-naturwissenschaftliche Disziplinen übertragen. Auch eine Historikerin oder eine Literaturwissenschaftlerin können eine Theorie in Poppers Sinn über ihren jeweiligen Gegenstand formulieren und können aus diesen Satzsystemen Sätze ableiten, die im empirischen Material, in den vorliegenden Quellen, überprüft werden können. Popper würde die Arbeit dieser Forscherinnen genau dann als wissenschaftlich ansehen, wenn es ihnen gelingt, aus ihren Theorien Fragen abzuleiten, die in der empirischen Untersuchung, in der Analyse des vorliegenden Materials, der historischen Daten oder der literarischen Werke, beantwortet werden können. Diese Fragen wären so zu formulieren, dass ihre Beantwortung zu einer Stützung oder zu einer Falsifizierung der Theorien führt. Damit würden auch in diesen Disziplinen Theorien möglich, die immer besser mit den empirischen Befunden übereinstimmen. Ebenso können wir mit Popper sagen, dass etwa eine neue historische Theorie, die mehr historische Tatsachen verständlich macht als eine frühere, einen Fortschritt in der historischen Forschung darstellt. Auch das Ergebnis einer kunstwissenschaftlichen Arbeit, die die Entwicklung eines Werks einer Künstlerin umfassend verständlich macht, könnte als Theorie über diese Künstlerin im Sinne Poppers aufgefasst werden. Denkbar ist, dass auf der Basis einer solchen Theorie »Lücken« und »fehlende Verbindungsstücke« zwischen verschiedenen Werkphasen identifiziert werden, die Anlass zur Suche in Archiven und Bibliotheken bieten – diese Suche könnte als theoriegetriebenes »Experiment« im Sinne Poppers interpretiert werden. Ein Beispiel möge das Gesagte verdeutlichen. In der geschichtswissenschaftlichen Debatte um Claus Schenk Graf von 33 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Stauffenberg treffen zwei Theorien aufeinander: Die eine besagt, dass Stauffenberg aus einem Bündel miteinander zusammenhängender Motive gehandelt habe, zu denen vor allem auch die Ablehnung der Verbrechen der Nationalsozialisten gegen die russische Zivilbevölkerung und gegen die Juden gehört habe; die andere besagt, dass Stauffenberg nur aus militärischen Erwägungen gehandelt habe. Aus beiden Theorien kann man nun Fragen an empirische Untersuchungen ableiten, deren Beantwortung dazu geeignet ist, die eine oder die andere Theorie zu stützen. Das wird auch getan, man sucht nach Bemerkungen Stauffenbergs in Briefen und anderen Dokumenten, die seine Motivation in die eine oder die andere Richtung stützen. Man sucht nach Gesprächsnotizen oder späteren Berichten anderer Personen. Die Geschichtswissenschaft hat eine Reihe von Methoden entwickelt, um Quellen zu identifizieren, zu prüfen und zu bewerten. Wir werden dieses empirische Arbeiten in der Geschichtswissenschaft, das sich ähnlich auch in Kunstwissenschaften und anderen Disziplinen finden lässt, im Weiteren in Ermangelung eines besseren Begriffs als das Experimentieren dieser Wissenschaften bezeichnen. Diese Erweiterung des Begriffs scheint zunächst befremdlich, aber wir werden später sehen, dass sie durchaus fruchtbar gemacht werden kann. Allerdings dürfen wir bei der Beschäftigung mit wissenschaftsphilosophischen Ansätzen, die vom Experimentieren ausgehen, die uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen werden, nicht vergessen, dass diese zunächst ausschließlich von den Naturwissenschaften motiviert sind. Ihre Erklärungskraft für das Verstehen des Wissenschaftlichen in anderen Disziplinen muss erst gezeigt werden. Nicht vergessen werden darf auch, dass der Begriff der Theorie für die Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften eine andere Bedeutung haben muss, als sie Popper vorschwebte. Insbesondere bilden hier nicht allgemeine Kausalgesetze wie in der Physik den Kern der Satzsysteme einer Theorie. Es sind, etwa im obigen Beispiel, vielmehr Thesen über Motivationen von Akteuren, aus denen sich Sätze ableiten lassen, die ein Geschehen verständlich machen. Diese Thesen müssen mit Hilfe anderer Sätze, die ihren 34 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Inhalt belegen können, gestützt werden. So kann aus der These, dass Stauffenberg und seine Verbündeten bestimmte Motive hatten, ihr Handeln, etwa ihre Pläne für den Fall des Gelingens des Attentats oder auch ihre Entschlossenheit oder ihr Verhalten nach dem Scheitern, erklärt werden. Auf der anderen Seite fordert die These, dass es Dokumente oder andere Quellen bestimmten Inhalts geben muss, nach denen dann systematisch gesucht werden kann. Man kann einwenden, dass Historikerinnen und Literaturwissenschaftlerinnen nicht so arbeiten, aber auch die Frage, ob Physikerinnen oder Biologen so arbeiten, wie Popper es beschreibt, lässt sich nicht so einfach bejahen, wie wir im Weiteren sehen werden. Halten wir einen Moment inne und fragen wir uns, ob dieser Begriff von Wissenschaftlichkeit zu unserem intuitiv-alltäglichen Bild passt, das uns ermöglicht, bestimmte Verhaltensweisen als »wissenschaftlich« zu bezeichnen, auch wenn wir sie nicht in Bereichen beobachten, die wir von Vornherein in den Wissenschaften verorten. Stellen wir uns vor, Bob will ein ganz alltägliches Problem lösen, etwa die Senderliste seines Fernsehers neu programmieren. Er könnte dazu mehr oder weniger wahllos auf den Tasten seiner Fernbedienung herumdrücken und schauen, was wohl auf dem Bildschirm passiert. Das würde Alice, die ihn beobachtet, kaum als »wissenschaftliches Vorgehen« bezeichnen. Eine Alternative wäre, dass Bob die Bedienungsanleitung durchstöbert und nach dem Abschnitt »Einrichtung der Senderliste« sucht, um sodann Schritt für Schritt die dort beschriebene Anleitung nachzuvollziehen. Das würde Alice wohl als vernünftig, aber auch kaum als wissenschaftlich benennen. Eine dritte Option wäre, dass Bob eine Reihe von Hypothesen über Fernseher und ihre Bedienung aufstellt. Etwa »Fernseher werden über ein Menü eingerichtet, das per Fernbedienung gesteuert werden kann.« Und »Die Tasten der Fernbedienung sind so beschriftet, dass man ihre Funktion aus sonstigen Erfahrungen, etwa aus der Nutzung von Computern oder Videorekordern, erraten kann.« – aus solchen Hypothesen würde Bob Schlussfolgerungen ziehen und Prognosen darüber aufstellen, was passieren muss, wenn er bestimmte 35 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Tasten auf der Fernbedienung drückt. Sodann würde er genau das testen und beobachten, was sich auf dem Fernsehbildschirm tut. Alice würde dieses Verhalten vielleicht als umständlich ansehen, aber sie würde intuitiv vielleicht zu Bob sagen: »Du machst eine Wissenschaft daraus!« Das zeigt uns, dass unser intuitiver Begriff von Wissenschaftlichkeit durchaus mit dem zusammenpasst, was Popper als Wesen der Wissenschaft ansieht. Denn auch Bob hat allgemeine Sätze aufgestellt, aus diesen hat er spezielle Sätze abgeleitet und in einem Experiment überprüft. Alice würde womöglich anmerken, dass sie das Wort »Wissenschaft« hier nur metaphorisch verwendet hat, und dass sie nicht wirklich sagen wollte, dass Bob hier wissenschaftlich vorgeht oder Wissenschaft betreibt. Aber die Tatsache, dass wir metaphorisch einen Begriff verwenden können und dabei verstanden werden, verweist darauf, dass wir intuitiv eine Bedeutung des Begriffs kennen, die wir sowohl auf den ursprünglichen als auch auf den metaphorischen Sachverhalt anwenden können. Das heißt natürlich keineswegs, dass in der Übereinstimmung der Bedeutungen, die wir sowohl bei Popper als auch bei Alice gefunden haben, mit Sicherheit das Wesen dessen ausgesprochen wird, was Wissenschaftler machen, wenn sie wissenschaftlich tätig sind. Es könnte auch sein, dass Poppers Begriff des Wesens des Wissenschaftlichen, welches den Erfolg der Wissenschaften im 20. Jahrhundert plausibel zu erklären scheint, über die Rezeption in den Wissenschaften und in der Publizistik Stück für Stück in die Öffentlichkeit gedrungen ist und nun die Vorstellung von Wissenschaftlichkeit in der Gesellschaft in einer Weise prägt, die die metaphorische Verwendung auch ohne Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse möglich macht. Unser Ziel ist hier, an dem, was Wissenschaftlerinnen tun, das zu beschreiben, was es zu etwas wissenschaftlichem macht. Diese Beschreibung ist eine Auffassung, eine Interpretation dessen, was da getan wird, als Wissenschaftlichkeit. Wir wollen sagen, was ein Tun zu wissenschaftlichem Tun macht – was an diesem Tun also charakteristisch wissenschaftlich ist, genauer, was sich daran als Wissenschaftlichkeit beschreiben lässt. Der so gewonnene Begriff der Wissenschaftlichkeit ist genau genommen keine Eigenschaft 36 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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des Handelns, das mit ihm gekennzeichnet werden soll, sondern eine Kennzeichnung der Beschreibung. Wenn sich ein Handeln auf diese Weise erfolgreich beschreiben lässt, dann kann das Handeln auch als wissenschaftlich benannt werden. Erfolgreich bedeutet in diesem Fall, dass die Beschreibung von anderen nachvollzogen und akzeptiert werden kann. Das bedeutet zweierlei: Zum einen sollten die Fälle, die auf diese Weise gekennzeichnet werden, zum größten Teil auch durch eine vor-reflexive, intuitive Beurteilung als wissenschaftlich benannt werden. Zum anderen muss der Adressat meiner Beschreibung in den beobachteten Handlungen auch das sehen können, was ich als Wissenschaftliches gekennzeichnet habe. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass die so verstandene Wissenschaftlichkeit dann auch Garant dafür ist, dass Wissen produziert wird, dass eine Einsicht in den Gang der Dinge gewonnen wird. Das zeigt sich auch in dem Beispiel von Alice und Bob. Am Ende seiner theoriegeleiteten systematischen Erforschung der Fernbedienung wird Bob vermutlich – jedenfalls ist das zu hoffen – sein Fernsehgerät in Betrieb nehmen und verschiedene Programme sehen können. Aber weiß er auch etwas über die Fernbedienung und ihr Zusammenspiel mit dem Fernsehgerät? Man könnte sagen, er weiß, was er tun muss, um die Fernbedienung in seinem Sinne zu nutzen. Bob kann außerdem allgemeine Sätze über die Wirkungen von Änderungen an der Fernbedienung auf das Fernsehgerät aufschreiben, aus denen sich konkrete Vorhersagen für einzelne Experimente ableiten lassen. Diese allgemeinen Sätze könnte man als seine Erkenntnisse über die Fernbedienung, vielleicht sogar über Fernbedienungen im Allgemeinen, bezeichnen. Aber es ist fraglich, ob er damit eine Einsicht in die Funktion der Fernbedienung gewonnen hat. Bob hat theoretisches Wissen über Fernbedienungen gewonnen, welches er in der Praxis überprüfen und anwenden kann. Fragwürdig bleibt aber auch, ob ein solcher Wissensbegriff wenigstens umfassend genug ist, um die Verwendungsweisen innerhalb der Wissenschaften hinreichend abzudecken, darauf werde ich später zurückkommen. Wir werden uns in späteren Abschnitten mit Ansätzen beschäftigen, bei denen weniger die Resultate der Wissenschaft auf 37 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Kriterien der Wissenschaftlichkeit hin untersucht werden, als vielmehr die Handlungen der Personen, die diese Resultate hervorbringen. Auch für Popper sind diese Prozesse ja nicht ganz unbedeutend, schließlich beschreibt er eine Theoriendynamik, also einen Prozess der Entwicklung von Theorien. Allerdings ist dieser Prozess für ihn keine Handlung, weil er nicht betrachtet, wie freie Personen mit ihren freien Entscheidungen zur Veränderung von Theorien beitragen. Vielmehr unterliegen diese Personen bei Popper quasi dem Zwang des Prozesses: Sie müssen sich, um am Prozess der Theoriendynamik teilnehmen zu können, den Forderungen des Prozesses unterwerfen, kontrolliert von den Kollegen, die dem Prozess selbst unterworfen sind, letztlich also kontrolliert vom Prozess selbst. Trotzdem wollen wir schon hier einen Blick auf die Personen werfen, wie sie für Popper im wissenschaftlichen Prozess auftreten. Wer ist bei Popper nun das Subjekt des Wissens, wer bringt die Wissenschaft voran? Die Frage scheint trivial beantwortbar. Es sind die Wissenschaftler, in erster Linie diejenigen, die Hypothesen aufstellen und aus ihnen empirisch überprüfbare spezielle Sätze ableiten. Es sind also Theoretikerinnen, aber auch diejenigen, die diese Sätze dann logisch oder empirisch überprüfen, mithin sind die Experimentatoren darin eingeschlossen, soweit sie sich bemühen, »den Versuch so einzurichten, dass er gegenüber einer Frage« (Popper 2005, 84, Hervorhebung im Original) eine möglichst klare Antwort erlaubt. Auch andere Forscherinnen, die in verfügbaren Quellen und empirisch vorliegenden Befunden nach Antworten auf theoretisch gestellte Fragen suchen, gehören dazu. Die menschlichen Eigenschaften, Ziele und Wünsche interessieren Popper allerdings ausdrücklich nicht, vor allem auch nicht die persönliche Kreativität oder der Einfallsreichtum und deren Quellen. Für das Verständnis von Wissenschaft ist seiner Meinung nach eine »Ausschaltung des Psychologismus« (2005, 7) erforderlich. Demzufolge bleiben die Wissenschaftler als Menschen bei Popper konturlos, er zeichnet ein mehr oder minder ideales, besser noch, ein reines Bild vom Wissenschaftler. Somit wäre auch ein einzelne, nach der wissenschaftlichen Methode arbeitende Wissenschaftlerin möglich, die Hypothesen aufstellt, 38 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Die Herrschaft der Theorie

empirisch prüfbare Sätze ableitet, Experimente durchführt und daraus Falsifikationen oder vorläufige Bestätigungen von Theorien ableitet. Wissenschaft wäre somit für Popper nicht zwingend eine soziale Angelegenheit. So einfach liegen die Dinge allerdings nicht. Popper schreibt: »Die Objektivität der wissenschaftlichen Sätze liegt darin, dass sie intersubjektiv nachprüfbar sein müssen.« (2005, 21, Hervorhebungen im Original). Intersubjektives Nachprüfen bedeutet, dass ein Wissenschaftler seine Schlussfolgerungen und Ergebnisse so beschreibt, dass ein anderer eine andere Wissenschaftlerin sie überprüfen kann, und damit kommt die Gemeinschaft der Wissenschaftlerinnen ins Spiel. Aber genau besehen beschreibt die Formulierung »intersubjektiv nachprüfbar« keinen tatsächlich notwendigen sozialen Prozess, sondern eine Eigenschaft der Sätze innerhalb eines wissenschaftlichen Satzsystems. Sie bedeutet wegen der geforderten Ausschaltung des Psychologismus gerade, dass sie keinerlei Wünsche, Zweifel oder Forderungen eines Subjekts enthalten, sondern dass sie so formuliert sind, dass sie ganz ohne Kenntnis des Wissenschaftlers, der sie aufgeschrieben hat, und seiner konkreten persönlichen und sozialen Situation überprüft werden können. Streng genommen kann auch eine einzige Wissenschaftlerin das Kriterium der »intersubjektiven Überprüfbarkeit« ihrer Theorien sicherstellen. Popper fordert ja gerade, dass jeder Wissenschaftler so arbeitet, und er hält solches Arbeiten auch für eine Selbstverständlichkeit, etwa, wenn er schreibt: »Kein ernster Physiker wird je jene ›okkulten Effekte‹, zu deren Reproduktion er keine Anweisungen geben kann, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als Entdeckung unterbreiten« (2005, 22). Somit ist der Forderung der intersubjektiven Überprüfbarkeit auch damit genüge getan, wenn ein Wissenschaftler etwa nach einer gewissen Zeit seine eigenen Aufzeichnungen wieder zur Hand nimmt und dies – ohne sich an seine Überzeugungen, Hoffnungen oder Beobachtungen beim Aufzeichnen zu erinnern, überprüfen kann. In seiner Auseinandersetzung mit der »Wissenssoziologie« kommt Popper auf die »sozialen Aspekte des Wissens oder vielmehr der wissenschaftlichen Methode« (Popper 2003, 253) zurück 39 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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und erläutert explizit, »dass die Objektivität eng zusammenhängt mit dem sozialen Aspekt der wissenschaftlichen Methode« (254). Popper räumt hier ein, dass Wissenschaftler durchaus von subjektiven Überzeugungen getrieben sein können, die ihnen selbst die objektive (also quasi-intersubjektive) Überprüfung ihrer Theorien verwehrt. Die wissenschaftliche Methode, der alle Wissenschaftler anhängen, aber sorgt dafür, dass dies den Fortschritt der Wissenschaft nicht aufhalten kann. Wissenschaftler werden gerade von festen Überzeugungen zur Kritik herausgefordert, und sie scheuen dabei auch vor Autoritäten nicht zurück. Dass diese kritische Methode nicht durch subjektive Eigenschaften von Menschen gestört wird, dafür sorgen »die verschiedenen sozialen Institutionen, die zur Förderung der wissenschaftlichen Objektivität und Kritik ersonnen wurden« (2003, 255), dazu zählt Popper Laboratorien, wissenschaftliche Zeitschriften und Kongresse. Dass solche Institutionen selbst hingegen auch Gegenstand außerwissenschaftlicher Bestrebungen, etwa Mittel zum Erreichen ökonomischer oder politischer Ziele sind, ist für Popper kein Thema. Auch hier sieht Popper also von den sozialen Einbindungen und Prägungen der Wissenschaftler ausdrücklich ab, auch wenn er nunmehr wissenschaftliche Objektivität ausdrücklich ansieht als ein »Produkt des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode; und die Unparteilichkeit des Wissenschaftlers ist […] das Ergebnis dieser sozial oder institutionell organisierten Objektivität der Wissenschaft« (2003, 257). Das Soziale und Öffentliche der Wissenschaft findet laut Popper also in Institutionen statt, die so ersonnen und organisiert sind, dass sie die wissenschaftliche Methode garantieren. Diese Institutionen werden von Wissenschaftlern bevölkert, die der wissenschaftlichen Methode verpflichtet und durch die Institutionen auch so geprägt sind, dass sie entsprechend der Methode verfahren. Im Verlauf der weiteren Abschnitte werde ich für ein konsistentes Verständnis des Wissenschaftlichen an diese Vorstellungen kritisch anknüpfen. Hier werden wir zunächst die Ausführungen Poppers zu den wissenschaftlichen Institutionen und zum Agieren der Wissenschaftler in den Institutionen daraufhin prüfen, ob 40 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Poppers Wissenschaftsverständnis letztlich deskriptiv oder normativ zu verstehen ist. Wir werden untersuchen, ob sein Wissenschaftsbegriff die Realität abbildet oder abzubilden versucht, oder ob Popper Normen entwickelt, nach denen soziale Institutionen und Handlungen von Personen letztlich als wissenschaftliche zu bezeichnen wären, und damit der Funktion der Wissenschaften, das Wissen zu vermehren und den Fortschritt zu sichern, gerecht werden könnten. Diese Frage ist für uns nicht unerheblich, denn letztlich muss auch für den hier entwickelten Begriff des Wissenschaftlichen bestimmt werden, ob er eine deskriptive Beschreibung von etwas real Vorhandenem, eine Norm, nach der sich die Realität zu richten hätte, wenn sie bestimmten Zwecken genügen wollte, oder irgendetwas jenseits der Deskriptiv-Normativ-Dichotomie sein möchte. Poppers Formulierungen selbst legen es nahe, dass er annimmt, dass er die Wissenschaften, zumindest die moderne Physik, weitgehend so beschreibt, wie sie ist. Er beschreibt nicht, wie Wissenschaft sein müsste, damit sie Fortschritt ermöglichen und Wissen vermehren könnte, sondern er geht von der für ihn offensichtlichen Tatsache des Fortschritts und der Wissensvermehrung aus, und will sie erklären, indem er die wissenschaftliche Methode so beschreibt, wie sie von den Wissenschaftlern tatsächlich eingeübt und angewendet wird. Andererseits ist Popper auch nicht unbekannt, dass die tatsächliche Wissenschaft weit vielfältiger ist, als es sein Bild nahelegt, und dass der Alltag in den wissenschaftlichen Institutionen durchaus von außerwissenschaftlichen Zielen, Wünschen und Zwängen bestimmt wird. Die wissenschaftliche Methode jedoch ist davon eben gerade unabhängig, sie ist die Norm, an der man sich nicht nur orientiert, die man nicht nur als Idealbild ansieht, sondern nach der sich die Wissenschaftler trotz aller persönlichen Neigungen tatsächlich richten. Man könnte annehmen, dass es sozusagen ein Norm-Verhalten oder ein mittleres Verhalten von Wissenschaftlern gäbe, und dass es dieses Norm-Verhalten ist, das Popper beschreibt. Die einzelnen Wissenschaftlerinnen weichen in der Realität dann in dieser oder jener Einzelheit von diesem Norm-Verhalten ab, aber im 41 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Mittel und im Wesentlichen verhalten sich Wissenschaftlerinnen entsprechend des wissenschaftstheoretischen Systems. Aber eine philosophische Wissenschaftstheorie müsste dann die Frage beantworten, warum Wissenschaftlerinnen einem solchen System folgen, wodurch sie dazu gezwungen werden. Dieses Norm-Verhalten entspräche einem Natur-Gesetz, von dem man in der empirischen Beobachtung auch Abweichungen findet, die man zum Gegenstand einer Fehlerbetrachtung machen kann, ohne dass das Naturgesetz, die Norm, in Frage gestellt wird. Aber aus welchem Grunde sollten sich Naturwissenschaftlerinnen, mithin freie Menschen, einem solchen Gesetz unterwerfen? Diese Frage bleibt offen. Schon in der Logik der Forschung schreibt Popper »Wir wollen die Regeln, oder, wenn man so will, die Normen aufstellen, nach denen sich der Forscher richtet, wenn er Wissenschaft treibt, wie wir es uns denken« (2005, 27). Dieser Satz erstaunt durch seine Vieldeutigkeit. Einerseits sollen Normen aufgestellt werden, andererseits sind es die, nach denen sich die Wissenschaftler schon richten, allerdings, so fügt Popper relativierend hinzu, in einer von ihm gedachten Wissenschaft – die ja mit der realen Wissenschaft nicht übereinstimmen muss. Es gibt einen Ausweg aus dieser Unentschiedenheit zwischen normativer Regelsetzung für die Wissenschaft und deskriptiver Erfassung der realen Wissenschaft. Man könnte Poppers Erkenntnislogik, unabhängig davon, ob er sie so verstanden wissen wollte oder nicht, als eine Theorie von Wissenschaft auffassen, die es gestattet, die Ergebnisse der Wissenschaft, also ihren zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgefundenen Stand, rational zu erklären, zu rekonstruieren. Dafür wäre es nicht von Belang, ob die Theoriendynamik tatsächlich so stattgefunden hat, ob tatsächlich Wissenschaftler in allen Fällen versucht haben, Theorien so zu formulieren, dass die falsifizierbar wären, und dann Experimentatoren mit der Aufgabe betraut hätten, diese Prüfungen vorzunehmen. Wichtig wäre, ob die Geschichte der Wissenschaft, von einem gewissen Ausgangspunkt aus, so gewesen sein könnte, wie Poppers Erkenntnislogik es beschreibt, und ob sie dann zwingend zu eben dem vorgefundenen aktuellen Stand des Wissens geführt 42 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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hätte. Das bedeutet, Poppers Erkenntnislogik würde uns die Wissenschaft nicht zeigen, wie sie tatsächlich ist oder war, sondern wie sie einer Betrachterin plausibel erscheinen kann. Eine Beobachterin von Wissenschaft findet einen gewissen Status vor, Wissenschaft erscheint ihr, in der wissenschaftstheoretischen Perspektive, als eine Menge von Theorien, oder als eine zeitliche Aufeinanderfolge von Theorien, sie zeigt sich als eine Theoriendynamik in der einige Theorien sich aus anderen entwickeln oder andere ablösen, ersetzen. Die Wissenschaftstheoretikerin fragt sich nun, wie sich diese Theoriendynamik plausibel erklären lässt. Ihr erscheinen die Theorien natürlich nicht nur als eine Folge von Dokumenten, um ihre Herkunft zu verstehen, denkt sie sich einen Produktionsprozess von Theorien, die genau die vorgefundenen Denksysteme in ihrem historischen Verlauf erklären. Wissenschaft erscheint ihr somit plausibel als genau dieser Produktionsprozess. Im Weiteren wird dieses Konzept von Rekonstruktion und rekonstruierendem Verstehen der Wissenschaftlichkeit eine große Rolle spielen. Wir werden sehen, dass Wissenschaft sich in ihrer Dynamik auf verschiedene Weise rekonstruieren lässt und dass die Zusammenführung von komplementären Rekonstruktionen das Phänomen der Wissenschaftlichkeit insgesamt verständlich macht. Bevor im Folgenden ein Blick auf die Auseinandersetzung und Weiterentwicklung des Wissenschaftskonzepts Poppers geworfen wird, möchte ich hier festhalten, was für uns für das Verständnis des Wissenschaftlichen an diesem Konzept wesentlich ist. Zweierlei ist zu nennen: Die zentrale Rolle von logisch strukturierten Satzsystemen, Theorien, in denen Erkenntnisse oder Wissen dokumentiert werden. Das Wort »dokumentieren« ist hier bewusst gewählt, denn offenbar kommt es darauf an, dass die Satzsysteme nicht nur etwa mündlich in Diskussionsrunden oder in Vorträgen von Wissenschaftlern dargelegt und diskutiert werden, sondern dass dies, der »intersubjektiven Überprüfbarkeit« wegen, in schriftlicher Form erfolgt. Der zweite zentrale Punkt ist die Existenz einer wissenschaftlichen Methode, die offenbar erlernbar ist und die sicherstellt, dass die Wissenschaft funktioniert, dass es ihr 43 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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gelingt, Theorien im obigen Sinne zu erzeugen und darüber hinaus darin sogar einen Fortschritt zu erzielen. Fortschritt wird dabei so verstanden, dass die Erkenntnisse, die Wissensbausteine, welche in den Theorien dargestellt werden, vermehrt werden und aus neueren Theorien möglichst ohne Vermehrung der Zahl der Hypothesen mehr Erkenntnisse abgeleitet werden können als aus den bisherigen Theorien. 7 In der Tradition der Wissenschaftstheorie besteht über diese Grundsätze kaum Dissens. Diskussionsgegenstand ist nicht, ob die Dynamik der Produktion dokumentierten Wissens das zentrale Element des Wissenschaftlichen ist, sondern, wie sie genau funktioniert. Fraglich ist nicht, dass es eine wissenschaftliche Methode gibt, die erlernbar und beschreibbar ist, sondern, ob zu ihr nur die Prüfung der Theorien oder auch die Aufstellung von Theorien gehört, oder ob es neben den Theorien noch weitere Formen dokumentierten Wissens gibt, die zum Wissenschaftlichen dazugehören. In Frage steht auch nicht, dass es in den Wissenschaften einen Erkenntnisfortschritt gibt, sondern wie dieser genau zu bestimmen oder zu messen wäre. In diesem Zusammenhang spielt das Verhältnis von Erkenntnissen und Wahrheit eine große Rolle. Popper etwa war der Ansicht, dass es durch die Bewährung von Theorien eine Annäherung an die Wahrheit der Theorien in dem Sinne gibt, dass die Theorien ein immer genaueres Abbild der Realität liefern (vgl. etwa Popper 2005, 261 ff.).

1.3 Fakten sammeln und theoretisch ordnen Die Idee, Wissenschaftlichkeit als Ordnen wissenschaftlichen Wissens in wissenschaftlichen Theorien zu beschreiben, die wir Popper verdanken, hat eine ganze Tradition der WissenschaftsStreng genommen müsste man mit dieser Herangehensweise sagen, dass das Ziel und das tatsächliche Ergebnis nicht eine Zunahme des Wissens ist, sondern die Möglichkeit, mit immer weniger Wissen auszukommen, weil immer weniger Theorien (somit immer weniger Sätze, die als Wissen gelten) einen immer größeren Bereich erklärter Beobachtungen abdecken sollen.

7

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Fakten sammeln und theoretisch ordnen

philosophie begründet, die heute im Wesentlichen als Wissenschaftstheorie bezeichnet wird. Sie versucht schlussendlich selbst, als Wissenschaft im eigenen Sinne auftreten zu können, also empirisch irgendwie prüfbare Satzsysteme über das Funktionieren von Wissenschaft zu entwerfen, zu prüfen und weiterzuentwickeln. Ob die Philosophie den Anspruch und die Möglichkeit hat, sich selbst als Wissenschaft aufzufassen, ist eine Frage, auf die wir am Ende dieses Buchs zurückkommen. Die Wissenschaftstheorie jedenfalls hat somit mit den Wissenschaften auch das Problem gemein, dass sie ihren Gegenstand irgendwie schon als gegeben voraussetzt, genauer, dass sie davon ausgeht, schon zu wissen, was empirisch als wissenschaftlich anzusehen ist, so, wie die Physikerin schon weiß, was zum Gegenstandsbereich des Physikalischen gehört, und über die Frage, was eigentlich das Physikalische ist, was es vom Nicht-Physikalischen scheidet, was es zum Physikalischen macht, nicht mehr nachdenken muss. Unser Ziel ist hier letztlich ein anderes: Wir wollen einen Begriff vom Wissenschaftlichen, von Wissenschaftlichkeit selbst gewinnen. Im Folgenden wird dazu zunächst die Tradition, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte als Weiterentwicklung oder in Auseinandersetzung mit Poppers Forschungslogik entwickelt hat, exemplarisch weiterverfolgt. Ziel ist es dabei, das Verständnis des Wissenschaftlichen, das sich darin in verschiedenen Facetten zeigt, weiter zu klären und zu verstehen. Einer der Wissenschaftstheoretiker, die an Karl Poppers Forschungslogik angeschlossen haben, ist Rom Harré. Auch für Harré liegt, wie wir sehen werden, das Hauptaugenmerk auf den Naturwissenschaften. Die zentrale Bedeutung der wissenschaftlichen Theorie steht auch für Harré außer Frage, auch wenn er schreibt: »Scientific work is such as work of the imagination as it is work at the laboratory bench« (»Wissenschaftliche Arbeit ist ebenso Arbeit der Vorstellung wie es Arbeit am Labortisch ist«, 1972, 23). Könnte man hier noch eine Gleichberechtigung von theoretischer und empirischer Arbeit vermuten, wird schnell klar, dass auch für Harré das Experiment ganz im Dienste der Theorie steht. Denn zunächst ist die Theorie dem Experiment vorgängig: »We must usually first imagine the mechanism which produce 45 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

their behaviour and which alone can suggest fruitful lines of further study. Science is not natural history, it is not accumulation of facts. It is the building of a picture of the world.« (»Wir müssen uns normalerweise zuerst den Mechanismus vorstellen, der das Verhalten hervorbringt und der alleine fruchtbare Richtungen für weitere Studien hervorbringen kann. Wissenschaft ist keine Naturgeschichte, keine Anhäufung von Fakten. Sie ist der Aufbau eines Weltbildes«, ebd.) Das eigentliche Geschäft der Wissenschaft ist also nicht das experimentelle Sammeln von Tatsachen, auch wenn diese systematisch und nach disziplinierten Verfahren gewonnen werden, sondern das Ordnen dieser Fakten in einem theoretischen Bild. Wir sehen schon hier, dass sich auch Harrés enger Blick auf die Naturwissenschaft schnell weiten lässt auf andere Disziplinen, in denen die empirische Forschung eben nicht im Experiment stattfindet, sondern im Sichten von Quellen oder im systematischen Lesen, Hören und Betrachten von Werken besteht. Allerdings wird kaum eine Historikerin oder ein Literaturwissenschaftler zustimmen, dass ihre Forschung zur Erzeugung eines Weltbildes beiträgt. Dieser Begriff deutet in einer strengen Form sicherlich immer auf eine Vorstellung von Theorien hin, in denen allgemeine Naturgesetze als zentrale Sätze erlauben, eine Vielzahl von Einzelsätzen zu bilden und letztlich für konkrete empirisch prüfbare Situationen Voraussagen zu produzieren. Geisteswissenschaftliche Theorien sind nicht von dieser Art, aber sie sind auch mehr als eine Anhäufung und ein Ordnen von Fakten. Sie wollen ebenfalls mit Hilfe von zentralen Thesen die empirische Wirklichkeit verständlich machen, aber diese zentralen Thesen sind keine allgemeinen Gesetze, sie betreffen vielmehr auslösende und motivierende Tatsachen und Umstände für menschliches Handeln, sei es gesellschaftlich relevantes Handeln, ökonomisches Handeln oder auch das Schaffen von Kunstwerken in einer bestimmten Weise. Das Bild von der Welt ist in diesen Fällen zu verstehen als eine theoretische Vorstellung von konkreten Gründen, Motiven, Zielen und Umständen, die zu konkreten realen Ergebnissen geführt haben. Mit der Rede vom Bild ruft Harré auch eine Vorstellung des theoretischen Wissens als Einsicht auf, denn ein Bild ist das, was 46 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Fakten sammeln und theoretisch ordnen

man betrachten kann, um sich einen Prozess oder einen Sachverhalt deutlich, klar und einsehbar vor Augen zu führen. Wichtig ist hier die Abgrenzung der Wissenschaften auch von der Naturgeschichte, in der ja Fakten durchaus auch in eine Systematik, in eine Ordnung gebracht wurden. Wissenschaftliche Theorien sind mehr als die »Ordnung der Dinge«. Was eine wissenschaftliche Theorie von einer geordneten Beschreibung der Fakten unterscheidet, ist die Logik, in der die Sätze der Theorie angeordnet sind. Denn Sätze, die in logischer Beziehung zueinander stehen, sind auch für Harré wesentliche Bestandteile von Theorien, allerdings kommen Diagramme und Modelle als Theoriebestandteile hinzu: »Logic and the theory of iconic models are both involved […] in the organization of sentences in all the intellectual activities of scientists.« (»Logik und die Theorie ikonischer Modelle sind bei allen intellektuellen Aktivitäten von Wissenschaftlern in die Organisation von Sätzen einbezogen.«, ebd.) So strukturierte Satzsysteme sollen als Theorien zwar ein »Bild von der Welt« liefern, aber nicht als getreue Beschreibung der Beobachtungen, sondern als deren Erklärung. Nicht die Beschreibung der Regelmäßigkeit des Auftretens von Sonnenflecken und auch nicht die Beschreibung der Korrelation mit dem Auftreten von Nordlichtern ist eine wissenschaftliche Theorie, sondern die Erklärung der einen Beobachtung aus der anderen (24). Aus der zentralen Rolle der Logik für den Aufbau von Theorien ergibt sich, dass Harré genauso wie Popper die Anwendung einer diszipliniert angewandten wissenschaftlichen Methode als zentrales Element der Wissenschaften versteht. Dies betrifft nicht nur die Theorie, sondern auch das Experimentieren (ebd). Im Unterschied und in ausdrücklicher Absetzung von Popper hält es Harré jedoch für möglich, dass nicht nur die Prüfung der Theorien nach einer rationalen Methode erfolgt, sondern dass auch bei der Aufstellung von Theorien, bei der Ableitung von Hypothesen aus den Beobachtungen rationale Verfahren zum Einsatz kommen (52). Auch wenn Harré mit Popper darin übereinstimmt, dass Experimente gewissermaßen der Prüfstein der Theorien sind, akzeptiert er das Falsifikationsprinzip als strenges Abgrenzungs47 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

kriterium der Wissenschaft gegen nicht-wissenschaftliche Aktivitäten nicht. Er verweist zu Recht darauf, dass eine sichere Widerlegung einer Theorie durch das Experiment nicht möglich ist, schließlich kann es auch sein, dass das Experiment fehlerhaft ist, sodass nicht die Theorie, sondern das Experiment modifiziert werden muss (51). Außerdem müssen experimentelle Ergebnisse immer interpretiert werden, und es ist möglich, dass andere Interpretationen Theorien bestätigen, die durch eine frühere Interpretation als widerlegt gelten konnten (52). Einen Ausweg sieht Harré im Positivismus, einer wissenschaftstheoretischen Position, die mit Poppers Sicht verwandt ist. Die logische, deduktive Struktur der Theorie ist für den Positivismus von entscheidender Bedeutung, Erklärung bedeutet dann nichts anderes als deduktive Ableitung aus den Grundgesetzen der Theorie. Darin besteht für Harré das entscheidende Problem des Positivismus: »The main failure of the positivist point of view is that its advocacy of a simple deductive structuring of theory is too easy achieved […] when the terms in the theory refer to the causal mechanisms at work in the production of the phenomena»(»Der Hauptfehler des positivistischen Blickpunktes ist, dass seine Verteidigung einer einfachen deduktiven Theortiestruktur zu leicht zu erreichen ist, wenn die Begriffe der Theorie sich auf kausale Mechanismen beziehen, die bei der Hervorbringung der Phänomene am Werke sind.«, 61). Falsche Theorien können die gleiche Erklärungskraft besitzen wie wahre, ja, es wird fraglich, ob der Begriff der Wahrheit, und damit der herkömmliche Begriff von Wissen überhaupt noch einen Sinn in den Wissenschaften haben können. Um uns klar zu machen, wo das Problem liegt, kommen wir noch einmal auf unsere Alltagserfahrung zurück. Stellen wir uns Bob und Alice bei der Diskussion über politische Nachrichten vor. Bob ist der Meinung, in Wirklichkeit würden alle politischen und globalen ökonomischen Entscheidungen von einem weltweit agierenden Geheimbund gesteuert. Mit dieser Hypothese kann er alle noch so überraschenden politischen Entwicklungen, die sonst schwer durchschaubar wären, erklären. Welche Aussicht hätte

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Fakten sammeln und theoretisch ordnen

Bob, seine Sicht auf die Welt als wissenschaftliche Theorie zur Geltung zu bringen? Mit Rom Harré würde Alice von ihm zunächst mal eine hohe Disziplin beim Sammeln von Fakten und beim Einordnen der Fakten in die »Theorie« verlangen. Bob dürfte nicht einfach manche Nachrichten ignorieren und andere Nachrichten nach seinem Belieben zurechtbiegen, er müsste sehr systematisch bereit sein, seine Fakten in ein System von Aussagen über die Praktiken dieses Geheimbundes einzuordnen. Vermutlich würde Alice weiterhin fordern, dass Bob nicht nach Belieben für die Einordnung der politischen Nachrichten in seine Theorie zusätzliche Annahmen und Hilfshypothesen konstruiert. Wenn ihm das gelingt, oder wenn er seine Theorie so anpassen kann, dass sich die Fakten in die modifizierte Theorie einbeziehen lassen, wenn sich die Fakten also weitgehend aus der Theorie rekonstruieren lassen, müsste Alice Bobs Theorie als akzeptabel anerkennen. Wenn Alice nun, beeindruckt von der erklärenden Kraft von Bobs Theorie und vielleicht sogar von einigen richtigen Vorhersagen überraschender Entwicklungen, ihren Freund fragt, ob er wirklich glaubt, dass es diese Geheimorganisation gibt und ob man nicht direkte Nachweise ihres Handelns finden müsste, etwa Dokumente, oder Orte, an denen sie sich zusammenfinden, Mitglieder, die verraten, was genau besprochen wurde und wie konkrete Ereignisse beeinflusst wurden, dann könnte Bob erwidern, dass ihm die tatsächliche Existenz dieser Organisation herzlich egal wäre und dass er keine Nachweise ihrer Wirklichkeit benötige. Ihm würde reichen, dass er die Beobachtungen der Entwicklungen in der Welt damit wunderbar erklären kann und dass er damit selbst besser in dieser Welt zurechtkäme. Wir sehen hier, dass unsere Lesart der Poppers’chen Forschungslogik als plausible Rekonstruktion und Erklärung der vorgefundenen Theoriegebäude eigentlich eine positivistische Interpretation ist. Poppers Forschungslogik erlaubt es, eine bestimmte Struktur und Aufeinanderfolge von Theorien (wenigstens in bestimmten paradigmatischen Fallbeispielen der Physik) deduktiv zu erklären. Das sagt aber noch nichts darüber aus, so können

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Wissenschaft als Theoriendynamik

wir mit Harré schlussfolgern, ob Poppers Forschungslogik wahr oder falsch ist. Die Wissenschaftstheorie bringt sich mit solchen Beschreibungen des Wissenschaftlichen auf einen Weg, der die Wissenschaften immer weiter von alltagssprachlichen Verwendungen des Begriffs »Erklärung« entfernt, und auch der Wahrheitsanspruch bleibt, jedenfalls bei einem alltagssprachlichen Verständnis des Begriffs »Wahrheit« auf der Strecke. Mit dem Positivismus beginnt deshalb auch die Auseinandersetzung zwischen den wissenschaftlichen Realisten und den Anti-Realisten. Während für erstere die Theorien die Welt beschreiben, wie sie ist, und die in den Theorien enthaltenen Ausdrücke auf reale Gegenstände referenzieren, sind letztere damit zufrieden, dass Theorien im obigen Sinne erklärende oder prognostizierende Kraft besitzen, die Elemente der Theorie sind dafür nur Instrumente oder logische Hilfsmittel. Konsequenterweise können wir Poppers Forschungslogik selbst als instrumentalistische Theorie ansehen: Unabhängig davon, ob sie die Realität beschreibt oder nicht, hat sie eine gewisse prognostizierende Kraft. Allerdings würde Popper selbst, der sich immer als Realisten gesehen hat, dieser Interpretation seiner Wissenschaftstheorie wohl kaum zustimmen.

1.4 Theorien als Instrumente Es ist hier nicht der Raum, diese Diskussion in ihren Facetten, ihrer Geschichte und ihrer Vielfalt der Standpunkte darzustellen. Das ist für die Beantwortung der Frage, was das Wissenschaftliche in der Gegenwart ausmacht und ob sein Ergebnis Wissen im Sinne von Einsicht ist, auch nicht notwendig: Wichtig ist hier, dass die beteiligten Wissenschaftstheoretiker einig sind über das Primat der Theorie im oben beschrieben Sinne (genauer gesagt, der Satzsysteme, in denen wissenschaftliche Erkenntnis dokumentiert wird) (vgl. dazu auch Hacking, 1996, 9). Gerade daraus, dass die Theorieentwicklung als das zentrale Element heutiger Wissenschaft verstanden wird, und dass durch diese Entwicklung Er50 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Theorien als Instrumente

kenntnisse gewonnen und Fortschritt herbeigeführt wird, leitet sich das Problem der Begründung dieser Satzsysteme als geeignete Dokumentationsform der Erkenntnis ab, ein Problem, das von den verschiedenen Vertretern der Wissenschaftstheorie unterschiedlich zu lösen versucht wird. So hat etwa Bas C. van Fraassen das Argument entwickelt, dass es nicht auf die buchstäbliche Wahrheit der Theorie ankomme, sondern darauf, dass Theorien empirisch adäquat seien. Den realistischen Standpunkt kennzeichnet er folgendermaßen: »Science aims to give us, in its theories, a literally true story what the world is like; and acceptance of a scientific theory involves the belief that it is true.« (1980, 8, »Wissenschaft versucht, uns in ihren Theorien eine buchstäblich wahre Geschichte davon zu erzählen, wie die Welt ist, und eine wissenschaftliche Theorie zu akzeptieren bedeutet, zu glauben, dass diese Theorie wahr ist.«) Trotz der wichtigen Rolle, die der Realismus in der Wissenschaftstheorie van Fraassen zu Folge im 20. Jahrhundert für das Verständnis des Wissenschaftlichen gespielt hat, steht er angesichts der Entwicklung gerade der Physik vor einer Reihe von Problemen. Das gilt insbesondere, da Theorien Entitäten zur Erklärung der Beobachtungen einführen, die selbst einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind, wie etwa Elementarteilchen, Felder u. ä. Da sich deren Existenz nicht ohne die Zuhilfenahme der Theorien selbst nachweisen lässt, ist über die Wahrheit oder die Wahrheitsnähe der Theorien kein sicheres Urteil möglich. Van Fraassen hält das jedoch auch gar nicht für notwendig. Theorien müssen nicht wahr sein, es ist ausreichend, dass sie empirisch adäquat sind. Dem realistischen Standpunkt setzt er eine Alternative entgegen: »Science aims to give us theories which are empirically adequate; and acceptance of a theory involves as belief only that it is empirically adequate.« (1980, 12, »Wissenschaft versucht, uns Theorien zu geben, die empirisch adäquat sind, und die Akzeptanz einer Theorie bedeutet nur, dass man glaubt, dass die Theorie empirisch adäquat ist.«) Empirisch adäquat bedeutet, dass die Theorie die tatsächlich empirisch beobachtbaren Phänomene erklären kann, dass sie Aussagen über beobachtbare Objekte oder Ereignisse enthält und dass diese Aussagen wahr sind (ebd.). Wo51 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

bei das Wort »erklären« hier dann nicht mehr bedeutet, als dass die empirisch beobachtbaren Phänomene eben auch aus der Theorie geschlussfolgert werden können. Wir sehen an dieser Stelle schon, dass es bei diesem Standpunkt kaum noch möglich ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, welche in so aufgefassten Theorien enthalten sind, als Einsichten in die Prozesse der Wirklichkeit aufzufassen. Das ist auch gar nicht notwendig. Eine Erkenntnis ist dann wissenschaftlich, wenn sie zu empirisch adäquaten Aussagen führt, und das genügt. Entscheidend ist die »Nützlichkeit der Theorie« (Suhm 2005, 146). Zwei Beispiele sollen das erläutern: In der Physik kann man das empirisch überprüfbare Verhalten von Gasen, etwa die Veränderung von Temperatur und Volumen durch die Veränderung des Druckes, mit einer Theorie erklären, die das Gas als große Menge kleiner Kugeln auffasst, die sich beim Zusammenstoß nach den Gesetzen der Mechanik verhalten. Man weiß inzwischen längst, dass kein Gas aus solchen Kugeln besteht. Das Bild und die ganze sogenannte kinetische Gastheorie liefern also keine Einsicht, keinen Einblick in das, was da wirklich ist. Trotzdem ist die Theorie wissenschaftlich nützlich, man ist geneigt, sie für einen Zuwachs an Erkenntnis zu halten. Allerdings wird man bei genauer Betrachtung des Beispiels vielleicht einwenden, dass das Bild, welches die Theorie zeichnet, zwar nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, aber doch nicht ganz falsch ist. Es sind keine vollkommen elastischen Kugeln, die da zusammenstoßen. Aber es sind doch Teilchen, die durch den leeren Raum fliegen, unregelmäßig geformte Moleküle, Verbindungen von Atomen. Und wenn diese zusammenstoßen, dann lässt sich vielleicht die konkrete Flugbahn zweier konkreter Teilchen nicht genau nach den Gesetzen der Mechanik des elastischen Stoßes berechnen, aber dennoch passt die Vorstellung, die wir von so einem Zusammenstoß etwa zweier Billardkugeln haben, doch zu dem Verhalten der beiden unregelmäßigen Moleküle. Catherin Z. Elgin (2017) hat deshalb davon gesprochen, dass die Modelle wissenschaftlicher Erklärungen eben nicht im strengen Sinne wahr sein müssen, sondern nur »wahr genug«. Es ist nicht einmal anzustreben, dass die Modelle so wahr wie irgend 52 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Theorien als Instrumente

möglich sein sollten. Ein Bild, das so wahr wie möglich wäre, würde nichts erklären. Wenn wir versuchen, die Formen und das Verhalten der Gasmoleküle so genau wie möglich zu beschreiben, dann wäre die statistische Betrachtung der vielen Teilchen als Gas gar nicht mehr möglich. Wenn wir aber so tun, als ob sie kleine Billardkugeln wären, dann können wir daraus die Gasgesetze ableiten, die wir empirisch überprüfen können, und haben doch das Gefühl, etwas über die Gase verstanden zu haben, eine Einsicht darüber gewonnen zu haben, warum sich die Temperatur des Gases erhöht, wenn es unter Druck komprimiert wird. Und wenn sich die Temperaturveränderung nicht ganz an die theoretischen Vorgaben hält, dann sind wir bereit, das der Tatsache zuzuschreiben, dass die kleinen Teilchen eben in Wirklichkeit keine idealen Kugeln sind. Wenn wir dann aber noch genauer hinsehen, dann müssen wir eingestehen, dass die Moleküle auch keine unregelmäßigen festen Körper wie etwa Perlenketten oder umherfliegende Bruchstücke nach einer Sprengung sind. Irgendwann kommen quantenmechanische Wechselwirkungen und Quantenfeldtheorien ins Spiel und dann scheitern all unsere bildlichen Vorstellungen von mittelgroßen Körpern, die sich nach Gesetzen unserer Alltagsmechanik verhalten. Alle bildhaften Vorstellungen, die uns das Gefühl geben, von der wissenschaftlichen Theorie tatsächlich eine Einsicht, einen Einblick in die Wirklichkeit erhalten zu haben, müssen wir dann aufgeben. Der wissenschaftlichen Theorie tut das aber keinen Abbruch, wenn wir sie nicht realistisch auffassen. Sie funktioniert, sie ist nützlich für den Umgang mit empirischen Ergebnissen, und das genügt. Ein zweites Beispiel soll zeigen, dass die Verwendung »unrealistischer« Modellannahmen in wissenschaftlichen Theorien keineswegs auf die Physik oder die Naturwissenschaften begrenzt ist. In der ökonomischen Theorie wird weitgehend von einer Modellvorstellung der handelnden Personen ausgegangen, in der diese als begrenzt rational und eigennützig angesehen werden. »Begrenzt rational« bedeutet, dass die Akteure versuchen, rational zu entscheiden, jedoch aufgrund fehlenden Wissens und fehlender kognitiver Möglichkeiten nicht immer vollständig rational 53 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

handeln können. Eigennützig heißt, dass sie immer die Entscheidung treffen, die ihnen den höchsten Nutzen bringt (Williamson 1985, 43–47). Auf dieser Grundlage gibt es eine ganze Vielzahl ökonomischer Spezialtheorien und Untersuchungen in der so genannten Neuen Institutionenökonomik, die etwa Vertragsgestaltungen, Unternehmensstrukturen, Preisstrukturen und Kooperationen verständlich machen. Aus unserem täglichen praktischen Erleben wissen wir, dass Menschen – auch in ökonomischen Zusammenhängen – weder immer versuchen, rational zu handeln, noch immer eigennützig sind. Dennoch meinen wir, dass solche Theorien etwas erklären, weil sie zu empirisch vorfindbaren Tatsachen passen. An dieser Stelle müssten wir allerdings diskutieren, ob der theoretisch vorgeprägte Blick nicht die Tatsachen so deutet, dass sie zur theoretischen Erklärung mehr oder weniger gut passen, und ob wir die täglich zu beobachtenden Abweichungen vom theoretisch Erwarteten nicht als Ausnahme zu sehen neigen, auch wenn sie häufig sind, während wir die (vielleicht wenigen) Fälle, in denen das theoretisch Erwartete tatsächlich eintritt, als gute Bestätigung der Theorie ansehen. Mit dieser Frage würden wir uns allerdings zu weit von dem entfernen, was hier im Fokus unseres Interesses steht. Deutlich wird an diesen Beispielen, dass für die Wissenschaften, die sich mit menschlichem Handeln beschäftigen und die aus Thesen über Motivationen von Menschen empirisch vorfindbare soziale und kulturelle Tatsachen verständlich machen wollen – ein Standpunkt, der für die zentralen Thesen keinen Wahrheitsanspruch vertritt, sondern nur empirische Adäquatheit verlangt – nicht akzeptabel ist. Das ist schon im Fall der Ökonomie deutlich: Wenn tatsächliche Menschen nicht einmal näherungsweise als »homo oeconomicus« angesehen werden können, dann wird man eine Theorie, die darauf basierend etwas erklären will, kaum akzeptieren können, auch wenn sie empirisch adäquat wäre. Zurück zu unserem historischen Beispiel: Selbst, wenn eine These über Stauffenbergs Motivationen alle Tatsachen erklären könnte, würden wir sie nicht akzeptieren, wenn sich nachweisen ließe, dass der wirkliche Stauffenberg aus anderen Motiven gehandelt hätte. Zurück zur Wissenschaftlichkeit. Auch wenn Karl Popper sich 54 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Theorien als Instrumente

selbst als Realisten bezeichnet hat (siehe etwa Popper 1973, 55) lässt sich für die zentrale Frage, was als wissenschaftlich gelten kann, hier zunächst noch eine Übereinstimmung zwischen van Fraassen und Popper feststellen. Auch van Fraassen hält es für notwendig, dass Theorien Aussagen enthalten, die empirisch prüfbar, also falsifizierbar sind, das Popper’sche Abgrenzungskriterium ist also im Theorie-Verständnis van Fraassens durchaus enthalten. Der Verzicht auf den an der Realität gemessenen Wahrheitsanspruch für wissenschaftliche Theorien hat jedoch auch in der Naturwissenschaft weitergehende Konsequenzen. Wenn Theorien nicht wahr sein müssen, nicht einmal näherungsweise, so wie es Popper vorschwebte, dann ist es nicht nur schwer vorstellbar, den Inhalt dieser Satzsysteme noch als Wissen zu bezeichnen, und dann ist es auch schwierig, das Aufstellen von Theorien als eigentliches Ziel der Wissenschaft anzusehen. Nur wenn Theorien als strukturierte Dokumentation eines besonderen, ausgezeichneten Wissens angesehen werden können, deren Wahrheitsgehalt wenigstens tendenziell und mit guten Gründen als größer angesehen kann als der von anderen Überzeugungssystemen, ist es sinnvoll, in der Produktion von (immer besseren) Theorien den eigentlichen Zweck von Wissenschaft zu sehen. Diesen Punkt hat van Fraassen auch gesehen. Er weist der Theorie deshalb innerhalb des Wissenschaftlichen eine andere Rolle zu: »The real importance of theory, to the working scientist, is that it is a factor in experimental design.« (1980, 73, »Die wirkliche Bedeutung der Theorie für den arbeitenden Wissenschaftler ist, dass sie ein Faktor für das experimentelle Design ist.«) Wissenschaftler wollen, so van Fraassen, Fakten über die Welt entdecken, über die Regularitäten des beobachtbaren Teils der Welt, und dazu müssen sie experimentieren. Da die Regularitäten aber komplex sind, ist das Design der Experimente schwierig, und dazu brauchen die Wissenschaftler Theorien (vgl. ebd). Das beschreibt das Verhältnis von Theorie und Experiment ganz ähnlich wie wir es oben bei Harré gelesen haben, aber zugleich ist das Bild gewissermaßen gekippt. Bei Harré ist das Experiment noch für die Theorie da, hier ist es umgekehrt. 55 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

Ein solches Verständnis der wissenschaftlichen Theorie ist wiederum sehr gut anschlussfähig in Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften. Wir hatten oben das systematische zielgeleitete Suchen in Archiven und Bibliotheken als das Experimentieren des Geisteswissenschaftlers bezeichnet. Und unser Beispiel hatte schon gezeigt, dass theoretische Überlegungen hier durchaus als »Faktor für das experimentelle Design« fungieren. Sie geben vor, nach welcher Art von Belegen in welcher Art von Quellen gesucht werden muss. Damit ändert sich nicht nur die Rolle von Theorien für das Verständnis des Wissenschaftlichen, sondern auch das Verständnis dessen, was eine Theorie eigentlich ist. Denn das Bild von den Vorgängen und Zusammenhängen, welches die Wissenschaftler beim Design ihrer Experimente leitet, muss keineswegs ein logisch fehlerfrei aufgebautes Satzsystem sein. Van Fraassen setzt sich explizit von diesem Verständnis ab (»philosophers began to think of scientific theories in a language-oriented way« »die Philosophen begannen, über wissenschaftliche Theorien in einer Weise nachzudenken, die an Sprache orientiert war«, 1980, 64). Er setzt diesem die Vorstellung entgegen, Theorien bestünden aus Familien von Modellen: »To present a theory is to specify a family of structures, its models; and secondly, to specify certain parts of those models (the empirical substructures) as candidates for the direct representation of observable phenomena.« (»eine Theorie zu präsentieren bedeutet, eine Familie von Strukturen, ihre Modelle, zu benennen; und zweitens einen Teil dieser Modelle (die empirischen Substrukturen) als Kandidaten für die direkte Repräsentation beobachtbarer Phänomene zu benennen«, ebd., Hervorhebungen im Original) Damit wird für das Verständnis des Wissenschaftlichen ein weiteres Konzept wesentlich: das des Modells. In unseren Beispielen aus der Physik und der Ökonomie hatte sich die Rede von »theoretischen Modellen« bereits »eingeschlichen«. Über dieses Konzept gibt es in der Wissenschaftstheorie vielfältige Diskussionen (vgl. Bailer Jones, 2004, 201). Bei van Fraassen sind Modelle noch Bestandteile der Theorie, letztlich werden die verschiedenen Modelle (etwa das Pendel oder der gedämpfte harmonische Oszil56 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Theorien als Instrumente

lator in der klassischen Mechanik) in einer Theorie durch die fundamentalen Gesetze zusammengehalten (Morrison 1999, 41). Demgegenüber können Modelle eine autonome Rolle in den Wissenschaften entwickeln, sie können als Mediatoren zwischen Theorie und Welt fungieren, indem sie zugleich die Theorie und die Welt repräsentieren (Morrison and Morgan, 1999, 25). Modelle spielen nicht nur in der anti-realistischen Wissenschaftstheorie eine Rolle, vielmehr versuchen gerade auch Realisten unter den Wissenschaftstheoretikern, an die Stelle des gefährdeten Theorien-Realismus einen Modell-Realismus zu setzen, damit den wissenschaftlichen Fortschritt zu erklären und den Realismus zu »retten« (Aronson et. al 1995). Unsere Beispiele hatten gezeigt, dass es die Modelle sind, die als Kandidaten für tatsächliche Einsichten in die Wirklichkeit angesehen werden können. Modelle machen etwas aus der Wirklichkeit sichtbar und verständlich, was die Theorie als System logisch aufeinander aufgebauter Sätze nicht unbedingt leisten kann. Wissenschaftstheoretisch setzt sich somit das Wissenschaftliche aus drei Komponenten zusammen: Theorie, Modell und Experiment, wobei Theorie und Experiment (die begrifflich in einem weiten Sinne verstanden werden) sich gegenüberstehen und Modelle dazwischen eine vermittelnde Rolle spielen. Unterschiede bestehen zwischen den verschiedenen Autoren darin, ob die Erstellung von Theorien als logisch aufgebauten Satzsystemen das letzte Ziel der Wissenschaft ist, oder ob Theorien nur Mittel für das Design von Experimenten sind, somit das Ziel der Wissenschaft in der Durchführung erfolgreicher Experimente besteht. Im ersten Fall sind Theorien als Dokumentation wissenschaftlicher Erkenntnisse aufzufassen, die somit eine Repräsentation eines besonderen, gegenüber anderen Wissensformen ausgezeichneten Wissens von der Welt darstellen. Das Ziel, Wissen auf diese Weise in Theorien zu organisieren, muss selbst nicht gerechtfertigt werden, es kann als Selbstzweck angesehen werden, auch wenn Wissenschaftstheoretiker, die auf diese Weise ein Primat der Theorie annehmen (wie etwa Popper, Harré und Aronson), eine erfolgreiche Anwendung der Theorien nicht nur in Experimenten, sondern darüber hinaus für die Lösung praktischer Pro57 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Theoriendynamik

bleme annehmen. Modelle sind in diesem Fall Anwendungen der Theorie auf bestimmte Fälle oder Konstellationen von Objekten, deren Verhalten entsprechend der Theorie vorhergesagt und im Experiment nachgestellt werden kann. Im zweiten Fall, wenn also das erfolgreiche Durchführen von Experimenten als zentrales Ziel der Wissenschaften angenommen wird, macht sich der Wissenschaftler eine Modellvorstellung von einem Ausschnitt der realen Welt, um sein Experiment einzurichten. Ob das Modell in irgendeinem Sinne »wahr« ist, ist dabei sekundär, wichtig ist, dass sich aus ihm Experimentieranordnungen ableiten lassen. Das Modell ist jedoch nicht nur eine vage Vorstellung, sondern eine formale Konstruktion, dessen Verhalten formal beschrieben und berechnet werden kann. Modelle, die sich der gleichen formalen Konstruktionen bedienen, können als Familie aufgefasst und somit in einer Theorie (eben dieser formalen Konstruktionen) gebündelt werden. Solche Modelle können dann wieder die Grundlage für die Aufstellung einer Theorie sein, indem über das Modell und sein Verhalten bestimmte Basis-Sätze formuliert werden, deren Konsequenzen und Anwendungsmöglichkeiten auf konkrete, empirisch überprüfbare Fälle dann logisch abgeleitet werden. Beide Fälle, sowohl die Ausrichtung der Wissenschaften an dem Ziel, Theorien zu generieren, als auch die Orientierung an dem Wunsch, erfolgreich Experimente durchzuführen, lassen sich letztlich aber in ein konsistentes Bild von Wissenschaft einordnen, in dem Theorie und Experiment, vermittelt durch Modelle, sich wechselseitig bedingen. Ob damit allerdings schon der Charakter des Wissenschaftlichen hinreichend beschrieben wäre, muss bezweifelt werden: Da der Wahrheitsstatus der Theorie und der wissenschaftlichen Erkenntnis fragwürdig geworden ist, ließe sich mit diesem Bild fast jede erfolgreiche Tätigkeit als wissenschaftlich kennzeichnen. Auch der Unternehmer etwa, der eine gewisse Vorstellung von seinem Marktumfeld entwickelt (Modelle, gebündelt in zugrundeliegenden Theorien) um ein neues Produkt in den Markt zu bringen (Experiment), würde dann wissenschaftlich arbeiten. Selbst Bobs Vorstellung von Geheimorganisationen, die das Geschick der Menschheit steuern, könnte 58 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Theorien als Instrumente

Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Des Weiteren muss die Frage beantwortet werden, ob das so gezeichnete Bild des Wissenschaftlichen universell sowohl hinsichtlich jeglicher als wissenschaftlich bezeichneter Praxis als auch in Bezug auf die zeitliche Dimension ist, ob also in allen Disziplinen und zu allen Zeiten in dem, was als Wissenschaft bezeichnet wird, ein modellvermitteltes Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment zu finden ist. Bevor diese Fragen zum Gegenstand gemacht werden, soll im folgenden Kapitel jedoch zunächst die Annäherung an das Verständnis des Wissenschaftlichen vom Pol des Experimentierens aus erfolgen. Wurde in diesem Kapitel, der wissenschaftstheoretischen Argumentation folgend, die Theorie als System von logisch miteinander verbundenen Aussagen zum Ausgangspunkt gemacht, so soll nun das Experiment oder das Experimentieren genauer betrachtet werden.

59 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

2

Das wissenschaftliche Experimentieren

Mit den Ansätzen, die in den folgenden Abschnitten diskutiert werden, wenden wir uns zunächst ganz dem Verständnis der Naturwissenschaften zu. Die Autoren haben ausdrücklich das Experimentieren in den Naturwissenschaften im Fokus und wollen die Wissenschaften aus dieser Perspektive verständlich machen. Wir werden aber auch prüfen, inwiefern sich ihre Konzepte auch für das Verständnis anderer Disziplinen fruchtbar machen lassen. In seinem Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge zitiert Hans-Jörg Rheinberger den amerikanischen Nobelpreisträger Alfred Hershey, der auf die Frage nach dem höchsten Glück des Wissenschaftlers geantwortet haben soll: »Ein Experiment zu haben, das funktioniert, und es immer wieder tun.« (Rheinberger 2006, 20) Dieses Bild vom wissenschaftlichen Arbeiten könnte kaum weiter von dem entfernt sein, das Popper geschildert hat, als er das wissenschaftliche Arbeiten als das Aufstellen von Theorien beschrieben hat. Für Popper und viele Wissenschaftstheoretiker ist die Arbeit an logisch strukturierten Satzsystemen das Besondere am Wissenschaftlichen, die Tätigkeit, die den Wissenschaftler auszeichnet. Experimente dienen nur der Überprüfung dieser Theorien, der Beantwortung von Fragen, die von der theoretischen Arbeit aufgeworfen wurden. Ein Wissenschaftler wie Hershey, so wie ihn Rheinberger hier zitiert, wäre hingegen offenbar auch ganz ohne theoretische Leitung denkbar. Damit soll nicht behauptet werden, dass experimentierende Wissenschaftler tatsächlich ganz ohne theoretische Vorstellungen und leitende theoretische Ideen an ihre Arbeit gehen würden. Galison (1987, 246–255) hat die verschiedenen langfristig stabilen oder kurzfristig vertretenen theoretischen Randbedingungen und Annahmen der Experimentatoren detailliert dargestellt und gezeigt, dass in der Geschichte der modernen Naturwissenschaften (insbesondere der Physik) wohl kein Experimentator ganz ohne 60 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

theoretische Annahmen ausgekommen ist. Was jedoch auf den nächsten Seite gezeigt wird, ist, dass die Geschichte vieler naturwissenschaftlicher Entwicklungen auch ganz ohne die Annahme theoretischer Rahmensetzungen, Prognosen oder Fragestellungen verstanden werden kann und dass wissenschaftliches Experimentieren auch nicht notwendigerweise auf Theoriebildung abzielen muss. Dass die konkreten Personen die Theorien ihrer Disziplinen kannten und theoretisch geprägte Begriffe nutzten, ist für das Verstehen der Dynamik der Wissensproduktion in ihrer Arbeit nicht wesentlich. Es gibt einen interessanten methodischen Unterschied zwischen der Wissenschaftstheorie, wie sie etwa Popper betreibt, und der Wissenschaftsphilosophie Rheinbergers. Popper und mit ihm die meisten Wissenschaftstheoretiker wählen zur Illustration ihrer Argumente und zur empirischen Fundierung ihrer Beschreibungen von Wissenschaft vorrangig Beispiele aus der Geschichte der Physik. Andere Wissenschaften, wie etwa die Biologie, werden von ihnen weitgehend ignoriert (vgl. Weber 2005, 2), Rheinberger hingegen beschäftigt sich, so wie auch andere Wissenschaftsphilosophen und -historiker, die der Natur der Wissenschaften auf den Grund gehen wollen, mit Entwicklungen in genau diesen anderen Wissenschaften, wie etwa der Molekularbiologie. Ob tatsächlich die gegenwärtige Physik mehr theoretische Wissenschaft ist als die anderen Naturwissenschaften, ob das Bild des Vorweggehens der Theoretiker, die den Experimentatoren Aufgaben stellen, an denen diese sich dann unter Umständen jahrzehntelang abarbeiten müssen, überhaupt für die Physik zutrifft, ist damit allerdings nicht gesagt. Auch in der Physik wird bekanntlich sehr viel experimentiert, und oft werden Phänomene untersucht, für die es keine theoretischen Erklärungsansätze gibt oder bei denen sich die vorhandenen Hypothesen, auch wenn sie jahrzehntelang etabliert sind, später als nichtzutreffend herausstellen. Unbestritten lässt sich die Physik aber mehr als andere Wissenschaften theoretisch lehren und ihre Erkenntnisse werden in der Öffentlichkeit eher in Form von Theorien präsentiert. So spricht man heute etwa zur Illustration des Fortschritts in der Physik ganz selbstverständlich vom Fortschreiten von der 61 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

Newtonschen Mechanik zur Speziellen und später zur Allgemeinen Relativitätstheorie oder von der Bestätigung des Standardmodells der Teilchenphysik durch das CERN-Experiment, welches das vorhergesagte Higgs-Teilchen gefunden hat. Fortschritt in der Biologie hingegen wird etwa durch die Entdeckung bisher unbekannter Zellstrukturen oder Bakterien illustriert, mit deren Hilfe dann erst Theorien, etwa über die Entstehung oder Verbreitung von Krankheiten, aufgestellt werden können. Grundsätzlich kann man beobachten, dass philosophische Untersuchungen zu den Naturwissenschaften die verschiedenen Disziplinen je sehr unterschiedlich auffassen. Während die Physik zumeist als theoretische Wissenschaft verstanden wird, deren Theorien durch Experimente zu stützen sind (z. B. Wüthrich 2017, 221 ff.), wird die Chemie als experimentelle Laborwissenschaft aufgefasst (Schummer 2017, 229). Die Biologie hingegen gilt als Disziplin, die verschiedene Forschungsmodi kennt, sie arbeitet als Feldforschung ebenso wie als experimentelle Laborwissenschaft, aber auch theoretisch, wenn sie etwa die Funktionsweise von Organismen erklärt (Reydon 2017, 256). So zeichnen denn die verschiedenen wissenschaftsphilosophischen Ansätze auch verschiedene Bilder vom Wissenschaftlichen, je nach dem, welche Disziplinen sie im Fokus haben. Man kann also das Wissenschaftliche, zumindest, wenn man den Blick von der modernen Physik löst und sich anderen Wissenschaften zuwendet, auch ganz anders sehen, als es etwa Popper getan hat: nicht als ein Theoretisieren, aus dem sich empirisch beantwortbare Fragen ableiten lassen, sondern eher als ein Experimentieren, aus dem, möglicherweise, Theorien zu gewinnen sind. Dabei ist eine Experimentatorin womöglich weit weniger auf den Theoretiker angewiesen als es umgekehrt der Fall ist. Ein Begriff vom Wissenschaftlichen, der wenigstens das gegenwärtige Phänomen der Wissenschaften erfassen will, muss dem gerecht werden. Deshalb sollen im Folgenden Argumentationen der Wissenschaftsphilosophie, die vom Experimentieren ausgeht, nachvollzogen werden.

62 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments

2.1 Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments In seinem Aufsatz Das Experiment in den Wissenschaften stellt Michael Heidelberger fest, dass »seit den 1980er Jahren […] in der wissenschaftsphilosophischen Untersuchung des Experiments ein Wandel eingetreten« ist (Heidelberger 2007,164). Er verweist auf die Vielfalt der Bereiche, in denen seitdem Studien vor allem aus soziologischer und historischer Perspektive durchgeführt wurden und äußert die »Hoffnung, dass die traditionelle Konzentration auf die Experimente der Physik bald der Vergangenheit angehören wird« (165). Heidelberger zufolge ist dieser Wandel vor allem dem Buch Representing and Intervening von Ian Hacking (in Deutsch erschienen unter dem Titel Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Hacking, 1996) zu verdanken. Unbestritten spielt Hackings Buch eine bedeutende Rolle in der Diskussion um die experimentelle Seite des Wissenschaftlichen, auch wenn Beiträge etwa von Bruno Latour, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird, ebenso zur Belebung dieser Debatte beigetragen haben dürften. Hacking hat dem theoretischen und dem praktischen Aspekt der Wissenschaften in seinem Buch je zwei etwa gleich umfangreiche Teile gewidmet. Besonders einflussreich ist sicherlich der zweite Teil geworden, der unter dem Titel »Eingreifen« steht. Wie Heidelberger schreibt, sind daraus »besonders zwei Thesen in Bezug auf das wissenschaftliche Experiment populär geworden« (ebd). In der ersten geht es um die Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus (vgl. oben, Seite 39). Jenseits aller wissenschaftstheoretischer Erwägungen über die Rechtfertigungsmöglichkeiten einer realistischen Interpretation theoretischer Entitäten wie etwa Elementarteilchen stellt sich Hacking auf den Standpunkt, dass sie sich als real erweisen, sobald man etwas mit ihnen machen kann: »Wenn man sie versprühen kann, dann sind sie real« (Hacking 1996, 47). Die Frage, ob die Entitäten existieren, welche von Theorien postuliert werden, damit beobachtbare Phänomene erklärt werden können, lässt sich für Hacking somit nur praktisch beantworten. Dieser praktische Nachweis besteht nicht etwa darin, dass man die in Frage stehenden Entitäten in 63 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

irgendeinem Sinne »sichtbar macht«, sondern darin, dass man sie selbst zu einem Mittel machen kann, um einen Zweck zu erreichen. Insofern wäre für Hacking die Existenz etwa des Higgs-Teilchens durch die Experimente am CERN noch nicht nachgewiesen, erst, wenn man diese Teilchen selbst in einem Experiment einsetzen könnte, um andere Objekte zu manipulieren, wären sie real. 8 Hackings zweite These betrifft die Autonomie des Experiments gegenüber der Theorie: »Die Experimentiertätigkeit führt eine Vielzahl von Eigenleben« (Hacking, 1996, 276). Damit ist vor allem gemeint, dass das Experimentieren in vielen Fällen ganz ohne eine Theorie auskommt, die die Beobachtung erklärt oder Beobachtungsergebnisse vorhersagt. Das betrifft ausdrücklich auch eine Vielzahl von Fällen in der Physik, wie etwa das Auftreten der Supraleitung, die zwar im Experiment wissenschaftlich untersucht und sogar selbst als Instrument eingesetzt werden kann, etwa in den Teilchenbeschleunigern, ihrerseits aber lange Zeit theoretisch nicht verstanden war. 9 Hackings Thesen werden weiter unten zu Konzepten des Experimentierens in Beziehung gesetzt, die in der Folge entwickelt wurden. Heidelberger selbst skizziert zum einen eine »Zweistufentheorie des Experiments« und zum anderen eine »WissenschaftsphiAn dieser Stelle ist ein Nachdenken über die Doppeldeutigkeit des Wortes »Wenn« im Deutschen lohnend, auch wenn Hackings These im englischen Original mit einem »If« beginnt, das eindeutiger mit »Falls« zu übersetzen wäre. Werden die Entitäten erst durch ihren Einsatz als Werkzeug real, oder wird ihre Realität durch diesen Einsatz erst nachgewiesen. Die Frage ist keine bloße Spielerei, denn Hacking selbst schreibt, dass die Experimente »oft die Phänomene erzeugen, die dann Kernstücke der Theorie bilden« (Hacking 1996, 364) Wenn aber die Phänomene erst im Experiment erzeugt werden, so könnte man vermuten, dass auch die Entitäten, die postuliert werden, um diese Phänomene zu erklären, auch erst dort entstehen. 9 Hacking führt selbst das Beispiel der Supraleitung an und schreibt, dass es 1957 gelang, »auch die Supraleitung quantenmechanisch zu begreifen« (1996, 276). Allerdings wurde durch die Theorie damals vorhergesagt, dass es Supraleitung oberhalb einer Temperatur von 30K nicht geben könne. In den 1980er Jahren gelang es jedoch, Supraleitung bei wesentlich höheren Temperaturen zu erzeugen, wofür es zumindest 2011 noch keine theoretische Erklärung gab (vgl. Mann 2011). 8

64 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments

losophie des Instruments«. Beides kann für die Entwicklung eines konsistenten Konzepts des Wissenschaftlichen fruchtbar gemacht werden und soll deshalb hier kurz nachvollzogen werden. Die Frage, ob beim wissenschaftlichen Experimentieren Wissen im Sinne von Einsicht in Prozesse der Wirklichkeit entsteht, werden wir auf dieser Basis ebenfalls diskutieren können. Auf einer ersten Ebene des Experimentierens sieht Heidelberger »eine kausale theoriefreie Stufe der Manipulation von Objekten mit Instrumenten« (167). Diese ähnelt dem Umgang mit Gegenständen im Alltag, vor allem auch hinsichtlich der Kausalitätsvorstellungen. Man könnte sich einen Experimentator vorstellen, der etwa beobachtet, was an einem Ende der Experimentieranordnung passiert, wenn er an einem anderen Ende etwas manipuliert. So, wie man im Alltag vielleicht davon spricht, dass das Wasser auf dem Herd zu kochen begonnen hat, weil man den zugehörigen Schalter in die Position »9« gebracht hat, so kann der Experimentator im wissenschaftlichen Experiment feststellen, dass immer, wenn er die Lichtstärke, die auf eine Photodiode fällt, über einen bestimmten Wert erhöht, die Stromstärke im angeschlossenen Amperemeter sprunghaft ansteigt. Darauf aber, so Heidelberger, baut eine Struktur auf, »bei der die symbolische Interpretation dominiert« (ebd.). Dies ist die zweite Stufe, hier werden »die kausalen Erfahrungen einem symbolischen Zusammenhang assimiliert« (ebd.). Das Experiment dient »auf der theoretischen Ebene als Anpassung an ein theoretisches Konzept« (ebd.). Diese Zweistufentheorie nutzt Heidelberger zu einer wissenschaftsphilosophischen Einteilung der Instrumente, die im Experiment genutzt werden. Auf der ersten Stufe unterscheidet er produktive und konstruktive Instrumente: produktive Instrumente haben die Funktion, die Phänomene zu produzieren, die dann im Experiment untersucht werden können. So stellt etwa die Luftpumpe ein Vakuum her, oder die Elektrisiermaschine eine elektrische Spannung. Wichtig ist, dass diese Phänomene ohne produktive Instrumente der wissenschaftlichen Erfahrung nicht zugänglich wären. Man muss hier sehr vorsichtig und präzise formulieren: Heidelberger würde sicherlich nicht bestreiten, dass es 65 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

etwa elektrische Spannungen auch in der Natur und ganz ohne produktive Instrumente gibt, jedoch ist es für das Verständnis des wissenschaftlichen Experimentierens (und wohl auch des Wissenschaftlichen überhaupt) wesentlich, dass es des produktiven Instruments bedarf, um das Phänomen für die wissenschaftliche Untersuchung zugänglich zu machen. Selbstverständlich könnte man auch durch bloße Beobachtung und sorgsame Beschreibung natürlich vorkommender elektrischer Entladungen einiges über elektrische Spannungen und deren Wirkungen lernen. Fraglich ist allerdings, ob man diese als elektrische Spannungen beschreiben könnte. Um sie aber, in welchem Sinne auch immer, wissenschaftlich zu begreifen, ist das produktive Instrument notwendig, denn es stellt das interessierende Phänomen quasi auf Abruf, bei Bedarf, bereit. Darüber hinaus gibt es allerdings auch produktive Instrumente, die Phänomene erzeugen, deren Vorkommen in der Natur zumindest so unwahrscheinlich ist, dass ihre Beobachtung oder gar ihr Verstehen grundsätzlich auszuschließen ist, so etwa die genannte Supraleitung, der Laser, oder auch der photoelektrische Effekt. Von den produktiven Instrumenten unterscheidet Heidelberger Instrumente mit konstruierender Funktion. Sie »sind dazu da, die Phänomene so zu beeinflussen und zu bearbeiten, dass sie in einer gewünschten Weise im Labor beherrschbar werden« (168). Die Ausschaltung störender Einflüsse gehört ebenso zur Aufgabe dieser Instrumente wie die Ermöglichung der Modellierbarkeit und Manipulierbarkeit der Phänomene. Produktion, Isolierung, Beherrschung und Manipulation der Phänomene gehören für Heidelberger zur ersten Stufe des wissenschaftlichen Experimentierens, zu der produktive und konstruierende Instrumente benötigt werden, genauer gesagt, Instrumente mit produktiver und konstruierender Funktion, denn wie Heidelberger selbst schreibt dient ein konkretes Gerät oft »sowohl als produktives wie als konstruktives Instrument« (171). Mit ihnen können Phänomene erzeugt wie auch systematisch manipuliert werden. Damit lassen sich kausale Zusammenhänge zwischen Phänomenen begreifen, wenn etwa durch die systematische und wiederholbare Manipulation eines Phänomens ein 66 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments

anderes Phänomen produziert und ebenfalls manipuliert werden kann. Auf der zweiten Stufe des wissenschaftlichen Experimentierens kommt die symbolische Repräsentation ins Spiel. »Repräsentierende Instrumente haben nun den Zweck, die Abhängigkeit eines Phänomens von anderen Phänomenen symbolisch darzustellen« schreibt Heidelberger (169). Repräsentierende Instrumente sind diejenigen, die für gewöhnlich als Messinstrumente bezeichnet werden, sie ermöglichen es, das Phänomen als Symbol, und das heißt zumeist, als Zahl darzustellen. Genau genommen sind repräsentierende Instrumente ebenfalls produktive Instrumente, da das erzeugte Symbol, etwa die Stellung des Zeigers oder die angezeigte Zahl, natürlich selbst auch ein Phänomen ist. Man kann die Experimentieranordnung in den Begriffen von Heidelberger als ein kontrolliertes und Stück für Stück zusammengebautes und erweitertes Netz von produktiven und konstruktiven Instrumenten auffassen. Einige dieser Instrumente sind gleichzeitig repräsentierende Instrumente, die von ihnen erzeugten Phänomene sind symbolische Darstellungen für das, was im Experiment produziert und konstruiert wird. Die Verknüpfungen im Netz haben eine Richtung: Die Produktion und Konstruktion, sprich beherrschte Manipulation, wird genutzt, um wiederum andere Phänomene zu produzieren und zu beherrschen, bis hin zu einem repräsentierenden Instrument, das die symbolische Repräsentation des Phänomens und das eigentlich Gegenstand der Untersuchung ist, zumeist, weil es noch nicht sicher beherrscht wird. Die verschiedenen symbolischen Repräsentationen der Phänomene können nun von den Instrumenten der realen Experimentieranordnung abgelöst werden und außerhalb des Labors als Symbole zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die kausale Manipulation der Phänomene im Labor wird durch symbolische Beziehungen repräsentiert, etwa durch mathematische Formeln oder logische Verknüpfungen. Das ist es, was Heidelberger die »Assimilation an die symbolische Form« (172) nennt. In diesem Prozess wird die kausale Manipulation auf phänomenologische Gesetze abgebildet. Dabei werden einerseits die experimentellen Phänomene in ihrer symbolischen Repräsentation mit Begriffen 67 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

belegt: Man »misst« nicht die beobachtete Erwärmung eines Körpers im Experiment, die durch verschiedene Erfahrungstatsachen spürbar wird, sondern deren symbolische Repräsentation, die Temperatur. Zum anderen werden für die Repräsentation der kausalen Beziehung in einer symbolischen Form selbst neue Begriffe geschaffen, insbesondere die Konstanten, die aus den symbolischen Relationen mathematische Gleichungen machen, wie etwa die Gravitationskonstante oder der elektrische Widerstand. Wenn Heidelberger hier von einer »theoretischen Ebene« spricht, muss uns jedoch bewusst sein, dass die symbolische Repräsentation, von der er spricht, nicht viel mit den Satzsystemen der Theorien zu tun hat, wie sie im vorigen Abschnitt beschrieben wurden. Betrachten wir das Beispiel der Gasgesetze, die uns schon oben beschäftigt haben. Auf der zweiten, symbolischen Ebene des Experimentierens sucht der Wissenschaftler eine mathematische Beschreibung für den Zusammenhang von Druck, Temperatur und Volumen. Er untersucht die Differenzen zwischen dem tatsächlichen gemessenen Verhalten, das sich in Symbolen (Zahlen, die Werte von physikalischen Größen ausdrücken) dokumentieren lässt, und einfachen mathematischen Beschreibungsmöglichkeiten, etwa eines linearen Zusammenhangs. Er versucht, durch Verbesserungen an der Experimentalanordnung der mathematischen Erwartung näher zu kommen. Wenn das nicht gelingt, verändert er die symbolische mathematische Beschreibung, indem er etwa zusätzliche Terme in die Gleichungen einführt. All das hat aber noch nichts mit der kinetischen Gastheorie zu tun, die das gemessene und in mathematischen Formeln beschriebene Verhalten durch die Vorstellung kleiner elastischer Kugeln erklären soll. Ist die symbolische Repräsentation der experimentellen Beobachtungen eine Erkenntnis oder sogar eine Einsicht? Welche Art von Wissen entsteht daraus? Bleiben wir bei unserem Beispiel, dann ist klar, dass das phänomenologische Gesetz auf jeden Fall einen Nutzen hat. Es kann für die Konzeption technischer Anlagen verwendet werden. Es kann gelehrt werden. Insofern ist es auf jeden Fall eine nützliche Erkenntnis. Zugleich erklärt es gewisse Beobachtungen im Alltag, etwa, 68 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Epistemische Dinge in Experimentalsystemen

dass die Luftpumpe sich erwärmt, während Bob den Fahrradreifen aufpumpt. Sollte er sich darüber wundern, kann er Alice fragen, die Physik studiert hat, und die ihm erklärt, dass Gase sich erhitzen, wenn man durch Druck ihr Volumen zusammenpresst. Ist das schon eine Einsicht? Das ist schwer zu sagen: Bob könnte einwenden, dass ihm die bloße Tatsache der Erwärmung schon beim regelmäßigen Aufpumpen der Reifen aufgefallen ist, und dass Alice diese praktische Erfahrung nur in einem allgemeinen Satz ausgedrückt hat. Dann würde Alice ihm womöglich die Geschichte von den kleinen Kugeln erzählen, die das Gas bilden und die durch ihre Stöße an die Wände Energie übertragen, die wir als Erwärmung wahrnehmen. Ob Bob das dann als Einsicht empfindet, hängt noch von einigem ab, etwa davon, dass er akzeptiert, dass die Geschwindigkeit der Teilchen, die gegen die Wände fliegen, als Temperatur, als warm oder kalt empfunden wird. Dass das schöne Bild der Kugeln auch seine Schwächen hat, haben wir zudem schon im vorangegangenen Kapitel gesehen. Es kann also sein, dass Bob das schöne Bild der fliegenden Kugeln zwar einleuchtet, dass er es als Einsicht erlebt und nun meint, zu wissen, warum seine Luftpumpe heiß wird, dass er aber enttäuscht einsieht, es doch nicht zu wissen, sobald ihm jemand erklärt, dass das Bild bei genauer Betrachtung falsch ist.

2.2 Epistemische Dinge in Experimentalsystemen Ein zweiter Ansatz, das wissenschaftliche Experimentieren philosophisch zu deuten, wird unsere Vorstellungen von experimentellen Einsichten vervollständigen. Während Heidelberger in seiner »Wissenschaftsphilosophie des Instruments« die Komponenten der Experimentalanordnung im Fokus hat, betrachtet Hans-Jörg Rheinberger diese zunächst als eine Einheit. Er sieht »in einer Forschungsanordnung oder in einem Experimentalsystem die Kernstruktur, in der die wissenschaftliche Aktivität sich entfalten kann« (2006, 22). Experimentalsysteme sind »die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung« (25), in denen 69 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

»zwei verschiedene, jedoch nicht voneinander trennbare Strukturen ineinandergreifen« (27). Die eine ist der eigentliche »Gegenstand der Forschung«, das »epistemische Ding« (ebd). Die epistemischen Dinge »verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß« (28). Auch wenn ihnen das eigentliche Interesse der Forschung gilt, haben die Wissenschaftler von ihnen nur eine vage, verschwommene und schwankende Vorstellung, die sich aus den Erfahrungen ableitet, die sie innerhalb des Experimentalsystems gemacht haben. Damit eine solche Erfahrung aber überhaupt möglich ist, muss das Experimentalsystem eine zweite Struktur enthalten, die Rheinberger »als Experimentalbedingungen oder als technische Dinge« bezeichnet. »Die epistemischen Dinge werden von ihnen eingefasst und damit in übergreifende Felder von epistemischen Praktiken und materiellen Wissenskulturen eingefügt« (29). Wissenschaftliches Experimentieren bedeutet also, mit Hilfe bekannter technischer Komponenten den eigentlichen Gegenstand der Forschung, den Teil des Experimentalsystems, über den noch Unsicherheit besteht, buchstäblich in den Griff zu bekommen. Zu den Experimentalbedingungen gehören dabei nicht nur zuverlässig funktionierende Apparate, Messgeräte und Vorrichtungen, sondern auch gelernte und sicher beherrschte Verfahren und Vorgehensweisen des Experimentierens. In der Biologie gehören zu den technischen Dingen im Experimentalsystem auch standardisierte Modellorganismen (ebd.). An ihrem Beispiel wir besonders deutlich, dass die Grenze zwischen technischen Bedingungen und den epistemischen Dingen nicht »material begründet«, sondern »funktional zu verstehen« (30) ist. Sie ist fließend. Einerseits kann auch ein Teil der technischen Bedingungen wieder zum epistemischen Ding werden, wenn etwa ihr Verhalten unter bestimmten Bedingungen nicht hinreichend stabil wird, und damit wieder Unsicherheit produziert und auf Unbekanntes verwiesen wird. Andererseits kann ein epistemisches Ding innerhalb des Experimentalsystems zur technischen Bedingung werden, wenn zum einen sein Verhalten hinreichend stabilisiert ist und sich damit eine Frage an ein neues epistemisches Ding innerhalb des Experimentalsystems generieren lässt. 70 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Epistemische Dinge in Experimentalsystemen

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Rheinberger mit dem Konzept des Experimentalsystems eine Phänomenologie des wissenschaftlichen Experimentierens entwickelt hat. Einige wichtige Teile dieser Phänomenologie lassen sich für eine allgemeine Phänomenologie des Wissenschaftlichen in der Gegenwart nutzbar machen. Dazu gehören vor allem die Dynamik von Reproduktion und Differenz sowie die Repräsentation von epistemischen Dingen in Graphemen, Spuren und Inskriptionen. Diese Konzepte sollen deshalb im Folgenden kurz dargestellt werden. Reproduzierbarkeit spielt in den Wissenschaften eine wesentliche Rolle und es ist bereits darauf verwiesen worden (vgl. oben, Seite 39), dass auch Popper in der Wiederholbarkeit von Experimenten ein wesentliches Charakteristikum wissenschaftlicher Arbeit sah. Reproduktion als Eigenschaft eines Experimentalsystems ist aber zunächst etwas anderes: Ein Experimentalsystem, so kann man sagen, reproduziert sich selbst. Rheinberger schreibt: »Der reproduktive Charakter des Experimentalprozesses hängt damit zusammen, dass er eine nicht abreißende Kette von Ereignissen darstellt, durch welche die materiellen Bedingungen zur Fortsetzung eben dieses Experimentalprozesses erhalten bleiben.« (90) Zum Experimentalsystem gehören eben mehr Dinge als ein paar Geräte und Materialien für das Durchführen von Experimenten. Mit jedem Experiment im Labor wird nicht nur ein Ergebnis erzielt, sondern ein Verfahren des Experimentierens weiter etabliert, die Routine in der Handhabung bestimmter Messgeräte wird verbessert, wissenschaftlicher Nachwuchs wird eingewiesen und ausgebildet, Erfahrungen über das Verhalten der Systemkomponenten werden gesammelt. Damit wird das Experimentalsystem immer sicherer beherrscht und es wächst die Bereitschaft, seine Möglichkeiten weiter auszuloten, die Schwerpunkte der Forschung allmählich zu verschieben und auf neue Felder zu verlagern. Deshalb gehört zur Reproduktion des Experimentalsystems wesentlich die Differenz. »Experimentatoren repetieren unablässig, ohne deshalb an Identitäten interessiert zu sein. Sie suchen vielmehr nach dem, was sie ›spezifische Differenzen‹ nennen« (Rheinberger 2006, 96. Zitiert wird hier der amerikanische Biochemiker Robert B. Loftfield). 71 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

Wissenschaftlicher Fortschritt ist nach diesem Verständnis also die differentielle Reproduktion von Experimentalsystemen. Einerseits reproduziert sich das Experimentalsystem stabil und sorgt damit dafür, dass die technischen Bedingungen beherrschbar bleiben. Gleichzeitig existieren in ihm epistemische Dinge, die noch Unbekanntes bergen und die für die Produktion von Differenzen sorgen. Ein Experimentalsystem ist nicht das gleiche wie ein Experiment oder eine Experimentalanordnung. Wenn wir von einem Experiment sprechen, müssen wir zunächst bedenken, dass wir damit ein konkretes Ereignis meinen können, welches an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stattfindet. Wenn man sagt, dass in einem bestimmten Labor oder in eine Forschungsanlage wie dem CERN an einem bestimmten Tag zu einem bestimmten Zeitpunkt ein »Experiment ausgeführt« wurde, ist schon klar, dass das Experiment mehr ist als das, was da stattfand. Es verhält sich hier ähnlich wie bei der Aufführung eines Musikstücks. Damit das Musikstück aufgeführt werden kann, muss es zuvor schon existieren, es muss komponiert und einstudiert sein. Es muss Musiker geben, die ihre Instrumente beherrschen und die wissen, welchen Teil sie zum Gelingen des Stücks beizutragen haben. Sodann muss es einen geeigneten Raum geben, in dem es zur Aufführung des Stücks kommen kann. Noch mehr: Es muss Veranstalter geben, die dem Publikum mitteilen, dass das Stück aufgeführt wird. Wir könnten den Kreis dessen, was zur Aufführung des Stücks gehört, immer weiter ziehen. All das gehört zum »Musizier-System« in dem es zur einzelnen Realisierung der Aufführung an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit kommt. Ähnlich ist es beim Experimentalsystem: Es braucht die Produktion und Bereitstellung von Gerätschaften, geeignetes Personal, es braucht Konzepte für die Durchführung von Experimenten, Planungen, Labore, finanzielle Mittel. Das alles gehört zu einem Experimentalsystem dazu. So, wie das »Musizier-System« bestimmte Aufführungen ermöglicht und andere ausschließt oder behindert, also einen Möglichkeitsraum fürs Musizieren definiert, so ermöglicht auch das Experimentalsystem die Ausführung und Variation bestimmter 72 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Epistemische Dinge in Experimentalsystemen

Experimente und schließt anderes aus. In jedem Labor sind bestimmte Instrumente und Messgeräte vorhanden und andere nicht. Aber mehr noch: Die Mitarbeiter des Labors, von der Hilfskraft, dem Servicepersonal, über die wissenschaftlichen Mitarbeiter bis zur Institutsdirektorin haben alle bestimmte Erfahrungen, sind mit dem Umgang bestimmter Instrumente und Stoffe vertraut, haben bestimmte technische Fähigkeiten und können sich deshalb in einem bestimmten Raum des Experimentierens bewegen. All das gehört zum Experimentalsystem. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen der Praxis des »musizierenden Systems« und der des Experimentalsystems. Das Musikstück ist bereits »da« bevor es in einer musikalischen Praxis zur Aufführung gebracht wird. Es wird womöglich in unterschiedlicher Perfektion und mit einer besonderen individuellen Variation aufgeführt, bleibt aber dabei unverändert so, wie es in den Noten der Partitur festgeschrieben ist. Das Experiment entsteht hingegen erst mit dem Experimentalsystem. Indem das Experiment im Experimentalsystem ausgeführt wird, machen die Experimentatoren Erfahrungen, sie erleben, ob das Experiment gelingt oder scheitert. So variieren sie das Experimentalsystem und damit verändert sich das Experiment. Es entsteht eine Eigendynamik, in der durch Variation des Experimentalsystems Experimente wachsen, sich entwickeln, stabilisieren, in der aber auch innerhalb des Experimentalsystems neue Experimente entstehen können – natürlich keine beliebigen, sondern eben solche, die innerhalb des Experimentalsystems möglich sind, die aber vorher noch nicht bekannt und auch nicht vorgesehen waren. Das Beispiel des Musizier-Systems zeigt bereits, dass sich das Konzept des Experimentalsystems auch für das Verstehen der empirisch-modellierenden Arbeit der Forschung außerhalb der Naturwissenschaften eignet. Auch etwa in den historischen Wissenschaften oder in den Kunstwissenschaften gibt es solche Experimentalsysteme. Sie bestehen aus den Archiven und Bibliotheken, in denen das empirische Material auf bestimmte Weise angeordnet ist, sie bestehen aus den Standardwerken und Wörterbüchern, aus bestimmten Arbeitsräumen, Handapparaten von Instituten, Lesesälen oder auch Zugangsberechtigungen zu be73 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

stimmten geeigneten Online-Ressourcen. Sie bestehen weiterhin auf standardisierten und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierten Verfahren, das empirische Material aufzubereiten und strukturiert darzustellen. Nicht von ungefähr sprechen wir vom Begriffsapparat einer Disziplin – das sind die Werkzeuge und Instrumente der jeweiligen Wissenschaft, mit der sie ihre epistemischen Dinge, etwa das Werk eines Künstlers oder eine bestimmte historische Situation mit einer Menge zusammengehöriger Ereignisse, die es zu verstehen gilt, in den Griff bekommt. Wie aber und in welchem Sinne wird in diesen Experimentalsystemen Wissen erzeugt, »wie entfalten diese Systeme ihre epistemische Wirkmacht« (Rheinberger 2006, 126)? Auch für Rheinberger steht im Zentrum der wissenschaftlichen Aktivität, ebenso wie für die Wissenschaftstheoretiker in der Tradition Poppers, die Repräsentation des Wissens: »im Zentrum dessen, worum es in der wissenschaftlichen Praxis geht, stoßen wir auf das Problem der Darstellung« (ebd). Allerdings handelt es sich für Rheinberger nicht um logisch aufgebaute Satzsysteme, in denen das wissenschaftliche Wissen dokumentiert wird. Die Repräsentationen entstehen nicht losgelöst vom Experimentieren, sie sind nicht Produkt der Gedankenarbeit des Theoretikers, sondern sie entstehen im Prozess des Experimentierens selbst. Experimentalsysteme sind so aufgebaut, dass die epistemischen Dinge Spuren erzeugen (2006, 131), Inskriptionen, wie Rheinberger sie auch in Anlehnung an Latour nennt. »Ein Wissenschaftsobjekt wird im Rahmen eines bestimmten Experimentalsystems innerhalb eines Raumes materieller Repräsentation entfaltet und zur Artikulation gebracht« (Rheinberger 1992, 29). Die »graphematischen Spuren« bilden erst das »epistemische Ding« sie »verkörpern bestimmte Seiten des Wissenschaftsobjekts in fassbarer, im Labor handhabbarer Form« (1992, 29). Als Beispiele aus der biologischen Forschung führt Rheinberger an gleicher Stelle »ein Chromatogramm […] ein DNA-Sequenzgel, eine Reihe von Reagenzgläsern, denen Rundfilter zugeordnet werden, mit denen wiederum Zähleinheiten radioaktiven Zerfalls korreliert werden können,« auf. Aus der Physik etwa kann man 74 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Epistemische Dinge in Experimentalsystemen

Aufnahmen einer Nebelkammer und Aufzeichnungen von Messgeräten nennen. Ob ein Laborant nötig ist, der die Aufnahmen macht oder etwa die Anzeige des Thermometers regelmäßig nach einer bestimmten Vorschrift in ein Diagramm überträgt, oder ob die Aufzeichnung durch die Apparatur selbst vorgenommen wird, ist dabei zweitrangig, denn der Laborant gehört, einschließlich seiner erlernten und fachkundig ausgeführten Messtätigkeit, zum Experimentalsystem dazu. Auch in den Geisteswissenschaften kennen wir das Erzeugen graphematischer Spuren als strukturierte, oft grafische und schematische, Darstellungen der empirischen Resultate. Bedeutsam für das wissenschaftliche Experimentieren ist also nicht nur, dass etwas beobachtet werden kann, etwa der Zeigerausschlag eines Messinstruments oder die Verfärbung einer Substanz in der Petrischale, sondern dass diese Beobachtungen aufgezeichnet werden, und zwar innerhalb des Experimentalsystems, durch die technische Umgebung, die die Stabilität dieser Aufzeichnung garantieren. So werden die epistemischen Dinge produziert und selbst stabilisiert bis sie, entsprechend der gewonnenen Grapheme, selbst zu den technischen Objekten im Experimentalsystem werden können, da ihr Verhalten, das in den graphematischen Spuren repräsentiert ist, stabilisiert ist. Damit dies gelingt, ist noch etwas anderes notwendig, nämlich, dass das Experimentalsystem Modell ist. Rheinberger schreibt an anderer Stelle, »dass das Modellbilden und Modellieren wesentlich zur experimentellen Praxis und damit zur Praxis aller modernen Wissenschaft gehört« (2006a, 13). Dabei ist »Modell ein Terminus für Substanzen, Reaktionen, Systeme oder Organismen, die zur Herstellung von Inskriptionen […] besonders geeignet sind« (2006, 135). Rheinberger erläutert dies anhand der »invitro«-Systeme, die Modelle für Vorgänge in lebenden Zellen sind. Im Reagenzglas werden Substanzen, die aus lebenden Zellen gewonnen werden, untersucht, wobei es im Experimentalsystem, etwa durch den Einsatz von Zentrifugen, möglich ist, die Konzentration verschiedener Reaktionsprodukte zu ermitteln, was mit lebenden Zellen nicht möglich wäre. Das Modell ist also ein System, welches im Labor für ein ande75 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

res System steht, das der Laboruntersuchung selbst nicht zugänglich ist. Insbesondere ermöglicht das Modell, so von der technischen Umgebung eingefasst zu werden, dass graphematische Spuren, Inskriptionen erzeugt werden, die dann wiederum das Modell und letztlich den Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses repräsentieren.

2.3 Experimentalsystem und Instrumente Sowohl Heidelbergers Wissenschaftstheorie des Instruments als auch Rheinbergers Bild von der differentiellen Reproduktion in Experimentalsystemen sind Beschreibungen dessen, was Hacking die »Eigenleben der Experimentiertätigkeit« genannt hat. Beide Konzepte sind miteinander kompatibel, sie stehen nicht zueinander im Widerspruch, sondern werfen aus verschiedenen Perspektiven ein Licht auf denselben Gegenstand, und ihre Beschreibungen dieses Gegenstandes, des wissenschaftlichen Experimentierens, ergänzen einander zu einem konsistenten Gesamtbild. In diesem Gesamtbild besteht die Experimentieranordnung der Wissenschaftler im Labor einerseits aus Komponenten, die Phänomene hervorrufen und manipulierbar machen. Heidelberger bezeichnet diese Komponenten als produktive und konstruierende Instrumente, während Rheinberger sie als technische Umgebung bezeichnet. Allerdings geht Rheinbergers Begriff über die Instrumente, die auf dem Labortisch stehen 10 , hinaus, er umfasst auch die erlernten Verfahren der Labormitarbeiter, letztlich auch die Verfahren der Schulung dieser Mitarbeiter selbst, sowie die Prozesse der Bereitstellung aller anderen Voraussetzungen, die das Experimentalsystem braucht, um sich reproduzieren zu können. Da sich Heidelberger bewusst auf die Experimentieranordnung Diese bildhafte Sprechweise soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass so manche Experimentieranordnungen gerade in der Gegenwart Dimensionen haben, gegen die ein Labortisch winzig ist. Auch für sie gilt jedoch das hier Gesagte in vollem Umfang.

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Experimentalsystem und Instrumente

auf dem Labortisch konzentriert, erfasst er diese Verfahren und Prozesse nicht. Wo aber findet sich in Heidelbergers Konzept das »epistemische Ding«, auf das es Rheinberger ankommt? Es ist nicht das produzierte Phänomen, denn das stabile Hervorbringen von Phänomenen ist gerade die Aufgabe der technischen Umgebung. Die Suche nach dem epistemischen Ding in Heidelbergers Experimentieranordnung macht deutlich, dass dieses nicht unbedingt ein Ding sein muss. Das epistemische Ding steckt in dem kausalen Zusammenhang, welchem das Interesse des Experimentators gilt. Die Experimentieranordnung ist natürlich während der meisten Zeit des Experimentierens nichts Statisches, vielmehr wird sie im Experimentieren erst gebaut, variiert, und angeordnet. Das Experimentieren ist gerade das Herstellen einer Vernetzung von Instrumenten, die den kausalen Zusammenhang erscheinen, Phänomen werden lassen. Wenn Rheinberger darauf hinweist, dass das epistemische Ding durch die graphematischen Spuren, die es repräsentieren, gebildet wird, dann spricht er genau von dem Prozess, den Heidelberger durch die Funktion der symbolisierenden Instrumente beschreibt. Erst auf der Ebene der symbolischen Repräsentation, darin sind sich Heidelberger und Rheinberger einig, findet das wissenschaftliche Verstehen statt. Dort entstehen die epistemischen Dinge, dort werden die kausalen Zusammenhänge, die in der Manipulation der Phänomene sichtbar werden, als wissenschaftliches Wissen formulierbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass das »Eigenleben der Experimentiertätigkeit« auf der symbolischen Ebene aufhören würde. Im Gegenteil: Diese Ebene, die Rheinberger den Repräsentationsraum nennt, gehört zum Eigenleben des Experimentierens noch vollständig dazu. Hier werden die Konzepte formuliert, die Begriffe gefunden, die die epistemischen Dinge letztlich als Teile der technischen Umgebung verfügbar machen. Der Satz vom Versprühen der Elektronen, den Hacking zitiert, gehört in diesen Repräsentationsraum. Durch ihn wird ausgedrückt, dass ein epistemisches Ding, hier die Elektronen als Bündel, von messbaren Eigenschaften und graphematischen Spuren, die von ihnen er77 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das wissenschaftliche Experimentieren

zeugt werden, verfügbar geworden ist für die Produktion von Phänomenen. Dass sich auf dieser Basis auch eine Theorie entwickelt, in welche die kausalen Beziehungen des Experiments eingeordnet werden können, ist dabei nicht ausgeschlossen – aber auch nicht notwendig.

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Jenseits der Theorie-ExperimentUnterscheidung

Der größte Teil der bisherigen Versuche, wissenschaftliche Erkenntnisproduktion philosophisch zu beschreiben, beginnt bei einer klaren Unterscheidung zwischen Theorie und Experiment, wobei wir gelernt haben, beide Begriffe in einem sehr weiten und allgemeinen Sinn zu verstehen, sodass von ihnen auch die theoretischen Systeme von Sätzen sowie das empirische Arbeiten in den Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften erfasst werden. Ausgehend davon wird untersucht, ob das Experiment von der Theorie getrieben wird oder ob Experimente neue Fragen für die Theoretiker hervorbringen. Es wird die Eigenständigkeit der Experimente gegenüber der Theorie untersucht (Chalmers, 2007, 156–158) ebenso wie die Eigendynamik von Theorien unabhängig von experimentellen Bestätigungen betrachtet werden kann. Es stellt sich heraus, dass das Verhältnis von Theorie und Experiment in den Wissenschaften schwierig ist, womöglich gibt es sogar einen Zirkelschluss zwischen beiden bei der wissenschaftlichen Begründung von Erkenntnissen (Chalmers, 2007, 33–34). Um diesen Zirkel zu vermeiden, muss man versuchen, auf der Basis einer so genannten Protophysik die Messgerätefunktion der Instrumente im Experiment, die ja auch den physikalischen Gesetzen unterliegen, aus der Physik des Experiments und der Theorie, zwischen denen vermittelt werden soll, herauszulösen (Köhler 2004, 261). Im Folgenden werden wir ein Verständnis der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion entwickeln, die ganz ohne die Unterscheidung zwischen Experiment und Theorie auskommt. Beide werden sich als zwei verwandte Ausprägungen der gleichen Praxis herausstellen, die das Wissenschaftliche grundsätzlich charakterisiert. Dazu ist es allerdings sinnvoll, den Weg der symbolischen Repräsentation der Phänomene und die Verbindung dieser Repräsentation mit Rheinbergers Modellkonzept weiter zu verfolgen. 79 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung

Auf den ersten Blick hat dieser Modellbegriff nichts mit dem der Wissenschaftstheorie zu tun, wie er etwa von van Fraassen (siehe oben, Seite 56) verwendet wird. Für van Fraassen sind Modelle Theoriebestandteile, Theorien sind »Familien von Modellen«, während Rheinberger Modelle als Experimentieranordnungen, als Experimentalsysteme auffasst. Wenn man jedoch versucht, beides zusammen zu denken, dann kann man einen ersten Hinweis für einen Begriff vom Wissenschaftlichen gewinnen, der jenseits der Entscheidung über das Primat der Theorie oder des Experiments angesiedelt ist. Zuvor soll jedoch einmal ein Blick auf die Rolle der Theorie in Rheinbergers Wissenschaftskonzept geworfen werden.

3.1 Die Komplementarität von Theoretisieren und Experimentieren Kurz gesagt kann man feststellen, dass Theorie im Sinne etwa Poppers bei Rheinberger abwesend ist, dass sie nicht benötigt wird, um Experimentalwissenschaft zu verstehen. Sie ist nicht einmal im Sinne van Fraassens nötig, der sie gewissermaßen als Hilfsmittel zum Design von Experimenten ansah. Van Fraassen sah die Theorie dem Experiment vorgelagert in dem Sinne, dass sie dem Wissenschaftler sozusagen die Ideen dafür liefert, was zum Gegenstand der experimentellen Forschung gemacht werden könnte und wie das Experiment aufzubauen ist. Aber das ist für Rheinberger gar nicht notwendig. Einerseits tritt ein Wissenschaftler immer schon in bestehende Experimentalsysteme ein, er findet bestehende Experimentieranordnungen vor, in denen eine technische Umgebung bereits stabilisiert ist, er hat die Regeln und Verfahren des Umgangs mit ihnen gelernt. Durch differenzielle Reproduktion verschiebt er das Experimentalsystem, neue epistemische Dinge entstehen, graphematische Spuren werden erzeugt. Die epistemischen Dinge werden stabilisiert, können selbst zum Bestandteil der technischen Umgebung werden und so fort. Selbst wenn man sich einen Wissenschaftler denkt, der auf völlig unberührtem Feld zu forschen beginnt, benötigt er streng ge80 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Die Komplementarität von Theoretisieren und Experimentieren

nommen keine Theorie, keine in Satzsysteme gefassten Hypothesen, aus denen er Vermutungen über das Verhalten der vorgefundenen Objekte ableitet um seine Experimentieranordnung zu gestalten. Es genügt völlig, dass er gewisse Objekte auswählt und versucht, ihr Verhalten zu stabilisieren, eine Umgebung zu finden oder zu schaffen, in der Prozesse stabile Spuren erzeugen. Es mag sein, dass ihm zuvor bestimmte Regelmäßigkeiten aufgefallen sind und dass er bemerkt hat, dass diese Regelmäßigkeiten unter gewissen Bedingungen deutlicher sind als unter anderen. Das mag sein Forschungsinteresse erregt haben und seine ersten Schritte beim Aufbau des Experimentalsystems leiten. Aber er benötigt keine Theorie über Ursachen, keine gedanklichen Vorstellungen von Mechanismen, um sein Experimentalsystem in Gang zu setzen. Denken wir noch einmal an Bob und sein Ziel, mit der Fernbedienung das Fernsehgerät zu bedienen, zurück. Wir hatten es oben als Theoriebildungsprozess beschrieben, weil wir davon ausgegangen waren, dass Bob Hypothesen darüber hat, wie die Kausalität zwischen Fernbedienung und Fernsehgerät strukturiert ist. Wenn Alice aber Bob nur beobachtet, ohne ihn zu befragen, kann sie auch zu einem ganz anderen Bild kommen: Bob versucht offenbar, durch systematisches Ausprobieren und Protokollieren von Konsequenzen bestimmter Aktionen auf der Fernbedienung, diese und den Fernseher praktisch in den Griff zu bekommen. Ausgehend von ersten stabilen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen versucht er, immer neue Möglichkeiten des Systems zu finden und reproduzierbar darzustellen. Ob er dabei eine »Theorie« über die Zusammenhänge von Fernbedienungen und Fernsehgeräten hat, ist ungewiss und auch nicht wichtig. Natürlich arbeitet heute wohl kaum eine Forscherin ohne theoretische Vorstellungen und Ideen. Die Ausbildung an den Universitäten sorgt dafür, dass sie mit den zentralen Theorien ihrer Disziplin vertraut ist und dass sie in den Begriffen dieser Theorien über ihre Beobachtungen nachdenkt. Es ist aber in diesem Zusammenhang belanglos, ob einzelne Wissenschaftler bei der Konzeption ihrer Experimentalsysteme theoretische Vorstellungen, Hypothesen oder Vermutungen haben, entscheidend ist, 81 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung

ob sie notwendig sind, um das Wesen der (experimentellen) wissenschaftlichen Forschung zu verstehen. Gehen wir noch einen Schritt weiter, und betrachten wir Rheinbergers Konzept des Experimentalsystems so, wie wir oben (siehe Seite 39 ) bereits Poppers Sicht auf die Theoriendynamik betrachtet haben, nämlich unter der Fragestellung, ob sich die Wissenschaftsgeschichte auf Basis der dargestellten Konzeption des Experimentalsystems rekonstruieren lassen könnte, ob sich ein plausibles Bild von Wissenschaftlichkeit auf diese Weise ergibt. Die Beispiele aus Rheinbergers Studien zur Molekularbiologie weisen ebenso wie andere Darstellungen der »Science Studies«, auf die wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden, darauf hin, dass das der Fall ist, ebenso, wie viele Beispiele aus der Physik, die Popper und andere Wissenschaftstheoretiker anführen, zeigen, dass Wissenschaft sich auch als Theoriendynamik deuten lässt. Wohlgemerkt, es kommt dabei nicht darauf an, ob die Wissenschaftsgeschichte im Detail und in jedem einzelnen historischen Ablauf der jeweiligen Beschreibung gefolgt ist, sondern darauf, dass das, was als Wissenschaftliches bezeichnet wird, plausibel so erscheint, als sei es Resultat eines solchen Prozesses. 11 Das würde jedoch bedeuten, dass sich Wissenschaft plausibel in zwei verschiedenen Geschichten erzählen ließe, die gewissermaßen komplementär sind. Einerseits wäre für die Wissenschaft wesentlich, dass logisch strukturierte Satzsysteme systematisch entwickelt werden, aus denen Behauptungen über die Realität sowie Vorschriften zur Überprüfung dieser Behauptungen abgeleitet werden können, aus denen dann automatisch gewisse Experimentieranordnungen folgen, die zur Entscheidung über die RichtigWir konzentrieren uns hier zunächst auf Naturwissenschaften, in denen Experimente und Theorien in besonders klarer Weise erkennbar sind und beschrieben werden können. Das Ziel ist allerdings, aus den Überlegungen zu diesen Wissenschaften und auf der Basis der Überlegungen in den vorangegangenen Kapiteln zu Theorie und Experimentalsystem in den verschiedensten Disziplinen ein Konzept von Wissenschaftlichkeit und von wissenschaftlicher Erkenntnis zu gewinnen, das auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften nutzbar ist. Warum das möglich ist, soll sich am Ende dieses Kapitels zeigen.

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82 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Die Komplementarität von Theoretisieren und Experimentieren

keit der Theorie beitragen. In der Geschichte der Wissenschaften als Theoriendynamik stellen Wissenschaftler immer umfassendere Theorien über die Welt auf, die immer mehr Phänomene immer besser erklären können. Das ist das Ziel der so verstandenen Wissenschaften, dem sich die Experimente als Prüfinstanz und als Quelle neuer Informationen unterzuordnen haben. Ob die Theorien aus Geistesblitzen genialer Wissenschaftler entstehen oder allmählich von einfachen zu immer komplizierteren Satzsystemen ausdifferenziert werden, oder ob sie aus Verallgemeinerungen empirischer Beobachtungen gewonnen werden, kann dabei dahingestellt bleiben. Es wird möglicherweise in verschiedenen Varianten der Geschichte der Wissenschaften unterschiedlich erzählt, je nachdem, ob sie eher Popper oder van Fraassen zur Deutungsgrundlage hat. Auf der anderen Seite bestände das Wesen der Wissenschaftlichkeit darin, in Experimentalsystemen epistemische Dinge zu stabilisieren, damit für die technischen Bedingungen innerhalb des Systems verfügbar zu machen und damit das Experimentalsystem weiter zu entwickeln. In dieser Geschichte machen Wissenschaftlerinnen vor allem Experimente und dokumentieren die Ergebnisse in symbolischer Form, etwa in phänomenologischen Gesetzen. Sie stabilisieren und perfektionieren die Experimentalanordnung und schaffen sich damit Möglichkeiten für neue Experimente. Sie schaffen sich immer umfangreichere und immer neue Experimentalsysteme. Theorie im Sinne logisch strukturierter Satzsysteme wäre dabei vielleicht hilfreich, aber nicht unbedingt notwendig. Man würde es sich zu einfach machen, wenn man Wissenschaft etwa in einen reinen und einen angewandten Teil scheiden würde, oder in einen theoretischen und einen experimentellen Teil, um dann das eine Bild für die Natur der einen Art Wissenschaft zu nutzen, während das andere das Wesen der anderen Art Wissenschaft beschreibt. Auch die Strategie, Wissenschaft im Wesentlichen als Wechselspiel zwischen Theoriebildungsdynamik und differenzieller Reproduktion von Experimentalsystemen zu beschreiben, hilft nicht weiter, denn bemerkenswert ist ja gerade, das qualitativ vergleichbare Resultate der Wissenschaften sich als Ergebnisse zweier scheinbar grundverschiedener Prozesse, 83 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung

die als wesentlich wissenschaftlich angesehen werden können, verstehen lassen. Es kann gar nicht unser Ziel sein, eine mehr oder minder umfassende Beschreibung all dessen zu liefern, was gegenwärtig unter dem Begriff Wissenschaft gefasst wird oder was – mehr oder minder allgemein akzeptiert – das Attribut wissenschaftlich beansprucht. Wenn wir dieses Ziel verfolgen würden, würden wir bestenfalls über Kriterien verfügen, vorgefundene Handlungen oder Handlungsergebnisse dem Wissenschaftlichen zuzuordnen, wobei in jedem Zweifelsfall wieder Unsicherheit bestünde, ob denn vielleicht die Beschreibung nur zu eng oder zu weit ist, oder ob das in Zweifel stehende Phänomen nun dem Wissenschaftlichen zuzuordnen sei, oder nicht. In jedem Falle hätten wir aber noch nicht verstanden, was das Wissenschaftliche im Kern ausmacht, was das Wissenschaftliche ist. Wenn es uns jedoch gelingt, in den oben genannten zwei Geschichten, in denen sich das, was heute fraglos als wissenschaftlich gilt, erzählen oder plausibel rekonstruieren lässt, das Gemeinsame zu sehen, dann ist zu erwarten, dass in diesem Gemeinsamen das Wesen des Wissenschaftlichen sichtbar wird.

3.2 Konstruktion und Manipulation Beim Experimentieren wird etwas, das als bekannt angenommen wird, zum Instrument gemacht, um etwas, das unbekannt ist, kennenzulernen. Das vorläufig Bekannte, das ist das, was Rheinberger die technische Umgebung nennt, und was für Heidelberger die produktiven und konstruierenden Instrumente sind. Das Unbekannte ist das epistemische Ding, es handelt sich um einen kausalen Zusammenhang, der ein beobachtbares Phänomen hervorbringt. Etwas zu kennen, heißt in diesem Zusammenhang, sicher zu sein, dass eine beschreibbare Manipulation des Bekannten ein ebenfalls beschreibbares Phänomen hervorbringt. Beschreibbarkeit bedeutet, dass es sowohl von der Manipulation des Bekannten als auch von den beobachteten Phänomenen symbolische Repräsentationen gibt, die es ermöglichen, die Mani84 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Konstruktion und Manipulation

pulation, den kausalen Zusammenhang sowie die beobachteten Phänomene zu dokumentieren. Dokumentieren bedeutet dabei mehr als nur Beschreiben, eine Dokumentation zu haben heißt, dass der gesamte Hergang des Experimentierens ohne Erinnerung an die Beobachtung re-konstruiert und re-produziert werden kann. Konzentrieren wir uns zunächst auf die Naturwissenschaften. Naturwissenschaftliches Experimentieren in seiner elementaren Form heißt manipulieren und beobachtend sehen, was geschieht. Dieses Experimentieren ist auf Kenntnisse in dem Sinne ausgerichtet, die Bedingungen wieder herbeiführen zu können, unter denen die Manipulation zu dem gleichen Geschehen führt. Der Experimentator könnte auf dieser Ebene, wenn er sein Experimentalsystem kennt, etwa Publikum zu seinem Experiment einladen und wäre sich gewiss, dass er immer neue Zuschauer auf die gleiche Weise in Erstaunen versetzen kann. Es mag allerdings sein, dass ein wiederkehrender Zuschauer meint, dass der Effekt, der hervorgerufen wird, beim letzten Mal stärker war. Auf einer zweiten Ebene des Experiments wird der Experimentator deshalb die produzierenden und konstruierenden Instrumente mit symbolisierenden Instrumenten verbinden, sodass die Phänomene nicht nur beobachtbar sind, sondern durch Symbole repräsentiert werden. Durch die Symbole werden die Kenntnisse zweifelsfrei. Es kommt nicht mehr auf den subjektiven Eindruck an, der erinnert wird, sondern auf das wiedererkennbare Symbol. Das wissenschaftliche Experimentieren geht noch einen Schritt weiter, indem es die Symbole in einer Weise dokumentiert, die es ermöglicht, die Kenntnisse nachzuvollziehen, ohne dass überhaupt zuvor das Phänomen selbst beobachtet werden muss. Man kann sogar sagen, dass die wissenschaftliche Erkenntnis, das wissenschaftliche Verstehen des experimentellen Geschehens, gerade in diesem symbolischen Nachvollzug, in der symbolischen Repräsentation des kausalen Zusammenhangs besteht. Wissenschaftliche Erkenntnis ist dann gegeben, wenn experimenteller und symbolischer Vollzug so zur Deckung kommen, dass der eine für den anderen stehen kann. Dies gelingt jedoch im Allgemeinen nur mit Konstellationen, die gegenüber der alltäglichen Realität 85 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung

enorm eingeschränkt sind, für den experimentellen Vollzug bedeutet das die Herstellung einer kontrollierten technischen Umgebung im Labor, in der sich die Abläufe überhaupt erst so beobachten lassen, dass sie symbolisch repräsentierbar werden. Die Konstellation von technischer Umgebung und epistemischem Ding, von produzierenden, konstruierenden und symbolisierenden Instrumenten, die so gebildet wird, dass die kausalen Beziehungen symbolisch repräsentiert werden können, ist das wissenschaftliche Modell. Aufgrund dessen, dass hier der experimentelle Ablauf und seine symbolische Repräsentation zur Deckung kommen, ist es belanglos, ob die physische Konstellation von Gerätschaften auf dem Labortisch oder die ideelle Konstellation von Symbolen auf dem Papier als Modell angesehen wird. In beiden kommt gleichermaßen die Kenntnis von der Realität zum Ausdruck, die der Experimentator gewonnen hat, und nur, wenn beide zur Deckung gebracht worden sind, wenn eine Korrelation zwischen ihnen besteht, handelt es sich um eine wissenschaftliche Erkenntnis. Diese Korrelation wird nachvollzogen dadurch, dass ein Wissenschaftler, der mit der Materie vertraut ist, das Modell von der einen auf die andere Seite übertragen kann, er kann aus der symbolischen Repräsentation ebenso eine physische Experimentieranordnung ableiten wie er umgekehrt die Beobachtung der Vorgänge auf dem Labortisch in die symbolische Repräsentation übertragen kann. Wenn das gelingt, gelten die gewonnenen Kenntnisse als gesichert, sie werden zu Gewissheit, zu wissenschaftlichem Wissen. Für die Arbeit der Theoretikerin gilt nun im Wesentlichen das Gleiche. Ihr Labortisch ist der Schreibtisch, auf dem sie ebenso wie der Experimentator im Labor symbolisch repräsentierbare Konstellationen herzustellen versucht, welche kausale Beziehungen darstellen. Wenn das gelingt, ist eine wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Ob in einer physikalischen Grundgleichung, etwa die der Newtonschen Mechanik, irgendeine wissenschaftliche Kenntnis steckt, ist zunächst ungewiss. Erst durch Herbeiführung einer bestimmten Konstellation, etwa 86 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Konstruktion und Manipulation

die zweier Körper mit jeweils bestimmter Masse, die durch eine gewisse Kraft, die Gravitationskraft, miteinander wechselwirken, entsteht eine Konstellation, die untersucht werden kann. Diese Konstellation ist wiederum das interessierende Modell, welches manipuliert wird, etwa, indem Abstände, Massen und Anfangsgeschwindigkeiten der Körper (genauer gesagt, ihrer symbolischen Repräsentationen) variiert werden. Der Theoretiker setzt nicht reale Körper in Bewegung, sondern er symbolisiert die Körper und ihre Bewegung in Gleichungssystemen, aus denen er die Veränderung des Ortes des Körpers mit der Zeit heraussehen kann. 12 So ergeben sich Fälle, in denen sich der eine Körper um den anderen auf einer Ellipsenbahn herum bewegt, oder ihn auf einer parabelförmigen Bahn passiert. Wie sehr die Arbeit der Theoretikerin der des Experimentators gleicht, bemerkt man in der Beschreibung ihres Tuns, etwa wenn man sagt, dass die Wissenschaftlerin die Geschwindigkeit des Körpers so weit reduziert, bis dieser auf die Ellipsenbahn einlenkt. Es kommt streng genommen für die Arbeit seiner theoretisch forschenden Wissenschaftlerin nicht darauf an, ob die Modelle, die sie erforscht, in der Realität in einer noch zu bestimmenden Weise Entsprechungen haben oder nicht, insbesondere ist es für die Kennzeichnung ihrer Tätigkeit als wissenschaftlich nicht relevant, ob sie sich an real existierenden Konstellationen orientiert oder nicht. Die Realität, die die Theoretikerin untersucht, ist die ihres theoretischen Systems. In diesem baut sie sich ebenso Modelle auf wie der Experimentator auf dem Labortisch. Es kann für eine theoretische Physikerin ebenso interessant sein, das Verhalten String-förmiger Objekte in hochdimensionalen Räumen zu beschreiben, die durch merkwürdige Kraftfelder miteinander wechselwirken, wie es für einen theoretischen Ökonomen interessant sein mag, das Verhalten von Akteuren zu beschreiben, Wir verwenden hier, wie es so oft in der Wissenschaftsphilosphie und -theorie üblich ist, einfache Beispiele aus der klassischen Physik. Ebenso könnten wir auch ein Beispiel aus der Ökonomik verwenden, etwa spieltheoretische Modelle für das Verhalten von Akteuren in ökonomischen Zusammenhängen.

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87 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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deren Vermögen durch den Verbrauch von Ressourcen wächst. Wichtig für die Kennzeichnung ihrer Tätigkeit als wissenschaftlich ist nicht die Nähe der Untersuchungsgegenstände zur Realität, sondern allein die Möglichkeit, Modelle zu untersuchen und die Kausalitäten in diesen Modellen symbolisch repräsentieren zu können. Es ist möglich, die Arbeit der Theoretikerin in den Begriffen etwa des Experimentalsystems von Rheinberger zu formulieren. Zur technischen Umgebung gehören die Verfahren, nach denen ein Modell gebildet wird und nach denen das Verhalten der einzelnen Objekte des Systems bestimmt wird. Das epistemische Ding ist in dieser Konstellation der kausale Zusammenhang zwischen der Manipulation von Ausgangsparametern und dem Verhalten der Modellteile. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Der Einfachheit halber wählen wir ein geläufiges Beispiel der klassischen Physik, es ist jedoch einfach möglich, den Gedankengang auf Fälle anderer Disziplinen einschließlich etwa der ökonomischen Theorie anzuwenden. Im Rahmen der klassischen Mechanik kann sich die Theoretikerin etwa für das Verhalten eines Körpers interessieren, der durch einen dünnen Faden an einem festen Punkt befestigt ist, und auf den eine Kraft in eine bestimmte Richtung wirkt. Es ist dafür gar nicht notwendig, dass die Physikerin dabei eine visuelle Vorstellung etwa eines Uhrenpendels hat, oder dass sie die Beobachtungen von Experimentatoren kennt, die diese mit massiven Stahlkugeln gemacht haben, welche mittels dünner Stahlseile im Gewölbe eines hohen Raumes aufgehängt sind, sodass die Erdanziehungskraft darauf wirkt. Es wäre ebenso ein zulässiges theoretisch-physikalisches Problem, sich die wirkende Kraft als zeitlich veränderlich zu denken, oder als in alle Richtungen gleichermaßen wirkend. Schon, wenn man bedenkt, welche Konstellation die Theoretikerin wirklich untersucht, wird klar, dass es nicht notwendig ist, dass das Modell, welches sie interessiert, irgendeine Ähnlichkeit mit der Realität hat: Der Faden wird als absolut nicht dehnbar, jedoch masselos angesehen, der Körper selbst versammelt seine ganze Masse in einem einzigen Punkt, es gibt keinen Luftwiderstand, keine Reibung an der Aufhängung. 88 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Konstruktion und Manipulation

Was die Theoretikerin interessiert, ist die kausale Wirkung einer Manipulation. Wie verändert sich die Schwingungsdauer des Körpers in Abhängigkeit von der anfänglichen Auslenkung? Eine analoge Frage könnte sich ein Experimentator im Labor stellen. Sie charakterisiert das epistemische Ding. Die technische Umgebung des Experimentators besteht in den Instrumenten zur Zeitmessung sowie zur Bestimmung des Ereignisses, dass der Körper exakt wieder an den gleichen Ort zurückgekehrt ist. Die technische Umgebung der Theoretikerin besteht in einem mathematischen Apparat, einerseits dem, der seine theoretischen Annahmen beschreibt (die allgemeine Bewegungsgleichung der klassischen Mechanik) sowie die mathematischen Verfahren zur Lösung dieser Gleichung in einer bestimmten Konstellation sowie – ebenso wie beim Experimentator – Verfahren zur Feststellung des Auftretens bestimmter Ereignisse. Was für den Experimentator die Auswahl der geeigneten Werkzeuge und Messinstrumente ist, ist für die Theoretikerin die Auswahl der geeigneten mathematischen Verfahren. Beachtlich dabei ist, dass ebenso wie der Experimentator auch die Theoretikerin ihr Modell danach weiter einschränkt, welche technischen Möglichkeiten ihr zur Verfügung stehen. Mathematische Näherungsverfahren zum Lösen von Differenzialgleichungen sind für sie das, was die Einschränkung der Genauigkeit mit entsprechender Fehlerbetrachtung für den Experimentator ist. Ein Experimentator kann den kausalen Effekt (hier die Erzeugung einer gleichmäßigen Schwingung des Körpers), wenn er ihn sicher beherrscht, in die technische Umgebung einbauen, etwa um eine periodische Abdunkelung einer Lichtquelle zu produzieren. Ebenso kann die Theoretikerin die gefundene mathematische Beschreibung der Schwingung in anderen Zusammenhängen zum mathematischen Werkzeug machen, etwa, wenn sie gewisse quantenmechanische Konstellationen als »harmonischen Oszillator« beschreibt, also als ein Modell, das sie im Rahmen der klassischen Mechanik soweit hinreichend beschrieben hat, dass sie es nun als Teil der technischen Umgebung in quantenmechanische Modelle einbauen kann. Man könnte einwenden, dass auf diese Weise nur die Arbeit 89 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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der Theoretikerin im Modus der Normalwissenschaft, wie Kuhn (1973, 37f) sie bezeichnet hat, beschrieben werden könnte, dessen also, was Kuhn als »Rätsellösen« (49f) beschrieben hat. Aber auch mehr oder minder revolutionäre Umwälzungen lassen sich, genau besehen, als differentielle Reproduktionen der theoretischen Systeme, ihrer technischen Verfahren und Instrumente beschreiben. Eine wissenschaftliche Revolution kann als überraschende Integration neuer Elemente in ein theoretisches System und das systematische Analysieren der Konsequenzen dieser Systemvariation angesehen werden, oder als Zusammenführung verschiedener theoretischer Systeme, oder als Verwendung eines weitgehend stabilisierten theoretischen Systems bei der Konstruktion neuer Systeme, so wie ein hinreichend stabilisiertes epistemisches Ding zur technischen Umgebung im Experimentalsystem werden kann. Als das Wissenschaftliche in den hier beschriebenen Handlungen von Theoretikerin und Experimentator kann somit das Gewinnen von Kenntnissen über kausale Zusammenhänge in Modellen aufgefasst werden. Kenntnis bedeutet hierbei, dass die beschriebenen Zusammenhänge so dokumentiert sind, dass sie stabil ohne persönliche Erinnerung an das Zustandekommen der Kenntnis reproduziert werden können. So wie der Experimentator dazu die Anordnung und Verbindung der produzierenden, konstruierenden und symbolisierenden Instrumente aufzeichnet sowie die gefundenen kausalen Zusammenhänge in symbolischer Repräsentation dokumentiert, so beschreibt die Theoretikerin die untersuchte Modellkonstellation, benennt die verwendeten mathematischen Verfahren und dokumentiert schließlich die abgeleiteten kausalen Zusammenhänge. Mit kausal ist dabei der Zusammenhang zwischen der nachvollziehbaren Variation oder Manipulation einer Ausgangsbedingung mit dem dokumentierbaren Modellverhalten gemeint. Modelle sind bestimmte Konstellationen von beschreibbaren Elementen, die sowohl im Falle der Theorie als auch im Falle des Experiments dadurch interessant werden, dass sie überhaupt beherrschbar sind, d. h., dass in ihnen überhaupt die Möglichkeit der kausalen Manipulation und der Gewinnung von Kenntnissen möglich ist. 90 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Die Arbeit mit Modellen

Sind die so verstandenen wissenschaftlichen Kenntnisse, die aus den systematischen Modellmanipulationen der experimentierenden und theoretisierenden Wissenschaften gewonnen werden, als Wissen anzusehen, als Einsichten in das, was in der Wirklichkeit passiert? Wir könnten an dieser Stelle die Unterscheidung von »Wissen wie« und »Wissen dass«, von Know How und Know That bemühen. Erinnernd an Aristoteles’ Metaphysik, mit der wir unsere Untersuchung begonnen haben, wäre beides Einsicht, denn beides ist lehrbare Technik. Nehmen wir aber den Begriff der Einsicht ernst, dann wäre es eben eine zutreffende Vorstellung von dem, was passiert. So gesehen können wir festhalten, dass es möglich ist, dass wissenschaftliche Erkenntnis, sei sie theoretischer oder experimenteller Natur, auch Einsicht ist, es ist aber nicht notwendig. Wichtig ist, sowohl in der theoretischen als auch in der experimentellen Forschung, dass die Wissenschaftler ihre Modelle praktisch beherrschen, egal, ob sie zur Manipulation dieser Modelle am Schreibtisch oder im Labor sitzen. Allerdings bieten die Modelle auch immer die Möglichkeit einer »bildhaften Ausdeutung« und damit können sie auch als Einsichten aufgefasst werden. Zum Fortschritt der Wissenschaften selbst ist das aber nicht nötig.

3.3 Wissenschaftlichkeit: Die Arbeit mit Modellen Bereits Bas C. van Fraassen hat in The Scientific Image vorgeschlagen, dass nicht die wissenschaftliche Theorie, sondern das Modell als Schwerpunkt des wissenschaftlichen Arbeitens angesehen werden sollte. Seitdem wurde viel Arbeit investiert, um den Begriff des wissenschaftlichen Modells genauer zu bestimmen und ihre Rolle als Vermittler zwischen theoretischer und empirischer wissenschaftlicher Arbeit zu bestimmen. Im Folgenden soll noch einmal deutlich gemacht werden, wie und aus welchen Gründen der Modell-Begriff im Rahmen dieses Buchs verwendet wird. Wenn man den Begriff des Modells zunächst ganz aus der Richtung der Theorie mit dem Ziel verwendet, die Verbindung zwischen Theorie und Experiment oder sonstiger empirischer Ar91 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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beit zu verstehen, dann verbleibt das Modell zunächst ganz auf der Seite der Theorie. Für Brühl (2017, 87) etwa sind »die kognitiven Ziele von Theorie und Modell gleich«. Diese Auffassung vom wissenschaftlichen Modell ist weit verbreitet. Das kann man etwa bei Ritchey (2012) sehr schön sehen, der sich zunächst die Frage stellt, warum es keine allgemeine Theorie des Modellierens gibt und die verschiedenen Ansätze dazu diskutiert, bevor er zu einer eigenen Definition kommt und als notwendiges Kriterium für ein wissenschaftliches Modell sieht: »A scientific model must contain two or more mental constructs« (5, »ein wissenschaftliches Modell muss wenigstens zwei gedankliche Konstrukte enthalten«). Ein Modell ist in dieser Sicht also immer ein theoretisches Ding der gedanklichen Betrachtung. Die Elemente des Modells müssen zwar nicht aus einer Theorie hergeleitet werden, aber sie sind theoretische Konstrukte. Wir beginnen deshalb mit Modellen, die ganz aus der Theorie stammen. Man verwendet die allgemeinen Sätze der Theorie und wendet sie auf eine überschaubare Konstellation von idealisierten Objekten an, die sich ganz entsprechend der Regeln der Theorie verhalten. In den vorangegangenen Abschnitten hatten wir eine Reihe solcher Konstellationen bereits beschrieben. So kann man etwa zwei mathematisch beschreibbare Objekte untersuchen, die man als »Körper« auffasst: Sie haben jeweils zu jedem Zeitpunkt einen Ort, eine Geschwindigkeit und eine Masse. Sodann kann man sagen, dass diese Objekte den Gesetzen der klassischen Mechanik »gehorchen«. Damit ist allerdings noch nicht viel gewonnen: die Mechanik sagt nur, dass sich die Geschwindigkeit der Körper durch einwirkende Kräfte auf bestimmte Weise ändert. Welche Kraft wirkt auf die Körper? Wir definieren, dass es eine »Gravitationskraft« gibt, die von der Masse des je anderen Körpers abhängt. Mit der genauen Angabe einer Formel für diese Kraft in Abhängigkeit von den Massen der beiden Körper und ihrem Abstand ist aus der Newton’schen Mechanik eine Gravitationstheorie geworden. Die mathematischen Gleichungen der Gravitationstheorie und die Definition einer Konstellation bilden das theoretische Modell. Die Konstellation ist: Da sind zwei Körper, sie wechselwirken mit92 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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einander entsprechend der definierten Gravitationskraft, davon abgesehen gibt es keine Kräfte, die ihr Verhalten beeinflussen. Für diese Konstellation lässt sich eine konkrete Situation bestimmen: Die Körper befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an bestimmten Orten und haben bestimmte Massen und Geschwindigkeiten. Nun kann man mit diesem Modell »spielen«, man kann für immer neue Situationen ausrechnen, wie sich die beiden Körper bewegen werden. So wird man dann finden, dass sich die Körper manchmal auf Ellipsenbahnen bewegen, dass, wenn die Massen sehr unterschiedlich sind, der mit der großen Masse fast ruht während der andere sich auf einer Ellipse oder einer Parabel bewegt, je nach dem, wie die Anfangsbedingungen gewählt sind. Dieses Durchspielen oder Durchrechnen verschiedener möglicher Verhaltensweisen der Objekte des Modells nennen wir hier die Modell-Manipulation. Zur Modellmanipulation kann auch gehören, das Modell zu erweitern, die Konstellation selbst zu verändern, etwa, indem weitere Objekte hinzugefügt werden oder indem die Formel für die Berechnung der Gravitationskraft variiert wird. Auch dann würde das Modell immer noch im Rahmen der klassischen Newton’schen Mechanik verbleiben, die ja selbst nichts über die genauen Berechnungsformeln für die Kräfte, die in ihren Axiomen auftauchen, aussagt. Man könnte sich auf diese Weise komplizierte Berechnungsformeln für die Gravitationskraft in Abhängigkeit von der Entfernung der Körper ausdenken und das Modell damit verändern und die Konsequenzen für das Verhalten der Objekte ermitteln. Ein solches Ausforschen von Ergebnissen von Modellmanipulationen ist sicherlich noch immer als wissenschaftlich zu bezeichnen. Irgendwann würde man vielleicht das Modell nicht mehr als ein »theoretisches«, schon gar nicht als ein »physikalisches« Modell bezeichnen, sondern vielleicht »nur noch« als ein mathematisches Modell. Das macht jedoch die systematische Ausforschung seiner Dynamik nicht unwissenschaftlich. Man sieht daran, dass der Versuch, Wissenschaftlichkeit von unwissenschaftlichem Arbeiten dadurch abzugrenzen, dass es sich an der Realität in irgendeiner Weise »bewähren« müsste, fehl geht und die Wissenschaft um eine wichtige kreative Komponente berauben würde. 93 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Wenn wir hier von einem theoretischen Modell sprechen, dann muss das nicht heißen, dass dieses Modell zwingend in Verbindung mit einer Theorie einer empirischen Wissenschaft in Kontakt stehen muss oder gar auf Basis einer solchen Theorie erzeugt worden sein muss. Wir können das Wort theoretisch hier in seiner ursprünglichen, vom Griechischen entnommenen Bedeutung nehmen als etwas, das in der anschauenden Betrachtung existiert. Es wird vergegenständlicht durch symbolische Repräsentationen, das können mathematische Gebilde, Grafiken oder Symbole sein. Für die Wissenschaftlichkeit ist die Möglichkeit der systematischen Variation und Manipulation, die nachvollziehbar und wiederholbar sein muss, notwendig. Wie das obige Beispiel demonstriert hat, besteht das theoretische Modell aus einer Konstellation von Objekten, deren Verhalten man vorherbestimmen kann, die man sozusagen »im Griff« hat. Auf eine gewisse Weise »weiß man«, wie sie sich verhalten, weil man als Wissenschaftler genau dieses Verhalten im Voraus festlegt. Auf der anderen Seite interessiert die Wissenschaftler genau dieses Verhalten, denn sie haben zwar die Regeln definiert, nach denen das Modell sich entwickelt, aber sie wissen vor der Beobachtung des Modells nicht, was wirklich passieren wird. Hier wird der Theoretiker ganz zum »Experimentator«, wir können sein Handeln vollständig in den Begriffen des Experimentalsystems beschreiben: Die grundlegenden Regeln für das Verhalten von Objekten im Modell bilden die technische Umgebung, während die Dynamik der Objekte selbst, also ihr Verhalten bei der Variation der genauen Anfangsbedingungen das »epistemische Ding« bilden, also das, was Gegenstand des Interesses ist. Durch systematische und vor allem kontrollierte Variation der Parameter der technischen Umgebung wird die Dynamik des epistemischen Dings ausgeforscht. Wie im Experimentalsystem ist die Unterscheidung zwischen epistemischem Ding und technischer Umgebung fließend und weitgehend eine Sache des aktuellen Forschungsinteresses. Insbesondere ist es nicht zwingend, dass die mathematischen Gleichungen – oder sonstige Regeln und Vorschriften für die Dynamik der Objekte im System – vorausgesetzt werden. Vielmehr 94 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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kann es auch – wenigstens teilweise – umgekehrt sein: Die Objekte und ihre Dynamik werden vorausgesetzt und ein passendes Regelwerk zur einfachen Beschreibung dieser Dynamik wird gesucht. In unserem Beispiel kann die Modellvorstellung einer parabelförmigen Bewegungsbahn eines Körpers bereits bestehen und die passenden Bewegungsgleichungen dazu werden gesucht. Dann kehrt sich das Verhältnis von Objekt-Dynamik und Regelwerk im theoretischen Modell um: die Objektdynamik wird zur bekannten »technischen Umgebung« während die mathematischen Beschreibungsregeln zum epistemischen Ding, zum unbekannten Gegenstand des Modells werden. An dieser Stelle kommt die Vermittlungsrolle des Modells zwischen Theorie und Praxis in den Blick, zeigt sich aber in einem neuen Licht. Die Objekt-Dynamik im Modell kann natürlich durch experimentelle oder sonstige empirische Untersuchungen inspiriert worden sein. Die Beobachtung einer Parabelbahn eines Kometen bei Annäherung, Umrundung und Entfernung von der Sonne kann etwa das Sichere sein, ebenso die ellipsenförmigen Bahnen der Planeten um die Sonne. Eine Theoretikerin baut sich ein Modell-System, welches diese beobachtete Dynamik als feste, bekannte Komponente enthält, an der er dennoch bestimmte Variationen vornehmen kann: bei welcher Konstellation von Abständen, Massen und Geschwindigkeiten wird aus der Parabelbahn eine Ellipse? Durch eine Vielzahl von Beobachtungsdaten, die zu einem konsistenten Bild zusammengesetzt werden, erhält die Theoretikerin eine variable Modellumgebung, in der nun die richtigen Regeln für die Objektdynamik abzuleiten sind. Ein Geistesblitz bringt sie vielleicht auf die richtige Formel für die Gravitationskraft, die Bestimmung der Gravitationskonstante ist dann wieder durch systematische Auswertung der vorgegebenen Modelldynamik, welche aus empirischen Daten abgeleitet wurde, möglich. Im Alltag des theoretischen Modellierens, des Manipulierens, Ergänzens, Variierens von theoretischen Modellen gehören zumeist einige Teile des Regelwerks fest zur technischen Umgebung, wie auch einige Elemente der Modelldynamik als sichere, stabil bekannte Tatsachen und Grundlagen für den Forschungs95 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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prozess verfügbar sind. Auf der anderen Seite sind bestimmte Elemente des mathematischen Regelwerks, etwa Konstanten in den Gleichungen oder bestimmte variable Terme, immer auch das Unbekannte, das Gesuchte im Modell, wie auch spezielle Details der Objektdynamik fast immer Teil des unbekannten, zu erforschenden epistemischen Dings sind. Variation und Manipulation von Modellen bedeuten, in nachvollziehbarer, dokumentierbarer Weise die verschiedenen Elementen des Modells zu verändern, bis eine neue Erkenntnis gefunden und stabilisiert ist, die wiederum zum Instrument in der weiteren Arbeit mit dem Modell werden kann. Diese neue Erkenntnis kann zu einer Verbesserung der Passgenauigkeit zwischen der Objektdynamik im Modell und den empirischen Beobachtungen führen, welche die Modellmanipulation überhaupt motiviert hatten. Sie kann aber auch zu einer Objektdynamik führen, die in den empirischen Daten noch nicht enthalten sind, weil die Variation des theoretischen Modells über die Beobachtungsbereiche der Empirie hinaus geht. Die Vermittlerrolle des theoretischen Modells zwischen theoretischer und empirischer Arbeit zeigt sich dann in der anderen Richtung: nun werden die empirischen Forscher inspiriert, ihre Arbeit auf die Bereiche auszudehnen, in denen sich das theoretische Modellverhalten zeigen könnte. Hier findet die Poppersche Frage der Theorie an das Experiment ihren Platz. Das theoretische Modellieren, die Zusammenstellung einer Konstellation von Regelwerk und Objekten, deren Dynamik untersucht werden soll, die Variation und Manipulation dieser Konstellation, die Bestimmung interessanter Situationen und die systematische Ausforschung und Dokumentation der Dynamik kann aber in jedem Fall als wissenschaftlich angesehen werden, ganz unabhängig davon, ob es durch empirische Beobachtungen inspiriert ist oder ob es solche Beobachtungen wiederum inspiriert. Wenn eine Wissenschaftlerin sich ein solches Modell völlig frei ausdenkt und seine Dynamik systematisch erforscht, gibt es keinen Anlass, diese Forschung nicht als wissenschaftlich zu bezeichnen, ganz unabhängig davon, ob sie eine Verbindung zu einem empirischen Forschungsprogramm herstellen kann oder nicht. 96 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Als Beispiel mag die Untersuchung so genannter eindimensionaler Zellulärer Automaten dienen, die in den 1980er Jahren begann (Wolfram 2002). Diese Modelle bestehen aus einer Kette von Zellen, von der jede den Zustand 0 oder 1 haben kann und deren Dynamik sich in diskreten Zeitschritten ändert, wobei der Zustand einer jeden Zelle im folgenden Zeitschritt vom eigenen Zustand und von dem der jeweiligen Nachbarzellen abhängt. Diese Modelle wurden systematisch erforscht, ohne dass eine Verbindung zu bekannten realen Systemen gesucht oder gar benötigt wurde. Die zum Teil faszinierenden raum-zeitlichen Strukturen wurden dokumentiert und klassifiziert. Sie gaben allenfalls qualitative Anregungen für die Interpretation von Strukturbildungsund Evolutionsprozessen in der Realität. Schaffen solche Modellbildungen und -untersuchungen Wissen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Sicher liefern sie Erkenntnisse, und zwar zunächst über die Modelle selbst. Aber bringen sie Einsichten? Auf eine überraschende Weise kann diese Frage mit Ja beantwortet werden. Das soll zunächst am Bespiel der Zellulären Automaten illustriert werden: Bei der umfassenden systematischen Durchforschung der Dynamik einfachster Zellulärer Automaten stellte sich nämlich heraus, dass sich schon bei ganz simplen Regelwerken periodische Muster zeigen. Zudem ergab die Beobachtung der Dynamik einfacher zweidimensionaler Zellulärer Automaten, dass sich auf einer Betrachtungsebene oberhalb der einzelnen Zellen die Entstehung stabiler »Individuen« aus Zellgruppen beobachten ließ, die sich »bewegen« und die sich periodisch verändern. Die Einsicht, die sich daraus gewinnen lässt, ist die, dass sich unter bestimmten idealen Bedingungen (die ein Zellulärer Automat sicherlich bietet) schon in sehr einfachen Systemen die Ausbildung makroskopischer stabiler Strukturen antreffen lässt. Eine Einsicht, die für das Verständnis der Entstehung des Lebens sicherlich anregend und hilfreich ist. Zudem ist diese Einsicht sicherlich auch philosophisch interessant: Sie wirft nämlich die Frage auf, inwiefern diese Strukturen, die sich periodisch verändern und bewegen, tatsächlich als eigenständige Objekte angesehen werden sollten, oder ob dieser Objektcharakter nichts weiter als eine Deutung des Beobachters ist, 97 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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während die tatsächlichen Prozesse weiterhin auf der Ebene der einzelnen Zellen und ihrer Nachbarschaft passieren. Einfache Zelluläre Automaten können auf einem Blatt Papier erforscht werden, aber zumeist nimmt man, um ihre Dynamik zu untersuchen, Computer zur Hilfe. Damit wird aus einem mathematischen oder theoretischen Modell ein Computermodell. Das gilt ebenso für einfache Modelle aus anderen Disziplinen. So hat etwa Axelrod (2009) für seine einfachen Modelle zur Untersuchung der Dynamik einfacher wiederholter Spiele ebenfalls Computer verwendet, um in einfachen Spielsituationen Spieler mit verschiedenen Spielstrategien gegeneinander »antreten« zu lassen. Auch diese einfachen Modelle brachten Einsichten: Sie zeigten, dass in Modellsituationen kooperative Handlungsstrategien erfolgreicher sein können als nicht-kooperative Strategien, wenn sie bestimmten Grundregeln folgen. Computermodelle sind nichts anderes als mathematische Modelle, bei denen das zeitliche Verhalten der Objekte, die im Fokus des Forschungsinteresses stehen, nicht auf dem Papier berechnet wird, sondern in einer Computersimulation, indem die Regeln in Computer-Algorithmen abgebildet werden (Brühl 2017, 88). Mit dem Computermodell entsteht allerdings ein physisches System, das als Modell genutzt wird, dessen Verhalten beobachtet und dokumentiert wird. Die Forscher können bei der Entwicklung der Modelldynamik zusehen, sie beobachten quasi ein materielles System, dessen Bedingungen sie kontrollieren. Damit ist das Computermodell nichts anderes als ein reales Experiment. 13 Die genaue Beziehung zwischen mathematischem Modell, dem Experiment im Computermodell – der Simulation – und einem physischen System, das Gegenstand eines chemischen Experiments oder auch das klimatische System unseres Planeten sein kann, hat Krohs (2008) untersucht. Er hat dabei gezeigt, dass die Tatsache, dass die Computersimulation das reale System repräsentieren kann, dadurch begründet ist, dass das mathematische Gleichungssystem als Modell sowohl der Computersimulation als auch des chemischen oder atmosphärischen Systems angesehen werden kann. Genau genommen haben wir es dann (wenigstens im Fall des chemischen Experiments) mit drei Modellen zu tun, die sich je gegenseitig repräsentieren können.

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98 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Humphreys (2007, 51) spricht vom »numerischen Experimentieren«. Die mathematischen Gebilde werden zuverlässig in physische Geräte übertragen, sodass man das Zeitverhalten, welches sie beschreiben, tatsächlich in der Zeit beobachten kann – vielleicht in einer Art Zeitraffer oder in Zeitlupe, aber jedenfalls als zeitliche Abfolge realer Ereignisse im Computer. Das ist wiederum auch nichts Neues. Auch zuvor konnte man physische Systeme bauen, die mathematische Regelwerke abbildeten und ermöglichten, zu beobachten, wie sich materielle Objekte verhalten, die genau diesen Regeln folgen. So kann man etwa ein Uhrwerk konstruieren, dass als Zeiger kleine Kugeln im Kreis bewegt. Die Länge der Zeiger kann dem Abstand der Planeten von der Sonne entsprechen, die Dauer eines Zeigerumlaufs der Dauer des Planetenjahres. Mit einem solchen Modell kann man dann Planetenkonstellationen berechnen. Jede astronomische Uhr ist letztlich nichts anderes als ein physisches Modell des Planetensystems, welches die mathematischen Regeln der Planetenbewegung in ein physisches System abbildet. Hier hat sich die Formulierung eingeschlichen, dass ein Modell »ein Modell von etwas« ist. Diese Redeweise ist so geläufig, dass es verwunderlich erscheinen mag, dass sie hier bisher nur am Rande zur Sprache kam. Ist nicht jedes Modell ein Repräsentant von irgendetwas? Auch in der Wissenschaftsphilosophie ist diese Sichtweise verbreitet. Es scheint zu den notwendigen Eigenschaften zu gehören, die ein Modell überhaupt zu einem Modell machen, dass es ein anderes Ding oder System, dessen Modell es ist, repräsentiert. Wir haben jedoch gesehen, dass Modelle nicht zwingend etwas Reales repräsentieren, das sich jenseits des Modells selbst beobachten lässt. Zelluläre Automaten repräsentieren zunächst nichts. Ob die Modellvorstellungen der Quantenmechanik oder gar der Stringtheorie irgendetwas repräsentieren, ist nicht gewiss. Modelle können etwas repräsentieren, müssen es aber nicht, um Modell zu sein. Ein Modell eines Planetensystems etwa kann unser Sonnensystem repräsentieren. Wenn es das tut, dann kann man daraus Vermutungen oder gar Erkenntnisse, vielleicht sogar Einsichten über das Sonnensystem gewinnen. Wir werden im 99 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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nächsten Kapitel darauf zurückkommen, wie Modelle in den populären Wissenschaften Einsichten hervorbringen und vermitteln. Ein solches Modell kann aber auch eine Konstellation beinhalten, die es nirgends im Universum gibt, vielleicht sogar überhaupt nicht geben kann. Trotzdem handelt es sich um ein Modell, aus dem sich unter Umständen Erkenntnisse gewinnen lassen. Worauf beziehen sich dann diese Erkenntnisse? Auf jeden Fall auf das Modell selbst. An Modellen lassen sich Einsichten über die Modelle selbst gewinnen, weil sie sich immer auch selbst symbolisieren und repräsentieren. Irreale Modelle können allerdings auch Einsichten über die reale Welt ermöglichen, nämlich dann, wenn sie extreme Weiterentwicklungen von realen Umständen als Konstellation enthalten. Unsere aktuellen Klimamodelle sind das beste Beispiel: In ihnen modellieren und variieren die Forscher Konstellationen, die nicht real, aber möglich sind, und ermitteln die mögliche Dynamik dieser Konstellation. Modelle modellieren etwas, so wie die Künstlerin mit ihrem Material etwas modelliert; indem sie ihm eine Form gibt, modelliert sie es. Wenn die Wissenschaftlerin ein Modell entwirft, zusammenfügt und variiert, modelliert sie eben genau das, was sie da zusammenfügt und zum Modell macht. Modellieren bedeutet nicht unbedingt, etwas schon Vorgefundenes oder zuvor ausgedachtes mit irgendeinem Material oder Verfahren abzubilden, nachzubauen oder zu repräsentieren. Modellieren kann als ganz kreativer Prozess verstanden werden, bei dem das Material, welches das Modell bildet, selbst modelliert, in Form gebracht und so lange variiert wird, bis sich an ihm etwas zeigt, das aber nicht eine repräsentierte Eigenschaft von etwas anderem außerhalb des Modells sein muss, sondern eine Eigenschaft, ein Verhalten des Modells selbst sein kann. Das, was für das künstlerische Modellieren gilt, kann auf das wissenschaftliche Modellieren genau übertragen werden. In der Forschung werden bekannte, beherrschte Elemente auf neue Weise zusammengefügt und variiert, um etwas Neues, unbekanntes, das sich im Modell zeigt, zu finden, sichtbar und kontrollierbar zu machen. Das gilt für mathematische Modelle der Theoretiker ebenso wie für die physischen Modelle der Experimentatoren. 100 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Vielleicht sind Modelle immer durch Beobachtungen in der Realität motiviert oder inspiriert und deshalb kann man sagen, dass sie den Gegenstand dieser Beobachtungen modellieren, dass sie Modell von dem Ausschnitt der Realität sind, der da beobachtet wurde. Aber auf jeden Fall sind auch Konstellationen von Regelwerken und Objekten denkbar, die durch keinerlei Beobachtungen angeregt sind, sondern ganz frei erfunden. Wenn diese Konstellationen in einer beherrschbaren und systematischen Weise manipuliert, variiert und die Dynamik der Komponenten dokumentiert werden können, dann können wir sie als wissenschaftliche Modelle ansehen. In diesem Sinn haben wir bisher theoretische Modelle, Computermodelle aber auch mechanische Modelle wie Uhrwerke angesehen. In den Blick gekommen ist schon, dass es sich bei solchen Modellen also auch um physische Systeme handeln kann, die zusammengesetzt, konfiguriert und in Gang gebracht werden, damit sodann die Dynamik der enthaltenen Objekte, also das Modellverhalten untersucht und dokumentiert werden kann. Es ist genau das, was auch im Experimentalsystem, in den Versuchsaufbauten und Experimenten der Experimentatoren in Physik, Chemie und Biologie geschieht. Deshalb sind auch diese Experimentalsysteme Modelle, und die Redeweise von der Modellsituation im Labor, von den technischen Modellen in den Ingenieurwissenschaften, mit denen etwa Strömungsexperimente gemacht werden, sowie von den Modellorganismen in der Biologie spricht dafür, dass die Verwendung unseres Begriffs des Modells hier gar nicht unbekannt oder außergewöhnlich ist. Jedes wissenschaftliche Arbeiten ist also im Kern ein Modellieren, wobei die Tätigkeit des Modellierens hier in einem weiten Sinn aufgefasst werden muss: Es ist nicht nur die Herstellung des Modells, welches dann zur Demonstration oder Beobachtung benutzt wird, sondern vor allem die systematische Variation und Manipulation des Modells, seine schrittweise Erweiterung, Abänderung, Einschränkung, Verschiebung – kurz, das, was Rheinberger für die Experimentalsysteme die differentielle Reproduktion genannt hat, was das Modellieren ausmacht. In der nachvollziehbaren Regelgeleitetheit dieses Variierens, welches 101 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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eine möglichst vollständige und zugleich effektive Abdeckung des gesamten möglichen Modellverhaltens und zugleich die ständige Ausweitung der Modellmöglichkeiten anstrebt, liegt das Wissenschaftliche. Zur Nachvollziehbarkeit gehört naturgemäß die Dokumentation der Handlungen und ihrer Ergebnisse, und in dieser Dokumentation wird dann tatsächlich etwas repräsentiert: die Formeln, Symbole, Diagramme und grafischen Darstellungen, die wir sowohl bei der Dokumentation theoretisch-mathematischer Herleitungen und Detailberechnungen etwa der Bahn eines Körpers bei der Annäherung an einen anderen Körper finden, als auch bei der Beschreibung der Messergebnisse eines Experiments repräsentieren beide etwas: Die Konstruktion und die systematische Manipulation der Modellkonstellation sowie die erforschten Konsequenzen dieser Manipulationen. Die Folgerungen, die aus der Produktion solcher Dokumente für das genauere Verstehen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung abgeleitet werden können, werden uns auf den nächsten Seiten interessieren. Hier soll noch eine Frage diskutiert werden, die sich bei der Beobachtung der beschriebenen wissenschaftlichen Arbeit als Modellkonstruktion und -ausforschung geradezu aufdrängt: Ähnelt diese Vorstellung nicht eher dem, was wir im Kopf haben, wenn wir an die Arbeit von Ingenieuren denken, als dem, was wir uns vorstellen, wenn wir an Wissenschaftler denken? Tatsächlich erscheint der Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens hier eher als ein technisches Unternehmen als dass es der Vorstellung der theoretischen Erwägungen des Geistesgenies oder dem neugierigen Erkunden unbekannter Phänomene im Labor entspricht. In der Tat kann das wissenschaftliche Arbeiten in der Gegenwart ganz als ein technisches Verfahren aufgefasst werden, und wenn man bedenkt, wie viele Techniken in der wissenschaftlichen Ausbildung heute gelehrt und eingeübt werden, vom Lösen komplizierter mathematischer Gleichungssysteme über das ordentliche Ausführen von Experimenten bis zu den Methoden der Literaturrecherche und der vorschriftsmäßigen Dokumentation der eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse, dann wundert es gar nicht, dass die wissenschaftliche Forschung nun als etwas durch 102 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Die Arbeit mit Modellen

und durch Technisches erscheint. Das verweist auch darauf, dass der Begriff von Wissenschaftlichkeit, den wir hier entwickeln, keineswegs universell und über alle Zeiten gültig ist. Zwar dürfen wir beanspruchen, dass schon Aristoteles den Begriff des Technikers verwendet hat, als er die Tätigkeit des Strebens nach Einsicht charakterisiert hat, aber zu Aristoteles’ Zeit hatte dieses Wort noch eine viel weitere Bedeutung als in der Gegenwart. Dennoch ist Wissenschaft nicht »bloße Technik« und schon gar nicht ist jede wissenschaftliche Disziplin im Kern eine Ingenieursarbeit. Was die wissenschaftlichen Modelle und ihre systematische Durchforschung davon trennt, »bloße Technik« zu sein, ist, dass sie niemals vor allem Mittel zu Zwecken sind, sie sind immer Selbstzweck. Zwar kann man in jeder Technik immer auch einen Selbstzweck erkennen, aber im wissenschaftlichen Modell ist der Selbstzweck vorrangig: Ziel des Schaffens und Manipulierens eines wissenschaftlichen Modells ist, dieses Modell selbst zu verstehen, zu durchschauen und zu beherrschen, und seine Grenzen dabei so weit wie möglich hinauszuschieben, um seine Möglichkeiten ganz auszuschreiten. Die Variation eines wissenschaftlichen Modells findet nie dadurch ein Ende, dass sein Zweck erreicht wäre, wie es bei der Veränderung einer Technik der Fall ist, die dann nicht mehr weiterentwickelt werden muss, wenn sie ihren Zweck erfüllt. Anders gesagt: Ziel der Technik ist immer ein Können, dieses Können kann Selbstzweck sein oder Zweck für anderes. In der Wissenschaft ist das Können nicht das Ziel, es ist tatsächlich Mittel für den Selbstzweck des wissenschaftlichen Modell-Verstehens. Nicht nur die Veränderung, auch die ursprüngliche Schaffung wissenschaftlicher Modelle ist im Wesen nicht durch Zwecke getrieben, sondern bloßer Selbstzweck. Jede Konstellation von Regelwerken und Objekten, seien sie mathematischer, gedanklichabstrakter oder physischer Natur, kann zum wissenschaftlichen Modell werden, wenn sie so zusammengefügt werden kann, dass sie einer systematischen Durchforschung ihrer Dynamik zugänglich ist und wenn sie ein großes Potential an Variabilität und Erweiterbarkeit hat, sozusagen eine große Plastizität und Modellierbarkeit, dann wird sie zum ergiebigen Forschungsfeld einer 103 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Jenseits der Theorie-Experiment-Unterscheidung

wissenschaftlichen Disziplin. Zwar gibt es außerwissenschaftliche Gründe, die die praktische Umsetzbarkeit eines Forschungsprogramms einschränken können, das ganz ohne äußere Zweckbestimmungen ist, aber das tut der Wissenschaftlichkeit eines solchen Programms keinen Abbruch. Dass ein jedes Modell Erkenntnisse und am Ende womöglich sogar Einsichten hervorbringen kann, hatten wir schon gesehen.

3.4 Modelle außerhalb der Naturwissenschaften In den vorhergehenden Abschnitten wurde der Modellbegriff vor allem mit Blick auf das Theoretisieren und Experimentieren in den Naturwissenschaften entwickelt. Wir haben hier jedoch den Anspruch, ein Verständnis von Wissenschaftlichkeit zu entwickeln, das auch andere Disziplinen umfasst, die sich forschend Bereichen der Realität zuwendet, welche sich nicht im Labor zu physischen Konstellationen zusammenstellen und variieren lassen, und die sich in den Theorien auch nicht in mathematische Gleichungssysteme bringen lassen, die dann in verschiedenen Konstellationen systematisch auszuforschen wären. Es stellt sich die Frage, ob dieser Modellbegriff auch geeignet ist, um die Wissenschaftlichkeit von Disziplinen zu verstehen, die sich etwa konkreten historischen Prozessen widmen oder die das konkrete Werk einer Künstlerin verständlich machen wollen. Bevor wir diese Frage diskutieren, müssen wir uns noch einmal in Erinnerung rufen, dass unser Ziel nicht ist, die Wissenschaften in ihrem tatsächlichen Tun umfassend zu beschreiben. Wir wollen keinen Überblick über alles geben, was Wissenschaftlerinnen tun, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Vielmehr geht es darum, Konzepte zu entwickeln, die verständlich machen, wann und warum dieses Tun als wissenschaftlich gilt und ob daraus gerechtfertigt werden kann, dass es sich bei den Ergebnis um Wissen in der Form von Einsichten oder Erkenntnissen handelt. Als ein Kriterium wissenschaftlichen Tuns haben wir in den vorangegangenen Abschnitten gefunden, dass es als Modellierung, als Konstruktion und systematische Manipulation über104 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Modelle außerhalb der Naturwissenschaften

schaubarer Konstellationen von Elementen, die sich vorhersehbar verhalten, aufgefasst werden kann. Das wissenschaftliche Modellieren hatten wir im vorigen Abschnitt als Definieren einer Konstellation von regulierenden Umfeld-Bedingungen, die als bekannt angenommen werden, und als Bestimmung einer Zahl von Objekten, die sich in dieser Konstellation verhalten, beschrieben. Aus dem Verhalten der Objekte ergibt sich eine Situation, die entsprechend der Regeln der Konstellation eine bestimmte Dynamik entwickelt. Die Dynamik der Situation wird dann untersucht. In geistes-, kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen haben wir es zumeist mit bestimmten historischen oder zeitgeschichtlichen Konstellationen zu tun, in denen Menschen handeln. Die Handlungsmotive und die dafür relevanten Bedingungen definieren eine Situation. Ziel ist es, die in dieser Situation entstehenden Tatsachen, seien es historische Entwicklungen, künstlerische Werke oder Handlungen einzelner Personen, verständlich zu machen. Wir können also tatsächlich auch das Arbeiten in Disziplinen weit außerhalb der Naturwissenschaften als wissenschaftlich in dem hier entwickelten Sinn auffassen. Die Vielfalt des tatsächlichen Geschehens wird auf ein überschaubares Feld eingegrenzt, die Komplexität der Handlungsentscheidungen der betrachteten Personen wird auf nachvollziehbare, wesentliche Handlungsmotivationen und deren offensichtliche und verstehbare Folgen begrenzt. Diese werden systematisch untersucht und geprüft. Damit entsteht ein begrenztes, überschaubares, reduziertes und verständliches Modell des tatsächlichen Geschehens. Modellbildung, Modellierung des untersuchten Geschehens und Modellvariation mit dem Ziel, das konkrete Geschehen verständlich zu machen, sind auch in diesen Disziplinen Kern des wissenschaftlichen Arbeitens.

105 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Die Feststellung, dass das wissenschaftliche Handeln in einen sozialen Zusammenhang eingebettet ist und von sozialen Konstellationen abhängt, kann entweder als selbstverständlicher Allgemeinplatz angesehen oder als für das Verständnis des Wissenschaftlichen unwesentlich beiseite getan werden. Da die Einbettung in das Soziale letztlich für alle menschliche Tätigkeiten eine Tatsache ist, die wissenschaftliche Praxis hier also selbstverständlich keine Ausnahme ist, kann man argumentieren, dass es für das Verständnis des Wissenschaftlichen gerade nicht hilfreich ist, ihre sozialen Abhängigkeiten und Bedingtheiten, die sie ja gerade mit allen anderen Praxen gemeinsam hat, in den Fokus zu nehmen. Dass Wissenschaftlerinnen auch Angestellte eines Unternehmens sind, dass das Großlabor, in dem sie forschen, auch ein Arbeitgeber ist, dass Wissenschaftler untereinander auch als Kollegen begegnen, dass sie auch mal über Fußball reden, einander sympathisch sind oder sich lieber aus dem Wege gehen – all dass betrifft die wissenschaftliche Arbeit im gleichen Umfang wie etwa die Produktionsarbeit in einem Maschinenbauunternehmen. Für das Verständnis dessen, was für die Wissenschaftlichkeit des gemeinsamen Tuns wesentlich ist, so könnte man meinen, sollte also der soziale Aspekt gerade keine Rolle spielen. Röttgers (2012, 100) hat allerdings Wissenschaft »als gesellschaftlich organisiertes Wissen« charakterisiert. Das Wissen des Einzelnen, und auch das Wissen einer Gemeinschaft kann noch nicht als Wissenschaft gelten, »sondern erst das in einem gesellschaftlich ausdifferenzierten Diskurs organisierte Wissen« (ebd.). Wir können somit annehmen, dass das Wissenschaftliche in ganz besonderer Weise von sozialen Zusammenhängen geprägt ist. Einiges von dem, was in den vorangegangenen Abschnitten gefunden wurde, weist darauf hin. Zu nennen ist zum einen die besondere Bedeutung der symbolischen Repräsentation und Doku106 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

mentation der wissenschaftlichen Kenntnisse. Diese zeichnet das Wissenschaftliche insofern aus, dass es unabhängig wird von den persönlichen Erinnerungen der Wissenschaftlerin an das konkrete Zustandekommen seiner Kenntnisse. Auf diese Weise kann – und das ist im Alltag der zentrale Nutzen – die Erkenntnis eines Wissenschaftlers durch andere Wissenschaftler nachvollzogen werden. Zwar kann auch der einzelnen Forscherin selbst ihre Dokumentation zum späteren Nachvollziehen früherer Ergebnisse dienlich sein, aber es ist wenigstens nicht unmöglich, dass die für Wissenschaftler offenbar wichtige Anerkennung ihrer Erkenntnisse durch Kollegen den Weg und die Form der Dokumentation wesentlich bestimmt und damit auch das Wissenschaftliche selbst prägt. Zum anderen wurde in den vorherigen Abschnitten immer wieder auf die Bedeutung von gelernten Verfahren des experimentellen Gewinnens und des theoretischen Ableitens von Kenntnissen hingewiesen. Diese Verfahren werden natürlich in sozialen Beziehungen, zumeist an Universitäten in Lehrer-Schüler-Beziehungen, gelernt. Damit ergibt sich die Frage, ob dieses besondere soziale Gefüge der Reproduktion von wesentlichen Verfahren auch das wesentlich prägt, was als Wissenschaftliches angesehen wird. Diesen Fragen soll auf den nächsten Seiten nachgegangen werden. Wiederum werden exemplarisch einige Standpunkte aus den letzten Jahrzehnten diskutiert und kritisch reflektiert, ohne dass es möglich ist, die Gesamtdebatte, die teilweise auch äußerst kontrovers geführt wurde, annähernd umfassend darzustellen. Sie wird hier nur so weit nachvollzogen, wie sie für die weitere Schärfung eines Begriffes vom Wissenschaftlichen relevant ist.

4.1 Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive Fast auf den Tag genau, als Karl Poppers Standardwerk der Wissenschaftstheorie, die Logik der Forschung, erschien, schloss Ludwik Fleck seine Studie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ab. Während Poppers Buch schnell einflussreich wurde und die wissenschaftstheoretische Debatte 107 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

bestimmte, wurde Flecks Buch kaum wahrgenommen. Beides war den politischen Verhältnissen in Europa in den 1930er Jahren geschuldet. Popper emigrierte wie viele andere Wissenschaftstheoretiker in den englischsprachigen Raum, während Fleck als polnischer Jude von den deutschen Nationalsozialisten erst ins Ghetto und später ins Konzentrationslager gesperrt wurde. An Einfluss gewann Flecks Werk erst vermittelt durch Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, in dessen Vorwort Kuhn schreibt, dass Flecks Buch viele seiner eigenen Gedanken vorwegnehme und dass er ihm in mancher Hinsicht verpflichtet sei (Kuhn 1973, 8). Für Fleck sind alle wissenschaftlichen Bergriffe »Ergebnis denkgeschichtlicher Entwicklung« (1980, 31) und somit außerhalb einer bestimmten historischen Situation gar nicht zu verstehen. »Das Wissen war zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme waren für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch.« Das bedeutet, dass die Akzeptierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse als Tatsachen überhaupt nicht außerhalb der konkreten gesellschaftlichen Situation beurteilbar ist. Ob die technische Umgebung eines theoretischen oder experimentellen Systems überhaupt als Komponente einer wissenschaftlichen Forschungskonstellation angesehen werden kann, ist außerhalb einer Gemeinschaft von Forschern somit gar nicht entscheidbar. Fleck begründet seine Sicht empirisch, anhand einer Studie zur Entwicklung des wissenschaftlichen Syphilisbegriffes und kann damit als Urahn einer Tradition der Wissenschaftsphilosophie gesehen werden, der auch Rheinberger sowie die Autoren, die in den folgenden Abschnitten zitiert werden, gesehen werden. Auf dieser Basis entwickelt Fleck ein anschauliches Gesamtbild von der wissenschaftlichen Forschung im »Denkkollektiv« (54), in dem ein gewisser »Denkstil« (55) kultiviert wird. Abwehrstrategien gegen andere Denkstile (40) beschreibt er ebenso wie die »Notwendigkeit der Erfahrenheit«, die »ein irrationales, logisch nicht legitimierbares Element in das Wissen« bringt (125). Allerdings müssen wir uns an dieser Stelle fragen, ob Fleck damit etwas spezifisch 108 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

Wissenschaftliches beschreibt, oder ob es sich nicht eher um eine allgemeine Beschreibung autoritärer sozialer Systeme handelt, wie sie zu einem bestimmten historischen Moment ausgebildet werden und die hier gewissermaßen nur am Beispiel der Wissenschaften dargestellt, durch wissenschaftliche Fallstudien illustriert werden. Dann würde Flecks Studie gerade nicht das Wesen des Wissenschaftlichen treffen, sondern das beschreiben, was die Wissenschaften in einer bestimmten sozialen Konstellation mit anderen Phänomenen, etwa dem Kunstbetrieb, den religiösen Praktiken, ökonomischen oder politischen Institutionen gemeinsam haben. Für das Verständnis wissenschaftlicher Prozesse und Verfahren als soziales Geschehen ist Flecks Betrachtung sicher hilfreich, denn wir können uns unschwer denken, dass Begriffe wie »Denkkollektiv« und »autoritäre Gedankensuggestion« (136) dazu geeignet sind, politische Mechanismen innerhalb der wissenschaftlichen Praxis zu kennzeichnen. An dieser Stelle jedoch, wo es zunächst um eine möglichst klare Bestimmung des Wissenschaftlichen selbst geht, ist beim Nachzeichnen der Erkenntnisse der wissenschaftsphilosophischen Tradition, welche auf Fleck zurückgeht, besondere Vorsicht geboten. Schnell kann in der detailgenauen Beschreibung des konkreten wissenschaftshistorischen Prozesses dasjenige verborgen bleiben, was das Wissenschaftliche an dem betrachteten Vorgang gerade ausmacht – es wird verstellt durch diejenigen auffälligen Attribute, die den Vorgang zu einem normalen menschlich-gesellschaftlichen machen. Es ist natürlich für eine aufklärerische Analyse des Wissenschaftlichen sinnvoll, dieses gerade nicht als etwas Besonderes darzustellen, die Tätigkeit der Wissenschaftler vom Mythos, vom Zauberhaften, Außerordentlichen zu befreien und zu zeigen, dass da Menschen am Werk sind, die nicht frei sind von den charakteristischen Denkmustern und Prägungen ihrer Zeit, die auch ihr Werk selbst prägen. Genauso wichtig ist es andererseits aber auch, in diesem durchschnittlichen, normalen, gesellschaftlich geprägten Denken das zu identifizieren, was es zum speziell Wissenschaftlichen macht, das wir doch zumeist intuitiv zu erkennen in der Lage sind. Nicht die Beschreibung der autoritären Einübung von Denkstilen ist deshalb an Flecks Analyse der Wissenschaften so interes109 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

sant, sondern die Analyse der erkenntnistheoretischen Bedeutung des wissenschaftlichen Denkkollektivs. Fleck konstatiert in der modernen Wissenschaft zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung »des fachmännischen und populären Wissens« (148). Innerhalb des fachmännischen Wissens differenziert er zwischen der Zeitschriftenwissenschaft und der Handbuchwissenschaft, zu denen als drittes für die »Einweihung in die Wissenschaft nach besonderen pädagogischen Methoden« (ebd.) die Lehrbuchwissenschaft tritt. Obwohl die populäre Wissenschaft nach Fleck »Wissenschaft für Nichtfachleute, also für breite Kreise erwachsener, allgemein gebildeter Dilettanten« (149) ist, spielt sie auch für die Fachleute eine bedeutende Rolle. Sie zeichnet sich aus durch den »Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird« (ebd.). »Der Gipfel, das Ziel populären Wissens ist die Weltanschauung« (ebd.) und diese allgemeine Weltanschauung, »sie mag auch nur ein gehobenes Gefühl von der Zusammengehörigkeit allen menschlichen Wissens sein, oder Glaube an die Möglichkeit einer Allwissenschaft, oder Glaube an eine, wenn auch begrenzte Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft« (150), ist auch die Basis oder das Fundament allen wissenschaftlichen Arbeitens: »Gewissheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort. Darin liegt die allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung populärer Wissenschaft.« (152, Hervorhebung im Original) Bemerkenswert ist, dass Fleck die populäre Wissenschaft nicht nur als einen einseitig gerichteten Informationsfluss von den Fachleuten, den Experten, hin zu den Laien ansieht, durch welchen das interessierte Publikum sozusagen über die Ergebnisse der Forschungen der Wissenschaftler in Kenntnis gesetzt wird. Populäre Wissenschaft hat auch nicht in erster Linie eine rechtfertigende Funktion, aus der die Investitionen der Gesellschaft in wissenschaftliche Forschungen für den allgemeinen Erkenntnisgewinn als sinnvoll und gewinnbringend für die ganze Gesellschaft eingeordnet werden kann. Die wesentliche Rolle für die 110 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

Fachwissenschaft selbst besteht darin, dass die Wissenschaftler aus der populären Wissenschaft selbst ihren Erkenntnisoptimismus und ihr wissenschaftliches Gesamtbild von der Welt beziehen. Das populäre wissenschaftliche Weltbild bildet für die forschenden Wissenschaftler selbst das stabile Fundament, auf dem sie sozusagen ihre vorläufigen, instabilen und provisorischen Gebäude der Spitzenforschung errichten können. Gleichzeitig bildet es den Konsens mit den Laien über die Möglichkeiten und den Fortschritt der Wissenschaften, der ohne dieses stabile Fundament durch Rückschläge und Irrtümer leicht erschüttert werden könnte. Für die meisten Wissenschaftlerinnen dürfte die erste Begegnung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Darstellungen der populären Wissenschaft erfolgt sein, und diese vereinfachten Erfolgsgeschichten der Forschung dürften den Anreiz gegeben haben, sich selbst auf das Feld der Forschung wagen zu wollen. Während der späteren eigenen Forschung bleiben diese Geschichten der sichere Anker, die Gewissheit, dass letztlich klare, richtige Erkenntnis, also Einsicht im eigentlichen Sinn des Worts, möglich sein wird. Auf den meisten Gebieten bleiben zudem auch die Wissenschaftler Laien, die die Resultate der Forschungen über populäre Darstellungen zur Kenntnis nehmen. Somit bildet das Gesamtsystem der populären Wissenschaft einen soliden Rahmen, in dem die experimentellen Konstruktionen – und damit meine ich hier auch die theoretischen Konstruktionen, die ja im gewissen Sinne auch experimentell sind, solange sie noch vorläufige Modelle sind – eingegliedert werden können. Für uns ist es besonders interessant, dass die populäre Wissenschaft tatsächlich Einsichten im ganz ursprünglichen Sinn des Wortes hervorbringt: Hier werden Bilder erzeugt, Gleichnisse formuliert, hier wird mit anschaulichen Darstellungen beschrieben, wie die Wirklichkeit vorzustellen ist. Der Laie, an den sich die populäre Wissenschaft richtet, aber auch die Wissenschaftlerin, wenn es um Gebiete geht, die ihrem eigenen fern sind, sagen sich am Ende eines populärwissenschaftlichen Buchs oder einer Wissenschafts-Magazinsendung im Fernsehen: »Aha, so ist das also! Das kann ich mir vorstellen. Jetzt hab ich die Sache durchschaut!« 111 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Für sie ist die wissenschaftliche Erkenntnis in der populären Darstellung tatsächlich zur Einsicht geworden. Allerdings muss uns zu denken geben, dass diese Popularisierungen aus der Perspektive der theoretischen und experimentellen Wissenschaft dann oft als »grobe Vereinfachungen« angesehen werden. Auf jeden Fall aber gründet sich auf diesem Fundament der populären Einsichten der Optimismus, dass die Wissenschaften am Ende tatsächlich immer neues Wissen, immer neue und bessere Einsichten hervorbringen können. Die eigentliche wissenschaftliche Forschung spielt sich nach Fleck in der Zeitschriftenwissenschaft ab. Das Ziel des »schöpferischen Fachmanns« (156) ist der Bericht, der zur Zeitschriftenwissenschaft gehört. »Die Zeitschriftenwissenschaft trägt also das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen« (ebd.). Vielleicht ist diese Beschreibung von Ludwik Fleck die erste in der Geschichte der Wissenschaftsphilosophie, in der deutlich und betont wird, dass das Ziel der modernen wissenschaftlichen Forschung der Zeitschriftenartikel, das, was heute »das Paper« genannt wird, ein ganz spezifisch produzierter und strukturierter Ergebnisbericht über die Forschung ihrer Autoren ist, der mit dem Ziel geschrieben wird, in ein Gesamtsystem integriert zu werden. Dieses Gesamtsystem ist nicht etwa die populäre Wissenschaft, sondern das, was Fleck die Handbuchwissenschaft nennt: »eine kritische Zusammenfassung in ein geordnetes System« (ebd.). Obwohl die Zeitschriftenartikel vorsichtig formuliert sind und eine Korrigierbarkeit der dargestellten Ergebnisse zulassen, suchen sie immer Anschluss an das Gesamtsystem, ordnen sie sich immer in die Handbuchwissenschaft ein. Durch die erfolgreiche Einordnung in das Handbuch der Disziplin verschwindet gleichzeitig das Vorläufige, Vorsichtige und Persönliche, das Handbuch enthält das gesicherte Wissen der Disziplin in dem Sinne, dass es »entscheidet, was als Grundbegriffe zu gelten habe, welche Methoden lobenswert heißen, welche Richtungen vielversprechend erscheinen, welchen Forschern ein Rang zukomme«. (158) Es kann dahin gestellt bleiben, ob Handbücher dieser Art für jede Disziplin mit Namen und Titel identifiziert werden können, oder ob sie heute in manchen Disziplinen durch Lehrbücher, in 112 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

anderen durch den Review-Teil der führenden Fachzeitschriften und in anderen wiederum durch den fließenden Konsens der Forscher-Gemeinschaft sozusagen virtuell abgebildet werden. Konzeptionell ist der Begriff der Handbuchwissenschaft in jedem Fall hilfreich, um das Streben der Forscher zu verstehen, mit ihren Zeitschriftenartikeln in den gesicherten Bestand des Wissens der jeweiligen Forschergemeinschaft aufgenommen zu werden. Wissenschaftliche Forschung kann mit Fleck also als ein ganz spezifisch ausgeprägter Prozess der Dokumentproduktion verstanden werden: Es geht darum, Zeitschriftenartikel zu produzieren, die zu einem Baustein in einem Gesamtsystem werden, das von der relevanten Gemeinschaft der Forscher als verbindlich akzeptiert wird. Dieses Gesamtsystem wird ständig weiterentwickelt, aufgestockt und umgebaut. Die Integration der Einzelbausteine ist damit verbunden, dass die Spuren des persönlichen und des vorläufigen beseitigt werden, außerdem werden natürlich diejenigen Zwischenergebnisse weggelassen oder herausgestrichen, die sich zum Schluss nicht konsistent in das Gesamtsystem einfügen lassen, die sich, wie man dann sagt, als Irrtümer oder Sackgassen erwiesen haben. Somit entsteht ein schönes, plausibles Gesamtgebäude, bei dessen Betrachtung man den Eindruck gewinnen kann, dass es planvoll und zielgerichtet erbaut wurde. Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie dieses Bild von Wissenschaft mit dem Begriff des Wissenschaftlichen zusammenpasst, den wir in den vorangegangenen Abschnitten zu entwickeln begonnen haben, möchte ich die außerordentliche Bedeutung der Beschreibung des wissenschaftlichen Forschens als, wie wir es nennen können, Dokumentenproduktionssystem hervorheben. Denn tatsächlich charakterisiert Fleck das wissenschaftliche Arbeiten hier auf eine Weise, die es deutlich von allen anderen Unternehmungen der modernen Gesellschaft abgrenzt, aber auch von früheren Aktivitäten, die als Wissenschaft bezeichnet werden. Selbstverständlich gibt es auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Aktivitäten mit dem Ziel, Texte in Zeitschriften zu veröffentlichen und damit Anerkennung oder Einfluss in der Gesellschaft zu erlangen, etwa im Journalismus oder in der Kunst. Auch 113 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

wenn wir den Rahmen etwas weiter stecken und über das Präsentieren eigener Werke innerhalb einer Gemeinschaft von Fachleuten sprechen, mit dem Ziel, Anerkennung und langfristige Einordnung als Schöpfer von Rang zu erzielen, können wir die verschiedenen Bereiche der Kunst und der Publizistik nennen. Auch dort geht es sicherlich darum, sich in allgemein mehr oder weniger verbindliche Normen einzuordnen oder diese mit zu bestimmen. Jedoch ist es dabei niemals das Ziel, das eigene Produkt so von allem Subjektiven und Persönlichen zu befreien, dass der Autor nicht mehr sichtbar ist. Auch eine vollständige Integration in ein Gesamtsystem wird weder vom Journalisten noch vom Künstler angestrebt. Das Werk soll eine gewisse Wirkung haben und auch auf eine gewisse Erwartungshaltung Bezug nehmen, aber es bleibt ein eigenständiges Produkt, es soll nie zum bloßen Baustein in einer Gesamtkonstruktion werden. Ganz anders beim wissenschaftlichen Paper. Schon sein unpersönlicher Stil versucht, die Autoren unsichtbar zu machen. Sodann ist die Struktur des wissenschaftlichen Zeitschriftenartikels zumeist hochgradig standardisiert. Im ersten Teil wird zumeist ausführlich auf andere Ergebnisse der Zeitschriften- und Handbuchwissenschaft verwiesen, sodass sich der Inhalt des Papers nicht als individuelles Einzelwerk, sondern als Baustein in einem Gebäude präsentiert. Somit unterscheidet sich Flecks Darstellung der Wissenschaft grundsätzlich von jedem anderen gesellschaftlichen Unternehmen. Das ist umso erstaunlicher und bemerkenswerter als wir zu Beginn der Beschäftigung mit seiner Studie die Gefahr gesehen hatten, dass die soziologische und historisch konkrete Herangehensweise das spezifisch Wissenschaftliche gerade verdecken könnte, dass das so zu findende Verständnis von Wissenschaft sich gerade nicht von anderen Bereichen der modernen Gesellschaft abgrenzen ließe. Diese moderne Wissenschaft unterscheidet sich aber nicht nur von den anderen Bereichen der modernen Gesellschaft, sondern auch von allen früheren Unternehmungen, die als Wissenschaft galten. Noch Isaak Newton, der doch der Urvater der heutigen Physik ist, hat bekanntlich keineswegs Zeitschriftenartikel ver114 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

fasst, die Eingang in ein Handbuch der Physik finden sollten. Das unterscheidet ihn eben gerade von seinen berühmten Nachfahren wie etwa Albert Einstein, dessen Theorien als Geburtsurkunden ein paar Aufsätze in den Annalen der Physik des Jahres 1905 haben, auch wenn Einsteins Aufsätze sich in Stil und Aufbau noch gewaltig vom heutigen Paper unterscheiden. Im gleichen Sinne lässt sich auf das große Werk von Charles Darwin verweisen, der mit der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl die Evolutionsforschung begründet hat, eine Disziplin, die heute in eine Vielzahl von Spezialgebieten mit einer ausgeprägten Zeitschriften- und Handbuchwissenschaft, aber auch mit einer Vielzahl von Werken der populären Wissenschaft aufgefächert ist. Man kann wohl sagen, dass eine Disziplin umso mehr moderne Wissenschaft ist, desto weniger ihre aktuelle Forschung durch große Monographien vorangebracht und dominiert wird, sondern durch ein System von speziellen Fachzeitschriften und Konferenzen, in denen der jeweils aktuelle Stand dessen ausgehandelt wird, was Fleck als Handbuchwissenschaft bezeichnet hat. Im letzten Kapitel werde ich auf diese These mit Blick auf die Philosophie zurückkommen. Wir hatten oben (Seite 90) das Wissenschaftliche als das Finden kausaler Zusammenhänge in Modellen charakterisiert. Solche kausalen Zusammenhänge bestehen darin, dass die Modelle in einer nachvollziebaren Weise manipuliert werden können und Manipulationen jeweils die gleichen Ergebnisse haben. Modelle sind dabei in Theorien oder in Experimentalsysteme eingebettet. Dieses Verständnis des Wissenschaftlichen erklärt die Struktur der modernen Wissenschaft als Zeitschriften- und Handbuchwissenschaft: In den Handbüchern der Disziplin werden die verbindlichen theoretischen Systeme und Experimentalsysteme dokumentiert, während in Zeitschriftenartikeln die Modellkonstruktionen und -manipulationen, die neu gefundenen kausalen Zusammenhänge dokumentiert werden. Dies geschieht genau zu dem Zweck, dass sie von anderen Wissenschaftlern nachvollzogen und damit gesichert werden können, auf dass sie in das gesicherte Wissen des Handbuchs als Baustein eingehen. Ich werde das Gesamtbild des Wissenschaftlichen, das so ent115 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

steht, im nächsten Kapitel zusammensetzen. Zuvor soll in den verbleibenden Abschnitten die weitere Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie, wie sie von Fleck initiiert wurde, skizziert werden. Daraus werden wir weitere Teile des gesuchten Bildes gewinnen können.

4.2 Wissenschaft als Paradigmendynamik Der einflussreichste Nachfolger der Wissenschaftsphilosophie Ludwik Flecks war wohl Thomas Kuhn mit seiner Studie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, die zuerst 1962 erschien. Die zentralen Begriffe, mit denen Kuhn das Wesen der Wissenschaften zu erfassen versucht, sind das Paradigma, die Normalwissenschaft, die wissenschaftliche Revolution sowie die Inkommensurabilität. Während in den Zeiten der Normalwissenschaft in einer Disziplin auf der Basis eines klaren Paradigmas gearbeitet wird, und im Rahmen dieses Paradigmas im Wesentlichen ein so genanntes Rätsellösen stattfindet, wird während einer wissenschaftlichen Revolution ein altes Paradigma durch ein neues ersetzt. Das alte und das neue Paradigma sind inkommensurabel, d. h., sie sind nicht ineinander übersetzbar, sie sind nicht gleichzeitig möglich, schließen einander aus. Wir werden im Folgenden Kuhns Argumentation kritisch nachzeichnen, um das Bild des Wissenschaftlichen, welches wir hier entwickeln, zu prüfen und zu ergänzen. Kuhns Beschreibung der Normalwissenschaft unter einem Paradigma ist im Wesentlichen eine Neuformulierung dessen, was Fleck mit den Begriffen »Denkkollektiv« und »Denkstil« beschrieben hat 14 . Kuhn schreibt: »Menschen, deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmen beruht, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden« (1973, 26). Auch wenn der Begriff des Paradigmas von Kuhn nirgends ganz klar Mößner (2011) verweist darauf, dass diese Aussage von vielen Wissenschaftsphilosophen geteilt wird, arbeitet allerdings gleichwohl wichtige Unterschiede zwischen den beiden Konzepten heraus.

14

116 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Paradigmendynamik

gefasst wird – mal ist es eine wissenschaftliche »Leistung« (25), mal eine »Theorie»(32), ein »festumrissener Forschungkonsensus« (30) und mal eine »vorgeformte und relativ starre Schublade« (38), in welche die Natur hineingezwängt wird – wird deutlich, welche Rolle das Paradigma in der wissenschaftlichen Arbeit spielt. Es bildet das fraglos geltende stabile Fundament dessen, was der Forschergemeinschaft als zweifelsfrei zutreffend gilt. Gerade deshalb muss der Begriff des Paradigmas auch eine gewisse Unschärfe haben. Das, was als sicheres Fundament gilt, kann eben je nach Forschungsprogramm und Disziplin etwas sehr Unterschiedliches sein. Es kann sich um eine grundlegende Theorie ebenso handeln wie um die Menge vernünftiger Fragestellungen wie auch um die in der jeweiligen Disziplin als Standard geltenden Experimentieranordnungen oder die als gesichert geltenden experimentellen Befunde. Dass etwas als Paradigma gelten kann, kann nicht vorab durch theoretische Erwägungen bestimmt werden – es ist eine praktische Frage. Dadurch, dass die Forschergemeinschaft etwas als einen ausreichenden Konsens bestimmt hat, dadurch, dass sie es als Fundament vereinbart hat und darauf in der täglichen Forschung verweist, wird es zum Paradigma. Insofern ist hier fraglich, warum Kuhn hier überhaupt einen gegenüber Fleck neuen Begriff eingeführt hat, denn die Rolle, die dieser Konsens im »Denkkollektiv« zu spielen hat, nämlich das Denken auf bestimmten, konsensfähigen Bahnen zu halten, wurde durch Flecks Begriff des »Denkzwangs« wesentlich klarer bestimmt. Auch für Kuhn wird, ebenso wie für Fleck, das Paradigma in Grundlagenwerken dokumentiert, wobei Kuhn nicht zwischen Handbuchwissenschaft und Lehrbuchwissenschaft unterscheidet, sondern nur über die Lehrbücher der Disziplin spricht: »Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im Einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher legen das anerkannte Theoriengebäude dar« (25). Kuhn verweist auf den qualitativen Unterschied dieser Lehrbücher zu den »Klassikern der Wissenschaft« (ebd.), auf den wir oben bereits eingegangen waren. Bedeutsam ist, dass diese Klassiker, die in vorparadigmatischer Zeit oder während des Findens des ersten 117 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Paradigmas einer Disziplin entstanden, sich auch an ein breites verständiges Publikum wandten (34). Das verweist darauf, dass auch für Kuhn ein Unterschied zwischen der vormodernen Wissenschaft und der modernen Wissenschaft in dem Sinne besteht, dass sich in letzterer ein charakteristisches Verfahren der Erkenntnisdokumentation herausbildet, in der bestimmte Erkenntnisformen in zugehörigen Dokumentarten dargestellt werden. Das Paradigma wird in Lehrbüchern dargestellt. In der modernen Wissenschaft entwickeln sich parallel zum Erscheinen der Lehrbücher die »Fachzeitschriften« (33), mit »kurzen Artikeln, die sich nur an die Fachkollegen wenden, bei denen die Kenntnis eines gemeinsamen Paradigmas vorausgesetzt werden kann« (34). In den Zeiten der Normalwissenschaft findet in diesen Fachartikeln der Zeitschriften das Lösen von wissenschaftlichen Problemen statt, die Kuhn drei Klassen zuordnet: »Bestimmung bedeutender Tatsachen, gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie, Artikulation der Theorie« (47). Damit wird die Normalwissenschaft zum »Rätsellösen« (49 ff.): Innerhalb des Paradigmas werden einzelne konkrete Aufgabenstellungen und Konstellationen ausgewählt und untersucht, etwa die Bewegung zweier Körper unter dem Newton’schen Paradigma, oder die Schwingung einer Saite. Dabei kann es sein, dass die bisherige Formulierung des Paradigmas an Grenzen stößt, sodass eine Neuartikulation nötig ist (hier ist als Beispiel die Langrange’sche oder die Hamilton’sche Formulierung der Newton’schen Mechanik einschlägig). Bis zu diesem Punkt handelt es sich bei Kuhns Wissenschaftsphilosophie, so kann man mit seinen eigenen Worten sagen, um eine Neuartikulation der Beschreibung, die wir schon bei Fleck gefunden haben. Hinsichtlich der Literaturproduktion ist Kuhns Bild eine Vereinfachung, die, wie wir noch sehen werden, auch Probleme mit sich bringt. Hinsichtlich etwa der Typologie der Probleme, die in der Normalwissenschaft gelöst werden, handelt es sich um eine Ergänzung. Einen wirklich neuen Schritt geht Kuhn gegenüber Fleck erst durch seine Beschreibung der wissenschaftlichen Revolutionen, durch die ein Paradigma durch das andere abgelöst wird. Kuhn hat sich ganz bewusst für den Begriff der Revolution 118 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Paradigmendynamik

entschieden und beginnt seine Argumentation mit einer Skizze einer Theorie der gesellschaftlichen Revolution (104f), die ein wenig an Marx und Engels erinnert. Ausgangspunkt der Revolution ist, dass ein Teil der Gemeinschaft das Gefühl hat, dass die geschaffenen Institutionen ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden. Die Revolution soll diese Institutionen auf Weisen ändern, die »von jenen Institutionen selbst verboten werden« (105). Kuhn will zeigen, dass sich die revolutionäre Wahl »zwischen zwei konkurrierenden Paradigmen als eine Wahl zwischen zwei unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft« erweist (106). Die verschiedenen Paradigmen sind inkommensurabel. Kuhn erläutert seine Revolutionstheorie an einer Reihe von plausiblen historischen Beispielen. Trotzdem ist gerade dieser Teil seines Konzepts in der Folge oft kritisiert und angegriffen worden (Lakatos und Musgrave 1970, Hacking 1981, Hoffmann 2013, 100). Das ist auch verständlich, wenn man bedenkt, dass viele Grundkonzepte der Wissenschaften, die Kuhn als Beispiele alter Paradigmen nennt, welche auf revolutionäre Weise durch neue abgelöst werden, noch heute in den Lehrbüchern der betreffenden Disziplinen stehen und im Studium der jeweiligen Wissenschaft gelehrt und geprüft werden. So muss sich etwa jeder Student der Physik sowohl im theoretischen Teil seiner Ausbildung als auch im physikalischen Praktikum noch heute die Newton’sche Mechanik aneignen, dies sogar in größerem Umfang als er sich etwa der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik zu widmen hat. Das spricht nicht gerade dafür, dass auf diesem Gebiet eine Revolution stattgefunden hat, durch die eine »Lebensweise der Gemeinschaft« durch eine andere abgelöst worden wäre, die mit der ersten unvereinbar wäre. Erklärlich wird das, wenn man annimmt, dass eine wissenschaftliche Forschergemeinschaft nicht durch ein einzelnes Paradigma geprägt ist, oder durch einige, nebeneinander bestehende Paradigmen, die sich ergänzen, sondern durch ein hierarchisches Netz über- und untergeordneter, allgemeiner und spezieller Paradigmen. Das allgemeine Paradigma bleibt von Änderungen spezieller Paradigmen unberührt. So ist etwa der Konsens, dass die physikalische Welt sich durch mathematische Gleichungen be119 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

schreiben lassen sollte – wobei Modelle für konkrete Konstellationen aus allgemeinen Gleichungen, so genannten physikalischen Gesetzen, hergeleitet werden müssen, durch den Übergang von der Newton’schen Mechanik zur Relativitätstheorie oder zur Quantenmechanik gänzlich unberührt geblieben. Auch wenn die Vorstellung, dass Entfernungen und Zeitmessungen sowie die Masse eines Körpers bei Geschwindigkeitsänderungen nicht konstant bleiben, mit der Newton’schen Mechanik nicht vereinbar sind und für manchen Forscher als ein unannehmbarer Paradigmenwechsel, für andere als eine bedeutende Revolution des Weltbildes erscheinen musste, war doch nicht in Frage gestellt, dass die Bewegung von Körpern durch Bewegungsgleichungen beschreibbar ist. Der Wechsel von der deterministischen Mechanik zur Quantenmechanik stellte ebenfalls ein Paradigma in Frage: An die Stelle deterministischer Bewegungsgleichungen traten Gleichungen über statistische Verteilungen, die nicht auf deterministische Gesetze zurückgeführt werden konnten. Trotzdem blieb der wesentliche Konsens bestehen, dass die physikalische Welt mathematisch beschreibbar ist, somit bestand für die Vertreter des einen Paradigmas kein Zweifel, dass auch die Vertreter des anderen zur Gemeinschaft der Physiker gehören. Mehr noch: Gerade für die Vertreter eines neuen Paradigmas ist es selbstverständlich, dass die Studenten der Disziplin an den alten Paradigmen zunächst die Grundsätze der Disziplin zu erlernen haben, bevor sie sich den aktuellen Theorien zuwenden könnten. Geht man weiter ins Detail der Forschung einer Disziplin, so steigt man in der Hierarchie der Paradigmen immer weiter hinab. Was von einer allgemeinen Perspektive aus als Normalwissenschaft des Rätsellösens erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Kampf zwischen Einzelparadigmen, als »permanente Revolution«. Diesem Bild von Wissenschaft wird Flecks Unterteilung in populäre Wissenschaft, Lehrbuch-, Handbuch- und Zeitschriftenwissenschaft weit besser gerecht als Kuhns vereinfachtes Modell, in dem es nur die Lehrbücher, in denen das Paradigma gelehrt wird, auf der einen Seite, und die Zeitschriftenartikel, in denen das Rätsellösen stattfindet, auf der anderen Seite gibt. Wie wir 120 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaft als Paradigmendynamik

oben gesehen haben, bezieht auch eine Forscherin an der vordersten Front einer Einzelwissenschaft ihre allgemeinen Überzeugungen über die richtigen Grundsätze und die Möglichkeiten der Wissenschaften aus der populären Wissenschaft. Dort werden die allgemeinen und langlebigsten Paradigmen gebildet. Dass auch diese einem Wandel unterliegen, die man durchaus als revolutionär bezeichnen kann, haben etwa Foucault (2003) oder Heidegger (2003) gezeigt. Wir halten fest, dass es auf dieser allgemeinen Ebene in der Zeit der Moderne oder gar der Spätmoderne keinen Paradigmenwechsel gegeben hat, dass vielmehr das, was wir als das Wissenschaftliche in den Blick zu bekommen versuchen, gerade das ist, was diesem modernen Paradigma entspricht. In den Lehrbüchern findet sich die Beschreibung verschiedener nützlicher, akzeptabler, wenn auch vielleicht veralteter Paradigmen, an denen die Studenten der jeweiligen Wissenschaft vor allem lernen können, wie leistungsfähig das allgemeine Paradigma ist und welche großen Werke es hervorgebracht hat. Auf dieser Basis können sie dann auch lernen, dass es neuere Paradigmen gibt, die die alten zum Teil korrigieren, zum Teil ablösen. Die Stabilisierung und vorläufige Verfestigung spezieller Paradigmen geschieht auf der Ebene, die Fleck die Handbuchwissenschaft genannt hat. Heute gibt es, wie wir bereits festgestellt haben, eine Vielzahl von Ausprägungen der Darstellung dieser Paradigmen: Sie finden sich in Review-Artikeln der führenden Fachzeitschriften, in Konferenzserien, deren Beiträge in speziellen Buch-Reihen veröffentlicht werden, sowie in Sammelbänden und Übersichtsmonographien. Der Übergang zur Lehrbuchwissenschaft auf der einen Seite sowie zur Zeitschriftenwissenschaft auf der anderen ist fließend. In der Zeitschriftenwissenschaft, zu der neben den Artikeln, die in Fachzeitschriften erscheinen, auch die Beiträge zu Fachkonferenzen sowie die Arbeitspapiere gehören, die heute zunehmend auf den Webseiten der Institute bereitgestellt oder in offenen Datenbanken im Internet publiziert werden, findet sowohl die Normalwissenschaft als auch die permanente Revolution statt. Allerdings kann bei einem einzelnen Artikel gar nicht unbedingt genau entschieden werden, ob er ein 121 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Rätsel der Normalwissenschaft löst oder ein revolutionäres spezielles Paradigma beschreibt. Jeder Artikel ordnet sich in ein übergeordnetes Paradigma ein und schließt an bestehende spezielle Paradigmen an, um sie zu ergänzen oder auszubauen.

4.3 Die wissenschaftliche Produktion von Text Der Gedanke, wissenschaftliche Forschung als spezielle Textproduktion zu beschreiben, ist vor allem von Bruno Latour (etwa in Latour und Woolgar 1986, Latour 2000) detailliert ausgearbeitet worden. Latour und Woolgar sehen sich in der Rolle von (soziologischen) Anthropologen, die die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit beobachten und versuchen, einen Sinn, eine Struktur in ihrem Tun zu entdecken. Latour hat dazu einige Monate in einem Laboratorium verbracht und seine Beobachtungen aufgezeichnet. Was ihm dabei ins Auge fiel, war die »central prominence of documents« (»zentrale Prominenz von Dokumenten«, Latour und Woolgar 1986, 52). In Auseinandersetzung mit Standpunkten, die die große Rolle informaler Kommunikation in den Wissenschaften betonen, stellen die Autoren fest: »much informal communication in fact establishes its legitimacy by referring or pointing to published literature. … Even the most informal exchanges constantly focused either directly or indirectly on documents.« (»ein Großteil der informellen Kommunikation erhält seine Legitimität faktisch dadurch, dass er auf publizierte Literatur verweist. Sogar der ganz informelle Austausch konzentriert sich direkt oder indirekt auf Dokumente«, 53) In der Kommunikation der Wissenschaftler geht es entweder um die Inhalte von Dokumenten oder um das Schreiben von Texten, etwa um eine Kooperation, in der ein Artikel entstehen soll. Es werden Entwürfe diskutiert oder die Frage behandelt, welche Reaktionen auf eigene Artikel in kommenden Artikeln zu erwarten sind (ebd.). Latour und Woolgar zeichnen in ihrer Studie im Wesentlichen die Entstehung wissenschaftlicher Artikel nach und zeigen, wie durch sie ein Bereich der Wissenschaft hervorgebracht wird und seine Dynamik entwickelt. Ein solcher Bereich wird als Feld be122 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Die wissenschaftliche Produktion von Text

stimmt. Der Begriff des (Forschungs-)Feldes ist insofern für das Verständnis des tatsächlichen Forschungsprozesses besser geeignet als der der Wissenschaft oder der Disziplin, dass er auch Forschung an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen sowie Hybridbildungen aus verschiedenen Disziplinen erfasst, die für die moderne Wissenschaft gerade typisch sind. Die Zuordnung eines Feldes zu einer Disziplin oder einer Wissenschaft ist gerade nicht notwendig, Felder können geradezu beliebig durch Zusammenstellung von Methoden und Gegenständen aus verschiedenen Disziplinen gebildet werden. Als »mixture of beliefs, habits, systematic knowledge, exemplary achievements, experimental practices, oral traditions, an craft skills« (»Mischung von Überzeugungen, Verhaltensweisen, systematischem Wissen, beispielhaften Leistungen, experimentellen Praktiken, mündlichen Überlieferungen und handwerklichem Können« 54) ist ein Feld ein kulturelles Phänomen. Hier erinnert uns der Begriff des Feldes an die Beschreibung des Experimentalsystems bei Rheinberger. Es wird durch eine eigene Geschichte, mit Vorläufern, mythischen Gründern und Revolutionen definiert. Schon in diesen Geschichten wird auf Dokumente referenziert. Wir hatten oben bereits auf die großen Monographien der Väter ganzer Disziplinen, wie Issak Newton oder Charles Darwin verwiesen, oder auf die Artikel Albert Einsteins in den Annalen der Physik von 1905. Latour und Woolgar führen ähnliche Beispiele an. Auch bei Fleck finden sich solche Referenzen, ebenso in den oben zitierten Arbeiten von Rheinberger. Die Größe und Bedeutung eines Feldes, seine Wachstumsdynamik, aber auch sein Niedergang, lässt sich an der Zahl der publizierten Artikel pro Jahr messen (57). Auch einzelne Ausprägungen innerhalb eines Feldes lassen sich in ihrer Dynamik durch die Zahl der Publikationen beschreiben. Der gesamte Forschungsprozess erscheint als ein strukturiertes Verfahren, um aus Ausgangsdaten Artikel zu produzieren (63 ff.). Da Latour und Woolgar sich auf ein Experimentallabor konzentrieren, zeichnen sie den Weg von Messergebnissen aus Experimenten zu Zeitschriftenartikeln nach. Schon die Messung selbst erfolgt so, dass sie in strukturierten Zahlenwerken und grafischen 123 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Darstellungen dokumentiert werden können. Die akzeptierten Mess- und Protokollierungsverfahren und die Art und Weise der Dokumentation gehört zur Kultur des Feldes ebenso wie die Verfahren, nach denen diese Ergebnisse in Diagrammen organisiert werden. Diese Darstellungen sind Gegenstand der Diskussion unter den beteiligten Forschern, in ihnen wird nach den »harten Fakten« gesucht, deren Reproduzierbarkeit in folgenden Experimenten (genauer: in Diagrammen, die aus folgenden Experimenten abgeleitet werden) angestrebt wird, damit sie als wissenschaftliche Erkenntnis, als Wissensbaustein des Feldes angesehen werden können. Die Präsentation dieser Wissensbausteine in einem publizierten Artikel ist letztlich das Ziel: »The production of papers is acknowledged by participants as the main objective of their activity.« (»Die Produktion von Artikeln ist von den Teilnehmern als hauptsächliches Ziel ihrer Aktivität anerkannt«, 71) Während die Zahl der Publikationen die Bedeutung und die Dynamik eines Forschungsfeldes anzeigt, wird die Bedeutung und der Einfluss eines Instituts, einer Arbeitsgruppe oder einzelner Forscher nicht nur durch die Anzahl der Publikationen bestimmt, die in der Publikationsliste dokumentiert wird (72). Ebenso bedeutend ist die Zahl der Zitationen der eigenen Artikel in den Artikeln anderer Forscher und Arbeitsgruppen, die auf dem gleichen Feld arbeiten (220, 225). Die Glaubwürdigkeit eines Forschungsergebnisses wird in erster Linie durch die Zahl der Zitationen des betreffenden Papers bestimmt.

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Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

Wir hatten im Abschnitt 3.3 das Wissenschaftliche als Herstellung und Manipulation von Modellen als symbolischen Repräsentationen von Konstellationen beschrieben, wobei diese Modelle jeweils in einen stabilen Kontext eingebunden sind, oder, wie wir auch sagen können, die Modellmanipulationen erhalten ihre eigene Stabilität und Reproduzierbarkeit durch ihre Verankerung auf einem festen Fundament. Wir hatten gesehen, dass wir wenigstens zwei Ausprägungen dieses Wissenschaftlichen kennen: die Theoriendynamik und die Experimentalsysteme. Als wissenschaftlich erscheint uns ein Vorkommnis, das sich plausibel als Ergebnis eines solchen Prozesses der Modellmanipulationen beschreiben lässt. Die stabilisierten und reproduzierbaren Modellmanipulationen können wir als wissenschaftliche Erkenntnis betrachten. Wir hatten gesehen, dass Theoriendynamik und Experimentalsysteme gewissermaßen komplementäre Ausprägungen des Wissenschaftlichen sind: wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich als Ergebnisse einer Theoriendynamik schildern, bei denen Experimente allenfalls als Prüfinstanz fungieren, oder als differenzielle Reproduktion eines Experimentalsystems, für das Theorie, wenn überhaupt, nur als Dokumentationshilfe benötigt wird. Das verweist uns darauf, dass das Wissenschaftliche im Wesen weder im Theoretischen noch im Experimentellen besteht, und dass es auch nicht im Wechselspiel dieser beiden Ausprägungen bestehen muss. Und gewiss beobachten wir auch Ausprägungen des Wissenschaftlichen, die sich nicht ohne Anstrengungen einem dieser beiden zuordnen lassen, etwa, wenn wir versuchen, die Arbeit der Paläontologen, der Historiker, oder der Literaturwissenschaftler zu beschreiben, wobei wir bereits gesehen haben, dass auch deren Arbeit in den Bergriffen des Theoretisierens und Experimentierens, des Modellierens und der Experimentalsysteme verständlich gemacht werden können. 125 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

Der kurze Überblick über die einflussreichsten Versuche des 20. Jahrhunderts, das Wissenschaftliche zu bestimmen, hat zudem eines ans Licht gebracht: Das Wissenschaftliche begegnet uns als ein Produktionsprozess von Dokumenten, von Publikationen, die in speziellen Zeitschriften veröffentlicht werden. Davon nehmen wir auch in der Öffentlichkeit Kenntnis. Darüber wird in Nachrichten berichtet, die Zeitungen schreiben über gerade erschienene Studien, Experten erklären die Ergebnisse im Radio und im Fernsehen. Wir erfahren auch von spektakulären Fehlern oder Täuschungen, die zur Rücknahme solcher Publikationen führen. Von der Wissenschaft in Reinform, wenn sie noch nicht in Technisches in Form von Flugapparaten oder Reinigungsmitteln eingegangen ist, erfahren wir durch Berichte, die über Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen informieren. Wie wir gesehen hatten, ist die Produktion solcher Veröffentlichungen auch das zentrale Ziel der Wissenschaften. Aber nicht jede Veröffentlichung in einer Zeitschrift wird wissenschaftlich genannt. Von anderen Veröffentlichungen, über die ebenfalls in den Medien berichtet wird, unterscheidet sich die wissenschaftliche dadurch, dass sie den Anspruch hat, eine Erkenntnis zu sein. Auch journalistische Veröffentlichungen haben allerdings diesen Anspruch. Wir müssen also, auf Basis dessen, was die vorangegangenen Kapitel über das Wissenschaftliche bereits gesagt haben, klären, was die wissenschaftliche Erkenntnis im Besonderen kennzeichnet. Wir könnten zunächst annehmen, dass das Wissenschaftliche sich auf eine allgemeine Erkenntnis richtet, während im Journalismus etwa, wie auch in der Kunst, der Einzelfall im Fokus steht. Unsere Beispiele und die exemplarisch dargestellten Standpunkte von Wissenschaftsphilosophen könnten darauf hindeuten, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis wiederholbar sein muss, an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, von anderen Wissenschaftlern. Aber das trifft nicht für jede wissenschaftliche Erkenntnis zu, denn auch soziologische Feldstudien etwa sind nicht beliebig reproduzierbar, und Studien von Literaturwissenschaftlern zu einem bestimmten Werk eines bestimmten Autors haben nicht den Anspruch, dass ein anderer Wissenschaftler sie mit 126 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

exakt dem gleichen Ergebnis reproduzieren kann. Selbst die Experimente am CERN zum Nachweis des Higgs-Teilchens lassen sich nicht ohne Weiteres anderswo reproduzieren, denn die Investition in eine Großanlage wie das CERN ist erheblich und momentan ist nicht zu sehen, dass an einem anderen Ort eine ähnliche Anlage nur zur Reproduktion der Ergebnisse am CERN errichtet werden soll. Vom journalistischen und vom künstlerischen Text unterscheidet sich der wissenschaftliche nicht dadurch, dass letzterer eine allgemeine Erkenntnis enthält, die für viele gleichartige Fälle zutrifft, während die ersten eine spezielle, einen konkreten Einzelfall betreffende Erkenntnis ist, aus der allenfalls der Leser eine allgemeine Erkenntnis gewinnt. Der wissenschaftliche Text ist von vornherein so angelegt, dass er in einen Organisationsprozess von Erkenntnissen einer Gemeinschaft integriert werden kann, Der Anspruch des wissenschaftlichen Textes ist es nicht, allgemein gültig zu sein, sondern in einer Gemeinschaft, zu der der Autor oder das Autorenkollektiv gehört, gültig zu sein. Zu diesem Zweck ist der Text, der eine neue wissenschaftliche Erkenntnis enthält, der Zeitschriftenartikel oder das Paper selbst auf eine gewisse Weise organisiert. Er dokumentiert seine Erkenntnis in Form kausaler Zusammenhänge innerhalb eines Modells. Ein Modell ist die symbolische Repräsentation einer bestimmten Konstellation, die Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses ist. Es erlaubt eine Demonstration der in ihm symbolisch beschreibbaren Kausalität. Ein einzelner Text dieser Art muss das Modell, mit dem er sich beschäftigt, nicht selbst neu erfinden, um eine neue wissenschaftliche Erkenntnis zu dokumentieren. Die meisten Modelle sind hinsichtlich ihrer kausalen Gestaltungsmöglichkeiten so reichhaltig, dass große Forschungsprogramme mit vielen Forschern über Jahrzehnte mit seiner Ausforschung beschäftigt sein können. Jede einzelne Arbeit hat dann den Anspruch, innerhalb der Modellkonstellation eine kausale Manipulation auf neue Weise bestimmt zu haben. Das Modell ist auf einem allgemeinen Forschungskonsens aufgebaut oder eingebettet, und auch dieser Forschungskonsens ist in 127 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

bestimmten Dokumenten organisiert. Wir hatten gesagt, dass das, was Fleck als Handbuchwissenschaft bezeichnet hat, heute in verschiedenen Ausprägungen existiert: Review-Artikel, Sammelbände oder Übersichtsdarstellungen. Auch Lehrbücher können den Forschungskonsens einer Gemeinschaft darstellen, wobei es methodisch sinnvoll bleibt, die Handbuchwissenschaft von der Lehrbuchwissenschaft zu unterscheiden. Der Forschungskonsens, den wir mit Fleck als Denkstil, mit Kuhn als Paradigma oder mit Heidegger (2003, 71) als die Strenge bezeichnen können, etabliert sich in einem Aushandlungsprozess innerhalb der Gemeinschaft, und durch die Anerkennung des Konsens konstituiert sich gleichzeitig diese Gemeinschaft. Er ist selbst hierarchisch organisiert: Es gibt immer einen allgemeinen und sehr stabilen Forschungskonsens, auf dessen Basis sich speziellere und weniger stabile Paradigmen oder Denkstile ausbilden. Stabilität bedeutet hier Widerständigkeit der Forschergemeinschaft gegen Änderungen oder auch Gewissheit der Forscher, dass der jeweilige Konsens gerechtfertigt ist und nicht ohne weiteres in Frage gestellt werden darf. Ein Beispiel mag das illustrieren: Vor einiger Zeit erschien ein Paper, in dem die Erkenntnis präsentiert wird, dass die Vögel nicht, wie bisher angenommen, von den Dinosaurieren, sondern von den Archosauriern abstammen, und dass sich der Vogelflug nicht aus einer Laufbewegung, sondern aus einer Gleitbewegung entwickelt hat (Czerkas und Feduccia, 2014). Diese Erkenntnis würde, wenn sie in den nächsten Jahren von der Forschergemeinschaft mehr und mehr akzeptiert werden würde, durchaus einen Paradigmenwechsel darstellen, das wird in dem Paper auch durchaus deutlich. Allerdings ist dieses Paradigma ein relativ spezielles. Der allgemeine Konsens, dass die Vögel sich aus Landlebewesen entwickelt haben, ist damit nicht in Frage gestellt und schon gar nicht der ganz allgemeine Konsens über die Evolution der Arten. Mag es auch einen gewissen Widerstand von anderen Forschern gegen die neue Erkenntnis geben, ein Widerstand, der sich sowohl auf durchaus berechtigte Zweifel an diesen Erkenntnissen, aber auch auf alte Denkgewohnheiten und Sorge um den Status eigener Erkenntnisse stützen kann, so wird die Forschergemeinschaft

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Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

doch relativ leichten Herzens die neue Erkenntnis akzeptieren können, wenn weitere plausible Erkenntnisse sie stützen. Dazu trägt auch bei, dass weitere allgemeine Paradigmen, nämlich die über das akzeptable Zustandekommen der Erkenntnisse, durch das Paper nicht in Frage gestellt werden. Die Methoden der Modellbildung und der Modellbearbeitung sind weithin akzeptiert, die Forscher haben keine grundsätzlich neuen, nicht etablierten Konstellationen der Untersuchung von Zusammenhängen herbeigeführt. Betrachten wir Modelle als Konstellationen, in denen kausale Zusammenhänge symbolisch repräsentiert und untersucht werden können, dann finden wir in der Tat nicht nur in naturwissenschaftlichen Fachartikeln die beschriebene Modellstruktur. Auch die ökonomische und die soziologische Feldforschung untersuchen ihre Gegenstände, indem sie bestimmte, begrenzte Konstellationen herauspräpariert und die kausale Variabilität dieser Konstellation ausleuchtet. Das gleiche lässt sich für die historische und die kunstwissenschaftliche Forschung demonstrieren. Selbst die Philosophie, insbesondere in ihrer analytischen Ausprägung, widmet sich, zumeist in Gedankenexperimenten, bestimmten modellartigen Konstellationen, in denen sie kausale Zusammenhänge zu klären versucht. Aber das Wissenschaftliche ist noch nicht vollständig erfasst als Produktion von Modell-Dokumentationen, in denen das kausale Verhalten der Modellkonstellation symbolisch repräsentiert wird. Zum Produktionsprozess muss ein Organisationsprozess treten, der durch die Gemeinschaft der wissenschaftlichen Forscher bestimmt und getragen wird. Heidegger (2003, 77) spricht vom Betrieb. Im Betrieb wird die Strenge gesichert, und das heißt, der Betrieb entscheidet darüber, ob der Beitrag des einzelnen Forschungsartikels eine akzeptable Erkenntnis ist, die dem Denkstil der Gemeinschaft entspricht und es wert ist, in den Fundus der Erkenntnisse der Gemeinschaft aufgenommen zu werden, ob die Erkenntnis also wissenswert ist. Damit dieser Organisationsprozess möglich ist, ist der Einzelbeitrag selbst auf eine bestimmte, der Strenge der Gemeinschaft entsprechenden Weise organisiert. Er ordnet sich in den Denkstil 129 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

der Gemeinschaft ein, er bindet sich an den Forschungskonsens an, indem er auf Dokumente der Handbuchwissenschaft verweist, und er bindet sich durch Verweise an andere Dokumente der Zeitschriftenwissenschaft, die er zu ergänzen oder zu kritisieren beansprucht. Diese Anbindung verankert seine Erkenntnisse gleichermaßen auf dem Fundament des Forschungskonsenses der Gemeinschaft. Erst auf der Basis dieser Verankerung entfaltet er seine eigene Erkenntnis als symbolische Repräsentation einer kausalen Manipulation einer Modellkonstellation. Diese Entfaltung kann auf dreierlei Weise stattfinden. Es kann sich bei einem Beitrag, der in einem Paper veröffentlicht wird, zum einen um eine neue Manipulation eines bereits bestehenden Modells, seine Nutzung in einem neuen Repräsentationsraum, handeln. Zum zweiten kann ein Paper ein neues Modell, oft die Erweiterung oder Abwandlung eines bestehenden Modells vorstellen, welches ganz auf dem Fundament des bestehenden Forschungskonsenses erzeugt wird. Zum dritten kann das neue Modell, oder die Abwandlung eines bestehenden Modells, am bestehenden Konsens selbst eine Veränderung vornehmen, um neue symbolische Repräsentationen zu ermöglichen. Ziel einer jeden Forschungsarbeit, die in einem oder mehreren zusammenhängenden Forschungsartikeln auf diese Weise öffentlich dokumentiert wird, ist es, dass die darin formulierte Erkenntnis selbst Bestandteil des Forschungskonsens wird, dass sie selbst ein möglichst fester und wichtiger Ankerpunkt für die Anbindung zukünftiger Forschungsarbeiten wird. Der wissenschaftliche Produktions- und Organisationsprozess ist ein Sedimentierungsprozess, der aus locker und vorläufig miteinander verknüpften Erkenntnissen ein dichtes, lückenloses, eng verschmolzenes Gebilde erzeugt, welches »der Erkenntnisstand« der Wissenschaft ist. Jede einzelne Forschungsarbeit hat den Anspruch, eine Lücke in diesem Gebilde zu füllen, ein Stück hinzuzufügen oder es durch einen Umbau fester und geschlossener zu machen. Keine Forschungsarbeit will das ganze Objekt zerstören, vielmehr geht es immer um die Erhöhung der Stabilität, der Festigkeit gerade von neuen Teilen, die mit den alten verbunden werden. Das kann auch bedeuten, dass aus dem bestehenden Forschungskonsens Ele130 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

mente herausgelöst werden, die nicht für stabil genug gehalten werden, und durch neue ersetzt werden, die für weitere Erkenntnisse einen stabileren Anker bilden können. Der Organisationsprozess, der Verschmelzung neuer Erkenntnisse in das Gesamtgebilde gestaltet, ist die Kritik. Deshalb ist das Wissenschaftliche nicht nur zufällig ein gesellschaftlicher Prozess und auch nicht deshalb, weil jegliches menschliches Tun letztlich gesellschaftlich organisiert ist. Es ist nur als Organisationsprozess einer Gemeinschaft denkbar, weil durch den kritischen Organisationsprozess der Körper des Wissenschaftlichen Forschungskonsens entsteht, wächst und umgestaltet wird. Die Kritik kann sich dadurch äußern, dass die neue Erkenntnis schlicht ignoriert wird. Dann wird diese in das Gesamtgeflecht der Erkenntnisse nicht weiter eingebunden, sie verliert ihre Bindung und geht schließlich verloren. Die Kritik kann andererseits darin bestehen, dass weitere Zeitschriftenartikel auf die betreffende Erkenntnis in zustimmender oder ablehnender Art verweisen, dass sie dem Paper, in dem sie dokumentiert wird, die Anwendung des etablierten Denkstils zubilligen oder nachzuweisen versuchen, dass der Forschungskonsens in unzulässiger Weise verlassen wurde. Damit wird die Erkenntnis zumindest im Forschungsprozess in der weiteren Produktion von Erkenntnis präsent gehalten, sie kann verändert, neu formuliert oder revidiert werden. Schließlich kann die Kritik die neue Erkenntnis annehmen, indem sie sie selbst als Ankerpunkt für neue Erkenntnisformulierungen nutzt. Auf diese Weise wird eine Erkenntnis in den Denkstil selbst eingebunden, sie wird zum Teil der Handbuchwissenschaft, möglicherweise in modifizierter Form. Wir erkennen das Wissenschaftliche somit als einen Produktions- und Organisationsprozess von Dokumenten, durch den Einzelerkenntnisse zuerst zu einem Erkenntnisnetz verknüpft und im Weiteren zu einem festen Erkenntnisgeflecht verdichtet werden. Im organisierenden Knüpfen und Flechten dieses Geflechts organisiert sich nicht nur das Wissen der Forschergemeinschaft, auch die zulässigen Verfahren des Knüpfens und Flechtens selbst werden darin bestimmt. Das Produkt dieses Prozesses ist zweistufig: Es ist zuerst die neue Einzelerkenntnis, die mit ihrer 131 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

Formulierung im Zeitschriftenartikel auch den Vorschlag ihrer Anbindung an das bestehende Erkenntnisgeflecht enthält und sodann das stabile Geflecht der Einzelerkenntnisse. Dort, wo dieses Geflecht so dicht ist, dass es ein homogenes und nahezu unzerstörbares Gewebe bildet, sprechen wir vom gesicherten Wissensstand einer Wissenschaft. Das Wissenschaftliche ist ein Produktions- und Organisationsprozess, der mit seinem Produkt zugleich seine eigenen Normen der zulässigen Produktions- und Organisationsverfahren hervorbringt. Deshalb ist Wissenschaft notwendig ein gemeinschaftliches Unternehmen, denn die Verbindlichkeit der Normen wird durch die Akzeptanz des einzelnen Produktionsergebnisses durch die Anderen hergestellt, die sich dadurch zeigt, dass diese wiederum an das Ergebnis anknüpfen. Was für einen Begriff des Wissenschaftlichen haben wir auf diese Weise gefunden? Der Begriff bezeichnet etwas, was wir in den Ergebnissen eines Tuns vorfinden, in Produkten, die als wissenschaftliche bezeichnet werden und die wir betrachten können, ohne dass wir die Produzenten selbst zu Gesicht bekommen. Dies sind im Falle des Wissenschaftlichen Texte: Zeitschriftenartikel, Zeitschriften, Lehrbücher, Sammelbände, Überblicksdarstellungen, populäre Erklärungen in Sachbüchern oder Zeitungsartikeln. Durch das bloße Betrachten dieser Dokumente haben wir das Wissenschaftliche aber noch nicht verstanden. Erst wenn wir fragen, wie wir uns das Zustandekommen und das Neuauftauchen dieser Produkte erklären können, wenn wir aus den Produkten heraus ihrem Produktionsprozess auf die Spur kommen, gewinnen wir einen Begriff des Wissenschaftlichen. Wir haben gesehen, dass es nützlich ist, dabei das Tun der Wissenschaftler selbst zu beobachten, oder Beschreibungen solcher Beobachtungen zu Rate zu ziehen, um etwas Wiederkehrendes, durchgängig Sichtbares in den Einzeldarstellungen aufzufinden. Aber auch diese Berichte von der Arbeit der Wissenschaftler müssen uns nicht direkt auf die Spur des Wissenschaftlichen bringen, sie können, durch Konzentration auf gewisse Einzelheiten, diesen Weg sogar versperren. Es ist erstaunlich, dass der Begriff des Wissenschaftlichen, den wir gewonnen haben, weder den Begriff der Theorie, noch den des 132 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wissenschaftlichkeit: Sedimentierung des Erkenntniskonsens

Experiments enthält, Begriffe, die doch in wissenschaftstheoretischen und -philosophischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielten. Unser Begriff des Wissenschaftlichen erlaubt jedoch eine Beschreibung sowohl der Theoriendynamik als auch der Experimentalsysteme als wissenschaftliche Produktions- und Organisationsprozesse. Ist der Begriff des Wissenschaftlichen, den wir so gefunden haben, ein zeitloser Begriff, mit dem sich für jede Epoche der menschlichen Zivilisation, wenigstens für die westliche Zivilisation der letzten 2500 Jahre das Wissenschaftliche bestimmen ließe? Offensichtlich nicht: Das Wissenschaftliche, so wie wir es hier bestimmt haben, hat es noch zu Beginn der Neuzeit nicht gegeben. Wir müssen uns, wie schon in der Einleitung formuliert, auf die Zeit der letzten Jahrzehnte beschränken, auf die kulturelle Konstellation der Gegenwart.

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Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

Die Überschrift dieses Kapitels mag irritierend sein. Sollte nicht in den letzten Kapiteln gerade ein Begriff von Wissenschaftlichkeit entwickelt werden, der sich an dem orientiert, was in den Wissenschaften tatsächlich vor sich geht? Wurde nicht immer wieder auf die tatsächlich beobachtbaren Prozesse und Ergebnisse des wissenschaftlichen Arbeitens verwiesen? Stellt die Frage, ob die Wissenschaft selbst wissenschaftlich ist, denn nicht alles in Frage, was auf den vorhergehenden Seiten erarbeitet wurde? Im Folgenden werden wir tatsächlich einen selbstkritischen Blick zurück auf das werfen, was in diesem Buch bis hierher steht. Wir werden fragen, was tatsächlich die Basis für alle Überlegungen war, die uns am Ende des vorigen Kapitels zu einem konsistenten Begriff von Wissenschaftlichkeit geführt haben. Das wird uns zu der Erkenntnis führen, dass wir damit in der Tat noch nicht viel über das gesagt haben, was Wissenschaftlerinnen und Forscher womöglich wirklich tun. Die Konsequenzen dieses Ergebnis weisen weit über unser Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit hinaus, denn sie betreffen ebenso unser Verständnis etwa der politischen oder der ökonomischen oder allgemein der öffentlichen Sphäre der Gesellschaft. Quelle unserer Betrachtungen war zum einen die wissenschaftstheoretische und -philosophische Literatur über die Wissenschaft. Diese Literatur entwickelt selbst Modelle des wissenschaftlichen Vorgehens, die eine konsistente Beschreibung eines mehr oder weniger fiktiven, vorgestellten Prozesses des wissenschaftlichen Arbeitens sind. Dabei wird auf eine Reihe von paradigmatischen Beispielen zurückgegriffen, deren historische Genauigkeit zumeist nicht exakt geprüft wird. Vor allem die wissenschaftstheoretische Literatur verwendet oft vereinfachte Skizzen von wissenschaftlichen Übergängen (etwa die Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik), die vor allem zur 134 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

Illustration der eigenen plausiblen Vorstellungen dienen. Die Kritik an den wichtigen Standpunkten innerhalb der Wissenschaftstheorie besteht oft in der Spiegelung dieser Vorstellungen an anderen Beispielen aus dem wissenschaftlichen Arbeiten, so wie sie wiederum in der Literatur, oft in populären Beschreibungen, dargestellt sind. Wissenschaftsphilosophie, genauer, die so genannten Science Studies, beruht oft auf Einzelstudien, auf der genauen Beobachtung von einzelnen Forschungsprozessen. Natürlich wird auch in diesen Fällen nicht geprüft, ob die daraus abgeleiteten allgemeinen Beschreibungen sich auf viele andere, oder gar alle weiteren Forschungsprozesse anwenden lassen. Auch in der Wissenschaftsphilosophie dienen die Einzelstudien letztlich zur Illustration plausibler und konsistenter Vorstellungen der Autoren dazu, zu zeigen, was Wissenschaft ausmacht. Die Basis unserer Argumentation in den vorangegangenen Kapiteln sind also sehr indirekte und vermittelte Beschreibungen von Wissenschaft. Wir haben diese Beschreibungen gegeneinander geführt und mit weiterem, implizitem eigenen Wissen, mit eigenen Erfahrungen und Verallgemeinerungen zusammengeführt. Sollte diese Argumentation eine gewisse Überzeugungskraft entwickelt haben, dann liegt das an ihrer inneren Konsistenz und Folgerichtigkeit und an einer gewissen plausiblen Anbindung an andere Ergebnisse aus der Literatur sowie an anderes implizites oder mehr oder weniger explizites Vorwissen der Leser. Man mag nun entgegnen, dass die empirische Basis meiner Arbeit dann eben zu wünschen übrig ließe, dass ich meine Behauptungen über die Wissenschaften eben auf eine solidiere Basis stellen müsse. Vielleicht werden manche Leser ob dieser selbstkritisch erscheinenden Worte ihre Einschätzung der bisherigen Argumentationsweisen bestätigt sehen und sich fragen, warum der Autor, wenn ihm selbst doch bewusst zu sein scheint, dass er seine Behauptungen nur auf eine dünne und fragwürdige Basis stützt, überhaupt ein solches Buch geschrieben hat. Allerdings ist Philosophie kein empirisch arbeitendes Unternehmen. Im nächsten Kapitel werden wir uns mit dem Status der Philosophie hinsichtlich einer möglichen Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens genauer befassen. Hier genügt es, deutlich zu 135 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

sagen, dass das Ziel dieses Buchs bis zu diesem Punkt nicht war, zu beschreiben, wie Wissenschaft ist, sondern was heute plausibel als wissenschaftlich gelten kann, welchen Begriff von Wissenschaft wir plausibel explizieren können. Ich habe hier einen solchen Begriff vorgeschlagen und hoffe, dass die Leser am Ende des vorigen Kapitels in etwa zu der Einsicht gekommen sind: »Ja, dieser Begriff der Wissenschaftlichkeit beschreibt in etwa auch das, was mir mit meinen Erfahrungen und mit meinen eigenen Überlegungen plausibel als wissenschaftlich gelten kann«. Dies gesetzt bleibt jedoch die Frage zu beantworten, ob das, was als Wissenschaft auftritt, was im Alltag den Namen Wissenschaft trägt, auch beanspruchen kann und beanspruchen will, diesen Begriff von Wissenschaftlichkeit für das eigene Arbeiten zu verwenden. Es wäre vorstellbar, dass ein Wissenschaftler den hier vorgeschlagenen Begriff von Wissenschaftlichkeit akzeptiert und dennoch bei einer Betrachtung seines eigenen Arbeitens in der Wissenschaft zu dem Ergebnis kommt, dass der Begriff nicht das beschreibt, was er selbst jeden Tag tut. Wie ist das möglich? Wir müssen uns zunächst eingestehen, dass unsere Vorstellungen darüber, wie ein bestimmter Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit funktioniert, stark durch »Erfahrungen zweiter Hand« geprägt sind. Das gilt für die Wissenschaften genauso wie für die Politik, die Wirtschaft oder die Kunst. Wir lesen Reportagen und Bücher, schauen Filme, lassen uns erzählen, was andere gesehen oder gehört haben. Daraus gewinnen wir ein konsistentes Bild davon, wie die Welt funktioniert. Diese Erfahrungen zweiter Hand sind allerdings nicht losgelöst von den Erfahrungen, die wir unmittelbar machen. Wir werden die Erzählungen über das, was wir selbst nicht erfahren haben, nur akzeptieren, wenn sie mit den eigenen Erfahrungen einigermaßen zusammenpassen. Allerdings müssen wir beim genauen Hinsehen eingestehen, dass wir die eigenen Erfahrungen oft nur durch die Brille unserer Erwartungen beurteilen, die wir durch die Erfahrungen zweiter Hand zuvor schon gewonnen haben. Hinsichtlich eines bestimmten abgegrenzten Teils der Gesellschaft wie dem Bereich der Wissenschaften gilt dies nicht nur für die Laien, sondern auch für die Beteiligten, in diesem Fall also die 136 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wie Wissenschaftlichkeit gelehrt wird

Wissenschaftler selbst. Der Gedanke lässt sich für diese Beteiligten (es könnten auch Politiker im Bereich der Politik, Unternehmer im Bereich der Wirtschaft oder andere sein) sogar noch besser erläutern als für den Fall der außenstehenden Laien.

6.1 Wie Wissenschaftlichkeit gelehrt wird Mit der Ausbildung zum Wissenschaftler lernen die Studierenden auch die großen Erzählungen ihrer Disziplin kennen, Physikerinnen etwa erfahren quasi nebenbei auch die Geschichte der Entwicklung der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie. Diese Erzählungen werden nicht als historische Studien gelehrt, sondern eher als Geschichten, als idealisierte, zu Vorbildern geeignete Schilderungen bedeutender Gedanken, Versuche und Abläufe. So lernen die Anfänger anhand idealisierter paradigmatischer Erzählungen, wie ihre Disziplin in den Augen derer, die darin bereits geübt sind, funktioniert. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, ob es genau so gewesen ist, sondern eher darauf, dass sich die Entwicklung der Ergebnisse der Forschung in ihrer historischen Abfolge so plausibel und folgerichtig beschreiben lässt. Auf der anderen Seite lernen die Studierenden die Verfahren ihrer Disziplin kennen. Zunächst lernen sie den Umgang mit den theoretischen Gerüsten und die Vorgehensweise bei der Erhebung neuer empirischer Befunde. Diese Fähigkeiten erwerben sie wiederum an standardisierten, überschaubaren und einleuchtenden Beispielen, die sie beherrschen und verstehen können, an denen sie aber vor allem auch eine plausible Vorstellung davon gewinnen, wie die Produktion von Erkenntnissen in ihrer Disziplin im Wesentlichen vonstatten geht. Sodann lernen sie, wie sie ihre Ergebnisse dokumentieren sollen und welche Formen der Ergebnispräsentation es geben soll: Wie eine Forschungsarbeit, ein Protokoll, ein Bericht und schließlich ein Zeitschriftenaufsatz zu strukturieren ist. Mit dieser Ausbildung eignen sich die Studierenden praktisch das an, was wir in den letzten Kapiteln als Wissenschaftlichkeit 137 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

herausgearbeitet haben. Es ist dazu nicht notwendig und ist auch gar nicht Ziel der Ausbildung, dass sie die Struktur der Wissenschaftlichkeit, die wir gefunden haben, explizit verstehen und etwa erläutern können. Ziel ist, dass sie sich auf diese Wissenschaftlichkeit verstehen, dass sie die Verfahren der wissenschaftlichen Forschung praktisch anwenden können und dass sie sich damit als Teil einer Gemeinschaft verstehen lernen, die sich aus der gemeinsamen Anwendung dieser Verfahren heraus konstituiert. Heißt das aber zwingend, dass diese Verfahren in dem gesellschaftlichen System, das wir als Wissenschaft bezeichnen, tatsächlich so angewendet werden, dass die Wissenschaft tatsächlich wissenschaftlich arbeitet? Schon die Frage mag paradox klingen. Wenn die Studierenden einer Wissenschaft bestimmte Verfahren von den Praktikern dieser Disziplin lernen, die diese sicherlich auch ehrlichen Herzens eben als die Verfahren der Wissenschaft lehren, wie kann man dann auch die Idee kommen, dass diese Verfahren in der Wirklichkeit gar nicht bestimmend sind? Wenn zudem die derzeitigen Ergebnisse der Wissenschaften, die bestehenden Theoriesysteme und die berühmten experimentellen Belege doch im Rahmen einer Erzählung von der Geschichte der Disziplin wunderbar als Resultat der Anwendung eben dieser Verfahren beschrieben werden können, wie sollte diese Erzählung dann nicht der Wirklichkeit entsprechen können? Schließlich, gibt es nicht unzählige Zeitschriftenaufsätze in den wissenschaftlichen Journalen, die Tag für Tag von der Wirksamkeit eben dieser Prinzipien zeugen? Das ist alles richtig. Wir müssen uns aber eingestehen, dass wir nur eine Oberfläche des Wissenschaftsbetriebs sehen, der sich auf den ersten Blick so deuten lässt, als wenn darunter die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit, die wir im vorigen Kapitel zusammengetragen haben, wirksam sind. Im Studium lernen die Anfänger der Wissenschaften, wie ihre Disziplin arbeiten sollte, sie üben diese Praxis an einfachen, längst bekannten und gut funktionierenden Beispielen ein. Sie gewinnen »Erkenntnisse«, die innerhalb ihrer Wissenschaft längst bekannt und gut studiert sind. Sie arbeiten mit Modellen, von denen ihre 138 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Wie Wissenschaftlichkeit gelehrt wird

Lehrerinnen sicher wissen, dass sie funktionieren und dass bei ihrer Manipulation keine Überraschungen auftreten. So entsteht der Eindruck eines gut funktionierenden Betriebs der Forschung, in dem Stück für Stück neue Tatsachen aus den Manipulationen und Weiterentwicklungen der Modelle gewonnen werden können. Immer neue Bezirke der Wirklichkeit werden auf diese Weise erobert, empirisch erschlossen und theoretisch gesichert. Die Ergebnisse werden in gut durchdachten Zeitschriftenaufsätzen publiziert, von anderen Wissenschaftlern systematisch geprüft und finden damit Eingang in das Fundament der weiteren Forschung. Sprechen wir mit Menschen, die im wissenschaftlichen Betrieb tätig sind oder waren, die die Ausbildung zur Wissenschaftlerin absolviert haben und sodann einige Zeit in der Forschung tätig waren, können wir vielleicht ein anderes Bild gewinnen. Zum einen erfahren wir von einer Vielzahl von Forschungsanstrengungen, die nie in Zeitschriftenartikeln als Baustein zur Sedimentierung des Erkenntnisfortschritts beigetragen haben. Sie haben nicht die Qualität oder die Reife für einen Zeitschriftenartikel erreicht, oder sie sind so oft abgelehnt worden, dass die Autoren den Mut oder die Geduld verloren haben. Vielleicht verliefen die Forschungen auch ergebnislos im Sande. Auf der anderen Seite gibt es viele Zeitschriftenartikel, die niemals oder nur selten in anderen Artikeln erwähnt werden, und oft kommt es vor, dass diese Erwähnungen rein formal sind und nicht zu einer Vernetzung von Forschungsergebnissen beitragen. Hoffmann (2013) hat diese Situationen an Beispielen ausführlich untersucht und ihre Konsequenzen für unser Bild von den Wissenschaften diskutiert. Wir könnten weitere Erfahrungen aus dem Alltag des wissenschaftlichen Arbeitens heranziehen, die Zweifel an der Methodik des Forschungsprozesses wecken könnten, wie wir ihn hier als Wissenschaftlichkeit beschrieben haben. Wie erwähnt, ist aber die Philosophie keine empirische Wissenschaft. Unser Zweifel ist zwar durch anekdotisches Wissen begründet, ist aber eher methodischer Natur. Wir wollen fragen: Ist es vorstellbar, dass das Bild der Wissenschaftlichkeit, das wir in den vorangegangenen Kapiteln erarbeitet haben, einer empirischen Prüfung nicht standhalten würde, dass es aber trotzdem als Vorstellung von der Arbeit 139 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

der Wissenschaften in der modernen Gesellschaft funktioniert und wirkmächtig ist?

6.2 Ein alternatives Bild des wissenschaftlichen Betriebs Entwerfen wir einmal ein anderes Bild vom Arbeiten der Wissenschaften. Stellen wir uns vor, dass das Forschen in den Instituten der Universitäten und Forschungsanstalten eher einem zähen und mühsamen Ringen um Resultate gleicht, voller Fehlschläge, nicht reproduzierbarer Ergebnisse. Experimentelle Forschungsansätze verlaufen im Sande, da keine stabilen Effekte gefunden werden können. Theoretische Ideen erweisen sich als nicht umsetzbar. Empirische Untersuchungen liefern keine Daten, die signifikante Aussagen zulassen. Zugleich haben die Wissenschaftler, die in diesem Bild am Werke sind, natürlich dennoch das Ziel, in begrenzter Zeit Resultate vorweisen und ihren Kollegen, der Fachwelt und der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Dieses Ziel wird zur Notwendigkeit, wenn Masterarbeiten und Dissertationen abgeschlossen werden müssen, beantragte Forschungsprojekte auslaufen und als Grundlage für neue Projekte dienen sollen oder wenn die nächsten Schritte in der akademischen Laufbahn geplant werden. Unter diesen Umständen wächst der Druck, die unklaren und unsicheren Resultate dennoch als Zeitschriftenaufsatz oder in einem Konferenzbeitrag zu publizieren, das eigene Forschungsvorgehen durch umfangreiche Verweise auf ähnliche Ansätze der Kollegen zu stützen, die empirischen oder experimentellen Befunde als »Hinweise auf« und »Anzeichen von« statistisch zu untermauern und zugleich unter der Überschrift »Offene Fragen und weitere Forschung« die Unsicherheiten in Ansätze für zukünftige Arbeiten umzumünzen. Man könnte einwenden, dass diese schwachen Resultate von den prüfenden Kollegen abgelehnt und gar nicht zur Veröffentlichung in den renommierten Fachzeitschriften gelangen können. Selbst wenn das richtig wäre, würde es nichts an der Arbeitsweise ändern – die Zahl der Veröffentlichungen würde sich zwar in 140 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ein alternatives Bild des wissenschaftlichen Betriebs

Grenzen halten, aber die Menge an »unvollendeter Forschung«, die zu keinen nachhaltig relevanten Ergebnissen geführt hat, bliebe hoch. Auf der anderen Seite ist ja in diesem Bild des wissenschaftlichen Betriebs ein großer Teil der involvierten Wissenschaftlerinnen von der Ergebnislosigkeit ihres Tuns betroffen. Jede und jeder von ihnen möchte, dass die eigenen Ergebnisse, so schwach sie sein mögen, publiziert und wiederum zitiert werden. Alle in diesem Betrieb wissen, dass die Ergebnisse von Forschungen oft ernüchternd sind, dass kaum einmal große Schritte gemacht werden, dass wesentliche neue Erkenntnisse sehr selten sind. Auch, dass weitere Forschungen das wieder in Frage stellen, was zuvor bereits als sicheres Resultat präsentiert worden ist, ist eine allgemeine und oft gemachte Erfahrung. Somit werden die, die Ergebnisse von anderen prüfen, auch nachsichtig sein und zugleich auf Nachsicht bei den anderen hoffen. In einem solchen Forschungsbetrieb kommt es dann nicht so sehr auf den Neuigkeitswert und den Erkenntnisgewinn eines Forschungsergebnisses an, sondern darauf, dass die Regeln des Betriebs eingehalten werden. Es könnte sogar passieren, dass wirklich neue, überraschende Ergebnisse eher auf Misstrauen treffen, da allein die Tatsache, dass solche Resultate möglich sind, der eigenen Erfahrung widerspricht. Hinzu kommt, dass Resultate von anderen nicht so einfach zu überprüfen sind, wie man meint, wenn man das Konzept der wechselseitigen Qualitätssicherung und Ergebniskontrolle im Betrieb der Wissenschaften für bare Münze nimmt. Experimentelle Forschung in den Naturwissenschaften hat heute so spezielle und aufwendige Voraussetzungen, dass es kaum möglich ist, eine experimentelle Situation einer Kollegin, genauer, eines anderen Forschungsteams, genau nachzustellen, um die Ergebnisse tatsächlich zu überprüfen. Bei empirischen Forschungen in den Sozialwissenschaften ist dies noch schwieriger, da diese sich auf konkrete Stichproben und die Auswahl eines sehr speziellen empirischen Materials stützen, die in der gleichen Form ohnehin nicht mehrfach erhoben werden können. Deshalb muss sich eine Prüfung auf das Vorgehen bei der Erhebung und der Auswertung konzentrie141 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

ren, das Material, auf dem die Forschung basiert, sowie die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, können kaum beurteilt werden. Wir können zudem annehmen, dass auch die Möglichkeiten der Auswertung und der Ergebnis-Extraktion aus dem empirischen Material so unterschiedlich sind, dass eine wirklich gründliche Prüfung der Ergebnisse anderer Forscher kaum durchführbar ist. So gibt es heute etwa eine Vielzahl alternativer statistischer Verfahren, mit denen empirisches Material ausgewertet werden kann, und jede Forschungsgemeinschaft, jedes Team und jeder Lehrstuhl hat sein eigenes Set von Methoden ausgewählt und beherrscht dieses effektiv. Jede Methode hat Vor- und Nachteile und ist immer nur in einem begrenzten Umfang aussagekräftig. Vor allem aber müssen wir in Betracht ziehen, dass die Forschenden nur in einem sehr begrenzten Umfang Zeit für die Prüfung der Resultate anderer Wissenschaftlerinnen haben, denn vor allem sind sie ja daran interessiert, ihre eigenen Forschungsprojekte voranzutreiben und zu Ergebnissen zu bringen. Schon deshalb ist es kaum möglich, mit der Prüfung und Beurteilung der Ergebnisse der Kollegen viel Zeit zu verbringen. Hinzu kommt, dass das Interesse eines Forschers gar nicht darin bestehen muss, Erkenntnisse zu produzieren. Wir stellen uns eine Wissenschaftlerin oft als Person vor, die mit großem Einsatz und Idealismus unermüdlich daran arbeitet, etwas bestimmtes herauszufinden, einen wichtigen Baustein zum Erkenntnisfortschritt beizutragen. Diese Vorstellung ist geformt durch viele kleine und großere Erzählungen von Wissenschaftlern und von ihrem Tun. Wir finden Teile dieser Erzählung in Kinderbüchern, historischen Spielfilmen, Dokumentationen, öffentlichen Berichten von Wissenschaftlern und letztlich auch in den Geschichtsbüchern der Wissenschaften selbst. Sie sind nicht falsch, aber es fällt auf, dass sie sich auf eine überschaubare Anzahl von Gestalten und Ereignissen beschränken, über die immer wieder und oft idealisierend und vereinfachend erzählt wird. Im Alltag des Forschungsbetriebs etwa an Universitäten trifft man auf andere Motivationen. Studierende wollen und müssen 142 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ein alternatives Bild des wissenschaftlichen Betriebs

eine Masterarbeit schreiben und sollen darin einen Beitrag zur Forschung leisten. Promovierende und Habilitierende sind daran interessiert, Paper zu veröffentlichen, um ihr jeweiliges Vorhaben zum Abschluss zu bringen. Für Forschungsteams steht eine bestimmte Ausstattung zur Verfügung und ist an eine gewisse Forschungsmethoden gewöhnt, mit der sich auf einem gewissen Forschungsfeld Ergebnisse produzieren lassen. Wir könnten weitere Motivationen aufführen, die zur Beteiligung von Forscherinnen an einem bestimmten Forschungsvorhaben, aber auch zur Ausrichtung und Gestaltung dieses Vorhabens führen. Persönliche Gründe können dazu gehören, die Ausstattung eines Instituts, die mehr oder weniger zufällige Nähe von möglichen Partnern. Wir haben dieses jeweilige Set von Möglichkeiten und etablierten Verfahren, dass sich in Instituten, an Lehrstühlen oder in Großlabors ausprägt, unter dem Begriff Experimentalsystem diskutiert und gesehen, dass sich solche Settings auch im Bereich der theoretischen Forschung etablieren. All dies eröffnet ein Feld möglicher Fragen, die überhaupt bearbeitet werden können. Ein vorgelagertes Interesse, einen bestimmten Beitrag zur Forschung zu leisten, eine Frage zu beantworten, die einen umtreibt und von der man meint, dass sie gelöst werden muss, ist dazu nicht notwendig. Man kann zugespitzt für einen so vorgestellten Forschungsbetrieb sagen, dass es viele interessante Fragen gibt, von denen man sich aus unterschiedlichen Motiven heraus einigen zuwenden kann, aber es gibt darunter nur wenige brennende und wichtige Fragen, die zwingend beantwortet werden müssen, damit die Menschheit in ihrem Erkenntnisdrang vorankommt. Ziel dieses Forschungsbetriebes wäre dann gar nicht in erster Linie, das Wissen der Menschheit zu mehren. Vielmehr ginge es in erster Linie darum, bei jungen Menschen Kompetenzen auszubilden, die sie nach ihrer Zeit in der Forschung in anderen Bereichen der Gesellschaft etwa in der Wirtschaft als Ingenieure, als Führungskräfte oder als Manager, im Politik- oder auch im Kunstbetrieb zum Einsatz bringen können. Es führt über das Vorhaben dieses Buchs hinaus, über die Frage nachzudenken, warum die so erworbenen Kompetenzen tatsächlich in solch anderen Bereichen 143 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

nutzbar gemacht werden können und wie es wiederum die Gesellschaft prägt, dass Menschen mit wissenschaftlichen Forschungskompetenzen viele wichtige Positionen besetzen. Für unsere Überlegung hier ist nur wichtig, dass sich das Forschungsunternehmen Wissenschaft auch auffassen lässt als eine Einrichtung, die vor allem bestimmte Qualifikationen beim Nachwuchs aller gesellschaftlichen Subsysteme ausprägen soll und die womöglich nur nebenbei das staunenswerte Wissen hervorbringt, das als Resultat des wissenschaftlichen Forschens gefeiert wird. Fragt man die Forscher, die anekdotisch von solchen Erfahrungen berichten, ob diese eigenen Erfahrungen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin hervorbringen, so wird man selten von solchen Zweifeln hören. Das gilt auch, wenn das Konzept von Wissenschaftlichkeit, das in den vorangegangenen Kapiteln entwickelt wurde, im Wesentlichen als plausibel anerkannt und akzeptiert wird. Die eigenen Erfahrungen werden dann zwar als ernüchternd und unerfreulich beschrieben, sie werden auch nicht als Ausnahmen gedeutet, sondern durchaus als gewisse Normalität des Forschungsbetriebs angesehen. Dennoch wird die Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, die im Hervorbringen von neuen Erkenntnissen durch systematische theoretische, experimentelle und empirische Modellkonstruktion und -manipulation und im Einspeisen dieser Erkenntnisse in den Sedimentierungsprozess des wissenschaftlichen Wissens besteht, als gültig und im Wesentlichen zutreffend angesehen. Wie ist das möglich? In einem so vorgestellten Forschungsbetrieb werden Unmengen von »Ergebnissen« produziert, die keinen Eingang in den Sedimentierungsprozess der Erkenntnis finden, die, wenn man in der Metapher bleiben möchte, vor der Sedimentierung weggespült oder fortgeweht werden oder die einfach verwittern und verschwinden. Das bedeutet aber auch, dass sich da dennoch Erkenntnisse sedimentieren und zum Fundament weiterer Forschung werden – sowohl der Forschung, die selbst nichts zum weiteren Erkenntnisfortschritt beiträgt, als auch jener, die wiederum sich sedimentierend zum Fundament weiterer Forschung fügt. Sichtbar bleibt letztendlich das, was solche Beiträge leistet, und die Geschichte seiner Entstehung wird, soweit sie eben noch 144 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Fazit: Schafft Wissenschaft Erkenntnisse oder Wissen?

sichtbar ist, erzählt. Die Irrwege, die im Nichts endeten, sind vom Standpunkt der späteren Geschichtsschreibung her nicht mehr erkennbar, jedenfalls dann nicht, wenn man die Existenz dessen, was heute als Forschungsergebnis anerkannt ist, erklären will. Zu diesem Forschungsergebnis führen folgerichtig Schritte, die tatsächlich gegangen worden sind, und die sich heute als erfolgreich herausstellen, da sie faktisch einen Beitrag zu eben diesem Resultat geleistet haben. Aus der Perspektive der Erkenntnis, die gelehrt wird, zeigt sich der ganze Prozess des Erkennens als mehr oder weniger geradlinig genau auf dieses Resultat zusteuernd. Hier und da sind natürlich auch noch einige Irrwege sichtbar, die recht nah an dem Pfad sind, der letztlich als der des Erfolges erkennbar wird. Die Geschichten dieser Erfolge sind natürlich die paradigmatischen Ereignis-Beschreibungen der jeweiligen Disziplin, an ihnen orientiert sich das Selbstverständnis der Forscher, sie wirken sich zugleich motivierend und normierend auf das Tun eines jeden Beteiligten aus. Und letztlich können auch viele, wenn sie ihren eigenen Weg zurückverfolgen, auf einige solcher mehr oder weniger bedeutende Resultate zurückblicken. Auch in der Retrospektive der eigenen Forschungsanstrengungen zeigen sich Ergebnisse, die nicht schon vom Sturm des Desinteresses der Kollegen weggeweht sind, und der Weg zu diesen Erkenntnissen erweist sich, bereinigt um die nun nicht mehr erkennbaren Sackgassen, als eigene Erfolgsgeschichte.

6.3 Fazit: Schafft Wissenschaft Erkenntnisse oder Wissen? Für die Ausgangsfrage dieses Kapitels lässt sich das Fazit ziehen, dass Wissenschaft auch dann als wissenschaftlich im Sinne des Begriffes von Wissenschaftlichkeit bezeichnet werden kann, der in den ersten fünf Kapiteln dieses Buchs entwickelt wurde, wenn wir das Bild zugrunde legen, das in diesem Kapitel aufgrund von eher anekdotischem Wissen entwickelt wurde. Zunächst haben wir nichts gefunden, was der Wissenschaftlichkeit im Sinne der systematischen Konstruktion und Manipulation von theoreti145 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Ist die Wissenschaft wissenschaftlich?

schen oder empirisch-experimentellen Modellen widerspräche. Zum anderen ist auch der Prozess der Sedimentierung des Erkenntniskonsens durch die Überlegungen dieses Kapitels nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Allenfalls muss die Vorstellung, die diese Metapher vielleicht provoziert, weiter gespannt werden als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sedimentierung bedeutet nicht, dass jedes Resultat als Baustein seinen Platz im Fundament der weiteren Forschung findet. Es kann sein, dass vieles, um das Bild weiter zu strapazieren, verweht und davongespült wird, dass es verwittert und verschwindet. Es mag sein, dass aus einer bestimmten nahen Perspektive sogar dieses flüchtige Element als das wesentliche, das bestimmende erscheint. Aber aus der Perspektive des Rückblicks von einem gesicherten Forschungsstand aus wird ein folgerichtiger Prozess sichtbar, in dem sich verschiedene Bausteine von Modellmanipulationen zu einem Fundament fügen, auf dem eine neue Erkenntnis in Form eines neuen Modells gründet, dessen systematische Variation und Manipulation wieder zu neuer Erkenntnis führt. Anders liegen die Dinge jedoch, wenn wir auf die Leitfrage dieses Buchs zurückkommen: Ist Wissenschaft etwas, das Wissen schafft? In den vorangegangenen Kapiteln ging es, wenn das Ziel und das Ergebnis des Arbeitens der Wissenschaften näher bestimmt wurde, immer um Erkenntnisse. Erinnern wir uns: Ganz am Anfang unseres Weges durch die Methoden und Arbeitsweisen der Wissenschaften hatten wir bemerkt, dass es einen Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis geben kann. Wissen ist Einsicht, ist das, was uns klar wird, wovon wir einsehen, dass die Dinge genau so liegen, wie wir sie nun sehen. Eine Erkenntnis, die wissenschaftlich produziert wird, muss nicht unbedingt eine Einsicht in diesem Sinne sein. Sie ist ein Modell, das funktioniert – das variiert und manipuliert werden kann und das anderen Wissenschaftlern als Modell erläutert, das dem Nachwuchs gelehrt und das angewendet werden kann. Es ist nützlich für die Produktion und Manipulation anderer Modelle – und vor allem als Instrument im technischen Handeln und Strukturieren der Welt. Das bedeutet nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse kein Wissen sind, oder gar, dass sie keine Einsichten bringen können. 146 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Fazit: Schafft Wissenschaft Erkenntnisse oder Wissen?

Der Geistesblitz des Wissenschaftlers, der nach langem Grübeln plötzlich klar vor Augen hat, wie ein Prozess in der Wirklichkeit abläuft, ist in unserem Verständnis eine Einsicht, zugleich ist sie, wenn sie als Modell ausgearbeitet vorliegt, eine Erkenntnis, die mit anderen Wissenschaftlern diskutiert werden kann und in den Erkenntniskonsens der Disziplin eingeordnet wird. Wir können also sagen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zwingend Einsichten, also Wissen in einem ursprünglichen Sinn, sein müssen. Um als wissenschaftliche Erkenntnisse im Prozess der Modellbildung und Manipulation zu funktionieren, müssen sie nicht Wissen sein, sie müssen keinen Einblick geben in die Wirklichkeit, wie sie ist. Ob Wissen als Einsicht wiederum zugleich immer auch Erkenntnis ist, die im Prozess der wissenschaftlichen Konsensbildung sedimentiert werden kann, ist nicht gewiss: Einsicht ist etwas, das ein Subjekt hat, das etwas einsieht. Damit diese Einsicht als Erkenntnis genutzt werden kann, muss sie zu einem Modell transformiert werden. Dieses Modell muss nicht einsichtig sein, um zu funktionieren. Der Wissenschaftler, der eine Einsicht hat, macht aus dieser also, wenn er sie in den Prozess der Wissenschaften einbringt, etwas anderes: eine Erkenntnis, die er mit anderen teilen kann. Allerdings hat die Untersuchung der Dynamik der wissenschaftlichen Textproduktion auch gezeigt, dass diese nicht nur Fachliteratur, Paper, Handbücher und Lehrbücher für die Ausbildung des Nachwuchses erzeugt, sondern auch die Sachbücher, Rundfunkbeiträge und Fernsehdokumentationen der populären Wissenschaft. Diese dient nicht nur der Unterhaltung des Publikums oder der Rechtfertigung der Existenz wissenschaftlicher Großlabore, sondern wirkt notwendig auf den Wissenschaftsbetrieb zurück: Sie sichert den Optimismus der Wissenschaften, dass die Erkenntnisse, die sich zu einem Erkenntniskonsens zusammenfügen, am Ende eben doch zu Einsichten werden, zu verständlichen, klaren Einblicken in die Wirklichkeit. In der populären Wissenschaft wird aus der wissenschaftlichen Erkenntnis ein Wissen, das den Namen Einsicht im Sinne des Aristoteles, von dem wir ausgegangen waren, verdient.

147 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

Die Frage, ob die Philosophie eine Wissenschaft sei, ist vergleichsweise jung. Noch vor einhundert Jahren, als doch schon eine Absetzbewegung der übrigen Wissenschaften von der Philosophie sichtbar war (sie ist genau genommen spätestens seit der Auseinandersetzung Hegels mit der Wissenschaft seiner Zeit sichtbar), stand es für Philosophen außer Frage, dass die Philosophie eine Wissenschaft ist, womöglich sogar die erste unter den Wissenschaften, in jedem Falle aber eine Disziplin, die den anderen in ihrem Anspruch an Wissenschaftlichkeit nicht nachsteht. Erst in den letzten Jahren wird der Begriff der Wissenschaftlichkeit selbst von Philosophen für ihre eigenen Denkbemühungen vorsichtig infrage gestellt. Im Rahmen dieses Buchs, in dem ein Begriff der Wissenschaftlichkeit philosophisch erarbeitet werden sollte, liegt es nahe, am Ende darüber nachzudenken, ob die Philosophie diesem Begriff der Wissenschaftlichkeit selbst genügen kann und genügen sollte. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Philosophie soll zuvor jedoch noch etwas genauer gestellt werden. Im Rahmen dieser Untersuchung haben wir die Frage nach dem Wissenschaftlichen selbst gestellt. Im Anschluss daran die Frage zu stellen, ob eine bestimmte Disziplin wissenschaftlich genannt werden kann, kann zwei Gründe haben: Zum einen kann der Begriff des Wissenschaftlichen, der gewonnen wurde, durch diese Frage selbst geprüft werden. Würde etwa eine Naturwissenschaft wie die Physik nach dem gefundenen Begriff nicht als wissenschaftlich angesehen werden können, dann wäre der Begriff wohl selbst fragwürdig. Ein Begriff von Wissenschaftlichkeit sollte so beschaffen sein, dass die meisten Wissenschaften – wenigstens in der Weise, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurden – als wissenschaftlich angesehen werden können. Zum anderen kann die Frage nach der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin gestellt werden, 148 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

um zu prüfen, ob diese Disziplin tatsächlich in den Kreis der Wissenschaften gehört oder ob sie daraus ausgeschlossen werden muss. So gestellt hat die Frage eine politische Dimension, und je nach dem, ob die Vertreter der betreffenden Disziplin es wünschen, zur Wissenschaft dazuzuzählen oder nicht, wird die Beantwortung der Frage zu einer politischen Entscheidung. Das gilt sowohl, wenn der Ausschluss auch von den Vertretern der Disziplin ausdrücklich gewollt ist, als auch, wenn sie ihn verhindern wollen, von anderen aber herbeigeführt wird. Für jede Disziplin ist die Frage, ob sie in den Kreis der Wissenschaften gehört oder nicht, mit Konsequenzen für ihre Praxis verbunden. Die Zugehörigkeit zu den Wissenschaften garantiert nämlich eine gewisse Kontinuität im Übergang von einer Disziplin zur anderen. Die Zugehörigkeit von Modellen, die in der wissenschaftlichen Praxis erzeugt und manipuliert werden, zu bestimmten Disziplinen ist genau besehen willkürlich und so ist auch die Grenzziehung zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen willkürlich. Wenn aber eine Disziplin nicht zu den Wissenschaften gehört, dann wird auch diese Kontinuität gebrochen. In einer Situation, in der Forschung zunehmend mit dem Attribut der Inter-Disziplinarität versehen wird, kommt dieser Kontinuität der Disziplinen eine besondere Bedeutung zu. Einer Disziplin, die diesen kontinuierlichen Anschluss an die übrigen Fachrichtungen nicht gewährleisten kann oder will, kann letztlich nicht interdisziplinär arbeiten. Interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeiten bedeutet, dass die beteiligten Fachrichtungen einen Konsens darüber haben, dass ihre verschiedenen Modelle in irgendeiner Weise das gleiche Objekt modellieren. Während ein einzelwissenschaftliches Modell, wie wir gesehen hatten, keineswegs einen Bezug zu einem Objekt außerhalb seiner selbst haben muss, ist dies für interdisziplinäres Arbeiten notwendig. Im interdisziplinären Arbeiten besteht die Hoffnung, dass die Modellbildungen und -manipulationen der je anderen Disziplinen für die eigene Modellbildung fruchtbar gemacht werden können, dass sich die verschiedenen Modelle ergänzen oder dass Modell-Konzepte der einen Disziplin in die andere übernommen werden könnten. Dazu sind kontinuierliche 149 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

Übergänge und Kompatibilitäten zwischen den Disziplinen notwendig. Der kleinste Konsens, der bestehen muss, ist, dass alle Disziplinen davon überzeugt sind, dass ihre Modelle einen Gegenstand da draußen in der Wirklichkeit betreffen, und dass sie diesen Gegenstand mit den anderen teilen. Wenn wir die Philosophie dementsprechend zu den Wissenschaften zählen wollen, wenn wir sie als fähig ansehen wollen, in der interdisziplinären Forschung als Schwester unter Geschwistern der Wissenschaften mitzuwirken, dann müssen wir also zunächst fragen: Bildet die Philosophie ebenso wie die anderen Wissenschaften Modelle, die sie systematisch variiert, transformiert und manipuliert? Weiter: Betreffen diese philosophischen Modelle ebenfalls Gegenstände der Wirklichkeit da draußen? Schließlich: Besteht philosophische Forschung ebenso wie die übrige wissenschaftliche Forschung in der Sedimentierung eines Erkenntnis-Konsens? Um diese Fragen überhaupt richtig stellen zu können, müssen wir uns natürlich zuerst fragen, was denn diese philosophischen Modelle modellieren sollen. Wir hatten zwar festgestellt, dass wissenschaftliche Modelle keineswegs unbedingt Modelle von etwas sein müssen, sie müssen nichts außer sich selbst repräsentieren, um als Modelle genutzt werden zu können. Interdisziplinär anschlussfähige Philosophie muss aber etwas modellieren, was auch andere Wissenschaften modellieren. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor. Das Interesse einer Philosophin lässt sich vielleicht am besten mit dem Wort »überhaupt« charakterisieren. Während die Physikerin ein Ding als etwas bewegliches und den Bewegungskräften ausgesetztes interessiert, den Biologen das Ding als lebendiges, den Chemiker als zersetzbares und umwandelbares, fragt die Philosophin nach dem Ding »überhaupt«. So fragt sie auch nach der Erkenntnis »überhaupt«, der Moral »überhaupt«, dem Geist »überhaupt« oder dem Schönen »überhaupt«. Während die Musikwissenschaftlerin nach der Struktur des musikalischen Werks und der Literaturwissenschaftler nach dem Aufbau des literarischen Werks fragt, fragt der Philosoph nach dem Werk »überhaupt«. Die philosophische Frage zu jeder möglichen Situation lautet »Was ist das überhaupt?« 150 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

Solche Fragen können sich durchaus auf Spezielles beziehen, etwa darauf, was »zersetzbar« überhaupt sein soll, ob es sich um eine Eigenschaft des Dings handelt und was für Eigenschaften das dann sind. Und dafür entwickeln Philosophen dann in der Tat Modelle. Vor allem in der so genannten Analytischen Philosophie ist der Modellbegriff auch durchaus geläufig (Fischer 2017, 78). In der Analytischen Philosophie sind Modelle oft mit Gedankenexperimenten verbunden, wir können philosophische Modelle auch als gedankliche Experimentalsysteme ansehen. In diesen Modellen werden gewisse Konstellationen erdacht und an Beispielen durchgespielt und variiert, wobei es gelingt, das Beispiel nicht als Einzelfall, sondern als Fall für das Allgemeine überhaupt zu betrachten, das sich im Beispiel zeigt. Wenn etwa im Modell der radikalen Interpretation und des Prinzips der Nachsichtigkeit, das Quine und Davidson eingeführt und variiert haben, eine Szene geschildert wird, bei der Menschen mit einer unverständlichen Sprache dabei beobachtet werden, wie sie auf Veränderungen und Ereignisse in ihrer Umwelt sprachlich reagieren, lässt sich an einem solchen Modell-Beispiel einiges demonstrieren und verstehen, was das Verstehen und Interpretieren fremder Sprachen überhaupt betrifft. Solche modellhaften Beispiele lassen sich dann variieren und modifizieren, um die gefundenen Einsichten zu prüfen und zu erweitern. Quine etwa geht es in Wort und Gegenstand um die Frage, wie man Bedeutungen von Sätzen verstehen kann, die in einer fremden Sprache formuliert sind oder die (in meiner eigenen Sprache) einen Gebrauch von Wörtern machen, der mir unverständlich ist. Er schafft dazu die Modellkonstellation eines Sprachforschers, der die sprachlichen Bedeutungen von Äußerungen einer fremden Menschengruppe einer fernen Kultur untersuchen will. Diese Modellkonstellation spielt Quine in den verschiedensten Situationen durch, er variiert und kombiniert Beobachtungssituationen und entwickelt dabei unter anderem ein Prinzip des Verstehens, das besagt, dass wenn eine wörtliche Übersetzung offenbar sinnlose Ergebnisse liefert, etwas mit der Übersetzung nicht stimmen kann. Er schreibt: »Die durchaus vernünftige Annahme, die hinter dieser Maxime steckt, ist, dass die Dummheit des Gesprächs151 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

partners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung oder – im einzelsprachlichen Fall – abweichendes Sprachverhalten.« (Quine 1980, 115) Dieses Prinzip übernimmt er aus einer Arbeit von N. L. Wilson von 1959, und etwa Davidson (1990) hat es wiederum übernommen und das Modell weiter variiert und manipuliert. Das zeigt für unsere Frage zweierlei: Zum einen werden in der Philosophie tatsächlich Modelle konstruiert und manipuliert, wie wir es als Wesensbestimmung für die Wissenschaften der Gegenwart ermittelt hatten. Zum anderen erfolgt auch in der Philosophie eine Einbindung der eigenen Modelle in die Modelle anderer Philosophen. Die vorangegangenen Kapitel dieses Buchs sind voll von Beispielen solcher Modellentwicklungen, -Verschiebungen und -Manipulationen. Poppers Wissenschaftstheorie kann als Modell der Wissenschaften angesehen werden, genauso wie das Konzept des Experimentalsystems bei Rheinberger. Jedes dieser Modelle wurde von anderen aufgegriffen, verändert, weiterentwickelt und mit anderen Modellen zusammengeführt. Der Gang der Argumentation dieses Buches selbst kann als Entwicklung eines Modells wissenschaftlicher Erkenntnis auf der Basis anderer Modelle von Wissenschaft gedeutet werden. Mit Spohn (2005, 84) können wir sagen, dass es auch in der Philosophie viel »Normal Science« gibt, in der Modelle von philosophisch interessanten Konstellationen entwickelt, dokumentiert, in der philosophischen Gemeinschaft diskutiert und in Form einer Zeitschriftenwissenschaft publiziert wird. Es gibt Sammelbände, die den aktuellen Stand einer philosophischen Diskussion dokumentieren, es gibt Lehrbücher, die grundlegende Modellstrukturen in einer Weise darstellen, die für Einsteiger und Studierende geeignet sind, und es gibt sogar eine populäre Philosophie, die in Sachbüchern, Interviews und Vorträgen die Erkenntnisse und Einsichten der Philosophie einem interessierten Publikum verständlich zu präsentieren versucht. In diesem Sinne können wir die Philosophie also durchaus als normale Wissenschaft ganz im Sinne der hier entwickelten Konzeption von Wissenschaftlichkeit ansehen. 152 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Bevor wir uns der problematischen Seite dieser Interpretation der Philosophie als normale Wissenschaft zuwenden sei darauf verwiesen, dass nicht nur die Analytische Philosophie als modellbildend, -diskutierend und -manipulierend gedeutet werden kann. Auch die phänomenologische Philosophietradition entwickelt, diskutiert und variiert Modelle. Ein besonders schönes und eindrucksvolles Beispiel ist sicherlich Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, in der Husserl anhand einfacher Gedankenexperimente, etwa dem Hören von Melodien, einen Begriffs-Apparat für das Verständnis des individuellen Zeitbewusstseins entwickelt, welcher durchaus einen grundlegenden Modellcharakter für das Verständnis von Zeiterleben überhaupt hat. Aber auch neuere phänomenologische Studien, wie etwa Lambert Wiesings Arbeit über den Luxus kann als Modellierung eines Phänomens gelesen werden, die sogar an frühere Modellierungsansätze verwandter Phänomene von Schiller, Jünger und Heidegger anschließt. Eine solche philosophische Modellbildung, die sich auf bestimmte Gegenstände, Erfahrungen oder Strukturen überhaupt bezieht, ist selbstverständlich interdisziplinär anschlussfähig an alle wissenschaftlichen Modellbildungen, bei denen konkrete Versionen dieser Gegenstände, Erfahrungen oder Strukturen erkannt und untersucht werden. Philosophische Modelle können dann als Grundlage oder als kritische Prüfinstanz für andere Disziplinen genutzt werden. Allerdings zeigt schon ein genauerer Blick auf die Produkte der philosophischen Modellbildungen, dass es zwischen den philosophischen Erkenntnissen und denen der anderen Disziplinen wesentliche Unterschiede geben muss. Eine leicht sichtbare Differenz, die zunächst als Äußerlichkeit erscheinen mag, ist, dass die Zeitschriftenwissenschaft in der Philosophie eine geringere Rolle spielt als in anderen Disziplinen. Auch wenn in der Philosophie ein Anwachsen von Aufsatzzahlen in den Veröffentlichungslisten zu beobachten ist, spielt die Monographie weiterhin eine zentrale Rolle. Diese Monografie ist dann zumeist, wie auch die meisten Aufsätze in Zeitschriften, von einer Einzelperson und nicht von einer Forschergruppe verfasst, wie es in den anderen Disziplinen 153 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Philosophie

üblich ist. Tetens (2005) hat darauf hingewiesen, dass kein Philosoph für einen anderen philosophieren kann – d. h., es gibt in der Philosophie keine Möglichkeit der Arbeitsteilung und der gemeinsamen Arbeit wie in anderen Disziplinen. Das heißt nicht, dass eine Philosophin ohne den Austausch mit anderen Philosophierenden auskommt – sie kann aus Diskussionen Anregungen für ihr eigenes Philosophieren bekommen, Hinweise auf Denkfehler erhalten oder neue Wege zum Weiterdenken eröffnet bekommen. Aber sie muss den kompletten Weg ihres philosophischen Arguments selbst gehen. Der Eindruck, dass das Philosophieren auf gewisse Weise ein grundsätzlich anderer Weg der Gewinnung von Erkenntnissen sein muss als der, den andere Wissenschaften gehen, verstärkt sich, wenn man in die Aufsätze und Monographien hineinsieht. Zwar findet man auch in ihnen Verweise auf andere Aufsätze und Monographien, aber diese Verweise dienen nicht unbedingt der Einbettung der eigenen Arbeit in den bestehenden Erkenntniskonsens. Es kann sich genauso oft um einen Hinweis zur Stützung des eigenen Arguments handeln, wie es sich um eine kritische Auseinandersetzung oder Abgrenzung mit anderen Standpunkten handeln kann. Während vor allem in naturwissenschaftlichen Papern der Forschungsstand geschildert und daraus eine einzelne offene Frage abgleitet wird, die durch die jeweils vorliegende Forschungsarbeit noch beantwortet werden soll, ist es in der Philosophie üblich, andere Aufsätze vor allem zur Abgrenzung gegen den eigenen Ansatz zu zitieren, deutlich zu machen, wo andere Arbeiten prinzipiell keine Antworten geben können, um dann eine eigene Alternative vorzuschlagen. Es gibt in der Philosophie, das können wir daraus ableiten, keine Sedimentierung eines Erkenntniskonsens, wie wir sie für die moderne Wissenschaft als charakteristisch identifiziert hatten. Die Modelle in der Philosophie sind immer die Modelle ihres Autors, die vielleicht von einem anderen Autor übernommen, variiert, womöglich aber auch grundsätzlich kritisiert und abgelehnt werden. In der Philosophie geht es weniger um Einigung zwischen den Forschern auf einen Konsens, sondern immer um Standpunkte, die einander kritisieren oder bestätigen können. 154 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Man könnte vermuten, dass das kein prinzipieller Unterschied zu anderen Disziplinen ist, und dass er schon gar nicht die Wissenschaftlichkeit der Philosophie fragwürdig macht. Schließlich gibt es auch in anderen Wissenschaften immer wieder einmal verschiedene Standpunkte, über die erbittert gestritten wird. Vielleicht ist die Philosophie bisher nur von einem gewissen sedimentierten Erkenntnisfundament entfernt, vielleicht muss sie den Konsens über grundsätzliche Erkenntnisse, auf den die Philosophen sich einigen können, erst finden? Betrachten wir – im Modell – zwei Physikerinnen, die über eine Theorie sehr unterschiedlicher Meinung sind oder sogar zwei gegensätzliche Theorien zur Erklärung einer Beobachtung vertreten. Die beiden Forscherinnen werden allerdings darüber einig sein, dass nur eine von ihnen recht haben kann, vielleicht auch keine von ihnen – aber auf keinen Fall können beide Recht haben oder auf Dauer akzeptieren, dass die andere Forscherin einer gegensätzlichen Theorie anhängt. Jede sucht nach Argumenten, seien sie theoretischer oder empirischer Natur, die nach dem Selbstverständnis der Disziplin auch der anderen Forscherin letztlich zwingend erscheinen müssen. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt, dass zu allen wissenschaftlichen Überzeugungen, über die leidenschaftlich gestritten wurde, am Ende ein Konsens gefunden werden konnte, auf dem als sedimentiertem Fundament die weitere Erkenntnisgewinnung aufbauen konnte. Anders in der Philosophie. Handelt es sich in unserem Modell um Philosophinnen, dann müssten die beiden nicht streiten. Sie könnten akzeptieren, dass die je andere eben einen ganz anderen Standpunkt hat, sie können den je anderen Standpunkt vielleicht als schwächer als den je eigenen ansehen, sie können je die Kollegin auf problematische Grundannahmen hinweisen, die sie ablehnen. Aber wenn sie gelassene Philosophinnen sind, dann können sie einsehen, dass die Frage, welcher ihrer beiden Standpunkte näher an einer Wahrheit ist, schlicht nicht entscheidbar ist. Eine Vielzahl von philosophischen Aufsätzen besteht in der Darstellung und Gegeneinanderführung sich gegenseitig ausschließender Standpunkte, wobei die Konsequenzen und Möglichkeiten der jeweiligen Standpunkte abgeglichen, ihre Stärken 155 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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und Schwächen analysiert werden, ohne dass letztlich eine Entscheidung über den besseren oder gar richtigen Standpunkt auch nur versucht oder angestrebt werden würde. Natürlich wird in der Philosophie dennoch gestritten. Aber ein Blick auf die Geschichte des Fachs kann uns darüber belehren, dass am Ende des Streits nur selten ein Erkenntniskonsens steht. Zwar werden Geschichten zu philosophischen Debatten hin und wieder so erzählt, als ob am Ende ein Erkenntnisgewinn und ein Konsens gewonnen wurde, aber sieht man genauer hin, kann man immer wieder finden, dass ein solcher Konsens wieder angegriffen und grundsätzlich in Frage gestellt worden ist. Das liegt nicht an der oft genannten mangelnden Überprüfbarkeit philosophischer Aussagen. Innerhalb bestimmter Modellkonstruktionen sind ja Schlussfolgerungen durchaus überprüfbar und kritisierbar. Der Grund für die fehlende Entscheidbarkeit von philosophischen Standpunkten liegt vielmehr darin, dass in eine philosophische Untersuchung immer die Frage nach den Grenzen und unbefragten Voraussetzungen mit eingebaut ist. Und diese Frage nimm im alternativen philosophischen Standpunkt Gestalt an. Jede Position ist die Gestalt gewordene fehlende Letztbegründung der anderen Position. Zu einer ehrlichen philosophischen Untersuchung gehört, diese Leerstelle nicht nur mehr oder weniger selbstverständlich zu akzeptieren, sondern nach den je eigenen Leerstellen des eigenen Standpunktes zu fragen. Zwar kommt dieses Fragen immer wieder an ein Ende, weil eine Untersuchung auch je an ein vorläufiges Ende kommen muss. Nach den Leerstellen, Voraussetzungen und unbenannten Fundamenten des je eigenen Denkens weiterzufragen, ist dennoch stetiger Anspruch an die Philosophie. In dieser Perspektive ist die Philosophie eher ein ständiges Fragen, Weiterfragen und Neubefragen von Erkenntnissen, als dass sie ein Antworten auf Fragen wäre, ein Antworten, das Erkenntnisse produziert. Deshalb kann es auch keine philosophischen Lehrgebäude geben, in die die philosophischen Forscher Stück für Stück weitere Erkenntnisse einbauen können. Zwar gibt es beeindruckende philosophische Systeme einzelner Denker – aber jede philosophische Arbeit, die an solch ein System anschließt, ist 156 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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nicht etwa ein Fortbau, ein Lücken-Schließen oder ein Ausbau begonnener Elemente: Es ist immer eine kritische Befragung, eine Neu-Begründung, ein Fragwürdig-Machen. Als Beispiel möge die vorliegende Untersuchung selbst dienen. Wir haben die Wissenschaftlichkeit als einen Prozess der Modellierung bestimmt, der in einem Forschungsprozess stattfindet, welcher die Sedimentierung eines Erkenntniskonsens eben in der Entstehung, Variation und Reproduktion von Modellen hervorbringt. Wir haben gesehen, dass dieser Prozess Einsichten oder Erkenntnisse hervorbringen kann. Dazu haben wir versucht, die Begriffe des Modells und der Modellierung zu klären und die Begriffe der Einsicht und der Erkenntnis von denen des Wissens abzugrenzen, und haben geprüft, wann wir bei dem, was Wissenschaft in ihren Modellen ermöglicht, von Einsichten und wann von Erkenntnis sprechen können. Im besten Falle erscheint einer Leserin das Dargestellte als überzeugend und plausibel. Dennoch kann sich bei ihr Skepsis regen: Sie wird womöglich gewisse Studien und Ergebnisse der Sozial- oder Kulturwissenschaften zwar sicher als wissenschaftlich erkennen, sie wird insbesondere sicher sein, dass die Gemeinschaft der Expertinnen diese Studien als wissenschaftlich akzeptiert, aber sie wird möglicherweise skeptisch sein, ob sich die Arbeitsweisen bei der Entstehung dieser Ergebnisse zwanglos in den Begriffen der Modellierung, die hier vorgeschlagen wurden, beschreiben lassen. Möglicherweise wird sie auch bei Studien, die zu einzelnen Werken in den Kunstwissenschaften gemacht werden, Zweifel haben, ob diese sich tatsächlich in einen Sedimentationsprozess eines Erkenntniskonsens einordnen lassen. Vor allem aber wird sie darauf verweisen, dass große Leistungen früherer Zeiten sehr wohl noch immer als wissenschaftlich angesehen werden, obgleich sie keineswegs als Beiträge zur Einordnung in einen Erkenntniskonsens anzusehen sind. Wir hatten Newtons Physik und Darwins Evolutionstheorie selbst genannt. So könnte die Leserin also fordern, nach einem ganz anderen Begriff von Wissenschaftlichkeit zu suchen, der nicht die speziellen Verhältnisse der modernen Forschung zum Ausgangspunkt nimmt. 157 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Dennoch zeigt auch die Argumentation der vorangegangenen Kapitel, dass Philosophie mehr ist als bloßes – wenn auch plausibles – Meinen und freies Spekulieren. Innerhalb selbst gesteckter Rahmen und in dem Bewusstsein der Begrenztheit der eigenen Begründungskraft können Begriffe geklärt und Konzepte vorgeschlagen werden, die gemeinsam ein konsistentes Modell ergeben. Innerhalb dieses Modells und seiner Annahmen sind dann durchaus auch Begründungen möglich, die geprüft, korrigiert und verworfen werden können. Auch unserer kritischen Leserin können diese Begriffe helfen, gerade wenn sie auf das verweisen, was nicht von ihnen verständlich gemacht werden kann. Die Einsichten, die Philosophie ermöglicht, sind demzufolge ganz andere als die der anderen Disziplinen, welche Wissenschaften genannt werden können. Philosophische Einsichten mögen eine große innere Plausibilität haben und einiges in der Welt verständlich machen. Sie sind aber zugleich immer Einsichten in das nicht Einsichtige und das Nicht-Einsehbare. Wir hatten im Abschnitt 3.1 gesehen, dass sich Wissenschaft in zwei komplementären Konzepten beschreiben lässt, der der Theoriendynamik und der der Experimentalsysteme. Beide scheinen entgegengesetzt, erlauben aber in der Synthese das Verstehen dessen, was Wissenschaft ausmacht. Ähnlich verhält es sich in der Philosophie. Es zeigt sich, dass wir die Philosophie bezüglich ihrer Wissenschaftlichkeit mit zwei komplementären Sichtweisen beschreiben können: In der einen Sichtweise sehen wir Forschungsgemeinschaften, in denen philosophische Modelle von Gegenständen der Welt entstehen, die diskutiert, verbessert, in Aufsätzen dokumentiert und in Übersichtsdarstellungen zusammengeführt werden – wir sehen also eine ganz normale Wissenschaft, die Erkenntnisse gewinnt und zusammenführt. In der anderen Perspektive sehen wir philosophierende Personen, die jede Einsicht auf ihre Voraussetzungen befragen und die Begrenztheit und das immer auch Unbefragte zum eigentlichen philosophischen Problem machen, die also jede Erkenntnis fragwürdig machen und deren Einsichten vor allem darin bestehen, zu zeigen, wie unbefriedigend jede gefundene Einsicht ist. Dieses Buch, welches nun an sein Ende kommt, ist zugleich ein 158 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

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Beispiel einer philosophischen Untersuchung. Es hat, basierend auf verschiedenen philosophischen Modellen des Wissenschaftlichen, selbst ein Modell des Wissenschaftlichen entwickelt. Die Begrenztheit des Modells ist schnell klar geworden: Wenn überhaupt, dann macht es das Wissenschaftliche verständlich, wie es uns in der Gegenwart begegnet. Damit bietet es Ansätze zum kritischen Weiter- und Gegendenken, denn das Wesen des Wissenschaftlichen, wie es sich durch die Jahrhunderte erkennbar durchhält, ist damit nicht gefunden. Zugleich hat unsere eigene kritische Reflexion im vorangegangenen Kapitel gezeigt, dass es durchaus fragwürdig ist, ob der gefundene Begriff der Wissenschaftlichkeit die Wissenschaft der Gegenwart beschreibt, wie sie ist, oder ob er eher eine plausible Rekonstruktion, Systematisierung und Verallgemeinerung verbreiteter gegenwärtiger Vorstellungen von Wissenschaft ist. Dass damit Wissen im Sinne von Erkenntnis gewonnen worden ist, kann sicherlich zurecht bezweifelt werden. Ob einige Einsichten möglich wurden, bleibt dem Urteil derer überlassen, die dem Gedankengang bis hier gefolgt sind.

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Stichwortverzeichnis

Aristoteles 21–26, 91, 147 Betrieb 13, 16, 37, 129, 139, 141 Biologie 11, 61, 70 CERN 62, 64, 72, 127 Chemie 11, 98 Computermodell 98 Computersimulation 98 Darwin, Charles 115, 123 Davidson, Donald 151–152, 160 Denkkollektiv 108, 110, 116 Denkstil 108, 116, 128–129, 131 Dokumentenproduktionssystem 113 Dokumentproduktion 113 Einsicht 14, 21, 23–26, 37, 46, 50, 52–53, 65, 68–69, 91, 111–112, 136, 146–147 Einstein, Albert 27, 115, 123 Elementarteilchen 51, 63 Elgin, Catherin Z. 52, 160 epistemisches Ding 70, 74–75, 77, 80, 94 Erkenntnis 10, 14, 21–26, 43–44, 51–52, 57–58, 61, 68, 82, 85–86, 91, 107–109, 111–112, 124–131, 134, 138, 141–142, 144–147, 150 Erkenntniskonsens 125, 146–147, 154 Erkenntnisoptimismus 111 Evolutionsforschung 115

Experiment 16, 29, 31, 33, 36, 45, 48, 57–60, 62–65, 67–68, 71–73, 80, 85, 161–162 Experimentalanordung 83 Experimentalsystem 69–76, 80–83, 85, 88, 90, 94, 123, 125 Experimentator 31–32, 62, 65, 85– 87, 89–90, 94 Experimentatoren 10, 38, 42, 61, 71, 73, 88, 90 Experimentieren 15, 17, 31–32, 47, 59–60, 62, 64–71, 73–77, 84–85 Fachkonferenzen 121 Fachzeitschriften 113, 115, 118, 121, 140 Falsifikationsprinzip 32 Fleck, Ludwik 107–110, 112–113, 115–118, 121, 123, 128, 160, 162 Forschungslogik 28, 45, 49–50 Fortschritt 23, 29, 32, 40–41, 44, 51, 57, 62, 72, 91, 111 Foucault, Michel 121, 160 Gasgesetze 53, 68 Gastheorie 52, 68 Gravitationskraft 87, 92–93, 95 Gravitationstheorie 92 Grundlagenforschung 9 Hacking Ian 30, 50, 63–64, 76–77, 119, 160 Handbuchwissenschaft 110, 112– 115, 121, 128, 130–131 Harré, Rom 45–50, 58, 160–161

165 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Stichwortverzeichnis

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 161–162 Heidegger, Martin 121, 128–129, 161 Heidelberger, Michael 63–69, 76– 77, 84, 161 Higgs-Teilchen 62, 64, 127 Hoffmann, Christoph 9, 119, 161 Hoyningen-Huene, Paul 15, 30, 161 Hypothesen 17, 29, 35, 38, 44, 47, 61, 81 Inskriptionen 71, 74–76 Instrumente 50, 65–67, 72–73, 76– 77, 84–86, 89–90 interdisziplinär 10, 149 klimatisches System 98 Konstellation 86, 88–89, 109, 127, 129, 133 Kritik 131 Kuhn, Thomas 90, 108, 116–119, 128, 161–162 Labor 16, 40, 66–67, 71–76, 86, 89, 91, 122–123 Latour, Bruno 15, 63, 74, 122–123, 161 Lehrbücher 112, 117, 120, 128, 132 Lehrbuchwissenschaft 110, 117, 121, 128 Manipulation 65–67, 77, 84–85, 88–91, 125, 127, 130, 139, 145– 147 Mathematik 11 Mechanik 52, 57, 62, 86, 88–89, 118–120 Metaphysik 21, 23, 91 Modell 47, 52–53, 57–58, 75, 80, 86–96, 98–101, 103, 111, 115,

120, 125, 127, 129–130, 134, 139, 146–147, 149–152, 155, 159–161 Modelldynamik 95, 98 Modellieren 75, 96, 100–101 Neue Institutionenökonomik 54 Newton, Isaak 114, 123 Newtonsche Mechanik 92–93, 120 Normalwissenschaft 90, 116, 118, 120–121 Ökonomie 17, 48, 53–54, 56, 87– 88, 134 Paper 112, 114–115, 124, 127–131, 143 Paradigma 116–122, 128 Philosophie 12, 26–27, 45, 63, 115, 129, 135, 139, 148, 150–156, 158, 160–163 philosophisches Modell 152–154, 159 Physik 11, 27, 32, 41, 49, 51–53, 56, 61–64, 69, 74, 82, 87–88, 114, 119, 123, 148, 161 Platon 22, 24–25 Popper, Karl 15, 27–33, 36, 38–45, 47–50, 55, 58, 60–62, 71, 74, 80, 82–83, 96, 107–108, 152, 162 populäre Wissenschaft 110–112, 120 Positivismus 48, 50 Quantenmechanik 27, 119–120, 134 Realismus 51, 57, 63, 160 Relativitätstheorie 27, 62, 119–120, 134, 137 Repräsentation 57, 67–68, 71, 74, 77, 79, 84–87, 90, 106, 125, 127, 130

166 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .

Stichwortverzeichnis

Reproduktion 39, 71–72, 76, 80, 83, 107, 125 Reproduzierbarkeit 71, 124–125 Revolution 90, 116, 118–121 Rheinberger, Hans-Jörg 60–61, 69– 71, 74–77, 79–80, 82, 84, 88, 108, 123, 162 Satzsysteme 17, 26, 29–32, 43, 45, 47, 50, 55, 57, 60, 68, 74, 81, 83 Shapin, Steven 15, 162 Sonnensystem 99 Technik 24, 91, 162 theoretisches Modell 92, 94–95 Theorie 15–17, 24–26, 28, 31–32, 38–40, 42–44, 47–64, 68, 78–83, 88, 90–91, 94–96, 115, 117–120, 125, 132 Theoriendynamik 21, 32, 38, 42– 43, 82–83, 125, 133 van Fraassen, Bas C. 51, 55–57, 80, 83, 163 verwissenschaftlicht 9 Weltanschauung 110 Williamson, Oliver E. 54

Wissen 14–15, 17, 21–22, 24–26, 29–30, 32, 37, 41, 43–44, 48, 50, 55, 57, 65, 68, 74, 77, 86, 91, 106, 108, 110, 112, 115, 131, 135, 139, 143, 145–147 wissenschaftliche Methode 40–41, 44 Wissenschaftlichkeit 9–12, 14, 19, 27, 29–30, 35–38, 44, 55, 82–83, 91, 93–94, 103–104, 106, 125, 134–139, 144–145, 148, 155, 158–159 Wissenschaftsgeschichte 13, 82 Wissenschaftsphilosophie 45, 61– 63, 65, 69, 108, 112, 116, 118, 135 Wissenschaftssoziologie 13–17, 28 Wissenschaftstheorie 13–17, 27– 28, 31, 42, 44–45, 50–51, 56, 61, 76, 80, 107, 135, 161 Woolgar, Steve 15, 122–123, 161 Zeitschriften 40, 113–115, 118, 126, 132 Zeitschriftenartikel 112–114, 120, 127, 131–132, 139 Zeitschriftenwissenschaft 110, 112, 120–121, 130 Zellulärer Automat 97

167 https://doi.org/10.5771/9783495820940 .